Wibrarn of
Princeton Universitn.
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of
Fronomirs.
zm.
F-
JAHRBÜCHER
NATIONALÖKONOMIE UND STATISTIK.
GEGRÜNDET VON
BRUNO HILDEBRAND.
HERAUSGEGEBEN VON
DR. L CONRAD,
PROF. IN HALLE A, 8.,
IN VERBINDUNG MIT
DR: EDG. LOENING, DR. W. LEXIS, DR- H. WAENTIG,
PROF. IN HALLE A. 8., PROF, IN GÖTTINGEN, PROF. IN HALLE A, 8.
IL FOLGE. 39. BAND,
ERSTE FOLGE, BAND I—XXXIV; ZWEITE FOLGE, BAND XXXV—LV
ODER NEUE FOLGE, BAND I—XXI; DRITTE FOLGE, BAND XCIV (III. FOLGE,
BAND XXXIX).
JENA,
VERLAG VON GUSTAV FISCHER.
1910.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Inhalt d. XXXIX. Bd. Dritte Folge (XCIV).
L Abhandlungen.
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Gerlach, Otto, Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation, unter be-
onderer Berücksichtigung des Vorgehens der Ostpreußischen Landschaft. $S. 577.
Herbig, Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. S. 289.
Schachner, Das französische Sparkassenwesen. S. 1.
Schöinheyder, K., Die Landwirtschaftsrente. S. 145.
Wagner, M., Die Reichsversicherungsordnung. S. 721.
Virıknai, Anton, Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 8. 752.
Wolit, Hellmuth, Die inneren Wanderungen, unter besonderer Berücksichtigung
der Wanderungen mit fester Wohnstätte. S. 166.
II. Nationalökonomische Gesetzgebung.
Graf Lerchenfeld-Köfering, Hugo, Die Gesetzgebung in den Vereinigten
Staaten von Amerika zum Schutze der Fabrikarbeiter, namentlich der weiblichen und
jugendlichen Personen, ferner der Heimarbeiter. S. 37, 182.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches im Jahre 1909. 8. 662, 766.
III. Miszellen.
v. Bortkiewicz, L., Zur Verteidigung des Gegetzes der kleinen Zahlen. 8. 218.
Derselbe, Mathematisch-Statistisches zur preußischen Wahlrechtsreform. 8. 692.
Bruder, Hermann, Der Weinhandel von Basel. S. 333.
Claus, Die Rentabilität der russischen Aktiengesellschaften. S. 494.
parady J., Einige Ergebnisse der neuesten deutschen gewerblichen Betriebserhebungen.
. 57.
Die Entwicklung des Preisniveaus und des Getreidebedarfs in England und Deutschland
in den letzten Dezennien. S. 676.
Guradze, Hans, Die Brotpreise in Berlin im Jahre 1909. S. 505.
Kähler, W., Der Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit. Ein Beitrag
zur Geschichte des Sparkassenwesens und der Wohlfahrtspflege. S. 372.
Kesten, E., Die Wohlfahrtseinrichtungen des Kreises Worms. 8. 103.
Kreuzkam, Deutschlands Handelsbeziehungen zu Argentinien und die internationale
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Derselbe, Die internationale Automobilindustrie. S. 800. '
Lenz, Friedrich, Beiträge zur Fideikommißstatistik. 8. 353.
Meyer, H., Die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse und die Bestimmungsgründe der
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Bei raid, Die Aktiengesellschaftsstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes in
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Hoos, Ferd., Die französischen Kreditinstitute und die französischen und englischen
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Pur Jan, Die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Niederlanden. S. 815.
se Ee W., Schiffahrtsringe und Frachtrabatte. S. 115.
„achner, R., Kritik des italienischen Sparkassenwesens. (Unter Bezugnahme auf
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ultze, Ernst, Die Probleme des New Yorker Frachtverkehrs. 8. 204.
Inbrück, K., Die Entwicklung des Viehstandes während der letzten Dezennien
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Str Offsky, Gustav, Zum Stadtbegriff und zur Städtestatistik Rußlands. S. 809.
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~ 368.
Ste
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MAY ISISI AU OO d Se
IV Inhalt,
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Drei Teile. (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 103, 104, 145.) Der Alkoholismus.
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Wuttke.) S. 843.
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Bunge, G. v., Alkoholvergiftung und Degeneration. (A. Elster.) S. 523.
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Glowacki, Maryan, Die Ausfuhrunterstützungspolitik der Kartelle. (Robert Lief-
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Inhalt. y
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Gruber, Georg B., Geschichtliches über den Alkoholismus. (A. Elster.) S. 513.
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Herz, Max, Das heutige Neu-Seeland, Land und Leute. (A. Goldschmidt.) S. 702.
Hesse, A., Gewerbestatistik, Fortsetzung des IV. Teils des Grundrisses zum Studium
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Popert, Herm. M., Was will unsere Zeit von der deutschen Studentenschaft ?
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Derselbe, Hamburg und der Alkohol. (A. Elster.) S. 528.
Preußisch-Deutscher Gesetzeskodex. Ein chronologisch geordneter Abdruck der in der
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mit Rücksicht auf ihre noch jetzige Gültigkeit und praktische Bedeutung, von Paul
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Pütter, Trunksucht und städtische Steuern, (A. Elster.) S. 529.
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(E. Loening.) S. 134.
Rost, Hans, Das moderne Wohnungsproblem. Sammlung Kösel, Heft 30. (Hell-
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Schramm, Aug., Das Welteinheitsporto. (Historische, kritische und finanzpolitische
Untersuchungen über die Briefpostgebührensätze des Weltpostvereins und ihre Grund-
lagen.) (Günther.) S. 547.
Siegfried, André, Neu-Seeland, eine sozial- und wirtschaftspolitische Untersuchung,
übersetzt und in einzelnen Teilen erweitert von Dr. Max Warnack. (A. Gold-
schmidt.) S. 700.
Somlo, Felix, Der Güterverkehr in der Urgesellschaft. (J. C.) S. 269.
Spann, Othmar, Die unehelichen Mündel des Vormundschaftsgerichts in Frank-
furt a. M. (5. Bd. der „Probleme der Fürsorge“, Abhandlungen der Zentrale für
private Fürsorge in Frankfurt a. M.) (Siegfried Kraus.) S. 420.
Spiegel, Ludwig, Die Verwaltungsrechtswissenschaft. Beiträge zur Systematik und
Methode der Rechtswissenschaft. (E. Loening.) S. 132.
Stehr, Alfr. H., Alkoholgenuß und wirtschaftliche Arbeit. (A. Elster.) S. 529.
Vandervelde, Emil, ehem. Professor, Alkohol, Religion, Kunst. Drei sozialistische
Untersuchungen. Berechtigte Uebersetzung aus dem Französischen von Engelbert
Pernerstorfer, Mitglied des österr. Reichsrates. (A. Elster.) S 536.
Warschauer, Otto, Zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus. $S. 399.
Weber, Alfred, Ueber den Standort der Industrien. (W. Lexis.) S. 818.
Zahnbrecher, Franz H., Zur Einführung von Postsparkassen in Bayern unter be-
sonderer Berücksichtigung der ländlichen Spar- und Darlehenskassenvereine. (Robert
Schachner.) S. 556.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des
Auslandes. $. 126. 268. 408. 540. 705. 827.
Die periodische Presse des Auslandes. S. 139. 284. 426. 572. 715. 853.
Die periodische Presse Deutschlands. S. 141. 286. 429. 574. 718. 856.
Volkswirtschaftliche Chronik. 8.739. 803. 1. 61. 133. 229.
Schachner, Das französische Sparkassenwesen. 1
E
Das französische Sparkassenwesen.
Von
Prof. Schachner-Jena.
1. Privatsparkassen.
„Der größte Teil des Volkes ist in der Lage, einige Ersparnisse
zu machen, aber er hat kaum irgendeine Möglichkeit, sie nutz-
bringend anzulegen. Wer würde sich nicht gern jeden Tag mit
einem kleinen Betrag belasten, um dafür einen Zehrgroschen an-
zusammeln? Doch dieser Geist der Sparsamkeit war bis heute bei
den ärmeren Klassen nahezu unmöglich, aber er wird aufkommen
können: wenn eine Sparkasse, die im Wunsche aller guten Bürger
liegt, sich verwirklicht. Zwingt die Leute nicht durch Gesetz,
sondern durch die Allmacht des guten Beispiels, daß sie sich eines
kleinen Teiles des Tagesverdienstes entäußern, um ihn zinsheckend
für spätere Zeit aufzubewahren, und dadurch werdet ihr dem
Menschengeschlecht helfen.“
Mit diesen Worten hat Mirabeau in einer Rede der National-
versammlung vom 13. Januar 1791 den Sparkassengedanken in
Frankreich geweckt, wobei er sich zum erstenmal des noch heute
üblichen Ausdrucks „Caisse d'épargne et de prévoyance“ bediente.
Anlaß hierzu bot ihm der Antrag des Abgeordneten Lafarge auf
Schaffung einer „tontine“, die mit einer Lotterie verbunden war; es
war das eine Anstalt, die für Einzahlungen während einer Reihe
von Jahren den am Auslosungstage noch Lebenden Renten gewähren
sollte, ein Glücksspiel mehr als eine zielbewußte Spartätigkeit, so
daß die Nationalversammlung sich mit ihr nicht befreunden konnte,
da sie, wie es von der Parlamentstribüne scholl, mit ihren trüge-
rischen Lockungen die Unglücklichen anreizen und sie zum Verlust
ihrer Einzahlungen und damit oft zum Ruin bringen würde und
nichts von jenen idealen Eigenschaften in sich trüge, die Mirabeau
einer Sparkasse zuwies.
Freilich geben sich die Franzosen mit diesem denkwürdigen Be-
ginn des Sparkassengedankens nicht zufrieden, sondern glauben, wie
die Engländer mit Defoe in seinen 1698 gedruckten essays on
projects, so ihrerseits mit Hugues Delestre die erste auf Errichtung
einer Sparkasse gehende wissenschaftliche Kundgebung zu besitzen.
Dritta Folge Bd. XXXIX (XCIV). 1
2 Schachner,
Ei
Jener schrieb im Jahre 1611 in einer Abhandlung über die Er-
richtung der Pfandhäuser auch von der Notwendigkeit des An-
sammelns kleiner Ersparnisse, ein Gedanke, den wohl jede Nation
bei irgendeinem ihrer vorväterlichen Schriftsteller nachweisen
könnte, der aber von Delestre ebensowenig wie von Defoe zu einer
praktischen Verwirklichung geführt wurde.
Noch weisen die Franzosen auf eine Sparkasse hin, die im Jahre
1787 von einer „Compagnie d’assurance sur la vie“ geschaffen worden
sei, obwohl es sich hier nur um eine Bankanstalt handelte, die auch
kleinere Beträge in Depot nahm, diesen keinerlei Sicherheit bot,
noch ihnen gemeinnützige Verwaltung angedeihen ließ, so daß sich
nur wenig Kunden fanden; auch kam sie hald wegen schlechter Ver-
waltung in Verfall.
Aber auch der von Mirabeau so klar ausgesprochene Sparkassen-
gedanke sollte noch fast 20 Jahre auf seine Verwirklichung harren
müssen. Mit dem Tode jenes Mannes, der, wie man glaubt, allein
die Revolution hätte hintanhalten können, erstarb ja auch der ernste
Wille zur Verwirklichung bürgerlicher sozialpolitischer Maßregeln,
und wenn und wo sie auch in die Reihen der thronstürzenden und
eine neue Zeit schaffenden Ideen sich eindrängten, :gab sich niemand
die Mühe, ihrer mühsamen Verwirklichung nachzugehen.
Ein Gesetz vom 19. März 1793 — der Artikel 13 des Dekrets
vom 19.—24. März — griff die Sparkassenidee wieder auf: „Um die
Absichten der Vorsorge seitens der Bürger zu fördern, die Vor-
kehrungen treffen wollten für alle möglichen Fälle, soll eine öffent-
liche Anstalt unter dem Namen „Caisse de Prévoyance“ ins Leben
gerufen werden, über deren Aufgaben und Einrichtung Einzel-
bestimmungen noch erlassen werden.“
Durch Gesetz vom 24. nivose des Jahres 8, das die Statuten
für die Bank von Frankreich gab, wurde gleichfalls der Sparkassen-
institution gedacht, die einen Aufgabezweig jener Bankanstalt bilden
sollte:
„Art. 5. Unter die Geschäfte der Bank von Frankreich ist auf-
zunehmen .....
5. die Eröffnung einer Kasse für Geldeinlagen und Ersparnisse,
deren Gesamtbetrag mindestens 50 fres. beträgt und die zur Zurück-
zahlung gelangen, wann es dem Einleger beliebt.“
Ein Dekret vom 3. September 1808 befaßte sich sogar mit der
genaueren Feststellung der Einrichtung dieses Geschäftszweiges, ohne
daß dies zu seiner Einführung geführt hätte.
Von der Literatur wird dann oft das napoleonische Dekret von
Buntzlau vom 26. Mai 1813 oder die Kgl. Ordonnanz vom 25. Juni
1817 als das Datum der praktischen Verwirklichung der Sparkassen-
idee angeführt (caisse de secours mutuels), in denen Arbeiter zur
Vorsorge gegen Krankheit, Unfall und Invalidität, sowie zur Unter-
stützung ihrer Witwen und Waisen Einzahlung machten, im ersteren
Fall handelte es sich um die société de prévoyance des ouvriers
hoilleurs des Departements Ourthe, im letzteren um die caisse de
prévoyance des ouvriers mineurs in Rive-de-Gier.
Das französische Sparkassenwesen. 3
Erst im Jahre 1818 bekam Frankreich eine Anstalt, die als
Sparkasse bezeichnet werden kann, d. i. eine Einrichtung, die zur
ur des Sparsinns den Einlegern größtmöglichste Vorteile ge-
währt.
Benjamin Delessert, zu Lyon am 14. Februar 1773 geboren,
veranlaßte als Direktor der 1816 gegründeten „Compagnie royale
d’assurances maritimes“, daß diese Gesellschaft Vaterschaft bei einer
Sparanstalt stünde, indem sie sich zur Stellung eines Gründungs-
fonds bereit erklärte und ihr Bureauräumlichkeiten zur Verfügung
zu stellen sich erbot. Gleichzeitig warb Delessert Anhänger für
seine menschenfreundliche Idee, und die ersten Namen des Adels,
wie der Geschäftswelt liehen ihr ihre Hilfe:
Der Herzog von Rochefoucould-Liancourt, der später ihr erster
Direktor (von 1818—1825) wurde, Jacques Lafite, der damalige
provisorische Gouverneur der Bank von Frankreich, M. de Rot-
schild u. a. m.
Ihre Absicht war, in einer Caisse d'épargne et de prévoyance
zu Paris eine Anstalt zu gründen, die von ihnen und ihren Nach-
folgern im Interesse der Einleger und unentgeltlich verwaltet
werden sollte; die grundlegenden Bestimmungen, die als Statut einer
société anonyme de bienfaisance pour en encourager la petite épargne
sich darstellten, wurden am 22. Mai 1818 unterzeichnet und der
König Ludwig XVIII. gebeten, der Anstalt seine Sanktion zu er-
teilen, was unterm 29. Juli 1818 für die Dauer von 30 Jahren ge-
schah 11.
Am 15. November 1818 wurde die Sparkasse dem Verkehr über-
geben.
Das Beispiel fand bald auch anderorts Nachfolger. Am 4. Juli
1819 trat die Sparkasse von Bordeaux ins Leben, am 1. Februar
1820 die zu Metz, im gleichen Jahre folgte noch Rouen, im nächsten
Kaele, Nantes, Trojes, Brest, 1822 Le Havre und Lyon, 1823
ims.
Die bedeutendste Rolle spielte bis heute die Sparkasse von
Paris, ihre Einrichtungen waren vorbildlich für die Provinz und ihre
Erfahrungen spiegelten sich in der Gesetzgebung. Noch bis Ende
der 30er Jahre hatte sie eine größere Einlegerzahl als alle anderen
französischen Sparkassen zusammen:
1835: Caisse de Paris 65 000 Deponenten
122 andere Kassen 56 000 Ze
Bis heute ist sie die weitaus größte Kasse geblieben.
Die Statuten der Kasse von Paris zeigten großes Verständnis
für die Aufgabe der Institution, Gemeinsinn und Vorsicht, und sie
vervollkommneten sich immer mehr nach diesen Richtungen.
Die Kasse nahm Einlagen von 1 frc. an, gab aber ihren Zins
1) Der Hof nahm auch später lebhaftes Interesse an der Institution, so gab der
König zu Ehren der Geburt des Herzogs von Bordeaux allen am 29. September 1820
geborenen Kindern Sparkassenbücher mit Einlagen. Andere Prinzen versorgten ihr
ganzes Dienstpersonal mit Sparkassenbüchern.
1*
4 Schachner,
von 5 Proz. anfangs nur Einlagen von 12 frcs. an und dem viel-
fachen von 12 frcs., bis man im Jahre 1823 diese seltsame Be-
stimmung aufgab und die Zinszahlung für jeden vollen Franc ein-
führte. Um der arbeitenden Klasse Einlagemöglichkeit zu geben,
wurde als Amtstag der Sonntag eingeführt.
Die größte Schwierigkeit machte die Bedachtnahme auf die
Liquidität der Kasse, sie zeigte sich in der Limitierung der Einlagen
wie des Gesamtguthabens und in der Art der Veranlagung. Bereits
im Jahre 1822 wurde als Wocheneinlagenmaximum 100 fres. und
noch im selben Jahre einige Wochen später 50 fres. festgesetzt.
Wenn die Einlage eines Sparkunden die Höhe von 50 fres. Rente
erreichte, was die Befugnis zur Eintragung in das Schuldbuch des
Staates gab, wurde die Uebertragung dorthin von Seite der Spar-
kasse für ihre Kunden vorgenommen.
Die Veranlagung erfolgte in Staatspapieren und in Bareinlagen
bei der „Compagnie royale d’assurance“, mit der die Sparkasse in
Kontokorrent stand. Aber gerade der Umstand der starken Kurs-
Steigerung der französischen Rente von 67 fres. im Jahre 1819 auf
78 fres. im Jahre 1821 ließ die Erkenntnis von der Bedenklichkeit
dieser Veranlagung erwachsen, da man bei dieser starken Aufwärts-
bewegung auch an den Eintritt des Gegenteils sich mahnen ließ.
Das rapide Ansteigen der Einlagen auf 6 Mill. fres. nach
21/,-jähriger Existenz schien der vorsichtigen Direktion eine un-
erträgliche Verantwortung in sich zu bergen, und sie suchte beim
Staat die Uebertragung niederer Einlagen auf das Staatsschuldbuch
zu erreichen. Durch das Gesetz vom 24. August 1793, wodurch
jenes begründet wurde, war als niederster Betrag ein Rentenbezug
von 50 fres., der sich nach dem Kurs von 1820 bei 850 fres. ergab,
festgesetzt. Das Parlament wies die Forderungen der Sparkassen-
freunde auf Reduzierung dieser Summe aus den verschiedensten
Gründen der Staatsfinanzpolitik beharrlich zurück. Endlich gelang
es durch das Gesetz vom 13. August 1822 eine Summe mit einer
Rente von 10 frcs. zur Eintragung bringen zu können, und die Spar-
kasse von Paris, der Hauptfaktor in der Bewegung, erhielt in der
Kgl. Ordonnanz vom 30. Oktober 1822 die Ermächtigung, alle ihre
Guthaben im Betrag von 10 fres. Rente auf das Staatsschuldbuch
übertragen zu können. Dadurch wurde, wie die Direktion der
Pariser Sparkasse feststellte, die schwere Auflage „Geld“ flüssig
zu halten, erleichtert und das Gedeihen der Sparkassen den Möglich-
keiten einer ungünstigen Gestaltung des Staatskredits entzogen.
Viele Einleger ließen sich dies anstandslos gefallen, andere zogen
ihre Kapitalien zurück, sei es daß sie jenen Zinsbezug erreicht
hatten, sei es daß sie das Mißfallen mit dieser Organisationsänderung
ausdrücken wollten: die Kasse überstand diese Krise leicht, und da
die Rente auf 89 gestiegen war, fiel ihr ein beträchtlicher Profit aus
der Differenz von Renteneinkaufs- und -verkaufspreis in den Schoß.
Das Guthaben bei der Sparkasse aber sank durch die Durchführung
Das französische Sparkassenwesen. 5
dieser Finanzreform von 6800000 fres. am 30. September 1822 auf
929000 fres. am 30. Juni 1823.
Gerade diese Zeit hatte den Sparkassen aber bereits die viel-
beklagte „sensibilité“ der Sparkunden und ihrer Einlagen gelehrt;
das alsbald folgende erneute Anwachsen der Sparkasseneinlagen
erweckte wieder das Gefühl der Unruhe, das von dem unausgesetzten
Steigen der Rente bis auf 110 im Jahre 1829 verstärkt wurde.
Die Sparkassendirektion suchte nach einem Träger der Ver-
antwortlichkeit und wußte endlich den Staat zu bestimmen, sie zu
übernehmen. Die Ordonnanz vom 3. Juni 1829, die im Artikel 7
des Finanzgesetzes vom 3. Juni 1829 Bestätigung erfuhr, erlaubte
den Sparkassen ihre Einlagen in Kontokorrent beim Staatsschatz zu
deponieren. Damit trat nunmehr an Stelle der Garantie der Ein-
lagen durch einen Kursschwankungen »unterworfenen Fonds die
Garantie der Rückzahlung des eingelegten Kapitals durch den Staat.
Die Sparkasse hatte dabei engherzig die Interessen der eigenen Ver-
waltung im Auge, kümmerte sich aber zu wenig, wie diese Ver-
änderung des Finanzgebahrens den Interessen der Einleger ent-
sprechen würde. Rechtlich war ihre Stellung eine günstigere geworden,
moralisch aber verstieß dieser Schritt gegen die sozialen Grund-
prinzipien ihrer Gründung.
Auch diese Organisationsänderung, die zu einem Verkauf der
Staatspapiere führte, gestaltete sich bei deren gestiegenem Kurs für
die Sparkasse von Paris so günstig, daß sie 61000 fres. als Profit
den Reserven überweisen konnte.
Mit dieser Verschiebung der Verantwortung erschien es der
Sparkasse nun auch angängig, bis zu 2000 fres. bei sich anlegen zu
lassen und die Staatsverantwortlichkeit wie einen Fels betrachtend,
trieb sie eine größere Propagandatätigkeit als je.
Die Sparkasse zu Reims, die sich der Verantwortlichkeits-
entlastung der Pariser Sparkasse nicht bedienen wollte, hatte in den
gleichen Jahren aus mangelndem Vertrauen in den Staatskredit durch
einschränkende Bestimmungen über Einlage und Rückzahlung die
Sparlustigen so verstimmt, daß deren Einlagen von 60741 fres. im
Dezember 1826 und 254 Konten auf 39532 fres. bei 218 Konten
im Dezember 1829 wichen. Die anderen Sparkassen folgten meist
dem Vorbilde der Pariser Anstalt.
Die Sparkassen sollten bald zu lernen bekommen, daß ein
Risiko abwälzen, es noch nicht beseitigen heißt, wie sie sich das
geträumt hatten. Sie sollten in den kommenden Jahrzehnten lernen,
wie stark alle politischen Bewegungen im wirtschaftlichen Leben der
Sparkunden sich spiegeln und wie der Staat hiervon erschüttert
werden kann. Am stärksten trat das immer bei der größten Anstalt
in die Erscheinung.
Kaum hatte sich die Pariser Sparkasse so entlastet, als die
erste Krisis über sie mit dem Revolutionsjahr von 1830 hereinbrach.
Noch am 25. Juli wurden 109800 fres. eingelegt, am 27. Juli brach
6 Schachner,
die Revolution aus, und sofort begann die Panik an die Türe der
Kasse zu pochen.
Sparkasse von Paris.
: Einlagen Zurückziehungen
1830 [Januar mit Juli 4 004 681 I 105 068
lAugust mit September 1 IQI 270 2651831
Einlagenstand am 31. Dezember 1830 5 329 000 fres.
Einlagen Zurückziehungen
Januar 308 973 323 188
Februar mit April 533 503 1 386 663
1831 ; Mai 224 084 206 386
Dan mit September 650 135 918 359
Oktober mit Dezember 686 810 483 771
2 2 403 565 3 318 368
1832 3 643 221 2 200 754
Eine dreitägige Revolution vom 27.—29. Juli 1830, die Gärung
gegen die Thronerhebung Ludwig Philipps, die dann 1832 zu einem
republikanischen Aufstande in Paris führte, und eine Choleraepidemie
hatten diese gewaltigen Rückziehungen veranlaßt.
Die Sparkassen der Provinz wurden weit weniger berührt.
Die Sparkasse zu Reims hatte zwar mit ihren restriktiven Be-
stimmungen einer gleichen Einwirkung der Revolution vorgebeugt,
immerhin litt auch sie unter ihr.
Sparkasse in Reims.
Einleger Einlagen
31. Dezember 1830 174 33 069 fres.
31. së 1831 139 27576 „
Diese Jahre lehrten den Staat, wie leicht empfindlich die
Kunden der Sparanstalten gegen politische und wirtschaftliche Krisen
sind, so daß der Staat, der eben erst die Verantwortlichkeit gegen-
über diesen Anstalten im Interesse ihrer Erhaltung und Entwicklung
übernommen hatte, dazu schritt, diese durch gesetzliche Festlegung
der Verhältnisse des Sparkassenwesens zu verringern.
Er tat dies in dem Gesetz vom 5. Juni 1835, das in seinen
Grundlagen bis heute in Geltung blieb.
Darin wurde die Gründung einer Sparkasse von der Ermächtigung
durch Königliche Ordonnanz abhängig gemacht und eine jährliche
Berichterstattung an das Parlament angeordnet, außerdem aber ein
Maximum von 3000 fres. für die gewöhnlichen Sparkasseneinlagen,
von 6000 frcs. für die von Gesellschaften auf Gegenseitigkeit (sociétés
de secours mutuels) festgesetzt und eine Begrenzung der Wochen-
summe der Einzahlungen auf 300 fres.
Mit der Einführung dieser Beschränkungen ging die Forderung,
daß jeder Sparer ein Sparbuch ausgefertigt erhalten muß, Hand in
Hand. Wie sehr sich der Staat aber bereits an der Sparkassen-
institution beteiligt und einflußberechtigt glaubte, geht wohl aus der
Bestimmung hervor, wonach er die Sparkassen verpflichtete, die Ein-
Das französische Sparkassenwesen. 7
lagen ihrer Kunden auf Wunsch von einer Kasse auf die andere zu
übertragen !).
Nach jenen Sicherungen und Einschränkungen seiner Verant-
vortlichkeit erklärte er sich dauernd bereit, alle Kapitalien der Spar-
kassen bei der Staatskasse in Kontokorrent zu nehmen, wofür er
2 Jahre später die „Caisse des Dépôts et Consignations“ eigens ins
Leben rief. Von 1837 an wurde die Anlage bei jener Staatskasse
zum Ankauf von Staatspapieren verwendet.
Der Staat förderte aber auch die Tätigkeit der Sparkassen da-
durch, daß er sie von allen Abgaben, Gebühren und Stempeln, außer
für Quittungen, befreite und ihnen die Sonderrechte der „établissements
duh publique“ gab. Seit dieser Zeit hat der Staat die Spar-
kassen mehr und mehr als eine Institution betrachtet, deren Regelung
ihm zusteht, diese hatten sich mit der Anlehnung ihrer Finanzen an
den Staat jeder Bewegungsfreiheit begeben, duldeten anfangs ungern
dieses Eingreifen des Staates, gewöhnten sich aber allmählich so sehr,
daß sie heute in ihrer Mehrzahl in solche Tatenlosigkeiten verfallen
sind, daß sie jene Kuratel nicht mehr entbehren wollen, ja ohne ihr
nicht bestehen zu können glauben.
Das Eingreifen des Staates übte bei dessen Ansehen eine be-
lebende Einwirkung auf das Sparwesen aus, was sich nach Beendi-
gung der Krisenjahre in der Statistik zeigte. Die Bereitwilligkeit,
Sparkassen zu gründen, wuchs, da die schwierigste Last, die Finanz-
wirtschaft, auf Staatsschultern gebürdet lag. Das Sparkassenwesen,
das 1830 erst 14 Institute zählte, von denen 11 in den ersten 4 Jahren
des Entstehens des Sparwesens geschaffen waren, wies 1634 bereits
47 Anstalten auf, Ende 1836 bestanden bereits 227 Kassen. die
96 567 851 fres. beim Staate veranlagten.
Diese starke Zunahme der Sparkasseneinlagen war vor allem mit
auf das Konto der Abschaffung der Lotterie zu setzen. Schon im
Gesetz vom 21. April 1823 beschlossen, kam sie endlich durch die
Königliche Ordonnanz vom 22. Februar 1829 zur Durchführung, es
wurde darin ihre jährliche Einschränkung bis zur völligen Aufhebung
am 31. Dezember 1835 vorgesehen.
Sparkasseneinlagen Lotterieeinsätze
1832 3 643 000 17 696 000
1833 8 700 000 12 000 000
1834 17 230 000 11 000 000
1835 23 585 000 —
Eine Störung in dieser glanzvollen Entwicklung trat erst wieder
im Jahre 1839 und 1840 ein, als die Mißerfolge in der auswärtigen
Politik, besonders durch den Staatsvertrag der Westmächte vom
15. Juli 1839, wodurch Frankreich isoliert wurde, und das Attentat
auf den König vom 15. Oktober 1840 und die Gärung gegen das
1) Die Sparkasse von Paris hat diese Tätigkeit bereits im Jahre 1838 so geregelt,
daß den Einlegern aus der Uebertragung kein Verlust erwuchs, indem der Zinsendienst
keine Unterbrechung erfuhr.
8 Schachner,
Regiment Louis Philipps, die zu Arbeiteraufständen führte, eine
Unruhe besonders unter den hauptstädtischen Einlegern schuf.
Sparkasse von Paris.
1839 Einlagen Zurückziehungen
1. Januar—10. Februar 4713 782 2 909 052
17. Februar—12. Mai 6521251 8250715
19. Mai—31. Dezember 17 914 400 14 420 364
Jahr 1839 29 149 433 25 580 130
1840
1. Januar—31. August 23 476675 18 598 576
September 1 760 401 3 926 063
Oktober 1756 999 6 139 140
November u. Dezember 4 443 364 4 148 700
Jahr 1840 31437 439 32 812479
Trotz dieser Störungen und der geringen Stabilität der Verhält-
nisse in der wenig angesehenen und wenig fest begründeten Regierung
Ludwig Philipps war die Epoche von 1830 bis 1845 eine Zeit un-
geheuren Aufschwungs des Sparkassenwesens.
Alle französischen Sparkassen.
Anzahl der Einlagen
Ende Kassen Einleger in 1000 fres.
1830 12 — =>
1839 265 310 842 171058
1840 278 351 807 192 383
1844 328 638 984 392 552
Sparkasse von Paris.
Ende Einleger Einlagen in 1000 fres.
1830 — 5 329 000
1839 112 158 69 357 276
1840 118 990 70 355 337
1844 173 515 112 061 915
Sparkasse zu Reims.
Einleger Einlagen
1830 174 33 069
1839 1824 859 931
1846 4021 1999 157
Das Jahr 1845 brachte eine zweifache Beeinflussung des Spar-
kassengeschäftes, in erster Linie durch eine wirtschaftliche Krisis,
dann aber durch restriktive Staatsgesetzgebung.
Das Jahr 1845 litt unter der Mißernte des Vorjahres und einer
damit zusammenhängenden bedenklichen Geldkrise, welche die Re-
versen der Bank von Frankreich von 187 auf 71 Mill. fallen ließ
und dazu führte, ihr unterm 10. Juni die Ausgabe von Noten zu
200 fres. zu erlauben. Die Krise kam in eine für die Sparkassen
ungünstige Zeit. Die ungeheure Mehrung der Einlagen hatte schon
seit Jahren lebhafte Bedenken gegen die bestehende weitgehende
Verknüpfung der Staatsfinanzen mit den Sparkassen in Regierungs-
kreisen geweckt, zumal sich nahezu alle Sparkassen des ihnen zu-
gestandenen Kontokorrent mit der Staatskasse bedienten.
Das französische Sparkassenwesen. 9
Die Wünsche nach radikaler Aenderung wurden jedoch von den
zahlreichen Anhängern der Sparkassen im Parlament, denen das
Sparkassenwesen essentiell mit diesen Diensten des Staates verknüpft
schien, erfolgreich bekämpft, doch kam es, beschleunigt durch die
Krise des Jahres 1845, zu einer einschneidenden Abänderung des
Gesetzes von 1835 durch das Gesetz vom 22. Juni 1845. Im Parla-
ment wurde als Zweck dieses Gesetzes ausdrücklich angegeben: daß
es eine Gefahr entfernen soll, die in der Tat im Bereich der Mög-
lichkeit liegt. „Es ist eine zu große Kapitalansammlung in den
Händen des Staates, Summen, die Gegenstand sofortiger Rückzahlung
bilden.“ Es wurde darin das Maximum auf 1500 fres. festgesetzt,
das nur mit Zinsanfällen sich auf 2000 fres. erhöhen dürfte, für die
Gesellschaften auf Gegenseitigkeit wurden 6000 fres., mit Zinszuwachs
8000 fres. zugelassen. Die Beschränkung der Wocheneinlagen auf
300 fres. blieb.
. Die Mehrung der kleinen Einlagen wie der Rückgang der großen
SE manifestierte sich deutlich in den Durchschnittsgrößen der
inlagen.
Durchschnittsguthaben.
Alle Sparkassen Sparkassen
Frankreichs von Paris
1839 550 618,38
1843 608 647,48
1844 614 644,99
1845 575 561
1846 524 496
1847 486 436
Der Rückgang in den Sparkassen mit Kündigung der Beträge
über 2000 fres., dem vielleicht die politisch unsicheren Verhältnisse
noch weitere Zurückziehungen zur Seite stellten, ergab bei der
Sparkasse zu Paris, die innerhalb 3 Wochen an 12000 Deponenten
9792002 fres. zurückzahlte, eine Minderung von !/,, bei der Gesamt-
heit der französischen Sparkassen von etwas mehr als 1/10.
Alle französischen Sparkassen.
Anzahl der Kassen Einleger Einlagen in 1000 fres.
1845 342 684 226 393 508
1846 351 735 841 386 179
1847 354 736 951 358 406
Sparkasse von Paris.
Einleger Einlagen in 1000 frcs.
1845 178 259 100 057
1846 184 908 91 865
1847 183 449 80 146
Diesem Zurückweichen des Einlagenstandes stand sogar eine
Mehrung der Einleger gegenüber, die unteren Klassen hatten nun-
mehr offenbar erhöhtes Zutrauen zu den Kassen gewonnen oder
Weier doch in Verlegenheit um eine andere Depotstelle ihrer Er-
arnisse.
10 Schachner,
Bald sollte sich zeigen, daß der Staat wirklich über seine Kräfte
mit den Sparkassenfinanzen verquickt war und daß die vollzogene Ein-
schränkung seiner Verantwortlichkeit nicht zureichte. Die Februar-
revolution stürzte den Thron der Orleans, brachte aber mit einer
schlechten republikanischen Regierung Unruhe und Unsicherheit in
die französische Politik und Wirtschaft.
Am 7. März suchte die provisorische Regierung die Bevölkerung
durch ein Manifest im Moniteur zu beruhigen und leitete Maßregeln
ein, die dem Zurückziehen der Sparkapitalien begegnen sollten:
„Von allen den Kapitalien des Staates ist das unverletzlichste
und heiligste das Ersparnis der Armen.
Die Sparkassen sind unter die Garantie der Ehrlichkeit der
Nation gestellt.
Der Sparkasse gehört die besondere Aufmerksamkeit des Finanz-
ministers und der provisorischen Regierung.
Die neue Regierung wird sich nicht auf diese gewissenhafte
Durchführung der eingegangenen Verpflichtungen beschränken. Die
Garantie des Kapitals, das die Arbeiter im Schweiße ihrer Stirne
erwerben, genügt nicht, sondern man muß ihm einen größeren Wert
geben.
Deshalb wird in Erwägung,
daß der Zins der Schatzscheine auf 5 Proz. erhöht ist und daß
die Gerechtigkeit es gebieterisch fordert, daß das Kapital des
Armen des gleichen Zinsgenusses sich erfreut, wie das des Reichen,
ab 10. März 1848 allen Guthaben, die an diesem Datum in der
Sparkasse anliegen, ein Zins von 5 Proz. gewährt.“
Die Sparkassen gewährten daraufhin sogleich unter Abzug ihrer
Verwaltungskosten den Einlegern 4°/, Proz.
Daneben sah sich die Regierung gezwungen, durch Dekret vom
9. März die Rückzahlungen auf das einzelne Buch auf 100 fres. zu
beschränken und den darüber hinaus laufenden Betrag zur Hälfte
in 5-proz. Staatsrente al pari, zur Hälfte in Schatzscheinen, die
4 Monate nach der Ausgabe zahlbar waren, soweit sie für Einlagen
von 100—1000 fres., in 6 Monaten zahlbar, soweit sie für Einleger
von mehr als 1000 fres. ausgestellt wurden, zu geben. Man suchte
neue Einlagen dadurch heranzuziehen, daß man diese Bestimmungen
nicht für Einlagen gelten ließ, die nach dem 24. Februar 1848 ein-
gezahlt wurden; teils um die Rückzahlungen der großen Depots der
sociétés mutuels zu verhindern, teils um nicht wirtschaftlich vorteil-
hafte Einrichtungen in dieser Zeit der Not zugrunde zu richten,
dann auch aus Furcht vor der sozialistischen Arbeitermasse, wurden
deren Sparkasseneinlagen diesen Bestimmungen nicht unterstellt.
Der Finanzminister Garnier-Pages legte in einem Erlaß die
Verpflichtungen der Regierung gegenüber den Sparkassen dar und
suchte ihr Verhalten zu rechtfertigen: „Was die Sparkassen betrifft,
so weiß jedermann ihre beklagenswerte Geschichte. Von den
355 Millionen, die unter der dieser Regierung vorangehenden Ver-
waltung eingelegt wurden, habe ich nur 60 Millionen bar vorgefunden,
Das französische Sparkassenwesen. 11
der Rest ist unbeweglich (immobilisé) angelegt in Staatspapieren.
Daher kommt es, daß die Regierung absolut nicht in der Lage ist,
die Zahlungen vorzunehmen, die man von ihr fordert.“
Die Verluste für die Einleger, denen die 5-proz. Rente al pari
ausbezahlt wurde, gestalteten sich freilich mit dem baldigen Fall der
Rente auf 70 und vorübergehend sogar auf 50 fres. sehr groß.
Die Junibarrikadenschlacht vom 24.—26. Juni drängte die Regie-
rung zu milderen Maßregeln.
Am 7. Juli 1848 entschied die Nationalversammlung, daß die Em-
pinger 5-prozentiger Rente eine Anweisung erhielten, die der Differenz
zwischen dem al pari Kurs und einem Kurs von 80 frcs., was nur
ein fiktiver Kurs war, keiner der der Börse entsprach, — dieser
schwankte zwischen 70 und 50 — gleich war. Gleichzeitig wurden die
Rückzahlungsbestimmungen auf alle Depots über 80 fres. ausgedehnt
und alle mit einem Depot von mehr als 80 fres., ob sie ihre Einlagen
zurückziehen wollten oder nicht, auf die gleiche Weise abgefunden.
Das Sparkassengeschäft litt unter den Einwirkungen dieser ge-
setzlichen Maßnahmen.
Einlagen Zurückziehungen in 1000 fres.:
in 1000 fres. befriedigt
in bar "D Nie in Renten Summe
scheinen
Jannar 4112 2499 — ER 2499
Februar 2124 2681 — — 2681
März (vor dem Dekret
vom 9. März) 315 3 809 — — 3 809
(nach dem Dekret vom
8. März) 77 3 839 248 175 4 262
April 104 1598 380 132 2 110
Mai 112 576 154 64 794
Juni 58 802 79 28 909
14. Juli (vor Anwen-
dung des Dekrets vom
7. Juli) a 208 21 ER 368
6954 16 146 882 404 17 432
Am 24. November 1843 wurde den Deponenten auch noch die
Differenz zwischen 80 fres. und dem wirklichen Kurs, der damals
71 fres. 70 cts. betrug, gutgeschrieben.
Der Staat nahm insgesamt einen Verlust von 140 Millionen auf sich.
Die krisenmildernden Maßnahmen kamen zu spät, das Spar-
kassenwesen war durch die Schutzmaßregeln des Staates zerrüttet
worden. bis Ende 1848 hatte die Kasse von Paris 1, ihrer Einlagen
eingebüßt, während die französischen Sparkassen insgesamt bis Ende
1849, wofür allein eine Statistik besteht, fast *%, ihrer Einlagen ver-
loren hatten.
Alle französischen Sparkassen.
d Einlagen Guthaben auf
Jahresende ` Ze Einlager in 1000 fres. die Einleger
1847 354 736 951 358 406 486
1549 355 561 440 73 918 131
12 Schachner,
Sparkasse von Paris.
1847 183 449 80 146 436
1848 24. II. 185 230 80 900 437
9. II. 181 340 74 700 407
1848 168 643 10 151 60
„1849 173 029 23 094 133
Die Zahl der Einleger zeigt, daß die kleineren Einleger treu
geblieben waren, da ihnen eben auch in der ungünstigsten Zeit keine
andere Möglichkeit der Unterbringung ihrer Ersparnisse zur Ver-
fügung stand.
Sogleich mit dem Ende des Jahres 1848 begannen sich die Spar-
kassen wieder zu erholen und in raschen Sprüngen der alten Ein-
lagenhöhe wieder zuzueilen.
Gesamteinlagestand in 1000 frcs.
Alle französischen Sparkassen Pariser Sparkasse
1849 73 918 23 094
1850 134 917 37 747
1851 158 162 39 798
1852 245 417 51816
Doch der Staat bereitete, belehrt durch die Ereignisse des Jahres
1848, eine Gesetzgebung vor, die seine Verantwortlichkeit erheblich
verringern sollte. Bereits im Jahre 1848 hatte er ein Gesetz ver-
abschiedet, das jeden, der ein zweites Buch besitzt, mit dem Verlust
aller Zinsen auf die zweite Einlage bestrafte.
Weiterhin aber erwog man den Gedanken einer starken Be-
schneidung des Einlagenmaximums. Im Parlament wurde deren
Reduzierung auf 500 fres. und der Einzahlungen pro Woche auf
50 fres. gefordert.
Das Gesetz vom 30. Juni 1851 begnügte sich damit, ein Maximum
von 1000 frcs. festzusetzen. Außerdem aber wurden Verwaltung
und Buchführung der Sparkassen einer scharfen Ueberwachung durch
den Staat unterstellt.
Nachdem der 1848 eingeräumte Zinsfuß mit der Entwicklung
der Rente als zu hoch sich ergab und auch seinen Beruhigungs-
zweck erfüllt hatte, wurde er durch Gesetz vom 30. Juni 1851 auf
4!/, Proz. herabgesetzt, durch Gesetz vom 7. Mai 1853 auf 4 Proz.,
wie er vor der Krise seit dem Gesetze vom 31. März 1837 war.
1852 kam der Zwang der Anlegung der Sparkassenkapitalien
beim Staat, was freilich nur die tatsächlichen Verhältnisse zur Ge-
setzesnorm machte.
Die Regierung Napoleons III. war eine Epoche kaum gestörten
Wachstums der Sparkassen. Nur der Krimkrieg im Jahre 1854 und die
Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 berührten das Sparkassen-
geschäft; während dieses politische Ereignis nur in der Monatsstatistik
zum Ausdruck kam, sind die Rückzahlungen während des Krimkrieges
bei der Pariser Sparkasse allein, in der Zeit bis zum 30. Juni in
der Höhe von 17 Millionen, in der zweiten Hälfte des Jahres von
9,8 Millionen nicht einflußlos auf die Jahresziffer gewesen. Der
Das französische Sparkassenwesen. 13
Rückgang dieses Jahres erfährt eine weitere Begründung auch noch
dadurch, daß Staat und Stadt in diesem Jahre zum erstenmal mit
ihrem Anleihebedürfnis direkt an die Allgemeinheit herantraten, wo-
durch manche Sparkunden sich zur Veranlagung ihrer Ersparnisse
in jenen Werten veranlaßt sahen, gleiches Vorgehen beider wieder-
holte in den folgenden Jahren seine für die Sparkassen abträgliche
Einwirkung. Alles dies berührte die hauptstädtische Kasse natür-
lich wieder am stärksten. Das Zurückweichen der Höhe des Durch-
schnittguthabens zeigt, wie gerade die Spargäste mit größeren Ein-
lagen die Gelegenheit anderweitiger Veranlagung ergriffen.
Französische Sparkassen Sparkasse von Paris
f Einlagen |Durchschnitts-| „.. Einlagen |Durchschnitte-
Zul) Einleger in 1000 fres.| guthaben Einleger in 1000 fres.| guthaben
1833| 350| 844 949 | 285 573 337 215 449 54 413 257
1554] 363 | 865 478 271557 313 212 308 48 182 226
1555/365 | 893750! 272 183 304 216 052 46 944 217
1856| 370 | 936 188 | 275 343 294 221379 45 771 206
1857|379 | 978802| 278921 284 226 224 44 607 197
1558| 401 | 1042 205 | 310506 298 231647 48 783 Di
Mit dem Tage der gesetzlichen Reduktion der Einlagehöhe
setzten auch schon die Bemühungen der Sparkassen ein, den
Dieren Rahmen für den Betrag der Einzeleinlage wieder zu er-
halten. Die Sparkassen erklärten, daß ein Maximum von 1000 fres.
zu niedrig sei, um wirklich als Aufbewahrung auch kleiner Erspar-
nisse gelten zu können. Besonders empfindlich wurde dieses niedrige
Maximum empfunden, als anfangs der 60er Jahre die Löhne stiegen
und 1867 die Weltausstellung hohen Verdienst brachte, den man
gern der Sparkasse für magere Jahre übergeben hätte.
Francois Delassert, der seinem Bruder nach dessen Tod im
Jahre 1837 in der Führung der Sparkassendirektion folgte, erhob
unentwegt die Forderung einer Maximalhöhe von 2000 fres. und
erreichte es auch, daß vom Staate eine Kommission nach England
geschickt wurde, die ein dem dortigen analoges Maximum von
3150 fres., das mit Zins auf 5000 frcs. anwachsen durfte, empfahl.
Ein Gesetzesprojekt vom Jahre 1866 enthielt denn auch die Fest-
stellung eines Maximums von 2000 fres., mit Zinszuwachs von
3000 fres. neben Erhöhung der Wocheneinlage auf 600 fres., ohne
daß es zu seiner Verabschiedung gekommen wäre.
_ Trotz des niederen Maximums trat in den 20 Jahren inneren
Friedens ein starker Aufschwung der Sparkassenkapitalien ein, was
auf die immer größere Beteiligung der unteren Klassen an den
Sparkassen hinweist.
1852 war mit 742889 Kunden bereits die Höchstziffer der Ein-
leger der Gesamtheit der französischen Sparkassen vor der Krisis, die
im Jahre 1847 mit 736951 Köpfen lag, überschritten, und 1861 die
Einlageziffer des Jahres 1845, die unter der Herrschaft des 3000 fres.-
14 Schachner,
Maximums zustande kam und 393508000 fres. betrug, übertroffen,
da die Gesamteinlagen 401 313000 frcs. erreichten. Wie sehr das
Vertrauen der Massen zurückerobert worden war, beweist die Ver-
doppelung der Einlegerziffer in jedem Jahrzehnt.
Französische Sparkassen Sparkasse von Paris
$ Einlagen Durchschnitt Einlagen | Durchschnitt
Gab} Zënsen in 1000 £fres.| der Einlage Einleger in 1000 SE Einlage
1849 358 561 440 73 918 238 168 643 23 094 219
1859| 415 | ı 121 465 336 462 300 236 719 48 668 206
1869 | 508 | 2 130758| 711175 333 271 069 54 181 209
In diese glänzende Entwicklung brachen die Jahre 1870, 1871
und 1872 mit dem unglücklichen Krieg, dem Zusammenbruch des
Kaisertums, der revolutionären Bewegung der Kommunisten in
Paris und der gärenden Ungewißheit der inneren Verhältnisse ein.
Auch hier wurde die Beanspruchung der Staatskasse durch die
Sparkassen bald so groß, daß die Regierung sich zu Gegenmaß-
regeln veranlaßt sah:
Am 5. September wurden bereits die Rückzahlungsfristen, wie
sie in einer ministeriellen Instruktion vom Jahre 1857 vorgesehen
waren, von der Regierung in Erinnerung gebracht und die Spar-
kassen aufgefordert, alle Depots über 1000 fres. in Rente umzu-
wandeln.
Durch Dekret vom 17. September 1870 wurde für die Zeit
vom 2. Oktober an — die 14 Tage entsprechen der 14-tägigen
Kündigunsfrist — nur mehr 50 fres. in bar auf das einzelne Gut-
haben bei Zurückziehungen bewilligt, für den darüber gehenden
Betrag wurden 5-proz. Schatzscheine mit dreimonatiger Fälligkeit
verabreicht.
Am 16. Oktober, am 17. November und am 17. Dezember 1870
wurden für jedes Guthaben weitere 50 frcs. bar zugebilligt, doch
kamen diese Verordnungen bei dem Kriegszustand nur noch in
Paris zur Durchführung und galten wohl auch in erster Linie der
Beruhigung der hauptstädtischen Bevölkerung und der Gewinnung
ihrer Sympathien für die neue Regierung. Ein Gesetz vom
21. Juni 1871 gewährte auch günstige Bedingungen für die Um-
wandlung von Spareinlagen in Staatsrenten.
Sparkasse von Paris.
A Zurückziehungen| Auszahlungen | Umwandlungen 2
| Einlagen in bar jin Schatzscheinen| in Staatsrente Deenen
Okt. mit 249 450 1 267 981 324 810 173 503 1766 321
Dez. 1870
1871 5 938 378 8 844 049 534 970 1747 309 11 126 328
Das französische Sparkassenwesen. 15
Alle französischen Sparkassen.
Zurückziehungen | Umwandlung der Einlagen
Jabr. | lica | in Staatsrente
1870 | 244739 Bon \ 81 189 686 fres., hiervon
1871 118 149 581 | 162569 206 fres. auf Grund des
1872 179710663 "Gesetzes vom 31. Juni 1871
Die Maßnahmen zugunsten der Sparkasse kamen der Regierung
auf 884000 fres. zu stehen.
Die Summengesamtheit der französischen Sparkassen erlitt mit
a Verlust von Elsaß-Lothringen Einbußen an Einleger wie Ein-
agen.
Auch für diese Jahre zeigen die Durchschnittsziffern wieder,
wie rasch die größeren Einleger die Sparkassen fliehen und wie
schnell sie wieder zurückkehren, um als Krisenelement die Spar-
kasse wieder aufs neue zu gefährden.
Sparkasse von Paris.
e Einlagen Durchschnitts-
Jahr Einleger in 1000 fres. einlagen
16. Juli 1870 273 903 54437 208
3. September 1870 264 349 46 682 187
30, Dezember 1870 254 416 43 032 179
31. Mai 1871 237 000 41716 176
31. Dezember 1871 243 750 36 991 161
31. 7 1872 227 826 35454 156
31. ES 1873 227 352 36 111 159
31. m 1874 232 392 37 856 163
Alle französischen Sparkassen.
Jihr Zahl der Einleger Einlagen Durchschnitts-
Sparkassen g in 1000 fres. einlagen
31. Dezember 1869 508 2 130 768 zı1 175 333
die" g 1870 489 2079 141 632 225 304
i e 1871 489 2021 228 537 489 266
31. e 1872 500 2 016 552 515 218 255
3. u 1873 508 2.079 196 535 098 257
Trotz dieser außerordentlich ungünstigen Erfahrungen in den
Jahren 1870/1871 insonderheit mit den größeren Sparern begehrten
die Sparkassen doch nach wie vor eine Erhöhung des Einlage-
maximums; die Regierung, erst abgeneigt. legte bereits 1875 einen
Gesetzentwurf vor, der ein Maximum von 2000 frcs., das durch
Zinsanfall auf 2500 fres. anwachsen konnte, bestimmte. Während
dieses Gesetz nicht durchging, wurden die Sparkassen dadurch be-
porig, daß nun auch noch ihre Quittungen für steuerfrei erklärt
wurden.
In diesen Jahren bedrohte die Privatsparkasse das Projekt einer
Staatsparkasse, das immer deutlichere Formen annahm. Jene suchten
natürlich deren Inslebentreten zu verhindern und hatten darin sogar
die Regierung auf ihrer Seite, so daß diese 1875 das Projekt einer
16 Schachner,
eigenen Staatspostsparkasse völlig beiseite stellte und dafür den be-
stehenden Sparkassen den Dienst der Posten und Steuereinnehmereien
anbot. Dieses Gesetz bekam jedoch keine praktische Bedeutung, so
daß alsbald der Gedanke der Postsparskasse sich wieder in den
Vordergrund drängte und 1881 Verwirklichung erhielt. Durch dieses
Gesetz, das in seinem Artikel 21 eine Reihe seiner Bestimmungen
auf die Privatsparkassen ausdehnte, wurden gleichzeitig die jahr-
zehntelangen Bemühungen der Sparkassen befriedigt, indem für die
Einlagen ein Maximum von 2000 frcs., für sociétés de secours
mutuels von 8000 fres. erlaubt wurde; für die Einzeleinlagen selbst
wurde kein Wochenmaximum mehr, wie es früher aufgestellt war,
vorgeschrieben.
Trotz der Einführung einer eigenen Postsparkasse (caisse
d'épargne postale) wurde von Anfang an versucht, den bestehenden
Kassen mit dieser keine Konkurrenz zu machen, sondern sie sogar
durch Vorzugseinräumungen zu erhalten. Während die Privat-
sparkassen von der Staatskasse 4 Proz. erhielten und ihren
Kunden nach Abzug der Verwaltungskosten bis zu 3,75 Proz. geben
konnten, erhielten die Postsparkasseneinleger nur 3 Proz. So setzten
die Privatsparkassen ihren Aufschwung ungestört fort.
Auch die für Krisenfälle „en cas de force majeure“ durch
Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes vom 9. April 1831 eingeräumte Be-
rechtigung, die Rückzahlungen auf 50 fres. zu beschränken und zwar
abhängig von 14-tägiger Aufkündigung — sogenannte clause de
sauvegarde — übte keinen Einfluß auf die Einleger ein, die die un-
angenehmen Erfahrungen des Jahres 1870 nach dieser Richtung
vergessen zu haben schienen.
Das Sparkassenwesen erhielt nur im Jahre 1892 und 1893
größere Störungen durch die anarchistischen Dynamitattentate, starke
politische Kämpfe und besonders durch den Panamaskandal. Alle
diese Ereignisse waren in der Presse so sehr übertrieben worden,
daß eine starke Unruhe die naiveren Klassen der Bevölkerung er-
griff die zur Gefahr für die Sparkasse wurde; dem begegnete
ein Gesetz vom 3. Februar 1893, das die Verbreitung falscher und
verleumderischer Gerüchte (fausses nouvelles de nature à provoquer
des retraits de fonds dans les caisses publiques) nach § 420—463
des code poenal unter Strafe stellte.
Das Jahr 1895 brachte mit dem Gesetz vom 20. Juli 1895,
das mit den Resten des Gesetzes von 1835 heute die Basis des
Sparkassenwesens bildet, eine erneute Reduktion des Einlagen-
maximums, da sich die Regierung durch das starke Anwachsen der
Sparkasseneinlagen wiederum beunruhigt fühlte und wohl auch nach
dem Abschluß des russisch-französischen Bündnisses die Möglichkeit
vor Augen hatte, daß das Sparwesen wieder einer Belastungsprobe
ausgesetzt werden könnte. Das Maximum wurde darin auf 1500 fres.
festgesetzt, was innerhalb 5 Jahren nach dem der Verabschiedung
des Gesetzes folgenden 1. Januar durchgeführt werden sollte. Die
Sparkassen wiedersetzten sich dem wiederum vergeblich, obwohl sie
neben dem sozialen Moment auch den Gesichtspunkt der Verbilligung
Das französische Sparkassenwesen. 17
der Sparkassenverwaltung durch höhere Einlagen vorbrachten !). Die
Gesamtsumme der Einlagen eines Jahres wurde auf 1500 frcs. fixiert.
Den societes de secours mutuels und ähnlichen Gesellschaften war
ein Einlagemaximum von 15000 fres. zugestanden.
Andererseits ist durch dieses Gesetz allen Instituten, die nicht
nach Maßgabe des Gesetzes vom 5. Juni 1835 autorisiert sind, ver-
boten, den Namen Sparkasse zu führen. Durch das Gesetz von 1895
wurde auch einerseits zur besseren Kontrolle der Sparkassen, anderer-
seits zur Prüfung beabsichtigter Reformen ein besonderer 20-köpfiger
Ausschuß (Commission supérieure des caisses d'épargne) bestellt, der
von den Sparkassen selbst gewählt wird.
Eine Milderung der bestehenden Gesetzgebung erfolgte unterm
6.April 1901, wonach hinfort der Besitz eines zweiten Buches nur mehr
mit dem Verlust der Zinsen der letzten drei Jahre bestraft werden soll,
dadurch wurde das Drakonische der früheren Bestimmung beseitigt,
ohne den unausrottbaren Mißbrauch der Bestrafung zu entziehen.
Diese restriktive Gesetzgebung hat der sozialen Funktion der
Sparkasse für die kleinsten Sparer keinen Eintrag getan. Während
die Einlagesumme sich minderte, mehrte die Zahl der Einleger sich
unausgesetzt; sie betrug 1903 mehr als das Dreifache von der Zahl
des Jahres 1872, während jene von ihrem Höchststand mit dem
Jahre 1897 mit 3427097 000 fres. bis zum Jahr 1903 wieder um
240 Millionen gefallen war.
Einen nicht unbedeutenden Einfluß auf diese Ausbreitung der
Spartätigkeit mißt man in Frankreich den Schulsparkassen zu, die
in diesem Lande eine alte Geschichte haben, aber erst in den letzten
Jahrzehnten größere Verbreitung erhielten.
Als Bahnbrecher wird Dulai genannt, der sie 1834 an der Stadt-
schule zu Le Mans zum ersten Male verwirklicht haben soll, und 1839
1) Beispiel von 1906 Zinsüber- Verwaltungs-
"Bücher schüsse *) kosten e Ueberschuß Verlust
fres. fres. fres. fres. fres.
bis 20 58 292 2 739 201 = 2 680 909
21—100 184 166 1473510 _ 1253 344
101—200 239 477 660 673 — 421 196
201—500 760 724 918 525 — 157 801
501—1000 1 584 885 882 721 702 164 —
1001—1500 2 493 501 803 995 1 689 506 —
Gesamtheit 5321045 7 442 025 2 391 670 4513 250
Bücher (der Reduktion
unterworfene) über
1500 fres. 4 300 918 1 104 990 3 195 928 —
Bücher(unreduzierbare)
über 1500 fres. 74 843 6 903 67 940 =
9 696 806 8 554 518 5 655 538 4 513 250
Ueberschuß bei den Büchern über 1500 fres. 3 268 868 fres.
Abzuziehen der Verlust bei den Büchern unter 1500 fres. 2121 58a ECH
1 142 288 fres.
*) Differenz des von der Casse des dépôts gezahlten und des den Einlegern ge-
n Zinses. &
Dritie Folge Bd. XXXIX (XCIV). 2
18 Schachner,
bereits auf 250 Schulen mit 7981 fres. Ersparnissen blicken konnte.
Dieser Ruhm der ersten Tat wird ihm jedoch von der Sparkasse
von Lyon streitig gemacht, die in ihrer Denkschrift für die Aus-
stellung von Mailand im Jahre 1906 (Caisse d'épargne et de pre-
voyance du Rhöne, Lyon 1906) behauptet, daß ihre Verwaltung die
erste war, die in Frankreich Schulsparkassen einrichtete. Sicherlich
hatte das Beginnen hier längere Dauer als dort, wo es mit dem Tod
Dulais im Jahre 1873 aufhörte, wenn es freilich auch in Lyon vor-
übergehend nahe daran war, zu erlahmen. 1848/1849 erfolgten
z. B. nur 37 Einlagen mit 74 frcs., 1850/1851 54 mit 231 fres.,
1854/1855 63 mit 232 fres. und die höchste Jahreseinlagenziffer der
ersten Jahrzehnte, die in das Geschäftsjahr 1864/1865 fiel, betrug
nur 6059 fres.: erst als 1877 der Ehrgeiz der Lehrer in den Dienst
der guten Sache gestellt wurde, indem für jedes Sparbuch, das
Einlagen aufwies, eine Prämie von 50 cts. gewährt wurde —
7,50 fres. wurde der Prämienanteil im Durchschnitt —, die feier-
lich überreicht wurde, erblühte der lang vernachlässigte, aber nie
aufgegebene Geschäftszweig zu neuem Leben.
1834—1877 17 094 Einlagen zu 100677 frcs.
1877—1905 676 434 i » 3805371 fres.
Im Jahre 1905 wurden an 365 Schulen im Bezirk der Sparkasse
von Lyon auf 5277 Bücher in 47768 Geschäftsakten 223891 fres.
eingelegt. Im Jahre 1882 nahm sich bereits die Postsparkasse der
Schulsparkassenidee an, indem sie unterm 30. Dezember die Ver-
wendung von Briefmarken zu diesem Zweck gestattet; der Art. 8 des
Gesetzes von 1895 hat das gleiche Recht auch für die Schulsparkassen-
institution der Privatsparkassen erlaubt. Jene erhält in den letzten
Jahren zwischen 70— 90000 frcs. von den Schulen. In Paris be-
standen 1882 erst 75, 1883 237, 1544 244 und 1890 209 Schulen
mit Schulsparkassen. Ganz Frankreich besaß bei den Privatspar-
kassen Ende 1906 unter seinen Sparbüchern mit weniger als 20 fres.
Einlage 367951 Schulsparbücher mit 3090 847 fres. Diese Einrichtung
hat jedenfalls ebenso, wie die Einführung der Sparmarken, unter
Anstaltssperre stehender Sparbüchsen, von Mietsparkassen, von
Pfennigsparkassen, dazu beigetragen, kleine Sparer an die Privat-
sparkasse, die sich um diese Zweige besonders umtat, heranzuziehen.
Diese günstige Entwicklung des Sparwesens wurde auch nicht
durch die starken Zinsreduktionen beeinträchtigt, denen sich die
Sparkunden zu unterwerfen hatten. Bis 26. Dezember 1890 gab die
Staatskasse 4 Proz., bis 1893 3.75 Proz.. bis 1. Januar 1896 3, Proz.,
gemäß Dekret vom 27. Oktober 1895 von da an nur noch
3,25 Proz. Die Erlaubnis !/,—!/, Proz. für die Verwaltung in An-
spruch nehmen zu dürfen, wurde in der Weise benützt, daß
im Jahre 1905 514 Kassen 3 Proz.
30 D 2,75 n
3 D 2,90 »
2 D 2,95 n
ihren Einlegern gewährten.
So zeigt die Privatsparkasse ein für den Sparsinn der unterem.
Das französische Sparkassenwesen. 19
Klassen erfreuliches Vorwärtsschreiten und stand 1906 mit fast
33; Milliarden neben 1'/, Milliarde der Postsparkasse.
Der Reservefonds der Sparkassen, den sie angesichts der oft-
maligen Erschütterungen sorgsam anhäuften, betrug im Jahre 1906
171078549 frcs.
Französische Privatsparkassen Sparkasse von Paris
Einlagen Durch- i | Einlagen Durch-
gr (E Einleger (e d fres.) schnitt | Einleger |in 1000 fres.) schnitt
1872 500 | 2016552 515 218 255 227 826 35 454 156
1882 | 543 14434314 | 1754 896 306 440 728 87 836 199
1892 543 |6120634 | 3 229 310 527 629 013 158 100 251
1895 | 544 16497557 | 3 395 983 523 652055 | 157874 242
1899 546 |6918486 | 3 405 025 492 651186 | 134 620 206
1900 — |7114925 | 3 263 994 458 = 135 000 =
1903 | 549*)|7 326073 | 3 187 769 435 = = =
1906 549 |7 668024 | 3 434 082 447 632 310 117 367 184
Algerische
Sparkasse
19062) 7 18 851 4627 — — — —
Die französischen Privatsparkassen blicken auf eine gewaltige
sozialpolitische Arbeit zurück (s. Anhang). Durch ihre Bemühungen
wurde die Benutzung der Sparkasse beliebt gemacht und ein Spar-
buch liegt heute in der Hand fast jedes dritten Franzosen:
Französische Privatsparkassen.
Jahr Zahl der Einleger Spareinlagendurchschnitt
auf 1000 Einwohner auf 1 Einwohner auf 1 Sparkunden
fres. fres.
1835 4 1,91 511,70
1845 20 11,51 575,11
1855 25 7,67 304,54
1865 44 13,20 299,91
1875 65 18,29 279,18
1885 131 58,70 447,86
1895 170 88,55 522,50
1905 193 86,66 446,80
1906 195 87,48 447,34
1906 (Post- und Privat- 301 119,00 382,00
sparkassen)
1) Von den 547 Sparkassen, die bis zum Jahre 1902 errichtet wurden, waren nur
80 Sparkassen, meist die ältesten so, wie die von Paris entstanden, die übrigen, mit Aus-
nahme einer, die dem Leibhausunternehmen in Nancy angegliedert war, standen unter dem
Patronate der Gemeinden, doch erfreuen sie sich dabei einer eigenen vom Gemeinderat ge-
trennten selbständigen Verwaltung. Bereits am 4. Juli 1834 wurde ein Modellstatut für
diese caisse municipale geschaffen; unter sie reihen sich alle Kassen, denen der Gemeinde-
rat (conseil municipal) die für die Schaffung der Anstalt nötigen Summen bewilligte.
Die Statistik (Journal officiel Annexe 1908, 8. 593 ff.) von 1906 gibt folgende
Unterscheidung der 549 Kassen:
415 Kassen d. s. 75,5 Proz. unter Patronage des Gemeinderates
98 » d.s. 18 „ völlig autonom
6 » da 6,5 ,„ unter Beteiligung des Gemeinderates
2) Von den 7 algerischen Sparkassen ist 1 in Algier, 3 im Departement Con-
stantine und 3 im Departement Oran. Den 4627497 fres. Einlagen stehen 352 173 fres.
persönliches Vermögen zur Seite,
O
20 Schachner,
2. Die Postsparkasse.
Die Idee einer Erweiterung der Spargelegenheit durch Ein-
richtung einer eigenen Staatssparkasse wurde bereits in den sechziger
Jahren lebhaft ventiliert.
1866 legte der Finanzminister Fourd und der Minister für öffent-
liche Arbeiten Behic dem Kaiser einen Bericht vor, worin sie an-
regten, die Sparkasse irgendeiner Staatsaufgabe anzuschließen, wo-
durch ihre Tätigkeit über alle Plätze des Reiches verbreitet würde,
so daß solche Kassen an allen Orten bereitständen, so daß sie der
Masse des Volkes, vor allem auch der ländlichen Bevölkerung,
besseren Ansporn zur Sparsamkeit gäben.
1869 regte Boinvilliers das gleiche im Senat an.
Der Krieg brachte eine Pause, doch bereits 1872 verdichteten
sich jene Wünsche zu einem Gesetzentwurf, den Fournier, Talin und
Chabaud Latour der Nationalversammlung einreichten. Doch wurde
dieses Projekt infolge einer gewandten Rede von Denormandie zu-
gunsten des bestehenden Sparwesens zurückgezogen; die Regierung
aber gab das Versprechen, den Sparkassen Staatsbehörden als Hilfs-
stellen zur Verfügung zu stellen, und verwirklichte dies durch das
Dekret vom 23. August 1875, worin die Sparanstalten ermächtigt
wurden, sich der Postanstalten und der Steuereinnehmereien (per-
cepteurs) als Agenturen zu bedienen. Als bis zum Jahre 1878 hier-
von keinerlei Gebrauch gemacht wurde, kam man auf das alte Projekt
zurück. 1879 legte Arthur Legrand ein solches dem Parlament vor,
dem die Regierung unterm 17. Januar 1880 einen eigenen Gesetz-
entwurf gegenüberstellte.
Obwohl die Sparkassen in den letzten Jahren durch Errichtung
von Hilfsstellen starke Anstrengungen gemacht hatten, der ange-
drohten Gesetzgebung den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatten
sie doch noch immer nicht jene Verbreitung erreicht, die den Be-
fürwortern einer Staatspostsparkasse notwendig schien:
31. Dezember 1844 329 Sparkassen mit 169 Hilfsstellen
31. vg 1852 353 S „ 161 Se
31. e 1869 509 a » 648
EAR w 1881 54I D » 904
Die bestehenden Kassen bedienten wohl die größeren Städte
sehr gut, berücksichtigten aber das flache Land zu wenig, so daß
hier eine offensichtliche Lücke in dem Sparkassennetze war.
Am 3. Februar 1881 hielt Le Bastiard eine energische Rede
zugunsten einer Staatssparkasse.
Die gesetzgebende Körperschaft nahm den Gesetzentwurf der
Regierung an und er wurde unterm 9. April 1881 Gesetz. So stehen
seitdem neben den caisses d'épargne privées, jetzt in der Gesetzes-
sprache caisses d'épargne ordinaires genannt, die caisses d’épargnes
postales, die ihre Tätigkeit mit 6024 Kassen begannen.
Die Postsparkasse suchte bald sorgfältig alle diese Gebiete auf,
die von den Privatsparkassen vernachlässigt worden waren oder von
ihnen schwer bedient werden konnten.
Das französische Sparkassenwesen. 21
Nachdem mit dem Anschluß Corsikas im Jahre 1882 die Staats-
sparkasse das ganz französische Gebiet bediente, wurde sie 1884 noch
auf Algerien und Tunis ausgedehnt; bald aber ging man dazu über,
auch den im Ausland weilenden Franzosen die heimatliche Institution
zu eröffnen, so wurden Sparkassen errichtet in
Alexandrien 1886 Smyrna 1892
Tanger 1887 Beyruth 1894
Konstantinopel 1889 Port Said 1894
Saloniki 1892 Kanea 1902
In Alexandrien, Tanger und Port Said ist die Anstalt allen
Nationen geöffnet, in den übrigen Orten nur Franzosen und solchen,
die unter französischem Schutz stehen.
1588 wurde Monaco in den französischen Postsparkassenverkehr
einbezogen.
Auch auf die Postschiffe der Handelsmarine und die Kriegs-
marine!) wurde die Tätigkeit der Postsparkasse durch Dekret vom
18. März 1885 ausgedehnt, endlich wurden unterm 1. Juli 1905 in
Algier und Tunis eigene Regimentssparkassen errichtet.
Bereits am 31. Mai 1882 traf die französische Postsparkasse ein
Abkommen mit der belgischen, wonach die französischen Postämter
unentgeltlich Annahme- und Auszahlungsstellen für jene sind und
umgekehrt. Diese Vereinbarung wurde am 4. März 1897 nach den
gesammelten Erfahrungen umgearbeitet. Der Uebertragungsverkehr
zwischen Belgien und Frankreich erreichte in den ersten 5 Jahren
vom 1. August 1882 bis 31. Dezember 1887 bereits die Zahl von
1283 Geschäftsakten mit 570688 fres. und betrug insgesamt bis 1906
2826 Transaktionen mit einem Betrage von 1017 206,27 fres.
Unterm 15. April kam ein gleiches Abkommen zwischen Frank-
reich und Italien zustande, das am 1. Juni 1906 in Wirksamkeit trat.
Unter dieser Ausdehnung der Postsparkassen mußte natürlich
die Entwicklung der Privatsparkassen zu einem Stillstand kommen,
insofern wenig neue Anstalten eingerichtet wurden, doch haben sie
durch Vermehrung ihrer Hilfsstellen sich eine höhere Anziehungs-
möglichkeit verschafft. Im Jahre 1906 bestanden 549 Kassen mit
1527 Hilfsstellen (1477 succursales und 50 bureaux auxiliaires) und
165 Annahmestellen (Percepteurs); die Postsparkasse verfügte im
Jahre 1905 über 7844 Stellen.
Wie schon das Gesetz von 1882 auf die Erhaltung der Privat-
sparkassen Rücksicht nahm, so ganz entgegengesetzt zu England,
hat man in Frankreich auch weiterhin sich sorgfältig bemüht, der
Tätigkeit der Privatsparkassen keinen Abbruch zu tun.
Auch das Gesetz von 1895 hat die Vorzugsstellung in der Be-
handlung seitens der staatlichen Anlagekasse aufs neue bestätigt.
Der Zinsfuß, den die caisse des dépôts et consignations an die
gewöhnlichen Sparkassen zahlt, ist immer um 0,75 Proz. höher als
1) ef. Schachner, Lücken im deutschen Sparkassenwesen. Vergleichende Be-
traebtungen des deutschen kommunalen Sparkassenwesens mit dem französischen Post-
sparkassenwesen. Soziale Praxis XI. Jahrgang, S. 102.
22 Schachner,
der, den die Postsparkasse, die ihrerseits !/, Proz. für Verwaltungs-
kosten in Anspruch nimmt, ihren Kunden zahlt.
Jene gewährte an die caisse d'épargne ordinaires bis 26. De-
zember 1890 4 Proz., von da an bis 1893 3,75 Proz.; da in diesem
Jahr der Kurs der Staatspapiere nur mehr einen effektiven Zins
von 3,65 Proz. gab, reduzierte die Anlagekasse ihn auf 3! Proz.,
1895 auf 3,25 Proz.; der Zins der Postsparkassen fiel parallel von
Au. Proz. auf 3 Proz., 2°/, und 21/, Proz.
Die Reserven sind bei dieser Zinspolitik bis 1906 auf 36 Millionen
fres. oder 3 Proz. der veranlagten Summe angewachsen, die gesamten
Rücklagen und das Grundvermögen betrug 1906 48200000 fres.
Die Privatsparkassen haben nun nach dem Gesetz das Recht,
bis zu !/⁄ Proz. (50 centimes) für Verwaltung von dem ihnen ge-
währten Zinsfußin Abzugzu bringen, müssen aber mindestens !/, Proz.
(25 centimes) dafür abziehen. Sie haben sich nun meist mit 25 cen-
times begnügt und sind dadurch um !/, Proz. den Postsparkassen
in Vorsprung, im ungünstigsten Fall noch immer um !/, Proz. Das
trug natürlich dazu bei, ihnen trotz der gleichen Maxima und des
perallelen Wirkens der Postsparkasse jene Kapitalsentwicklung zu
geben, die wir beobachtet haben.
Durch die Instruktion vom 10. März 1893, abgeändert durch das
ministerielle Zirkular vom 20. Juli 1903, wurde zwischen den ge-
wöhnlichen Sparkassen und der Nationalsparkasse sogar ein Ueber-
tragungsverkehr geregelt, der natürlich besonders der Privatsparkasse
zugute kam.
Vermöge ihrer besonderen Vorteile ist die Postsparkasse be-
sonders für die kleinsten Sparer zu einer viel aufgesuchten Auf-
bewahrungsstelle geworden, vielfach hat sie jene Funktion einer
vorläufigen Aufbewahrungsstelle, die ihr Schanz eingeräumt wissen
will, von der dann später die Beträge an die für kleine Einleger
weniger günstig gelegene Privatsparkasse geleitet werden.
Postsparkasse.
Zahl Zahl Betrag der N
der der Guthaben ee
Stellen Sparer in 1000 fres. ab
1882 6024 211 580 47 602 225
1892 7091 1934 284 616 363 312
1902 7820 3 991 412 I 106 752 277
1905 7884 4 577 390 1 278 258 279
1906 4 794 874 1338 729 279
1905 Sparer Einlagen
Schiffssparkassen 22567 2 369 752
Regimentssparkassen 331 49 954
Gesamtsparkassen Frankreichs.
Rentenankauf
auf Wunsch der
Deponenien fres.
1886 5 941 769 2 504 606 421 21 453 377
1896 9314 879 4 167 306 447 22 271.639
1906 12 462 898 4772811 382 31 155 093
Durchsehnitts-
Bücher in 1000 fres. guthaben des Buches
Das französische Sparkassenwesen. 23
3. Beformbewegung.
Die großen Katastrophen, die über das französische Sparwesen
hereinbrachen, haben immer wieder den Blick auf die Zwangsanlage
der Kapitalien beim Staat das „régime £tatiste“ gelenkt und immer
neue Gegner von ihr in Praxis, Politik und Wissenschaft geschaffen.
Die parlamentarischen Reformbewegungen gehen bis auf das Jahr
1372 zurück und sind seitdem nicht zur Ruhe gekommen.
Ein Gesetzprojekt M. Lockroys vom 2. Juni 1837 wollte den
Sparkassen die Erlaubnis einräumen, LU. der Einlagen in Darlehen
an Landwirtschaft, Industrie und Handel anzulegen. Am 24. Juli
1337 beschloß eine Parlamentskommission, den Sparkassen völlige
Freiheit in der Veranlagung ihrer Einlagekapitalien gesetzlich ein-
zuräumen, sofern ihre Statuten Bestimmungen über diese Veranlagung
aufnihmen. Eine spätere Parlamentskommission sprach sich nur
zugunsten der Freiheit für ein Viertel der Einlagen aus unter ge-
nauer statutarischer Feststellung der Art der Veranlagung dieses Teils.
Am 21. Mai 1888 befaßte sich die délégation des caisses d’epargne
de France mit der Reformbewegung und sprach sich gegen die ab-
solute Freiheit der Sparkassen in ihrem Geschäftsgebahren aus,
billigte aber die selbständige Veranlagung für den vierten Teil der
Einlagen eines Jahres. Doch auch für dieses Viertel sollten die Spar-
kassen nicht völlig freie Befugnis haben, sondern an die Anlage in
öffentlichen Werten, in ersten Hypotheken, in Darlehen an Land-
wirtschaft, Industrie und an kleine Leute (crédit agricole, industriel
et populaire), wobei für die letztgenannte Anlagengruppe jedoch
nicht mehr als !/, der Gesamtanlagesumme entfallen dürfte, ge-
bunden sein.
Im Dezember 1839 legten Hubbard und Siegfried einen Gesetz-
entwurf vor, der den Sparkassen volle Freiheit in der Veranlagung
ihrer Kapitalien geben sollte. Die Regierung mit Jules Roche als
Handelsminister und Rouvier als Finanzminister stellte ihnen unterm
20. Mai 1390 eine Vorlage gegenüber, die sogar die Bindung der
Sparkassen an die Caisse des Depöts et Consignations noch enger
gestaltete und nur in einer Erweiterung der für diese Kasse er-
laubten Anlagewerte auf Obligationen der Departements, der Ge-
meinden und der Handelskammern der Reformbewegung Rechnung
trug. Auch die Sparkassen selbst haben auf einem freilich schlecht
besuchten Kongreß im Dezember 1890 sich gegen die Freiheit in
Sparkassen in der Veranlagung auch nur eines Viertels der Einlagen
ihrer Kapitalien erklärt; nur 39 von 195 Kassen, die den Kongreß
beschickten oder schriftlich ihre Abstimmung einsandten, sprachen
sich zugunsteu freien Geschäftsgebahrens aus. Den anderen erschien
der Staatskredit immer noch der sicherste, den sie ihren Gläubigern
bieten können und die Erhaltung des bestehenden Systems bei allen
Kassen im Interesse des Renommés der Sparkassen als notwendig.
Eine andere Stellung nahm die Kommission der Sparkassen,
der beide Entwürfe zugeleitet wurden, in einem Bericht vom 27. Mai
1891 ein. Darin sprach sie sich für „reformer sans alarmer“ aus, be-
24 Schachner,
gutachtete die Anlagefreiheit für einen Bruchteil der Gesamteinlagen,
jedoch nur in gesetzlich festgesetzten Werten. Unter diesen Um-
ständen kam es zu keiner fundamentalen Aenderung, das Gesetz vom
Jahre 1895 hielt an dem seit 1829 bestehenden Finanzsystem fest.
Wie in der Praxis und im Parlament die Anschauungen über
eine Reform des Finanzgebahrens der Sparkassen sehr verschieden
waren, so auch in der Wissenschaft.
Während Léon Millerand (Traité théorique et pratique de l’organi-
sation et du functionnement des Caisses d'Epargne en France, Pithi-
viers 1908) für das régime étatiste sich aussprach, parce que nous
sommes tout d'abord convaincus que c'est le système de placement
actuellement en vigueur qui vaut aux Caisses d'épargne la faveur
dont elles jouissent dans le publique, sind Männer wie Vidaud (De
l'emploi des Fonds déposés aux Caisses d'épargne, Limoges 1901),
Bosc (Le role social des Caisses d'épargne priocés en France et en
Italie. Paris 1909) und Stiévenart (Socialisme pratique, Lille 1906)
für die Bewegungsfreiheit der Kassen eingetreten. Die Kenntnis
der konservativen Veranlagung der Sparkassenkunden hat übrigens
auch energischen Reformen einen langsamen Uebergang zur Freiheit
der Kapitalsverwendung empfehlen lassen, so empfiehlt Bose zunächst
nur für !/, oder !/, freie Betätigung eintreten zu lassen (e, S. 166).
Die Gründe, die gegen das system étatiste von den Politikern,
den Männern der Praxis und der Wissenschaft ins Feld geführt
werden, gehen von den Interessen der Sparkassen, den Interessen
des Staates oder denen der allgemeinen Volkswirtschaft aus.
Für die Sparkassen ist die enge Verknüpfung ihres Kredits
mit dem Staatskredit bedenklich, da eine Wechselwirkung zwischen
politischen und wirtschaftlichen Krisen einerseits und den Geschäfts-
bewegungen der Sparkassen andererseits besteht; das führte zu
Katastrophen, wie man sie im Jahre 1848 und 1870 erlebt hat.
Abgesehen von den schweren sozialpolitischen Folgen durch die
Einbuße des Vertrauens und die Schädigung der kleinen Sparer
arbeiteten die französischen Sparkassen in diesen Jahren auch mit
großen Verlusten, die besonders durch das Steigen der Verwaltungs-
kosten in den Krisenzeiten veranlaßt wurden. Die Defizite der Jahre
1870 und 1871 sind nicht festzustellen, wohl aber sind die für die
nächstfolgenden 4 Jahre bekannt, die mit 340000 fres. Einbuße an
den Reserven die Nachwirkungen der vorangegangenen Jahre zeigten,
Verluste.
1872 98 281
1873 112 959
1874 105 513
1875 22 804
Man forderte deshalb, daß die Staatskasse, wenn ihr schon alle
Sparkassenkapitalien zufließen müßten, wenigstens umfassendere An-
lage in anderen öffentlichen Werten, in Kommunalpapieren oder mit
öffentlicher Garantie versehenen Obligationen vornähme oder in
Werten, die auf anderem Risikofelde liegen als der öffentliche Kredit,
wie das die belgische Staatssparkasse tut, oder die der Einwirkung
Das französische Sparkassenwesen. 25
der Inlandskrisen entzogen sind, so in nordamerikanischen oder
englischen Werten.
Das Gesetz vom Jahre 1905 gab dem nur in bescheidenem Maße
Folge:
Art. 1. Die gewöhnlichen Sparkassen sind verpflichtet, alle
Summen, welche bei ihnen eingelegt werden, der Caisse des dépôts
et consignations zu überantworten. Diese Summen werden von der
Caisse des dépôts nach Abzug der für den Auszahlungszins für not-
wendig erachteten Beträge angelegt:
1) in Wertpapieren, welche vom Staat selbst ausgegeben oder
von ihm garantiert sind;
2) in börsengängigen und voll eingezahlten Schuldverschreibungen
der Departements, Gemeinden und Handelskammern, in Grund- und
Gemeindeschuldverschreibungen des Credit foncier (en obligations
foncières et communales du Credit foncier).
Das Gesetz führte zu keiner weitgehenden tatsächlichen Aende-
rung der Anlagepolitik. Abgesehen von der etwas merkwürdigen An-
lage in 2!/,-prozentigen Griechen, wofür im Gesetz keine Autorisation
gegeben scheint, finden sich an neuen Anlagewerten nur Obligationen
des Credit fonciers. Der Veranlagung in anderen öffentlichen französi-
schen Werten als Staatspapieren stand die Tatsache entgegen, daß
sie vielfach im Kurs höher stehen, ohne für Krisenfälle bessere
Gewähr zu bieten. So ist tatsächlich die Erweiterung der Anlage-
befugnis der Staatskasse ohne erhebliche Konsequenzen geblieben,
ja diese Reformbewegung scheint sogar wieder zurückzuweichen.
1906 (1905) 1906 (1905)
fres. fres.
53 403 660 Rentenbezug aus 3-proz. Rente zum Erwerbs- 1549 939 907,84
(50 958 660) preise von (1470859 154,85)
50 743 440 Rentenbezug aus 3-proz. amortisierbarer Rente I 400 596 167,30
(31 096 405) zum Erwerbspreise von (1410338 530,75)
(10) Schatzscheine zu 2 Proz. (10 000 000)
743 398 bis 1923 (Gesetz vom 20. März 1902) amortisier- 371690 000
(776 477) bare Schatzscheine zum Erwerbspreise von (338 238 500)
6823 kurzfristige Schatzscheine 49 010 500
(1980) (19 800 000)
38612 Eisenbahnobligationen A 500 fres. 3 Proz. 14 308 726,54
(32 062) (11 444 099,14)
35 115 do. a 500 fres. 2'/, Proz. 14939 101,78
(34 216) (15 160 644,78)
35 115 Obligationen des Credit fonciers de France 17 188 792,50
(35728) (17 738952)
246 580 Rentenbezug aus 2!/,-proz. Anleihe des Protektorat 9003 097,59
(250 115,50) über Annam u. Tonkin (9 122 178,67)
172 115,50 Rentenbezug aus griechischer Anleihe zu 2'/, Proz. 6 905 358,26
(172 115,50) oder vom Jahre 1898 (6 905 358,26)
3433 590 651,81
(3 359 607 418,45)
in Kontokorrent mit dem Staatsschatz 88 415 733,97
(96 111 259,14)
Hinterlegt bei der Bank von Frankreich (Gesetz vom 20. Juli 1895) 100 000
(5 000.000)
r 3532 106 385,78
Insgesamt (3460718677,59)
26 Schachner,
Anlage der Kapitalien der Postsparkasse.
in 1000 fres.
26 884320 BRentenbezug der 3-proz. Ewigrente zum Erwerbspreis von 886 892
9 609 990 a der 3-proz. amortisierbaren Rente 281 762
45 617 ep der 2'/,-proz. Anleihe des Protektorats von
Annam u. Tonkin 1577
4 445 490 7 der 3-proz., in Annuitäten bis 1923 amortisier-
baren Schatzanweisungen à 500 fres. 148 183
552750 E der kurzfristigen Schatzanweisungen à 10000 fres.
zu verschiedenem Zinsfuß 22 900
1342 314
Im Kontokorrent mit der Caisse des dépôts 42437
Das Interesse der Deponenten wird von jenen berücksichtigt,
die bei anderer Veranlagung der Sparkassenkapitalien entweder bei
ihr selbst oder bei der Staatskasse, so in Hypotheken (Sti@venart) die
Erzielung eines höheren Zinses erwarten.
Das Staatsinteresse erscheint anderen ein Abgehen vom
bisherigen Brauch zu fordern, da aus jener Geschäftsverbindung
auch für den Staat, besonders mit dem steten Anwachsen dieser
schwebenden Schuld, eine Verschärfung der Krisen und daraus eine
Verschlechterung des Staatskredits in Krisenzeiten resultieren müsse.
Denn die Rückforderung der Sparkassen würde dazu zwingen, in
Krisenzeiten Staatspapiere an den Markt zu bringen, was nur zu
ungünstigen Bedingungen erfolgen kann, oder eine teure Anleihe
bei der Bank von Frankreich zu machen.
Ganz richtig wird hervorgehoben, daß der Staatskredit durch
diese Millioneneinlagen der Sparkassen und dadurch, daß von den
Sparkassen Renten gekauft werden müssen, wenn das Maximum er-
reicht ist, oder auf Wunsch gekauft werden !), eine unnatürliche Güte
erhält — elles — die Anlagen der Sparkassen — donnent aux cours
des fonds de la dette une stabilité relative et les rendent moins sen-
sibles aux influences permettent aux emprunts nouveaux émis par
létat, grâce a leur concours régulier de trouver sur le marché des
conditions meilleurs et un classement plus rapide (Bosc 1. c. S. 51) —
von der in Zeiten, wo statt dieses regelmäßigen Zuströmens ein
plötzliches Zurückströmen eintritt, ein viel stärkerer Sturz natur-
gemäß eintritt. Man wies auch darauf hin, daß diese Mehrung der
Einlagen beim Staat in guten Zeiten zu einer verschwenderischen
Staatspolitik führen muß, da ja der Staat diese Kapitalien fortwährend
unterbringen muß, ob er nun ein Bedürfnis hat oder nicht, andere
Länder würden Staatsanleihen nur aufnehmen, wenn sie Geld brauchten,
wozu natürlich in wirtschaftlich schlechten Zeiten, den mageren
Jahren der Sparkassen, mehr Bedürfnis besteht als in guten. Bei
jener Geschäftsverbindung wäre aber das Verhältnis gerade umge-
kehrt. Die starke Verschuldung Frankreichs wird damit in Zusammen-
1) Die französischen Sparkassen hatten Ende 1906 für 23048 Personen 52567 Wert-
papiere, die eine Rente von 1450027 fres. repräsentierten, in ihren Depots.
ns
Das französische Sparkassen wesen. 27
hang gebracht, daß ihr so willig Geld zugeführt worden. (L’aug-
mentation toujours croissante de la dette nationale, qui est à l'heure
actuelle une des questions les plus graves de notre économie natio-
nale, a trouvé malheureusement en France un stimulant très actif
dans notre régime étatiste d'adduction forcée. Un gouvernement
consentira plus facilement surtout sous l'effort de la pression élec-
torale à contracter de nouveaux emprunts, certain que ces emprunts
trouveront un placement facile et un appui toujours renaissant dans
l'épargne populaire, Bose S. 52.)
Der Standpunkt der allgemeinen Volkswirtschaft lenkt
die Blicke auf das Privatsparwesen Deutschlands, Oesterreichs, der
Schweiz und des in der französischen Literatur besonders berück-
sichtigten Italiens; die dort gegebene lokale Zirkulation des Geldes,
die Befruchtung des örtlichen Gebietes mit den Kapitalien der Spar-
kassen, woraus im letzten Ende wieder die Hebung der Sparkraft
resultiert, hat seit langem ihre Verfechter gefunden.
Im Parlament suchten Comte de Colbert-Laplace Sparkassen-
kapitalien für die durch Gesetz vom 11. Juli 1868 ins Leben ge-
rufenen Caisses des chemins vicinaux verfügbar zu machen, Lockroy
suchte sie im Darlehensdienst für kleine Leute (crédit populaire)
segenspendend zu sehen, Wickersheimer faßte die Hebung des fran-
zösischen Weinbaues, Thellier de Poncheville die der Landwirtschaft
ins Auge. Für letztere trat in der Literatur besonders der Direktor
der Sparkasse von Marseille, Rostand, in seinen Büchern „La question
d'emploi des fonds des caisses d'épargne ordinaires, Marseille 1890“,
„L'influence de la réforme des caisses d'épargne quant à leur rôle
comme centre d'initiative ou d'action sociale, Paris 1891“ und „Le
concours des caisses d'épargne au crédit agricole: applications à
l'étranger et modes pratiques de realisation en France, Paris 1897“
und André Bose in seiner genannten Schrift ein. Es ist darin vor
allem die Pflege des Hypothekarkredits und Personalkredits an die
Landwirtschaft durch die Sparkassen gefordert. Andere befürworteten
die Pflege des Wechselgeschäftes, wieder andere traten für die Tätig-
keit der Sparkassen auf dem Gebiet des Wohnungswesens und anderer
sozialen Funktionen ein.
Die Sparkassen sollten also die allgemeine Volkswirtschaft heben:
contribuer puissamment au développement économique des diverses
regions du pays (Bose Le S. 165).
Während alles dies im Gesetze vom Jahre 1895 und bis heute
für die E inlage kapitalien versagt geblieben war, erfolgte doch eine
Konzession an die neue Strömung, indem man den Sparkassen er-
laubte, ihr persönliches Vermögen, dem vor allem die Funktion
eines Reservefonds zufällt, mehr nach eigenem Willen anzulegen.
Der Rechtszustand hierin war bis zum Gesetz von 1895 ein
unklarer. Bis zum Jahre 1835 wurde mangels besonderer Bestim-
mungen in den Statuten angenommen, daß für die Veranlagung des
persönlichen Vermögens die gleichen Bestimmungen maßgebend sein
28 Schachner,
sollen wie für die des Einlagekapitals. Das Gesetz vom Jahre 1835
bestätigte diese Uebung.
Das Dekret vom 28. Februar 1852 erlaubte den Sparkassen,
mit ihrem persönlichen Vermögen Obligationen des Credit foncier
zu erwerben. Der Ankauf von Immobilien wurde 1883, sofern er
nicht von den Statuten als ausdrücklich erlaubt erklärt ist, als ver-
boten präsumiert.
In diese Verhältnisse brachten ministerielle Dekrete, die 1888
der Verwaltung der Sparkasse von Lyon, 1889 der Verwaltung der
Sparkasse in Marseille erlaubten einen Teil ihres Vermögens in
Hypotheken oder in Darlehen an Sociétés anonymes für gemein-
nützigen Wohnungsbau anzulegen, eine einschneidende Aenderung.
Gesetzesreformer der 80er Jahre sprachen sich zugunsten völliger
Freiheit in der Veranlagung des persönlichen Vermögens aus, und
eben jener Kongreß von 1890, der die Bewegungsfreiheit hinsichtlich
des Einlagekapitals ablehnte, begutachtete sie hinsichtlich des persön-
lichen Vermögens. Dem trug das Gesetz von 1895 Rechnung.
Artikel 9 und 10.
„Art. 9. Jede Sparkasse muß einen Reserve- und Garantiefonds
schaffen, welcher sich zusammensetzt:
1) aus der bereits vorhandenen Dotation und aus Geschenken
und Legaten, welche ihm zugewandt werden;
2) aus dem, was von der im voraufgehenden Artikel erwähnten
Differenz des Aktiv- und Passivzinses — nach Bestreitung der Miets-
und Verwaltungskosten — erübrigt wird;
3) aus den Zinsen und Tilgungsquoten, welche aus diesem
Reservefonds selbst herrühren. Alle aus der Geschäftsführung der
Sparkasse sich ergebenden Verluste müssen aus diesem Reserve-
fonds, welcher das eigene Vermögen der Sparkasse bildet, bestritten
werden.
1906 wurde das persönliche Vermögen, das am Jahresanfang
auf 165577966 fres. sich bezifferte, vermehrt: um die Zinsen des
persönlichen Vermögens im Betrage von 4086061 fres., durch Ge-
schenke, Legate etc. um 164111 fres., durch Subvention der Ge-
meinderäte um 11454 fres., durch die Differenzen des von der caisse
des dépots et de consignations gegebenen und des von der Spar-
kasse den Einlegern gewährten Zinses mit 9696 806 fres., auf Grund
der Verjährungsvorschrift für Sparbücher um 96607 fres. Da hier-
von 8554518 fres. für Verwaltung abgingen, stieg das persönliche
Vermögen nur auf 171078549 fres.
Art. 10. Die Sparkassen sind ermächtigt, ihr persönliches Ver-
mögen, wie folgt, anzulegen:
1) in Wertpapieren, die vom Staat selbst ausgegeben oder von
ihm garantiert sind;
2) in börsengängigen und voll eingezahlten Schuldverschreibungen
der Departements, Gemeinden und Handelskammern;
3) in Grund- und Gemeindeschuldverschreibungen des Credit
foncier;
Das französische Sparkassenwesen. 29
4) für die Erwerbung und Herstellung von Gebäuden, welche
für ihren Betrieb notwendig sind.
Sie können außerdem den Gesamtbetrag der Zinsen ihres per-
sönlichen Vermögens und ein Fünftel des Kapitals dieses Vermögens
anlegen:
in den hierunter namhaft gemachten Werten von lokaler Be-
deutung, vorausgesetzt, daß diese Werte von Anstalten in dem De-
partement ausgegeben sind, in welchem die Kassen ihren Wirkungs-
kreis haben: nämlich:
in Schuldverschreibungen von Leihhäusern und anderen Anstalten
von anerkannt öffentlichem Nutzen;
in Darlehen an Kooperativ-Kreditgesellschaften oder auf Dis-
kontogeschäfte, die von solchen Gesellschaften garantiert sind;
für die Erwerbung oder die Herstellung von billigen Wohnungen;
in Hypothekendarlehen an Gesellschaften, die sich mit dem Bau
solcher Wohnungen befassen, oder an Kreditgesellschaften, welche
nicht den Bau der billigen Wohnhäuser selbst ausführen, aber den
Erwerb oder die Erbauung erleichtern wollen, und die Schuld-
verschreibungen dieser Gesellschaften.
Dieser Artikel wurde durch das Gesetz vom 12. April 1906
über Schaffung billiger Wohnungen ergänzt, indem dadurch unter
die erlaubten Werte ferner aufgenommen werden:
1) Aktien von Baugesellschaften, sofern sie wohl eingezahlt sind
und nicht mehr als ?/ des Gesamtkapitals der Gesellschaft betragen.
2) Amortisationshypotheken, die zum Erwerb von Grundstück
oder Errichtung von Gebäuden nach den Maßgaben des Gesetzes
über Errichtung billiger Wohnungen dienen.
Ferner wurde unter den Begriff des gemeinnützigen Wohnungs-
baus auch der Erwerb von Gütern unter 10 Aren und die Errichtung
von Brausebädern aufgenommen.
Da der Betrag des persönlichen Vermögens aller französischen
Sparkassen ein sehr beträchtlicher ist und unausgesetzt steigt,
alle französischen Privatsparkassen 1903 1355 826 213 fres.
D D „ 1906 171078548 „
bei der Sparkasse von Paris 1900 6431000 „
„u D „ Lyon’) 1900 43065 000 „,
o » D „ Marseille 1900 3054000 „,
so ist also immerhin eine nicht unbedeutende Tätigkeit auf den er-
öffneten Gebieten möglich.
Die mühsam erkämpfte Freiheit in der Anlage des persönlichen
Vermögens stieß der Statistik zufolge nur auf geringes Verständnis
und blieb auf einige Kassen beschränkt, die jene Bewegung in-
auguriert hatten, wie Marseille, Lyon, Paris.
1) In Lyon wuchs das persönliche Vermögen in folgender Weise:
1822 10 000 fres. 1880 646 025 fres.
1840 71788 „ 1900 4305078 „
1860 238594 „ 1905 4801228 ,„
30 Schachner,
Veranlagung des persönlichen Vermögens (Fortune
personnelle) der französischen Privatsparkassen.
Anlage am 31. Dezember 1906 Verhältnis in Proz.
Französische Rente (Erwerbspreis) 29 984 653,77 fres. 17,53
Immobilien 43 111 189,90 „ 25,20
Staatspapiere u. v. Staat garantierte Papiere 2032 327,286 „ 1,19
Obligationen von Selbstverwaltungskör-
pern und Handelskammern 7058 435,37 „ 4,12
Obligationen des Crédit foncier 1209 323,35 „ 0,71
Gemeinnütziger Wohnungsbau 3 650 575,08 » 2,13
Hypotheken für die Herstellung ge-
sunder u. billiger Wohnungen 1 263 406,01 „ 0,74
Andere lokale Werte 1526 873,36 „ 0,89
Kontokorrent mit der Caisse des dépôts
et consignations und in Kassa 81 241 764,53 „ 47,49
171 078 548,55 fres. 100
Nur die Förderung des Arbeiterwohnungsbaues erfreute sich
einer Popularität, die einen größeren Kreis der Sparkassen aus
ihrer zur Gewohnheit gewordenen Untätigkeit weckte.
1903 waren es bereits 17 Sparkassen, die in diesem Jahre
1780393 fres. für die Errichtung billiger und gesunder Wohnungen
verwendet hatten, im Jahre 1904 waren es 24 Sparkassen mit
2345254 fres., 1906 36 Sparkassen mit 3650575 fres.
Paris hatte sich von 1897—1907 mit 480500 fres. am Klein-
wohnungsbau beteiligt.
Lyon hatte 1906 den Kleinwohnungsbau mit 482000 fres. teils
durch eigene Tätigkeit, teils durch Darlehen an Gesellschaften ge-
fördert.
Marseille hat bis 1908 für 459824 fres. gesunde und billige
Wohnungen errichtet und sich mit 187000 fres. bei anderen Bau-
gesellschaften beteiligt oder zur Beteiligung verpflichtet.
Daneben haben bis 1905 diesem Wohnungsbau noch gewidmet:
Chartres 303 459 fres.
Compiègne 249625 „
Blois 110493 „
Beziers 114205 „
Troyes 83724 o
Abbeville 84 806 „
Neufchätel 82 149 „
Alencon 71048 „
Hat man sich hiermit einer sozialpolitischen Aufgabe in be-
scheidenem Rahmen zugewendet, so glauben manche Reformer die
Sparkassen geeignet und berufen die verschiedensten Gebiete der
Sozialpolitik im weitesten Sinn zu befruchten, ja diesen Zwecken
Opfer zu bringen. Sie gehen von der bedenklichen Auffassung aus,
daß die Sparkasse nicht Selbstzweck zu sein braucht. sondern daß
sie selbst unter Schädigung der Interessen der Einleger anderen
Zwecken dienen darf, und fordern für diese Politik die vollkommene
Freiheit der Sparkassen in ihren Finanzen.
Das französische Sparkassenwesen. 31
Besonders das Vorbild Italiens hat diese Bewegung in Frank-
reich gefördert, die von den Sparkassen fordert, sich nicht auf
die Sparförderung zu beschränken (de ne pas limiter &troitment
leur activité à l’organisation d'un service d'épargne, Bosc, Le S. 166),
ja den neuesten Reformer Bosc zu der unwilligen Frage veranlaßt:
Le rôle des caisses ne serai-t-il pas d'employer une partie de leurs
bonis à prêter un appui aux oeuvres de bienfaissance ou s’utilit&
société? (S. 50.)
Barratier mißt ihnen in seinem „Le régime financier des Caisses
d'épargne françaises depuis le loi du 20. juillet 1895“, Paris 1896, die
Rolle von banques distinctés et adaptées chacune à quelque oeuvre
déterminée, preçieux pour les oeuvres locales et sociales bei. Hier
sucht man mit einer drei Generationen alten Tradition zu brechen.
Der Titel der Sparkasse von Paris, wie der von Lyon, kannten
freilich nur den sozialen Selbstzweck; er war: société anonyme
de bienfaisance pour en encourager la petite épargne,
der erste Paragraph der Kasse von Mayenne: Cette caisse est
destinée à reçevoir en dépôt les sommes qui lui seront versées
pour aider les personnes labourieuses à se créer des économies.
Die ersten Kundgebungen in Frankreich für die Schaffung
eines Sparwesens, beginnend mit Mirabeau, haben ebenso wie der
Wortlaut der Statuten der ersten Sparkassen über allen Zweifel
hinaus zu erkennen gegeben, daß als alleinige Aufgabe der Spar-
kassen die Weckung und Hebung des Sparsinns der Bevölkerung
gedacht war. Diesem Zwecke wurden ehrenamtliche Dienstleistung
geopfert und die ganze Geschäfts- und Finanzführung angepaßt.
Dementsprechend wurde die Auszahlung höchstmöglichsten Zinses
neben Ansammlung eines Reservefonds, dem alle Ueberschüsse zu-
geleitet wurden, als notwendige Aufgabe betrachtet.
Eine Verfügung zum Art. 10 des Gesetzes von 1835, die den
Sparkassen gestattete, Geschenke und Legate anzunehmen, erlaubte
freilich den Sparkassen einen Teil von den Zinsüberschüssen zu
örtlichen Aufgaben der Nächstenliebe und Wohltätigkeit zu ver-
wenden, ohne daß davon jedoch viel Gebrauch gemacht wurde. So
żonnte es kommen, daß das sehr freigebige Vorgehen der Sparkasse
zu Brioude!) in den 80er Jahren auf allgemeine Mißbilligung stieß,
und die Regierung veranlaßte, die Aufwendungen dieser Kasse als
ungehörig zu verurteilen.
1886 1887
fres. fres.
Verwaltungsausgaben 6143 6003
Miete 600 600
Aufwendungen für wohltätige Zwecke 1500 2200
Schenkungen an das Spital 400 400
Schenkungen an die Volksbibliothek 100 100
Für das Schulwesen 2406 1000
Zur Stärkung der Reserven 4377 5003
1) Amédée St, Ferrol, Les mystères d'une Caisse d’&pargne, 1899.
32 Sehachner,
Im Jahre 1889 erließ die Regierung übrigens auch einen Erlaß,
der die Verschwendung in der Verwaltung der Sparkassen be-
anstandete und anordnete, daß die Ausgaben auf das unerläßliche
Maß zurückgeführt werden müssen.
Dagegen erlaubte der Minister des Handels der Verwaltung der
Sparkasse von Marseille im gleichen Jahr !/,, der alljährlichen Zins-
überschüsse für die Sparmarkeninstitution, für Ehrengeschenke an
eifrige Sparer, für Leihbibliotheken und für die Propaganda gegen
den Alkoholismus verwenden zu dürfen.
Verschiedene Sparkassen fuhren dennoch fort, die Interessen
ihrer Sparer zu benachteiligen, so indem Lyon 1891 an Darlehens-
genossenschaften Darlehen zu 2 Proz. gab.
1893 wurde die Ermächtigung zu Schenkungen und zu Aus-
führung von Werken der Wohltätigkeit aufgehoben und den Spar-
kassen nur erlaubt, aus ihren Zinsüberschüssen in geringfügigen
Beträgen an Schulkinder Sparkassenbücher mit Einlagen zu verteilen
oder solche andere Aufwendungen zu machen, woraus ebenfalls eine
Anregung des Spareifers resultieren konnte.
Im Gesetz 1895 hat das Parlament sämtliche Verwendungen aus
den Ueberschüssen zu gemeinnützigen Zwecken untersagt und nur
zur Aufbesserung der Zinsen für kleine Einleger gestattet:
Art. 10 Abs. 5. Sobald der Garantie- und Reservefonds wenig-
stens 2 Proz. der Spareinlagen beträgt, kann jedoch ein Fünftel des
jährlichen Erträgnisses dieser Fonds dazu verwendet. werden, den
Zinsfuß für die Inhaber derjenigen Konten zu erhöhen, bei denen
der Umschlag — Einlagen, Auszahlungen und altes Guthaben zu-
sammengerechnet — im Laufe eines Jahres den Betrag von 500 frcs.
nicht überschritten hat.
Trotzdem verteilte der Direktor der Sparkasse von Marseille
Rostand an der Jahreswende 1904/05 12000 Almanache, die den
Spargedanken verbreiten sollten, gibt den Mitgliedern der Miet-
sparkassen Preise und gewährt der Agitation gegen den Alkoholismus
Unterstützung.
Der Regierung scheint es auch nicht zum Bewußtsein gekommen
zu sein, daß sie gegen das Prinzip des Gesetzes indirekt verstößt,
wenn sie den Sparkassen erlaubte, dem gemeinnützigen Wohnungsbau
Einräumungen zu machen, die eine unter dem gewöhnlichen Zinsfuß
der Staatspapiere stehende Verzinsung ihrer Kapitalien bringt. Dies
geschah bereits, als sie der Sparkasse von Marseille durch Dekret
vom 4. Februar 1889 erlaubte, für jene Bautätigkeit Darlehen zu
31/, Proz. zu gewähren und als in Ausführung des Gesetzes vom
12. April 1906 den Sparkassen gestattet wurde, bei den Aufwendungen
für den Wohnungsbau sich mit 2 Proz. zu begnügen.
Es ist ein falsches Rühmen, wenn die Sparkasse von Lyon von
sich sagte, daß sie „ne se considère que comme le dépositaire
d’epargnes qu’elle entend faire fructifier mais non s'approprier sous
quelque pretexte que ce soit“. (Caisse d'épargne et depr&voyance
du Rhöne, Lyon 1906.)
Das französische Sparkassenwesen. 33
Es sind keine unbedeutenden Beträge, die durch die merkwürdige
Bestimmung, daß der Zins der Sparkassen mindestens um 0,25 Proz.
hinter dem ihnen von der Staatskasse verabreichten stehen müsse,
zur Entstehung gelangten. .
Zinsüberschüsse
Alle französischen Privatkassen 1856 135 386 fres.
» n D 1866 180 848 „,
» D e 1876 108845 „
nm » nn 1886 2 873 560 Pr
, D D 1890 4108 301 „
D n Er 1896 3114 262 ,
DI mm nm 1900 2 367 567 FA
D D D 1904 931835 „
D D n 1906 1142288 ,
Dazu treten noch die Zinsen des Reservefonds von 171000000 frcs.
(196), die als Ueberschüsse betrachtet werden.
Diese Ueberschüsse ließen sich natürlich leicht vervielfachen,
wenn die Sparkassen das bis heute im allgemeinen so hoch ge-
haltene Prinzip des höchstmöglichsten Zinses aufgeben würden.
So verspricht die Bewegung gegen das système étatiste und die
Forderung der Bewegungsfreiheit liberté d'emploi eine Gesundung
der Finanzorganisation und damit eine Hebung der wirtschaftlichen
Funktion der Sparkassen, droht aber auf der anderen Seite eine
Schädigung des sozialen Grundcharakters der französischen Spar-
kassen zu bringen.
Wir sehen, daß, während wir in Deutschland zahlreiche gedanken-
lose Vertreter der Förderung des Staatskredits durch die Sparkassen
haben, in Frankreich die Erfahrungen zur entgegengesetzten Be-
wegung geführt haben. Alle die neueren Verteidiger des Post-
sparkassenwesens, wie Dr. Fritz Heber (Die Postsparkassen als Volks-
und Staatsbanken, Tübingen 1908), oder Dr. Paul Heidemann (Zur
Entwicklung des deutschen Sparkassenwesens, unter besonderer Be-
rücksichtigung der Postsparkassenfrage, Halle a. S. 1907) haben die
Gefahren übersehen, die in der Verknüpfung des Sparkassen- mit
dem Staatskredit ruhen und daß, wie schon aus den Materialien zur
Reichsfinanzreform hervorgeht, das Reich die Postsparkassen weniger
aus dem Gesichtspunkt der sozialen Fürsorge, als dem der Hebung
seines Kredits schaffen will. Revolutionen und Kriege aber werden
stets die gleichen unangenehmen Erfahrungen bringen, die Frank-
reich hatte, und es kann uns deshalb der Gedanke des Postspar-
kassenwesens nur dann empfehlenswert erscheinen, wenn entgegen-
gesetzt zu den Wünschen der Regierung, also ohne Rücksicht auf
das staatliche Bedürfnis, die Veranlagung der Kapitalien so erfolgt,
ee Kei in Zeiten der Krisen nicht die geringste Verlustgefahr
esteht.
Nach dieser Richtung hat unser deutsches öffentliches Sparwesen
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 3
34 Schachner,
sich weit besser bewährt, woneben es jene wohltätige Belebung des
örtlichen Wirtschaftslebens vollzog, die man zurzeit in Frankreich
so sehr anstrebt.
Bei diesen gesunden Auffassungen von den Fehlern ihres Spar-
kassenwesens muß es verwundern, daß sich eine so große Be-
geisterung für jenen offensichtlichen Mißstand im italienischen,
deutschen, Österreichischen und dänischen Sparwesen entwickeln
konnte, der eine vollkommene Verkennung der Aufgaben der Spar-
kassen zeigt.
In allen jenen Ländern hat sich der sozialpolitische Gedanke
der Förderung der Spartätigkeit an der Wiege der Institution be-
funden, selbst in den Statuten der so sehr entarteten italienischen
Kassen, wie uns die Verheißung des größtmöglichsten Zinses in den
Gründungsbestimmungen der Kasse von Bologna von 1837 zeigt.
Jenen französischen Reformfreunden scheint der Gedanke fern,
daß es unsozial ist, die untersten Klassen, die ihre bescheidenen
Ersparnisse den Sparkassen bringen, mit der Förderung der Volks-
wirtschaft oder der Erfüllung von Aufgaben sozialer oder armen-
pfleglicher Natur besonders zu belasten.
Die Statistik gibt uns einen Beweis dafür, daß sie den ärmeren
Klassen auch heute noch vorwiegend dient.
Sparkasse von Paris.
Briefträger In |
Nen Abhängige Dienst-| Handels- "| Heer | Freie Renner Ge-
eröffnete e | und
3 Arbeiter | boten | angestellte | und | Berufe Š sellschaften
Bücher $ 9 | Unbekannt
(employ&s) Marine |
1818 352 65 31 68 9 29 148 2
1828| 12711 5317 | 3695 948 280 | 335 2116 20
1838| 32071 16620 | 8127 2805 823 | 1349 2336 | 11
1848 9953 5609 | 1992 848 481 418 602 3
1858| 32887 19985 | 6550 3088 1202 847 1214 | I
1868| 37417 23654 | 6419 3720 1574 916 1126 | 8
1878| 44 131 25627 | 6644 6143 1830 | 1390 2489 | 8
1888| 39298 22543 | 4720 5684 490 | 937 4862 | 26
1898| 27530 16424 | 1767 5191 397 755 2973 | 23
Beruf der 1906 neu hinzugetretenen Einleger der
französischen Sparkassen (Privatsparkassen).
Unternehmer in Landwirtschaft, Industrie
und Handel 7,02 (11,98 Proz.)
Taglöhner und landwirtschaftliche Arbeiter
(ouvriers) 9,81 (12,20 „ )
Fabrikarbeiter (91 (SSS ; )
Dienstboten 10,54 (Bäi p)
Heer und Marine 2,28 ( 1,85 „ )
Angestellte (employes) 7,06 ( 6,97 o)
Freie Berufe LEE KIT j)
Eigentümer, Rentier und ohne Beruf 16,42 ( 6,86 „ )
Minderjährige ohne Beruf 27,33 (3200 al
Nomaden 0,14 ( — )
Das französische Sparkassenwesen. 35
Französische Privatsparkassen.
Betrag Durch-
Zahl Rd in I schnitt
1000 fres. "in fres.
Proz. Proz.
Einlagen — 20 fres. 2455 341 32,02 20 644 0,60 8,40
21— 100 ,„ 1 288 543 16,80 65 222 1,90 50,61
101— 200 ,„ 592 208 7,72 84 810 2,47 143,21
201— 500 ,„ 823 339 10,74 269 408 7,85 327,21
501—1000 ,„ 791 246 10,32 561 282 16,34 681,71
1001—1500 ,„ 720 678 9,40 883 065 25,71 1225,32
Bücher über 1501 fres., die der
Reduktion unterworfen sind 990 481 12,92 1523 146 44,36 1537,78
Bücher über 1501 fres., die kraft
Gesetzes unreduzierbar 6188 0,08 26506 0,77 4283,57
7 668 024 100,00 3434082 100,00 447,84
Wouer waren 367 951 Schulsparbücher mit 3 090 847 fres.
S 1047 450 ruhende Bücher (livret dormants) mit 7 875 524 fres. (Bücher,
die mit kleinen Beträgen belassen wurden, um die Kostenerneuerung zu vermeiden oder
auf die mit einem Jahre keine Einlage mehr erfolgte)
1039 940 andere Bücher mit 9 677 590 fres.
Alle französischen Sparkassen.
Betrag Durch-
Zahl Da in a schnitt
1000 fres. pro Buch
N Proz. Proz.
Einlagen — 20 fres. 4157834 33,36 31475 0,66 7
21— 100 „ 2279519 18,29 110 338 2,31 48
101— 200 „, 1 086 887 8,72 149 420 3,13 137
201— 500 „, 1426 910 11,45 462 958 9,70 322
501—1000 ,, 1 246. 075 10,00 891 157 18,67 716
1001—1500 1 094 044 Ban 1306797 27,38 1134
1501 u, darüber 1 163 712 9,34 1789 791 37,50 1588
Reduktion unterworfene
eet 1501 u. darüber 7917 0,06 30 873 0,65 3899
er Reduktion nicht unter-
#orfene Bücher) 12 462898 100,00 4772811 100,00 372
i Man wird damit nicht über die Sparkassen der landwirtschaft-
ichen Kreditgenossenschaften, wozu man nach italienischem Vorbild
® iranzösischen Kassen gestalten will, den Stab brechen, an ihr
mögen sich jene Gruppen der Bevölkerung beteiligen, denen die
ne jener wieder in den Schoß fallen, der kleine Sparer schreit
ef nach dem höchstmöglichsten Zins, und es ist ein Ruhmestitel
A französischen Sparwesens, ihn bis heute, soweit es im Rahmen
Ge régime étatiste möglich war, gewährt zu haben. Sollte infolge
vie Neformbewegung das französische Sparwesen ebenso abirren,
ee as bei dem italienischen Sparwesen und vielen deutschen und
ge ochischen Sparkassen der Fall ist, so wird nichts anderes
ziehe bleiben, als wiederum — Sparkassen zu gründen, die die Er-
~ g zur Spartätigkeit und deren Belohnung mit höchstmöglichem
ŝ als ihre Aufgabe betrachten.
aris, im August 1909.
Dë
36
Schachner, Das französische Sparkassenwesen.
Anhang. .
ja Alle französischen Privatsparkassen Sparkasse von Paris
r
Ende) S Einlagen Durch- A Einlagen Durch-
i Zahl | Einleger in 1000 fres.| schnitt Einleger in 1000 fres. schnitt
1835 122 121 000 62 000 — 65 000 38 000 —
1845 342 684 226 393 508 575 178 259 100 037 561
1848 — — = E 168 643 10 I5I 60
1849 355 561 440 73 918 131 173 029 23 094 133
1850 390 565 995 134 917 238 171723 37 747 219
1860 433 |1 218 122 377 271 309 242 881 | 50 948 210
1869 508 |2 130 768 711175 333 271069 54 181 209
1870 489 |2079 141 632 225 304 254 416 43 032 179
1875 515 |2365 567 660 414 279 254 611 40 810 169
1880 536 |3841 104 | 1280 203 333 358 993 66 448 185
1890 544 |5761408| 2911722 505 600 496 148 933 248
1895 — [6497557| 3395 983 523 652 055 157 874 242
1899 — |6918486| 3405025 487 651 186 134 620 206
1905 551 |7556723| 3376580 447 635 492 115 351 182
1906 519 |7668024| 3434 082 448 632 310 117 367 186
Nationalökonomische Gesetzgebung. 37
Nationalökonomische Gesetzgebung.
I.
Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten von Amerika
zum Schutze der Fabrikarbeiter, namentlich der weiblichen
und jugendlichen Personen, ferner der Heimarbeiter.
Von Hugo Graf Lerehenfeld-Köfering.
Kapitel 1.
Einleitung.
A. Vorbemerkung.
Der Erlaß von Arbeiterschutzgesetzen in den Vereinigten Staaten
ist Sache der Einzelstaaten.
Die Bundesregierung hat nach der Verfassung weder die Aufgabe
noch die Befugnis, auf diesem Gebiete einzugreifen!. Eine Ausnahme
bildet die Regelung der Arbeitsbedingungen im District of Columbia,
d. i. der Bundeshauptstadt Washington, ferner in den Betrieben der
Bundesregierung selbst, z. B. den Werkstätten der Heeres- und Flotten-
verwaltung.
Die Gesetzgebung der Einzelstaaten ist ungemein mannigfaltig, tat-
sächlich stimmen nicht zwei Staaten überein.
Da 46 Staaten, der Bundesdistrikt und 3 Territorien in Frage
kommen (die überseeischen Besitzungen können außer Betracht bleiben),
so ist eine ausführliche Darstellung ausgeschlossen ; meine Aufgabe wird
es vielmehr sein, die gemeinschaftlichen Grundlinien der Gesetze aus-
zuzeichnen, die verhältnismäßig eingehendste Regelung zu schildern und
bemerkenswerte Einzelheiten hervorzuheben.
Die zu Gebote stehende Literatur ist dürftig, unzuverlässig, viel-
fach auch veraltet.
In dankenswerter Weise hat das Bundesarbeitsamt als seinen 22.
Jahresbericht für 1908 eine Sammlung sämtlicher, auf die Arbeiter-
frage bezüglichen Gesetze — Labor Laws of the United States —
herausgegeben, die der folgenden Arbeit zugrunde liegt; die Sammlung
reicht bis einschließlich 1907; für das Jahr 1908 habe ich die Gesetzes-
auszüge benutzt, die in den regelmäßigen Veröffentlichungen der sta-
tistischen Aemter von Massachusetts und New York zu finden sind,
außerdem das Material der Staatsbibliothek zu Albany (New York);
1) Art. 1 Abs. VIII Unterabs. 3 der Bundesverfassung gibt dem Bund das Recht,
den Verkehr, „Commerce“, zwischen den Einzelstaaten zu regeln. Trotz der in den
letzten Jahren erweiterten Auslegung dieser Vorschrift ist die Ersıreckung auf Arbeiter-
schutzgesetze als ausgeschlossen zu erachten.
38 Nationalökonomische Gesetzgebung.
dieses Material hat Gesetze von 1908 und 1909 umfaßt, einzelne Gesetze
des Jahres 1909 sind mir auch bei meinen persönlichen Studien während
des Sommerhalbjahres 1909 in mehreren Staaten zugänglich geworden;
es sind dies New York, Pennsylvania, West-Virginia, Colorado, Cali-
fornia, Nebrasca, Illinois, Wisconsin, Michigan und Massachusetts.
Wie die englische, so läßt auch die nordamerikanische Gesetz-
gebung Klarheit der Ausdrucksweise und Begrenzung der Form im
allgemeinen vermissen. Eine Kodifikation der betreffenden Arbeiter-
schutzgesetze besitzen die wenigsten Staaten, vielmehr ist man auf eine
größere oder geringere Menge von Einzelgesetzen angewiesen, die nicht
selten Widersprüche enthalten. Der Mangel der Uebereinstimmung er-
streckt sich auch auf die technischen Ausdrücke; so ist kein einheitlicher
Ausdruck für „jugendliche Person“ angenommen, die Gesetze sprechen
bald von „child“, bald von „young person“, wenn eine Person unter
16 Jahren gemeint ist; „minor“ bedeutet eigentlich eine Person unter
21 Jahren, d. i. unter dem Mündigkeitsalter, in einigen Gesetzen jedoch
eine Person unter 18 Jahren; auch der Ausdruck „Fabrik“, „factory“
steht nicht fest; im allgemeinen bedeutet „factory“ nach dem englischen
Vorbild einen Betrieb, in dem mechanische Kraft zur gewerblichen Er-
zeugung benutzt wird, während z. B. in New York unter „factory“ jede
Werkstätte, ohne Rücksicht auf die Verwendung mechanischer Kraft,
verstanden wird.
Wo im folgenden von „geschützten Personen“ die Rede ist, sind
weibliche und jugendliche Personen gemeint. Für Personen unter 16
Jahren sind die Ausdrücke „Kinder, Jugendliche oder jugendliche Per-
sonen“ nebeneinander gebraucht.
B. Richtung und Bedeutung der Arbeiterschutz-
gesetzgebung.
Der Geist der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung, das Wider-
streben gegen die polizeiliche Bevormundung, die günstigen Lohn- und
Arbeitsbedingungen eines großen Teiles der Arbeiterschaft, die scharfe
Trennung zwischen Gesetzgebung und Exekutive, die der Regierung
die selbständige Einbringung von Vorlagen bei der Legislative ver-
bietet, haben die Entwicklung der Fabrikgesetzgebung in den Vereinigten
Staaten lange zurückgehalten. Obwohl dort das gewerbliche Leben
sich um die gleiche Zeit entfaltet hat wie in Europa, ist die gesetz-
liche Regelung verhältnismäßig spät aufgenommen worden und nur
zögernd fortgeschritten; ein gewisser Zusammenhang zwischen der
Industrialisierung der einzelnen Staaten und dem Maße der gewerbe-
gesetzlichen Regelung läßt sich auch heute verfolgen.
Der gewerbliche Aufschwung hat sich zuerst an der Nordostküste
vollzogen. Hier, d. i. in den Neuenglandstaaten und den sich unmittelbar
anschließenden Staaten New York und Pennsylvania, ist der Mittelpunkt
der Manufakturen geblieben. In bezug auf den Wert der gewerblichen
Erzeugnisse stehen diese beiden Staaten auch gegenwärtig noch an der
Spitze. An dritter Stelle befindet sich Illinois mit seinem Mittelpunkt
Chicago. Dieser Umstand beweist die Wanderung der Industrie nach
Nationalökonomische Gesetzgebung. 39
dem Mittelwesten, d. i. in die Mississippisenkung und zu den großen
Seen, ein Gebiet, dem der Reichtum an natürlichen Schätzen vor allem
die schweren Industrien zugewiesen hat. Zu diesen mittelwestlichen
Staaten gehören neben Illinois, Michigan, Ohio, Indiana, Missouri (mit
St. Louis) auch Wisconsin (mit Milwaukee) und Minnesota (mit St.
Paul-Minneapolis); der übrige Teil des Mittelwestens ist hauptsächlich
der Landwirtschaft gewidmet. Einen mächtigen Bergbau mit Hütten-
werken weist das Gebirgsland des Westens, namentlich in Colorado,
Utah und Montana auf. Die Staaten der pazifischen Küste, California,
Oregon und Washington (mit dem aufstrebenden Seattle) haben ein
reges gewerbliches Leben, das sich vor allem mit der Bearbeitnng der
Bodenerzeugnisse (Metalle, Holz, Früchte) beschäftigt. Der Süden ist
lange unentwickelt geblieben. Die an der Grenze zwischen Süd und
Nord gelegenen Staaten Maryland (mit Baltimore), West-Virginia und
Kentucky nähern sich in ihrem wirtschaftlichen Leben den anschließenden
Nordstaaten, Maryland und Nord-Kentucky sind Industriegebiete In
den eigentlichen Südstaaten, dem Baumwollenland, hat sich eine be-
dentende Textilindustrie seit ungefähr 1880 entfaltet, deren Erzeugnisse
sich in den letzten 30 Jahren beinahe vervierfacht haben sollen (der
Wert wird auf mehr als 1'/, Milliarden $ jährlich geschätzt).
Die eigentliche Fabrikgesetzgebung hat im Osten, zunächst in
Massachusetts und New York, ihren Ausgangspunkt genommen und sich
seither beinahe auf alle Staaten mit gewerblicher Tätigkeit, allerdings
in sehr ungleichem Maße, verbreitet; sie hat im wesentlichen folgende
Richtpunkte angenommen:
Obwohl die Freiheit des Arbeitsvertrages ein verfassungsmälig
gewährleistetes Recht ist, haben viele Staaten, wohl einer theoretischen
Regung folgend, die Forderung eines gesetzlichen Achtstundentages
in eine allerdings nicht wirksam, gesetzliche Form gebracht, da sie
entweder den Strafschutz unterlassen oder entgegenstehende vertrags-
mälise Abmachungen ausdrücklich vorbehalten haben. Etwas anderes
ist eg mit Staats- oder Gemeindebetrieben; hier bestehen gegen eine
derartige Regelung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. So hat der
Staat New York den gesetzlichen Achtstundentag für Staats- und
Kommunalbetriebe angeordnet, und diese Vorschrift auf solche Arbeiten
ausgedehnt, die von Unternehmern auf Grund einer Werkverdingung
für jene öffentlichen Körper geleistet werden.
Sonst beschränken sich die Gesetze im allgemeinen auf die Regelung
der Arbeit von Kindern, jugendlichen Personen und Frauen in gewerb-
lichen Betrieben.
Die Sonntagsarbeit bildet in der amerikanischen Gesetzgebung einen
Gegenstand für sich und ist durchweg mit einem einfachen Verbot ab-
gemacht; als Ausnahmen werden höchstens Notstandsarbeiten zugelassen;
dennoch geht die Praxis weiter und läßt Sonntagsarbeit in allen fort-
laufenden Betrieben zu; eine genaue behördliche Regelung der Aus-
nahmen, wie auf Grund der deutschen Gewerbeordnung, fehlt gänzlich.
esetzliche Feiertage gibt es nicht; dagegen wird an einzelnen Tagen
allgemein gefeiert (etwa 4 im Jahre); hier entscheidet die Sitte, wie
übrigens auch gemeinhin bei der Sonntagsruhe.
40 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Weitere Teile der Fabrikgesetzgebung bilden Vorschriften zum
Schutze der Arbeiter gegen Gefahren, die dem Leben, der Gesundheit
und der Sittlichkeit drohen. Ein Bedürfnis für diese Regelung ist
früher und stärker im Bergbau anerkannt worden. Alle Staaten mit
nennenswertem Minenbetrieb besitzen zum Teil recht ausführliche Vor-
schriften, während diesem Gegenstand in der Fabrikgesetzgebung im
allgemeinen noch geringere Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Die
Unfallmeldung ist erst von wenigen Staaten eingeführt worden, es fehlt
deshalb zumeist an der wichtigen statistischen Grundlage zu wirk-
samem Vorgehen.
Die zahlreichen Bestimmungen über Lohnzahlung, Koalitionsrechte
der Arbeiter und Schlichtung gewerblicher Streitigkeiten überschreiten
den Rahmen dieser Arbeit. Dagegen ist der Gewerbeaufsichtsdienst
eingehend berücksichtigt worden.
Kapitel 2.
Die Regelung der Fabrikarbeit von Frauen und jugendlichen Per-
sonen (Kindern) !!).
A. Die Bedeutung dieser Fabrikarbeit nach der Statistik.
Sowohl der Bund wie einzelne Staaten veranstalten regelmäßige
Erhebungen. Die Volkszählung, die alle 10 Jahre, das letzte Mal 1900,
erfolgt, erstreckt sich auf die Beschäftigung der Einwohner; der für
1910 in Aussicht genommene Zensus soll die gewerblichen Verhältnisse
auf Grund eigener kommissioneller Feststellungen für die einzelnen Zähl-
bezirke berücksichtigen. Außerdem hat die Bundesregierung mit einem
Aufwand von 300000 $ in den beiden letzten Jahren eine Unter-
suchung über den gesamten gegenwärtigen Stand der Arbeit von Frauen
und jugendlichen Personen eingeleitet. Die Ermittelungen sind abge-
schlossen, jedoch ist eine Veröffentlichung des Ergebnisses nicht vor
Mitte 1910 zu erwarten. Die Behörden haben sich bei dieser Arbeit
in weitem Umfange die Beihilfe privater sozialer Vereinigungen gesichert.
Die Arbeiten der einzelstaatlichen Arbeitsämter — Bureaus of
Labour — verdienen nur zum Teil Vertrauen. Neben Arbeitsämtern
mit einem Stabe sachverständiger und erfahrener Statistiker, wie in
Massachusetts und New York, finden sich solche, die unzureichend be-
setzt sind oder deren Tätigkeit politischen Einflüssen unterliegt. Bis
1909 haben 32 von den 46 Staaten solche Aemter errichtet, darunter
auch der neueste, 1907 gebildete Staat Oklahoma. Wie bereits hier
bemerkt werden soll?), umfassen einzelne dieser Behörden (die teils
Bureau of Labour Statistics, teils Department of Labour, teils noch
anders benannt werden) auch die Gewerbeaufsicht und anderweitige
statistische Aufgaben.
. Die Volkszählung von 1900 beziffert bei einer Gesamtzahl von
rund 23,5 Mill. Frauen die Zahl der im Erwerbsleben tätigen Frauen,
d. i. weiblichen Personen über 16 Jahren, auf etwas weniger als 5 Mill.
1) Zu vergl. hierzu Anlage 1 (Uebersicht).
2) Vgl. Kapitel 5.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 41
inder Union mit Ausschluß von Alaska und den überseeischen Besitzungen.
Hiervon sind nur 31,6 Proz., also kaum !/,, über 35, 45,8 Proz., also etwas
weniger als die Hälfte, über 25 Jahre alt, beinahe ?/,, — 65 Proz., —
der Frauen, sind als ledig bezeichnet. Was Abstammung und Rasse
betrifft, so stammen nur rund 1,75 Mill. oder 36,7 Proz. von eingeborenen
weißen amerikanischen Eltern, während 1,2 Mill. oder 23,2 Proz. der
schwarzen Rasse angehören. In der gewerblichen Erzeugung von Gütern
(manufacturing and mechanical occupations), also unter Ausschluß der
kaufmännischen Betriebe und der Wäschereien, waren im Jahre 1900
rund 1,2 Mill., also etwas weniger als !/, tätig, hiervon entfallen 0,23 Mill.
allein auf die Textilindustrie. Von sonstigen gewerblichen Beschäfti-
gungen sind Wäschereien mit über 0,3 Mill. Frauen, Konfektionszweige mit
0,33 Mill. und Arbeiterinnen in Warenläden mit 0,14 Mill. zu erwähnen.
Hiernach liegen die Verhältnisse für die verheirateten Frauen
amerikanischer Abkunft außerordentlich günstig. Die Fabrikarbeit wird
überwiegend von Mädchen, und zwar eingewanderten und von einge-
wanderten Eltern abstammenden Mädchen geleistet. Die Schwarzen
sind vor allem in den häuslichen Diensten und in den südlichen Staaten
in der Landwirtschaft (Plantagenbau) tätig. Bei der Bewertung der
angegebenen Zahlen darf man übrigens nicht vergessen, daß auch selb-
ständig erwerbstätige Frauen, dann die in dem Betriebe des Familien-
hauptes voll mittätigen Frauen, endlich auch die freien Berufe, wie z.B.
namentlich der Unterricht, einbezogen sind. Ob die Frauenarbeit im
ganzen zunimmt, ist schwer zu entscheiden, hierüber werden erst die
Ergebnisse der besonderen Erhebungen und der nächsten Volkszählung
Aufschluß geben. Ein Vergleich zwischen den beiden Volkszählungen
von 1890 und 1900 ergibt ein unverhältnismälig starkes Anschwellen
der Frauenarbeit in Handel und Verkehr, namentlich in Buchhaltung
und Kanzleidienst, ferner auf dem Gebiete der persönlichen Dienste
auler dem Hauswesen, während in den Gewerben, mit Ausnahme der
Lederindustrie, die Frauenarbeit nur geringe Fortschritte gemacht hat.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die Frau seither in den Schreib-
stuben und ähnlichen eine Mittelschulbildung erfordernden Beschäf-
tigungen das männliche Element weiter verdrängt hat. Auf eine Zu-
nahme der Frauenarbeit in der eigentlichen gewerblichen Erzeugung
wird aus der Tatsache zu schließen sein, daß in den Vereinigten Staaten
die Löhne mit der allgemeinen Verteuerung der Lebenshaltung in den
letzten Jahren nicht Schritt gehalten haben und die Industrialisierung
des Landes mächtige Fortschritte macht.
Von den Arbeitsämtern der Staaten geben einzelne fortlaufende, auf
Erhebungen bei den Gewerbetreibenden selbst beruhende Nachweise
heraus. Dem 22. jährlichen Bericht von Massachusetts für 1907 — Sta-
tistics of Manufactures — entnehme ich als Beispiel folgende Zahlen:
In 5671 berichtenden Betrieben waren im ganzen 539 982 Personen,
darunter 172511 weibliche, tätig, und zwar nach dem Jahresdurchschnitt.
Dabei entfallen 102425 mit 48323 Frauen auf die Baumwollindustrie
allein, außerdem sind Frauen in größerer Anzahl in der Schuhfabrikation
(26622), in der Bekleidungsindustrie (11545), in der Erzeugung von
Woll- und Wirkwaren (20797) beschäftigt.
42 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Für die Beschäftigung jugendlicher Personen hat die Volks-
zählung von 1900 folgende Ziffern ergeben:
In gewinnbringender Weise waren 1,75 Millionen Kinder unter
16 Jahren beschäftigt, hiervon 0,79 Millionen oder rund 45 Proz.
Kinder unter unter 14 Jahren; von den 1,75 Millionen trafen 1,264
Milionen auf Knaben und nur 0,486 Millionen auf Mädchen. Da von
der Gesamtzahl 1,062 Millionen landwirtschaftlich tätig waren,
bleibt für alle übrigen Beschäftigungen nur eine Zahl von 0,688
Millionen. Bei der gewerblichen Erzeugung von Gütern, also im wesent-
lichen bei der Arbeit in Fabriken und Werkstätten, wurden 0,284
Millionen Jugendliche unter 16 Jahren gezählt. Da die Summe aller
Jugendlichen dieses Alters sich auf 9,61 Millionen bezifferte, würde
die Zahl der arbeitenden Kinder verhältnismäßig klein gewesen sein.
Nach einer aus verschiedenen Quellen gewonnenen Schätzung belief sich
im Jahre 1906 die Gesamtzahl der Kinder unter 16 Jahren in gewinn-
bringenden Beschäftigungen auf 1,94 Millionen, worunter 0,33 Millionen
gewerblich tätig waren !).
Diese sämtlichen Zahlen bleiben offenbar erheblich hinter der
Wirklichkeit zurück. Einmal dürften die nur zeitweise oder gelegent-
lich, dann die ohne unmittelbares Entgelt für den elterlichen Betrieb,
z. B. in der Hausindustrie verwendeten Kinder zum geringsten Teil
einbezogen sein. Ferner besteht das Bestreben, die im Widerspruch
mit gesetzlichen Vorschriften beschäftigten Kinder bei statistischen Er-
hebungen entweder zu übergehen oder doch das Alter der Kinder
hinaufzusetzen. Dieser Mangel trifft insbesondere auch in vielen
Fällen die Aufstellung einzelstaatlicher Arbeitsämter. Bezeichnend ist
hierfür folgendes Vorkommnis: Im Jahre 1905 gab die staatliche Berg-
bauinspektion in Pennsylvania statistische Daten über die Kinderarbeit
in den Hartkohlengruben heraus; hiernach seien nur 8100 Jugendliche
zwischen 14 und 16 Jahren in Verwendung gestanden, und bei 700
Knaben sei es zweifelhaft gewesen, ob sie tatsächlich die Schutzalters-
grenze von 14 Jahren erreicht haben. Die im gleichen Jahr vor-
genommenen Erhebungen einer privaten Vereinigung zur Förderung des
Kinderschutzes kamen zu einem völlig abweichenden Ergebnisse, nämlich
dazu, daß allein 10000 Knaben unter 13 Jahren gesetzlich verbotene
Arbeit im Bergbau verrichteten; allerdings beruhten diese Erhebungen
zum Teil auf Schätzungen. Die Wahrheit wird wohl auch in diesem
Falle in der Mitte gelegen sein. Auf jeden Fall ist die Arbeit von
Kindern in gewerblichen Betrieben keineswegs geringfügig und ver-
langt gesetzliche Regelung sowie genaue Durchführung der Gesetze,
eine Forderung, der auch die meisten Staaten im Laufe der Jahre
Rechnung getragen haben.
B. Die Fabrikarbeit von Kindern und jugendlichen
Personen.
I. Die American Academy of Political and Social Science hat als
Anhang zum Handbuch über die bestehenden Kinderarbeitgesetze 1908
1) Vgl. Bliss, Encyclopedia of Social Reform, New York 1908, S. 171.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 43
ein Mustergesetz empfohlen, das sich an die Vorschriften der
Staaten New York, Massachusetts, Ohio, Illinois und Wisconsin anlehnt
und auf folgenden Grundsätzen beruht:
1) Altersgrenze von 14 Jahren für die Beschäftigung von
Kindern in Fabriken u. a. i
2) Erlaubnisschein der Schulbehörde für die Beschäftigung
von Kindern im Alter von 14 bis 16 Jahren auf Grund elementarer
Lese- und Schreibkenntnisse in der englischen Sprache und eines amt-
lichen Altersnachweises; Recht des Gewerbeaufsichtsbeamten, Kinder
ohne Erlaubnisschein von der Weiterbeschäftigung auszuschließen.
3) Beschränkung der Arbeitszeit für männliche Personen
unter 16 und für weibliche Personen unter 18 Jahren auf 8 Stunden
im Tage und 48 Stunden in der Woche; Verbot der Nachtarbeit in der
Zeit zwischen 5 Uhr abends und 7 Uhr morgens.
4) Ausschluß von jugendlichen Personen unter 16 Jahren von
bestimmten gefährlichen Verrichtungen und Betriebsarten (wie in New
York, s. unten).
5) Zusammenwirken der Gewerbeaufsicht, der Schulbehörden
und der Jugendgerichtshöfe zum Vollzug der gesetzlichen Bestimmungen.
6) Strafen bis zu 50 $ für Zuwiderhandlungen, außerdem Buße
von 5—20 $ für jeden Tag und jedes Kind im Falle ungesetzlicher
Beschäftigung nach erfolgter Warnung durch die Behörde.
Diese Grundsätze stellen offenbar das Mindestmaß der zum Schutze
der jugendlichen Personen erreichbaren Forderungen dar; sie halten sich
im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten,
am nächsten kommt ihnen der Staat New York.
U. Die Regelung im Staate New York.
1) Altersgrenze für die Beschäftigung von Kindern in oder in
Verbindung mit Fabriken: 14 Jahre.
2) Erlaubnisschein der örtlichen Gesundheitsbehörde, sei es
der Wohn- oder Beschäftigungsgemeinde, für die Beschäftigung von
Kindern im Alter von 14 bis 16 Jahren. Die Ausstellung des Er-
laubnisscheines ist von dem Antrage des gesetzlichen Vertreters des
Kindes, ferner von der Beibringung eines Schulzeugnisses und
eines Altersnachweises abhängig. Das Schulzeugnis muß über ein
Mindestmaß von Schulbesuch während der letzten 12 Monate, nämlich
au 130 Tagen, und über genügende Unterweisung in den Elementar-
fächern Aufschluß geben; der Altersnachweis, — der Mangel standes-
amtlicher Ordnung in den Vereinigten Staaten verlangt hier ausführ-
lichste Regelung, — wird beim Fehlen verlässiger Urkunden durch die
Untersuchung zweier, bei Meinungsverschiedenheit dreier Vertrauens-
ärzte und die eidesstattliche Versicherung des gesetzlichen Vertreters
des Kindes geliefert. Gleichwohl hat sich auch noch der den Erlaubnis-
schein ausstellende Beamte über die körperliche Fähigkeit des Kindes
zur Leistung der beabsichtigten Arbeit und über dessen Kenntnisse im
Lesen und Schreiben der englischen Sprache zu vergewissern und bei
Zweifeln über die körperliche Fähigkeit eine Untersuchung durch einen
eamteten Arzt zu veranlassen. Der Erlaubnisschein enthält die
erforderlichen Angaben über Person und Aussehen des Kindes und ist
44 Nationalökonomische Gesetzgebung.
vom Arbeitgeber aufzubewahren. Besitzt der Arbeitgeber keinen vor-
geschriebenen Erlaubnisschein oder gelingt es ihm nicht, binnen 10
Tagen das Alter eines als 16 Jahre alt angegebenen, anscheinend jedoch
noch jüngeren Kindes nachzuweisen, so kann der Gewerbeaufsichtsbeamte
die fernere Beschäftigung eines solchen Kindes vorläufig untersagen.
Diese Schutzbestimmungen erhalten eine Stütze in dem Schul-
zwang. Der regelmäßige Elementarunterricht der öffentlichen Volks-
schule ist auf das Alter von 7 bis 16 Jahren festgesetzt, zwischen 7
14 Jahren trifft der Schulzwang alle Kinder; der Unterricht in den
Städten erstreckt sich auf mindestens 160 Tage im Jahr; zwischen 14
und 16 Jahren müssen alle Kinder teilnehmen, die nicht eine höhere
Schule besuchen oder ein gesetzlich erlaubtes Arbeitsverhältnis ein-
gegangen haben; jedoch sind sie auch im letzten Falle zum Besuche
einer Abend- oder gewerblichen Fortbildungsschule während einer be-
stimmten Mindestzeit gehalten, wenn sie die Elementarschule nicht
förmlich absolviert haben.
3) Die Arbeitszeit der jugendlichen Personen zwischen
14 und 16 Jahren ist auf 6 Tage in der Woche und 8 Stunden im
Tage, die Arbeitszeit der jugendlichen Personen, und zwar der männ-
lichen zwischen 16 und 18 Jahren, der weiblichen zwischen 16 und 21
Jahren auf 6 Tage und insgesamt 60 Stunden in der Woche, sowie
regelmäßig 10 Stunden im Tage beschränkt; Ausnahmen von diesem
10-stündigen Arbeitstage sind nur zulässig, wenn an einem der 6 Tage
ganz oder zum Teil gefeiert wird; in diesem Fall kann die verlorene
Zeit, und zwar je nachdem dies regelmäßig oder unregelmäßig geschieht,
durch Verlängerung der Arbeitszeit bis zu 12 Stunden an 5 oder 3
Tagen eingeholt werden.
Die Nachtarbeit ist untersagt bei Jugendlichen zwischen 14
und 16 Jahren in den Stunden zwischen 5 p. m. und 8 a. m., bei männ-
lichen Personen zwischen 16 und 18 Jahren von 12 Uhr nachts bis
4 a. m., bei weiblichen Personen zwischsn 16 und 21 Jahren von
9 p. m. bis 6 a. m.
An Pausen sind vorgeschrieben: 60 Minuten mittags, vorbehaltlich
anderweitiger Regelung mit Erlaubnis des Gewerbeaufsichtsbeamten, und
für den Fall, daß die Beschäftigung über 6 Uhr abends hinausreicht,
noch weitere 20 Minuten.
Diese Beschränkungen der Arbeitszeit gelten auch für die Be-
schäftigung einer und derselben Person in mehreren Betrieben; hierbei
erklärt das Gesetz Arbeitgeber als strafbar, die eine weibliche Person
über die erlaubte Zeit hinaus in den Stunden zwischen 6 p. m. und
7 a. m. beschäftigen ohne Rücksicht darauf, ob ihnen die vorhergehende
Verwendung der betreffenden in einem anderen Betriebe bekannt ge-
wesen ist oder nicht.
Der Sicherung des Vollzuges dient die Sammlung der Er-
laubnisscheine, ein Verzeichnis der Kinder unter 16 Jahren, das in
jeder Fabrik auf dem laufenden gehalten werden muß, dann der An-
schlag der regelmäßigen Arbeitsstunden auf der Betriebsstätte. Lassen
sich diese Stunden nicht im vorherein bestimmen, so kann mit Erlaubnis
Nationalökonomische Gesetzgebung. 45
des Gewerbeaufsichtsbeamten an Stelle des Anschlages Buchführung über
die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden treten.
4) Jugendliche Personen unter 16 Jahren sind ausgeschlosssen von
der Arbeit an bestimmten gefährlichen Maschinen !), z. B. Kreis- und
Bandsägen, Holzglättmaschinen, Hechelmaschinen, mechanisch ange-
triebene Pressen in Druckereien, Stanzen, Dampfkessel, eine Reihe von
Maschinen in Eisenwerken, Schleif- und Mischmaschinen, Wäscherei-
maschinen, fernerner vom Anlegen eines Triebriemens, sowie vom
Reinigen und Oelen einer Maschine, sodann von Betrieben, die eine
Berührung mit gesundheitsgefährlichen Stoffen, Säuren, Bleiverbindungen,
Phosphor und Explosivstoffen bedingen; endlich von Brauereien und
Branntweinbrennereien, wie überhaupt von Betrieben, wo alkoholische
Getränke hergestellt oder behandelt werden; außerdem weibliche
jugendliche Personen dieses Alters von Beschäftigungen, die fort-
dauernd stehende Haltung verlangen. Jugendliche Personen unter
16 Jahren müssen vom Bedienen eines Aufzuges, solche unter
18 vom Bedienen eines Aufzuges, der über 200 Fuß?) in der Minute
zurücklegt, fernbleiben. Verboten ist das Reinigen im Gang befindlicher
Maschinen durch jugendliche Personen männlichen Geschlechts unter
18 und weiblichen Geschlechts unter 21 Jahren, endlich die Be-
schäftigung von jugendlichen Personen unter 18 Jahren und von Frauen
überhaupt in Metallschleifereien an den Schleifwerkzeugen.
5. Die Durchführung dieser Vorschriften ist Sache der Gewerbe-
aufsicht, die einen Geschäftszweig des staatlichen Arbeitsamtes — Labor
Department — bildet. Der Schulbesuch wird durch besondere Beamte,
— Attendance Officers, auch Truant Officers genannt, — überwacht,
deren Aufstellung den örtlichen Schulbehörden obliegt; auch diesen
Beamten steht die Befugnis der Nachschau in Fabriken zu. Gewohnheits-
mäßig der Schule fernbleibende Kinder können besonderen Anstalten
sog. Truant-Schools, überwiesen werden.
6. Das Gesetz bedroht Zuwiderhandlungen gegen die Vor-
schriften über die Beschäftigung jugendlicher Personen mit Geldstrafe
von 20—100 $, bei Rückfall das erste Mal 50—200 $, das zweite Mal
nicht unter 250 $; auch kann bei Rückfall auf Gefängnis bis zu 30 Tagen
erkannt werden.
II. Die Gesetzgebung der übrigen Staaten.
In den übrigen Staaten bleibt der Schutz der Kinder und jugend-
lichen Personen im allgemeinen hinter New York zurück. Völlig frei-
gegeben ist die Beschäftigung nur in Oklahoma, Nevada, Wyoming,
Utah und den Territorien; in Wyoming und Utah ist die Verwendung
von Kindern unter 14 Jahren, in Oklahoma von Kindern unter 16 Jahren
in Berg- und Hüttenwerken verboten. In Oklahoma, dem jüngsten Staate
der Union, ist übrigens der Erlaß weiterer Schutzvorschriften nur eine
Frage der Zeit, nachdem ein Gesetzentwurf von 1908 nicht die Billigung
des Gouverneurs gefunden hat. Alle diese Staaten besitzen ferner die
190% 1) $ 93 der Kodifizierten Arbeiterschutzgesetze 1909, nach der Novelle vom 6. Mai
209,
2) Ca. 65 m.
46 Nationalökonomische Gesetzgebung.
gesetzliche Schulpflicht, wodurch die Kinderarbeit wenigstens zeitweise
und mittelbar eine Schranke erhält.
1) Die Altersgrenze ist im allgemeinen 14 Jahre, wie die bei-
gedruckte Zusammenstellung zeigt. Ueber diese Grenze gehen Montana,
nämlich auf 16 Jahre (Gesetz von 1907); sodann, jedoch nur bedingt
als eine Folge der Schulpflicht, Vermont und South Dakota; Vermont
macht nämlich die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren von
dem Nachweis eines neunklassigen Schulbesuches oder von der besonderen
Erlaubnis der Schulbehörde nur während der Schulstunden abhängig und
gibt während der schulfreien Zeiten die Beschäftigung bis zu 12 Jahren
herunter frei; South Dakota verbietet zwar die Beschäftigung von
Kindern unter 15 Jahren während der Zeit, in der die Volksschulen
geöffnet sind, unterläßt aber jede Regelung für die übrige Zeit.
Unter der Altersgrenze von 14 Jahren bleiben außer Maryland
nur einzelne Südstaaten, nämlich Alabama, Florida, Georgia, Mississippi,
wo bis 1908 noch jeglicher Schutz fehlte, South Carolina, — diese mit
12 Jahren, — und North Carolina mit 13 Jahren.
Eine Abschwächung erleidet die Schutzwehr einer festen Alters-
grenze durch Ausnahmen, die sich in drei Gruppen teilen lassen:
a) Ausnahmen, die mit der Schule in Zusammenhang stehen:
während der Schulferien ist die Fabrikarbeit der Kinder gestattet in
Idaho, Maryland (19 Grafschaften außerhalb Baltimore), Oregon und
South Carolina. In Idaho und Oregon ist die Altersgrenze auf 12 Jahre
bestimmt; Oregon verlangt besonderen Erlaubnisschein; in South Carolina
gilt diese Ausnahme nur für die Textilindustrie und für Kinder, die
lesen und schreiben können („Literates“) sowie ein Mindestmaß von
Schulbesuch aufweisen, worüber eine Bescheinigung der Schulbehörde
erforderlich ist. Hierher gehören auch: die Vorschrift von West Vir-
ginia, wonach Fabrikarbeit von Kindern zwischen 12 und 14 Jahren
während der Schulferien und, sofern darunter der Schulbesuch nicht
leidet, auch während des Schuljahres erlaubt ist; dann Texas, welches
für „Literates“ die Altersgrenze auf 12 Jahre herabsetzt; endlich North
Carolina, wo Lehrlinge, die ein bestimmtes Mindestmaß von Schulbesuch
(4 Monate) in den letzten 12 Monaten nachweisen, schon mit 12 Jahren
in Fabriken eingestellt werden dürfen.
b) Ausnahmen für bestimmte Gewerbe.
Vorbehaltslose Ausnahmen gewähren: Arkansas für Konserven-
erzeugung während der Schulferien, Delaware für Konservenerzeugung
und die Herstellung von Körben zum Verpacken der Konserven, North
Carolina für das Austerngeschäft. Auch in Maine ist die Kinderarbeit
für die unmittelbare Behandlung leicht verderblicher Gegenstände mit
dem Vorbehalt freigegeben, daß der Fabrikinspektor die Beschäftigung
von der Erfüllung gesundheitlicher Auflagen abhängig machen kann:
diese Ausnahme trifft vor allem die Herstellung von Fischkonserven an
der Seeküste. Alabama und Mississippi beschränken den Kinderschutz
von vornherein auf die Textilindustrie und unter gewissen Voraus-
setzungen auf andere Gewerbe, nämlich Alabama auf Konfektion, Tabak-
verarbeitung, Buchdruckerei und -binderei, Glasfabrikation, sowie auf
gesundheitsgefährliche Betriebe, soweit die Beschäftigung im Innern
Nationalökonomische Gesetzgebung. 47
eines Gebäudes erfolgt, Mississippi auf alle Gewerbe, die die Gesundheit
der Kinder gefährden oder ihre Verwendung bei gefährlichen Maschinen
bedingen.
c) Ausnahmen auf Grund von Bedürftigkeit.
Die sog. Poverty-exceptions umfassen die Fälle, in denen das Kind
zu seinem eigenen Unterhalt oder zum Unterhalte der Seinigen arbeiten
muß; sie waren früher sehr häufig — in 16 Staaten — die neuere
Gesetzgebung hat vielfach mit dieser Ausnahme aufgeräumt, Ohio unter
der ausdrücklichen Bestimmung, daß die Armenbehörde für den Unter-
halt der durch das Verbot der Kinderarbeit bedrängten Familien ein-
zutreten habe, ohne jedoch die Unterstützung als öffentliche Armenhilfe
anzurechnen. Poverty-exceptions bestehen noch in Arkansas, California,
Distriet of Columbia, Texas, Virginia, North Dakota, South Carolina und
Washington. Durchgängig handelt es sich hierbei um eine Herabsetzung
der Altersgrenze um 2 Jahre mit besonderer behördlicher Erlaubnis.
Im Distriet of Columbia und in Washington wird diese Erlaubnis durch
den zuständigen Richter unter dem Vorbehalt ungefährlicher Beschäf-
tigung erteilt.
2. Die Ausstellung von Erlaubnisscheinen für die Beschäf-
tigung von Kindern in den ersten Jahren nach der Altersgrenze ist eine
Besonderheit der nordamerikanischen Gesetzgebung, die in der über-
wiegenden Mehrzahl der Staaten mit Kinderschutz besteht. Im all-
gemeinen gelten die Erlaubnisscheine für Jugendliche von 14 bis 16 Jahren
und dienen als Legitimation dafür, daß die Betreffenden die für die
Beschäftigung geforderten Voraussetzungen erfüllt haben. Zu diesen
Voraussetzungen gehören Alter, Schulbildung oder Schulbesuch, daneben
in vereinzelten Staaten, New York, Kentucky, Michigan, Nebraska, Wis-
consin, die körperliche Befähigung, in Minnesota auch die wirtschaftliche
Notlage. Aerztliche Untersuchung der Kinder hat allerdings nur in
Zweifelsfällen zu erfolgen. Die Ausstellung gehört in den meisten
Staaten zur Zuständigkeit der Schulbehörden. Außerdem gewähren die
Staaten Delaware, Indiana, Michigan, Minnesota, Missouri, New Jersey
und Ohio der Gewerbeaufsicht die wichtige Befugnis, die in Fabriken
beschäftigten Kinder nachträglich ärztlich untersuchen zu lassen und
sie von einer als ungeeignet festgestellten Arbeit auszuschließen.
Dem Altersnachweis kommt in den Vereinigten Staaten eine be-
sondere Bedeutung deshalb zu, weil Einwohner- und Standesämter wie
überhaupt jeder Beurkundungszwang entweder ganz fehlen oder doch
erst in neuester Zeit vereinzelt aufgenommen worden sind; dazu kommt,
daß die fremde Einwanderung mehr und mehr aus Ländern ohne fest
geordnete staatliche Einrichtungen, z. B. Türkei, Griechenland, Rußland,
stammt. Diese Umstände erklären die umständlichen Normen, wie sie
namentlich in New York für die Feststellung des Alters in Kraft sind.
Daß mangelhafte Vorschriften auf diesem Gebiete, so insbesondere auch
die einfache Bestätigung durch Eltern oder gesetzliche Vertreter des
Kindes, die Wirksamkeit des Schutzes wesentlich beeinträchtigen, ist
eine durch die Erfahrung bestätigte Tatsache.
Die Forderungen über Schulbildung oder Schulbesuch gehen zu
weit auseinander, um eine gedrängte Darstellung zuzulassen. Ein Alters-
48 Nationalökonomische Gesetzgebung.
und Bildungszeugnis, ähnlich wie New York, verlangen 14 Staaten. Kinder,
die des Lesens und Schreibens im Englischen nicht kundig sind, „I-
literates“, müssen die Schule auch noch nach der Altersgrenze besuchen ;
Illinois und Wisconsin mit ihrer starken fremdländischen Bevölkerung
lassen auch eine andere Sprache als Englisch zu. Den Besuch der
öffentlichen Schule, wenigstens einer Abendschule, fordern weitere
7 Staaten, die kein förmliches Bildungszeugnis als Voraussetzung der
Fabrikarbeit nach der Altersgrenze vorschreiben ; unter diesen 7 Staaten
verbietet Idaho ausdrücklich die Beschäftigung von „Illiterates“ bis
zum 16. Jahr während der Schulstunden.
3. Die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit
jugendlicher Personen weist so zahlreiche Verschiedenheiten auf,
daß auf die Uebersicht verwiesen werden muß. Die Uebersicht schließt
mit dem Ausdruck „Frau“ alle Frauen ohne Unterschied des Alters ein
und berücksichtigt im allgemeinen nur solche Beschränkungen, die Straf-
schutz genießen.
a) Höchstarbeitszeit für jugendliche Personen.
14 Staaten, — außer Vermont und West Virginia, — Staaten des
Südens und Westens, unterlassen jede Regelung. Die Mehrzahl der Staaten
schützen jugendliche Personen nur für die der Altersgrenze folgenden
beiden Jahre, also meist zwischen 14 und 16 Jahren. Auf 18 Jahre
gehen für weibliche Personen Indiana, Maine, Ohio, Pennsylvanien, für
Personen beiderlei Geschlechts California, Louisiana, Massachusetts,
Michigan, New Hampshire, New York und South Dakota. Die Höchst-
zahl der täglichen Arbeitsstunden schwankt zwischen 10 (Mehrzahl der
Staaten) und 8 (District of Columbia, Colorado [Ausnahmen durch richter-
liche Verfügung möglich], Illinois, Nebraska, New York [für Jugendliche
bis zu 16 Jahren] und Ohio). Einzelne Staaten bestimmen ausdrücklich
ein Höchstmaß von 6 Arbeitstagen, einzelne Staaten setzen wegen des
üblichen früheren Arbeitsschlusses an Samstagen eine niedrigere Summe
von Arbeitsstunden in der Woche fest, als sich nach der täglichen
Stundenzahl ergeben würde, z. B. bei 10 Stunden täglich 56 in der
Woche. Den 8-stündigen Arbeitstag im allgemeinen für Berg- und
Hüttenwerke (Hüttenwerke gehören zum Begriff „Fabrik“) haben Colo-
rado, Idaho, Montana, Missouri, Nevada und Utah eingeführt.
Anders wie die englische vermeidet die nordamerikanische Gesetz-
gebung im allgemeinen eine Regelung der Arbeitspausen. Massa-
chusetts allein bringt hierüber nähere Vorschriften, andere Gesetze be-
gnügen sich mit der Festsetzung einer Mittagspause von 30—60 Minuten.
Auffallend ist auch das geringe Maß, in dem Ueberarbeit gestattet
wird. Nur 8 Staaten lassen die Ueberschreitung der täglichen Arbeits-
zeit, und zwar im allgemeinen nur unter der Voraussetzung zu, daß ein
Ausgleich unter Einhaltung der wöchentlichen Arbeitszeit durch einen
halbfreien Tag (nicht Samstag) stattfindet oder daß die Arbeit zu Aus-
besserungszwecken oder zum Einholen von Zeitverlust bei Maschinen-
defekt erfolgt.
b) Die Nachtarbeit ist für jugendliche Personen in allen Staaten
mit Ausnahme von 16 eingeschränkt, unter diesen 16 Staaten befindet
sich die Mehrzahl derjenigen, die jede Regelung der Arbeitszeit unter-
Nationalökonomische Gesetzgebung. 49
lassen, außerdem noch Maine und Maryland. Vermont verbietet die
Beschäftigung Jugendlicher unter 16 Jahren nach 8 Uhr abends ohne
Festsetzung einer Morgenstunde.
Die Altersgrenze für das Verbot der Nachtarbeit deckt sich im
allgemeinen mit der Altersgrenze für die Beschränkung der Arbeitszeit.
Die Nachtstunden sind wechselnd zwischen 5 Uhr nachmittags und
8 Uhr morgens festgesetzt, im Durchschnitt jedoch zwischen 7 Uhr
abends und 6 Uhr morgens.
c) Ausnahmen von den Beschränkungen für die Arbeitszeit
jugendlicher Personen sind in folgenden Staaten vorgesehen:
Alabama und Mississippi begrenzen, wie bereits erwähnt, den
Geltungsbereich des Schutzes auf einzelne Gewerbe, namentlich die
Textilindustrie.
Für den Betrieb von Konservenfabriken (Arbeiten zur Verhütung
des Verderbens von Gegenständen) sind die Beschränkungen aufgehoben
in Delaware (auch für die Herstellung von Verpackungen für Konserven),
Maine, Iowa (Werkstätten mit Handbetrieb), Michigan (jedoch nicht
Nachtarbeit), New Jersey (Jugendliche über 16 und Nachtarbeit) und
Wisconsin.
Die gleiche Ausnahme wie für Konservenfabriken gilt in New Jersey
für Glaswerke.
Pennsylvanien hebt das Verbot der Nachtarbeit für Fabriken mit
ununterbrochenem Betriebe (z. B. Glaswerke) auf, verlangt jedoch in
solchen Fällen eine Begrenzung der Arbeitsschicht auf 9 Stunden.
4 Ausschluß von jugendlichen Personen von be-
stimmten gefährlichen Verrichtungen und Betriebs-
arten. E
Wie bereits in der Einleitung hervorgehoben worden ist, fehlt es
der Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten an einer systematischen
Regelung der gefährlichen „Industrien“. Dieser Mangel ist vor allem
für die Verhältnisse der jugendlichen Personen empfindlich, da er-
fahrungsgemäß gerade sie während der Zeit der körperlichen und
geistigen Entwicklung schädlichen Einflüssen geringere Widerstands-
kraft entgegenzusetzen vermögen.
Wenn einzelne Staaten in allgemeiner Weise jede die Gesundheit,
körperliche Integrität und Sittlichkeit gefährdende Verwendung ver-
bieten (z. B. Idaho, Kansas, Michigan, Nebrasca), so wird gerade in
dieser Allgemeinheit der Beschränkung die Schwierigkeit des Vollzuges
im einzelnen Falle liegen; vielmehr wird die Aufzählung bestimmter
Betriebe oder Arbeitsarten als wirksamer vorzuziehen sein. Der Staat
New York geht seit dem Gesetz von 1909 auch in dieser Beziehung
voran. Von den übrigen Staaten beschränkt sich eine Mehrzahl auf das
Verbot des Reinigens durch mechanische Kraft bewegter Maschinen
und des Bedienens von Aufzügen durch Jugendliche (bis hinauf zum
21. Jahre) und durch Frauen; Texas und Michigan suchen jugendliche
Arbeiter dem Alkoholismus durch ein Verbot der Verwendung in Alkohol-
erzeugenden und -behandelnden Betrieben zu entziehen; Ohio schließt
gendliche Personen bis zu 16 Jahren von Tabakfabriken aus; Wis-
Drite Folge Bà. XXXIX (XCIV). 4
50 Nationalökonomische Gesetzgebung.
consin beschränkt die Arbeitszeit jugendlicher Personen bis zu 18 Jahren
in Zigarrenfabriken auf 8 Stunden täglich und 48 Stunden wöchentlich.
Außer New York bringen Pennsylvanien, Kentucky, Missouri, Minnesota,
Ohio und Wisconsin eine, wenn auch keineswegs vollständige Aufzählung
gefährlicher Gewerbs- und Arbeitszweige: das neue pennsylvanische Gesetz
von 1909 schließt Jugendliche unter 18 Jahren von der Arbeit aus in Hoch-
öfen, Gerbereien, Werften, Betrieben zur Gewinnung und Lagerung gefähr-
licher Explosivstoffe, dann an Aufzügen und Hebemaschinen, weiteres
von dem Reinigen und Oelen gefährlicher Maschinen; überdies macht
es die Verwendung Jugendlicher zwischen 14 und 16 Jahren in Werken,
wo Bleifarben, Phosphor oder giftige Säuren verarbeitet werden, dann
in Tabakfabriken von der besonderen Erlaubnis der Gewerbeaufsicht
abhängig. Die übrigen genannten Staaten verbieten in nahezu über-
einstimmenden Vorschriften die Verwendung Jugendlicher unter 16 Jahren
in folgenden Verrichtungen oder Betrieben: Auflegen von Treibriemen,
Oelen und Reinigen der Maschinen, Kreis- und Bandsägen, Holzbe-
arbeitungsmaschinen, Stanzen, Metallschleiferei, Wellmaschinen, Dampf-
maschinen und Dampferzeugungsapparaten, Teigmisch- und Hartbäckerei-
maschinen („eracker-mach.“), Draht-, Eisenstreck-, Walz-Maschinen, ver-
schiedene Maschinen für die Verarbeitung von Kautschuk, Betrieben zur
Verarbeitung gefährlicher oder giftiger Säuren sowie von Farben- und
Bleiweiß, Aufzügen, Herstellung von Gegenständen zu unsittlichen
Zwecken; ferner dürfen Mädchen unter 16 Jahren nicht in Betrieben
arbeiten, die ein fortgesetztes Stehenbleiben erfordern; schließlich ist
noch eine allgemeine Klausel für den Ausschluß jeder sonstigen gefähr-
lichen Verwendung beigefügt. Auffallenderweise fehlt unter diesen
Staaten Massachusetts; hier besitzt das Staatsgesundheitsamt die Er-
mächtigung, die Beschäftigung Jugendlicher unter 18 Jahren in Betrieben,
die gefährliche Säuren verarbeiten, zu untersagen.
5. Der Vollzug der Vorschriften.
An dieser Stelle wird nur über die Organisation des Vollzugs, über
dessen Wirksamkeit aber in einem besonderen Abschnitt (Kapitel 5) zu
handeln sein.
Wo Gewerbeaufsichtsbeamte aufgestellt sind — und dies trifft in der
Mehrzahl der Staaten zu — haben diese darüber zu wachen, daß die
gesetzlichen Beschränkungen der Fabrikarbeit jugendlicher Personen
eingehalten werden, und bei Zuwiderhandlungen die Strafverfolgung vor
den ordentlichen Gerichten einzuleiten.
Soweit schulpflichtige Kinder in Frage kommen, steht das gleiche
Recht im allgemeinen den Schulbehörden zu. Besondere Beamte mit
der Aufgabe, den regelmäßigen Schulbesuch zu übernehmen (Truant
officers) sind allerdings nur in einzelnen Städten tätig. Staatliche Ver-
waltungsbehörden im deutschen Sinne gibt es nicht; ihre Aufgaben
werden in den Vereinigten Staaten nicht selten von den Gerichten
wahrgenommen, so ist denn auch z. B. in Colorado und im District of
Columbia der Richter (Jugendrichter) zur Bewilligung von Ausnahmen
zuständig, fällt doch gerade den Jugendgerichtshöfen im allgemeinen
der Kinderschutz wie auch die Anordnung und Einleitung der Fürsorge-
erziehung zu.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 51
Um die Gewerbeaufsicht zu erleichtern, sehen eine Reihe von
Staaten die Führung von genauen Listen der geschützten Personen,
dann die Bekanntgabe der Arbeitsstunden und -pausen durch Anschlag
an der Betriebsstätte, vereinzelte Staaten auch den Anschlag jener
Listen, die Meldung von der Beschäftigung geschützter Personen und
der ausnahmsweisen Ueberarbeit an die zuständige Gewerbeaufsichts-
behörde vor.
6. Die Strafen sind nach Art und Höhe völlig verschieden.
Freiheitsstrafen statt oder neben Geldstrafen sind von etwas weniger
als der Hälfte der Staaten angedroht. Nicht selten sind, wie in New
York, Mindeststrafen und Rückfallsstrafen vorgesehen. Vereinzelt findet
sich die Bestimmung, das für jeden Tag ungesetzmäßiger Beschäftigung
einer geschützten Person eine bestimmte Summe als Buße von dem
Augenblicke einer behördlichen Verwarnung an verwirkt ist. Die Strafe
trıifit neben dem Arbeitgeber oder dessen Stellvertreter nicht selten auch
die Eltern oder gesetzlichen Vertreter der jugendlichen Person, die sie
entgegen den gesetzlichen Vorschriften verdungen haben, auch haften
Eltern strafrechtlich für falsche Angaben, insbesondere über das Alter
des Kindes. Die Maße der Geldstrafen sind großenteils hoch gegriffen.
C. Die Fabrikarbeit der Frauen.
Das Bedürfnis der Frau nach gesetzlichem Schutz in ihrer gewerb-
lichen Arbeit ist in der Gesetzgebung der Vereinigten Staaten noch
keineswegs allgemein anerkannt. Diese Erscheinung hängt mit der
Stellung der obersten Gerichtshöfe des Landes zu der Frage der Ver-
fassungsmäßigkeit gesetzlicher Beschränkungen zusammen.
Aus Art. XIV der Bundesverfassung wird die Freiheit des Arbeits-
vertrages gelesen, Verfassungen der Einzelstaaten haben sie ausdrücklich
garantiert. Auf Grund dieser Ansicht hat der oberste Gerichtshof des
Staates Illinois 1896 das Verbot der Nachtarbeit erwachsener Frauen
als nichtig bezeichnet und der oberste Gerichtshof des Staates New York
ist dieser Anschauung unter der Beweisführung, die Frau sei nicht ein
Mündel des Volkes (ward of the nation), noch im Jahre 1906 gefolgt.
Jetzt hat die Sache der Frau eine wesentliche Stütze in dem Urteil des
obersten Bundesgerichts im Jahre 1908, sog. „Oregon Case“, gefunden.
Aus Anlaß der Beschäftigung einer Frau in einer Waschanstalt über
10 Stunden ist die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in Oregon, das
die Frauenarbeit in bestimmten Betrieben, z. B. Fabriken, Wasch-
anstalten usw., auf 10 Stunden beschränkt, anerkannt worden.
Die Beschränkungen der Arbeitszeit jugendlicher weiblicher
Personen sind im Vorabschnitt dieses Kapitels behandelt worden;
es sei daran erinnert, daß einzelne Staaten das Schutzalter für diese
Beschränkungen gegenüber männlichen Personen um 2 Jahre, also auf
18 Jahre erhöhen.
Erwachsenen Frauen gewähren nur 14 Staaten den Schutz einer
Beschränkung der täglichen Arbeitszeit und gar nur 5 Staaten ein Ver-
bot der Nachtarbeit.
4*
52 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Auf 10 Stunden ist die tägliche Höchstarbeitszeit bestimmt in
Connecticut (wöchentlich regelmäßig in 58), Illinois (seit 1909), Louisiana
(seit 1908), Massachusetts (wöchentlich 56), Michigan (Höchstzahl 10,
regelmäßig 9, wöchentlich 54) Nebrasca, New Jersey, New York, Oregon,
Rhode Island (wöchentlich 58) South Dakoto, Tennessee und Washington;
auf 9 Stunden 40 Minuten in New Hampshire (wöchentlich 58). Die
Nachtarbeit verbieten von den vorher genannten Staaten New Jersey,
New York, Massachusetts, Nebrasca, außerdem noch Indiana; am weitesten
geht hier Massachusetts, das für Textilfabriken die Beschäftigung weib-
licher Arbeitskräfte zwischen 6 und 6 Uhr untersagt. In Missouri dürfen
Frauen überhaupt beim Maschinenreinigen keine Verwendung finden, in
Utah sind sie von der Arbeit in Berg- und Hüttenwerken ausgeschlossen.
Hinsichtlich der Ausnahmen, Pausen und des Vollzuges gelten für Frauen
im allgemeinen die gleichen Vorschriften wie für jugendliche Personen.
Kapitel 3.
Der Schutz der Arbeiter gegen Betriebsgefahren sowie Vorschriften
zur Aufrechterhaltung der guten Sitten und des Anstandes !).
A. Vorbemerkung.
Die deutsche Reichsgewerbeordnung stellt in ihren $$ 120a mit d
allgemeine Grundsätze auf, nach denen die Arbeiter Schutz gegen die
Gefahren gewerblicher Betriebe für die körperliche und sittliche Gesund-
heit und die Sicherheit erhalten sollen; sie überläßt die Ausführung
dieser Grundsätze der Regelung durch den Bundesrat und die einzel-
staatlichen Polizeibehörden, also der Verwaltung. Dieses dem prak-
tischen Bedürfnis entgegenkommende System ist dem Recht der Ver-
einigten Staaten fremd. Der grundsätzlichen Teilung der staatlichen
Gewalten, der Eifersucht, mit der jeder Teil auf die Wahrung seiner
Gewalt wacht, würde jeder Ausstattung der Exekutive mit weitgehenden
Vollmachten zur verordnungsmäßigen Regelung dieses Schutzes wider-
sprechen. Außerdem hat die Exekutive der Unionsstaaten nicht die
nötigen Organe entwickelt, um hier in geeigneter Weise einzugreifen.
Vielmehr haben die Staaten solche Vorschriften in die starre Form einer
systemlosen Gesetzgebung gegossen, die sich bald in Einzelheiten ver-
liert, bald wichtige Forderungen unerfüllt läßt. Die weitgehende Ver-
schiedenheit zwischen den einzelnen Staaten hat auch hier eine Ueber-
sicht nötig gemacht.
B. Vorschriften für alle Gewerbe.
Die Schutzvorschriften lassen sich in 3 Gruppen teilen: Gesundheit,
Sicherheit und Sittlichkeit; weiter lassen sich unterscheiden Schutz-
vorschriften, die für alle Fabriken und solche, die nur für bestimmte
gefährliche Betriebe gelten.
Im allgemeinen lassen es die Staaten, wo die Fabrikarbeit jugend-
licher und weiblicher Personen keinen oder doch nur geringen Be-
1) Zu vergl. Anlage 2 (Uebersicht).
Nationalökonomische Gesetzgebung. 53
schränkungen unterliegt, auch an Normen auf diesem anderen Gebiete
fehlen, nämlich die Staaten des Südens und Westens mit Ausnahme des
Nordwestens. Aber auch sonstige und zwar industriereichere Staaten
des Ostens und Nordwestens, wie Delaware, Maine, New Hampshire, die
beiden Dakota und Vermont sind hier durchaus rückständig. In nennens-
wertem Maße haben eigentlich nur New York, Indiana, Massachusetts,
Michigan, Wisconsin, allenfalls auch noch Maryland, Minnesota, Missouri,
New Jersey, Ohio, Pennsylvania, Rhode Island und Washington für den
Schutz ihrer Arbeiter vor Betriebsgefahren gesorgt. Der Mangel einer
allgemeinen und gründlichen Regelung wiegt um so schwerer, als in den
Vereinigten Staaten der Arbeiter jeder öffentlichen, sei es Unfall- und
Invaliden-, sei es Krankenversicherung entbehrt. Bei der Mehrzahl der
Staaten gehen die Gesetze ins einzelne, verlieren sich vielfach in eine
die Deutlichkeit beeinträchtigende Breite; dies erklärt sich auch damit,
daß eine Verurteilung des Unternehmers durch die Strafgerichte nur
dann mit Sicherheit zu erwarten ist, wenn die Anordnung des Aufsichts-
beamten unmittelbar im Wortlaut des Gesetzes eine Stütze erhält. Nur
einzelne Gesetze, z. B. in Pennsylvania, Wisconsin, geben der Gewerbe-
aufsicht die Befugnis zur Abstellung gesundheitswidriger Zustände in
einer mehr generellen Klausel.
Nicht selten folgt die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten in
ihrer Ausdrucksweise englischen Mustern; auch ist eine weitgehende
Aehnlichkeit der verschiedenen amerikanischen Gesetze untereinander
nicht zu verkennen; sie macht die Untereinteilung der drei Gruppen
nach Schlagworten möglich.
I. Ingesundheitlicher Beziehung habe ich auseinandergehalten:
a) Reinlichkeit der Betriebsstätte; b) Kanalisierung — Beseitigung von
Ausflüssen; dahin gehört auch die unschädliche Beseitigung der Abfall-
stoffe und Abwässer; c) gute Beleuchtung; d) Lüftung und e) Bestimmung
eines Mindestluftraumes für jeden Arbeiter; ein solcher Mindestluftraum
(Buchstabe e) findet sich nur in Indiana, New Jersey und New York
mit 250 e (oder 10 cbm) für Tagesarbeit und 400 (oder 16 cbm) für
Nachtarbeit vorgesehen; Illinois verlangt ein Mindestmaß von Luftzufuhr
(1500 e in der Stunde für jeden Arbeiter), in einigen anderen Staaten,
Maryland, Missouri, Wisconsin kann die Ueberfüllung der Arbeitsstätten
durch den Aufsichtsbeamten abgestellt werden; f) die Absaugung von
Staub, Gasen ist regelmäßig für Schleifereien, wo sich ungesunde Ab-
scheidungen der behandelten Mineralien ergeben, ausdrücklich ange-
ordnet, in South Dakota beschränkt sich diese Anordnung auf die Ab-
saugung von Gasen in Hüttenwerken; einige Staaten behandeln diesen
Gegenstand mit besonderer Ausführlichkeit, z. B. Massachusetts, Illinois;
g) Erhaltung von Fußboden, Wänden und Decken (Anstrich); meist ist das
Tonchen der Werkräume zur Auflage gemacht; h) Ankleide- und Wasch-
räume zu vergl. unten Ziff. III; i) Sitzgelegenheit für weibliche Personen;
diese Auflage beschränkt sich nicht auf Läden und Lager, sondern gilt
auch von Werkräumen; sie ist beinahe allen Staaten gemeinsam.
II. Maßnahmen zur Sicherheit gegen Unfallgefahren:
k) Feuersicherheit; e) Beschaffenheit der Ausgänge, dann f) Feuerleitern,
Treppen; nicht weniger wie 26 Staaten besitzen hierüber Vorschriften,
54 Nationalökonomische Gesetzgebung.
die Mehrzahl über die Anbringung besonderer Vorrichtungen, um im
Falle der Feuersgefahr aus dem Fabrikgebäude zu gelangen; einzelne
Staaten machen die Auflagen von einer bestimmten Gebäudehöhe (z. B.
2 oder mehr Stockwerke) abhängig; was die Beschaffenheit der Aus-
gänge betrifft, so findet sich vor allem das Gebot, daß die Türen nach
außen aufgehen, unverschlossen während der Arbeitszeit bleiben, oder
daß keine feuergefährlichen Gegenstände in der Nähe der Ausgänge
gelagert werden; 1) Sicherung von Aufzügen, Absturzstellen; m) Be-
schaffenheit der Treppen (Geländer); n) Sicherung gefährlicher Maschinen-
teile; hierher gehört auch die Sicherung von Pfannen und anderen Be-
hältnissen gegen Hineinstürzen oder gegen das Austreten gefährlicher
Stoffe (z. B. in der Gesetzgebung, von New York); p) Verbindung
zwischen Maschinenraum und Werkmaschinen, um ein sofortiges Ab-
stellen des Antriebes bei Gefahr zu ermöglichen; o) («, 8) Dampfkessel;
im allgemeinen sind die Vorschriften über die Anlage von Dampfkesseln
ziemlich dürftig; nur 8 Staaten besitzen solche, wenigstens als Teil der
Fabrikgesetzgebung; eine behördliche Konzession zum Betriebe von
Dampfkesseln gibt es nicht; dagegen sehen ebenfalls 8 Staaten eine
regelmäßige Nachschau vor, die einigerorts der Fabrikinspektion,
andererorts privaten Sachverständigen übertragen ist.
III. Maßnahmen zur Erhaltung guter Sitten. Als solche
sind nur die Errichtung von Abortanlagen q) und von Anstalten zum
Waschen und Ankleiden, auch von Eßräumen h) hier zu erwähnen.
Diese Bedürfnisse finden in 16 Staaten allerdings in sehr verschiedenem
Grade Berücksichtigung. Einzelne Staaten machen zur Voraussetzung,
daß die betreffenden Betriebe eine Mindestarbeiterzahl beschäftigen,
einzelne Staaten, daß weibliche Arbeitskräfte tätig sind; in Betrieben
mit gemischter Arbeiterschaft wird regelmäßig die Trennung der Aborte
für die beiden Geschlechter gefordert; Eßräume werden nur sehr ver-
einzelt zur Auflage gemacht; es widerstrebt offenbar dem amerikanischen
Gesetzgeber, auf diesem an die der Wohlfahrtspflege angrenzenden Ge-
biete mit Zwangsmitteln einzugreifen.
IV. Neben diesen mehr allgemein hervortretenden Maßnahmen ver-
dienen einzelne Anordnungen besondere Hervorhebung:
In Delaware ist entsprechende Heizung der Werkräume in Betrieben
mit mindestens 10 Arbeiterinnen geboten, außerdem jede Beschimpfung
und schlechte Behandlung der weiblichen Arbeitskräfte ausdrücklich
untersagt. In Massachusetts ist die Bereitstellung von Spucknäpfen
und von Medizinkästen zur ersten Hilfeleistung angeordnet. Massachusetts
und Rhode Island fordern die Lieferung guten Trinkwassers an die
Arbeiter. Minnesota und Vermont nehmen die Uebertretung eines von
der Fabrikleitung verfügten Rauchverbotes unter Strafe. Virginia ver-
langt, daß die Arbeiter in Betrieben zum Reinigen vom Baumwolle und
Nüssen einer bestimmten Art Mundschwämme gestellt erhalten. In
Wyoming dürfen weder Betrunkene die Hüttenwerke betreten, noch
geistige Getränke in diese Werke eingebracht werden.
„Tenant-Factories“, das sind „Gebäude, deren verschiedene Teile
von verschiedenen Personen mietweise genützt werden und von denen
mindestens ein Teil einem Fabrikbetriebe dient, sind nach dem Muster
Nationalökonomische Gesetzgebung. 53
schränkungen unterliegt, auch an Normen auf diesem anderen Gebiete
fehlen, nämlich die Staaten des Südens und Westens mit Ausnahme des
Nordwestens. Aber auch sonstige und zwar industriereichere Staaten
des Ostens und Nordwestens, wie Delaware, Maine, New Hampshire, die
beiden Dakota und Vermont sind hier durchaus rückständig. In nennens-
wertem Maße haben eigentlich nur New York, Indiana, Massachusetts,
Michigan, Wisconsin, allenfalls auch noch Maryland, Minnesota, Missouri,
New Jersey, Ohio, Pennsylvania, Rhode Island und Washington für den
Schutz ihrer Arbeiter vor Betriebsgefahren gesorgt. Der Mangel einer
allgemeinen und gründlichen Regelung wiegt um so schwerer, als in den
Vereinigten Staaten der Arbeiter jeder öffentlichen, sei es Unfall- und
Invaliden-, sei es Krankenversicherung entbehrt. Bei der Mehrzahl der
Staaten gehen die Gesetze ins einzelne, verlieren sich vielfach in eine
die Deutlichkeit beeinträchtigende Breite; dies erklärt sich auch damit,
daß eine Verurteilung des Unternehmers durch die Strafgerichte nur
dann mit Sicherheit zu erwarten ist, wenn die Anordnung des Aufsichts-
beamten unmittelbar im Wortlaut des Gesetzes eine Stütze erhält. Nur
einzelne Gesetze, z. B. in Pennsylvania, Wisconsin, geben der Gewerbe-
aufsicht die Befugnis zur Abstellung gesundheitswidriger Zustände in
einer mehr generellen Klausel.
Nicht selten folgt die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten in
ihrer Ausdrucksweise englischen Mustern; auch ist eine weitgehende
Achnlichkeit der verschiedenen amerikanischen Gesetze untereinander
nicht zu verkennen; sie macht die Untereinteilung der drei Gruppen
nach Schlagworten möglich.
I. Ingesundheitlicher Beziehung habe ich auseinandergehalten::
a) Reinlichkeit der Betriebsstätte; b) Kanalisierung — Beseitigung von
Austlüssen; dahin gehört auch die unschädliche Beseitigung der Abfall-
stoffe und Abwässer; c) gute Beleuchtung; d) Lüftung und e) Bestimmung
eines Mindestluftraumes für jeden Arbeiter; ein solcher Mindestluftraum
(Buchstabe e) findet sich nur in Indiana, New Jersey und New York
mit 250 e (oder 10 cbm) für Tagesarbeit und 400 (oder 16 cbm) für
Nachtarbeit vorgesehen; Illinois verlangt ein Mindestmaß von Luftzufuhr
(1500 e in der Stunde für jeden Arbeiter), in einigen anderen Staaten,
Maryland, Missouri, Wisconsin kann die Ueberfüllung der Arbeitsstätten
durch den Aufsichtsbeamten abgestellt werden; f) die Absaugung von
Staub, Gasen ist regelmälig für Schleifereien, wo sich ungesunde Ab-
scheidungen der behandelten Mineralien ergeben, ausdrücklich ange-
ordnet, in South Dakota beschränkt sich diese Anordnung auf die Ab-
saugung von Gasen in Hüttenwerken; einige Staaten behandeln diesen
Gegenstand mit besonderer Ausführlichkeit, z. B. Massachusetts, Illinois;
g) Erhaltung von Fußboden, Wänden und Decken (Anstrich); meist ist das
Tänchen der Werkräume zur Auflage gemacht; h) Ankleide- und Wasch-
träume zu vergl. unten Ziff. III; i) Sitzgelegenheit für weibliche Personen;
diese Auflage beschränkt sich nicht auf Läden und Lager, sondern gilt
auch von Werkräumen; sie ist beinahe allen Staaten gemeinsam.
._IE Maßnahmen zur Sicherheit gegen Unfallgefahren:
X) Fenersicherheit ; u) Beschaffenheit der Ausgänge, dann ß) Feuerleitern,
reppen; nicht weniger wie 26 Staaten besitzen hierüber Vorschriften,
54 Nationalökonomische Gesetzgebung.
die Mehrzahl über die Anbringung besonderer Vorrichtungen, um im
Falle der Feuersgefahr aus dem Fabrikgebäude zu gelangen; einzelne
Staaten machen die Auflagen von einer bestimmten Gebäudehöhe (z. B.
2 oder mehr Stockwerke) abhängig; was die Beschaffenheit der Aus-
gänge betrifft, so findet sich vor allem das Gebot, daß die Türen nach
außen aufgehen, unverschlossen während der Arbeitszeit bleiben, oder
daß keine feuergeführlichen Gegenstände in der Nähe der Ausgänge
gelagert werden; 1) Sicherung von Aufzügen, Absturzstellen; m) Be-
schaffenheit der Treppen (Geländer); n) Sicherung gefährlicher Maschinen-
teile; hierher gehört auch die Sicherung von Pfannen und anderen Be-
hältnissen gegen Hineinstürzen oder gegen das Austreten gefährlicher
Stoffe (z. B. in der Gesetzgebung. von New York); p) Verbindung
zwischen Maschinenraum und Werkmaschinen, um ein sofortiges Ab-
stellen des Antriebes bei Gefahr zu ermöglichen; o) («, ß) Dampfkessel ;
im allgemeinen sind die Vorschriften über die Anlage von Dampfkesseln
ziemlich dürftig; nur 8 Staaten besitzen solche, wenigstens als Teil der
Fabrikgesetzgebung; eine behördliche Konzession zum Betriebe von
Dampfkesseln gibt es nicht; dagegen sehen ebenfalls 8 Staaten eine
regelmäßige Nachschau vor, die einigerorts der Fabrikinspektion,
andererorts privaten Sachverständigen übertragen ist.
III. Maßnahmen zur Erhaltung guter Sitten. Als solche
sind nur die Errichtung von Abortanlagen q) und von Anstalten zum
Waschen und Ankleiden, auch von Eßräumen h) hier zu erwähnen.
Diese Bedürfnisse finden in 16 Staaten allerdings in sehr verschiedenem
Grade Berücksichtigung. Einzelne Staaten machen zur Voraussetzung,
daß die betreffenden Betriebe eine Mindestarbeiterzahl beschäftigen,
einzelne Staaten, daß weibliche Arbeitskräfte tätig sind; in Betrieben
mit gemischter Arbeiterschaft wird regelmäßig die Trennung der Aborte
für die beiden Geschlechter gefordert: Eßräume werden nur sehr ver-
einzelt zur Auflage gemacht; es widerstrebt offenbar dem amerikanischen
Gesetzgeber, auf diesem an die der Wohlfahrtspflege angrenzenden Ge-
biete mit Zwangsmitteln einzugreifen.
IV. Neben diesen mehr allgemein hervortretenden Maßnahmen ver-
dienen einzelne Anordnungen besondere Hervorhebung:
In Delaware ist entsprechende Heizung der Werkräume in Betrieben
mit mindestens 10 Arbeiterinnen geboten, außerdem jede Beschimpfung
und schlechte Behandlung der weiblichen Arbeitskräfte ausdrücklich
untersagt. In Massachusetts ist die Bereitstellung von Spucknäpfen
und von Medizinkästen zur ersten Hilfeleistung angeordnet. Massachusetts
und Rhode Island fordern die Lieferung guten Trinkwassers an die
Arbeiter. Minnesota und Vermont nehmen die Uebertretung eines von
der Fabrikleitung verfügten Rauchverbotes unter Strafe. Virginia ver-
langt, daß die Arbeiter in Betrieben zum Reinigen vom Baumwolle und
Nüssen einer bestimmten Art Mundschwämme gestellt erhalten. In
Wyoming dürfen weder Betrunkene die Hüttenwerke betreten, noch
geistige Getränke in diese Werke eingebracht werden.
„Tenant-Factories“, das sind „Gebäude, deren verschiedene Teile
von verschiedenen Personen mietweise genützt werden und von denen
mindestens ein Teil einem Fabrikbetriebe dient, sind nach dem Muster
Nationalökonomische Gesetzgebung. 55
der englischen Gesetzgebung Gegenstand besonderen Regelung im Staate
New York; hierdurch trifft die strafrechtliche Verantwortlichkeit für
den Vollzug bestimmter der Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter
dienenden gesetzlichen Maßnahmen!) den Eigentümer, nicht den Unter-
nehmer.
C. Betriebe, die für die Arbeiter mit besonderen Ge-
fahren verbunden sind.
Die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten befindet sich hier noch
in dem Beginn der Entwicklung. Ein Anfang zu systematischem Vor-
gehen ist in New York und Illinois gemacht worden. In New York
ist seit 1907 der Gewerbeaufsicht ein Arzt mit der Aufgabe zugeteilt,
den sanitären Verhältnissen in einzelnen Gewerbszweigen vom Stand-
punkt des Arbeiterschutzes nachzugehen und über seine Beobachtungen
zu berichten. In Illinois ist im Jahre 1907 ein Ausschuß von 9 Mit-
gliedern, darunter Vertretern des Aerztestandes — der Vorsitzende
ist Präsident des Staatsgesundheitsamtes — des Gewerbeaufsichtsdienstes
und der Industrie zur Beratung von Maßregeln gegen Betriebskrank-
heiten — Commission on Occupational Diseases — gebildet werden,
dessen erster Bericht an den Gouverneur vom April 1909 zum Ergebnis
kommt, daß eine genaue Untersuchung der bestehenden Verhältnisse
unter Berücksichtigung der in „älteren zivilisierten Ländern“ bestehenden
Vorschriften dringend notwendig sei, und die Eröffnung eines Kredites
von je 15000 $ für die beiden nächsten Jahre fordert.
Einstweilen haben nur die Bäckereien und Konditoreien
den Gegenstand gesetzlicher Regelung in weiterem Umfang gebildet.
Da sie nicht eigentlich unter den Begriff der „Fabriken“ fallen, so
liegen sie außerhalb des Rahmens meiner Aufgabe. Es sei nur erwähnt,
daß 8 Staaten besondere Vorschriften besitzen und vier von diesen
Staaten (Missouri, New Jersey, New York, Pennsylvania) die Arbeitszeit
der dort beschäftieten Personen regelmäßig auf 6 Tage und 10 Stunden
täglich beschränken, eine Beschränkung, die für New-York vom obersten
Bundesgericht als verfassungswidrig im Jahre 1905 erklärt worden ist.
Die Unternehmer von Metallgießereien haben nach dem Gesetze
von Michigan für die Gesundheit der Arbeiter besondere Vorkehrungen
z. B. die Bereithaltung von Medikamenten, zu treffen, ferner nach den Ge-
setzen von Connecticut und Massachusetts unter gewissen Voraussetzungen,
Waschgelegenheit zu schaffen. Daß einige westliche Staaten die Arbeits-
zeit für alle beschäftigten Personen in Hüttenwerken auf 8 Stunden
täglich begrenzen, habe ich bereits an anderer Stelle angeführt; im
Territorium New Mexico findet sich als bemerkenswerte Vorschrift die
Verpflichtung der Hüttenwerksunternehmer, für die ärztliche Behandlung
und den Unterhalt der an Bleivergiftung erkrankten Arbeiter zu sorgen,
wohl das einzige Beispiel einer gesetzlichen Krankenversicherung in
der Union. Illinois macht den Betrieben zur Erzeugung von Mar-
garine („butterine“) und Speiseeis (ice-cream) eine Reihe besonderer
1) b, ¢ (der Flure und Gänge) d, k (P), I, m, o (a, Bi q der Uebersicht.
56 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Auflagen, vornehmlich im Interesse der Herstellung gesundheitlich ein-
wandfreier Waren. Endlich sind die Vorschriften über Einrichtung und
Betrieb von Zigarrenfabriken in Wisconsin zu erwähnen; sie be-
schränken die tägliche Arbeitszeit von Personen unter 18 Jahren auf
8 Stunden, verbieten Werkräume im Kellergeschoß, bestimmen Mindest-
maße für die Höhe, den Luftraum und die Fenster der Werkräume,
machen Auflagen für die Lüftung und die Reinlichkeit, dann für die
Errichtung von Ankleide- und Abortanlagen, die für die Geschlechter
getrennt sind. Die Bestimmungen über „Tenement workshops“, das
sind in Mietsräumen untergebrachte Werkstätten für die Herstellung
von Konfektionswaren und gewissen Gebrauchsgegenständen, sind im
nächsten Kapitel über Heimarbeit behandelt.
D. Der Vollzug der Vorschriften zum Schutze der
Arbeiter.
Der Vollzug der in diesem Abschnitt behandelten Vorschriften
obliegt im allgemeinen den Gewerbeaufsichtsbeamten. In Massachusetts
ist jedoch diese Zuständigkeit, soweit Maßregeln zum Schutze der Ge-
sundheit und Sittlichkeit in Frage kommen, seit 1907 von der Fabrik-
inspektion losgetrennt und dem staatlichen Sanitätsdienste, der von be-
amteten Aerzten geübt wird, übertragen worden. Auch in Louisiana
hängt die Anordnung, die Fabrikräume mit neuem Anstrich zu versehen,
von der örtlichen Gesundheitsbehörde ab. Die Vorschriften über Feuer-
sicherheit durchzuführen, sind vielfach statt oder neben den Fabrik-
inspektoren Organe der örtlichen Polizei-(Bau-) Verwaltung berufen.
In Ohio und New York steht dem Gewerbeaufsichtsbeamten eine
Art einstweiliger Verfügung in der Weise zu, daß er die Weiterbenützung
gefährlicher, nicht entsprechend gesicherter Maschinen untersagen und
zu diesem Zweck einen Zettel mit dem Verbot an der Maschine selbst
anheften kann.
Die Nichtbefolgung der von dem zuständigen Beamten gemachten
Auflagen führt die Strafverfolgung vor den ordentlichen Gerichten
nach sich. Einzelne Gesetze machen den fruchtlosen Ablauf einer be-
stimmten Frist zur Voraussetzung des Strafantrages. In Washington
und Oregon erfolgt schiedsgerichtliche Entscheidung über die Ange-
messenheit einer Auflage, falls sie von dem Unternehmer bestritten
wird; das Schiedsgericht besteht aus drei Personen, von denen je einer
vom Gewerbeaufsichtsbeamten und Unternehmer ernannt, die dritte von
den beiden ernannten Schiedsmännern gewählt wird. In den beiden
gleichen Staaten hat der Fabrikunternehmer ein gebührenpflichtiges
Zeugnis der Gewerbeaufsichtsbehörde darüber zu erholen, daß sein
Betrieb den gesetzlichen Bestimmungen entspricht.
Die Strafen sind in den einzelnen Staaten verschieden hoch be-
messen, sie richten sich ungefähr nach den für die Zuwiderhandlungen
gegen die Kinderschutzvorschriften bestehenden Normen.
(Schluß folgt.)
Miszellen. 57
Miszellen.
I.
Einige Ergebnisse der neuesten deutschen gewerblichen
Betriebserhebung.
Von J. Conrad.
Mit großer Spannung ist allgemein die Zusammenstellung der
neuesten gewerblichen Zählung erwartet, da man mit Recht davon
interessante Aufklärungen über die neueste Entwicklung unserer volks-
wirtschaftlichen Verhältnisse erwarten konnte. Zwar liegen bis jetzt
erst einige Teile der Verarbeitung vor, aber immerhin läßt sich schon
einiges daraus entnehmen, was wir in dem Folgenden in tunlichster
Kürze zusammenstellen wollen. Wir behalten es späterer Erörterung
von anderer Seite vor, eine Darstellung des ganzen Erhebungswerkes
und eine Kritik desselben zu geben, und beschränken uns darauf, die
Betrachtung nur so weit in der Hauptsache durchzuführen, als sie zur
Beleuchtung der Handwerkerfrage zu verwerten ist. Dafür kommen die
beiden Hefte der Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 202, Abt. I,
Heft 1 und Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 213, Abt. I, Heft 1,
und zwar hauptsächlich das letztere, die gewerbliche Betriebsstatistik
auf Grund der Zählung vom 12. Juli 1907 in Betracht, welche dann
mit der Gewerbestatistik vom 14. Juni 1895, „Statistik des Deutschen
Reiches, N. F., Bd. 113, Berlin 1898“ und der „Gewerbestatistik nach
der Zählung vom 5. Juni 1882“, Statistik des Deutschen Reiches,
N. F. Bd. 6, Berlin 1886, verglichen ist.
In betreff des vorliegenden Materials können wir unser Bedauern
nicht unterdrücken, daß nicht in einem höheren Maße auf die Ver-
gleichbarkeit der Ergebnisse der verschiedenen Zählungen Rücksicht
genommen ist. Es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß der Haupt-
wert solcher Statistiken nicht in den aufgestellten absoluten Zahlen
liegt, sondern in der Vergleichbarkeit mit vorhergegangenen, um die
Veränderungen festzustellen, aus denen sich die Entwicklung ersehen
läßt. Die Zahl der gegenwärtig bestehenden Schuhfabriken zu kennen,
mag für den Fachmann ganz wünschenswert sein, doch ist daraus
weder für den Mann der Wissenschaft noch für den Staatsmann
Wesentliches zu entnehmen. Ganz etwas anderes ist es, wenn wir fest-
stellen, wieviel seit 1895 entstanden sind, und wie dieses auf das
Schuhmacherhandwerk im Laufe dieser Zeit eingewirkt hat. Dazu muß
man aber gleichartiges Material in der Handhaben. Dies ist in den Vorder-
grund zu stellen, während dagegen die Bequemlichkeit für die Erheber
und Verarbeiter in den Hintergrund zu treten hat, und es auch nicht
58 Miszellen.
einmal von maßgebender Bedeutung ist, ob die Fragestellung sich
etwas korrekter gestalten läßt. Denn die bessere Zahl der letzten
Zählung verschlechtert damit sämtliche vorhergegangenen in ihrer Ge-
brauchsfähigkeit.
Wir greifen nur ein paar Beispiele heraus. In der Zählung von
1882 ist die Stellmacherei mit der Wagnerei verbunden, in der von
1895 sind Stellmacher, Wagner und Radmacher in eine Rubrik zu-
sammengefaßt, beide Male sind die Wagenbauanstalten gesondert be-
handelt. In der neuesten Zählung sind dagegen Stellmacher, Wagner
und Wagenbauanstalten zusammengeworfen, und da unter diesen doch
die Waggonfabriken enthalten sind, so ist die Vergleichung der Stell-
macherei unmöglich geworden oder doch auf die Untersuchung der
Kleinbetriebe beschränkt. Die Unterabteilungen, die früher bestanden,
hätten wohl einen Anspruch gehabt, auch weiter aufrecht erhalten zu
werden.
1882 war Schneiderei mit Kleider- und Wäschekonfektion zusammen-
gezählt. In richtiger Beurteilung der Verhältnisse hatte man 1895 die
Schneiderei und dagegen Kleider- und Wäschekonfektion isoliert be-
handelt, die neueste Zählung ändert das Verhältnis wieder vollständig,
indem es die Schneiderei mit der Kleiderkonfektion zusammenwirft und
dieser die Wäschekonfektion getrennt gegenüberstellt. Nun ist voll-
ständig zuzugeben, daß die Wüäschekonfektion einen anderen Charakter
hat als die Kleiderkonfektion, und die Trennnng war wünschenswert.
Noch wünschenswerter war es aber, die Schneiderei isoliert verfolgen
zu können, und wenn der Uebergang von dem einem zum anderen
Unternehmen auch ein sehr allmählicher ist, so ist der Unterschied
immerhin noch scharf genug, um ein nur auf Bestellung arbeitendes
Schneiderhandwerk von dem auf Lager arbeitenden unterscheiden zu
können, und wir beklagen solche Verwischungen in hohem Maße. Ebenso
ist das Zusammenwerfen der Buchbinderei und Kartonnagenfabrikation
und anderes zu beklagen. Weitere Trennungen lassen sich wohl recht-
fertigen, aber nicht die willkürlichen Vereinigungen, die früher nicht
dagewesen sind. Der betreffende Dezernent sollte seine persönliche Auf-
fassung und Liebhaberei im Interesse der Gesamtheit mehr zurücktreten
lassen, und die maßgebenden Behörden sollten tunlichst Sorge tragen,
wie das in England geschieht, denselben Dezernenten für bestimmte
Erhebungen dauernd zu erhalten, um der Erhebung eine möglichste
Gleichartigkeit zu bewahren. Wir sind in Deutschland gerade in der
glücklichen Lage, vortreffliche ältere Gewerbezählungen zu besitzen,
auf die man allen Anlaß hat, entsprechende Rücksicht zu nehmen. Auch
bei der Berufszählung sind derartige Fehlgriffe zu rügen, auf die wir
an anderer Stelle zurückzukommen haben.
Wenn so eine ganze Anzahl Fehlerquellen in unserem Material
enthalten sind, so treten dieselben im großen ganzen doch für unsere
Untersuchung in den Hintergrund, und wir halten das Hauptergebnis,
zu dem wir dadurch gelangen, darum doch für unanfechtbar, zumal
wir den ganzen Nachdruck auf die Klarlegung der Handwerkerverhält-
nisse und ihrer Entwicklung legen.
Was nun die Verwertung dieses mit großem Aufwand von Arbeits-
Miszellen. 59
kraft und Geld erlangten Materiales betrifft, so erscheint es uns außer-
ordentlich wichtig, dasselbe in höherem Maße dem Publikum zugänglich
zu machen, als es bisher der Fall gewesen ist. Die Bearbeitung des-
selben kann naturgemäß nur summarischen Charakter tragen, während
für die Fachkreise die ursprünglichen isolierten Zahlen allein von höherem
Interesse sind. Deshalb müßte das Urmaterial den Interessenten nach-
haltig zur Verfügung stehen, und zu diesen Interessenten rechnen wir
auch wissenschaftliche Bearbeiter, namentlich jüngere Kräfte, die auf
Grund desselben die allmähliche Entwicklung eines oder des anderen
Gewerbszweiges im Detail verfolgen wollen. Zur Aufbewahrung jener
gewaltigen Papiermassen sind allerdings große Räume erforderlich: in-
dessen ist es ja nicht nötig, daß dieselben gerade in Berlin oder in
einer anderen Großstadt aufbewahrt werden, hierzu genügten entferntere
Vorstädte. In den Vereinigten Staaten werden die sämtlichen Zählblätter
des Zensus seit einer großen Reihe von Dezennien in Washington wohl-
geordnet aufbewahrt, so daß man noch jetzt die betreffenden Angaben
über die Bewohner des ganzen Landes, wie sie sich in den einzelnen
Gemeinden im Momente einer früheren Zählung aufgehalten haben,
konstatieren kann. Ein ähnliches Verfahren wäre in betreff des Ur-
materials der Zählungen für Beruf und Gewerbe in hohem Maße
wünschenswert; vielleicht aber zweckmäßig unter Rückgabe, wenn nicht
an die betreffenden Gemeinden selbst, so doch an die einzelnen Re-
gierungen.
Gehen wir nach diesen kurzen Vorbemerkungen zur Untersuchung
der Zahlen selbst über.
Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Erwerbskategorien hat
sich naturgemäß 1907 noch mehr verschoben als nach der vorher-
gegangenen Zählung von 1895, doch nicht in dem Maße, wie man es
hätte erwarten sollen, und wir glauben annehmen zu müssen, daß dieses
mehr auf die Art der Erhebung, als auf die tatsächlichen Verhältnisse
zurückzuführen ist.
Erwerbstätige in Prozenten
1882 1895 1907
Landwirtschaft 43,38 36,19 32,6
Industrie 33,69 36,14 37,2
Handel 8,27 10,22 11,5
Häusliche Dienste 2,10 1,89 1,5
Armee- und Staatsdienste 5,43 6,22 5,7
Ohne Beruf 7,18 934 11,2
100 100 100
Während das Verhältnis in der Landwirtschaft 1882—1895 einen
sehr erheblichen Sprung um fast 7 Proz. der Verminderung zeigte, so
jetzt um noch nicht 4 Proz. Trotzdem die Industrie in dem letzten
Dezennium einen ganz außerordentlichen Aufschwung genommen hat,
soll doch der Prozentsatz nur von 36—37 gewachsen sein.
Wenn man nun die absoluten Zahlen von 1895 und 1907 miteinander
vergleicht, so kann man nicht umhin, zu bezweifeln, daß hier gleich-
artige Zahlen gegenübergestellt sind. Man zählte Erwerbstätige in der
Landwirtschaft, Forstwirtschaft ete.
60 Miszellen.
1895 5539538 männliche und 2753 154 weibliche
1907 5 284 271 5 ù 4 598 986 k
— 255 267 männliche und + 1 845 832 weibliche
Diese gewaltige Zunahme der weiblichen Erwerbstätigen kann nur
darauf zurückzuführen sein, daß bei der letzten Zählung viele An-
gehörige, die noch zugleich in der Landwirtschaft mit tätig waren,
den Erwerbstätigen zugerechnet sind, während bei der früheren Zählung
sie unter die Angehörigen aufgenommen waren. Dadurch ist natürlich
eine wesentliche Verschiebung in allen Zahlen herbeigeführt, was ein
völlig schiefes Bild geben muß. Offenbar ist einmal wieder das Bessere
der Feind des Guten gewesen. In der Meinung, die Zahl der Erwerbs-
tätigen korrekter wiederzugeben, hat man die ganze Brauchbarkeit der
Zählung in außerordentlicher Weise geschädigt. Man sollte sich lieber
ein Beispiel an der amerikanischen Statistik nehmen, die mit Bewußt-
sein ruhig dieselben Fehlerquellen bestehen läßt, soweit es irgend
angängig, dafür aber auch Dezennien hindurch gleichartige Zahlen
bietet.
Bildeten die in der Landwirtschaft tätigen Frauen 1895 43,1 Proz.
aller erwerbstätigen Frauen in der Land- und Forstwirtschaft, und 33,2
Proz. der in der Land- und Forstwirtschaft überhaupt Erwerbstätigen,
waren die Zahlen nach der Zählung von 1907 45 und 46 Proz. Auch
hier ist die letzte Zahl eine unverhältnismäßig große. In der Industrie
waren die Zahlen:
1805 1,5 Mill. Frauen 23,1 Ae d. erwerbstät. Frauen u. 18,3 Yo d. in d. Industr. Erwerbstät.
1907 2,2 DH Hi 22,0 Ze DH DI n LH 19,0 % nny n r
im Handel
1895 579000 ž , 8,8 °/ d. erwerbstät. Frauen u. 25 o » » dem Handel ,
1907 932 000 MI 8,3 % HI H Di D 27 Vë nn n HI ”
Ueberhaupt
1895 65Mill. „ 24,96 do d. erwerbstät. Frauen u. 28,0 Ae „ Erwerbstät. überhaupt
1907 10,03 HI HI 31, 0 Y HI DI UI ” 33,4 Vë HI n ”
Die Zunahme der Frauenarbeit tritt in allen Zahlen deutlich her-
vor, auch wenn man dabei Verschiebungen infolge der veränderten Er-
hebung annimmt. Beachtenswert ist noch, daß die Zahl der Erwerbs-
tätigen im Handel sehr bedeutend gestiegen ist, während sie in den
häuslichen Diensten sich vermindert hat. Ferner haben sich die Personen
ohne Beruf bedeutend vermehrt. Es dürfte schwer sein, zu sagen,
worauf dies zurückzuführen ist.
In dem Folgenden geben wir noch eine Uebersicht, wie das Ver-
hältnis der Selbständigen, Angestellten und Arbeiter sich entwickelt hat.
Selbständige Angestellte Arbeiter
1882 1895 1907 1882 1895 1907 1882 1895 1907
Landwirtschaft ete. 27,78 30,98 25,3 0,82 1,16 1,0 71,41 67,86 73,7
Industrie 34,41 24,90 17,5 1,58 3,18 6,1 64,014 71,12 76,3
Handel u. Verkehr 44,68 36,97 29,1 9,02 11,20 14,5 46,21 52,78 56,8
Ueberhaupt: 32,07 28,94 22, so 1,90 3,29 5,24 66,07 67,77 72,46
Auch hier ergibt sich eine auffallende Verminderung der Selb-
ständigen in der Landwirtschaft bei einer starken Zunahme der
Miszellen. 61
Arbeiter. Unzweifelhaft ist auch dieses wieder auf das früher gerügte
Verfahren zurückzuführen.
Daß in der Industrie die Zahl der Selbständigen sich wieder
vermindert hat, seit 1882 im Prozentsatz auf die Hälfte, während der
der Arbeiter von 64 auf 76 Proz. gestiegen ist, war nicht anders zu
erwarten. Die Entwicklung des Großbetriebes schloß dieses Ergebnis
von selbst ein. Beachtenswert ist aber die außerordentliche Vermehrung
der Angestellten, schon in der ersten Periode war eine Verdoppelung
eingetreten und in der zweiten fast eine ebensolche. Es entzieht
sich jeder Untersuchung, ob auch hierbei eine Veränderung in dem
Zählungsverfahren eingetreten ist und etwa Personen, die früher als
Arbeiter verzeichnet wurden, jetzt den Angestellten zugeteilt sind. Die
gleiche Entwicklung ist auch im Handel zu beobachten, die man in
dem Maße nicht hätte erwarten sollen.
Treten wir hiernach den Gewerben im engeren Sinne etwas näher,
um dabei dem Handwerk unsere besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Zahl der Betriebe und darin beschäftigte Personen.
e Auf je einen Haupt-
Gewerbliche Betriebe | Personen der Hauptbetriebe Inetrieb entfallen durch-
Jahr) _ ae ge À = schnittlich Personen `
über- | Haupt- | Neben- | über- männ- weiblich männ-| weib- zu-
haupt | betriebe | betriebe| haupt lich S lich | lich |sammen
1882 |2 552 298|2 265 050) 287 248 |5 503 529) — — -— — 2,4
1595 |2 422 027|2 142 808| 279 219 |7 464 21415 922 555|1 541 659| 2,8 0,7 3,5
1907 |2 320 1212 081 112| 239 009 |9 992 007|7 839 667|2 152340| 3,8 | 1,0 4,8
Die Zählung von 1895 hat in den 14 Gruppen, in welche die Be-
triebe in allen drei Zählungen zerlegt sind, 2422000 Betriebe, und
zwar 2143000 Hauptbetriebe und 279000 Nebenbetriebe festgestellt.
In ihnen waren 7640000 Personen beschäftigt. Seit der Zählung von
1882 ist die Zahl der Betriebe um 130000 zurückgegangen, und zwar
sowohl bei den Haupt- wie bei den Nebenbetrieben. Dagegen ist die
Zahl der beschäftigten Personen um 1,96 Millionen gestiegen. Gegen-
über 1875 zeigt die Ziffer der Betriebe 1907 eine Abnahme von 39571,
die der Personen eine Zunahme von 5 Millionen. Die Entwicklung tritt
noch schärfer hervor, wenn wir die Zahlen auf 100000 Einwohner
reduzieren. Dann ist die Zahl der Betriebe seit 1882 gesunken von
5548 auf 4658, die Personenzahl dagegen von 11964 auf 14346 ge-
stiegen, So ist denn eine erhebliche Zunahme der gewerblichen Tätig-
keit und die Tendenz der Konzentration deutlich zu erkennen.
Nach der Zählung von 1907 gab es in der Industrie inkl. Berg-
bau und Baugewerbe 11256254 Erwerbstätige, 331756 Dienende,
14798527 Angehörige ohne Hauptberuf, zusammen 26 386537. 9152330
erwerbstätigen Männern stehen 2103924 erwerbstätige Frauen gegen-
über. Auch in der Gesamtsumme ist die Zahl der Männer um 1,8 Mil-
lionen höher als die der Frauen.
Eine kleine Fehlerquelle liegt dabei vor, weil bei der letzten Zählung
die Personen des Zählungstages angegeben sind, bei den früheren
62 Miszellen.
Zählungen der Jahresdurchschnitt, wodurch indes kaum eine wesentliche
Verschiebung eingetreten sein kann. Wie sich aus den Angaben schon
sofort entnehmen läßt, ist die Zahl der Personen auf je einen Hauptbetrieb
beträchtlich gestiegen und zeigt von 1882 eine vollständige Verdoppelung.
Sie ist in der letzten Phase noch etwas stärker gewesen als in der
vorherigen, und zwar ist die Zunahme sowohl bei den Männern wie
bei den Frauen zu beobachten.
Naturgemäß ist in den verschiedenen Gewerbegruppen in dieser
Hinsicht ein sehr erheblicher Unterschied vorhanden.
In der Industrie der Steine und Erden hat sich die Zahl der
Betriebe nur wenig vermindert. Die Steigerung pro Betrieb war aber
von 6,6 auf 11,6 und dann auf 16,2 gestiegen. Fast ebenso stark war
diese Zunahme in der Industrie der Maschinen, Instrumente
und Apparate von 43 auf 6,7 und 11,9; in der chemischen In-
dustrie von 7,8 auf 11,1 und 16,3; in der Industrie der forstlichen
Nebenprodukte aller Arten von 6,0 auf 9,4 auf 15,2; in der Textil-
industrie von 2,7 auf 4,8 und 8,0. Bei allen übrigen Gruppen ist die
Steigerung geringer, und, was beachtenswert, gerade bei denjenigen
Gewerben, bei denen der Handwerksbetrieb überwiegt, am allerwenigsten.
Schon bei den Gewerben der Metallverarbeitung sind die Zahlen 2,8,
4,1 und 6,1. In der Papierindustrie 6,4, 8,7 und 11,7. Indem poly-
graphischen Gewerbe 7,3, 9,0, 11,1. Bei hauptsächlich handwerks-
mäßigen Betrieben, wie in der Lederindustrie und Industrie derartiger
Stoffe, ist die Entwicklung nur von 2,8 auf 3,3 und 3,8. In der Industrie
der Holz- und Schnitzstoffe 2,0, 2,8, 3,7. In der Industrie der
Nahrungs- und Genußmittel 3,0, 4,8, 4,0. In dem Bekleidungs-
gewerbe 1,5, 1,7, 1,9; im Reinigungsgewerbe 1,2, 1,5, 2,0, im
künstlerischen Gewerbe 1,9, 2,1, 2,6. Stärker ist die Zunahme in
dem Baugewerbe, unter welches ja eine Anzahl Zweige fallen, die
mehr zum Großbetriebe neigen: 3,3, 5,3, 7,5.
Um aber zu zeigen, daß in jeder Hinsicht Deutschland immer noch
hinter den anderen konkurrierenden Ländern zurückbleibt, wenn auch
nicht in dem Maße, wie man es gewöhnlich annimmt, geben wir folgende
kleine Tabelle, wenn auch mit der ausdrücklichen Reserve, die wir
schon oben als notwendig bezeichneten, daß durch Abweichungen in der
Fragestellung und der Art der Erhebung die Zahlen nur approximative
Vergleichung zulassen.
Personen durchschnittlich in einem Betrieb!)
E E S KE S E Deutschland
5 23 |32| 828
a vg LG E D g
a Paj ° 1882 | 1895 | 1907
Industrie der Nahrungs- und Genuß-
mittel | 61 5,9748 3,6 3,0 3,8 4,0
Bekleidungsgewerbe 7,3 — | 47 2,3 1,5 1,7 1,9
Leder- und Häutebearbeitung — 14,8 | 54 3,7 2,8 3,3 3,8
Holzindustrie 5,8 | 12,8 4,4 3,1 2,0 2,8 3,7
1) Nach den Angaben von A. Hesse, Gewerbestatistik, Jena 1909.
Miszellen. 63
Es ergibt sch daraus, daß neuerdings die Konzentration in Deutsch-
land etwas größer ist als in Oesterreich, die französische
außer in der Holzindustrie noch nicht erreicht hat, daß dieselbe aber
in den Vereinigten Staaten, z. B. in der Industrie der Nahrungs-
und Genußmittel, gar nicht sehr viel größer ist und noch ein bedeutender
Kleinbetrieb vorhanden sein muß. Auch in der Holzindustrie ist das
in England noch in ausgedehntem Maße der Fall, während allerdings
die Vereinigten Staaten darin erheblich weiter vorgeschritten
sind. Wir nehmen Gelegenheit, hierbei ausdrücklich auf die sehr
interessanten Ausführungen des Herrn Professor Brodnitzin den Jahr-
büchern 1908, Bd. 37, hinzuweisen, welcher auf die große Verbreitung
des Kleinbetriebes in dem britischen Reiche aufmerksam macht und
ausführliche Belege dafür liefert, während er außerdem zu dem be-
achtenswerten Ergebnis gelangt, daß der Fabrikbetrieb der Textil-
industrie Englands in der neueren Zeit nicht nur keine Vergrößerung,
sondern sogar eine Verkleinerung in der Spindelzahl pro Betrieb er-
fahren hat, hier also die bisherige Tendenz den Gipfelpunkt über-
schritten hat.
Wenn wir nach der umstehenden Tabelle uns über die Entwicklung
der einzelnen großen Gewerbsgruppen zu informieren trachten, so ergibt
sich die schärfste Ausbildung des Großbetriebes in der letzten Periode
bei der Industrie der Steine und Erden, welche allerdings außer-
ordentlich verschiedenartige Gewerbe umfaßt, wie Steinbrüche nebst
Steinmetzen, Grabsteinfabrikation und Verfertigung feinerer Steinwaren,
besonders Spielwaren und selbst Edelsteinschneiderei. Man wird es als
zweifelhaft bezeichnen können, ob überhaupt die Einteilung allein nach
dem bearbeiteten Rohmaterial eine zweckmälige ist, und nicht viel-
mehr die Art der Bearbeitung zum Ausgangspunkte wenigstens für
einige Gruppenbildungen daneben am Platze wäre. Die Alleinbetriebe
haben sich auf die Hälfte vermindert, auch der Kleingehilfenbetrieb ist
erheblich zurückgegangen, der Mittelbetrieb aber hat sich stark
vermehrt, während gerade in der letzten Periode seit 1895 die
Zahl der Betriebe von 51—200 Personen zurückgegangen ist, die
der größten mit mehr als 200 Personen dagegen in erheblichem Maße,
von 254 auf 456, gestiegen ist. Ueberhaupt mit mehr als 50 Personen
existierten 1882 nur 875 Betriebe mit 115559 Erwerbstätigen, 1907
dagegen 1972 Unternehmungen mit 480000 Personen, das ist also eine
Vervierfachung.
Sehr bedeutend ist dann die Ausbildung des Großbetriebes in der
Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate, wo
jetzt 1120000 Menschen beschäftigt sind, gegen 356000 1882 und
582000 1895. Die Verschiebung bei den Alleinbetrieben und Klein-
betrieben ist keine sehr erhebliche, während schon die Mittel-
betriebe stark zugenommen haben und die Großbetriebe noch dar-
über hinausgehen. Gab es doch 1882 nur 894 Betriebe mit mehr als
50 Personen, die 166000 Menschen beschäftigten. So wurden im
letzten Jahre in nahezu 3000 Betrieben 780000 Menschen beschäftigt.
In der letzten Periode sind Unternehmungen mit mehr als 1000 Be-
schäftigten 80 neu entstanden, während es vorher nur 42 gab. In der
64 Miszellen.
Tabelle I. Zahl der Haupt- und Nebenbetriebe in Deutsch-
Personen der Hauptbe-
triebe innerhalb der Be-
triebsstätten ?)
Auf je einen | mit 2—5
Hauptbetrieb ent-,
IR __ fallen durchschnitt- Zahl der
über- | männ- | weib- | lich Personen?) , Betriebe
haupt lich lich i
Haupt-| Neben- |
Gewerbegruppen Jahr betriebe
Alleinbetriebe!
Industrie der Steine u. Erden [1882 | 52994| 6778| 349196) 321536) 27 660| 6,6 14 212 27 623
1895 | 48229] 4818| 558 286| 505 970| 52 316 11,6 10 573 18 410
1907 | 47 6206| 4809| 770563) 686 135| 84 428|16,2 7 200 17 260
Metallverarbeitunng 1882 |164 235| 13 112| 459713 = = 2,8 67 232 89 124
1895) 158 457| 15 612| 639755| 595 717| 44 038| 4,1 57 537 81 490
1907 |152523| 14 140| 937 020, 853 838| 83 182| 6,1 44 913 90 168
Industrie der Maschinen, In-|1882 | 82 874| 11933 | 356089] 351 704| 4385| 4,3 44 948 32 908
stramente und Apparate |1895 | 87879 14 680 | 582672] 568 392| 14 280) 6,7 45 077 31 266
1907 | 94 502| 13 975 |I 120319 1066 513, 53 806 11,9 38 334 25 030
Chemische Industrie 1832 9191) 1247 71777| 64391] 7386| 7,8) 3014 4791
1895 | 10385) 1156) 115231) 98928| 16 303 11,1 3 080 4840 |
1907 | 10 562 571| 172441] 144 033) 28 408| 16,3 2 266 5087 |
Industrie d. forstwirtschaftl. |1882 7162| 3152 42705 39114) 3591| 6,0 2052 3 638 |
Nebenprod., Leuchtstoffe,
à S Regel 11895 6191| 1933 57 909| 51904| 6005| 9,4 1174 2285 |
Seifen, Fette, Oele, Firnisse 1907 6137| 1136| 93010) 81619) 11 391/15,2 647 2175 d
Textilindustrie 1882 |344 482) 62092 | 910 089, 547 951 362 138| 2,7 263 605 69 576
1895 |205 292| 43 325 | 993 257| 532 0371461 220| 4,8| 148533 40 092
1907 |136 364) 24 854 |1 088 280| 529 8991558 381| 8,0 82 812 33 578
Papierindustrie 1882 | 15 814 851| 100150) 68900) 31256 Gu 27 302 7116 |
1895 | 17631) 1078| 152909, 105 159 47 750| 8,7 6611 6 982
1907 | 19787) 1447| 230925) 151439| 79486 11,7 6.255 7 443
Lederindustrie und Industrie [1882 | 44725, 4917| 121532| 114791| 6741| 2,8 21 201 21 899
H I
IE 1895 | 47325) 4242| 160343 148749| 11594 AA 21648 | 21249
1907 | 49773) 4270| 206973) ı81601| 25 372| 3,8 21647 22 507
Industrie der Holz- und |1882 |238 969, 45 533 469 695 442 323| 27 372| 2,0) 144155 87 648 i
Bobnitstotfe 1895 |219914| 42 338| 598496) 564071| 34425| 2,8 110209 80 134
1907 |205 418 35957 | 771059| 707 601| 63 458| 3,7 87 813 83 159
Industrie der Nahrungs- und |1882 |245 286| 43485, 743881| 647 157| 96 724! 3,0 67 021 154 781
1895 [269971] 44502 11021490] 8155451203945 3,8! 59073 [153 768 |
1907 |309 836| 50 088 |1 239 945| 904 394.335 551| 4,0 52286 |183 934
1) Die Zahlen für die beiden ersten Jahre sind der Schrift von A. Hesse,
Gewerbestatistik, Jena 1909, S. 363 u. w., entnommen; für das Jahr 1907: Die gewerb-
liche Betriebsstatistik, bearb. vom K. Statistischen Amt, Abt. I, Heft 1, Berlin 1909, S. 4
u. w. u. S. 42 u. w. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 213, I.
Miszellen. 65
land am 5. Juni 1882, 14. Juni 1895 und 12. Juni 19071)
Personen | 6—10 Personen 11—50 Personen [|51—200 Personen) 201—1000 Pers. | über 1000 Pers.
Zahl der (Zahl der Zahl d. be-| Zahl der Zahl d. bel Zahl |Zahl d. be- "Zahl Zahl d. be-| Zahl (Zahl d. be-
beschäftigten ` Bet iebe Khältigten Betriebe schäftigten|der Be-|schäftigten der Be-|schäftigten|der Be-|schäftigten
Personen | er | Personen Personen | triebe | Personen | triebe | Personen | triebe | Personen
= 875 | 115559
©
oo
ke
N
N
|
82 827 471I 37 005 4 829
57 133 6 581 49 794 8 223 187 736 | 1676 | 147 377 244 | 87152 10 15 019
51784 5931 44 951 | 10938 258 879 222 540 442| 161758 14 20 076
|I È
a
©
= 701 85 175
| 111825 203 72355 8 12 861
218 923 182 093 24 39 007
228 499 2384 | 19050 | 2675 57 353
221 743 7341 | 53394 | 4846 | 104058
218744 | 8938 | 65574 | 7142 | 159236
H ra
| U N
O m
HM ra
166 539 — —
œ
O
A
82 001 1369 11109 2 280 50 876
80 831 3 090 23 311 3 808 86753 | 1217 | 115614 | 369 | 146849 42 81 227
92 261 4939 37 521 6859 157 406 | 2458 | 238490 | 419 | 329664 | 122 220 685
13 759 388 3 093 671 15 244 | — e 248 | 36573 | — =
14734 942 6785 839 19208 | 295 | ı8200 | 74 | 28365 7 14 551
15 397 1139 8 397 1125 25 704 | 438 42 864 119 46 002 18 31441
9 884 484 3 964 634 12980 | — = 119 | 13 559| — =
6811 777 5 900 951 20 213 171 15 779 24 7342 | — =
6 603 930 7 089 1 297 29 337 311 27415 61 21 203 — —
— 2134 | 347708 | — =
175 074 2613 21080 | 4394 100 728
102 915 3 586 27 ı51 5 088 120 326 | 2427 | 237 283 ! 801 | 207 539 32 42 777
83 597 3774 | 28617 | 6334 | 153217 | 3203 | 318048 | 981 | 368612 | 33 | 47728
20 442 696 5250 | 1097 24753 | — = | 35t| 4317| — =
20113 1 285 9 698 1725 38543 | 512 28 163 88 26 525 2 2830
20 858 1636 | 12478 | 2384 55490 | 789 | 74475 | 165 | 66018 3 4 239
59 056 787 6 397 774 15672| — >= 131 19 206 | — ==
58627 2007 14 708 I 221 25 141 211 19 393 35 13 326 4 6550
60 800 2060 | 14949 | 1626 | 34774 | 341 | 31452 | 71| 25891 7 | 15946
221 620 2422 21 761 2 438 48593 | — — 328 31653 | — —
221 951 8925 | 64998 | 5533 | 111854 | 699 | 59823 53| 157%] — —_
226468 | 10944 81 228 | 8998 190 585 | 1507 | 129 337 129 40 367 I 2394
388 385 5 307 42 146 4 100 84 571 — — 1125 | 148512 | — —
ad m m MM MMMM
437364 |14888 | 106593 | 6690 | 138244 | 1531 | 148620 | 292 | 93975 3 3 895
522192 |20118 | 144993 9633 208 752 | 2055 | 178 460 231 77 028 10 14 865
2) Die Zahl der beschäftigten Personen bezieht sich für 1907 auf den Zählungstag,
für 1882 und 1895 auf den Jahresdurchschnitt.
3) Ohne Eisendrahtzieher.
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). 5
Miszellen.
Personen der Hauptbe- Te it 2—:
triebe innerhalb der Be- Aut je sen =
Gewerb Jahr Haupt-| Neben- triebsstätten !) Hauptbetrieb ent-
gruppen = betriebe fallen durchschnitt-| Zahl de
über- | männ- | weib- | lich Personen °) | Betrieb:
| haupt lich lich
Alleinbetriebe
Bekleidungsgewerbe 1882 ?)|766 587. 56 365 |I 119 605| 670 266449 339| 1,5 697 182 172.090
1895 |742 564! 60 109 |1 224 621| 710 2701514 351) 1,7 651597 172343
1907 |683 543| 49 107 |1 303 853| 684 254 619599 1,9| 482847 |172030
Reinigungsgewerbe 1882 |112552| 14 200| 140 186| 38 224/101 962| 1,2 — =
1895 "op 281| 12001 | 165 983| 65 8391100 144| 1,5 — =
1907 |125 738| 12547 | 254995| 115 562/139 433| 2,0 79 150 40 327
Baugewerbe 1882 |162 535| 22 163 | 533 511) 530075) 3436| 3,3 90 596 58 648
1895 |198 985| 31 852 |1 045 516/11 034 877| 10639] 5,3 105 329 59 890
1907 |208 418| 24 236 |1 563 594 ı 543 222| 20 372| 7,5 74 999 81 905
Polygraph. Gewerbe 1882 9612 783| 70006) 60474, 9532| 7,3 2951 4.256
1895 | 14 193 897 | 127 867| 106 934| 20933| 9,0 3912 5 304
1907 | 18886| 1260| 208852) 162501) 46 351l11,1 4 681 7095
Künstlergewerbe 1882 8 032 637 15 388| 14608 780| 1,9 5 800 1 899
1895 9511 676 19879) 18163| 1716, 2,1 7622 1 282
1907 | 11 999! 606, 30178| 27056| 3122| 2,6 8723 2 189
weiteren Metallverarbeitung hat sich das Kleingewerbe naturgemäß
noch mehr erhalten, die durchschnittliche Beschäftigung pro Betrieb
stieg nur von 2,8 auf 6,1; gingen auch die Alleinbetriebe etwas zurück,
so erhielten sich doch die Kleingehilfenbetriebe annähernd auf der
gleichen Höhe, während die Mittelbetriebe von nicht ganz 5000 auf
16 000 stiegen, und die Zahl der Großbetriebe eine Vervierfachung erfuhr.
Auch in der chemischen Industrie ist der Uebergang zum
Großbetriebe scharf zutage getreten, wo ja die Kleinbetriebe niemals
eine große Bedeutung hatten, sich aber auf der bisherigen Höhe zu
erhalten vermochten, während daneben sowohl die Mittelbetriebe wie die
Großbetriebe eine bedeutende Vermehrung aufzuweisen haben.
Noch schärfer hat sich, wie bekannt, besonders seit 1882 der
Großbetrieb in der Textilindustrie entfaltet. Während die Allein-
betriebe eine bedeutende Einbuße erfuhren, aber schon diejenigen mit
6—10 Personen und noch mehr die von 11—50 Personen zugenommen
haben, sind von Großbetrieben, welche 1882 nur in 2134 Unternehmungen
mit 347000 Personen vertreten waren, jetzt 4217 mit 733 000 Personen
zu verzeichnen gewesen.
1) Die Zahlen für die beiden ersten Jahre sind der Schrift von A. Hesse,
Gewerbestatistik, Jena 1909, S. 363 u. w., entnommen; für das Jahr 1907: Die gewerb-
liche Betriebsstatistik, bearb. v. K. Statistischen Amt, Abt. I, Heft 1, Berlin 1909, S. 4
u. w. u. S. 42 u. w. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 213, I.
2) Die Zahl der beschäftigten Personen bezieht sich für 1907 auf den Zählungstag,
für 1882 und 1895 auf den Jahresdurchschnitt.
3) 1882 und 1895 inkl. Reinigungsgewerbe.
Miszellen.
67
51—200 Personen) 201—1000 Pers. | über 1000 Pers.
industrie, nur daß in der letzteren sich der Kleinbetrieb so ziemlich
auf der gleichen Höhe zu erhalten vermochte.
Anders stehen naturgemäß die Gewerbszweige da, in denen das
Handwerk überwiegt. In der Industrie der Holz- und Schnitz-
stoffe ist zwar auch der Durchschnitt der beschäftigten Personen von
2 auf 3,7 gestiegen und haben die Alleinbetriebe abgenommen, so
sind die Kleinbetriebe von 2—5 Personen stehen geblieben, haben
die mit 6—10 Personen eine Vervierfachung erfahren, was unzweifel-
haft als eine gesunde Entwicklung zu bezeichnen ist. Dem Bestande
des eigentlichen Handwerks ist kein Abbruch geschehen, während da-
neben sich der Großbetrieb noch in erfreulicher Weise herausgebildet hat.
1882 gab es nur 328 Großbetriebe mit mehr als 50 Personen, in denen
durchschnittlich 100 Personen beschäftigt wurden; 1895 schon in 752 Be-
trieben 75000, im letzten Jahre dagegen 1637 mit 172000 Personen,
Ganz die gleiche Erscheinung beobachten wir in der Industrie der
Nahrungs- und Genußmittel, nur daß da der Handwerksbetrieb
noch in stärkerem Maße angewachsen ist und ebensoviel Großbetriebe
sich daneben entwickelt haben. Wir haben bereits 10 mit mehr als
1000 Personen.
Die Gewerbe der Bekleidung und Reinigung waren bei den
früheren Zählungen zusammengeworfen; neuerdings sind sie mit Recht
getrennt; in unserer Vergleichung müssen wir sie vereinigt betrachten.
E
Personen 6—10 Personen 11—50 Personen
Zahl der lyh] der Zahl d. be- |7 ah] der[Zahl d. be- Zahl "Zahl d. be-| Zahl |Zahl d. be-| Zahl |Zahl d. be-
beschäftigten Betriebe CPäftigten Betriebe schäftigten|der Be-|schäftigten|der Be-|schäftigten der Be-|schäftigten
Personen Personen | Personen | triebe | Personen | triebe | Personen | triebe | Personen
43722 | 4330 | 34203 | 2524 | 48168 = = | 315 | 33904 | — | —
459010°) |12349°) 89 187°)| 5043) 95268 | 721 | 64768 74 | 23000 H 1057
434273 jııgıı | 83249 | 6228 | 125754 | 1241 | 114450 | 144 | 47583 5 6.066
105 349 2 240 16 360 1392 28 984 198 17 040 13 3 700 I 1995
167 528 4644 37 291 7080 | 141527 = = 930 | 95 669 = SS
174506 |13345 | too 113 |14509 | 313852 | 2958 | 269322 | 236 | 74483 4 5 297
235 135 19 395 146513 |21612 | 468618 | 4709 | 402292 612 | 190854 11 20 008
13 978 927 7589 1 238 26 054 — — 186 19360 | — —
16 709 2 079 15707 | 2935 45 321 386 | 32113 36 11 514 1 1 341
21473 | 2534 | 19360 | 3233 | 71175 | 659 | 61130 89 | 27088 3 3 303
577 173 1396 123 2 136 = Ee 4 230 | — =
3.949 332 2 440 223 4 278 17 1555 | — | = | = | =
6 459 544 | 4079 381 7 446 35 2922 2 424 | — Ss
Eine ganz ähnliche Entwicklung zeigt die Papier- und Leder-
68 Miszellen.
Die Durchschnittszahl der beschäftigten Personen hat sich nicht
sehr verändert. Die Alleinbetriebe gehen nur langsam zurück, während
die Kleinbetriebe mindestens mit der Zunahme der Bevölkerung Schritt
halten. Von einem Aussterben des Handwerks kann hier keine Rede
sein. Noch jetzt haben wir 562000 Alleinbetriebe, 212000 Kleinbetriebe
mit 2—5 Personen und 13600 mit 6—10 Personen, während außer-
dem noch der Großbetrieb eine erhebliche Zunahme aufzuweisen hat.
Daß in dem Baugewerbe Hand in Hand mit der Entwicklung
der Großstädte die großen Unternehmungen erheblich wachsen würden,
war a priori anzunehmen. Hier liegt eine Verfünffachung vor, und
11 Unternehmungen arbeiten mit mehr als 1000 Personen, aber auch
hier ist das Handwerk keineswegs verdrängt. Die Alleinbetriebe haben
sich seit 1882 nur wenig vermindert, die handwerksmäligen Gehilfen-
betriebe mit 2—10 Personen sind dagegen bedeutend gestiegen; von
63000 auf 101000.
Auch in dem polygraphischen Gewerbe hat der Kleinbetrieb
nicht gelitten, sogar die Alleinbetriebe haben zugenommen, noch mehr
aber die Kleingehilfenbetriebe Daneben ist auch der Großbetrieb zur
weiteren Ausbildung gelangt, wie nicht anders zu erwarten und un-
bedingt notwendig war, um den modernen Anforderungen zu genügen.
Die Künstlergewerbe sind naturgemäß in der Hauptsache auf
Kleinbetrieb angewiesen, und dieser hat sich daher auch entsprechend
gehoben. Im Großbetriebe sind nur 37 Etablissements mit 3300 Per-
sonen vertreten. 1882 waren es allerdings nur 4 mit 230.
Wir können diese Untersuchung nicht abschließen, ohne noch die
4 Gewerbsgruppen vereinigt zu betrachten, in denen das Handwerk
hauptsächlich vertreten ist: die Lederindustrie, die Industrie der Holz-
und Schnitzstoffe, die Industrie der Nahrungs- und Genußmittel und
das Bekleidungsgewerbe.
Tabelle II.
Die Betriebe der Lederindustrie, Holz- und Schnitz-
waren, Nahrungs- und Genußmittel-, Bekleidungs- und
Reinigungsgewerbe in Summa:
mit 6—10 Personen! mit 11—50 Pers. |mit 51 u. darüber
Zahl der | Zahl der Zahl der
Betriebe |Personen Betriebe |Personen |Betriebe |Personen
|mit 2—5 Personen
Zahl der
Betriebe |Personen
| Allein-
betriebe
18821029 559| 436 418 |1 112 783| 12846 | 104508 | 9836 | 197 004 | 1899 |233 275
1895/842 527| 427 494 |1 176 952| 38 169 | 275 486 | 18487 | 370507 | 3626 |450 107
1907/723 740| 501 963 |1 349 082| 46 773 | 340779 | 27 877 | 588849 | 5954 |706 574
Wie die kleine Tabelle ergibt, welche eine Uebersicht über die
4 Gewerbsgruppen bietet, welche das Handwerk hauptsächlich umfassen,
sind allerdings die Alleinbetriebe permanent zurückgegangen, aber keines-
wegs in einer abnormen Weise, vielmehr nur den Verhältnissen ent-
sprechend und, wie mehrfach ausgeführt, unserer Ansicht günstig, aber
nicht ungünstig. Gauz anders gestaltet sich das Bild schon bei den
Kleinbetrieben mit Gehilfen, also mit 2—5 Personen. Von 1882—1895
Miszellen. 69
hat hier ein Stillstand stattgefunden, während seit 1895 eine nicht
unbedeutende Zunahme vorliegt, und zwar sowohl in den Betrieben wie
in der Zahl der beschäftigten Personen, welche allerdings nur etwa der
Entwicklung der Bevölkerung entspricht. Jedenfalls zeigen die Zahlen,
daß in dieser Zeit keine Tendenz vorgelegen hat, das kleine Handwerk
zu verdrängen. Schon bei dem Mittelbetriebe mit 6—10 Personen ist
die Zunahme eine sehr beträchtliche, nämlich um das Dreieinhalbfache.
Hier war allerdings der Sprung von 1882—1895 ein größerer als von
1895—1907; immerhin zeigt es sich, daß auch in der letzten Periode
dieser größere Handwerker noch eher Terrain gewonnen als verloren
hat, daß immer noch die Möglichkeit vorliegt, sich aus dem Kleinbetrieb
zu einem größeren Betrieb emporzuarbeiten, denn darum handelt es
sich hier.
Etwas, jedoch nicht wesentlich stärker, war die Entwicklung bei
den Unternehmungen mit 11—50 Personen in der letzten Phase, und
auch die Unternehmungen mit mehr als 50 Personen zeigen nur eine
Verdreifachung in den Betrieben und beschäftigten Personen. Das Bild,
das sich uns bietet, spricht unzweifelhaft von keiner irgend gefährlichen
Bedenken erregenden Verschiebung in den Gewerbsverhältnissen.
Von außerordentlicher Bedeutung zur Beurteilung der Entwicklung
des Handwerks ist die Ausscheidung der Alleinbetriebe, welche
unzweifelhaft eine besondere Kategorie des Handwerks ausmachen, die
keineswegs mit den übrigen auf die gleiche Stufe gestellt werden kann.
Berührten wir sie auch schon nebenbei, so erscheint eine Zusammen-
fassung doch noch angebracht. Diese Handwerker, die ganz ohne Ge-
hilfen und Lehrlinge arbeiten, gehören unzweifelhaft nicht zum Mittel-
stande, sondern stehen auf der Stufe des aus der Hand in den Mund
lebenden Proletariats. Gerade in Deutschland ist die Zahl eine über-
mäßige, und ein erheblicher Teil davon steht sich tatsächlich schlechter
als der durchschnittliche Fabrikarbeiter, und ist in seiner Existenz
namentlich weit weniger gesichert als der tüchtige Arbeiter.
Inklusive der Gärtnerei, Fischerei, des Handels und Verkehrs,
einschließlich der Gast- und Schankwirtschaft, wurden 1882 1,9 Mill.
Alleinbetriebe, 1895 1,7, 1907 1,46 Mill. gezählt. Wenn wir dagegen
die Industrie einschließlich Bergbau und Baugewerbe allein ins Auge
fassen, so ging die Zahl von 1,4 auf 1,2 und 1907 auf 994 743
herunter. Nach dem Gesagten wird man diese Verminderung nicht als
eine beklagenswerte anzusehen haben, sondern nur als in den Verhält-
nissen begründet und nicht eine Verminderung des Mittelstandes ein-
schließend. Damit ist durchaus nicht gesagt, daß der Alleinbetrieb auf
dem Aussterbeetat steht. Er ist vielmehr in gewisser Ausdehnung so-
wohl in den großen Städten wie auf dem Lande unentbehrlich. Nebenbei
bemerken wir, daß auch der letzte Zensus der Vereinigten Staaten er-
gab, daß noch 14 Proz. aller Betriebe dort Alleinbetriebe sind, also
auch dort der Alleinbetrieb sich erhalten hat. In Deutschland war und
ist er noch heute in einer Ausdehnung vorhanden, die über das Be-
dürfnis hinausgeht.
Bei den einzelnen Gewerben ist natürlich die Verminderung der
70 Miszellen.
Tabelle III. Handwerks-
éi = H
ER KI © v o mit
= © S A DA
HERR
© = ZS 5 ©
Gewerbe Jahr 3583 3 SS E 22 2
Sr Sé |£ S ‘3 EK -£
2 a a vë CC
N I a Ed
Nagelschmiede 1895 3493| 4837| 14 2773 | 80 Proz. 631
Feilenhauer 1895 2689) 8340| 3,1 1271/51 „ 1143
1907 1682| 9694 | 5,7 7988|50 „ 930
Weber 1882 211 689 492818 | 2,8 1157233175 » —
1895 |119 326 |508010| 4,3 | 84451|80 „ |27 253|
1907 | 58 309 |486 456| 8,3 | 31373|54 » |18 696 |
Uhrmacher 1882 | 13789| 26517| 1,2 8518|56 „ 5 r15
1895 | 16 192| 33386| 2,0 | 10296|66 „ 5 516
1907 | 15 449| 41517| 2,6 | 9457|61 „ | 5260
Stellmacher 1882 | 45 713 | 71666] 1,5 | 25617|55 „ —
e allein 1895 | 41075 | 41 180| 1,7 | 23126|55 „ Jı7 715
z inkl. Wagen- und | 1907 | 43 448 |165 362| 3,8 | 19372|45 „ |18 843|
Waggonfabriken |
Böttcher 1882 | 32639| 51 732| 1,6 | 21773|66 „ 10594
1895 | 24 150| 43 005| 1,8 | 15 118|66 „ 7 Bro
1907 | 16838| 45489] 2,7 | 11035|65 „ 6 001
Tischler 1882 |214 722 |231 302| 2,0 | 62689|54 „ 149831
1895 |113 543 |299 195 | 2,6 | 53465|45 „ 148 176
1907 |106 540 |368 378| 3,4 | 43427|40 „ |49891
Sattler 1882 | 27 511| 54034| 1,9 | 14611|56 „ |18 845
1895 | 28 966| 63 670| 2,2 | 15 114 52 „ [14539
1907 | 27 307 | 84514 | 3,0 | 14124|51 „ |13 864
Tapezierer 1882 6529| 15 380 | 2,6 3102|49 „ —
1895 | 9910| 25 145| 2,5 | 4717|50 » |4355
1907 | 12725 | 45087 | 3,6 5972|47 » |6157
Bäcker und Konditoren 1882 | 80 117 |176 637| 2,2 | 26442|33 „ 52252
1895 | 88 150 |231 091 2,6 17 320|20 „ |65 946
1907 | 98 249 |326 345 | 3,3 | 16169|16 „ 181763
Fleischer 1882 | 62747 1123743 | 2,0 | 26688 |33 „ 135417
1895 | 74 163 |178 873| 2,4 | 24 109/30 „ |46587
1907 | 76411 |220418| 2,9 | 18147 |23 „ 155368
Schuhmacher 1882 |247 779 |404 278| 1,2 |163 182|66 „ 182758
1895 |237 160 1388 443| 1,2 |169434|70 „ (64216
1907 |181 474 |372 911| 2,0 |140090|77 „ 152019
Schneider 1882 |211 603 |324 241 | 1,5 154571175 „ —
1895 |265 413 444 952 | 1,6 |188446|70 „ 168096
1907 |257 556 627414 | 2,4 |213 244|83 „ 193624
Buchbinder 1882 | 12505 | 42732 | 3,4 5616|45 „ | 5990
1895 | 12073 | 49771| 4,1 5244|44 „ | 5270
1907 | 11335 | 91 320 | 8,8 4576 40 „ | 5276
Klempner 1882 | 17583 | 37 364 | 2,1 7561149 „ 110386
1895 | 206490 | 50000 | 2,4 8172|40 „ )I1069
1907 | 21 857 | 89 246 | 4,0 7362133 „ lızooı
1) Statistik des Deutschen Reichs N. F. Bd. 6, T. I. Gewerbestatistik des Reichs,
Berlin 1886. Gewerbestatistik für das Reich im ganzen, Berlin 1898. Statistik des
Deutschen Reichs N. F. Bd. 113.
Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 213, T. I, Berlin
1909. Gewerbliche Betriebsstatistik, Abt. I, Heft I, S. 43 u. w.
Miszellen. 71
betriebe in Deutschland!).
2—5 mit 6—10 mit 11—50 mit 51—200 |mit 201—1000 | mit über 1000
Personen Personen Personen Personen Personen Personen
N nr ee F isa 8 o ©
SCHERER 2 [253 2 288| 2 288
esse | E Iesse E E ess E |38| E ost
1561| % |335 3 cas) S |535| 3 |5=S8
SZE] å |82£ a SBE] A IEA) A AEA
104 9 724 = =
96 23 2 167 2 416| —
860 1584 1231 1123 840| 431 |161 360 3 |18485
44 270 1651 1511 |153 720| 506 |187 245 16 540
11 582 — — — eg _ = Ss
15520 | 148 65 25 | 2641| 13 | 4394| — | —
12 887 87 32 | 3421 17 6 748 I 1251
42 763 267 54 5020 43 | 18436 8 |10989
45956 | 660 496 142 | 13576| 80 | 41714| 19 |25730
25 215 — _ ss — —
19 832 345 153 18 | 1348 3 626| — _
14 725 286 189 6 | 4166 I 2211| — —
129515 — = BE E = = =
137630 | 5 656 2365 191 | 16.239 I 4508| — =
138701 |6491 4.066 609 | 53341 | 54 | 15655 er
4025| — = | we =
34703 | 636 295 36 | 3020 2 476| — —
36271 718 469 80 | 6853 6 1593| —
12 660 551 164 11 ER — = =
17349 | 726 309 19 | 1513 1 344 —
132 832 — — — — — — =$ =
176342 | 5 283 772 39 | 3495| 4 91| — | —
204492 | 7667 1 408 52| 3953| 9 | 2537| — | —
89614 — — =š — — Es
126216 | 3035 422 9 LA Me == =
158314 | 5919 200 8 1 323 3 1107| — —
209 807 — — — = _ Pe SS
158740 | 2485 767 237 | 22033 I 5231| — —
127046 | 1185 994 424 | 39 313 8 | 1982| 2 | 2778
— D — es Se eech = =
188 238 | 5 826 1453 45 | 3830 I 237| — —
239572 | 6908 3015 329 | 29589| 25 | 7115| — =
16532 — — == == = GE SH
14 823 572 527 III | 9401| 15 4372| —
14537 | 763 767 216 | 18 854| 32 | 11469
31023 925 222 6 429 = = — Es
33410 | 1208| 8619| 340 24 1 854 4 1568 —
2) Sattler und Tapezierer.
21 1882 Schneiderei mit Kleider- und Wäschekonfektion. 1895 Schneider allein.
Kleider- und Wäschekonfektion 738 Alleinbetriebe, 1727 Betriebe und 2—5 Personen
mit 6179 Selbsttätigen. 1907 Schneiderei und Kleiderkonfektion zusammen.
72 Miszellen.
Tabelle III (Fortsetzung). Handwerks-
2: KE) © So mit
d o A g & 3 E 5 2
|Z gE E KS
Gewerbe Jahr | 5 =9 a x 2 ä 8 8
=; 5 £ Ch E Se 5
ed 88 | 8:8 $a | $
3 2 Ce 2 £ ei S
S A E
Töpfer 1882 | 11r 460| 36235 | 3,1 5015 |44 Proz.| —
1895 | 6351| 29392| 4,6 | 2359|36 „ | 2944
1907 3928| 27730| 7,0 1223 |31ı „ 1753
Talg- und Seifensieder 1882 2370| 8767| 3,7 926 |36 „ 1 156
1895 1875| 11264 | 6,0 540 |26 „ 790
1907 1913| 18169) 9,5 288 15 „ 649
Seiler 1882 | 8371| 16639 | 2,0 4938|52 „ |3308
1895 | 7131| 17464| 2, | 3677|48 „ |2359
1907 4456| 15263 Fi 2095|47 » 2 077
Goldschmiede 1875 5460| 23357) 4,2 — |— —
1882 5325 | 22161| 41 2783|52 „ 1 897
1895 5695| 33819] 5,0 2844|49 „ 1 800
1907 | 4751| 47766| 10,0 1864|39 „ 1654
Grobschmiede 1875 | 19082 | 27075 | 1,4 — — zm
1882 | 74.239 | 34553| 1,6 | 27134 |31 „ 121559
1895 | 70243 |142 327| 2,0 | 22131 |31 ,„ |42 896
1907 | 67 346 Jı5ı 726 | 2,3 | 18382|27 ,„ 142168
Friseure, Barbiere, Perücken- | 1875 | 19082| 27075) 1,4 — — —
macher 1882 | 21593 | 34969| 1,6 | 12824|5I „ 8735
1895 | 30 230 | 58550| 1,9 | 13815 45 „ 15769
1907 | 47 382| 92 802| 1,9 | 19886 |42 „ 25 967
Maurer 1875 | 91 656 [188 924 | 2,0 — |— —
1882 | 48 951 |169908| 3, | 29079|59 „ Jı5 12I
1895 | 59784 |284 265 | An | 37442|62 „ It 986
1907 | 41504 |211 167| 5,0 | 19427 |46 „ 113535
Zimmerleute 1875 | 59 162 |129826| 2,2 — — —
1882 | 33 112|114329| 3,4 | 17 102|5I „ |13 096
1895 | 37 787 |133 170| 3,8 | 29733|54 „ |10 698
1907 | 29896 |128 518| 4,3 | 11220|39 „ |12 366
Glaser 1875 | 13355 | 20337| 1,5 = |— —
1882 | 12021 | 17 988| 1,4 7686|63 „ | 4293
1895 | 10756| 20025| 1,8 5930|55 » 4 328
1907 | 10705 | 25 340 | 2,8 4983|46 „ | 4902
Stubenmaler 1875 | 25 750| 48341| 1,8 — — —
1882 | 30643 | 63 869| 2,ı | 15460|50 „ JA 409
1895 | 40 197 |117 016| 2,9 | 18175|45 „ |17621
1907 | 50706 |168 812| 3,3 | 19045|37 „ |25o011
Ofensetzer 1875 840| 1135| 1,4 — — —
1882 1118| 1191| 1,0 705|63 „ 389
1895 5520| 13852! 2,5 2871|54 » |2171
1907 | 7374| 19618 | 2,1 | 3543|47 „ |3208
Schornsteinfeger 1875 | 3363| 6637| 1,9 _ — —
1882 3569| 7782| 2,1 928 26 „ 2 636
1895 | 3886| 8823| 2,3 893|23 „ 2935
1907 | 4150! 9639| 2, 741117 „ |3378
Miszellen. 73
betriebe in Deutschland.
2—5 mit 6—10 mit 11—50 mit 51—200 |mit 201—1000 | mit über 1000
Personen | Personen Personen Personen Personen Personen
f P 8 | f ;
s4 S E EF sag) E |AaSe| E 382
322 | Š EBERLE: SZE) A SEE] a S
2 = 3
8337| 495 | 3742| 338 | 6942| 59 | 5094| 9 |2771 | — | —
4774| 192| 2914| 348| 7854| 32 | 5685| 9 |3107 | —
3402| — — = = > = Kë = Ne
2279| 244 | 1860| 258 | 5187 14 1.080 1 2II —
1893| 234| 1740| 335| 7363| 43 | 3263 6 | 1481 | — =
6 282 105 774 62 1 361 9 980 6 | 3589 ı |1160
5051| 12I 8 95 2 120 4 1145 6 | 3503 1 |1130
3 — | —-|ı-|-|- |. -,|- | >| -|-
5066| 356 | 2681| 554 | 13 150| ı 8 786 A | 1581 — —
4610| 313 | 2381| 575 | 14176| 187 |16272 20 | 8225 — —
a =) ee ee = SC Ae l E
107 727| 101 | 1991| — — _ — = = _ =
106 592| 245| 5 201 8o | 7452 6 | 179 | — — — =
21416| — 34 mit 313 Personen — — = —
= maoM
42752| 227 | 1464 8 118| — — — = z: =
67781| 501 | 3404 36 552 2 189| — — — —
45009| — 4751 mit 95 820 — — _ —
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35805 | 3 924 | 29 793 | 4749 |102870| 872 |71357 | 23 |6210 | — —
37 928 | 3 444 | 26 241 |3 664 | 75061 | 476 |27 985 18 |4881 — —
37890 — 2914 mit 43 062 — = — —
31842 | 2865 | 21 655 | 2 603 | 50615 | 102 | 7475 I 217 — —
35712 | 3 240 | 24 375 |2340 | 44 141| 95 | 6383 6 J133| — | —
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Lee Deel A N er Eu Ke) es
11336! 238 | 1663| 47 735 2 146 | — = emm =
13171. 466| 3431| 153 | 2583| 6 385 | — = Säll
een ent Deech rn WE gt EH E EE gl e
51065 | 2720 | 19 884 | 1 343 | 23960| 47 | 3376 I 266 | — _
71724 4122 |30317 |2160 | 38683| 97 | 7514| 4 | — | —
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032| 297 | 2146| 144 | 2575 3 194 | — = = =
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7727) 26 171 | — — — — — = = =
8705 14 86 I 27 man — — Piz = es
74 Miszellen.
Alleinbetriebe außerordentlich verschieden vor sich gegangen. Wurden
doch in der Textilindustie 1882 noch 263 605 gezählt, 1895 148533,
1907 nur noch 82812, wobei man sich wundern mul, daß die Reduktion
nicht eine größere ist. Gibt es doch noch nach der letzten Zählung
962 Alleinbetriebe in der Spinnerei, 5687 in der Wollweberei
(1895 14929), in der Leinweberei 9127 (1895 26068). Sogar die
Baumwollweberei zeigt noch die bedeutende Zahl von 8816 Alllein-
betrieben (1895 19690). In der Seidenweberei sollte man meinen,
daß sich der Handbetrieb im kleinen noch mehr erhalten könnte als in
den benachbarten Gewerben, doch sind da jetzt nur 4264 Alleinbetriebe
gegen 13826 im Jahre 1895 gezählt. Auch die Kleinbetriebe mit 2—5
Personen sind in der neueren Zeit erheblich in der Textilindustrie zurück-
gegangen, von 70437 im Jahre 1882 auf 44825 im Jahre 1895 und
39227 nach der letzten Zählung. Auch bei den Maurern und Zimmer-
leuten haben sich die Alleinbetriebe seit der vorigen Zählung auf die
Hälfte vermindert, nur unbedeutend bei den Glasern und Schorn-
steinfegern, während bei den Stubenmalern und Ofensetzern,
die gleichfalls zum Baugewerbe gehören, sogar eine Steigerung derselben
zu bemerken ist. Eine erhebliche Einbuße haben die Alleinbetriebe, wie
nicht anders zu erwarten, in dem Böttchergewerbe erlitten, dann
in der Stellmacherei und Töpferei. Ein Stillstand liegt dagegen
bei den Uhrmachern, den Sattlern, Klempnern, Stell-
machern etc. vor. Seit der letzten Zählung haben auch die Bäcker
im Alleinbetriebe nur eine geringe Einbuße erfahren, dasselbe ist von
den Uhrmachern und auch der Buchbinderei zu sagen. Eine
nicht unbedeutende Zunahme zeigen die Tapezierer, die überhaupt
in der neueren Zeit erheblich an Zahl gewonnen haben, dann die
Schneider und begreiflicherweise die Friseure, deren Zahl stärker
gestiegen ist als die Bevölkerung.
Man wird nicht zu weit gehen, wenn man behauptet, daß noch
jetzt eine weitere Verminderung unausbleiblich erscheint, ohne daß man
dies als einen Verlust für die Volkswirtschaft ansehen kann.
Tabelle IV.
Betriebe von 17 Handwerkszweigen in Summal).
mit 2—5 Personen mit 6—10 Personen mit 11—50 Pers. |mit 51 u. darüber
hantea-
Ibetriebe Zahl der | Zahl der Zahl der Zahl der
| _|Betriebe |Personen |Betriebe | Personen |Betriebe |Personen |Betriebe |Personen
Ti a
1895/565 732| 412011 1086 105| 26938 | 193326 | 8685 | 142019 | It | 144486
1907/526 827| 448 400 |1 166 181| 33 833 | 247 800 | 13 773 | 261 809 | 1163 | 363 069
In der kleinen Tabelle IV haben wir 17 eigentliche Handwerks-
zweige ausgewählt und die Zahlen summiert, um dadurch die Ent-
wicklung schärfer zam Ausdruck bringen zu können. Freilich ließ sich
1) Goldschmiede, Uhrmacher, Stellmacher, Böttcher, Tischler, Sattler, Tapezierer,
Bäcker und Konditoren, Fleischer, Schuhmacher, Schneider, Buchbinder, Klempner,
Töpfer, Talg- und Seifensieder, Seiler, Grobschmiede.
Miszellen. 75
dies nur für die beiden Jahre 1895 und 1907 durchführen. Der Rück-
gang der Alleinbetriebe beläuft sich da auf 41000, d. s. ungefähr
8 Proz. Dies wird aber völlig ausgeglichen durch die Zunahme der
kleineren und mittleren Gehilfenbetriebe Die ersteren stiegen von
412000 auf 448000, die darin beschäftigten Personen nahmen um rund
80000 zu und der mittlere Handwerksbetrieb stieg von rund 27000
auf 33800, während die Zahl der darin beschäftigten Personen sogar
um 54000 anwuchs. Hiernach ist gerade der eigentliche Handwerker-
stand nicht nur nicht gesunken, sondern sogar gestiegen, in gleicher Weise,
hier und da sogar darüber hinaus, Hand in Hand mit der Bevölkerung.
Daß sich daneben der Großbetrieb gleichfalls entwickelte mit 11—50
Personen von 8700 auf 13800 und um 120000 Personen, und die Be-
triebe mit mehr als 50 Personen um 42 angewachsen sind, die Zahl
der Selbsttätigen um 220000, entspricht eben der Erweiterung der ge-
samten Bedürfnisse.
Greifen wir aber noch einzelne besondere Gewerbe heraus, so
tritt eine erhebliche Umgestaltung, wie nicht anders zu erwarten, bei
Feilenhauern, Webern usw. hervor. Hier hat sich, wie bekannt,
der Fabrikbetrieb als unbedingt überlegen herausgestellt, hier ist der
Konkurrenzkampf des Handwerks ein hoffnungsloser, und es wird nur
zu wünschen sein, daß die Ausgleichung, wie sie unseren modernen wirt-
schaftlichen Verhältnissen entspricht, sich möglichst schnell vollzieht.
Abgesehen von den Alleinbetrieben, sind immer noch kleine Handwerker
mit 2—5 Personen bei den Feilenhauern 930mal, bei den Webern
gar mit 18000 vertreten, während die Großbetriebe bei den letzteren in
erheblichem Anwachsen begriffen sind. Besonders stark war die Zu-
nahme in der Kategorie, welche 51—200 Personen beschäftigen. Auf-
fallenderweise aber in Harmonie mit den englischen Verhältnissen, sind
die Unternehmungen mit mehr als 1000 Personen dagegen zurück-
gegangen, von 13 auf 10; die Zahl der Person von 18500 auf 16500.
Ebenso ist das Handwerk begreiflicherweise stark im Rückgang
begriffen bei den Seilern, den Talg- und Seifensiedern, den
Töpfern und Böttchern. Es wäre vergebene Liebesmüh, diese
künstlich in der bisherigen Höhe erhalten zu wollen; niemand wird zu
leugnen vermögen, daß hier der Großbetrieb wirtschaftlich mehr zu
leisten vermag, oder daß er, wie es bei den Böttchern der Fall ist,
einmal im Anschluß an andere Unternehmungen, wie z. B. großen Bier-
brauereien, zweckmäßig aufgesogen wird, oder wie es bei demselben
Gewerbe der Fall ist, durch die Benutzung anderen Materiales, wie
hier z. B. des Holzes, durch Zink, Kupfer, Emaille, etc. den modernen
Ansprüchen in höherem Maße gnügt werden kann. Es wäre gänzlich
verfehlt, dem entgegenwirken zu wollen.
Um dem ein Extrem gegenüberzustellen, sehen wir die Friseure,
Barbiere und Perückenmacher in außerordentlicher Zahl zu-
nehmen. In den 4 Etappen von 1875 stieg die Zahl der Hauptbetriebe
von 19000 auf 21500, 30200 und 1907 auf 47400; die Zahl der
darin beschäftigten Personen von 27000 auf nahezu 93000, was über
die Zunahme der Bevölkerungszahl erheblich hinausgeht. Und in den
76 Miszellen.
letzten beiden Jahren hat eine Verschiebung in der durchschnittlichen
Größe nicht stattgefunden; auch die Alleinbetriebe sind hier gestiegen,
wenn auch nicht in dem Maße wie das kleinere und mittlere Hand-
werk. Daß die letzte Zählung 2 Unternehmungen mit mehr als 50
Personen aufweist, kann nicht verwundern, wenn man sich gegenwärtig
hält, daß die Perückenmacher in dieselbe Kategorie hineingezogen sind.
Zu den lokalisierenden Gewerben gehören ferner vor allem die
Schornsteinfeger, bei denen die Betriebe aber doch nur wenig
gestiegen sind und bei den Alleinbetrieben sogar ein Rückgang vor-
liegt. Ganz anders bei den Ofensetzern, welche sich außerordentlich
vermehrt haben, namentlich auch im Allein- und Kleinbetriebe, während
daneben größere Etablissements aufgetaucht sind, die mit mehr als 50
Personen arbeiten. Nächstdem sind die Stubenmaler und Tape-
zierer, welche gleichfalls individualisierende Arbeit, und zwar in den
Wohnungen selbst vorzunehmen haben, in der Lage, einem sehr ge-
wachsenen Bedürfnis entgegenzukommen, und haben infolgedessen so-
wohl in der Betriebs- wie Personenzahl erheblich zugenommen. Seit
1875 hat die Zahl der Betriebe bei den Stubenmalern sich ver-
doppelt, in der Zahl der Personen verdreifacht und dasselbe ist von
den Tapezierern zu sagen. Nicht nur die Wohlhabenheit, sondern
auch die Ausbildung des Geschmacks und die wachsenden Ansprüche
an eine behagliche Wohnung sind diesen Gewerben zugute gekommen;
wir sehen bei ihnen sowohl die Alleinbetriebe wie die Kleinbetriebe
fortdauernd zunehmen und daneben auch einzelne Großbetriebe sich
ausbilden. Es sind bereits vier mit mehr als 200 Peronen bei den
Stubenmalern und auch einer bei den Tapezierern verzeichnet.
Das Bedürfnis, ein neugebautes großes Haus in kurzer Zeit auszustatten,
erfordert eben auch Großbetriebe.
Nicht die gleiche Entwicklung zeigen die übrigen Baugewerbe,
wie Glaser, Maurer, Zimmerleute. Bei ihnen hat die Gesamt-
zahl der Betriebe, namentlich in der letzten Periode, abgenommen,
während die Personenzahl, wenn auch nicht allgemein, gestiegen ist.
Sie nahm bei den Glasern zu, bei Maurern und Zimmerleuten
auffallenderweise gerade in der letzten Periode ab. Vermindert hat sich
bei Maurern und Zimmerleuten sogar erheblich der Alleinbetrieb,
während schon der Kleinbetrieb eine Zunahme zu verzeichnen hat;
auffallenderweise sind bei Maurern die größeren und großen Betriebe
zurückgegangen, bei den Zimmerleuten die Klein- und Mittelbetriebe
gewachsen, während die von 11—200 eine Einbuße erlitten, dagegen
5 Unternehmungen mit mehr als 200 Personen neu aufgetaucht sind.
Wir sind nicht in der Lage, festzustellen, ob hier etwa besondere Fehler-
quellen bei den Erhebungen vorliegen.
Zu den Gewerben, bei welchen in der neueren Zeit die Anwendung
von Maschinen Anwendung gefunden hat oder sonst die ganze Um-
gestaltung unserer Bedarfs- und Verkehrsverhältnisse den Großbetrieb
begünstigen, während auf der anderen Seite lokale Bedürfnisse zu be-
friedigen sind, welche den Kleinbetrieb notwendig machen, gehören vor
allem das Bäcker- und Fleischergewerbe.
Miszellen. 77
Hier sind in den Großstädten bedeutende Etablissements entstanden
mit mehr als 200 Personen; indem Bäckergewerbe 9, wobei aller-
dings die Herstellung von Konditorwaren mit hineingezogen ist, bei den
Fleischern 3 mit 1100 Personen. In den kleinen wie großen Städten
ist dagegen daneben der Kleinbetrieb unentbehrlich, wenn er sich auch
weniger als Alleinbetrieb zu halten vermag. Hier ist die Zunahme
des Handwerks mit 2—5 Personen eine sehr erhebliche gewesen, und
auch mit 6—10 Personen ist ein Anwachsen zu verzeichnen.
Bei der folgenden Kategorie von 11—200 Personen weicht die
Entwicklung bei beiden voneinander ab, bei den Bäckern liegt eine
nicht unbedeutende Zunahme, bei den Fleischern eine Abnahme der
Betriebe vor, was um so mehr zu verwundern ist, da die Einrichtung
der Viehhöfe unzweifelhaft den Großbetrieb begünstigt.
Eine sehr verschiedene Entwicklung zeigen die beiden sonst
nahe verwandten Bekleidungsgewerbe, Schuhmacher und
Schneider. Durch die vorzüglichen amerikanischen Maschinen ist in
der Schuhmacherei bekanntlich der Fabrikbetrieb zu gewaltiger Aus-
bildung gelangt, zuerst in Amerika und England, dann hat sich auch
Deutschland dem nicht entziehen können, und so sind in der letzten Periode
die Betriebe von mehr als 50 Personen in großer Zahl entstanden, nicht
weniger als 226; darunter 2 mit mehr als 1000 Selbsttätigen. Das
führte denn natürlich auch einen Rückgang der Kleinbetriebe mit sich,
während aber auch schon Unternehmungen mit 11—50 Personen eine
Zunahme aufzuweisen haben. Im ganzen ist die Zahl der beschäftigten
Personen in der Schuhmacherei aber doch nur wenig, von 404000 auf
373000, zurückgegangen, und immer haben wir noch 140000 Allein-
betriebe zu verzeichnen, was sicher über den Bedarf hinausgeht.
Anders war die Entwicklung in der Schneiderei. Leider ist
noch in der letzten Zählung die Kleiderkonfektion damit ver-
bunden, wodurch natürlich Großbetriebe mit hineingezogen sind, die mit
der eigentlichen Schneiderei nichts zu tun haben. 1882 war freilich
noch die Wäschekonfektion damit verbunden, die später zum Glück
ausgeschieden ist.
Man wird daher die Schneiderei nur zu isolieren vermögen, wenn
man sich auf die Betrachtung der Kleinbetriebe beschränkt. Hier zeigt
sich nun, daß doch die Anfertigung der Kleider im großen nicht im-
stande gewesen ist, den handwerksmäßigen Schneider irgendwie zu
unterdrücken. Nicht nur die Gesamtzahl der Betriebe, sondern auch
die Alleinbetriebe, dann die eigentlichen Handwerksstätten haben eine
Zunahme erfahren, die erheblich über die Bevölkerungszunahme hinaus-
geht. Die Werkstätten mit 2—10 Personen sind von 75800 auf über
165000 gestiegen, und die darin beschäftigten Personen von 230000
auf 290 000.
Von besonderem Interesse ist es, speziell die Goldschmiede,
Uhrmacher und Buchbinder in das Auge zu fassen, bei denen
die Erfindungen neuer Maschinen den Großbetrieb in besonderer Weise
begünstigen, welche aber, den deutschen Bedürfnissen entsprechend, nur
78 Miszellen.
durch handwerksmäßigen Kleinbetrieb in ergänzender Weise den Bedarf
zu decken vermochten.
Bei den Goldschmieden war von 1875—1895 die Zahl der
Betriebe ziemlich gleich geblieben, ist dann aber zurückgegangen,
während ein starkes Anwachsen der beschäftigten Personen vorliegt,
so daß pro Betrieb 1875 und 1882 4,2, 1895 5,9, 1907 aber 10 Per-
sonen auf einen Betrieb kamen. Die Alleinbetriebe sind in der letzten
Phase erheblich zurückgegangen, auch etwas die Klein- und Mittel-
betriebe, während die Fabrikunternehmungen bedeutend um sich gegriffen
haben und jetzt 20 zwischen 201 und 1000 Personen beschäftigen, gegen
nur 4 im Jahre 1895.
Auch in der Uhrmacherei sind in der neueren Zeit eine Anzahl
Fabriken entstanden, die mehr als 50 Personen beschäftigen, 1895 waren
es nur 38, jetzt 50. Sind demgegenüber auch in dieser letzten Phase
die Alleinbetriebe und selbst die Kleinbetriebe, wenn auch nur unbe-
deutend, zurückgegangen, so fängt die Steigerung schon bei 6—10 Per-
sonen an, und immer noch kommen im Durchschnitt auf 1 Betrieb nur
2—6 Personen. Der Kleinbetrieb hat sich mithin überwiegend erhalten.
Die Buchbinderei als Handwerk hielt man in der neueren Zeit
vielfach als im höchsten Maße bedroht, sind doch auch da jetzt eine
Menge Maschinen erfunden und haben auch bei uns Eingang gefunden.
Lassen auch die großen Verleger einen bedeutenderen Teil ihrer Werke
bereits gebunden erscheinen, wozu der Großbetrieb notwendig ist, so ist
der Kleinbetrieb doch weit weniger beeinträchtigt, als man es hätte
erwarten sollen. Mit mehr als 50 Personen arbeiten gegenwärtig bereits
248 Buchbindereien gegen nur 126 im Jahre 1895. Dabei ist aber die
Zahl der Kleinbetriebe auf der bisherigen Höhe stehen geblieben, und
schon die mit 6—10 Personen, und noch mehr die mit 11—50 Personen
haben nicht unbedeutend zugenommen, und selbst die Alleinbetriebe sind
nur verhältnismäßig wenig resultiert.
Das Endergebnis dieser Spezialuntersuchung konnte nur die frühere
Aufstellung bestätigen und verschärfen. Eine Verdrängung des Hand-
werks in irgendeiner bedenklichen Weise tritt nirgends hervor; die
Reduktion der Alleinbetriebe war nur mäßig, sicher den Verhältnissen
entsprechend und ohne volkswirtschaftlichen Schaden. Der Klein- und
Mittelbetrieb erlitt nur unbedeutende Einbuße und nur da, wo der Groß-
betrieb anderes oder mehr zu leisten vermochte als jener. Eine Unter-
stützung des bisherigen Pessimismus in der Mittelstandsfrage hat die
neueste Erhebung unzweifelhaft nicht geboten. Weder ist für die Auf-
fassung der Sozialdemokratie ein Anhalt geboten, daß der Handwerker-
stand nicht zu halten sei, noch auch für die Mittelstandspolitiker, in
extremer Weise Zwangsmalregeln zur Erhaltung des Handwerks für
notwendig zu halten.
Miszellen. 79
II.
Die Aktiengesellschaftsstatistik des Kaiserlichen Statistischen
Amtes in Berlin.
Von Dr. Ewald Moll in Berlin.
Bei der Bearbeitung der Statistik der deutschen Aktiengesellschaften
(einschließlich der Kommanditgesellschaften auf Aktien) im Kaiserlichen
Statistischen Amte bat es sich als zweckmäßig erwiesen, die gesamte
Statistik nach drei bestimmten Richtungen hin auszugestalten. Als erste
Aufgabe wurde es betrachtet, eine sichere allgemeine Grundlage für die
Statistik zu schaffen und den Bestand der vorhandenen Gesellschaften
nach ihrer Zahl und nach der Höhe des Aktienkapitals zu einem be-
stimmten Zeitpunkte festzustellen. Da das Aktiengesellschaftswesen in
einem beständigen Wandel begriffen ist, indem Gesellschaften entstehen,
in Liquidation oder in Konkurs treten, indem Gesellschaften durch
Löschung im Handelsregister zur völligen Beendigung gelangen oder
indem schließlich das Aktienkapital bestehenbleibender Gesellschaften
erhöht oder herabgesetzt wird, so ergibt sich für die amtliche Statistik
die weitere Aufgabe, eine fortlaufende Bewegungsstatistik aufzumachen.
Diese beginnt zweckmäßigerweise mit dem in der Bestandsstatistik fest-
gesetzten Stichtag. Die dritte Möglichkeit des Ausbaues der Aktien-
gesellschaftsstatistik ist dadurch gegeben, daß die Gesellschaften nach
den Bestimmungen des deutschen Handelsgesetzbuches verpflichtet sind,
jährlich eine Bilanz und eine Gewinn- und Verlustrechnung aufzustellen
und zu veröffentlichen. Auf Grund dieser Rechnungsaufstellungen kann
man Rentabilitätsstatistiken, Statistiken der Geschäftsergebnisse, be-
arbeiten.
Das Kaiserliche Statistische Amt begann seine Aktiengesellschafts-
statistik mit der „Statistik des Bestandes der Aktiengesellschaften und
Kommanditgesellschaften auf Aktien im Deutschen Reiche am 31. De-
zember 1906“, enthalten im 4. Hefte der „Vierteljahrshefte der Statistik
des Deutschen Reichs“, Jahrg. 1907, IV, S. 360—377,
Um eine völlig einwandfreie Bestandsstatistik zu erzielen,
muß man in Deutschland, wie in allen Staaten, in denen für Aktien-
gesellschaften der Registrierungszwang besteht, auf die Handelsregister
der Gerichte zurückgehen. Solange der Bundesrat die Gerichte der
einzelnen deutschen Bundesstaaten nicht angewiesen hatte, für die Statistik
Zählpapiere auszufertigen, mußte das Kaiserliche Statistische Amt für
80 Miszellen.
seine erstmalige Bestandsstatistik ein privates Nachschlagewerk, nämlich
das seit einer Reihe von Jahren (seit 1896) jährlich in 2 Bänden er-
scheinende „Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften“ (Verlag für
Börsen- und Finanzliteratur, Berlin) benutzen.
Für die ebengenannte erste Veröffentlichung wurden aus Gründen,
die mit der inneren Gestaltung des „Handbuches“ zusammenhängen,
nur die „tätigen“ Gesellschaften gezählt, d. h. sämtliche Gesellschaften,
soweit sie sich noch nicht in Liquidation oder in Konkurs befanden.
Für eine Bestandsstatistik mußte, wie schon erwähnt, ein bestimmter
Stichtag festgesetzt werden. Als solcher wurde seitens des Kaiserlichen
Statistischen Amtes der 31. Dezember 1906 gewählt. In die Statistik
wurden von den neu entstandenen Gesellschaften sämtliche Aktiengesell-
schaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien eingeschlossen, deren
Eintragung im Handelsregister bis zum 31. Dezember 1906 erfolgt und
aus dem genannten „Handbuch“ ersichtlich war. Nach § 200 Abs. 1
HGB. beginnt die Rechtsfähigkeit einer Aktiengesellschaft erst mit dem
Augenblick der Eintragung der Gesellschaft im Handelsregister, nicht
etwa schon mit dem vorherigen Abschluß des Gesellschaftsvertrages, auch
nicht etwa erst mit dem Tage, an welchem die Eintragung im „Reichs-
anzeiger“ veröffentlicht wird. Infolgedessen mußte der Eintragungstag
der für die Entstehung der Gesellschaft wesentliche sein; auf ihn kam
es in der Statistik an.
Der erstmaligen Bestandsstatistik für den 31. Dezember 1906 wurde
von jenem „Handbuch“ die im März 1907 erschienene Ausgabe 1906/07
II und die im Juli 1907 veröffentlichte Ausgabe 1907/08 I zugrunde
gelegt. Für jede einzelne Gesellschaft (d. h. ihre Hauptniederlassung)
wurde eine Zählkarte ausgefüllt. Zweigniederlassungen wurden zunächst
nicht mitberücksichtigt, weil sie nicht vollzählig aus dem „Handbuch“
zu ersehen waren.
Die Zählkarten waren mit mehreren Vordrucken versehen. Vor
allem kam es darauf an, von jeder Gesellschaft nicht nur ihren genauen
Namen, ihre Firma, festzustellen, ihren Hauptsitz und ihren Entstehungs-
tag zu vermerken, sondern auch den Gegenstand der Betätigung der
Gesellschaften anzugeben. Letzteres war deshalb wichtig, weil jede
Aktiengesellschaftsstatistik erst dadurch ihren vollen Wert erlangt, daß
in den Tabellen eine eingehende Gliederung der Gesellschaften nach
Gewerbegruppen erfolg. Nach $ 182 Abs. 2 HGB. muß das Statut
der Aktiengesellschaft auch den Gegenstand des Unternehmens angeben.
Im „Handbuch“ findet man bei jeder Gesellschaft Angaben hierüber.
Die Zählkarten enthielten ferner Raum für die Angabe der Höhe
des Aktienkapitals. Man unterscheidet das nominelle und das eingezahlte
Aktienkapital, indem man unter letzterem denjenigen Teil des ersteren
versteht, der von den Aktionären eingezahlt ist. In der Bestandsstatistik
konnte aus mehrfachen Gründen nur das nominelle Aktienkapital er-
mittelt werden. Die Feststellung der Höhe des eingezahlten Aktien-
kapitals war der späteren Statistik der Geschäftsergebnisse vorzubehalten,
weil nur aus den hierfür benutzten Bilanzen der eingezahlte Betrag zu
ersehen ist.
Miszellen. 8
Nach $ 185 HGB. kann das nominelle Aktienkapital in zwei oder
mehr Gattungen von Aktien zerfallen. Bei der erstmaligen Bestands-
statistik wurden die auf einfache oder Stammaktien und andererseits die
auf Vorzugsaktien entfallenden Kapitalbeträge nach den Angaben des
„Handbuches“ ermittelt und dementsprechend auf den Zählkarten ver-
merkt. Es kommt nun bei manchen Gesellschaften vor, daß neben
einfachen Aktien mehrere Gattungen von unter sich wiederum ver-
schieden berechtigten Vorzugsaktien bestehen. In der Bestandsstatistik
wurden dann die gesamten Vorzugsaktien zusammen als eine einzige
Gattung betrachtet, so daß die Statistik immer nur zwei Gattungen von
Aktien kennt. Bei einer nicht geringen Anzahl von Gesellschaften
haben ferner früher einfache und Vorzugsaktien bestanden, die einfachen
Aktien sind den letzteren später gleichgestellt und es besteht somit nur
noch eine einzige Gattung von unter sich gleichberechtigten Aktien. In
diesen Fällen läßt man oft aus Bequemlichkeitsgründen die äußere Be-
zeichnung „Vorzugsaktien“ bestehen. In der Statistik wurden in solchen
Fällen stets einfache Aktien auf den Zählkarten aufgeführt.
In den letzten Jahren sind bei einigen Gesellschaften Vorzugsaktien
mit einem der Höhe nach begrenzten Dividendenrecht geschaffen. Auch
solche Aktien sind, obwohl sie sich ihrer inneren Natur nach erheblich
von den sonstigen Vorzugsaktien unterscheiden und ihrer wirtschaftlichen
Bedeutung nach den festverzinslichen Schuldverschreibungen (Obligationen)
nahekommen, zu der Gattung der Vorzugsaktien gerechnet.
Bei denjenigen Gesellschaften, welche ihr Aktienkapital im Laufe
der Jahre und namentlich um die nähere Zeit vor und nach dem 31. De-
zember 1906 verändert hatten,kam es darauf an, die Höhe des nominellen
Aktienkapitals der einzelnen Gesellschaften einheitlich und genau für
den gewählten Stichtag zu ermitteln. Für die statistische Feststellung
der Höhe des Aktienkapitals genügte es nicht, daß der Beschluß der
Generalversammlung über die Kapitaländerung ($ 280 HGB.) im
Handelsregister eingetragen war, es mußte vielmehr die weitere
Eintragung hinzukommen, daß jener Beschluß auch zur Durchführung
($ 281 ebenda) gelangt war. Erst mit der Durchführung tritt die
Kapitalerhöhung in rechtliche Wirksamkeit, und annähernd dasselbe gilt
auch für Kapitalherabsetzungen und ihre Eintragung im Handelsregister.
Da im „Handbuch“ von den beiden Stadien der Kapitaländerungen
in erster Linie die Generalversammlungsbeschlüsse mitgeteilt werden
und es vielfach erst in dem späteren Jahresbande des „Handbuches“
zur Mitteilung gelangt, ob und in welchem Umfang die Kapitaländerung
tatsächlich zur Durchführung gelangt ist, so entstanden bei der Be-
nutzung jenes Nachschlagewerkes gewisse Unzuträglichkeiten. Freilich
traten diese nur bei einer geringen Anzahl von Gesellschaften zutage,
nämlich bei denjenigen Gesellschaften, bei denen Kapitaländerungen
gerade in der Schwebe waren. Unter diesen Umständen erschien es
dem Kaiserlichen Statistischen Amte zulässig, bei der erstmaligen vor-
läufigen Bestandsstatistik den zeitweiligen Angaben des „Handbuches“
zu folgen. Bei einer späteren neuen Bestandsaufnahme, für welche die
Mitwirkung der Registergerichte erwartet wurde, sollte der Stichtag
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). 6
82 Miszellen.
dann für jede einzelne Gesellschaft genau beachtet werden, wenn eine
Kapitaländerung um diese Zeit in der Schwebe sein sollte.
Bei der Bearbeitung der Zählkarte erfolgte zunächst ihre Aus-
zeichnung nach örtlichen Bezirken, nämlich nach Bundesstaaten und
preußischen Provinzen. Für die örtliche Zuteilung war der Hauptsitz
der Gesellschaft, der Ort der Hauptniederlassung, maßgebend. Es blieb
hierbei unbeachtet, ob und wo in anderen Bezirken die Gesellschaft
ihre gewerblichen und industriellen Betriebe, ihre Bergwerke usw. hatte.
Bei der Auszeichnung der Zählkarten nach Gewerbegruppen wurde
das Gewerbeschema der Berufszählungen zugrunde gelegt. Den Ge-
werbegruppen wurde die Landwirtschaft hinzugezählt.e. Eine weitere
Gruppe wurde für die zu gemeinnützigen, geselligen, sportlichen und
kirchlichen Zwecken gegründeten Gesellschaften in der Rechtsform der
Aktiengesellschaft geschaffen. Die Zuteilung der Gesellschaften zu den
verschiedenen Gewerbegruppen (Gewerbeklassen und -arten) erfolgte
danach, welches der hauptsächlichste Gegenstand des Unternehmens
der Gesellschaft war. Hierbei kam es nicht auf den statutenmälig er-
laubten, sondern auf den von mehreren erlaubten tatsächlich aus-
genutzten an. Für die modernen großen Unternehmungen der Eisen-
und Kohlenindustrie, in denen die einzelnen Betriebe gleichwertig
nebeneinander bestehen — man denke z. B. an die Gelsenkirchener
Bergwerksgesellschaft und den Phönix — wurde eine eigene Gruppe
(Illa) gebildet, weil die Befolgung der soeben angegebenen Regel bei
solchen Gesellschaften nicht hätte durchgeführt werden können. Er-
wähnt sei ferner noch, daß Gesellschaften, deren Hauptbetrieb im Aus-
lande oder in den deutschen Schutzgebieten, den deutschen Kolonien,
liegt, nicht auf die verschiedenen Gewerbegruppen verteilt, sondern zu
zwei besonderen Klassen (XXIV 5 und 6) zusammengefaßt wurden. —
Nachdem die Vorarbeiten für die Bestandsaufnahme der „tätigen“ Ge-
sellschaften beendet, suchte das Kaiserliche Statistiche Amt aus dem
mehrerwähnten „Handbuch“ unter Zuhilfenahme älterer Jahrgänge auch
die am 31. Dezember 1906 im Handelsregister noch eingetragenen,
aber bereits in Liquidation und in Konkurs getretenen Gesellschaften
(gleichfalls Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien)
zu ermitteln. Zahlreiche Anfragen wurden an Gesellschaften und Register-
gerichte gerichtet. Für die Feststellung der Gesellschaften in Konkurs
wurde außerdem das Zählkartenmaterial der Reichskonkursstatistik nutz-
bar gemacht.
Für jede Gesellschaft in Liquidation und in Konkurs wurde gleich-
falls wie für die „tätigen“ Gesellschaften eine Zählkarte ausgefüllt. Zu
den sonstigen Vermerken traten nur die über den Tag der Eintragung
der Liquidation im Handelsregister und über den Tag der Konkurs-
eröffnung hinzu. Für den Beginn der Liquidation, die im deutschen
Handelsgesetzbuch übrigens „Auflösung“ genannt wird, erschien nicht
der Tag, an welchem die Generalversammlung den Liquidationsbeschluß
faßt, maßgebend, sondern der Tag der registerlichen Eintragung, weil
es hier wiederum auf diese Tatsache ankommt. Bei der Konkurseröffnung
hat das Handelsregister indessen nicht die entsprechende Bedeutung,
Miszellen. 83
denn $ 393 Handelsgesetzbuches sagt gerade, daß die Auflösung der
Gesellschaft außer dem Falle des Konkurses zur Eintragung in das
Handelsregister anzumelden ist. Der Tag, an welchem seitens der
Konkursabteilung des Gerichts, das Konkursverfahren eröffnet ist, ist
deshalb auf den Zählkarten vermerkt.
Für die Gesellschaften in Liquidation und in Konkurs wurde von
der für die Bestandsaufnahme der „tätigen“ Gesellschaften aufgestellten
Regel der Ermittelung der Höhe des nominellen Aktienkapitals ein-
heitlich genau für den 31. Dezember 1906 abgewichen. Für die „nicht-
tätigen“ Gesellschaften erschien es nämlich in mehrfacher Hinsicht zweck-
mäßig, denjenigen Tag für die Höhe des Aktienkapitals festzuhalten,
an welchem das Nachverfahren, die Liquidation oder der Konkurs, er-
öffnet war.
Als Ergänzung der Statistik des Bestandes der „tätigen“ Gesell-
schaften veröffentlichte das Kaiserliche Statistische Amt im 1. „Viertel-
jahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs“, 1908, I, S. 308—311 eine
Bestandsstatistik der „nichttätigen“ Gesellschaften. Die äußere Anordnung
der Tabellen, welche die Gesellschaften zunächst nach Gewerbegruppen,
dann nach Staaten und Landesteilen schieden, erfolgte wie in der
früheren Veröffentlichung über die „tätigen“ Gesellschaften.
Wie oben schon kurz hervorgehoben, mußte eine Bestandsaufnahme
der Aktiengesellschaften, welche sich auf ein, nicht für die Zwecke der
Statistik bestimmtes privates Nachschlagewerk, das „Handbuch der
deutschen Aktiengesellschaften“, stützte, Mängel aufweisen. Solche
zeigten sich mehrfach bei Gelegenheit der Bearbeitung der noch näher
zu besprechenden Bewegungsstatistik, welche im Anschluß an die Be-
standsstatistik vom 31. Dezember 1906 vom 1. Januar 1907 ab im
Kaiserlichen Statistischen Amte zur Bearbeitung gelangte. Letzteres
erstattete deshalb dem Staatssekretär des Innern einen Bericht über
die bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiete der durch den Erlaß des
Reichskanzlers vom 2. November 1903 eingeleiteten Statistik der privaten
Unternehmungsformen. Das Amt bat, nunmehr einen Beschluß des hierfür
zuständigen Bundesrats herbeizuführen, durch den die Handelsregister-
gerichte (Amtsgerichte) der einzelnen deutschen Bundesstaaten zur ein-
maligen Lieferung geeigneter Unterlagen für eine Bestandsaufnahme
sämtlicher in deutschen Registern eingetragenen Aktiengesellschaften,
Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter
Haftung, bergbaulichen Gewerkschaften, Kolonialgesellschaften, Ver-
sicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, sowie der übrigen gemäß SS 33
und 36 HGB. eingetragenen juristischen Personen angewiesen würden.
Ein Antrag gleichen Inhalts wurde auch hinsichtlich der in deutschen
Handelsregistern vermerkten Zweigniederlassungen der eben genannten
Gesellschaften und juristischen Personen gestellt.
Eine entsprechende Vorlage gelangte nunmehr an den Bundesrat.
Dieser genehmigte die in Vorschlag gebrachten Ausführungsbestimmungen
und die Entwürfe der Zählkarten und Listen und setzte in seinem Be-
schluß vom 15. Juli 1909 als Stichtag der einmaligen Bestandsaufnahme
den 30. September 1909 fest.
5 6*
84 Miszellen.
Die Nachweisungen sollen hiernach von den Gerichten im Laufe
des Dezember 1909 und Januar 1910 beim Kaiserlichen Statistischen
Amt eingehen. Dieses wird dann die Bearbeitung der Zählpapiere vor-
nehmen und eine neue Bestandsstatistik, diesmal für den 30. Sep-
tember 1909, veröffentlichen. Hier interessiert die erheblich erweiterte,
namentlich auch auf die unaufhörlich zunehmenden Gesellschaften mit
beschränkter Haftung ausgedehnte Bestandsaufnahme nur insoweit, als
nunmehr eine völlig einwandfreie Statistik der deutschen Aktien-
gesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien zu erwarten ist 1).
Erst jetzt wird es möglich sein, auch die in deutschen Handelsregistern
eingetragenen Zweigniederlassungen deutscher und ausländischer Gesell-
schaften festzustellen, was bisher unter Benutzung des „Handbuches
der deutschen Aktiengesellschaften“ nicht möglich war. —
Auf den Zählkarten der erstmaligen Bestandsaufnahme der Aktien-
gesellschaften (nach dem Stande vom 31. Dezember 1906) war am
Fuße auch Raum gelassen für Veränderungen im Bestande der „tätigen“
und „nichttätigen“ Gesellschaften. Besondere Spalten waren für Aende-
rungen in der Höhe des Aktienkapitals vorgesehen. Auf diese Weise
war die Möglichkeit geschaffen, das einmal fertiggestellte Zählkarten-
material für eine fortlaufende Bewegungsstatistik nutzbar zu
machen.
Die Bewegungsstatistik 2) soll in erster Linie die Entstehung
(Gründung) neuer Gesellschaften und andererseits die Beendigung der
bisherigen Gesellschaften verfolgen. Es bedarf keiner weiteren Erörterung,
daß hierbei dieselben Grundsätze entsprechend zu beobachten sind, welche
in der oben besprochenen Bestandsstatistik für die Zuweisung der Ge-
sellschaften zu den „tätigen“ und andererseits zu den in Liquidation
und in Konkurs befindlichen Gesellschaften, den sogenannten „nicht-
tätigen“, maßgebend sind. Auch bei der Bewegungsstatistik kommt
daher in Betracht, daß eine Aktiengesellschaft auf zweierlei Weise ihr
Ende erreichen kann, indem einmal die Löschung einer „tätigen“ Ge-
sellschaft im Handelsregister erfolgt oder indem zweitens — zum Zwecke
der späteren Löschung der Gesellschaft im Register — zunächst ein
längere oder kürzere Zeit dauerndes Beendigungsverfahren eingeleitet
wird, das als Liquidation oder als Konkurs der Löschung vorausgeht.
Bemerkt sei hierbei, daß gewöhnlich ein besonderes Liquidationsverfahren
erfolgen muß, um die Abwicklung der noch laufenden Geschäfte, die
Versilberung der Aktiven, die Bezahlung der Gesellschaftsgläubiger
und die Ausschüttung eines etwa übrig bleibenden Vermögensbestandes
au die Aktionäre vorzunehmen. Diese Regelung der Verhältnisse ist
nicht erforderlich, wenn die Gesellschaft bezw. ihre Unternehmungen
mit einer anderen Gesellschaft fusioniert werden oder an den Staat
im Wege der Verstaatlichung (z. B. bei Eisenbahnen, Bergwerken usw.)
1) Vgl. Moll, „Das Problem einer amtlichen Statistik der deutschen Aktien-
gesellschaften“, Berlin (Carl Heymann) 1907, S. 64/65 und Vorwort, sowie Lexis,
„Die Statistik der Aktiengesellschaften‘‘ im „Bankarchiv“, No. 13 vom 1. April 1908,
S. 193—195.
2) Vgl. Moll, a. a. O. S. 181—206.
Miszellen. 85
übergehen soll. In solchen Fällen gestattet das Handelsgesetzbuch aus-
nahmsweise die Löschung der fusionierten oder verstaatlichten Gesell-
schaft, ohne daß ein Liquidationsverfahren erfolgt; es liegt dann nur
ein einziger Beendigungsakt vor, durch den eine „tätige“ Gesellschaft
sofort aus den Registern verschwindet. ;
Da die fortlaufende Bewegungsstatistik einen Maßstab für die auf-
und niedersteigende Konjunktur abgeben soll, indem die Investierung
neuen Kapitals und die dadurch bedingte Inanspruchnahme des Kapital-
marktes statistisch festgestellt wird, so muß sich die Bewegungsstatistik
vor allem auch auf die Ermittlung der Kapitaländerungen (Erhöhungen
oder Herabsetzungen) bei bestehenden Gesellschaften erstrecken. Auf
den Zählkarten müssen fernerhin die Firmenänderungen vermerkt
werden, weil dies für die innere Handhabung der Statistik von Wichtig-
keit ist. Sitzverlegungen können in der Statistik zur Folge haben, daß
Gesellschaften örtlich anders zu gruppieren sind. Bei der Veränderung
des Gegenstandes des Unternehmens der Gesellschaft muß geprüft werden,
ob die Gesellschaft ihren ursprünglichen Gewerbebetrieb im wesentlichen
weiter betreibt oder ob eine derartige Aenderung ihres Betriebes er-
folgt, daß die Zuteilung der Gesellschaft zu einer anderen Gewerbe-
gruppe (-art, -klasse) des Gewerbesystems der Statistik erforderlich
wird. Wie bei der Bestandsstatistik, so erfolgt auch bei der Be-
wegungsstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes die Scheidung
des Aktienkapitals nach einfachen Aktien und nach Vorzugsaktien.
Ohne daß eine Erhöhung oder Herabsetzung des gesamten Aktienkapitals
vorgenommen wird, kann ferner innerhalb der beiden Gruppen von
Aktien eine Aenderung des Aktienvorrechts im Wege der Umwandlung
einfacher Aktien in Vorzugsaktien und auch umgekehrt erfolgen. Auch
derartige Aenderungen werden bei der Bewegungsstatistik festgestellt.
Wie bemerkt, paßt sich die Bewegungsstatistik im allgemeinen dem
Rahmen der Bestandsstatistik an. Eine Erweiterung der ersteren ist
jedoch insofern vorgenommen, als in ihr die Höhe der sogenannten
„Sacheinlagen“ ermittelt wird. Aehnliche Feststellungen bei den in
der Bestandsstatistik für den 31. Dezember 1906 gezählten Gesell-
schaften wären zu umständlich gewesen, während im Rahmen einer
fortlaufenden Bewegungsstatistik derartige Feststellungen erheblich
leichter erfolgen können. „Sacheinlagen“ liegen vor, wenn gemäß $$ 186
Abs. 2 und 279 Abs. 1 HGB. Einlagen gegen Gewährung von Aktien
neugegründeter oder durch eine Kapitalerhöhung auf eine erweiterte
Grundlage gestellter Aktiengesellschaften eingebracht werden. Nach
den SS 199 und 284 Abs. 5 HGB. müssen die Festsetzungen des ur-
sprünglichen oder bei Kapitalerhöhungen ergänzten Gesellschaftsstatuts
über die Art und Weise der „Sacheinlagen“ im „Reichsanzeiger“ ver-
öffentlicht werden. Da für die gesamte Bewegungsstatistik die Bekannt-
machungen der Registergerichte im Reichsanzeiger“ („Zentralhandels-
register“) zugrunde gelegt wurden, so bot sich eine nicht mit
erheblichen Mühen verknüpfte Möglichkeit für die Feststellung der
„Sacheinlagen“. Die Ermittelungen dieser Art können jedoch nur mit
Vorbehalt verwertet werden. Gründungen bei welchen Grundstücke oder
86 Miszellen.
bestehende Geschäfte übernommen werden, werden oftmals nämlich nicht
als Sachgründungen (d. h. Gründungen mit „Sacheinlagen“ im Sinne
der oben zitierten SS 199 und 284 Abs. 5) sondern als Bargründungen
vorgenommen, weil man aus Gründen, die hier nicht näher angeführt
werden sollen, die in $ 192 HGB. vorgeschriebene sachgemäße Prüfung
des Gründungsherganges durch Revisoren vermeiden will.
Bemerkt sei noch, daß für die Bewegungsstatistik in gleicher Weise
wie für die Bestandsstatistik die konkursstatistischen Zählkarten eine
wertvolle Unterstützung boten, die um so notwendiger war, als seitens
der Handelsregistergerichte über Konkurseröffnungen und -beendigungen
Bekanntmachungen im „Reichsanzeiger“ („Zentralhandelsregister“) nicht
erfolgen. Wie oben erwähnt, ist dies gesetzlich nicht vorgeschrieben
und daher auch nicht üblich.
Die erste Bewegungsstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes
bezog sich auf das ganze Kalenderjahr 1907 und gelangte im 2. „Vier-
teljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs“ 1908 II, S. 243— 249
zur Veröffentlichung. Späterhin wurden die Statistiken vierteljährlich
in dem auf den Berichtszeitraum folgenden „Vierteljahrshefte“, das
meistens gegen Ende des zweiten Monats eines jeden Vierteljahrs er-
scheint, veröffentlicht. Kurz vorher kann gerade die betreffende Be-
wegungsstatistik fertiggestellt werden. Mit ihrer Bearbeitung und mit
der Aufstellung der Tabellen kann nämlich nicht sofort nach Ablauf
des Vierteljahrs begonnen werden. Es müssen erst noch mindestens
4 Wochen des neuen Vierteljahres vergangen sein, weil es nicht selten
vorkommt, daß eine Eintragung zum Handelsregister, welche z. B. am
28. März erfolgt, erst im Laufe der letzten Tage des April im „Reichs-
anzeiger“ bekannt gemacht wird.
Zur Zeit liegen Bewegungsstatistiken schon für 23/, Jahre vor.
Die ausführlichen Besprechungen, welche über sie jedesmal im Handels-
teil unserer großen Tageszeitungen erfolgen, legen Zeugnis davon ab,
daß die Inangriffnahme dieser Statistiken seitens den Kaiserlichen
Statistischen Amtes einem längst fühlbar gewordenen Bedürfnis unserer
wirtschaftlichen Berichterstattung entsprach.
In den einzelnen Vierteljahrsübersichten werden nur die Gesamt-
ziffern für die verschiedenen Vorgänge geboten. Für einige der wichtig-
sten Bestands- und Kapitaländerungen werden außerdem Monatszahlen
mitgeteilt; hier kann man ersehen, wie sich die Neugründungen, die
Kapitalerhöhungen und -herabsetzungen, die Liquidations- und Konkurs-
eröffnungen sowie die Löschungen von Firmen ohne voraufgegangene
Liquidations- oder Konkursverfahren auf die 3 Monate des Berichts-
vierteljahres verteilen.
Wenn im 2. „Vierteljahrshefte“ die Bewegungsstatistik des letzten
Vierteljahres des abgelaufenen Kalenderjahres veröffentlicht wird, schließt
sich hieran eine Zusammenfassung der Ergebnisse der vier Bewegungs-
statistiken des vergangenen Jahres. Diese Hauprübersichten unter-
scheiden sich auch insofern von den Vierteljahrsübersichten, als in
ersteren noch eine Scheidung der Ergebnisse (sowohl der Bestands- als
auch der Kapitaländerungen) nach Staaten und Landesteilen sowie nach
Gewerbegruppen erfolgt. b
Miszellen. 87
An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, daß die Zahlen-
ergebnisse der Bewegungsstatistiken des Kaiserlichen Statistischen Amtes
durchweg nicht mit den bisher bekannten Gründungs- und Kapital-
erhöhungsstatistiken privater Statistiker übereinstimmen. Das Kaiser-
liche Statistische Amt hält sich streng an das Eintragungsdatum der
einzelnen Bewegungstatsachen und rechnet in die einzelnen Bericht-
zeittäume (Vierteljahre, Monate) diejenigen Vorgänge hinein, die in
ihnen zur Eintragung gelangt sind; hierbei kommt es dann, wie oben
schon erwähnt, vor, daß erst 2—4 Wochen später die Bekanntmachung
jenes Vorganges im „Reichsanzeiger“ erfolgt. Private Statistiker
rechnen aber gern die einzelnen bewegungsstatistischen Vorgänge der-
gestalt in die einzelnen Monate hinein, daß ihnen nicht das (für die
Rechtswirksamkeit des Vorganges allein ausschlaggebende) Eintragungs-
datum, sondern das Datum der Nummer des „Reichsanzeigers“ maß-
gebend ist. Privatstatistiker (z. B. Calwer in seinen .Wirtschafts-
statistischen Monatsberichten“, ferner die „Frankfurter Zeitung“, die
„Bank“ und der „Internationale Volkswirt“) bevorzugen diese Behand-
lungsweise, weil sie möglichst schon in der ersten Hälfte des neuen
Monats eine Bewegungsstatistik (über Neugründungen und Kapital-
veränderungen) des soeben vergangenen Monats bringen wollen. Die
spätere Veröffentlichung bewegungsstatistischer Zahlen seitens des Kaiser-
lichen Statistischen Amtes birgt den Vorteil in sich, daß es nur bei ihr
möglich ist, die Vorgänge sachgemäß in denjenigen Berichtszeitraum
hineinzuweisen, in den sie nach dem Datum der rechtlichen und wirt-
schaftlichen Wirksamkeit des betreffenden Vorganges hineingehören.
Dadurch, daß der Bundesrat am 15. Juli 1909 die oben schon
erwähnte Bestandsaufnahme für den 30. September 1909 angeordnet
hat, bietet sich dem Kaiserlichen Statistischen Amte in Zukunft die
Möglichkeit, die Bewegungsstatistik der Aktiengesellschaften und Kom-
manditgesellschaften auf Aktien auszubauen. In Zukunft sollen nämlich
auch die im deutschen Reichsgebiet eingetragenen Zweigniederlassungen
deutscher und ausländischer Gesellschaften statistisch festgestellt werden.
Es läßt sich dann auch der jeweilige Zu- und Abgang an solchen Zweig-
niederlassungen ermitteln. —
Im Ergänzungshefte zum 2. „Vierteljahrshefte zur Statistik des
Deutschen Reichs“ 1) hat sich das Kaiserliche Statistische Amt schließ-
lich auch auf dem dritten Gebiete der Aktiengesellschaftsstatistik be-
tätigt, indem es die „Geschäftsergebnisse der deutschen Aktiengesell-
schaften im Jahre 1907/08“ behandelte und damit zum erstenmal eine
Rentabilitätsstatistik bot?)
1) Beim Verlage Puttkammer und Mühlbrecht in Berlin und im Wege des Buch-
handels ist das Heft für 1 M. zu beziehen.
e 2) Vgl. Moll, „Die Rentabilität der Aktiengesellschaften. Ihre Feststellung in amt-
lichen und privaten Statistiken auf Grund der Bilanzen“. Jena (Gustav Fischer) 1908.
Für die obigen Ausführungen sei namentlich auf den Abschnitt VII „Rentabilitäts-
statistiken, welche das Einkommen des Aktionärs lediglich unter Berücksichtigung des
Dividendenbetrages zu ermitteln suchen“ (S. 121—162) und Abschnitt IX ‚Rentabilitäts-
statistiken, welche das Einkommen der Aktiengesellschaften selbst zu ermitteln suchen“
(S. 224—274), hingewiesen.
88 Miszellen.
Das Kaiserliche Statistische Amt hat in seiner Rentabilitätsstatistik
einen scharfen Unterschied gemacht zwischen dem Gewinn und Ver-
luste der Gesellschaft, der juristischen Person, und andererseits dem
Erträgnisse, welches der Aktionär aus seiner Beteiligung in Aktien des
Unternehmens erzielt. In dieser Beziehung folgte das Kaiserliche
Statistische Amt den allgemeinen Grundsätzen, welche bisher in amt-
lichen und privaten Statistiken dieser Art maßgebend waren. Im
einzelnen weisen die Grundsätze, welche vom Kaiserlichen Statistischen
Amte für die neue Reichsstatistik aufgestellt sind und von der „Kon-
ferenz der Vertreter der amtlichen Statistik des Reiches und der
Bundesstaaten“ vom 25. Mai 1908 in Nürnberg gutgeheißen wurden,
aber erhebliche Unterschiede von den in ähnlichen Statistiken ange-
wandten Methoden auf.
Die wichtigste und wertvollste Neuerung in der Rentabilitäts-
statistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes ist folgende. Nicht sämt-
liche Aktiengesellschaften sind in ihr erfaßt, vielmehr ist erst ein Teil
ausgeschieden. Dies erschien aus folgenden Erwägungen erforderlich.
Die Statistik der Geschäftsergebnisse, so sagt die amtliche Veröffent-
lichung in den vorangeschickten Erläuterungen, ist ein Teil der Wirtschafts-
statistik. Es gibt aber zahlreiche Aktiengesellschaften, welche wirtschaft-
liche Zwecke nicht verfolgen, z. B. Aktiengesellschaften für Kranken-
häuser, Vereinshäuser, Gebäude für kirchliche, gesellige, sportliche und
ähnliche Zwecke usw. Die Bilanzen derartiger Gesellschaften hönnen kein
zutreffendes Bild über Vorgänge wirtschaftlicher Natur geben. Würden
gleichwohl Zahlen aus solchen Bilanzen für eine Statistik der Geschäfts-
ergebnisse der Aktiengesellschaften verwertet, so würde die Statistik
einwandfreie Zahlen über die wirtschaftlichen Ergebnisse der Aktien-
gesellschaften nicht mehr bieten, da viele ungeeignete Zahlen mitbenutzt
werden. Daher sind in der neuen Rentabilitätsstatistik sämtliche Aktien-
gesellschaften ohne wirtschaftliche Zwecke unberücksichtigt gelassen.
Außerdem sind sämtliche Gesellschaften unberücksichtigt geblieben,
deren wirtschaftlicher Zweck nicht in erster Linie die Erzielung eines
Geschäftsgewinnes für die Gesellschaft ist oder bei denen die Dividenden-
verteilung ganz ausgeschlossen oder auf einen Höchstsatz beschränkt
ist. Die Berücksichtigung der Bilanzen solcher Gesellschaften hätte
gleichfalls zur Verdunkelung der zu erfassenden wirtschaftlichen Vor-
gänge führen müssen. Gemeinnützige Baugesellschaften und gemein-
nützige Gesellschaften anderer Gewerbegruppen gehören in eine Ren-
tabilitätsstatistik nicht hinein. Einer solchen Statistik fällt die Auf-
gabe zu, die Rentabilität, d. h. die Fähigkeit Erträge abzuwerfen,
statistisch zu ermitteln. Man muß daher diejenigen Gesellschaften,
welche diese Fähigkeit entweder überhaupt nicht oder nur in ge-
ringem Maße ausnutzen wollen, in derartigen Statistiken unberücksichtigt
lassen 1).
Aus ähnlichen Gründen hat das Kaiserliche Statistische Amt auch
1) Vgl. Moll, „Die Rentabilität der Aktiengesellschaften“, S. 82/83, und Bauer,
„Die Aktienunternehmungen in Baden“. Karlsruhe (Macklot) 1903, S. 369/370.
Miszellen. 89
diejenigen Terraingesellschaften von der Untersuchung ihrer Jahres-
ergebnisse ausgeschieden, welche ihre Jahresgewinne zunächst noch
nicht an ihre Aktionäre verteilen, sondern aus den Gewinnen Reserven
ansammeln, nach Erreichung eines bestimmten Verhältnisses der Re-
serven (vielfach 30 Proz.) zum Aktienkapital in Liquidation treten und
erst in diesem Stadium mit der Ausschüttung der Gewinne (in Gestalt
von sogenannten Liquidationsraten) an die Aktionäre beginnen.
Gemäß $ 212 HGB. kann im Gesellschaftsvertrag einer Aktien-
gesellschaft den Aktionären neben den Kapitaleinlagen die weitere Ver-
pfichtung zu wiederkehrenden, nicht in Geld bestehenden Leistungen
auferlegt werden. Zuckerfabrik-Aktiengesellschaften verpflichten viel-
fach ihre Aktionäre zum Anbau einer bestimmten Menge Rüben und
zu deren Lieferung an die Fabrik. Die Bezahlung der Rüben erfolgt
freilich auch nach allgemeinen festen Grundsätzen. Die General-
versammlung kann aber bei günstigen Zuckerpreisen einen weiteren
Aufschlag auf den Kaufpreis bewilligen. Um diesen Aufschlag ver-
mindert sich dann der Gewinn der Gesellschaft und der den Aktionären
unter der Bezeichnung „Dividende“ ausgeschüttete Betrag. Bei Gesell-
schaften mit Nebenleistungspflicht wird also eine eigenartige Gewinn-
und Dividendenbemessung gehandhabt. Das Kaiserliche Statistische
Amt dürfte deshalb die Zahlen aus den Bilanzen dieser Nebenleistungs-
gesellschaften mit guten Gründen für die Benutzung in einer Rentabilitäts-
statistik als ungeeignet betrachtet haben.
Schließlich sind auch die wenigen Kartelle und Syndikate in der
Rechtsform der Aktiengesellschaft ausgeschieden worden. Sie wollen
selbst keinen Gewinn erzielen, sondern andere Vorteile für ihre Mit-
glieder, die Aktionäre, erreichen (z. B. Hochhaltung der Verkaufspreise,
Einschränkung der Produktion usw.). Die Geschäftsunkosten werden
meistens durch „Umlagen“ gedeckt, welche die Syndikatsmitglieder
jährlich beisteuern müssen.
Die Gesellschaften, welche nach Ausscheidung der soeben genannten
mehrfachen Gruppen von Gesellschaften für die Bearbeitung in der
Rentabilitätsstatistik übrig bleiben, hat das Kaiserliche Statistische
Amt wohl zweckmäßig als „reine Erwerbsgesellschaften“ bezeichnet.
Man kann sämtliche Aktiengesellschaften nach einem anderen Ge-
sichtspunkt in „tätige“ und „nichttätige“ Gesellschaften scheiden. Dies
ist oben schon besprochen. „Nichttätige“ Gesellschaften, d. h. die in
Liquidation und in Konkurs befindlichen, sind in der erstmaligen Ren-
tabilitätsstatistik noch nicht mituntersucht, weil die obenerwähnte Nürn-
berger Konferenz einheitliche Grundsätze für die Berechnung von
Jahresgewinnen und Jahresverlusten dieser Gesellschaften nicht auf-
gestellt hatte, dies auch großen Schwierigkeiten begegnet.
Da die Rentabilitätsstatistik ihre Zahlen aus den im „Reichsanzeiger*
veröffentlichen Jahresbilanzen entnimmt, so können schließlich für die
Untersuchung der Geschäftsergebnisse nur diejenigen Gesellschaften in
Frage kommen, welche ihre Bilanzen rechtzeitig veröffentlicht haben.
Neugegründete Gesellschaften können erst nach Ablauf einer bestimmten
Zeit ihre erste Jahresbilanz veröffentlicht haben. Manche Gesellschaften
90 Miszellen.
sind nachlässig oder schieben die Veröffentlichung der Bilanz so weit
hinaus, daß die Benutzung der Bilanz in der Jahresstatistik nicht mehr
erfolgen kann. Neben diesem gesetzwidrigen Grunde gibt es auch eine
gesetzmäßige Befreiung von der Veröffentlichungspflicht. Solange die
Generalversammlung nämlich der Bilanz die Genehmigung versagt und
solange über ihre Richtigkeit ein Prozeß beim Gericht geführt wird,
braucht die Bilanz nicht veröffentlicht zu werden.
Wurden Bilanzen zwar rechtzeitig, aber lückenhaft oder in einer
für statistische Zwecke nicht nutzbaren Form veröffentlicht, so suchte
sich das Kaiserliche Statistische Amt (mit Unterstützung der statistischen
Zentralbehörden der Bundesstaaten) die notwendige Aufklärung durch
Rückfragen bei den Gesellschaften zu verschaffen; blieben diese Rück-
fragen ausnahmsweise erfolglos, so mußten Gesellschaften mit solchen
Bilanzen in der Jahresstatistik gleichfalls unbeachtet bleiben. Es er-
schien dies richtiger, als ungeeignete Zahlen zu benutzen oder die
Bilanz des Vorjahres als Ersatz zugrunde zu legen.
Das Geschäftsjahr der Mehrzahl der Gesellschaften fällt mit dem
Kalenderjahr zusammen. Als Berichtszeitraum der Statistik 1907/08
wurde insofern die Zeit vom 1. Juli 1907 bis 30. Juni 1908 gewählt,
als in dieser Statistik alle Gesellschaften mit denjenigen Bilanzen be-
rücksichtigt wurden, welche innerhalb dieses Zeitraumes ihren Abschluß-
tag hatten.
Im genannten Ergänzungsheft 1909 II sind weiterhin eingehend
die Grundsätze mitgeteilt, nach denen die Bearbeitung der Bilanzen
erfulgte, die Angaben der Gewinn- und Verlustrechnungen benutzt und
schließlich auch Aufschlüsse aus den erbetenen Geschäftsberichten ge-
wonnen wurden.
In erster Linie wurde darauf geachtet, den Reingewinn oder den
Verlust der einzelnen Gesellschaft genau für das Bilanzjahr zu ermitteln.
Hierzu war die Kenntnis der Zahlen für die aus früheren Jahren über-
nommenen Gewinn- oder Verlustvorträge notwendig. Die meisten
Bilanzen boten hier Aufschluß. Fehlten Angaben, so wurden Anfragen
an die Gesellschaften gerichtet.
Buchgewinne oder sogenannte Agiogewinne galten, da sie nicht
erarbeitet, nicht als Teile des Reingewinnes.
Da die Bilanzen den Reingewinn oder auch den Verlust im übrigen
nicht nach einheitlichen Grundsätzen feststellen, vielmehr bei der Fest-
stellung des Nettogewinnes aus dem Bruttogewinne recht verschieden
vorgehen, so mußte es sich das Kaiserliche Statistische Amt, um gleich-
wertige Zahlen zu schaffen, zur Aufgabe setzen, nach einheitlichen
Grundsätzen und Methoden den wirklichen Gewinn oder Verlust jeder
einzelnen Gesellschaft zu berechnen. Bisherige amtliche und private
Statistiken gingen wohl durchweg nicht so vor, sondern begnügten sich
mit denjenigen Gewinn- oder Verlustzahlen, welche die einzelnen
Bilanzen einmal boten. Dadurch, daß sich das Kaiserliche Statistische
Amt für seine statistischen Tabellen gleichwertige Zahlen berechnete,
hat es ohne Zweifel einen nicht unerheblichen Fortschritt in der
Miszellen. 91
methodischen Durchführung von Rentabilitätsstatistiken zutage treten
lassen.
Was die Berechnung der statistischen Reingewinn- und Verlust-
zahlen im einzelnen betrifft, so seien hierüber folgende Angaben ge-
macht. Es wurden zunächst sämtliche Tantiemen für Vorstands-
mitglieder und sonstige Angestellte (Prokuristen), sowie für die Auf-
sichtsratsmitglieder als Teile des Reingewinnes angesehen, auch wenn
sie in den Bilanzen ganz oder teilweise unter Handlungsunkosten ver-
bucht waren. Zu dieser Maßnahme führte der Umstand, daß in der
Statistik der Geschäftsergebnisse die Feststellung des jährlichen Rein-
gewinnes oder Verlustes in erster Linie die Möglichkeit gewähren soll,
den Auf- und Niedergang im Wirtschaftsleben von Jahr zu Jahr fest-
zustellen. Die Schwankungen der mit Hilfe des Reingewinnes be-
rechneten Verhältniszahlen würden fälschlicherweise in viel zu geringem
Maße in die Erscheinung treten, wenn man in der Statistik den in
einem guten Wirtschaftsjahr erarbeiteten Gewinn um die entsprechend
hohen Tantiemebeträge kürzen würde. Aus ähnlichen Gründen sind
auch die Gratifikationen für Angestellte und Arbeiter, sowie die Zu-
wendungen für Beamten- und Arbeiterunterstützungsfonds in den Rein-
gewinnbeträgen belassen.
Abschreibungen sind teils ordentliche, teils außerordentliche; teils
werden sie an Immobilien und Mobilien, teils an ausstehenden
Forderungen vorgenommen. Das Kaiserliche Statistische Amt hat —
im Einklang mit den Grundsätzen, welche in dieser Beziehung die
Handelskammer in Dresden bei seiner Rentabilitätsstatistik der zum
Kammerbezirk Dresden gehörigen Aktiengesellschaften befolgt — die
außerordentlichen Abschreibungen wie die ordentlichen behandelt und
beide vom Reingewinn abgesetzt. Dem kann man freilich entgegen-
halten, daß die außerordentlichen Abschreibungen doch auch im Berichts-
jahre mitverdient seien und im Reingewinnbetrage der Statistik ent-
halten bleiben müßten. Die Scheidung der Abschreibungen in jene
beiden Arten stößt aber praktisch auf große Schwierigkeiten, weil zahl-
reiche Anfragen bei den Gesellschaften notwendig sein würden und die
Beantwortung dieser Fragen nicht immer gern und sachgemäß erfolgen
würde, Bei dem von der Handelskammer zu Dresden und dem Kaiser-
lichen Statistischen Amt eingeschlagenen Verfahren wird der Reingewinn
eines Teiles der Gesellschaften infolge der Abzüge auch der außer-
ordentlichen Abschreibungen zu niedrig berechnet. Demgegenüber
kommt aber in Betracht, daß eine große Anzahl von Gesellschaften es
versäumt, ordentliche Abschreibungen in genügender Höhe vorzunehmen
und deshalb in ihren Bilanzen einen zu großen Reingewinn aufführt.
Hierdurch wird sich das Zuviel und Zuwenig wohl im allgemeimen
ausgleichen. Die Handelskammer zu Dresden und das Kaiserliche
Statistische Amt dürften deshalb zu annehmbaren Reingewinnbeträgen
für die einzelnen Gruppen und Gesellschaften und für die Gesamtheit
der Gesellschaften gelangen.
In den Bilanzen mancher Gesellschaften werden die Abschreibungen
92 Miszellen.
bei Immobilien nicht auf der Aktivseite vorgenommen, sondern es werden
als sogenannte Korrektivposten bestimmte „Erneuerungsfonds“ auf der
Passivseite gebildet. Die jährlichen „Zuschreibungen“ zu solchen „Er-
neuerungsfonds“ sind in der Statistik grundsätzlich den sonstigen Ab-
schreibungen gleichbehandelt und vom Reingewinnbetrag abgezogen,
falls es in der veröffentlichten Bilanz nicht bereits geschehen war.
Abschreibungen an uneinbringlich gewordenen Forderungen werden
in den Bilanzen nur höchst selten auf der Aktivseite vorgenommen.
Man schafft dafür auf der Passivseite lieber einen Korrektivposten mit
dem Namen „Delkrederefonds“ oder einer ähnlichen Bezeichnung. Die
jährlichen Zuschreibungen zu solchen Konten mußte das Kaiserliche
Statistische Amt folgerichtig auch von den Reingewinnbeträgen der
Bilanzen kürzen, wenn sie in ihnen noch enthalten gewesen sein sollten.
Auf die übrigen in der amtlichen Statistik zur Anwendung gelangten
Grundsätze kann hier nicht näher eingegangen werden. Die vorliegende
Darstellung soll nur mit den allgemeinen Grundzügen der Methode be-
kannt machen.
Es erwies sich aus mehreren Gründen als erwünscht, in der Reichs-
statistik auch die Höhe der Reserven zu ermitteln. Zunächst war dies
Selbstzweck. Außerdem mußte die Höhe des Unternehmungskapitals
(Aktienkapital 4 Reserven) ermittelt werden, weil mit diesem Betrage
dıe Jahreserträgnisse verglichen werden sollten. Zu dem Unternehmungs-
kapital durften nur die echten Reserven, nicht auch die unechten
hinzugezählt werden. Infolgedessen ergab sich schon aus diesem Grunde
die Notwendigkeit, die echten Reserven getrennt zu ermitteln, was
weiterhin zur Folge hatte, Zahlenangaben für die sogenannten unechten
Reservefonds überhaupt nicht zu bieten. Das Kaiserliche Statistische
Amt hat in Fällen, in denen das Vorliegen eines echten oder unechten
Reservefonds zweifelhaft war, stets Rückfragen bei den Gesellschaften
gehalten.
Pensions- und Unterstützungsfonds rechnet man in der einschlägigen
Literatur teils zu den echten, teils zu den unechten Reservefonds. Das Kaiser-
liche Statistische Amt brauchte hierzu nicht Stellung zu nehmen. Es
wollte derartige Fonds, wie in den Erläuterungen mitgeteilt, nicht mit
zum Unternehmungskapital hinzurechnen, weil solche Fonds nicht „frei-
werbendes Kapital“ sind. Solche Fonds sind getrennt ermittelt und
in den Beträgen der echten Reserven nicht mitenthalten. Dies ist
auch in den Tabellenüberschriften zum Ausdruck gebracht.
Die Höhe der sogenannten „stillen Reserven“, welche durch über-
mäßige Abschreibungen oder durch von vornherein zu niedrige Be-
wertung von Anlagen geschaffen werden, konnte das Statistische
Amt nicht ermitteln, weil ihre Beträge aus den Bilanzen nicht hervor-
gehen.
Das Kaiserliche Statistische Amt benutzte die Gelegenheit der Statistik
der Geschäftsergebnisse zugleich dazu, bestimmte Zahlen für die Ver-
schuldung der Aktiengesellschaften (d. h. der reinen Erwerbsgesell-
schaften unter ihnen) zu ermitteln. Zur Ergänzung der Statistik des
Miszellen. 93
Umlaufs der Pfandbriefe der Hypothekenbanken sollte in der hier be-
sprochenen Statistik der Umlauf der von den Aktiengesellschaften aus-
gegebenen Schuldverschreibungen (Obligationen) ermittelt werden. Der-
artige Ermittelungen erschienen um so erwünschter, als Zahlen hierüber
in bisherigen Statistiken Deutschlands und des Auslandes noch nicht
geboten worden waren. Die Pfandbriefe der Hypothekenaktienbanken
wurden in dieser Statistik nicht mit zu den Schuldverschreibungen
hinzugerechnet, weil die Pfandbriefe hier eine ganz andere Bedeutung
haben. Auch kam in Betracht, daß der Umlauf dieser Pfandbriefe vom
Kaiserlichen Statistischen Amte schon anderweitig — in der Hypotheken-
bankenstatistik — festgestellt wird. Eine Scheidung der hypothekarisch
gesicherten Obligationen der Aktiengesellschaften von den übrigen
konnte das Statistische Amt bei der erstmaligen Statistik noch nicht
vornehmen, weil die hypothekarische Sicherstellung der Obligationen
aus den Bilanzen nicht immer zu ersehen ist.
Für Hypotheken wurden gleichfalls Auszählungen vorgenommen,
um die Belastung des Grundbesitzes der Aktiengesellschaften kennen
zu lernen.
Um Unterlagen für die Feststellung der Rentabilität der Aktien-
gesellschaften vom Standpunkte des Aktionärs, der aus seiner Kapital-
anlage in Aktien Erträge erwartet, zu gewinnen, müßte man eigentlich
sämtliche Vorteile und Nachteile aus dieser Kapitalanlage zu ermitteln
suchen 1). Von den Vorteilen sind in erster Linie die Dividenden zu
nennen; außerdem kann ein Aktionär aber auch Einnahmen aus oft sehr
wertvollen Bezugsrechten und aus den heute nur noch in geringer Zahl
bestehenden Gründerrechten haben; auch Gewinne aus Fusionen und
Verstaatlichungen usw. sind hier aufzuführen. Verluste bei seiner
Kapitalanlage erleiden die Aktionäre, wenn Gesellschaften durch Zu-
saumenlegung des Aktienkapitals oder darüber hinaus noch durch Zu-
zahlungen auf das bisherige Aktienkapital einer Sanierung unterzogen
werden müssen. Verluste treffen den Aktionär meistens in ganzer Höhe
seiner Kapitalanlage, wenn die Gesellschaft in Konkurs geht. Bei der
Liquidation mancher Gesellschaften (namentlich Terraingesellschaften)
kommt der Aktionär freilich wieder zu seinem Gelde und macht über-
dies noch Gewinne. Bei zahlreichen Gesellschaften bedeutet aber auch
die Liquidation nicht viel mehr als ein Konkurs, so daß auch hier die
Aktionäre leer ausgehen.
Eine Statistik, welche sämtliche Aktionäreinnahmen und -ausgaben
gegeneinander abwägt, ist schwer durchführbar. Für die erstmalige
Rentabilitätsstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes konnte es
daher nur in Frage kommen, nur auf die Einnahmen der Aktionäre zu
achten und unter diesen lediglich die Dividendenbezüge festzustellen.
In diesem Umfange sind auch fast sämtliche bisher bekannt gewordenen
Rentabilitätsstatistiken aufgemacht. Nur die Statistiken von v. Körösy
1) Vgl. Moll, „Die Rentabilität der Aktiengesellschaften“, Abschnitt VIII,
8. 163—223.
94 Miszellen.
über die Budapester Aktiengesellschaften gingen hier über das übliche
Ziel hinaus.
Zu der Dividendensumme hat das Kaiserliche Statistische Amt auch
die sogenannten Extradividenden hinzugerechnet, die Gesellschaften unter
dieser Bezeichnung vereinzelt ausschütten, um erkennen zu lassen, daß
es sich um einen Betrag aus einem außerordentlichen Gewinn handelt,
dessen regelmäßige oder auch nur einmalige Wiederholung nicht zu er-
warten ist.
Ferner ist es in den letzten Jahren einige Male vorgekommen, daß
ein außerordentlicher Gewinn nicht als Dividende oder Extradividende
verteilt ist, sondern daß man das Aktienkapital erhöht und den Aktio-
nären unentgeltliche Aktien gewährt hat; hierbei wird dann der außer-
ordentliche Betrag, der den Aktionären zukommen soll, als ihre Ein-
zahlung auf das erhöhte Aktienkapital angesehen.
Die Dividendenstatistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes hat
dadurch, daß sie die Extradividenden und die Aktienbeträge für un-
entgeltlich gewährte Aktien zur Dividendensumme hinzuzählte, sicher-
lich an innerem Wert nur gewonnen.
Während in Bestands- und Bewegungsstatistiken fast ausschließlich
absolute Zahlen mitgeteilt werden und sich weniger die Gelegenheit
bietet, Verhältniszahlen zu berechnen, ist es in Rentabilitätsstatistiken
seit längerer Zeit üblich, gleichfalls Verhältniszahlen, die man hier
zweckmäßigerweise Rentabilitätsziffern nennt, zu bieten. Natürlich
lassen sich bei der Mannigfaltigkeit der aus Bilanzen zu entnehmenden
Zahlengrößen recht viele Verhältniszahlen berechnen. Diese können
wiederum nicht alle als gleichwertig nebeneinandergestellt werden, viel-
. mehr können nur einige von ihnen als zutreffende Ziffern für die Be-
zeichnung der Rentabilität angesehen werden.
Zunächst ist es üblich, die Dividende mit dem Prozentsatz anzu-
geben, der sich aus dem Verhältnisse von Dividendensumme zum
Aktienkapital ergibt. Wenn Aktien verschiedener Gattung (Stamm-
und Vorzugsaktien) nebeneinander bestehen, wird der prozentuale Dividen-
densatz verschieden angegeben. Auf den Zählkarten des Kaiserlichen
Statistischen Amtes wurde der Dividendensatz jedesmal außer der
Dividendensumme eingetragen.
Der Dividendensatz gibt die Rentabilität lediglich vom Standpunkte
des Aktionärs an. In den Tabellen der neuen Reichsstatistik ist die
Dividendensumme je einer Gruppe von Gesellschaften nicht mit dem
zugehörigen nominellen, auch nicht immer mit dem eingezahlten Aktien-
kapital verglichen, sondern wegen der vielfach mitten im Bilanzjahr
erfolgenden Kapitaländerungen mit dem sogenannten dividendeberechtigten
Aktienkapital. Bei Kapitalerhöhungen im Laufe des Bilanzjahres sind
nämlich die neuen Aktien nur mit demjenigen Bruchteil ihres Kapitals
als dividendeberechtigt berücksichtigt, der dem Bruchteil des Bilanz-
jahres entspricht, für den sie dividendeberechtigt erklärt sind. Aehn-
lich wurde ein vom nominellen und eingezahlten Aktienkapital ver-
Miszellen. 95
schiedenes dividendeberechtigtes Aktienkapital berücksichtigt, wenn im
Laufe des Bilanzjahres eine Kapitalherabsetzung stattgefunden hatte.
Die so berechnete Rentabilitätsziffer kann aber, wie das Kaiser-
liche Statistische Amt in den Erläuterungen zu seiner erstmaligen Arbeit
aussprach, nur einen ungefähren Anhalt für die sogenannte Aktienrente
des Aktionärs geben. Denn hierbei werden von den verschiedenen
Vorteilen, welche der Aktionär aus seiner Kapitalanlage in Aktien ge-
nießt, nur die Dividendenbezüge in Rechnung gestellt. Auf der anderen
Seite werden Aktionärverluste infolge von Liquidationen, Konkursen
der Gesellschaften, von Zusammenlegungen des Aktienkapitals usw. über-
haupt nicht bewertet. Außerdem ist zu beachten, daß der Betrag des
nominellen (eingezahlten oder dividendeberechtigten) Aktienkapitals nicht
demjenigen Betrage gleichkommt, den der einzelne Aktionär für den
Erwerb seiner Aktien tatsächlich angelegt hat. Da nun die statistische
Feststellung des Erwerbspreises hinsichtlich sämtlicher einzelnen Aktio-
näre nicht durchgeführt werden kann, so hat man in manchen privaten
und auch schon in einigen amtlichen Statistiken einen fingierten Er-
werbspreis auf Grund des Börsenkurses der Aktien derjenigen Gesell-
schaften festgestellt und zu weiteren Verhältnisberechnungen benutzt,
deren Aktien an Börsen zugelassen sind.
Derartige Berechnungen hat das Kaiserliche Statistische Amt in
seiner letzthin veröffentlichten Statistik noch nicht machen können.
Eine Kursstatistik für das Reich existiert heute noch nicht. Auch müßte
erst noch eingehend geprüft werden, der Kurs von welchem Tage oder
welcher Durchschnittskurs den Berechnungen zugrunde gelegt werden
müßte 1).
Um für die Feststellung der Rentabilität vom Standpunkte der
Gesellschaften selbst eine Rentabilitätsziffer zu bieten, hat
das Kaiserliche Statistische Amt zunächst das Jahreserträgnis der
einzelnen Gruppen von Gesellschaften mit dem zugehörigen (dividende-
berechtigten) Aktienkapital verglichen. Diese Ziffer konnte aber einen
getreuen Maßstab für die Rentabilität der Gesellschaften nicht abgeben,
weil neben dem Aktienkapital noch weiteres „arbeitendes Kapital“ vor-
handen ist. Das gesamte „arbeitende Kapital“ kann man eng oder
weit fassen. Tut man letzteres, so muß man außer den Reserven und
den Obligationen auch noch die Bankier- und sonstigen allgemeinen
und Warenschulden hinzurechnen. Würde man das „arbeitende Kapital“
so weit fassen, so dürfte man mit ihm nicht den Reingewinn, sondern
die Summe aus diesem und den Schuldenzinsen vergleichen. Derartige
Berechnungen können in einer Statistik, die zum großen Teil auf die
Beantwortungswilligkeit der Gesellschaften gestützt ist, nicht angestellt
werden. Die Bilanzen und Jahresberichte würden hier fast immer ver-
sagen.
Das Kaiserliche Statistische Amt hat seine weiteren Berechnungen
1) Vgl. die Erörterungen hierüber bei Moll, „Die Rentabilität der Aktiengesell-
schaften“, S. 154—161 und S. 218—222.
96 Miszellen,
mit Hilfe des sogenannten „Unternehmungskapitals“ gemacht. Nach
Maßgabe der Beschlüsse auf der mehrfach erwähnten Nürnberger Kon-
ferenz versteht es hierunter die Summe aus dem dividendeberechtigten
Aktienkapital und den echten Reserven, zu denen aber die Pensions-
und Unterstützungsfonds nicht hinzugezählt werden. Zur Abgrenzung
des neben dem Aktienkapital mitarbeitenden Kapitals wurde der Grund-
satz befolgt, daß man nur das nichtverzinsliche („freiwerbende“) Kapital
hinzurechnen darf. Die mit Hilfe des „Unternehmungskapitals“ er-
mittelte Verhältniszahl darf wohl als die wirkliche Rentabilitätsziffer
für die Geschäftsgebarung der Gesellschaften selbst betrachtet werden.
Wie oben schon kurz angedeutet, ist die Bearbeitung der Statistik
der Geschäftsergebnisse der deutschen Aktiengesellschaften nicht völlig
im Kaiserlichen Statistischen Amte zentralisierttr. Da das Königlich
Preußische Statistische Landesamt schon seit mehreren Jahren eine ähn-
liche Statistik für die preußischen Aktiengesellschaften bearbeitet, über-
nahm es die genannte preußische Behörde, die Erhebung hinsichtlich
der preußischen Gesellschaften nach den vom Kaiserlichen Statistischen
Amt aufgestellten und von der Nürnberger Konferenz gutgeheißenen
neuen Grundsätzen vorzunehmen und die Ergebnisse in Tabellen zwecks
Verwertung bei der Zusammenstellung der statistischen Ergebnisse für
das Reich dem Kaiserlichen Statistischen Amte zu liefern. Hin-
sichtlich der außerpreußischen deutschen Aktiengesellschaften wurden
die Bilanzen zentralisiert im letztgenannten Amte verarbeitet. Jedoch
übernahmen es die statistischen Zentralbehörden der außerpreußischen
Bundesstaaten, Rückfragen des Kaiserlichen Statistischen Amtes an die
Gesellschaften ihrer Staaten gelangen zu lassen und deren Antworten
zurückzusenden. —
Nachstehend seien noch einige Zahlenangaben aus den bis-
herigen Aktiengesellschaftsstatistiken des Kaiserlichen Statistischen
Amtes gemacht.
In seiner ersten, für den 31. Dezember 1906 aufgemachten Be-
standsstatistik der „tätigen“ Gesellschaften stellte diese Behörde
auf Grund der Angaben des „Handbuches der deutschen Aktiengesell-
schaften“ 5060 Aktiengesellschaften (einschließlich 108 Kommandit-
gesellschaften auf Aktien) mit dem Sitz innerhalb des Deutschen Reiches
fest. Diese Gesellschaften kann man als deutsche bezeichnen. Diese
5060 Gesellschaften hatten ein gesamtes nominelles Aktienkapital von
13848,61 Mill. M.; hiervon entfielen auf Stamm- oder einfache Aktien
13 449,03 und auf Vorzugsaktien 399,58 Mill. M. Auf die 5060 Ge-
schaften entfiel durchschnittlich ein nominelles Aktienkapital von
2736879 M. Unter den 5060 Gesellschaften waren 2814 mit
8686,04 Mill. M. nominellem Aktienkapital preußische, d. h. hatten ihren
Sitz innerhalb Preußens. Auf die 3 anderen Königreiche Bayern,
Sachsen und Württemberg entfielen 408, 440 und 158 Gesellschaften
mit 1018,45, 996,89 und 247,10 Mill. M. Aktienkapital.
Die Verteilung der („tätigen“) Gesellschaften auf die verschiedenen
Gewerbegruppen ergibt sich aus nachstehender Uebersicht.
Miszellen. 97
Zahl der Ge- Nominelles Aktienkapital
sellschaften Vor- S f
- ber- au
Gewerbegruppen dar. E El zuge- haupt | 1 Gesell-
über- Aktien schaft
unter
haupt k „A 1000 M. M.
1. Land- u. Forstwirtschaft 5 — 5412| — 5412| 1 082386
2, Tierzucht und Fischerei 17 =- 18720) — 18 720| ı 101 176
3. Bergbau, Hütten- und Salinen-
wesen 255 3 | 1251753| 59476| 1 311 209| 5 141 996
3a. Bergbau, Hüttenbetrieb,
Metall- u. Maschinenindustrie
miteinander verbunden 42| — 782 621 20230| 802 851|19 115 501
4. Industrie der Steine und Erden | 357 5 390 199| 26 661| 416 860| 1 167 675
5. Metallverarbeitung 127 I 188 083| 4795| 192878 15:8701
6. Industrie der Maschinen, In-
strumente u. Apparate 533 5 | 1 560 182) 64 291| 1724473) 3 235 409
7. Chemische Industrie 140 I 395 872| 7754| 403 626| 2 883 043
8. Industrie der Leuchtstoffe,
Beifen, Oele usw. 155 2 157 897| 4201| 162 198| 1046439
9. Textilindustrie 342 23 567 985| 13 448| 581 433| I 700 096
10, Papierindustrie 103 2 139 188| 4916| 144 104| 1399 068
11. Lederindustrie 58 2 100768| 4gıı 105 179| 1813 431
12. Holzindustrie 60 2 60980) 1335 62 315) 1 038 583
13, Industrie der Nahrungs- und
Genußmittel 904 7 995 337| 37 142| 1 032 479| 1 142 123
14. Bekleidungswerbe II — 13 150) — 12 150| I 195 455
15. Reinigungsgewerbe 68 — 18 630| 3326 21 956| 322876
16. Baugewerbe 39 — 73517| 5351 78 868| 2 022 267
17. Graphische Gewerbe 122 I 69 142| 1188 703301 576475
19. Handelsgewerbe 775 44 | 4308079) ıg9 161| 4427 240| 5 712 568
darunter Banken 480| 43 | 3735901| 2932| 3738833| 7 789 235
20. Versicherungsgewerbe 136 — 608 218| — 608 218| 4472 192
21. Verkehrsgewerbe 479 8 | 1397 0941119444, 1617 538| 3 376 906
22. Gast- und Schankwirtschaft 72 - 56 994 709 57703) 801436
23. Musik-, Theatergewerbe 39 I 16 458 377 16 835| 431667
24. Sonstige Gesellschaften (auch
gemeinnützige) 221 I 171 984| 1362| 173346) 784371
zusammen |5060 | 108 |13 449 031|399 578|13 848 609| 2 736 879
Bei der mit dem 1. Januar 1907 begonnenen Bewegungsstatistik
stellte das Kaiserliche Statistische Amt fest, daß sich in die erstmalige
Bestandsaufnahme (auf Grund des „Handbuchs“) einige Unstimmig-
keiten eingeschlichen hatten. Der Bestand der „tätigen“ Gesellschaften
am 31. Dezember 1906 wurde nachträglich (Vierteljahrshefte zur Stati-
stik des Deutschen Reichs 1907, II, S. 244) berichtigt und mit 5050 Ge-
sellschaften mit einem nominellen Aktienkapital von 13 767,67 Mill. M.
angegeben.
Außer den „tätigen“ Gesellschaften ermittelte das Kaiserliche
Statistische Amt gleichfalls für Ende 1906 343 „nichttätige“ Gesell-
schaften. Den Ermittelungen wurde in gleicher Weise das mehrerwähnte
„Handbuch“ zugrunde gelegt. Auch wurden die Zählkarten der Kon-
kursstatistik benutzt, wie oben mitgeteilt. Mit Hilfe dieser Unterlagen
wurden für Ende 1906 unter den 343 „nichttätigen“ deutschen Gesell-
Dritta Folge Bd, XXXTA (XCIV). 7
98 Miszellen.
schaften 268 Gesellschaften in Liquidation und 75 Gesellschaften in
Konkurs festgestellt. Das nominelle Aktienkapital dieser in einem
Nachverfahren befindlichen Gesellschaften betrug zur Zeit der Eröffnung
der Nachverfahren bei den 268 Gesellschaften in Liquidation 346,67
Mill. M. (darunter bei 3 Kommanditgesellschaften auf Aktien 4,67 Mill. M.)
und bei den 75 Gesellschaften in Konkurs 62,50 Mill. M. (darunter
bei einer Kommanditgesellschaft a. A. 60000 M.) Zahl und Aktien-
kapital der Gesellschaften in Liquidation sind nachträglich in 267 Ge-
sellschaften mit 345,50 Mill. M. Aktienkapital berichtigt. Unter den
Gesellschaften in Liquidation waren 35 Terraingesellschaften mit 90,78
Mill. M. Aktienkapital; derartige Gesellschaften treten aus mannigfachen
Gründen oft schon bald nach ihrer Begründung in Liquidation und
bilden deshalb eine besondere Art von Liquidationsgesellschaften.
Am Anfang seiner Jahresübersichten für die Bewegungsstatistiken
schreibt das Kaiserliche Statistische Amt jedesmal in Form einer kleinen
Tabelle den Bestand an „tätigen“ und „nichttätigen“ Gesellschaften
fort, so daß man den Bestand zu Ende jeden Jahres ersehen kann.
Hiernach waren vorhanden:
an „tätigen“ Gesellschaften
nominelles
Zahl Aktienkapital
in Mill. M.
Ende 1906 5050 13 767,67
„ 1907 5147 14 218,33
» 1908 5184 14 634,59
an Gesellschaften in Liquidation
Ende 1906 267 345,50
» 1907 283 308,34
„ 1908 297 366,60
an Gesellschaften in Konkurs
Ende 1906 75 62,50
a. ` 1907 79 51,91
„ 1908 80 50,98
Aus den bisher für 2%, Jahre veröffentlichten Bewegungs-
statistiken des Kaiserlichen Statistischen Amtes sind die nach-
stehenden Zahlen der Neugründungen entnommen. Hiernach sind Aktien-
gesellschaften (einschließlich Kommanditgesellschaften a. A.) gegründet:
nominelles Aktienkapitel
Zahl in 1000 M.
1907 1908 1909 1907 1908 1909
1. Vierteljahr 55 43 42 70409 47575 85065
2. ri 55 34 51 80068 48703 44414
3. a 55 37 58 54989 28747 61584
4. „ 52 37 . 55252 37503 .
217 151 e 260718 162528 É
Unter den Gründungen verdienen diejenigen hervorgehoben zu
werden, die unter Einbringung bestehender Unternehmungen erfolgen.
Durch derartige Umwandlungen entstanden neue Gesellschaften
n
Zahl Rn Leer
im Jahre 1907 118 182 755
» » 1908 72 81 955
Miszellen. 99
Kapitaländerungen fanden im Jahre 1907 bei 391 und im Jahre
1908 bei 349 Gesellschaften statt. 1907 erfolgten Kapitalerhöhungen
um 488090000 M., Kapitalherabsetzungen um 128369000 M.; der
Mehrbetrag der Erhöhungen über die Herabsetzungen war hiernach
im Jahre 1907 359 721 000 M. Für 1908 wurden Kapitalerhöhungen
um 453 650000 M. und Kapitalherabsetzungen um 49 839 000 M. fest-
gestellt; der Kapitalzuwachs aus diesen Kapitaländerungen des Jahres
1908 stellt sich auf 403 841 000 M. In Liquidation waren getreten 1907
58 und 1908 73 Gesellschaften mit 62 719000 bezw. 79 953 000 M.
nominellem Aktienkapital. Das Konkursverfahren wurde eröffnet 1907
gegen 23 und 1908 gegen 16 Gesellschaften mit 11889000 bezw.
10183000 M. Aktienkapital.
Interessante Aufschlüsse bietet die im September 1909 veröffent-
lichte Rentabilitätsstatistik über die Geschäftsergebnisse der
deutschen Aktiengesellschaften im Jahre 1907/08. Von den am 30. Juni
1908 vorhandenen 5166 Aktiengesellschaften (ausschließlich der in
Liquidation und in Konkurs befindlichen Gesellschaften) kamen für die
Rentabilitätsstatistik 4578 „reine Erwerbsgesellschaften“ in Be-
tracht. Denn auszuscheiden waren, wie oben des näheren ausgeführt, alle
Gesellschaften mit nichtwirtschaftlichen Zwecken, solche, die satzungs-
gemäß die Gewinnerzielung oder Dividendenverteilung ausschließen oder
beschränken, endlich solche, deren Bilanzen nicht oder lückenhaft ver-
öffentlicht wurden, ohne daß durch Rückfragen Aufklärung zu erzielen
war. Als Nebenleistungsgesellschaften wurden 113 Gesellschaften, als
Kartelle oder Syndikate weitere 11 Gesellschaften ausgeschieden. 201
Gesellschaften verteilten satzungsgemäß keine Dividende, beschränkten
diese auf einen Höchstsatz oder dienten nichtwirtschaftlichen Zwecken.
Die Zahl der Gesellschaften, welche das Kaiserliche Statistische Amt
bei seiner Rentabilitätsstatistik zur Erzielung einwandfreier Ergebnisse
glaubte außer Betracht lassen zu müssen, ist also nicht gering gewesen.
Die 4578 „reinen Erwerbsgesellschaften“ — sie sollen nachstehend
kurz Erwerbsgesellschaften oder Gesellschaften genannt werden —
hatten am Ende ihres Bilanzjahres, das also an einem der Tage zwischen
dem 1. Juli 1907 und dem 30. Juni 1908 abschloß, ein eingezahltes
Aktienkapital von 1278885 Mill. M. Hiervon: wurde unter Berück-
siebtigung der Kapitaländerungen im Laufe des Bilanzjahres ein
dividendeberechtigtes Aktienkapital von 12,663,74 Mill. M. berechnet;
von diesem wurde ein Betrag von 1118,95 Mill. M. als dividende-
beziehend ermittelt; auf diesen Betrag des gesamten Aktienkapitals der
Erwerbsgesellschaften wurden also Dividenden ausgeschüttet. Die echten
Reserven — ohne die getrennt ermittelten Unterstützungsfonds — be-
trugen 2660,66 Mill. M. = 20,8 Proz. des eingezahlten Aktienkapitals.
Das gesamte Unternehmungskapital der Gesellschaften, d. h. die Summe
aus dem dividendeberechtigten Aktienkapital und jenen echten Reserven,
belief sich auf 15 324,40 Mill. M., also rund 154, Milliarde M.
Die 4578 Erwerbsgesellschaften hatten für 2913,10 Mill. M. Schuld-
verschreibungen (Obligationen) begeben, um sich weiteres Betriebskapital
zu verschaffen. Jener Betrag ist also nicht weit von 3 Milliarden M.
k
100 Miszellen.
entfernt. Würde man zu dem ermittelten Betrag noch die Schuldver-
schreibungen derjenigen Gesellschaften, deren Bilanzen in der Renta-
bilitätsstatistik nicht berücksichtigt wurden, hinzurechnen, so würden
3 Milliarden wohl schon nahezu erreicht sein. Wie oben schon mit-
geteilt, hat das Kaiserliche Statistische Amt zu den Schuldverschreibungen
die Pfandbriefe der Hypothekenaktienbanken nicht mithinzugerechnet.
Der gesamte Umlauf der deutschen Hypothekenaktienbanken an Pfand-
briefen sowie an Kommunalschuldverschreibungen betrug am 30. Juni
1908 9306,04 Mill. M. (vergl. „Vierteljahrshefte zur Statistik des
Deutschen Reichs“ 1908, III, S. 113).
Die aus den Bilanzen ersichtlichen Hypothekenschulden der Er-
werbsgesellschaften beliefen sich auf zusammen 1127,16 Mill. M.
An Beamten- und Unterstützungsfonds wiesen die Bilanzen dieser
Gesellschaften den Betrag von 227,53 Mill. M. auf,
Die Summe der Passiven (ohne Gewinnsaldo) betrug 46 121,84
und die Summe der Aktiven (ohne Verlustsaldo) 47 467,78 Mill. M.
Die 4578 Erwerbsgesellschaften des Deutschen Reiches verteilten
sich natürlich sehr ungleichmäßig auf die verschiedenen deutschen Bundes-
staaten. Es entfielen z. B. auf Preußen 2593, auf Bayern 382, auf das
Königreich Sachsen 420 und auf Württemberg 136.
Die Taballe „Hauptübersicht der Geschäftsergebnisse der reinen
Erwerbsgesellschaften“ teilt die Gesellschaften je nach dem Ausfall
ihres (durch Ausscheidung der Gewinn- und Verlustvorträge aus dem
Vorjahr ermittelten) Jahreserträgnisses in 3 Klassen, nämlich
a) Gesellschaften mit Jahresgewinn 3906
b) í „ Jahresverlust 598
c) i ohne Jahresgewinn oder -verlust 74
zusammen 4578
Es betrug das dividendeberechtigte Aktienkapital der Gesell-
schaften
zu a) 11 833,10 Mill. M.
» b) 755,77 LH Hi
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Bei den Gesellschaften zu a) belief sich der Jahresgewinn auf
1351,38 und bei denen zu b) der Jahresverlust auf 71,44 Mill. M., so
daß der Jahresmehrgewinn von sämtlichen 4578 Erwerbsgesellschaften
1279,94 Mill. M. betrug. Wenn man diesen Ertrag mit dem dividende-
berechtigten Aktienkapital vergleicht, so ergibt sich eine (vom Stand-
punkte der Gesellschaften selbst berechnete) Rentabilitätsziffer von
10,1 Proz. Wenn man zweckmäßigerweise das gesamte Unternehmungs-
kapital (Aktienkapital echte Reserven) zum Vergleich heranzieht, so
ergibt sich als wirkliche Rentabilitätsziffer statt 10,1 nur 8,4 Proz.
Nur die letztere Ziffer wird vom Kaiserlichen Statistischen Amt als
einwandfreie Verhältniszahl für die finanzielle Gebahrung der Gesell-
schaften selbst betrachtet.
Um die Geschäftsergebnisse der Gesellschaften vom Standpunkte
der Aktionäre kennen zu lernen, ermittelt man die Höhe der aus
den Reingewinnen der Gesellschaften ausgeschütteten Dividenden, die
101
Miszellen.
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102 Miszellen.
den Aktionären zufließen. Die Dividendensumme der 3425 von 4578
Erwerbsgesellschaften betrug 1022,60 Mill. M. Auf das dividenden-
berechtigte Aktienkapital aller 4578 Gesellschaften macht dies
8,1 Proz. aus.
Weitere Aufschlüsse gibt die vorstehende Tabelle Sie teilt die
Gesellschaften in die großen Gewerbegruppen. Nur für das Handels-
gewerbe sind auch die Zahlen für die wichtige Gewerbeart dieser
Gruppe, für die Banken, aufgenommen. —
Im Anschluß hieran seien auch einige Zahlenangaben aus der
Rentabilitätsstatistik gemacht, welche das Königlich Preußische
Statistische Landesamt (Referent Reg.-Rat Prof. Dr. Kühnert)
bereits seit einigen Jahren regelmäßig im „Statistischen Jahrbuche für
den Preußischen Staat“ veröffentlicht.
Im Jahrgang 1908, der im Februar 1909 erschien, befindet sich
die Rentabilitätsstatistik für das Bilanzjahr 1907. Der Be-
richtszeitraum ist hier etwas anders gewählt als in der Statistik des
Kaiserlichen Statistischen Amtes. In der preußischen Statistik für
1907 sind z. B. die Gesellschaften mit denjenigen Bilanzen berück-
sichtigt, welche ihren Abschlußtag im Kalenderjahr 1907 hatten. Diese
äußere Abgrenzung des Berichtszeitraumes hängt mit der Vorfrage zu-
sammen, zu welcher Zeit eine Jahresstatistik veröffentlicht werden soll.
Zweckmäßigkeitsgründe sind hier maßgebend.
Die Aktiengesellschaftsstatistik des Preußischen Statistischen Landes-
amts, deren innerer Wert dadurch gewinnt, daß die Ergebnisse schon
für mehrere Jahre vorliegen und deshalb zu Vergleichen benutzt werden
können, scheidet sich nicht in gleicher Weise wie die Statistik des
Kaiserlichen Statistischen Amtes in getrennte Statistiken für den Be-
stand, die Bewegung und die Rentabilität. Dieser Umstand hat es
mit sich gebracht, daß in der preußischen Statistik sämtliche vorhandenen
Gesellschaften auf ihre Rentabilität untersucht werden, während in der
Statistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes zwar der Bestand und
die Bewegung hinsichtlich sämtlicher vorhandenen Gesellschaften, aber
die Rentabilität nur bezüglich der reinen Erwerbsgesellschaften ermittelt
wird; die Gründe, welche im Kaiserlichen Statistischen Amte für die
Ausscheidung einer größeren Anzahl von Gesellschaften bei der Unter-
suchung der Rentabilität bestimmend waren, sind oben mitgeteilt.
Die preußische Statistik für 1907 zählt 2746 Aktiengesellschaften
auf, von denen 48 Kommanditgesellschaften auf Aktien waren. Im
Bilanzjahr 1907 erzielten sie einen Jahresmehrgewinn von 928,81 Mill. M.
Das macht auf das eingezahlte Aktienkapital von 8569,52 Mill. M.
10,8 Proz. Für 1906 lautete die entsprechende Ziffer 11,2 Proz.
Von den 2746 Gesellschaften verteilten 1907 nur 1963 Gesell-
schaften Dividende, deren Gesamtbetrag 716,96 Mill. M. betrug. Ver-
gleicht man letzteren Betrag mit dem dividendenberechtigten Aktien-
kapital — 8382,44 Mill. M. — sämtlicher Gesellschaften, so ergibt sich
für den Aktionär eine Rentabilitätsziffer von 8,6 Proz. gegenüber
8,4 Proz. im Jahre 1906. —
Miszellen. 103
III.
Die Wohlfahrtseinrichtungen des Kreises Worms,
Von Dr. E. Kesten.
Die Aufgaben des Staates erweitern sich von Jahr zu Jahr. Hatte
er seine Wohlfahrtspflege zunächst hauptsächlich den Städten zugewandt
und vorwiegend denen mit umfassender industrieller Bevölkerung, so
kommt er allmählich zu der Erkenntnis, daß auch das Land seiner
besonderen sozialen Fürsorge bedarf, daß dort nicht alles den Arbeit-
gebern überlassen werden kann und zum Teil die selbständigen Land-
wirte selbst der besonderen staatlichen Hilfe nicht entraten können.
Daß die Regierungsbehörden nicht schon früher ihre soziale Arbeit
auf das Land ausgedehnt haben, liegt daran, daß die Mißstände dort
meist nicht so drückende oder doch wenigstens nicht so in die Augen
springende sind und daß andererseits dort die Durchführung der Wohl-
fahrtspflege der verstreut wohnenden Bevölkerung und auch des kon-
servativen Sinnes derselben halber auf besondere Schwierigkeiten stößt.
Der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege
hat im Jahr 1906 eine Umfrage bei den preußischen Kreisverwaltungen
hinsichtlich deren sozialer Fürsorge veranstaltet und dadurch den Beweis
erhalten, daß sie fast sämtlich in irgend einer Weise auf diesem Gebiet
tätig sind. Von den 484 Landkreisen der Monarchie und den 4 Ober-
ämtern in den hohenzollernschen Landen sind nur 12 eine Antwort
schuldig geblieben und gaben 35 eine verneinende Auskunft. Daß es
nicht nur die preußischen Kreise sind, welche lebhaft soziale Fürsorge
treiben, ist bekannt, doch soll hier an einem besonderen Beispiel aus
Hessen gezeigt werden, wie ein Kreis von einem ganzen Netz von
Fürsorgeeinrichtungen übersponnen werden kann, von einem Netz, dessen
Maschen alle miteinander auf engste verknüpft sind.
Der leitende Gedanke in diesem Werk das fast ganz innerhalb
weniger Jahre von dem derzeitigen Kreisrat, Geh.-Rat Dr. Kayser
geschaffen wurde, war erstens die Bekämpfung der Landflucht durch
Verpflanzung städtischer Einrichtungen auf das Land, dann die Hebung
des Wohlstandes und vor allem auch die des Gesundheitszustandes, der
sich als durchaus nicht besser als in der Stadt erwiesen hatte.
Hebung der wirtschaftlichen Verhältnisse.
Die Grundlage für das körperliche und geistige Gedeihen des
Volkes bietet ohne Zweifel seine wirtschaftliche Lage. Nur bei einer
104 Miszellen.
einigermaßen auskömmlichen Existenz der Mehrzahl der Bewohner wird
an eine kulturelle Hebung gedacht werden können.
Der Kreis Worms umfaßt einen außerordentlich fruchtbaren Land-
strich, auf dem Getreide, Weinreben und Zuckerrüben vorzüglich ge-
deihen und den Hauptertrag liefern. Daneben spielt auch der Gemüse-
bau eine wesentliche Rolle, zumal der der Spargeln und Gurken.
Seit der Wende des 18. Jahrhunderts, da Napoleon den Adel
vertrieben und dessen umfangreiche Ländereien zerschlagen hat, gibt
es dort nur Groß- und Kleinbauern. Die Bebauung ist aber eine außer-
ordentlich intensive, und jedes Fleckchen wird zur Anpflanzung aus-
genutzt; ja man sieht häufig noch Obstbäume mitten in den Getreide-,
Rüben- und Kartoffelfeldern stehen. Wiesen, die zur Zeit des Großgrund-
besitzes einen bedeutenden Teil der Fläche in Anspruch nahmen, sind
jetzt kaum noch vorhanden. Der Kreis ist sehr dicht bevölkert; ein-
schließlich der Stadt Worms kommen auf den Quadratkilometer 248,3,
im Landkreis allein 135,8 Einwohner.
Um die wirtschaftliche Tüchtigkeit der jungen Generation zu heben,
wurde für den Kreis und dessen Umgebung eine landwirtschaft-
liche Winterschule mit zweijährigem Kursus eingerichtet, zu der die
Kreiskasse einen jährlichen Beitrag von 2000 M. steuert. Der Unterricht
liegt in den Händen von Fachleuten. Zum Lehrkörper gehören zwei
Landwirtschaftslehrer, von denen der eine die Leitung der Schule über-
nommen hat, ferner der Kreisobstbauinspektor, der Kreisveterinärarzt,
ein Geometer, ein Reallehrer und drei Elementarlehrer.
Die Unterabteilung gewährt den Schülern Unterricht in Chemie,
Physik, Botanik, Zoologie, Tierzucht und Ackerbau; ferner Geometrie,
Rechnen, Deutsch und Zeichnen. In der Oberstufe wird ein Teil der
vorgenannten Fächer weitergeführt und Tierheilkunde, Betriebslehre,
Obst- und Weinbau, Feldmessen und Buchführung neu eingefügt. Der
Unterricht wird zwischen 1/),9 und 5 Uhr erteilt mit 11/,-stündiger
Mittagspause. Im Winter 1908—1909 war die Schule von 43 Schülern
besucht, die im Alter zwischen 15 und 23 Jahren standen. Die über-
wiegende Mehrzahl der Schüler pflegt beide Abteilungen durchzumachen.
In vielen der auf Grund des Gesetzes über das Volksschulwesen
überall eingerichteten Fortbildungsschulen wird auch Unterricht in
landwirtschaftlichen Fächern erteilt.
Von hoher Bedeutung für die Förderung der Obst- und Gemüse-
kultur ist die Anstellung eines Kreisobstbautechnikers geworden,
dem außer der Aufsicht über die Pflanzungen des Kreises an den Kreis-
straßen auch die über die Gemeindepflanzungen übertragen ist. Ein
wichtiger Teil seiner Tätigkeit besteht ferner in Vorträgen mit Demon-
strationen, die er an den verschiedenen Landorten zur Belehrung der
Bevölkerung abhält. Das Feldschutzpersonal unterweist er in der Er-
kennung und Bekämpfung von Obstbaumschädlingen, und die Aus-
bildung von Baumwarten hat er übernommen. Im August und September
pflegt der Obstbautechniker 3—5-tägige Obst- und Gemüseverwertungs-
kurse für Frauen und Mädchen abzuhalten. Im letzten Jahr fanden
solche in fünf verschiedenen Landorten statt und wurden von insgesamt
155 Frauen besucht. Diese Kurse sind unentgeltlich.
Miszellen. 105
Auch die praktische Mitwirkung bei der Bekämpfung der Obst-
und Weinbauschädlinge gehört zu den Öbliegenheiten des Obstbau-
inspektors.
Je einen Tag im Oktober und November veranstaltet er in Worms
einen Obst- und Kartoffelmarkt, den die Landbevölkerung mit ihren
besten Produkten beschickt zum direkten Verkauf oder als Proben für
weitere Bestellungen. Auch sonst befaßt er sich mit Verkaufsvermittlung,
mit Verlosung von Obstbäumen, landwirtschaftlichen Geräten u. dgl.
Um das Interesse für Obst- und Gemüsekultur besonders anzuregen,
ist für den Kreis ein Obst- und Gartenbauverein gegründet worden mit
dem Großherzoglichen Kreisrat als Vorsitzenden. Der Verein zählt über
1200 Mitglieder. Durch Bezug von Obstbäumen und Edelreisern im
großen, die der Obstbauinspektor besorgt, verfolgt er die sich gestellte
Aufgabe, sorgfältig bei der Auswahl neu anzupflanzender Obstsorten vor-
zugehen und die bereits vorhandenen zu veredeln. Lokale und selbst
internationale Ausstellungen wurden von Vereinsmitgliedern mit Obst
beschickt.
Gleichfalls im Interesse des Obstbaues, wie auch im Interesse der
Vögel selbst wurde vor mehreren Jahren von dem Großherzoglichen
Kreisrat ein Vogelschutzverein ins Leben gerufen, der zurzeit fast 1200
Mitglieder zählt.
In einer Anzahl von Landorten ernährt sich ein Teil der Be-
völkerung mit Korbflechten. Teils als Hausindustrielle, teils als Heim-
arbeiter. Um den kleinen, selbständigen Leuten den Bezug von Weiden
zu erleichtern und zu verbilligen, wurde eine Weidenbaugenossen-
schaft gebildet, die den Anbau von Weiden im großen betreibt.
In die Einrichtungen zur wirtschaftlichen Förderung der Bevölkerung
reiht sich auch die Haushaltungs- und Kochschule für schul-
entlassene Mädchen ein. Diese wurde 1906 in Worms begründet und wird
von dem Kreis und der Stadt gemeinsam unterhalten, da das nur eine
Mark monatlich betragende Schulgeld und die für die Mittagsmahlzeit
angerechneten 20 Pf. die Betriebskosten nicht decken, zumal der Unter-
richt wie das Essen für Unbemittelte ganz frei ist und diesen außerdem
noch die Eisenbahnfahrt vergütet wird. Neben dem Kochunterricht,
der an den Vormittagen stattfindet und an kleine Gruppen von 12—18
Schülerinnen erteilt wird, gehört auch Hand- und Maschinenähen,
Flicken, Stopfen, Bügeln, sowie auch Gesundheitslehre zu den Lehr-
fächern, denen der Nachmittag eingeräumt ist. Für Frauen, die Tags
über in Anspruch genommen sind, werden besondere Abendkochkurse
abgehalten. Der Kochunterricht ist für sehr einfache Verhältnisse zu-
geschnitten, im Durchschnitt darf das Mittagessen den Preis von 20 Pf.
nicht übersteigen. Auch die Zubereitung von Krankenkost wird gelehrt.
Die Schule findet offenbaren Beifall, worauf die dauernd wachsende
Zahl von Teilnehmerinnen hinweist, die des Öfteren zwei Kurse hinter-
einander besuchen. Die Mehrzahl stammt aus der Stadt Worms, da
den Landbewohnerinnen die regelmäßigen Eisenbahnfahrten doch zu
beschwerlich erscheinen und im Sommer die weiblichen Arbeitskräfte
zu dringend gebraucht werden. Leider kommt die Haushaltungsschule
überhaupt noch nicht allen denen in genügendem Maße zugute, für die
106 Miszellen.
sie gedacht ist, ja sie wird am wenigsten von den Bevölkerungskreisen
aufgesucht, für die sie in erster Linie eingerichtet wurde, die einfachen
Land- und Fabrikarbeitertöchter. Hier ist die Kurzsichtigkeit der Eltern
im Wege, welche verlangen, daß ihre Töchter sofort nach Verlassen
der Schule etwas verdienen. Eine Ueberwindung dieser Kurzsichtigkeit
wird allein durch Einführung des obligatorischen Haushaltungsunterrichts
ganz gelingen, die in absehbarer Zeit kommen muß, wenn ihr jetzt auch
noch manche Widerstände und zumal pekuniäre Schwierigkeiten ent-
gegenstehen.
Zum wirtschaftlichen Gedeihen eines Gemeinwesens gehört auch
ein geordnetes Finanzwesen; deshalb ist vom Kreis ein besonderer
Rechnungsrevisor bestellt, dem es obliegt, die Kassen der Ge-
meinden, Kirchen und Stiftungen, sowie der Invaliden- und Kranken-
versicherungsstellen in bestimmten Zwischenräumen zu revidieren. Ein
solcher Beamter, für einen Kreis angestellt, ist noch eine Ausnahme-
erscheinung, er ist aber von unschätzbarem Wert und seine Besoldung
macht sich reichlich bezahlt.
Zur Schaffung einer elektrischen Zentrale für die Provinz
Rheinhessen haben sich auf Veranlassung des Kreisrats des Kreises
Worms sämtliche 39 Landgemeinden des Kreises mit 78 anderen gegen
Ende des verflossenen Jahres zu einem Verband zusammengeschlossen.
Dieses im Kreise Worms zu errichtende Werk wird jedem Geschäfts-
wie Privatmann elektrische Kraft für Beleuchtung zum Preis von
40 Die pro Kilowattstunde liefern, für Motorbetrieb von 25 Die. und
für Koch- und Heizzwecke von 12 Pfg. Zu ähnlich billigen Preisen
werden auch die Gemeindebeleuchtungen eingerichtet werden.
Hebung der gesundheitlichen Verhältnisse.
Kommen schon manche Einrichtungen, die in erster Linie der
wirtschaftlichen Hebung der Bevölkerung dienen sollen, auch deren Ge-
sundheit zugute, wie z. B. die Haushaltungsschule, so hat doch die
Kreisverwaltung der Förderung hygienischer Verhältnisse ihr besonderes
Augenmerk zugewandt.
Die Versorgung der Landorte mit gutem Leitungswasser ist
da vor allem zu nennen. 24 der 39 Landgemeinden des Kreises sind
zu einem Wasserversorgungsverband zusammengeschlossen und haben
eine gemeinsame Wasserleitungsanlage geschaffen, die von den meisten
Familien der beteiligten Orte in Anspruch genommen wird. Zwei
weitere Gemeinden gehören zu einem anderen Verband und vier haben
eine eigene Leitung, so daß nur noch neun Dörfer auf Brunnen an-
gewiesen sind.
Die Nahrungsmittelkontrolle die sich in den Städten in
ausgedehntem Maß zu finden pflegt, ist im Kreise Worms auch auf das
Land ausgedehnt. Zu Beginn des Jahres 1909 wurde der zwischen
dem Kreisamt Worms und dem chemischen Untersuchungsamt der Stadt
Worms seither bestandene Vertrag dahin abgeändert, daß der Kreis
jährlich 900 M. für die Ausübung der Lebensmittelkontrolle in den
Miszellen. 107
Landgemeinden zu zahlen sich verpflichtete. Nach $ 2 dieses Ver-
trages hat sich diese Kontrolle „auf sämtliche handelsübliche Nah-
rungs- und Genußmittel, sowie Gebrauchsgegenstände zu erstrecken, so-
weit solche den allgemeinen oder besonderen gesetzlichen Bestimmungen
unterworfen sind oder deren Untersuchung angeordnet wird“.
Um das Publikum vor ungesunder Milch zu bewahren, wurde eine
Milchverkaufsordnung erlassen, die seit April 1907 in Kraft ist.
Abgesehen von der Anzeigepflicht der Milchverkäufer, legt sie
diesen auch nach den verschiedensten Richtungen Beschränkungen auf.
Vor allem müssen die Kühe absolut gesund sein und darf die Milch
nur in unverfälschtem, sauberem, unverdorbenem Zustand zum Verkauf
kommen. Einige Paragraphen beschäftigen sich auch mit den Räumen
und Gefäßen, in welchen die Milch aufbewahrt wird, ebenso mit den
Persönlichkeiten, welche das Melken besorgen, oder sonst mit der Milch
unmittelbar in Berührung kommen.
Sehr streng und eingehend sind die Vorschriften in bezug auf Her-
kunft und Behandlung von Milch, welche als „Kur“-, „Kinder“- und
„Gesundheitsmilch“ oder ähnlich bezeichnet wird.
Die Anstalten zur Gewinnung von Kindermilch, sterilisierter und
pasteurisierter Milch, von medizinisch-diätetischen Milchpräparaten unter-
stehen der fortdauernden Beaufsichtigung der mit der Ueberwachung
des Nahrungsmittelgesetzes betrauten Behörden, die sich hierbei nament-
lich der Mitwirkung ärztlicher Sachverständiger zu bedienen haben.
In ähnlicher Weise sind Polizeiverordnungen erlassen, welche die
Einrichtung und den Betrieb von Bäckereien und von Mineral-
wasserfabriken, dann auch von Bierpressionen so regeln, daß
allen hygienischen Anforderungen genügt wird.
Ganz besonderes Interesse wird der Wohnungsfrage zuge-
wendet aus der Erkenntnis, daß diese für das körperliche Wohlbefinden
von höchster Bedeutung ist.
Um Baulustigen in jeder Weise mit Rat zur Seite zu stehen, so-
wohl was die Zweckmäligkeit wie auch den ästhetischen Eindruck der
Wohnhäuser betrifft, sind Bausprechstunden eingerichtet worden,
in denen der Großherzogliche Kreisbauinspektor Rat erteilt und auf
Wunsch auch Entwürfe zu Kleinwohnungen zur Verfügung stellt, beides
unentgeltlich jedem, der ihn darum angeht. Zur besonderen Anregung
und Bildung des Geschmacks wurden die aus einem vom Hessischen
Zentralverein für Errichtung billiger Wohnungen veranlaßten Wett-
bewerb hervorgegangenen, mustergültigen und preisgekrönten Entwürfe
zu Häusern mit kleinen Wohnungen ausgestellt.
Zur Förderung gemeinnütziger Bauvereine hat die Kreiskasse
Mittel zur Verfügung gestellt.
Durch das hessische Gesetz von 18931) betreffend Wohnungs-
aufsicht und das dieses ergänzende von 1902?) betreffend Wohnungs-
1) Gesetz die polizeiliche Beaufsichtigung von Mietwohnungen und Schlafstellen
betr., vom 1. Juli 1893.
2) Gesetz die WWohnungsfürsorge für Minderbemittelte betr., vom 7. August 1902.
108 Miszellen.
fürsorge ist den Verwaltungsbehörden eine besondere Handhabe zur
Verbesserung der Wohnungsverhältnisse gegeben. Diese Gesetze ordnen
die Beaufsichtigung von sämtlichen Mietwohnungen, Schlafstellen und
Schlafgelegenheiten von Lehrlingen, Gesellen und Dienstboten an, ferner
von allen Eigenwohnungen, die nicht mehr als drei Wohnräume und
Küche umfassen. Zur Durchführung derselben wurde ein System einer
Wohnungsbeaufsichtigung geschaffen, das in dem Landeswoh-
nungsinspektor in Darmstadt gipfelt. In jedem Ort des hessischen
Großherzogtums, von den Städten herab bis zu den kleinsten Flecken,
ist je ein Ortswohnungsinspektor bestellt, der sämtliche Wohn-
gelegenheiten der vorerwähnten Art zu beaufsichtigen hat. Meist wird
dieser Posten ehrenamtlich bekleidet, nur in den größeren Städten ist
ein besoldeter Beamter dafür angestellt. Diese in den Landgemeinden
durch lokale Beziehungen gebundenen, ortseingesessenen Wohnungs-
inspektoren vermochten jedoch die Wohnungsverhältnisse nur wenig zu
fördern, deshalb stellte die Verwaltungsbehörde des Kreises Worms im
Herbst 1908 eine akademisch gebildete Frau als Kreiswohnungs-
inspektorin für 39 Landorte an; die erste in Deutschland. Der
Gedanke, einen solchen Posten zu schaffen, ging von dem Großherzog-
lichen Kreisrat, Geheimrat Dr. Kayser aus, der hiermit einen weit-
ausschauenden Plan verband. Nicht Wohnungsaufsicht allein sollte die
eingestellte weibliche Kraft treiben, sondern vor allem auch Woh-
nungspflege, d. h. die Bevölkerung lehren aus den Wohnungen,
die ihr nun einmal zu Gebote stehen, das Bestmögliche zu machen, sie
richtig zu benutzen und ordentlich und sauber zu halten. Außerdem
sollte sich ihr Tätigkeitsgebiet über die gesamte soziale Fürsorge er-
strecken, zumal soweit sich diese mit der weiblichen Bevölkerung be-
faßt; im Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit und die
Tuberkulose soll sie eifrig mitwirken, gemeinsam mit den Persön-
lichkeiten und Institutionen, von denen später noch die Rede sein wird.
Auch auf das Wohl der in den Gemeinden angestellten Kranken-
schwestern hat sich ihre Fürsorge zu erstrecken. Die Einrichtung
eines solchen Aufsichts- und Fürsorgeorgans, welche das Sichindiehände-
arbeiten der verschiedenartigen Wohlfahrtsbestrebungen vermittelt, hat
sich entschieden bewährt und verdient Nachahmung.
Da die Säuglingssterblichkeit auch in Rheinhessen eine
bedenklich große ist, so hat man Merkblätter über Pflege und Er-
nährung des Kindes und auch über die Pflege von Wöchnerinnen auf
Kreiskosten drucken und sie bei Anmeldung von Geburten von dem
betreffenden Standesbeamten verteilen lassen.
Für die Sicherstellung der Wöchnerinnen gegen An-
steckung durch die Hebammen ist viel getan, ebenso ist viel geschehen
zur Besserung der pekuniären Lage der letzteren. Hat eine Hebamme
eine Kindbettfieberkranke gepflegt, so muß sie sich im Krankenhaus
zu Worms einer Desinfektion unterziehen, die Kosten derselben, wie
auch die der zu diesem Zweck notwendigen Bäder, der Desinfektion
der Effekten und Instrumente werden von den Gemeinden bezahlt;
ebenso die Vergütung der Reisespesen. Auch alle von der Hebamme
Miszellen. 109
bei Ausübung ihres Berufs benutzten Utensilien, Desinfektionsmittel,
Verbandstoffe etc. werden von den Gemeinden geliefert, um die Ver-
wendung minderwertigen Materials zu vermeiden. Die Teilnahme an
den Wiederholungskursen und den zu ihrer Fortbildung abgehaltenen
ärztlichen Vorträgen wird den Hebammen des Kreises dadurch er-
leichtert, daß ihnen aus den (Gemeindekassen Tagegelder gewährt
werden. Eine Zeitung und ein Kalender für Hebammen wird ihnen
unentgeltlich geliefert.
Zur Hebung der materiellen Lage dieser Frauen wurden im Jahre
1901 alle die, welche unter 40 Jahre alt waren bestimmt, freiwillig
der Invalidenversicherung beizutreten. Sämtliche Versicherungsbeiträge
werden von den betreffenden Gemeinden getragen. Für diejenigen,
welche in jene Versicherungen nicht aufgenommen werden konnten,
wurde ein Unterstützungsfonds aus Kreismitteln gegründet, zu dem die
Kreiskasse jährlich 250 M. beisteuert. Nach Inkrafttreten des hessischen
Gesetzes betreffend die Fürsorgekasse!) für Gemeinde-Beamte und Be-
dienstete am 1. Januar 1909 wurden die hauptberuflich im Dienst der
Gemeinden tätigen Hebammen zum Beitritt in diese veranlaßt, da sie
in ihren Leistungen über die Invalidenversicherung hinausgeht und
diese in gewissem Sinne einschließt.
Eine Versicherung gegen Krankheit auf öffentliche Kosten ist im
Gange, und die meisten der Frauen gehören dem Kreis-Hebammenverein
an, der unter anderem auch eine Krankenunterstützungskasse hat.
Bei der Erteilung von Konzessionen an Hebammen wird mit großer
Vorsicht vorgegangen und nur eine beschränkte Zahl erteilt.
Im Jahre 1902 wurde für die Landgemeinden des Kreises ein
Schularzt bestellt, der für seine Bemühungen jährlich 1200 M. aus
der Kreiskasse erhält. Ihm liegt vor allem die Revision der Schul-
gebäude nebst Nebenanlagen ob, dann die Untersuchung der Kinder in
der Schule. Die Zahl der bei der Besichtigung der Schulräume zu er-
hebenden Anstände verringert sich von Jahr zu Jahr; auch die vor-
geschriebene tägliche feuchte Reinigung der Schulräume wird eingehalten.
In den 39 Gemeinden bestanden zu Beginn des Schuljahres 1907/1908
137 Klassen mit zusammen 7777 Schülern. Die Schulanfänger werden,
meist im Beisein ihrer Mütter, in jeder Beziehung auf ihren Gesundheits-
zustand untersucht. Die Untersuchung der größeren Kinder erstreckt
sich vor allem auf deren Reinlichkeitszustand und das Vorhandensein
von Ungeziefer, auf den Zustand der Zähne und sonstige bereits be-
kannte oder vom Lehrer neu angegebene kraukhafte Erscheinungen.
Bei Gelegenheit dieser Untersuchungen ist der Schularzt stets bemüht,
belehrend auf die Kinder resp. die Mütter einzuwirken. Auffallend tritt
bei diesen Besichtigungen der Einfluß des Lehrers auf die Reinlichkeit
der Kinder zutage; wo dieser darüber wacht, findet der Arzt kaum nach
dieser Richtung etwas auszusetzen.
Der Schularzt stellt nur Tatsachen fest, er behandelt die Kinder
11 Gesetz betr. die Fürsorgekasse für die Beamten und Bediensteten der Land-
semeinden und Kommunalverbände vom 29. Juli 1908.
110 Miszellen.
nicht, sondern beschränkt sich darauf, gegebenenfalls die Eltern auf die
Notwendigkeit ärztlicher, zumal spezialärztlicher Behandlung hinzuweisen.
Im Berichtsjahr 1908 veranlaßte er 112 Anträge auf spezialärztliche Be-
handlung armer Schulkinder. In 76 dieser Fälle übernahm der Kreis
die Kosten dafür, für die er jährlich 1500 M. in seinen Etat einstellt,
in 33 Fällen versagten die Eltern ihre Zustimmung, in 4 Fällen wurde
der Antrag auf Uebernahme der Kosten durch die Kreiskasse wegen
günstiger Vermögenslage der Eltern abgelehnt.
Hält der Schularzt die Teilnahme von Kindern an Solbadekuren
oder Ferienkolonien, oder die Aufnahme in eine Heilanstalt für wünschens-
wert, so stellt er einen entsprechenden Antrag. Im letzten Jahr wurde
86 Kindern aus den Landgemeinden ein vierwöchentlicher Erholungs-
aufenthalt ermöglicht, dessen Kosten wiederum der Kreis fast allein ge-
tragen; sie beliefen sich auf 6000 M. Vor der Abreise und nach der
Rückkehr pflegt der Schularzt die Kinder zu besichtigen; er hat noch
fast immer eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes kon-
statieren können. Sache der Kreiswohnungsinspektorin und der Ge-
meindeschwestern ist es dann, die Eltern dazu zu bringen, daß sie
ihre aus dem Erholungsaufenthalt heimkehrenden Kinder weiter ge-
sundheitsgemäß halten, damit die errungenen Erfolge nicht gleich
wieder verloren gehen.
Für die sechs unteren Schuljahre sind jetzt besondere Gesund-
heitsbogen angefertigt, aus denen der Körperzustand jedes Kindes
genau hervorgeht; für die älteren Jahrgänge sind nur für solche Schüler
Zählkarten aufgestellt, bei denen irgendwelche krankhafte Zustände
konstatiert wurden. Im ganzen sind jetzt 6675 Zählkarten ausgefüllt,
die sich auf den Ernährungs- und den Reinlichkeitszustand der Kinder
beziehen, ferner auf die etwa vorhandenen Krankheitserscheinungen.
Diese Karten werden für die Rekrutenaushebung von Bedeutung werden.
Vor dem Verlassen der Schule bespricht der Schularzt mit den
Kindern ihre Berufswahl und rät gegebenenfalls von einer ungeeigneten
Wahl ab.
Da auch im Kreise Worms die Tuberkulose sehr verbreitet ist und
zumal einige Orte mit hohem Grundwasser und dadurch verursachten
feuchten Wohnungen eine sehr hohe Erkrankungsziffer aufweisen, so
wurden in sechs Landorten Tuberkulosefürsorge-(Beratungs-)
stellen eingerichtet die so gelegt sind, daß sie von den Bewohnern
der übrigen Gemeinden leicht aufgesucht werden können; allmonatlich
werden an diesen vom Kreisgesundheitsamt unentgeltlich Sprechstunden
abgehalten. Anfangs glaubten die Kranken hier ärztliche Behandlung
zu finden, doch kann davon natürlich nicht die Rede sein, da den
in den Orten ansässigen Aerzten keineswegs Konkurrenz gemacht
werden soll. Es kann sich bei diesen Sprechstunden wie bei den
schulärztlichen Untersuchungen nur darum handeln, zu konstatieren,
ob tatsächlich eine tuberkulöse Erkrankung vorliegt, und ferner, ob
die etwa festgestellte bereits in das Stadium der Ansteckung getreten
ist oder nicht. Ferner werden an die an offener Schwindsucht
Erkrankten Speiflaschen, welche die Landesversicherungsanstalt liefert,
Miszellen. 111
umsonst abgegeben. Tuberkulose- und Alkoholmerkblätter werden ver-
teilt und den Kranken auch sonst allgemeine Verhaltungsmaßregeln
gegeben. Ist eine ärztliche Behandlung nötig, so wird der Rat er-
teilt, sich einer solchen zu unterziehen; gegebenenfalls wird auch vom
Fürsorgearzt ein Antrag zur Aufnahme des Kranken in eine Heil-
anstalt oder ein Solbad gestellt. Um die Wohn- und Lebensverhältnisse
der Kranken zu ermitteln und erforderlichenfalls da helfend eingreifen
zu können, wo die Hilfe am wirksamsten wäre, findet ein Zusammen-
arbeiten des Fürsorgearztes mit der Wohnungsinspektorin und den
Krankenschwestern statt. So sind schon eine Anzahl Feldbetten durch
die Vermittlung jener vom Kreisamt an solche Familien abgegeben und
damit ermöglicht, den Kranken ein besonderes Bett!) zu sichern, das
zugleich auch als Ruhebett im Freien verwendet werden kann. Ferner
ist es Aufgabe der erwähnten Organe, kränkliche Personen auf jene
Beratungsstellen hinzuweisen. Im Jahre 1908/1909 wurden 188 Personen
in den Tuberkulosesprechstunden untersucht, die sich alle freiwillig ge-
meldet hatten.
Das Verständnis für die Notwendigkeit großer Vorsicht bei offener
Tuberkulose und anderen ansteckenden Krankheiten wird durch eine
vom Kreisamt erlassene Polizeiverordnung gestärkt, welche bestimmt,
daß nach Ablauf einer ansteckenden Krankheit, sowie bei dadurch ver-
ursachten Todesfällen die Desinfektion der Wohnräume durch den eigens
dafür angestellten Beamten in Worms zu erfolgen hat. Für in den
Landgemeinden wohnende Arme übernimmt der Kreis die Kosten der
Desinfektion und der Desinfektionsmittel ganz, für Minderbemittelte zur
Hälfte. Der Aufwand des Kreises dafür beträgt jährlich ca. 2000 M.
Wie auf der 13. Generalversammlung des Zentralkomitees zur
Bekämpfung der Tuberkulose mehrfach ausgesprochen wurde, ist es
dringend erforderlich, nicht nur den Tod Tuberkulöser besonders anzu-
zeigen, sondern auch den Wohnungswechsel, damit desinfiziert werden
kann, bevor ein neuer Mieter in die vom Kranken innegehabte Wohnung
einzieht. Bisher besteht solche ausgiebige Anzeigepflicht nur in zwei
deutschen Staaten, worunter Hessen fehlt. Die Verwaltungsbehörde des
Kreises Worms hat deshalb durch Erlaß einer Polizeiverordnung einge-
griffen, welche eine solche Anzeigepflicht auferlegt.
Die Kosten der Unterbringung von Geisteskranken, Blöd-
sinnigen, Taubstummen und Blinden sind vom Kreis über-
nommen. Die der Unterbringung Epileptischer können von ihm
ganz oder zum Teil übernommen werden. Auf diese Weise leistet der
Kreis inklusive der Uebernahme der eigentlich den Gemeinden zur Last
fallenden Kosten der Zwangserziehung Minderjähriger jährlich rund
30000 M. über die gesetzliche Verpflichtung hinaus.
Auf Anregung des Großherzoglichen Kreisrats wurden im Laufe der
letzten Jahre in 33 Landorten Frauenvereine gegründet, die in der
Regel den Ortsgeistlichen zum Vorsitzenden haben. Diese Frauenvereine
1) Es kommt sehr häufig vor, daß aus Mangel an Betten Kranke das Bett mit
einem Gesunden teilen.
112 Miszellen.
sollen in erster Linie dazu dienen, Mittel zur Einrichtung und zum Teil
auch Erhaltung von Krankenpflegestationen zu schaffen, ferner arme
Wöchnerinnen und deren Säuglinge mit kräftiger Kost resp. guter
Milch zu versorgen und auch sonst die Ausübung der Nächstenliebe zu
steigern und zu vertiefen. Eine weitere Aufgabe dieser Vereine sollte
sein, wo nötig, Kindergärten ins Leben zu rufen.
Durch dieses Vorgehen wurde erreicht, daß jetzt sämtliche Orte
des Kreises mit Krankenpflegerinnen versorgt sind. Da häufig
eine Schwester zwei Dörfer bedient, so sind im ganzen 28 Schwestern
angestellt, unter denen 12 freie Schwestern, 6 katholische Ordens-
schwestern und die übrigen evangelische Diakonissen sind. Soweit
die Kosten der Unterhaltung und Versorgung derselben mit den
notwendigen Krankenpflegeutensilien nicht durch freiwillige Beiträge
der Frauenvereinsmitglieder gedeckt werden, treten die Gemeinde- und
Kirchenkassen ein, denn den Verpflegten wird nichts angerechnet. An-
fangs setzten sehr viele Landbewohner der Einführung einer Kranken-
schwester starken Widerstand entgegen, da sie deren Tätigkeit für
überflüssig erklärten, jetzt aber haben alle den großen Segen dieser
Einrichtung schätzen gelernt, der ja keineswegs nur darin besteht, daß
die Kranken sachgemäße Pflege bekommen, sondern vor allem auch
darin, daß die Grundbegriffe der Hygiene, der Gesundheitslehre und
der Kinderpflege tiefer ins Volk getragen werden.
Einrichtungen zur ethischen und kulturellen Förderung.
Wie erwähnt, haben die Frauenvereine sich unter anderem die
Begründung von Kindergärten zur Aufgabe gemacht, die sie ge-
meinsam mit den politischen und den Kirchengemeinden unterhalten,
soweit die Kosten nicht durch das von den Kindern eingehende Schul-
geld von wöchentlich 10 Pfg. gedeckt werden, von dem Arme befreit sind.
Es bestehen jetzt 22 Kindergärten, die sich auf 21 Iuandorte verteilen
und je 60—90 Kinder aufzunehmen pflegen. Sie werden teils von katho-
lischen, teils von evangelischen Schwestern geleitet und haben sich als
äußerst segensreich erwiesen, zumal im Sommer, wenn die Mütter auf
dem Felde tätig sind. Es ist daher Aussicht vorhanden, daß noch eine
ganze Anzahl weiterer im Laufe der Zeit eingerichtet wird. In den
meisten Orten sind besondere, große, luftige Räume zur Abhaltung des
Kindergartens gebaut und ein freier Spielplatz daran angeschlossen,
der zuweilen teilweise überdacht ist, damit sich dort die Kleinen bei
jedem Wetter tummeln können.
Wie früher erwähnt, hat der Kreis den Landgemeinden sämtliche
Kosten abgenommen, welche diese von Gesetzes wegen für die Zwangs-
erziehung Minderjähriger aufzubringen hätten. Es ist dies geschehen,
weil dann die Ortsbehörden der Verhängung der Zwangserziehung
nicht widerstreben; dieses pflegte bisher wegen der ihnen dadurch er-
wachsenden Lasten der Fall zu sein. Nach den für Hessen bestehenden
Vorschriften hat das Kreisamt nicht nur für eine geeignete Unter-
bringung der Kinder und Jugendlichen zu sorgen, für die sich eine
Miszellen. 113
Fürsorgeerziehung als notwendig herausgestellt hat, sondern es ist auch
zu einer fortdauernden Kontrolle derselben und zur regelmäßigen Ein-
ziehung von Erkundigungen über deren Führung, Leistung und Ge-
sundheitszustand verpflichtet. Hierdurch werden wichtige Erfahrungen
gesammelt, die bei weiterer Unterbringung von Kindern verwertet
werden können. So ist die Kreisbehörde Worms dazu gekommen, mög-
lichst viele Kinder in Familien unterzubringen (von 69 schulpflichtigen
Zöglingen 51) und die Anstaltspflege womöglich nur bei anormalen
Kindern anzuwenden; sie hat dadurch sehr gute Erfolge erzielt. Sie
verfolgt außerdem das Prinzip, die Kinder möglichst früh den ihnen
verderblich werdenden Einflüssen zu entziehen und sie möglichst weit
von diesen oder von dem Schauplatz früherer Verfehlungen zu entfernen.
Jeder Zwangszögling wird vor der Unterbringung auf Kosten des
Kreises ärztlich untersucht; ferner werden Erkundigungen über die
Gesundheitsverhältnisse der Familien eingezogen, denen die Zöglinge
anvertraut werden. Bei der Berufswahl wird der Rat des Arztes in
Anspruch genommen.
Zum Schutze Jugendlicher im allgemeinen sind eine Anzahl Polizei-
verordnungen erlassen. Die in dem Weinland besonders wichtig er-
scheinende ist die, welche Jugendlichen beiderlei Geschlechts unter
16 Jahren den Wirtshausbesuch außer in Begleitung ihrer Eltern
untersagt. Leider sind nur häufig die Eltern nicht einsichtig genug,
die Kinder auch ihrerseits zu hause zu lassen, und so steigt bei
manchem Pfarrer und Lehrer der Wunsch auf noch einen Schritt
weiter zu gehen und unter allen Umständen diesem Alter den Wirts-
hausbesuch zu verbieten.
Die Verwendung schulpflichtiger Kinder zum Kegelschub-
dienst ist untersagt.
Um der Jugend andererseits harmlose und sie fördernde Ver-
gnügungen zu gewähren, wurden eine Reihe anderer Einrichtungen
und Veranstaltungen von seiten des Kreisamts angeregt. Dieser An-
regung folgend, haben eine Anzahl Pfarrer in ihren Gemeinden
Jugendvereine begründet, was in einem der größten Landorte auch
zur Bildung eines Posaunenchors geführt hat, der in überraschend
kurzer Zeit außerordentlich schön und musikalisch zu blasen gelernt hat.
Auf Veranlassung der großherzoglichen Kreisschulkommission Worms
hat das Hanauer Verbandstheater in einer Reihe von Landgemeinden
Volksvorstellungen gegeben.
Auch eine Kreisvolksbibliothek ist auf Kosten des Kreises
eingerichtet und wird von dem Kreisschulinspektor seit 7 Jahren ver-
waltet und von der Landbevölkerung, auch den Frauen, viel benutzt.
Sie ist als Wanderbibliothek gegründet und umfaßt jetzt 3900 Bände,
die in 36 Sektionen in ebenso viel Gemeinden des Kreises verteilt sind.
Dankenswerterweise werden die Sektionen von den Lehrern unentgelt-
lich verwaltet. Dadurch können die Bücher ohne Gebühr ausgeliehen
und in den Wohnungen gelesen werden, doch ist zu hoffen, daß mit
der Zeit wenigstens in den größeren Landorten besondere Leseräume
eingerichtet werden, welche die betreffenden Gemeinden zur Verfügung
Dritte Folge Bd. XXXX (XCIV). 8
114 Miszellen.
zu stellen hätten. Bis jetzt bringt der Kreis jährlich 500 M. zur An-
schaffung und Erhaltung der Bücher auf, denen aus Staatsmitteln noch
200 M. hinzugefügt werden. Eigentümlicherweise hat sich gezeigt, daß
sich die Landleute gegen Bücher landwirtschaftlichen Inhalts völlig ab-
lehnend verhalten. KReisebeschreibungen, allgemeingeschichtliche und
kriegsgeschichtliche Erzählungen werden neben rein belletristischen
Sachen besonders bevorzugt.
Endlich ist noch die Pflege des Aesthetischen im Landkreis
Worms zu erwähnen, der durch das Hessische Denkmalschutzgesetz
vom 16. Juli 1902 eine besondere Handhabe gegeben ist.
Auf Grund eines Gutachtens der Denkmalpflegekommission ver-
anlaßte das Kreisamt die Renovierung mehrerer schöner, alter Rathäuser.
Ebenso ist die Kreisbehörde bestrebt, die Pflege der ländlichen Fried-
höfe und Grabdenkmäler zu beleben und den Geschmack auf diesem
Gebiet zu veredeln. Es wurden deshalb von ihm in den Landgemeinden
Kommissionen gebildet, bestehend aus den zuständigen Geistlichen, dem
betreffenden Bürgermeister und zwei vom Ortsvorstand gewählten Mit-
gliedern. Diese Kommissionen werden vom Großherzoglichen Kreis-
bauinspektor beraten.
Aus dem Geschilderten ist wohl zu entnehmen, daß die Land-
bevölkerung im Kreise Worms in ganz selteuer Weise all der Seg-
nungen teilhaftig gemacht wird, die sonst nur den Städtern geboten
zu werden pflegen. Dieses Vorgehen, das so ganz dem entspricht, was
allen, welche sich theoretisch oder praktisch mit der Frage der Land-
flucht beschäftigen als zu erstrebendes Ziel vorschwebt, ist sicher das
einzige Mittel der deutschen Nation, eine wirtschaftlich tüchtige, körper-
lich gesunde und ethisch und kulturell hochstehende Landbevölkerung zu
erhalten resp. zu schaffen. Es wird jetzt nur noch darauf ankommen,
die zum Teil noch jungen Einrichtungen des Kreises weiter auszu-
bilden und ein vollständiges Ineinandergreifen all’ dieser Räder und
Rädchen zu erzielen. Außerdem wird, wie bisher, auf das sorgfältigste
darauf geachtet werden müssen, daß die Bevölkerung durch all das
Gebotene nicht begehrlich und unselbständig gemacht wird, sondern
daß sie im Gegenteil nur gestärkt wird, wirtschaftlich und seelisch
auf eignen Füßen zu stehen, und mit gefestigtem Charakter und vollem
Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber ihren Angehörigen und gegenüber
der Allgemeinheit durchs Leben zu gehen. Dieses ethische Ziel muß
naturgemäß die Grundlage jeder Wohlfahrtspflege bilden.
Miszellen. 115
IV.
Schiffahrtsringe und Frachtrabatte '),
Von Dr. W. Pupke, Hamburg.
Ein im Sommer dieses Jahres erschienenes englisches Blaubuch
veröffentlicht den Bericht der vor 2 Jahren zum Studium der Schiff-
fahrtsringe und Frachtrabattsysteme in der englischen Handelsmarine
eingesetzten Kommission. Dieser Bericht enthält ein reiches und be-
achtenswertes Material und bietet insbesondere in dem ausführlichen
Gutachten der Kommission über die Vorteile bezw. Nachteile der Ver-
bandsbildungen und monopolistischen Organisationen soviel des Inter-
essanten, daß es gestattet sein möge, im Folgenden auf den Inhalt des
Berichts näher einzugehen.
In dem Königl. Erlaß, der die Einsetzung einer Kommission an-
ordnet, wird ihre Aufgabe mit folgenden Worten fixiert: „to inquire
into the operation of Shipping „Rings“ or Conferences generally, and
more especially into the system of deferred rebates, and to report
whether such operations have caused, or are likely to cause injury to
British or Colonial trade, and, if so, what remedial action, if any, should
be taken by legislation or otherwise.“
In Gemäßheit dieser Aufgabe zerfällt der Bericht in mehrere Teile.
Nachdem in einem 1. Abschnitt kurz das zur Lösung der aufseworfenen
Fragen angewandte Verfahren angegeben worden ist, bringt der 2. und
3. Abschnitt neben eingehenden Erörterungen über Begriff und Wesen
der „Schiffahrtskonferenzen“ und „Frachtrabattsysteme“ ein reiches Tat-
sachenmaterial über ihre Entstehung und gegenwärtige Verbreitung.
Im 4. Abschnitt werden die Vorteile der Schiffahrtsringe und Fracht-
rabattsysteme dargelegt, im 5. Abschnitt die dagegen erhobenen Klagen
erörtert und im letzten Teile endlich wird ein zusammenfassendes Ur-
teil gefällt und Vorschläge werden empfohlen. Dem Hauptbericht, der
von der Majorität der Kommission unterzeichnet ist, schließt sich noch
ein Bericht der Minorität an, der natürlich zum Tatsachenmaterial des
Hauptberichts nichts Neues hinzufügt, aber in der Stellungnahme zu
der Hauptfrage, abweicht; daß trotzdem die Minorität zu keinem anderen
Endresultat gelangt, und die Gründe für diese zunächst befremdlich
erscheinende Tatsache werden wir später erfahren.
Das Verfahren, dessen sich die Kommission bei der Lösung der
ihr gestellten Aufgabe bediente, ist das der Enquete. Man hat zunächst
eine große Anzahl von Kaufleuten (um deren Nennung hauptsächlich
die Handelskammern ersucht worden sind) vernommen, die über die
1) Report of the Royal Commission on Shipping Rings, with Minutes of Evidence
2 Appendices. Presented to both Houses of Parliament by Command of His Majesty,
ndon 1909.
EL
116 Miszellen.
bestehenden Systeme der Ringe und Frachtrabatte Klage zu führen
hatten, um so auf die hauptsächlichsten Punkte, auf die sich die Unter-
suchung zu erstrecken hätte, aufmerksam zu werden. Außerdem machte
man sich eingehend mit dem Wesen und dem Betrieb der in Frage
stehenden Organisationen vertraut, so daß jedes der Mitglieder ein selb-
ständiges, aus der eigenen Anschauung erwachsenes Urteil gewann.
Einige Kommissionsmitglieder machten Studien in den südafrikanischen
Kolonien und veranstalteten dort enqueteartige Erhebungen.
Das Auswärtige Amt, die India und Colonial offices und die
Government Departments, die Schiffahrtsangelegenheiten zu bearbeiten
haben, wurden um eingehende Berichte ersucht, die Statistiken des
Board of Trade wurden benutzt und auch die Tramp-!) und Segel-
schiffsreeder, deren Schiffahrtsbetrieb unter anderen Bedingungen sich
abwickelt als derjenige der zu den Konferenzen gehörenden Reedereien,
wurden eingehend befragt. Endlich wurden die Schiffahrtskonferenzen
selbst gehört, indem man sie aufforderte, Vertreter zu den Kommissions-
sitzungen zu senden. Von den wichtigen Konferenzen haben nur drei
es abgelehnt, der ergangenen Aufforderung Folge zu leisten.
Da wir uns in Folgendem vor allen Dingen mit dem Hauptproblem
des Berichts beschäftigen wollen, nämlich mit der Frage, ob die Mono-
polbildung in der Linienschiffahrt (und als eine solche sind ja die
Schiffahrtsringe und die Frachtrabattsysteme anzusehen) der Gesamtheit
zum Nutzen oder zum Schaden gereicht, so müssen wir über das Tat-
sachenmaterial der ersten Abschnitte kurz hinweggehen und wollen ein-
leitend nur das Wesen und den Begriff der in Rede stehenden Ver-
bandsbildungen und organisatorischen Maßnahmen knapp erörtern.
Ein Schiffahrtsring oder eine Schiffahrtskonferenz?) (shipping
ring or conference) ist eine mehr oder minder enge Verbindung von
Schiffahrtsgesellschaften zwecks wirtschaftlicher Verständigung und Aus-
schaltung der nachteiligen Folgen gegenseitiger Konkurrenz. Es liegt
in der Natur der Sache begründet, daß solche Vereinbarungen nur
zwischen Reedereien getroffen werden, die ihre Schiffe regelmäßig
auf bestimmten Gebieten beschäftigen, sie für eine bestimmte Fahrt
bauen und mit ihnen regelmäßige Linien betreiben (sogenannte
Liners). Wenn nämlich mehrere Gesellschaften mit ihren liners die-
selben Routen befahren, so bricht sehr bald eine scharfe Konkurrenz
zwischen ihnen aus und die Frage, ob ein Kampf oder eine Verein-
barung vorzuziehen sei, wird brennend. Bei der Trampschiffahrt liegt
diese Frage nicht so nahe; sie kann ihrem ganzen Wesen und ihrer
Betriebsart einen Ratenkrieg gar nicht führen und ist demnach auch
kein Gegner, mit dem feste Vereinbarungen nötig wären, ganz abgesehen
1) „Trampschiffahrt“ ist im Gegensatz zur regelmäßigen Linienschiffahrt die Schiff-
fahrt in „wilder Fahrt“, die ihre Schiffe je nach Bedarf und Gewinnchance auf allen
möglichen Gebieten und für jede Art von Frachtfahrt beschäftigt, das Ziel ihrer Fahrten
also gauz von der Konjunktur abhängig macht. —
2) „Konferenz“, weil die leıtenden Persönlichkeiten der beteiligten Gesellschaften
durch häufig stattfindende Konferenzen über die gemeinsamen Geschäfte verhandeln ;
diese Konferenzen geben dann der ganzen Organisation den Namen.
Miszellen. 117
davon, daß sie auch bei dem Wesen der Trampschiffahrt: nicht durch-
zuführen sind.
Die Vereinbarungen zwischen den Reedereien zu Kartellen finden
sich mithin überall dort, wo die Trampschiffahrt keine überwiegende
Rolle spielen und nach der Art des Verkehrs auch nicht spielen kann:
vor allem in dem von Europa ausgehenden Verkehr, der höherwertige
Fabrikate befördert, und in der Beförderung von geringmassigen, teuren
Kolonialgütern. Ueberall aber, wo der Transport voluminöser Massen-
artikel vorherrscht, z. B. Getreide, Reis, Baumwolle, Wolle, Kohle,
Salpeter, nimmt die freie Schiffahrt noch breiten Raum ein und in diesen
Verkehrsrichtungen haben Konferenzen auch keine Wurzel geschlagen.
Der Wirkungskreis einer Konferenz erstreckt sich immer nur auf
bestimmte Routen, d. h. die zu einer solchen Konferenz vereinigten
Gesellschaften treffen Abmachungen nur für ein bestimmtes Interessen-
gebiet resp. nur über den Verkehr zwischen bestimmten Häfen. Eine
Schiffahrtsgesellschaft kann folglich Mitglied verschiedener Konferenzen
sein und ihre Verbindlichkeiten in der einen Konferenz sind ganz un-
abhängig von denen in den anderen Konferenzen. So ist, um ein Bei-
spiel zu nennen, die Peninsular & Oriental Steam Navigation Company
Mitglied der für den australischen Verkehr geltenden Konferenz, aber
hierdurch werden ihre nach Indien und dem Osten fahrenden Linien
nicht berührt, dieser Verkehr fällt wieder unter spezielle und separate
Konferenzen.
Bei der Errichtung von Konferenzen verfolgt man nun ein doppeltes
Ziel: einmal sucht man — wie bereits gesagt — die Konkurrenz unter-
einander auszuschalten, dadurch dem „Ratendrücken“ vorzubeugen und
gewinnbringende und möglichst stabile Frachtraten aufrecht zu er-
halten; dann aber sucht man auch der Konkurrenz der outsiders, d. h.
der außerhalb des Ringes stehenden Reedereien zu begegnen. Das erste
Ziel wird erreicht, indem die Reedereien untereinander ein Abkommen
treffen dahingehend, daß sie alle zu den gleichen Frachten fahren und nicht
unter die einmal festgesetzten Raten heruntergehen. In gewissen Fällen
werden in den Vereinbarungen noch weitere Bestimmungen bezüglich
der Verteilung des Verkehrs dadurch getroffen, daß die Anzahl der
Dampfer, die von jeder Gesellschaft fahren sollen, fixiert wird oder daß
die zu bedienenden Häfen auf die einzelnen Linien verteilt werden oder
endlich, daß die Fracht oder ein bestimmter Teil derselben in einen
gemeinsamen Pool fließt, d. h. einer gemeinsamen Verrechnung unterliegt.
Die Mittel, deren sich die Verbandsreedereien zur Abwehr der outsider-
Konkurrenz bedienen, sind die Frachtrabatte (deferred rebates).
Die Gesellschaften teilen den Verfrachtern durch Zirkulare mit, daß ihnen,
falls sie während einer bestimmten Periode (gewöhnlich 4 oder 6 Monate)
ihre sämtlichen Verschiffungen nur durch Linien, die der Konferenz
angehören, haben ausführen lassen, ein bestimmter Prozentsatz der
Fracht gutgeschrieben wird und daß diese Summe zur Auszahlung ge-
langt, wenn die Verfrachter auch für eine weitere Periode (ebenfalls
wieder 4—6 Monate) nur mit Schiffen der Ringlinien verladen haben.
Wenn also ein Verfrachter in der Zeit vom 1. Januar bis 1. Juli nur
118 Miszellen.
mit Schiffen der Ringlinien verladen hat, so erwirbt er einen Anspruch
auf Vergütung von Frachtrabatt; zur Ausschüttung kommt dieser Rabatt
aber erst am folgenden 1. Januar, vorausgesetzt, daß während der Zeit
vom 1. Juli bis 1. Januar der betreffende Verfrachter ebenfalls nur mit
Schiffen der betreffenden Konferenz verladen hat. Wenn der Ver-
frachter während des ganzen Jahres auch nur einen kleinen Teil Güter
mit einem outsider-Schiff verladen hat, so geht er seines gesamten An-
spruchs auf Vergütung von Rabatten verlustig. Die Frachtrabatte
werden übrigens nicht von der Konferenz als Ganzes bezahlt, sondern
von jedem einzelnen Mitglied derselben. Durch dieses System der
Frachtrabatte, das natürlich in den einzelnen Fällen verschiedenartig
ausgestaltet und durchgeführt wird, bezwecken die Konferenzlinien, sich
die ständige Kundschaft möglichst aller Verlader ihres Interessengebietes
zu sichern und das Aufkommen einer Konkurrenz fremder Linien zu
verhindern.
Die Konferenzen haben nun keineswegs nur britische Gesellschaften
als Mitglieder, sondern erstrecken sich auch auf den Kontinent. Aller-
dings waren die ersten Organisationen, mit denen die Verbandsbildung
in der englischen Handelsschiffahrt begann und die sich namentlich
auf den indischen und ostasiatischen Verkehr bezogen, nur zwischen
englischen Reedereien geschlossen; bald aber, mit dem Erstarken und
Wachsen der kontinentalen Schiffahrt, sah man sich genötigt, die wirt-
schaftliche Verständigung auch auf diese auszudehnen. Ein deutscher
Dampfer z. B., der seine Hauptladung in Hamburg oder Antwerpen
eingenommen hatte, konnte ohne großen Zeitverlust und ohne erheblich
von seiner Route abzuweichen, Häfen der englischen Süd- oder Ost-
küste, etwa Hull oder London, anlaufen, um hier seine Ladung durch
Aufnahme von Teilladung zu komplettieren; diese Restladung konnte
er selbstverständlich zu niedrigeren Raten annehmen als es für eng-
lische Dampfer möglich gewesen wäre, für die der Verkehr von diesen
Häfen aus die einzige Erwerbsmöglichkeit ist. Englische Dampfer fielen
natürlich ebenso in kontinentale Linien ein und die auf diese Weise
entstehende Konkurrenz machte eine Ausdehnung der Konferenzen auch
auf den Kontinent nötig.
So verschieden nun auch die Einzelbestimmungen und Abmachungen
in den zahlreichen internationalen Konferenzen sind, immer basieren
die Vereinbarungen auf folgenden 3 Hauptpunkten: 1) Teilung des
Interessengebiets, 2) Abmachungen betreffend die Frachtrabatte und
3) Bestimmungen über gleiche Höhe der Raten bei gleichen Gütern.
Die Bestimmungen bezüglich der Teilung des Interessengebiets sind
außerordentlich verschieden. So gilt z. B. für den Verkehr nach den
Britischen Kolonien die Norm, daß die englischen Gesellschaften von
allen englischen und kontinentalen Häfen fahren können, die kontinen-
talen Reedereien aber nur von den kontinentalen Häfen. In anderen
Fällen wieder, z. B. im südamerikanischen Verkehr, haben die eng-
lischen Linien den ausschließlichen Verkehr von den englischen Häfen
aus, sie sind aber nicht befugt, von deutschen Häfen aus zu fahren.
Ist das Interessengebiet der Konferenz sehr groß und die Mit-
gliederzahl bedeutend, dann werden die Bestimmungen sehr kompliziert.
Miszellen. 119
Als Beispiel einer solchen weitumspannenden Konferenz sei hier die-
jenige angeführt, die den Verkehr mit Ostasien regelt. Dieser Kon-
ferenz unterliegt der Verkehr von England, Holland und Belgien mit
den Straits Settlements, dem Malayischen Archipel, Siam, den Philip-
pinen, Hongkong, Kiautschau, Port Arthur, Weihawei, China, Japan und
Korea; ihre Hauptmitglieder sind the Peninsular and Oriental, Ocean
Steamship Co., Messageries Maritimes, Norddeutscher Lloyd, Nippon
Yusen Kaisha, Glen, Shire, Ben, Shell, Mutual and Mogul Companies.
Es besteht aber nun nicht nur eine Gebiets- und Verkehrsverteilung
auf diese Gesellschaften, sondern dieselben haben wieder Nebenabkommen
mit fremden Reedereien getroffen, wonach ihnen ganz scharf präzisierte
Anteile des Gesamtverkehrs zufallen. So dürfen z. B. die ostasiatische
Compagnie, Kopenhagen und die Russische ostasiatische Gesellschaft,
St. Petersburg, Güter von Antwerpen aus fahren und die Hamburg-
Amerika-Linie Roheisen von Middlesbrough nach Japan. Man sieht
an diesem Beispiel einerseits wie umspannend eine Konferenz sein kann,
andererseits wie detailliert die Abmachungen und die Verteilung des
Interessengebiets sich gestaltet.
Ueber die innere Organisation der Ringe und Konferenzen ist im
allgemeinen wenig zu erfahren, da alle diesbezüglichen Einzelheiten
geheim gehalten werden. Auch der Kommissionsbericht bringt zu diesem
Punkte nichts, denn die der Kommission mitgeteilten Details waren ver-
traulicher Natur.
Das Streben der Schiffahrtsringe geht also dahin, den freien Wett-
bewerb auf dem Frachtenmarkt durch ein System von Vereinbarungen
zu ersetzen, eine monopolistische Organisation des Frachtgeschäfts herbei-
zuführen. Nun unterliegt es ja keinem Zweifel, daß die Verkehrsunter-
nehmungen, die dem Handel und der Produktion dienen sollen, ihre
Aufgabe am besten erfüllen, wenn sie in festen Formen und in strenger
und straffer Ordnung durchgebildet sind. Die wichtigsten Verkehrs-
gewerbe des Binnenlandes, Post, Telegraphie, Eisenbahn, sind deshalb
in den Betrieb des Staates überführt oder wenigstens staatlicher
Reglementierung unterworfen worden. Die Seeschiffahrt unterliegt der
staatlichen Einwirkung nicht und kann es auch der Art ihres Betriebes
nach niemals; die Organisationstätigkeit liegt also hier in den Händen
privater Gesellschaften, die auf diese Weise in den Besitz von Monopol-
stellungen kommen. Ist diese Entwicklung dem Ganzen des Verkehrs
und Handels vorteilhaft oder nachteilig gewesen? Das ist die Haupt-
frage, die die Kommission mit besonderer Beziehung auf die englischen
Verhältnisse zu beantworten hatte, Um dies gleich vorweg zu nehmen,
die Majorität der Kommission steht auf dem Standpunkt, daß im See-
verkehr die Vorteile eines Monopols die Nachteile überwiegen; die
Minorität verurteilt dagegen diese monopolistische Entwicklung als den
Interessen des allgemeinen Handels, wie im besonderen des englischen
nachteilig und schädlich.
Daß die Gesellschaften, die sich zu einem Ring oder einer Kon-
ferenz zusammenschließen, tatsächlich in den Besitz eines Monopols ge-
langen, insbesondere durch Anwendung des Systems der deferred rebates,
wird von dem Kommissionsbericht nicht bezweifelt. Nun zeigt es sich
120 Miszellen.
aber, daß keineswegs auf allen Verkehrslinien Konferenzen bestehen,
dieselben vielmehr in ihrer Existenz an ganz besondere Bedingungen
gebunden sind. Die nähere Untersuchung der Handelsrouten, für welche
keine Ringbildungen vorhanden sind, läßt diese Bedingungen erkennen:
Konferenzen entstehen namentlich dort, wo im Interesse des Handels
ein rascher nnd gleichmäßiger von schnellen und hochklassigen Dampfern
ausgeführter Schiffsdienst notwendig ist. So fehlen z. B. im Nord-
atlantischen Verkehr und im Importverkehr Schiffahrtsringbildungen
für das Frachtgeschäft fast ganz; im nordatlantischen Verkehr, weil
sich hier durch das Ueberwiegen des Passagierdienstes auch ohne be-
sondere Rücksicht auf die Erfordernisse des Frachtgeschäfts eine Regel-
mäßigkeit des Schiffsverkehrs herausgebildet hat; im Importverkehr,
weil erstens für die Rückladung nach heimischen Häfen eine größere
Tonnage benötigt wird als für den Exportverkehr und deshalb eine
Kontrolle der Verfrachter für Rückladung schwer durchzuführen ist,
und weil zweitens die importierten Güter meistens Rohprodukte sind,
für die im allgemeinen die Notwendigkeit eines raschen und regelmäßigen
Transportes mit schnellen und hochklassigen Dampfern, wie es die
liners sind, nicht vorliegt, außerdem aber diese Güter als sogenannte
Schüttgüter (suitable for shipment in bulk) sich sehr gut für die
wenigen qualifiziert gebauten Trampdampfer eignen; es liegen also hier
Verhältnisse vor, die der Trampschiffahrt ein weites Feld offen lassen.
Liegt somit schon in den Verhältnissen der verschiedenen Fracht-
geschäfte eine Beschränkung der Konferenzen und mithin der mono-
polistischen Organisation nur auf bestimmte Gebiete des Frachtverkehrs,
so sind auch einer übermäßigen Wirkung der Monopole Grenzen ge-
setzt. Erstens ist außerhalb der Konferenzflotte stets eine große An-
zahl von Schiffen vorhanden, die jede vorteilhafte Gelegenheit wahr-
nehmen werden, um in den Verkehr mit günstigen Bedingungen
einzufallen, zweitens ist die Verbindung der einzelnen Gesellschaften
einer Konferenz sehr oft nicht so eng, um nicht doch einer gewissen
Konkurrenz etwas Spielraum zu lassen, namentlich so weit dies in das
Gebiet der allgemeinen kaufmännischen Kulanz fällt, und endlich würde
eine dauernde rigorose Ausnutzung des Monopols eine Gegenbewegung
und einen Zusammenschluß der Verfrachter herbeiführen, die angesichts
der großen outsider-Flotte immerhin ziemliche Aussicht auf Erfolg hätten.
Die Gefahr einer Ueberspannung der im Gefühl ihrer Monopolstellung
den Verfrachtern von den Konferenzen diktierten Bedingungen ist mit-
hin nicht so leicht zu befürchten.
Die Hauptvorteile, die der Wirkung der Schiffahrtskonferenzen und
der Rabattsysteme zugeschrieben werden, sind folgende:
1) Verbesserung im Frachtendienst
a) durch Einführung regelmäßiger Tourenfahrt und Aufrecht-
erhaltung stabiler Frachtraten,
b) durch Stellung von hochklassigen und schnellen Dampfern;
2) Ersparnisse in den Betriebskosten;
3) wirtschaftlichere Verteilung dieser Kosten;
4) Aufrechterhaltung gleicher Frachtraten für England und für den
Kontinent;
Miszellen. 121
5) gleiche Frachtraten für alle Verlader, für die „Großen“ sowohl
als für die „Kleinen“ (uniform rates of freight to all shippers, large or
small);
6) keine Verfrachtung seitens der Konferenzgesellschaften in eigener
handelsgeschäftlicher Tätigkeit.
Die Majorität der Kommission nimmt zu den einzelnen Punkten
eingehend Stellung und findet im allgemeinen, daß diese Vorteile den
Schiffahrtsringen tatsächlich eignen, während die Minorität sich dieser
Ansicht nicht anschließt und den Ausführungen des Mehrheitsberichts
entgegentritt. Wir wollen aus Begründung und Gegenbegründung zu
jedem der oben angeführten Punkte das Wesentliche kurz herausgreifen.
ad la. Die Majorität weist zunächst auf die großen Vorteile
hin, die ein regelmäßiger Dampferdienst für den Handel bietet und gibt
zu bedenken, daß ein solcher regelmäßiger Frachtendienst für den heutigen
kolossalen Handelsbetrieb gänzlich unentbehrlich ist; ohne einen solchen
organisierten Dampferdienst ist der moderne tberseeische Handel gar
nicht zu denken. Dieser regelmäßige Schiffsdienst mit schnellen und
teuren Dampfern ist aber sehr kostspielig und ließ sich bei dem wachsen-
den Wettbewerb nur durchführen und aufrecht erhalten, wenn sich die
beteiligten Reeder zusammenschlossen. Die Geschichte und der Ent-
wicklungsgang der Schiffahrtsringe zeigt, daß die Forderung nach Zu-
sammenschluß und Schutz seitens der Reeder zeitlich mit dem seitens
des Handels geltend gemachten Bedürfnis nach Verkehrsorganisation
zusammenfällt: die Majorität kommt also schließlich dazu, einen kausalen
Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Schiffahrt und des Han-
dels und dem Bestehen der Schiffahrtsringe zu erkennen und schreibt
den Konferenzen geradezu das Verdienst zu, das dringende Bedürfnis
des gesamten Seehandels nach Regelmäßigkeit und Ordnung befriedigt
zu haben. Der Vorteil der Ringe wird für den Kaufmann aber noch
größer durch die Gewährung stabiler Frachtraten; hierdurch wird ein
bis dahin schwankender Posten in der Kalkulation festgelegt und dem
Kaufmann die Möglichkeit gegeben, langfristige Kontrakte zu schließen.
Die Minorität bestreitet einen kausalen Zusammenhang zwischen
Schiffahrtsentwicklung und Schiffahrtskonferenzen und findet nicht, daß
letztere eine unbedingte Voraussetzung für regelmäßige Schiffahrtslinien
sind, sonst könnten nicht schon vor der Gründung von Organisationen
Schiffahrtslinien bestanden haben und auch heute dort, wo ein Zu-
sammenschluß fehlt, — im Nordatlantischen und Küstenverkehr —
bestehen. (Die Minorität übersieht hier aber, daß von der Majorität selbst
gesagt ist, daß die Konferenzen von bestimmten Bedingungen abhängen
und daß diese Bedingungen im Nordatlantischen und Küstenverkehr
fehlen.) Nicht irgendwelcher Nutzen für die Gesamtheit ist für dıe
Entstehung und die Entwicklung der Ringe bestimmend gewesen,
sondern die einzige Ursache ist der scharfe Wettbewerb gewesen.
Das Monopol kann für den Handel nur als schädlich bezeichnet
werden und höchstens dort, wo der Handelsverkehr selbst nicht im-
stande ist, einen regelmäßigen Frachtendienst rentabel zu gestalten,
kann es von allgemeinem Vorteil sein.
Daß die Ringbildung den Vorteil stabiler Frachtraten mit sich
122 Miszellen.
bringt, kann auch die Minorität nicht bestreiten, doch weist sie darauf
hin, daß dieser Vorteil den bitteren Beigeschmack hat, daß die Fest-
setzung der Raten nur einseitig geschieht. (Doch ist darauf hinzu-
weisen, daß eine rigorose Ausnützung ihrer Monopolstellung seitens der
Konferenzgesellschaften nicht ohne weiteres zu befürchten ist und jeden-
falls, wie oben bereits erwähnt, eine Gegenbewegung unter den Ver-
ladern zur Folge haben würde.)
ad 1b. Die durch die Konferenzen und die Rabattsysteme gewährte
Sicherheit, auf einen festen und großen Kreis ständiger Verlader rechnen
zu können, setzt die Reeder in den Stand, größere und schnellere Dampfer
bauen zu lassen, wodurch der Transport rascher abgewickelt, das Laden
und Löschen beschleunigt und auch die Versicherungsprämie für die
Ladung herabgedrückt wird. Außerdem ist man in der Lage, die Ein-
richtung der Dampfer den Erfordernissen bestimmter Verkehrsrouten
besser anpassen zu können; so sind z. B. gewisse Frucht- und Fleisch-
dampfer mit besonderen Kühl- und Frischerhaltungsräumen versehen.
Allerdings ist das Bedenken nicht zu unterdrücken, daß oft dem Ver-
frachter auch mit weniger qualifizierten und minder hochklassigen
Dampfern gedient sein kann und daß dann die Verschiffung mit Kon-
ferenzliners sich kostspieliger stellt, als es unbedingt erforderlich ist;
d. h. aber, daß in gewissen Fällen der Monopolbetrieb nicht wirtschaft-
lich genug ist.
Diesen Punkt greift die Minorität auch auf, indem sie behauptet,
daß, wenn auch zwischen den Konferenzreedereien der Wettbewerb in
bezug auf Frachtraten aufgehört hat, doch noch ein gewisser Wett-
bewerb in bezug auf „Erleichterungen“ (composition in facilities) besteht,
die die einzelnen Gesellschaften den Verladern bieten. Die Gesellschaften
überbieten sich gegenseitig in der Gestellung von erstklassigen Dampfern
und der Effekt ist, daß die Anzahl von qualifizierter Tonnage größer ist
als es dem Bedürfnis des Handels entspricht. Es fehlt eben der regu-
lierende Einfluß des freien Wettbewerbs, der nach Ansicht der Minorität
auch genügen würde, stets die vom Verkehr geforderte Zahl besserer
Dampfer aufzubringen.
ad 2. Wenn die ungehemmte Konkurrenz unter den Gesellschaften
aufhört oder wenigstens sehr beschränkt wird, so müssen nach dem
Urteil der Majorität hiermit unbedingt beträchtliche Ersparnisse ver-
knüpft sein; man denke z. B. an Abmachungen, durch welche die Zahl
der Fahrten auf einer bestimmten Route beschränkt wird, so daß künftig
zwar weniger Schiffe fahren, diese aber auch stets mit voller Ladung,
während früher bei unbeschränkter Schiffszahl viele Fahrzeuge nur halb
beladen reisen mußten. Ferner denke man daran, daß durch die Ein-
führung großer Dampfer der Betrieb sich verbilligt, denn ein großes
Schiff — vorausgesetzt natürlich, daß es stets Volladung hat — stellt
sich erheblich billiger und ist wirtschaftlicher als ein kleines. Wenn
nun diese Ersparnisse nicht völlig in die Taschen der Schiffahrtsunter-
nehmer fließen, so müssen sie auch dem Verfrachter zu gute kommen,
wie denn auch tatsächlich von Reedern der Kommission darüber ge-
klagt worden ist, daß der billigere Betrieb der Konferenzen sich unter
Umständen in einem Sinken der Frachtraten äußere.
Miszellen. 123
Die Minorität bezweifelt, daß, wenn wirklich der Betrieb bei
Konferenzen sich billiger gestalte, die Verfrachter einen Vorteil davon
hätten, denn es sei das Bestreben jedes Monopols, möglichst hohe Raten
zu erzielen („charging excessive rates“), Im übrigen aber wird von der
Minderheit überhaupt die Möglichkeit von Ersparnissen bestritten, dazu
sei die Organisation der einzelnen Linien nicht fest und umfassend ge-
nug. Denkbar wären solche Ersparnisse vielleicht bei einer allgemeinen
und umfassenden Organisation des Seeverkehrs, also bei einer Ver-
trustung.
ad 3. Wenn man den Vorteil erfassen will, den die Konferenzen
durch die Verteilung der Kosten auf die verschiedenen Warengattungen
bieten, muß man daran denken, wie die Frachtraten auf dem offenen
Markt, also vor allem in der Trampschiffahrt, festgesetzt werden. Hier
ist für die Höhe der Rate lediglich das Verhältnis zwischen Angebot
an Tonnage und Nachfrage maßgebend. Unter dem Konferenzsystem
aber werden die Raten außerhalb des Wettbewerbs festgesetzt; es
werden differenzierte Tarife ausgearbeitet und für jede Warenklasse
wird eine Rate fixiert, die nach Meinung der Konferenzmitglieder die
Ware tragen kann („what the traffic will bear“). An Stelle einer
Gleichmäßigkeit, die oft mit Härten verbunden ist, tritt eine detaillierte
Abstufung der Frachten, die es natürlich auch ermöglicht, die Kosten
des Schiffahrtsbetriebs nach dem Wert der Waren wirtschaftlich richtig
zu verteilen.
Die Minorität stellt es als fraglich hin, ob die Differenzierung
der Raten tatsächlich für jede Warengattung den wirtschaftlichen Prin-
zipien gemäß erfolgt und meint, daß es wohl vorkommen möge, daß
unter dem Konferenzsystem manche Ware eine höhere Fracht tragen
müsse, als sie es bei freiem Markt tun würde.
Die Majorität ist aber der Ansicht, daß eine gesunde Preis-
politik im eigensten Interesse der Reedereien liege; bei einer Ueber-
spannung würden sie sich selbst schädigen, ein Punkt, auf den schon
wiederholt hingewiesen worden ist.
ad 4. Die Vorteile, die die Schiffahrtsringe durch Gewährung von
gleichen Raten für England und für den Kontinent zur Folge haben,
sind speziell solche, die nach der Meinung der Majorität England
zu gute kommen. Wenn nämlich bei freiem Wettbewerb die Raten in
England höher wären als in den übrigen Nationen, dann würde natür-
lich die Gleichstellung für England nur von Nutzen sein können. Ob
nun bei freiem Wettbewerb die englischen Frachtsätze sich tatsächlich
höher stellen würden als die auf dem Kontinent, darüber sind Majorität
und Minorität entgegengesetzter Meinung. Es ist hier nicht der Raum,
auf diese Frage näher einzugehen; es mag nur noch kurz erwähnt
werden, daß die Majorität die Gleichstellung des Kontinents und Eng-
lands auch von Vorteil für das allgemeine Gedeihen des Handels inso-
fern hält, als dadurch internationale Ratenkämpfe möglichst hintan-
gehalten werden.
ad 5. Dieser Punkt zielt auf einen sozialpolitischen Vorteil der
Konferenzen. Die Mehrheit der Kommission findet, daß durch das
124 Miszellen.
Organisationssystem der „kleine Mann“ („small man“) geschützt wird
vor seinem vermögenden kapitalkräftigen Konkurrenten. Die Menge der
kleinen Verlader war zurzeit des ungehemmten Wettbewerbs stets den
großen Verladern gegenüber im Nachteil. Wer große Quantitäten ab-
schließen konnte, war in der Lage, vorteilhafte Kontrakte zu niedrigen
Raten zu erlangen; die kleinen Verlader mußten dann die Reedereien
für diese niedrigen Frachtraten durch höhere Frachtsätze wieder ent-
schädigen. Durch die allgemeinen Frachttarife der Schiffahrtsringe sind
diese Unterschiede beseitigt, ein Umstand, der vom sozialpolitischen
Standpunkt aus unbedingt zu begrüßen ist. Daß diese Gleichheit der
Frachten den großen Abladern gegen früher nicht mehr diese enormen
Vorteile bietet, mag sein, darauf kommt es aber auch bei einer allge-
meinen Würdigung der Vorteile des Tarıfsystems gar nicht an; die
Wirkung für die Allgemeinheit ist sicher günstig. Auch der gesamte
Handelsverkehr zieht seinen Nutzen aus diesem System, denn nach
der Ansicht der Majorität hat das Tarifsystem eine Steigerung des
Exports und eine Verringerung der Warenpreise zur Folge; die Diffe-
renz, die früber in den Raten zwischen den großen und kleinen Ver-
frachtern bestand, kam nicht den Warenkäufern zu gute, sondern floß
in die Taschen der großen Verlader.
Die Minorität weist darauf hin, daß auch heute eine prinzipielle
Gleichstellung der „Kleinen“ und „Großen“ noch nicht streng durch-
geführt ist und große Abschlüsse immer noch zu Vorzugsbedingungen
getätigt werden.
ad 6. Von den Kaufleuten wird es als ein großer Vorteil ange-
sehen, daß die Konferenzreedereien sich von Handelsgeschäften auf
eigene Rechnung fernhalten, sich also nicht als Konkurrenten der Kauf-
mannschaft betätigen. Denn wenn die Reedereien als Konkurrenten
auftreten würden, hätten sie durch die Möglichkeit, sich selbst niedrigere
Raten anzusetzen, stets einen erheblichen Vorteil. Die Minorität
findet nicht, daß dies eine Folge gerade der Konferenzen sei, sondern
vielmehr sich aus dem allgemeinen Prinzip der Arbeitsteilung ergibt.
Die Verbindung von Reederei und handelsgeschäftlicher Tätigkeit in einer
Hand ist bei der Kompliziertheit jedes einzelnen der beiden Gewerbe
viel zu schwierig, als daß es sich wirklich in großem Stile lohne. Für
einzelne, bestimmte Artikel (z. B. Kohlen) findet sich aber auch heute
die Verbindung beider Tätigkeiten und, was besonders wichtig ist, eine
bindende Verpflichtung, Waren nicht auf eigene Rechnung zu befördern,
besteht für die Konferenzen gar nicht. Die Möglichkeit steht also
immer offen.
Die vorstehend skizzierten 6 Punkte bilden den Kern des der
Kommission zur Untersuchung vorgelegten Problems. Majorität und
Minorität sind — wie wir gesehen haben — durchgehends entgegen-
gesetzter Meinung. Wir konnten natürlich von den ausführlichen und
teilweise hochinteressanten Begründungen jeder Ansicht nur stets den
springenden Punkt kurz andeuten, doch wird ersichtlich geworden sein,
daß die Majorität in der Hauptsache die Frage, ob die Monopolbildung
in der Linienschiffahrt der Gesamtheit zum ‚Nutzen gereicht, bejaht,
Miszellen. 125
ohne dabei — dies sei ausdrücklich erwähnt — die mannigfachen
Schäden, die diese Organisationen im Gefolge haben, zu leugnen. Die
Minorität hat der Wirkung der Schiffahrtsringe gegenüber ein im all-
gemeinen absprechendes Urteil. Man sollte meinen, daß bei dieser
Sachlage die Resultate und Vorschläge beider Parteien entgegengesetzt
sein würden. Dies ist aber nicht der Fall, denn in dem wichtigsten
Punkt stimmen Majorität und Minorität durchaus überein: beide lehnen
ein Eingreifen des Staates ab. Bei der Majorität ist dieser Standpunkt
selbstverständlich.. Die Minorität aber ist gegen eine staatliche Ein-
mischung besonders aus zwei Gründen: einmal würde dadurch ein Ge-
werbe unter ein Ausnahmerecht gestellt werden und dann würde bei
dem internationalen Charakter der Ringe jede englische Repressions-
maßregel den fremden Reedereien zum Nutzen und Vorteil sein. Nur
ein einziges Mitglied der Minorität zieht aus seinem absprechenden Ur-
teil über die Konferenzen die letzte Konsequenz und empfiehlt die Ein-
führung eines staatlichen Verbots der Schiffahrtsringe unter Hinweis
auf die Sherman Akte der Vereinigten Staaten.
Majorität und Minorität erkennen beide an, daß ein Hauptnachteil
der Konferenzen darin liegt, daß die Macht zwischen den beiden im
Frachtgeschäft kontrahierenden Parteien sehr ungleich verteilt ist. Auf
der einen Seite die Organisation weniger Reedereien, durch die in allen
wichtigsten Fragen ein einheitliches Verhalten gewährleistet wird und
auf der anderen Seite eine lose unorganisierte Vielheit von Verladern.
Als Heilmittel gegen diesen unerquicklichen Zustand betrachtet und
empfiehlt die Kommission die organisierte Selbsthilfe der Ver-
schiffer, die Bildung von Verbänden der Verlader, die dann als eine
den Konferenzen gewachsene Macht mit diesen Verhandlungen zu
führen in der Lage sind und Verträge abschließen könnten, die ihrem
Inhalte nach nicht nur von dem einen Kontrahenten diktiert werden.
Anfänge solcher Verladerassoziationen sind bereits vorhanden und der
Bericht verweist, auf sie: die eine Organisation besteht im südafrikani-
schen, die andere im australischen Handel.
Im einzelnen gehen die Vorschläge von Majorität und Minorität
— wie leicht aus der verschiedenen Stellung erklärlich — auseinander,
die Minorität geht in allen ihren Vorschlägen weiter als die Majorität.
Wichtig ist noch der beiden gemeinsame Gedanke, für Verhandlungen
zwischen den Konferenzen und den neu entstehenden Verladerverbänden
das Handelsamt mit der Funktion des Vermittlers zu betrauen und ihm
die Ernennung von Schiedsrichtern für Streitfälle zu übertragen.
Da es nicht Zweck dieser Zeilen sein sollte, selbst einen Beitrag
zu dem schwierigen Problem der Vorteile und Nachteile von Monopol-
bildungen zu liefern, sondern der Zweck vielmehr in einem eindring-
lichen Hinweis auf den interessanten und reichen Inhalt des Berichtes
liegt, so mag von einem weiteren Eingehen auf die Einzelheiten der
Vorschläge abgesehen werden.
126 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschiands
und des Auslandes,
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Krause, Hermann, Die Familien - Fideikommisse von wirtschaftlichen, legis-
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Mühlbrecht, 1909. gr. 8. 255 SS. M. 7,20.
g%*
132 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Westphal, Arthur, Der preßgesetzliche Berichtigungszwang. Nach historischen
und kritischen Gesichtspunkten. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1909. 8. VIII—131SS8.
M. 2,40.
Giordani, Francesco, Nella vita sociale e nella giustizia penale: studi giuridico-
sociologici, con prefazione del prof. Alfredo Pozzolini. Firenze, F. Lumachi, 1910. 8.
xXI—192 pp. 1. 2,50.
11. Staats- und Verwaltungsrecht.
Spiegel, Ludwig, Professor an der deutschen Universität Prag,
Die Verwaltungsrechtswissenschaft. Beiträge zur Systematik und Methode
der Rechtswissenschaft. Leipzig (Duncker & Humblot) 1909. XIII.
222 SS.
Unter obigem Titel hat der Verf. mehrere Abhandlungen vereinigt,
in denen er einzelne wichtige Fragen, die dem allgemeinen Teile des
Verwaltungsrechts angehören, untersucht. Der Verf. will freilich die
allgemeinen Lehren des Verwaltungsrechts nicht unter dem Namen des
allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts, sondern unter dem eines
„allgemeinen Verwaltungsrechts“ zusammenfassen (S. 55 ff.).
Indes dürfte es zweckmäliger sein, nicht den einen Ausdruck durch den
anderen zu ersetzen, sondern mit jedem der beiden Ausdrücke ver-
schiedene Begriffe zu verbinden. Die wissenschaftliche Bearbeitung des
Verwaltungrechts eines Staates hat zur Aufgabe, diejenigen Rechtssätze
festzustellen, zu untersuchen und in einen systematischen Zusammen-
hang zu bringen, die die Grundordnung für die einzelnen
Rechtsinstitute des Verwaltungsrechts dieses Staates bilden. Dies
ist die Aufgabe des allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts
des einzelnen Staates, Die Wissenschaft kann sich aber auch die Auf-
gabe stellen, die Begriffe und Institute des Verwaltungsrechts, die allen
Staaten oder allen Staaten, die einer und derselben Stufe der staatlichen
Entwicklungan gehören, gemeinsam sind, zu untersuchen. Dies ist die Auf-
gabe des allgemeinen Verwaltungsrechts. Die Untersuchungen,
die der Verf. in vorliegendem Buch gibt, gehören hiernach dem allge-
meinen Teile des österreichischen Verwaltungsrechts, und insoweit das
deutsche, insbesondere das preußische Verwaltungsrecht in einer nahen
Verwandtschaft mit dem österreichischen stehen, auch dem allgemeinen
Teile des deutschen Verwaltungsrechts an.
Wenn der Verf. sagt: „Die allgemeinen Lehren des Verwaltungs-
rechts können nur induktiv aus dem positiven Rechte und nicht deduktiv
aus apriorischen Begriffen entwickelt werden“, so ist ihm nur zuzu-
stimmen. Wenn er aber dies zur Begründung des Satzes anführt, „daß
das allgemeine Verwaltungsrecht jede einzelne Erscheinung des Ver-
waltungsrechts darauf zu prüfen habe, inwieweit sich in ihr die all-
gemeinen Typen verwaltungsrechtlicher Gestaltungen ausgeprägt finden“
(5. 56 ff.), so dürfte sich die Sache doch gerade umgekehrt gestalten. Aus
den einzelnen Erscheinungen des Verwaltungsrechts sind die allgemeinen
Typen (um diesen nicht gerade glücklichen, wenn auch modernen Aus-
druck beizubehalten) "auf dem Wege der Induktion klarzustellen.
Darzulegen, wie diese allgemeinen Typen in den einzelnen Erscheinungen
des Verwaltungsrechts sich ausgeprägt finden, dies muß gerade die Auf-
gabe der besonderen Teile des Verwaltungsrechts bilden.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deygschlands und des Auslandes. 133
Die einzelnen, hier vereinigten Beiträge sind in ihrem wissenschaft-
lichen Werte verschieden. Besondere Beachtung verdient der umfang-
reiche Abschnitt (S. 79—129) über Verwaltungsrecht und Prozeßrecht,
insbesondere die Ausführungen des Verf. über die Rechtskraft der Ver-
waltungsakte. Doch würde es außerhalb des Rahmens dieser Zeitschrift
liegen, auf die Erörterung dieser und anderer Fragen, die ausschließlich
der Rechtswissenschaft angehören, des näheren einzugehen. Von einem
allgemeineren Interessee ist dagegen die Untersuchung, die der Verf. der
Abgrenzung von Staatsrecht und Verwaltungsrecht widmet. Die in der
deutschen Wissenschaft vorherrschende Ansicht geht dahin, daß eine scharfe
Scheidelinie zwischen Staats- und Verwaltungsrecht sich nicht ziehen lasse,
daß das Verwaltungsrecht nur einen Teil des Staatsrechts im weiteren
Sinne des Wortes bildet, denjenigen Teil, der den Inbegriff der Rechts-
normen umfaßt, nach welchen die Aufgaben des Staates auf den ver-
schiedenen Gebieten der Verwaltung (im Gegensatz zur Verfassung)
durchzuführen sind. Der Verf. sucht dieser herrschenden Ansicht gegen-
über nachzuweisen (S. 33—43), daß der begriffliche Gegensatz zwischen
Staats- und Verwaltungsrecht wenigstens in der Hauptsache kein stoff-
licher sei, sondern daß da Verwaltungsrecht eine selbständige und
begrifflich eigenartige Aufgabe habe. Vielfach haben nach seiner An-
sicht Staatsrecht und Verwaltungsrecht dieselben Erscheinungen
des staatlichen Rechtslebens zum Gegenstand, aber sie haben sie nach
begrifflich verschiedenen Gesichtspunkten zu untersuchen, sie haben
andere Fragen und Probleme zu stellen und zu lösen. Das Staatsrecht
müsse vom Staatsbegriff ausgehen und habe zum Gegenstand das
positive Recht, das das Verhältnis der drei Hauptfaktoren im Staat,
Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz zueinander und zu den Staats-
bürgern regele (S. 35 ff). Es habe „die Formel zu finden für das Gleich-
gewicht der staatlichen Kräfte“. Das Verwaltungsrecht habe dagegen
vom Verwaltungsbegriff auszugehen, den Staat bei seiner Tätig-
keit zu beobachten und die Rechtsregeln darzustellen, welche für die
staatliche Tätigkeit, also für die Erfüllung der Verwaltungsaufgaben
gelten. Das Staatsrecht frage, wenn es sich um irgendeine staatliche
Aktion handle: „Wer soll tätig werden?“ ; das Verwaltungsrecht hin-
gegen: „Was soll getan werden?“ Es habe sich mit dem harmonischen
Zusammenwirken der staatlichen Faktoren zur Erreichung der jeweils
gesteckten Ziele zu befassen (S. 37). Indes dürfte es dem Verf. nicht
gelungen sein, mit diesen Ausführungen die herrschende Ansicht zu
widerlegen. Ja, sie bestätigen meines Erachtens gerade die herrschende
Ansicht. Denn alle Aufgaben, welche hiernach der Verf. als selbständige
dem Verwaltungsrecht zuschreibt, lassen sich ebenso als selbständige
Aufgaben des Staatsrechts charakterisieren und umgekehrt. Das Staats-
recht wie das Verwaltungsrecht müssen von dem Begriff des Staates
ausgehen. Denn das Verwaltungsrecht ist nicht das Recht einer be-
liebigen Verwaltung, sondern der staatlichen Verwaltung, und deren
Begriff ergibt sich erst aus dem Begriff des Staates. Andererseits ist
der Begriff des Staates nicht erschöpfend bestimmt, wenn er nicht
den Begriff der staatlichen Verwaltung in sich schließt. Das Staats-
recht umfaßt ebenso wie das Verwaltungsrecht Rechtsregeln, welche für
134 Uebersicht über die gn, Mama Deutschland und des Auslandes.
die staatliche Tätigkeit gelten. Oder sollen etwa die Rechtsregeln,
nach welchen Gesetze zu erlassen sind, dem Verwaltungsrecht überwiesen
werden? Dies ist sicherlich nicht die Ansicht des Verf. Und anderer-
seits regelt nicht auch das Verwaltungsrecht das Verhältnis der drei
Hauptfaktoren des Staats (um den Ausdruck des Verf. zu gebrauchen)
zu den Staatsbürgern? Zu einem großen Teile besteht es gerade aus
Rechtssätzen, die dies zum Zweck haben. Wenn der Verf. sagt, das
Staatsrecht habe die Frage zu beantworten: „Wer soll tätig sein än,
so müßte er folgerichtig das Recht der Organisation der Staatsbehörden
und der Kommunalverbände dem Staatsrecht zuweisen. Aber er selbst
führt in einem späteren Abschnitt (S. 59 ff.) ganz zutreffend aus, daß
die Lehre von der Verwaltungsorganisation zu den wichtigsten Kapiteln
des Verwaltungsrechts gehört. Und wenn nach seiner Ansicht das Ver-
waltungsrecht zu fragen hat: „Was soll getan werden?“ so hat das
Staatsrecht vielfach dieselbe Frage zu stellen und zu beantworten. Die
beiden Fragen lassen sich meist gar nicht voneinander trennen. Der
Verf. bezeichnet die angegebene Formulierung des Gegensatzes von
Staats- und Verwaltungsrecht als eine „drastische“ ; aber sie ist über-
haupt nicht richtig und trifft den Kernpunkt nicht. Auch ist die Frage:
„Was soll getan werden?“ gerade in den wichtigsten Fällen nicht von
dem Recht, weder von dem Staatsrecht noch dem Verwaltungsrecht zu
beantworten, sondern von der Wissenschaft der Politik und von der Staats-
kunst. Sie haben sie zu beantworten innerhalb der vom Rechte ge-
zogenen Schranken und in den von dem Rechte vorgeschriebenen Formen.
Ruft das Buch demnach vielfach Widerspruch hervor, so sei doch
ausdrücklich anerkannt und ausgesprochen, daß der Verfasser überall
durch die Lebendigkeit der Sprache, durch das Bemühen alten Fragen
neue Seiten abzugewinnen, durch die Selbständigkeit des Denkens das
Interesse des Lesers fesselt und zu tieferem Erfassen der Probleme
wissenschaftliche Anregung gibt.
Halle a./S. E. Loening.
Richter, Otto, Der Reichsfiskus. (Abhandlungen aus dem Staats-,
Verwaltungs- und Völkerrecht, herausgegeben von Zorn und Stier-
Somlo, Bd. 4, Heft 3.) Tübingen, Verlag von J. C. B. Mohr (Paul
Siebeck), 1908. VIII. 102 SS.
Die Schrift ist eine Doktordissertation der Juristischen Fakultät
zu Bonn, und als solche entspricht sie durchaus den Anforderungen, die
von den juristischen Fakultäten, die die Doktorpromotionen nur auf
Grund ernstlicher, wissenschaftlicher Leistungen vornehmen, zu stellen
sind. Sie zeigt, daß der Verf. gründliche Studien gemacht hat und in
methodischer Weise eine staatsrechtliche Lehre, die manche Schwierig-
keiten darbietet, zu untersuchen und darzustellen versteht. Nach einer
Einleitung behandelt der Verf. in vier Abschnitten den Begriff und die
Existenz des Reichsfiskus, die Stationen des Reichsfiskus, seine Rechts-
beziehungen, insbesondere deren rechtliche Einteilung, und endlich das
für den Reichsfiskus geltende Recht. Allerdings enthält die Schrift
nicht viel Neues und das darin enthaltene Neue dürfte schwerlich richtig
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 135
sein. So sucht der Verf. nachzuweisen, daß die herkömmliche Einteilung
des Staatsvermögens in Verwaltungs- und Finanzvermögen für die
Rechtswissenschaft unrichtig und unbrauchbar sei. Es kann zugegeben
werden, daß in bezug auf einzelne Vermögensobjekte des Staates es
schwierig ist, sie dem Verwaltungsvermögen oder dem Finanzvermögen
zuzuweisen. Trotzdem kann das Staatsrecht dieser Einteilung gar nicht
entbehren, wie sie bisher auch durchweg (nur Arndt macht eine
Ausnahme) angenommen und verwendet worden ist. Die von dem Verf.
vorgeschlagene Einteilung in dingliche und obligatorische Vermögens-
rechte ist, soweit es sich um Privatrechte handelt, deren Subjekt das
Reich ist, durch das bürgerliche Recht gegeben. Sie erfolgt aber nach
einem ganz anderen Kriterium und ist deshalb mit der Einteilung in
Verwaltungs- und Finanzvermögen sehr wohl verträglich. Wenn aber
der Verf. auch die öffentlich-rechtlichen Vermögensrechte, z. B. das
Recht öffentliche Abgaben zu erheben, den obligatorischen Rechten ein-
ordnet, so hat dies keinen wissenschaftlichen Wert. Denn diese öffent-
lichen Rechte stehen unter anderen Rechtsnormen als die privatrecht-
lichen Forderungsrechte und haben demgemäß auch einen anderen
rechtlichen Charakter. In bezug auf den Fiskus in Elsaß-Lothringen
und den Kolonien (S. 51 ff.) schließt sich der Verf. an H än el (Deutsches
Staatsrecht, Bd. 1, S. 833 ff.) an und bezeichnet, wie dieser, den Fiskus
des Reichslandes mit einem wenig glücklichen Ausdruck als „fingierten
Landestiskus“. Es wäre die Aufgabe des Verf. gewesen, die über die
rechtliche Natur des Fiskus des Reichslandes bestehenden verschiedenen
Ansichten einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. E. Loening.
Bolzani, Georg, Die Verantwortlichkeit der preußischen Minister und ihre
praktische Geltendmachung. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1909. 8. 90 Ss.
M. 1,80.
Gradnauer, Georg, Verfassungswesen und Verfassungskämpfe in Deutschland.
Berlin, Buchhandlung Vorwärts, 1909. 8. 158 SS. M. 3.—.
Kommunalarchiv, Preußisches, für Stadt- und Landgemeinden, Provinzial-,
Kreis- und Amtsverbände. Zeitschrift für Rechtsprechung und Verwaltung auf dem
Kommunal- und Polizeigebiete. Herausgeg. von Kurt v. Rohrscheidt. 1. Bd. 4 Hefte.
(1. Heft. 224 SS.) Berlin, Franz Vahlen, 1910. gr. 8. M. 14.—.
Mähl, Hans, Die Ueberleitung Preußens in das konstitutionelle System durch
den 2. vereinigten Landtag. München, R. Oldenbourg, 1909. gr. 8. XII—268 SS.
M. 6.—.
Salkind, Alexander, Die russische Reichsduma, ihre Geschäftsordnung und
deren Zusammenhang mit den Geschäftsordnungen anderer Volksvertretungen. Berlin,
Puttkanımer & Mühlbrecht, 1909. 8. 72 SS. M. 1,50.
Scheibke, Alwin, Die Frist für Sanktion und Publikation von Gesetzen.
Tübingen, J. C. B. Mohr, 1909. gr. 8. III—XI—151 SS. M. 4.—. (Abhandlungen
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Charau, Henri, Essai sur l’évolution du système représentatif. These. Dijon,
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Ingenbleek, Jules, Le pouvoir présidentiel et l'impérialisme aux États-Unis.
(Essai de droit public comparé.) Bruxelles, Misch et Thron, 1909. 8. 69 pag. fr. 2.—.
(Extrait de la Revue générale.)
Marchandeau, Paul, De la vérification des pouvoirs devant les Chambres
françaises. Thèse. Paris, L. Larose & L. Tenin, 1909. 8. 173 pag.
Munteano, Grig, L’organisation judiciaire en Roumanie. Thèse. Paris, L.
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136 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
12. Statistik.
Allgemeines.
Hesse, A., Gewerbestatistik, Fortsetzung des IV. Teils des Grund-
risses zum Studium der politischen Oekonomie von J. Conrad. Selbst-
anzeige.
In dem Maße, in dem die Statistik ihr Arbeitsgebiet erweitert und
ihre Untersuchungen vertieft, wächst das Bedürfnis nach zusammen-
fassenden Darstellungen ihrer Methode und Ergebnisse. Je mehr das
Material sich häuft, um so schwieriger wird es, eine Uebersicht über
diese wachsende Fülle des Stoffes zu gewinnen und die Entwicklung
fortlaufend zu verfolgen, zumal die Verwertung der Zahlen weiterhin
dadurch erschwert wird, daß die Erhebungen oft kompliziert sind, ihre
Methoden voneinander abweichen, somit ihre Ergebnisse ungleichartig
und ungleichwertig sind. Es müssen daher Arbeiten eintreten, die den
Stoff systematisch ordnen und Methode, Technik und Resultate kritisch
darstellen.
Dieser Aufgabe will für das Gebiet der Gewerbestatistik der vor-
liegende Grundriß dienen. Zur Erreichung des Zieles schlägt er in der
Hauptsache die gleichen Wege ein wie die früheren Bände Es ist in
erster Linie das Tatsachenmaterial und zwar in zahlenmäßiger Zusammen-
fassung geboten. Für die Verwertung sind die durch die Methode und
Technik der Erhebungen bedingten Gesichtspunkte dargelegt; es sind
die wichtigsten Ergebnisse und Folgerungen ausgeführt, im übrigen nur
die Richtungspunkte und Grenzen für die Betrachtung nachgewiesen
worden. Es ist mit Absicht nicht auf alle Einzelheiten der Eigenart und
der Bewertung der Zahlen eingegangen, die statistisch-technische Kritik
beschränkt worden, die zwar den Fachmann besonders interessiert hätte,
aber dem statistisch nicht vorgebildeten Nationalökonomen, besonders
dem Studierenden, den Gebrauch des Buches erschwert haben würde.
Und für diesen, nicht für den Statistiker vom Fach, ist das Buch in
erster Linie geschrieben.
Der Inhalt der Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Nach einer ein-
leitenden Darstellung des Begriffes und der Aufgaben der Gewerbe-
statistik bietet der erste Teil zunächst eine vergleichende kritische Be-
trachtung der deutschen und ausländischen Betriebszählungen, dann
eine Uebersicht über die weiteren Quellen der Gewerbestatistik und das
ergänzende Material aus anderen Gebieten. Der zweite Teil betrachtet
die Ergebnisse. Im ersten Abschnitt werden die wichtigsten, statistisch
meßbaren Merkmale der gewerblichen Betriebe zusammenfassend für
alle Gewerbegruppen dargestellt, zunächst unter verschiedenen Gesichts-
punkten die Größe der Betriebe, dann die Rechtsform der Unterneh-
mungen, die Größe, Stellung und Beschäftigung des Personals, die Ver-
wendung von Motoren und Arbeitsmaschinen, die regelmäßigen Schwan-
kungen und Unterbrechungen der Betriebe und endlich die hausindustrielle
Tätigkeit. Der zweite Abschnitt gibt detaillierte Nachweisungen für die
einzelnen Industrien durch Spezialisierung der gewerbestatistischen
Angaben und Heranziehung der Ziffern der Produktions-, Konsumtions-
und Handelsstatistik. Der dritte Abschnitt bringt die bisher veröffent-
lichten Ergebnisse der deutschen Gewerbezählung 1907.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des A uslandes, 137
In 338 Tabellen sind die Hauptresultate der deutschen und aus-
ländischen Statistik zusammengestellt. Das erste Ziel war möglichste
Vollständigkeit. Dann ist nach allen Richtungen hin das Be-
streben maßgebend gewesen, die Fülle des Materials zu beschränken
und systematisch zu gliedern, um Kürze und Uebersichtlichkeit, die
ersten Erfordernisse eines einführenden Grundrisses, zu erreichen:
wenn dem Leser die wichtigsten Resultate anschaulich dargestellt und
die grundlegenden kritischen Gesichtspunkte eindringlich vorgetragen
werden, dann wird er instand gesetzt, seinerseits die weiteren, einzelnen
Ergebnisse an den betreffenden Stellen des Systems einzufügen und den
allgemeinen Grundsätzen die kritischen Maßstäbe im einzelnen unter-
zuordnen und zu entnehmen.
Es ist mit voller Absicht das Schwergewicht auf die Darstellung
des Zahlenmaterials gelegt, die textliche Behandlung zurückgestellt
worden. Dies wird man gegen die Arbeit einwenden und hat man ihr
zum Vorwurf gemacht. Für diese Beschränkung ist maßgebend ge-
wesen die Erwägung, daß mit der Aufgabe einer möglichst umfassenden
Darstellung der Verhältnisse der Kulturländer und ihrer Entwicklung
sich das Eindringen in die Details nicht verbinden läßt. Dieses gesamte
gewaltige Material eingehend zu verarbeiten, in textlichen Ausführungen
detailliert zu behandeln, erfordert die Berücksichtigung vieler nicht
zahlenmäßig zu erfassender Momente historischer, geographischer, tech-
nischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur. Die Beschaffung und
Verwertung aller dieser verschiedenartigen Unterlagen hätte den Ab-
schluß der Arbeit bis zu einer Zeit hinausgeschoben, in der wiederum
das statistische Material veraltet wäre. Die Alternative war nur: Be-
schränkung des Materials in räumlicher Beziehung und Eingehen auf
die Details oder möglichste Ausdehnung des Stoffes und Beschränkung
in der Behandlung. Für die Wahl der zweiten Möglichkeit sprachen
auch die Rücksicht auf die vielfach geäußerten Wünsche und das oft
empfundene Bedürfnis nach einer solchen systematischen Sammlung des
Materials. Dazu kam die Erwägung, daß im ersten Fall bei aller
Oekonomie und weitestgehender Beschränkung des Tabellenmaterials
die Arbeit einen Umfang gewonnen hätte, der einem Handbuch der
Weltwirtschaft, aber nicht einem Grundriß der Gewerbestatistik ange-
messen gewesen wäre.
Für das Deutsche Reich wird eine eingehende Darstellung des
heutigen Standes der Gewerbe als Anhang folgen, sobald die Ergebnisse
der Erhebung von 1907 sämtlich vorliegen.
Königsberg i. Pr. A. Hesse.
Pikler, Jul., Das Budapester System der Todesursachenstatistik. Ein Beitrag
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liehe Wirkung der Tarifverträge, von Johannes Schellwien. — ete. — Nr. 11: Die
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Heft 1909: Der kapitalistische Unternehmer, von Werner Sombart. — Der Ausbau der
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und Handelspolitik, von (Priv.-Doz.) Artur Salz. — Die gesetzliche Regelung des Tarif-
vertrages, II (Schluß), von (Mag.-R.) P. Wölbling. — Kritische Literatur-Uebersichten:
Ethik und Sozialismus, II (Schluß), von (Prof.) F. Tönnies. — Die Arbeiterfrage im
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psychologischer Enqueten und ihrer Bearbeitung, von Max Weber. — ete.
Archiv für Volkswohlfahrt. Jahrg. III, Heft 2, November 1909: Neue Literatur
zur Wohnungsfrage, von (Prof.) Bud, Eberstadt. — Ueber Büchereiaufgaben der
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Oscar Neve. — ete.
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Ende 1907 resp. 1908/10 in Preußen, von W. Claassen. — Der Beruf des praktischen
Volkswirths im Lichte der Presse, V, von H. v. K. D. — Kameralassessor, Doktor,
Diplomierter, von Vorgell und Heydner. — Die Studienreisen der Süddeutschen Gesell-
schaft für staatswissenschaftliche Fortbildung, von John Mez. — Die wirtschaftliche
Organisation und ihre Presse in den südamerikanischen Staaten, von Otto Greiss, — etc.
— Nr. 23: Die Privatnotenbanken unter dem Bankgesetz von 1909 und ihre Zukunft,
von Fritz Schumann. — Der Beruf des praktischen Volkswirts im Lichte der Presse,
VI, von Hugo Böttger. — Nochmals zum Thema: Kameralassessor, Doktor, Diplomierter,
von Rudolf Wiesener. — ete.
Export. Jahrg. XXXI, 1909, Nr. 47: Handelspolitische Vorlagen. — Reale
afrikanische Eingeborenen-Politik, von Hans Jannasch. — ete. — Nr. 48: Die Reichs-
finanzen und die Einfuhrscheine. — Industrie und Volksvertretung. — ete. — Nr. 49:
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Reale afrikanische Eingeborenen-Politik (Forts. u. Schluß), von Hans Jannasch. — etc.
— Nr. 50: Der Handelsvertrag mit Portugal. — Der Weiterbau der Bagdadbahn. — etc.
Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXIX, 1910, Heft 1: Der ländliche
Grundbesitz und die Bodenzersplitterung in der Preußischen Rheinprovinz und ihre
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Krieg und die deutsche Kultur, von Robert Hoeniger. — Die Gliederung der Volks-
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Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVIII, 1909, Nr. 47: Industrieförde-
rung in Ungarn (Schluß), von L. Laydold. — Internationale Betriebseinschränkung in
der Baumwollindustrie, von Moritz Schanz. — Amerikanische Zuversicht, von G. Ebner.
— ete. — Nr. 48: Aussichten für die deutsche Ausfuhr nach dem Norden Persiens. —
Der Baumwollbau in den deutschen Kolonien. — ete. — Nr. 49: Die Beschäftigung
ausländischer Industriearbeiter im Deutschen Reich, von Rudolf Ludwig Arnold. — ete.
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Kartell-Rundschau. Jahrg. 7, Heft 11, November 1909: Sonderheft, ent-
haltend die Verhandlungen der dem Zentralverbande deutscher Industrieller ange-
schlossenen Kartelle und Syndikate am 16. Oktober 1909 zu Berlin: Kartellentwicklung
und Zentralverband Deutscher Industrieller, von H. A. Bueck. — Ueberblick über die
jüngste rechtliche und tatsächliche Entwicklung auf dem Kartellgebiet, von O. Baller-
Die periodische Presse Deutschlands. 143
stedt. — Wesen und Entwicklung der Textilkartelle, von S. Tschierschky. — Wie schützt
sich ein Kartell gegen die Veräußerung eines kartellierten Unternehmens? Von Silber-
berg. — etc. — Heft 12, Dezember 1909: Die Organisationsbestrebungen im Detailhandel,
von Willy Fees — Amerikanische Wirtschaftsphilosophie, von F. E. Junge. — ete.
Kultur, Soziale. Jahrg. 29, November 1909: Fabrik und Handwerk, von Joseph
Wilden. — Die öffentliche Armenpflege im Lichte der Statistik, von J. Weydmann. —
ete. — Dezember 1909: Matthias Wiese, von Aug. Pieper. — Material über den Kon-
traktbruch landwirtschaftlicher Arbeiter, von H. Mankowski. — etc.
Medizin, Soziale, und Hygiene. Bd. IV, 1909, Nr. 11: Zur Wohnungshygiene,
von H. Krauss. — Vergleichende Darstellung der deutschen und ausländischen Straf-
rechte, von (Justiz-R.) Fuld. — Naturheilvereine und Aerzte, von H. Bartsch. — ete.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. 1909, Nr. 22: Agrarische Hartnäckig-
keit. — Der neue deutsch-portugiesische Handelsvertrag. — Deutschland und Kanada.
— ete. — Nr. 23: Eingabe des Handelsvertragsvereins gegen Schiffahrtsabgaben. —
Kein neues Abkommen mit den Vereinigten Staaten. — etc.
Monatshefte, Sozialistische. 1909, Heft 24: Aussichten und Forderungen der
Sozialpolitik, von Robert Schmidt. — Die Theorie in der Partei, von Eduard Bern-
stein. — Die nationalen Organisationen der Schiffahrtsunternehmer, von Paul Müller.
— Kann Homosexualität strafbar sein? Von Adolf Thiele. — ete. — Heft 25: Die
große Strafrechtsreform, von Otto Lang. — Die Entwicklung des Versicherungsgedankens,
von Friedrich Kleeis. — Die internationale Organisation der Schiffahrtsunternehmer,
von Paul Müller. — Das Dienstbotenproblem in den intellektuellen Kreisen, von Hulda
Maurenbrecher. — ete.
Monatsschrift für Soziologie. Jahrg. 1, 1909, Oktober: Ludwig Gumplowiez,
von Franco Savorgnan. — Der Gesellschaftsbegriff, von Vicenti Santamaria del Paredes.
— Der VII. Kongreß des internationalen Instituts für Soziologie, von Virgile Barbat
und Eleutheropulos.. — ete. — Nov.—Dez.: De la sociologie linguistique, par Raoul
de la Grasserie. — Bericht über die soziologische Literatur seit 1900 und die soziolo-
gischen Gesellschaften. Amerika, von Johanna Odenwald-Unger. (Schluß.) — Frank-
reichs Sorge, von Ludwig Gumplowiez. — etc.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXVII, 1909, No. 1403: Misere der
deutschen Staatsanleihen. — ete. — No. 1404: Banknote oder Scheck? Von Fritz
Lennert. — ete. — No. 1405: Zur Veröffentlichung der Bank-Bilanzen. — ete. —
No, 1406: Die Nationalökonomie, als exakte Wissenschaft, von Robert Franz. — etc.
— No. 1407: Die Belastung der Reichsbank mit Reichsschatzscheinen, von (Wirkl. Geh.
Ober-Reg.-R.) Eb. D’Avis. — etc.
Plutus. Jahr 6, 1909, Heft 48: Kali, von Bruno Buchwald. — Steuern in China,
von Budolf Stübe. — ete. — Heft 49: Taussig, von Walther Federn. — ete. — Heft 50:
Lords. — Kontrepartiegeschäfte, von Georg Zadig. — etc. — Heft 51: Frei Strom! —
Richtige Buchführung, von Hans Günther. — etc.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 14, Nr. 11, November
1909: Der deutsch-amerikanische Patentvertrag, von E. Kloeppel. — Der Dreiakt als
Lehre von der Technik und der Erfindung, von P. K. von Engelmeyer. — etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 34, Dezember 1909: England und die Vergrößerung
der deutschen Flotte, von einem ausländischen Seeoffizier. — Kriegsrecht, Frieden und
Rüstungen, von (Prof.) L. v. Bar. — Ein Ministerium für Wissenschaft und Kunst. —
Der Friedensgedanke und die Neutralisierung der europäischen Grenzen, von Raschdau.
— Die endgültige Beseitigung der englischen Spannung, von v. Ahlefeld. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VIII, No. 9, Dezember 1909: Heyden-
reichs „Familiengeschichtliche Quellenkunde‘“, von Georg Lomer. — Ueber die natürliche
Minderwertigkeit der niederen Bevölkerungsklassen, von G. Vacher de Lapouge. —
Sozialismus und Rassenkampf, von G. Weiss. — Grundzüge der Rassenveredelung, von
Paul C. Franze. — ete.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 3, Dezember 1909: Die Marinepolitik
der GroBmächte, von (Vizeadm. z. D.) Valois. (Schluß.) — Die russischen Finanzen
nach Krieg und Revolution, von Georg Tantzscher. — Die Deutschen im Urteile des
Auslandes, von (Prof.) Georg Steinhausen. — ete.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1909, Heft 12, Dezember: Berichte über die
Schlafkrankheit in Deutsch-Ostafrika, I, von Steudel. — Gedanken über die Eingebornen-
frage in Britisch-Südafrika und Deutsch-Südwestafrika, II, von Georg Hartmann. — Zur
Verstaatlichung der Otavibahn, von Otto Jöhlinger. — ete.
144 Die periodische Presse Deutschlands.
Rundschau, Masius. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XXI, 1909, Heft XI: Die Kapitalanlagen der deutschen Lebensversicherungs-
Anstalten, II. — Ist ein Bedürfnis für eine Tuberkuloseversicherung vorhanden, wie
soll sie beschaffen sein, und müßte sie mit Lebensversicherung verbunden werden?
(Schluß) Von J. Werner. — Das österreichisch - ungarische Versicherungswesen im
Jahre 1908. — etc.
Sozial-Technik. Jahrg. VIII, 1909, Heft 23: Die neue Bundesratsverordnung
über die Einrichtung und den Betrieb von Steinbrüchen und Steinhauereien, von A.
Spielmann. — Sicherheitsvorschriften für Fabriken und gewerbliche Anlagen (Schluß),
von Otto Prange. — Die Wirkung der Unfallverhütung, von Carl Hörber. — ete. —
Heft 24: Schutz- und Wohlfahrtseinrichtungen in den Betrieben der AEG Berlin,
von (Ingenieur) G. Osenbrügge. — Soziale Kulturarbeit in Rußland. — ete.
Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. VII, 1909, Heft 3
u. 4: Die norwegische Agrarverfassung von der Kalmarer Union (1397) bis zur Ver-
fassungsänderung (1660) unter besonderer Berücksichtigung des Pachtwesens (Forts. u.
Schluß), von Oskar Büchner. — Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde, von G.
v. Below. -— I consigli economiei e finanziari di un banchiere italiano del secolo XVI,
di Arturo Segre. — Die hansischen Handelsgesellschaften, von F. Keutgen. — Das
Inventar eines deutschen Marschbauernhofes aus dem letzten Jahre des 30-jährigen
Krieges, von Wilh. Ramsauer. — etc.
Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser-
lichen Statistischen Amte. Jahrg. 18, 1909, Heft 4: Konkurs-Statistik 1908. — Zur
deutschen Justizstatistik 1908. — Die Bergwerke, Salinen und Hütten 1908. — Ehe-
schließungen, Geburten und Sterbefälle 1908. — Der Verkehr auf den deutschen Wasser-
straßen 1872—1908. — Salzgewinnung und -besteuerung 1908. — Zur Kriminalstatistik.
Vorläufige Mitteilung für 1908. Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze 1903
—1908. — Der Tabak im deutschen Zollgebiete 1908. — Bierbrauerei und Bier-
besteuerung 1908. — Zuckergewinnung und -besteuerung 1908/1909. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. V, 1909, Nr. 23: Die staatsbürgerliche
Erziehung des deutschen Volkes, von (Prof.) H. Geffeken. — Kautschuk, Produktion
und Handel, von Freyer. — Tendenzen im heutigen Butterhandel, von Müffelmann.
— etc.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 9: Die Anhäufung des Reichtums in
Amerika, von H. L. Call. — ete. — Nr. 10, 11: Zur Methode der politischen Oekonomie,
von Gust. Eckstein. — Versicherung oder sozialpolitische Fürsorge? Von Friedrich
Kleeis. — ete. — Nr. 12: Die Verfassungskrise in England, von Theodor Rothstein. —
Der Kampf um den Arbeitsnachweis, von Josef Kliche. — ete.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 2, Heft 9,
Dezember 1909: Defraudationen und Kontroll-Einrichtungen der Banken, von Georg
Obst. — Das Problem einer internationalen Geldverfassung, von Walter Conrad. — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. XI,
Heft 11, November 1909: Die schiffbaren Wasserstraßen in den deutschen Kolonien, von
D. Kürchhoff. — Deutschlands und Englands koloniale Beziehungen zur Pyrenäen-
halbinsel, von Carl Singelmann. — Die Neuguinea-Compagnie, von Herbert Jäckel.
(Forts.) — Pretoria, die Hauptstadt des neuen Südafrika, von Hans Berthold. — Die
rechtliche Stellung der britischen Herrschaftsgebiete, von H. Edler v. Hoffmann. — etc.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Jahrg. XII, 1909, Heft 12: Zur Frage der
Jugendgerichtshöfe, von Max Treu. — Die sexuelle Moral der Naturvölker, von H.
Berkusky. — Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, von
Adolf Lasson. — ete.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. 30, 1909, Heft 2 u. 3:
Blutmord und Aberglaube, von Albert Hellwig. — Die Kriminalität in Stadt und Land
in ihrer Beziehung zur Berufsverteilung, von Galle. — Der Vorentwurf zu einem
deutschen Strafgesetzbuch, von K. v. Lilienthal und von van Calker. — Zum Vor-
entwurf eines Reichsstrafgesetzbuches, von v. Liszt. — etc,
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
K. Schönheyder, Die Landwirtschaftsrente. 145
II.
Die Landwirtschaftsrente.
Von
Dr. K. Schönheyder, Christiania (Norwegen).
Als gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts die klassische Wissen-
schaft der Oekonomie durch John Stuart Mill ihre Vollendung er-
reicht hatte, machte sie auf die Gelehrten der Zeit den Eindruck
eines vollkommen fertigen wissenschaftlichen Gebäudes, zu dem nichts
Wesentliches mehr hinzuzufügen war. Das ganze System war logisch
durchgebildet und baute sich in einfachen reinen Linien auf. Und
über diesen Bau der Wissenschaft ragten zwei mächtige Türme
empor, die den Stil des Gebäudes gleichsam vollendeten — empor-
ragend nicht allein kraft des genialen Geistes, der sie erzeugte,
sondern auch durch die Bedeutung der ökonomischen Realitäten, die
den beiden ökonomischen Gesetzen zugrunde liegen — den Gesetzen,
deren Träger zwei hochberühmte Namen sind: Ricardo mit seiner
Grundrententheorie, und Senior mit seiner Lehre von der Sparsam-
keit als der eigentlichen Ursache und Quelle zum Wohlstand der
Nation, die Seniorsche Abstinenztheorie.
Trotz der großen und einschneidenden Veränderungen, die seit
Mill mit der wissenschaftlichen Auffassung der ökonomischen Phä-
nomene vorgegangen sind — Veränderungen von so fundamentaler Art,
daß sie den Geist der gesamten Wissenschaft verwandelt haben —
hat die Theorie doch an zwei Punkten so viel von ihrem ursprüng-
lichen Charakter bewahrt, daß man wohl sagen darf, hier ist der
Klassizismus noch der Herrschende. Und eben diese beiden Punkte
sind es, die ich als die beiden hervorragendsten der klassischen
Wissenschaft bezeichnet habe.
Ich lasse zurzeit eine Abhandlung über das Kapital als Faktor
der Wirksamkeit des Menschen übersetzen, wo ich nachzuweisen
suche, daß die Seniorsche Abstinenztheorie, die ja tatsächlich noch
heute in der englischen Literatur die herrschende ist, zusammen mit
derim Grundprinzip mitihr nahverwandten Böhm-Bawerkschen Theorie
über den „Mehrwert der Gegenwartsgüter“ in offenbarem Widerspruch
Dritte Folge Bé. XXXIX (XCIV). 10
146 K. Schönheyder,
steht zu dem gültigen Grundprinzip aller menschlichen Wirksamkeit,
und daß man die wissenschaftliche Definition der Sparsamkeit und
der Kapitalopferung auf einer ganz anderen Grundlage zu suchen
habe, einer Grundlage, die sehr nahe an die Entdeckung der neueren
Wissenschaft auf dem Gebiete des Wertproblems streift.
Ich möchte in der vorliegenden Abhandlung die zweite der
beiden erwähnten Theorien, Ricardos Grundrententheorie, einer
kritischen Beleuchtung unterziehen, die, wie ich hoffe, klarlegen wird,
daß das Gesetz des abnehmenden Frtrages in seiner jetzigen Form
— als Erklärung des Grundrentenphänomens — an einer Einseitig-,
keit laboriert, daß Ricardos Theorie, indem sie die Tatsachen vom
rein produktiven Gesichtspunkt anschaut, dadurch eine Seite der
Sache übersieht, die meines Erachtens vor allem die Grundrente als
ökonomisches Phänomen charakterisiert.
Diese Theorie, die Ricardos Namen trägt, und die wir als be-
kannt voraussetzen können, vertritt, in Kürze gefaßt, die Anschauung,
daß das gesamte bebaute Bodenareal aus Grundstücken äußerst ver-
schiedenartiger Qualität und Fruchtbarkeit besteht. Die stetig
wachsende Bevölkerung zwingt die Menschen, die Bewirtschaftung
des Bodens immer mehr und mehr auf solches Land auszudehnen,
das hinsichtlich der Fruchtbarkeit und Lage ungünstiger beschaffen
ist als das früher bewirtschaftete.e Mit der Abnahme der Frucht-
barkeit und günstigen Lage des Bodens wachsen die Produktions-
kosten. Auf einem weniger fruchtbaren Boden ein gleiches Quan-
tum Produkte zu erzeugen, erheischt ein größeres Quantum Arbeit.
Demnach werden die höchsten Produktionskosten den Preis für
sämtliche zum Umsatz gelangende Bodenprodukte bestimmen. Wer
also im Besitze fruchtbareren Bodens ist, wird seine Produkte mit
einem die Produktionskosten übersteigenden Betrag bezahlt erhalten.
Und diese Differenz, die folglich mit der steigenden Fruchtbarkeit
des Bodens wächst — die Differenz zwischen dem Preis der
Produkte und den Produktionskosten bildet die eigentliche Boden-
rente, den Pachtzins, den der Ackerbauer für die produktive Kraft
des bewirtschafteten Bodens an denjenigen abzugeben hat, der die
Verfügungsgewalt über den Boden besitzt, nämlich den Eigentümer.
Die höchste Bodenrente ergibt naturgemäß der Boden, der mit den
geringsten Kosten produziert. Während da, wo die Produktions-
kosten am höchsten sind und am engsten mit dem Preise der Pro-
dukte zusammenfallen, die Bodenrente eine sehr geringe ist oder
überhaupt ausfällt.
In dieser Darstellung der Ricardoschen Grundrententheorie ist,
wie man sieht, ein Moment nicht berücksichtigt, an das man wohl
jetzt — wo von abnehmendem Ertrag die Rede ist — be-
sonders denkt, nämlich der Produktionszuwachs bei einer immer
intensiveren Bodenbenutzung, wenn Kapitalmenge und Boden-
bearbeitung vermehrt werden. Ricardo ist sich freilich klar darüber,
daß, wenn die Bewirtschaftung sich auf Boden von weniger günstiger
Die Landwirtschaftsrente. 147
Beschaffenheit und Lage ausdehnt, gleichzeitig eine intensive Pro-
duktionserweiterung der besser beschaffenen Güter vor sich geht.
Und er betont ausdrücklich, daß die Produktionsvermehrung auch
auf diesem Wege nur mit stets wachsenden Kosten geschehen kann,
und gerade infolgedessen der Anbau sich auch auf Boden un-
günstiger Besehaffenheit ausdehnen muß. Ricardo ist sich also in
Wirklichkeit klar über das Gesetz des abnehmenden Ertrages in
seinem ganzen Umfang. Aber wo es gilt, das eigentliche Grund-
rentenphänomen zu erklären, da schiebt Ricardo den Folgen der
intensiveren Bodenausnutzung nur eine untergeordnete oder akzesso-
rische Bedeutung zu.
„Wenn der Boden überall dieselbe Eigenart besäße“, schreibt er,
„wenn er von unbegrenzter Ausdehnung wäre, wenn er durchgehend
von gleicher Beschaffenheit wäre, dann dürfte die Bewirtschaftung
nicht mit besonderen Abgaben belastet sein, ausgenommen da, wo
die Lage ganz besondere Vorteile darbietet. Eine Rente kann
daher nur aus dem Grunde entstehen, daß nicht Boden in
genügender Menge und von gleicher Beschaffenheit vorhanden ist,
weshalb, durch die wachsende Bevölkerung bedingt, der Bedarf es
notwendig macht, auch minder fruchtbare oder minder gut gelegene
Grundstücke in Anbau zu nehmen. Sobald infolge des Fortschreitens
der bürgerlichen Gesellschaft zweitklassiger Boden zur Bewirtschaftung
gelangt, tritt die Rente unmittelbar für erstklassigen Boden ein und
der Rentenbetrag richtet sich nach dem Unterschied in der Be-
schaffenheit der Bodenklassen.*
Man muß einerseits ganz im klaren darüber sein, daß diese
Darstellung Ricardos von dem sukzessiven Uebergehen der Mensch-
heit von erstklassig fruchtbarem Boden zu Boden geringerer Qualität
und ungünstigerer Lage nur darauf berechnet ist, das von ihm auf-
gestellte Gesetz des abnehmenden Ertrages anschaulich zu
machen. Das Wesentliche und ökonomisch Entscheidende ist ihm
natürlich nicht die Zeitfolge, in der die Bewirtschaftung der ver-
schiedenen Bodenklassen stattgefunden hat, sondern einzig die öko-
nomische Tatsache, daß Boden verschiedenartiger Beschaffenheit sich
gleichzeitig im Anbau befindet, was naturgemäß dadurch bedingt
ist, daß Boden bester und fruchtbarster Qualität nicht in so unbe-
grenzten Mengen vorhanden ist, um dem heutigen Bedarf an Boden-
produkten genügen zu können.
Andererseits geht aus Ricardos Darlegung auch mit Klarheit
hervor, daß die Folgen der intensiveren Benutzung von Boden
höherer Fruchtbarkeit für seine Theorie nur von akzessorischer Be-
deutung sind. Die Bodenrente ist ihm der Unterschied zwischen
den Produktionskosten fruchtbaren und weniger fruchtbaren Bodens.
Da hebt Stuart Mill denn doch mit ganz anders kraftbewußter
Tendenz hervor, wie die intensivere Bewirtschaftung eine direkte
Folge der Zunahme der Bevölkerung ist und wie diese intensivere
Bewirtschaftung an und für sich die Tendenz hat, die Grundrente zu
10*
148 K. Schönheyder,
erhöhen und den Arbeitslohn herabzudrücken. Und Mill meint auch
hiermit ein neues Moment zur Beleuchtung des Bodenrentenproblems
geliefert zu haben.
Gegen diese Auffassung erhebt nun Carey!) seinen bekannten
kräftigen Protest. „Ricardos und Mills Theorie“, sagt Carey, „stehen
in absolutem Widerspruch zu allen ökonomischen und historischen
Tatsachen. Die ökonomische Entwicklung der Menschheit besteht in
einer fortgesetzten Erweiterung ihrer Herrschaft über die Natur und
deren Kräfte. Und dieses Gesetz gilt nicht allein für die Industrie,
sondern auch für die Landwirtschaft. Die technischen Gerät-
schaften gewinnen an Vollkommenheit, und in dem Maße, wie die
Befähigung der Menschheit, den notwendigsten Bedarf herbei-
zuschaffen, abnimmt, sinken alle Werte und wächst der wahre Reich-
tum. Der erste Boden, der in Besitz genommen wird, erfordert
daher auch den geringsten Aufwand an Arbeit und die geringste
Technik der Bebauung. Aus diesem Grunde ist er aber auch der
wenigst fruchtbare. Erst wenn der Mensch die volle Herrschaft
über die Natur erhält, kann man die lohnendste Bewirtschaftung
bewerkstelligen, die gleichzeitig aber auch die meiste Arbeit und
das meiste Kapital und überhaupt ein höheres Stadium der tech-
nischen und ökonomischen Entwicklung erfordert. Die intensivere
Bewirtschaftung geht also nicht mit abnehmendem, sondern mit
stetig zunehmendem Ertrage vor sich. Während die Entwicklung
ihren sicheren Gang geht, werden alle die früheren Verbesserungen
des Bodens an Wert verlieren in demselben Grade, wie die land-
wirtschaftliche Technik sich vervollkommnet, ganz so, wie z. B. die
alten Steingeräte wertlos wurden, als die Menschen lernten sich das
Metall zu ihrem Hausrat dienstbar zu machen. Der eigentliche
Wert des Bodens ist daher nur ein ganz minimaler Teil des hinein-
gesteckten Kapitals. Nur einer, der nichts anderes als die alte
Kulturwelt aus nächster Nähe gesehen hat — nur einer, der nicht
Gelegenheit gehabt hat, die übermenschlichen Kraftanstrengungen zu
beobachten, die diese Eroberung der Wildnis, die Urbarmachung der
Urwälder, die Trockenlegung der Sümpfe gekostet haben, kann noch
an dem Glauben festhalten, daß der Boden irgendwelchen Wert be-
sitzt, den er nicht menschlicher Arbeit und menschlichem Kapital zu
verdanken hat.
Während Carey in der Bodenrente also nichts anderes als eine
Verrentung des hineingesteckten Kapitals sieht, gibt es noch eine
andere und ungleich berühmtere Theorie, deren Urheber gleich Carey
Amerikaner ist und, wie dieser, Gelegenheit gehabt hat, Zeuge der
raschen Entwicklung des neuen Erdteils zu sein. Seine Auffassung
steht jedoch zu der Careys in dem denkbar krassesten Widerspruch.
Ich meine Henry George ?).
1) The past, the present and the future, Philad. 1848. Prineiples of social science,
3 vol., Philad. 1858—59.
2) Progress and poverty, San Francisco 1879.
Die Landwirtschaftsrente. 149
Während Carey in dem steigenden Wert des Bodens nur eine
Wirkung der mit ungeheuerem Aufwand an Arbeit und Geld be-
werkstelligten Bodenverhältnisse, die eine allgemeine Hebung des
sozialen Wohlstandes mit sich führen, sieht, erblickt George in der
Bodenrente den ungeheueren Schmarotzer, der sich an der mühsamen
Arbeit der wachsenden Millionenbevölkerung sattfrißt und erntet, wo
er nicht gesät hat. Nicht die im Boden angelegten Kapitalien haben
den Wert desselben gesteigert und werden ihn fortgesetzt steigern
— nein, die Industrie und die Fabriken, die Verkehrsverbindungen
und die Millionen der Weltstädte sind es, die den Grundbesitz im
Kurs steigen lassen. In Neuansiedelungen — so wie z. B. vor nicht
zu langer Zeit in Amerika — wo es Land genug gibt, wo die Kultur
noch nicht vorgedrungen ist, ist der Boden ohne Wert und die
Arbeitslöhne höher als irgendwo anders. Sobald die Bevölkerung
zunimmt, und das Land sich in ökonomischer Beziehung entwickelt,
steigt der Boden an Wert, während Kapitalrente und Arbeitslöhne
immer mehr fallen. Die Grundbesitzer allein ernten die Früchte der
ökonomischen Entwicklung, an der sie selbst keinen Teil haben.
Es liegt in Henry Georges Darlegung etwas, das meines Er-
achtens eine wirklich neue Phase in der rein wissenschaftlichen Ent-
wicklung der Bodenfrage bedeutet. Die Bodenfrage hört hier auf,
eine rein abstrakte Theorie von dem abnehmenden Ertrag des
Bodens oder der Arbeit zu sein. Es spinnt sich ein direkter Zu-
sammenhang zwischen dem steigendem Wert des Bodens und den
einzelnen konkreten kulturellen Fortschritten — eine wachsende
Stadt, eine neue Eisenbahnanlage, eine neue Fabrik —, jeder ein-
zelne Faktor setzt also sozusagen einen Teil des Wertes ab, der
dem Gesamtwachstum der bürgerlichen Gesellschaft zu verdanken
ist, und zwar zugunsten eines einzelnen oder mehrerer bestimmter
Grundbesitzer.
In einem Punkt hat Henry George Carey gegenüber sicher-
lich recht: nicht ausschließlich das im Boden angelegte Kapital,
sondern das gesamte konzentrierte Gesellschaftskapital macht den
Wert des Bodens wachsen. Und in einem Punkt hat Carey
George gegenüber zweifellos recht: Das Kapital bedeutet eine
Verbesserung in den allgemeinen Produktionsbedingungen, unter
denen die Menschen leben, und zwar eine Verbesserung, der keine
Grenze gesteckt is. Und auch Ricardo und Mill gegenüber steht
Carey auf diesem Punkte nach meiner und vieler anderen Auf-
fassung als Sieger. Das Kapital weist in seiner riesenhaften Ent-
wicklung keine abnehmende Produktivität auf. Es ist im Gegenteil
die Quelle, aus der die beiden anderen Produktionsfaktoren, der
Boden und die Arbeit immer ihre produktive Erneuerung schöpfen.
Das Gesetz des abnehmenden Ertrages hat indessen einen neuen
Zuschnitt bekommen durch eine Richtung der neueren Wissenschaft,
der man den Namen Grenzproduktivitätstheorie gegeben hat. —
Ricardo lehrte, daß der Wert des Produktes sich nach der zu seiner
Erzeugung erforderlichen Arbeitsmenge richtet — daß mit anderen
150 K. Schönheyder,
Worten Produktionskosten nur Arbeit bedeuten. Und das wies er
mit Bezug anf die Bodenprodukte nach. Die Arbeit, die das letzte
Quantum Bodenprodukte kostet, bestimmt den Wert dieses Quantums.
Doch erst v. Thünen!) machte das Gesetz des abnehmenden
Ertrags zu einem generellen Gesetz aller produktiven Tätigkeit.
Diese Erweiterung verwirklicht in gewisser Weise Ricardos Wert-
gesetz. Die Produktionskosten werden nach dem allgemeinen gene-
rellen Gesetz des abnehmenden Ertrages ein gewisses Quantum
Arbeit und nichts anderes. Das Grenzprodukt der Arbeit, der
Zuwachs am Produktionsertrag, der von der letzten Quantität Arbeit
abhängig ist, hat als seine Produktionskosten nur Arbeit, d. h. die
Menge Arbeit, die zu seiner Erzeugung erforderlich war.
Auch Jevons?) hat, unabhängig von Thünen, eine Darstellung
des Grenzproduktivitätsgesetzes gegeben, die er seiner Kapitalrenten-
theorie E legt. Auch Walras’) baut seine Produktions-
theorie auf dem Gesetz des abnehmenden Ertrages. — Der große
pr der Grenzproduktivitätstheorie ist meines Erachtens jedoch
ark‘).
Clark begann seine wissenschaftliche Laufbahn als entschiedener
Gegner Henry Georges. Er sagt selbst, daß der Georgismus ihn
dazu brachte, das Verteilungsproblem einer eingehenden Unter-
suchung zu unterziehen — einer Untersuchung, die zu seinem be-
rühmten Gesetz von der ökonomischen Verteilung führte, nach
welchem jedem den einzelnen Produktionsfaktoren: Arbeit, Boden
und Kapital der Anteil an dem gemeinsamen Produktionsertrag zu-
fällt, den der Produktionsfaktor selbst erzeugt.
Clark formuliert zunächst das allgemeine Gesetz des abnehmen-
den Ertrags als Folge der Vermehrung der Quantität der Arbeit,
während die des Bodens und des Kapitals unverändert ist. Dieses
Gesetz jedoch, daß der Ertrag nicht in demselben Grade steigt, wie
der eine Produktionsfaktor zunimmt, gilt nicht allein mit Bezug auf
die Arbeit, sondern auch für die beiden anderen Produktionsfaktoren,
Boden und Kapital. Wenn man sich die Quantität des Bodens und
des Kapitals wachsend denkt, während die Quantität der beiden
anderen Produktionsfaktoren unverändert bleibt, so wird auch hier
jede gleichgroße Vermehrung ein Plus — einen Zuschuß zur Quan-
tität des Produktionsertrages bringen; dieser Zuschuß aber wird bei
jeder gleichgroßen Erhöhung des Produktionsfaktors immer kleiner
werden. Der letzte Zuschuß ist das, was man das Grenzprodukt
genannt hat, und dessen Größe bezeichnet die Grenzproduktivität
oder die produktive Bedeutung des Produktionsfaktors.
1) Der isolierte Staat, Hamburg 1826.
2) The teory of political economy, London 1871.
3) Elements d’&conomie politique pure, Lausanne 1874—77.
4) The distribution of wealth, New York 1900. The essentials of economie theory,
New York 1907.
Die Landwirtschaftsrente. 151
Wird der eine Produktionsfaktor im Verhältnis zu den anderen
erhöht, so wird demnach seine Grenzproduktivität verringert; hierin
liegt aber mit Naturnotwendigkeit, daß umgekehrt der Faktor, dessen
Quantität im Verhältnis zu den anderen verringert wird, seine
Grenzproduktivität erhöht, und zwar einerlei, ob diese verhältnis-
mäßige Verringerung begründet ist in Veränderungen der eigenen
Quantität des Produktionsfaktors oder in der der anderen.
Die Grenzproduktivität des Bodens vermehrt sich nicht allein
dadurch, daß seine eigene Quantität sich verringert, sondern
auch dadurch, daß die Quantität der Arbeit sich vermehrt. Es
ist das Verhältnis zwischen den Quantitäten, das die Höhe der
Grenzproduktivität für beide Faktoren bedingt.
Und der Umstand, daß die letzte Einheit der wachsenden
Quantität weniger als die in der Reihe vorangehende produziert,
bedeutet nicht etwa, daß die eine Einheit gleichzeitig weniger
als die andere Einheit produziert. Gleichzeitig sind sie nämlich
alle von gleicher Produktivität. Es bedeutet, daß die zehnte Ein-
heit weniger produziert, als die neunte damals, als nur neun in
Tätigkeit waren.
Die Grenzproduktivität eines Produktionsfaktors drückt also
dessen relative Bedeutung für die Produktion aus und bestimmt
dadurch seinen Anteil am Ertrag. Ist die Quantität der Arbeit im
Verhältnis zu der des Bodens groß, so ist ihre Grenzproduktivität
oder ihre relative Bedeutung für die Landwirtschaft gering, während
die Grenzproduktivität und relative Bedeutung des Bodens groß ist.
— Die abnehmende Grenzproduktivität der Arbeit und das damit
verbundene Fallen der Arbeitslöhne bedeutet also nicht, daß allen in
der Reihe vorangegangenen Arbeitern ein Teil dessen, was sie selbst
erzeugt haben, geraubt wird. Es bedeutet, daß jeder einzelne
Arbeiter weniger produziert, sobald mehr Arbeiter beteiligt sind, als
wenn es weniger sind, während gleichzeitig der Anteil des Bodens
an dem produktiven Resultat erhöht wird. Jeder Arbeiter bekommt
rechtmäßig, was er erzeugt; der Grundbesitzer bekommt nur, was
der Boden als Produktionsfaktor zu dem produktiven Resultat
beiträgt.
Die Erklärung der Bodenrente ist demnach folgendermaßen
zu formulieren: da kein unbegrenztes Bodenareal zur Verfügung
steht, muß man sich, um die Produktion zu erweitern, teils mit
minder fruchtbarem und minder zentral und günstig gelegenem
Boden begnügen, teils muß man zu einer intensiveren Ausnutzung
des bereits bewirtschafteten Areals, und zwar vornehmlich des besser
beschaffenen und günstiger gelegenen Erdreichs schreiten. Doch
diese intensivere Anwendung von Kapital und Arbeit kann — nach
dem allgemeinen Produktivitätsgesetz — nur mit abnehmendem Er-
trag geschehen, d.h. je nachdem die Quantität des Kapitals und der
Arbeit im Verhältnis zu der Quantität des Bodens, und zwar haupt-
152 K. Schönheyder,
sächlich des besser beschaffenen und günstiger gelegenen Bodens
zunimmt, so wird die Grenzproduktivität der Arbeit — ihre Be-
deutung für die Produktion — im selben Grade abnehmen, wie die
Grenzproduktivität und Bedeutung des Bodens zunimmt. — Also
nur Ricardos und Mills Lehre in etwas weiter entwickelter Form.
Gehen wir nun über zu einer kritischen Beleuchtung der Boden-
rententheorie in der Form, die sie durch die Grenzproduktivitäts-
theorie erhalten hat, so müssen wir vor allem die Frage auf die
eigentliche Landwirtschaftsrente begrenzen. — Die Landwirt-
schaftsrente ist ja nahe verwandt mit anderen Renten — Bodenrente,
Waldrente, Bergwerks- und Grubenrente — überhaupt Renten von
allen natürlichen Gütern, die dem privaten Eigentumsrecht unter-
stellt sind. So nahe verwandt, daß es natürlich nicht an Leuten
gefehlt hat, die eine gemeinsame Ursache dieser Rentenphänome in
dem privaten Eigentumsrecht als solchem haben suchen wollen.
Man hat diese natürlichen Güter vergleichsweise zusammen-
gehalten mit den freien Gütern, die nicht dem privaten Eigen-
tumsrecht unterworfen und die — deshalb! — natürlich keine Rente
abwerfen.
Nun ist es jedoch vollkommen unberechtigt, den begriffsmäßig
ökonomischen Unterschied zwischen den freien und den dem Eigen-
tumsrecht unterstellten Gütern in eben diesem Eigentumsrecht zu
suchen. Der Unterschied liegt naturgemäß darin, daß die voll-
ständig freien Güter, wie Luft, Wasser u. a., im Verhältnis zum
Bedarf in unbegrenzter Menge vorhanden sind, während Metalle und
stark erstrebtes Grundareal in Großstädten im Verhältnis zum Be-
darf nur in sehr begrenzter Menge vorkommen. Die Grubenrente
liegt in dem Wert des Metalles an sich; und dieser natürliche Wert
ist selbstverständlich nicht bedingt durch irgendeines Menschen
Eigentumsrecht, während das Eigentumsrecht gerade um-
gekehrt seinen Ursprung im Werte hat.
Während also im allgemeinen das Rentenphänomen seinen
Ursprung in dem Seltenheitsmoment hat, das wiederum einerseits
bedingt ist durch den Bedarf, andererseits durch die Begrenzung
der Quantität, so beruht das eigentliche Landwirtschaftsrenten-
phänomen auf der Eigentümlichkeit der Begrenzung, die in
dem Gesetz des abnehmenden Ertrages liegt. Metalle oder Grund-
stücke mitten in der Stadt können nicht erzeugt oder produziert
werden. Sie sind da oder sie sind nicht da. Die Bodenprodukte
hingegen werden produziert; sie können durch menschliche Tätig-
keit verdoppelt oder vervielfacht werden, aber — wie gesagt — immer
mit der eigentümlichen Begrenzung, die in dem Gesetz des ab-
nehmenden Ertrages liegt. — Die Waldrente ist die der eigentlichen
Landwirtschaftsrente am nächsten verwandte. Der Waldbestand ist
ja in hohem Grade abhängig von der Arbeit, die auf die Beförderung
seines Wachstums verwandt wird.
Was nun das Gesetz von dem abnehmenden Ertrag des
Die Landwirtschaftsrente. 153
Bodens und der Arbeit an sich angeht, so ist es meines Er-
achtens in der Natur der Sache selbst begründet. Es liegt eine,
ich möchte fast sagen logische Folgerichtigkeit darin, weil wir es
hier mit einem annähernd rein mathematischen Quantitätsphänomen
zu tun haben — mit zwei Produktionsfaktoren, die jeder an sich
von einer bestimmten mathematischen Bedeutung sind, insofern als
eine Veränderung einer der Quantitäten, die an der Produktion
beteiligt sind, das ökonomische Resultat nicht im selben Verhältnis
verändern können, wie dieser eine Produktionsfaktor sich verändert.
Eine Verdoppelung der Arbeit allein kann nicht das Produkt der
Landwirtschaft verdoppeln. Das wäre einsbedeutend mit der Be-
hauptung, daß die Produktivität oder produktive Bedeutung des
Bodens gleich Null sei. Aber in dieser selbstverständlichen Voraus-
setzung ist die abnehmende Produktivität der Arbeit rein mathe-
matisch ausgedrückt. Der letzte Teil der Arbeit ist demnach von
geringerer produktiver Bedeutung als der erste gleichgroße Teil.
Diese abnehmende Produktivität des Bodens und der Arbeit
trifft jedoch erst an einem bestimmten Punkte oder bei einem be-
stimmten quantitativen Verhältnis zwischen den zwei Faktoren ein.
Ist die eine der Quantitäten der zwei Faktoren noch nicht bis zu
diesem Punkte gelangt, so hat ihre Produktivität bei einer Quantitäts-
erhöhung eine zunehmende Tendenz. Das bedeutet hinsichtlich des
zweiten Faktors, daß dessen Produktivität — negativ ist. Wenn
also ein Landmann von einem bestimmten Punkt an sein Boden-
areal erweitert, und seine Arbeit über ein größeres Bodenareal
erstreckt, ohne gleichzeitig seine Arbeitsquantität zu vermehren,
dann wird er seinen Ertrag nicht erhöhen, sondern verringern.
Dies ist der Fall, solange man sich nur zwei Produktions-
faktoren denkt. Daß aber eine Vermehrung vollständig einheitlicher
homogener Quantitäten wie Boden und Arbeit von einem bestimmten
Punkt naturgemäß an eine abnehmende Produktivität aufweist, braucht
durchaus nicht auch auf einen dritten Produktionsfaktor zu stimmen
— nämlich auf eine Kapitalsquantität, deren ökonomische Eigen-
tümlichkeit gerade in ihrer Form und Umformung liegt —
also etwas, das seiner Natur nach den absoluten Gegensatz des
Einheitlichen und Homogenen bildet.
Aus einem ganz einfachen, aber nichtsdestoweniger eigentüm-
lichen mathematischen Beispiel wird daher auch hervorgehen, daß
die abnehmende Produktivität des Bodens und der Arbeit sich sehr
wohl vereinigen läßt mit einer zunehmenden Produktivität des
dritten Produktionsfaktors Kapital, wenn dessen Quantität ver-
mehrt wird, während die der zwei anderen unverändert bleibt.
Zunächst muß ich noch auf eine Seite der abnehmenden und
zunehmenden Tendenz der Produktivität aufmerksam machen, die
unschwer zu verstehen ist, deren tiefere Bedeutung aber vielleicht
erst recht klar wird, wenn ich auf einem späteren Punkt meiner
154 K. Schönheyder,
Beweisführung angelangt bin. — Wenn man eine bestimmte Einheit
Boden, Kapital und Arbeit hat, die zusammen ein produktives Re-
sultat von beispielsweise 10 hervorbringen, und eine Vermehrung
der Arbeitsquantität von 1 zu 2 zu 3 zu 4 zu 5 das produktive
Resultat auf bezw. 18, 24, 28, 30 erhöht, dann ist also die Produk-
tivität der Arbeit eine abnehmende nach folgender, die Differenz
zwischen den verschiedenen produktiven Resultaten darstellenden
Reihe: 8, 6, 4, 2. Die Grenzproduktivität nimmt für jede Arbeits-
einheit um 2 ab. Nun wird eine Erhöhung des Kapitals um eine
bestimmte Kapitalsquantität einen verschiedenartigen produk-
tiven Zuschuß zum Ertrag geben, da die Quantität der Arbeit 1, 2,
3, 4 oder 5 ist. Ist die Produktivität des Kapitals im Verhältnis
zur Arbeit abnehmend, wird dessen produktive Bedeutung wachsen,
je größer die Arbeitsquantität ist. Ist die Produktivität des Kapi-
tals im Verhältnis zur Arbeit aber zunehmend, wird die produktive
Bedeutung des Kapitals wachsen, je geringer die Quantität der
Arbeit wird.
Bei abnehmender Produktivität des Kapitals würde man z. B.
folgende Resultate bekommen:
10 18 24 28 30
+ 2 +4 +6 + 8 + 10
= 12 = 22 = 30 = 36 = 40
Bei zunehmender Produktivität des Kapitals käme man zu den
Resultaten :
10 18 24 28 30
+ 10 + 8 + 6 +4 + 2
= 20= 26 = 30 = 32 = 32
In keinem dieser Fälle, weder bei abnehmender noch bei zu-
nehmender Produktivität des Kapitals, hat sich die Tendenz in der
Produktivität der Arbeit verändert. Die Differenz zwischen den
Summen wird in beiden Fällen bleibend mit 2 sinken, wie sie auch
ursprünglich tat. Die. Produktivität der Arbeit ist und bleibt in
beiden Fällen für jede Einheit trotz der Kapitalerhöhung, und un-
abhängig von der Tendenz in der Produktivität des Kapitals, ab-
nehmend um 2.
Indem ich also mit Bezug auf die Tendenz in der Produktivität
des Kapitals Vorbehalt nehme, möchte ich hiermit feststellen, daß
diese Frage an dem Gesetz des abnehmenden Ertrages der Arbeit
in der Landwirtschaft nichts verändert. In dem Folgenden sehe ich
daher von dem Kapital als Produktionsfaktor ab.
Ich möchte ferner einen Strich machen durch den Einwand
gegen das Grenzproduktivitätsgesetz, den ich in der früher erwähnten
Abhandlung über das Kapital geltend gemacht habe, da dieser Ein-
wand nur in Betracht kommt bei einer Wirksamkeit, deren Gegen-
stand die technische und ökonomische Umformung der Natur-
Die Landwirtschaftsrente. 155
produkte ist. Den Einwand nämlich, daß die Produktionserhöhung
hier ein kulturelles Qualitätsphänomen ist, daß sich rein
quantitativ weder behandeln noch messen läßt. Eine Kapitals-
erhöhung bezeichnet in der umformenden Wirksamkeit eine neue
ökonomische Form des produktiven Resultates der Tätigkeit. Die
Grenzproduktivität der Kapitalserhöhung läßt sich mit anderen
Worten nicht als eine Quantität ausdrücken. Damit ist es aber
auch ausgeschlossen, daß sie als Maßstab dienen kann für den An-
teil des Produktionsfaktors an dem allgemeinen Wirksamkeitsertrag.
Die Grenzproduktivität ist nämlich ein ausgesprochenes Quantitäts-
phänomen. Sie kann nur durch Vergleich zwischen zwei vollständig
einheitlichen Quantitäten festgestellt werden.
In der rein mathematischen Natur der Grenzproduktivität ist
indes ein Moment enthalten, das nämlich daß die ganze mathematische
Eigentümlichkeit dieses Begriffes an das bestimmte Verhältnis, in
dem die Quantität des Produktionsfaktors sich verändert, geknüpft
ist. Wenn Boden und Arbeit in einem bestimmten quantitativen
Verhältnis zueinander vorkommen, z. B. 100 ha Land und 5 Arbeiter,
oder 1000 ha Land und 50 Arbeiter, also 20 ha Land pro Arbeiter,
so wird eine Vermehrung der Quantität der Arbeit um 1 Arbeiter
nicht die gleiche produktive Wirkung in beiden Fällen haben. Die
Erhöhung des Produktionsertrages wird dort am größten sein, wo
die Vermehrung der Arbeitsquantität verhältnismäßig die ge-
ringste ist — also größer da, wo der eine Arbeiter zu den 50
Arbeitern bei 1000 ha Land hinzugenommen wird. Und wenn man
in beiden Fällen die Quantität der Arbeit prozentuarisch erhöht, also
zu den 5 Arbeitern einen und zu den 50 Arbeitern 10 fügt, so wird,
rein mathematisch gesehen, der Produktionsertrag in beiden Fällen
mit demselben Prozentsatz erhöht werden, ganz abgesehen von mög-
lichen Vorteilen, die in dem zweiten Falle eine zweckmäßigere Ver-
teilung der Arbeit zur Folge haben kann. Aber das Grenzprodukt
des letzten Arbeiters wird am größten in dem Falle sein, wo die
Quantität seiner Arbeit den größten Bruchteil von der gesamten
Quantität Arbeit ausmacht, also am größten in dem ersteren Fall,
wo sie ein Sechstel ausmacht — und am geringsten im letzteren
Falle, wo sie nur ein Sechzigstel ausmacht.
.. Daß es sich so verhält, ist ja in der Tat ganz selbstverständ-
lich. Da aber das Verhältnis von viel größerer Tragweite ist als
es vermutlich beim ersten Eindruck scheinen mag, möge es mir ge-
stattet sein, eine etwas nähere Begründung zu geben — besonders
da es mir vielleicht nicht gelungen ist, den Zusammenhang so klar,
wie ich möchte, darzustellen.
Das Ganze beruht auf der mathematischen Voraussetzung daß,
wenn beide Produktionsfaktoren im selben Grade erhöht oder ver-
fingert werden, z. B. beide verdoppelt oder beide halbiert werden,
das produktive Resultat sich in demselben Verhältnis vermehrt oder
verringert. 1000 ha Land und 50 Arbeiter geben also, rein mathe-
156 K. Schönheyder,
matisch betrachtet, ein genau 10mal so großes produktives Resultat,
als 100 ha Land und 5 Arbeiter. Man muß sich also denken, daß
die 1000 ha Land mit ihren 5 Arbeitern vollständig einsbedeutend
sind mit 10 Betrieben à 100 ha Land mit 5 Arbeitern.
Die ersten 10 Arbeiter auf den 1000 ha Land geben einen ge-
nau 10mal so großen Ertrag, als der erste Arbeiter auf den 100 ha
Land. Die nächsten 10 Arbeiter auf den 1000 ha Land einen ge-
nau 10mal so großen Zuschuß zu dem Ertrage, wie der zweite
Arbeiter auf den 100 ha Land usf. Und die Erhöhung der Arbeits-
quantität von 50 auf 60 Arbeiter auf den 1000 ha Land gibt einen
genau 10mal so großen Zuschuß zu dem Ertrage, wie der sechste
Arbeiter auf den 100 ha Land. Aber diese letzten 10 Arbeiter auf
den 1000 ha Land legen nicht jeder die gleiche Quantität zum Er-
trage hinzu, ebensowenig wie der sechste Arbeiter auf die 100 ha
Land in jeder Arbeitsstunde gleich viel hinzulegt, wenn wir uns
seine Arbeitszeit oder Arbeitsquantität von 1 zu 10 gewachsen
denken.
Wenn die 10 Arbeiter bei den 1000 ha Land bezw. 200, 190,
180 usw. bis auf 110 herab zulegen, so legt der sechste Arbeiter auf
100 ha Land den zehnten Teil hinzu, also 20 +19 +18+....+ 11
zusammen 155. Wenn also die Arbeit verhältnismäßig auf die beiden
Bodenareale verteilt werden sollte, so daß auf die 1000 ha Land
60 Arbeiter kämen und auf die 100 ha 6, dann würde die Grenz-
produktivität des letzten Arbeiters in dem einen Falle 110, in dem
anderen 155 sein.
Genau wie mit der Grenzproduktivität der Arbeit verhält es sich
nun auch mit der des Bodens. Hat man ein Grundareal von 1000 ha,
an das eine Arbeitsquantität von z. B. 60 Mann geknüpft ist, dann
ist die Erhöhung der Produktionsquantität bei den letzten 10 ha
bezw. 20, 19, 18, bis auf 11 herab; zusammen 155. Bei einem
Grundareal von 100 ha mit 6 Arbeitern wird demnach die Grenz-
produktivität des letzten Hektars den zehnten Teil von 155, also
15!/, ausmachen. Vermindert man nun die Quantität der Arbeit im
ersten Fall in der Absicht, eine Uebereinstimmung zwischen der
Grenzproduktivität des letzten Arbeiters aut jedem der zwei ver-
schiedenen Bodenareale herbeizuführen, dann wächst die Grenz-
produktivität der Arbeit; die Grenzproduktivität des Bodens aber sinkt
nun um so tiefer herab. Die Grenzproduktivität des 1000sten Hektar,
dessen Bedeutung für den produktiven Ertrag, wird dadurch, daß
die Quantität der Arbeit vermindert wird, von 11 bis auf beispiels-
weise 10 sinken.
Hat man also zwei verschiedene Bodenareale unter der Voraus-
setzung gleicher Qualität, das eine von 1000, das andere von 100 ha,
dann steht man einem in der Tat absolut unlöslichen produktiven
Problem gegenüber: wie soll man die Quantität der Arbeit auf diese
beiden Areale so verteilen, daß sowohl die Arbeitsquantität wie
gleichzeitig auch die produktive Bedeutung des Bodens auf beiden
Die Landwirtschaftsrente. 157
die gleiche ist? Die Verteilung der Arbeit im Verhältnis zur Größe
des Areals führt nicht zu dem gewünschten Resultat weder in bezug
auf die Arbeit noch in bezug auf den Boden. Will man erreichen,
daß die Grenzproduktivität oder produktive Bedeutung der Arbeit
auf beiden Betrieben die gleiche sein soll, dann muß die Arbeits-
quantität auf dem kleineren Grundstück verhältnismäßig erhöht
— also auf dem größeren verhältnismäßig verringert werden. Da-
mit aber erreicht man nur das Gleichgewicht hinsichtlich der Grenz-
produktivität oder produktiven Bedeutung des Bodens noch mehr
zu verrücken.
Es gibt allerdings einen Weg, auf dem man die gleiche
Grenzproduktivität für die Arbeit erreichen kann, ohne daß das
Gleichgewicht der Grenzproduktivität des Bodens gestört wird. An-
statt zweier Betriebe zu 1000 und 100 ha müßte man zwei
vollständig gleichgroße Betriebe à 550 ha und 33 Arbeiter haben.
Oder — warum die Grenze zwischen den beiden Betrieben nicht
lieber gleich ganz aufheben? — einen Gemeinbetrieb von 1100 ha
Land mit 66 Arbeitern haben. Im ersten Fall wird dann die Grenz-
produktivität des letzten Arbeiters auf jedem der beiden Betriebe
z. B. 130 sein, was so viel bedeutet, als daß die Grenzproduk-
tivität der beiden letzten Arbeiter auf dem großen Gemeinbetrieb
2 X 130 = 260 wäre. Aber da der 65. und der 66. Arbeiter nicht
die gleiche Grenzproduktivität haben, wird die Grenzproduktivität
des 66. Arbeiters nicht 130, sondern z. B. 125 sein und die des
65. Arbeiters etwa 135. Verteilt auf zwei gleichgroße Betriebe,
wäre also die produktive Bedeutung des letzten Arbeiters auf jedem
der beiden Betriebe 130, während die produktive Bedeutung des
letzten Arbeiters auf dem großen Gemeinbetrieb nur 125 wäre.
Das regt übrigens eine neue Frage an: Wie groß ist eigentlich
die Quantität der Arbeit, die man mit Berechtigung als die für die
produktive Bedeutung der Arbeit bestimmende betrachten darf. Rein
mathematisch genommen, sollte ja die Grenzproduktivität der Arbeit
nur durch den unendlich kleinen Teil bestimmt werden, womit der
Produktionsertrag durch den letzten unendlich kleinen Teil der letzten
Arbeitsstunde erhöht wird. Wenn der Arbeitslohn nach dieser
mathematischen Grenzproduktivität bestimmt werden sollte, also nur
nach dem, was die letzte Arbeitsstunde erzeugt, dann würde ganz
zweifellos der Arbeiter nicht bekommen, was ihm der produktiven
Bedeutung der Arbeit nach gebührt. Wenn ein landwirtschaftlicher
Betrieb, der z. B. 10 Arbeiter beschäftigt, Zugang zu neuer Arbeits-
kraft erhält, wird die Konkurrenz der Arbeiter in Verbindung mit
dem Gesetz des abnehmenden Ertrages ein Fallen der Arbeitslöhne
bewirken. Wenn nun aber der Grundbesitzer Gelegenheit fände,
dem letzten und jedem der vorangegangenen Arbeiter weniger zu
bezahlen als das, um was der letzte Arbeiter den Produktionsertrag
bereichert — eine Quantität, die ja an und für sich kleiner ist als
das was der Eigentümer früher jedem seiner Arbeiter bezahlte —
158 K. Schönheyder,
würde man damit zweifellos, die Arbeit um einen Teil ihres wirk-
lichen Arbeitsertrages berauben. Warum aber gilt das nicht, wenn
die Anzahl der Arbeiter anstatt mit einem mit zwei neuen Arbeitern
vermehrt wird? Warum haben in diesem Falle die zwei Arbeiter
nicht Anspruch darauf, zusammen das ausbezahlt zu bekommen, um
was ihre Arbeit den Produktionsertrag bereichert? Dürfen sich
diese zwei Arbeiter nicht mit Recht als eine soziale Einheit
betrachten? Ist nicht die faktische produktive Bedeutung dieser
zwei Arbeiter, die Quantität, womit sie zusammen den Produktions-
ertrag bereichern? — Natürlich — wenn ein Arbeitsherr 130
Arbeitslohn bezahlen soll, dann ist er gewiß willig, einen Arbeiter
anzustellen, der 135 produziert, nicht aber den nächsten, der 125
produziert, so viel auch die beiden letzten Arbeiter zusammen
2 X 130 produzieren mögen. Aber wenn das nun so und nicht
anders ist, hat da nicht der Sozialismus recht mit seiner Behauptung.
daß die Arbeiter unter den jetzigen sozialen Verhältnissen eines
Teils ihres wirklichen Produktionsertrages beraubt werden? Diese
Frage ist in der Tat eine sehr ernsthafte und bedeutungsvolle, und
ich glaube nicht, daß es der Grenzproduktivitätstheorie gelingen
wird, diese Schwierigkeit die in dem Begriff der Grenzproduktivität
an sich verborgen liegt, aus dem Wege zu räumen.
Das Gesetz des abnehmenden Frtrages, das der Grenzproduk-
tivitätstheorie zugrunde liegt, hat aber noch eine andere Seite, die
diese Theorie gänzlich übersehen zu haben scheint. Sieht man
die Sache von diesem zweiten Gesichtspunkt aus an, dann fallen
alle die Schwierigkeiten, in die die Grenzproduktivitätstheorie uns
verwickelt, total fort. Und außerdem kommt man zur Klarheit über
mehrere sehr wichtige und bedeutungsvolle Fragen, die in naher
Verbindung mit dem Grundrentenproblem stehen.
Die Grenzproduktivitätstheorie stellt sich gern ein großes Boden-
areal vor, an das eine größere Menge Arbeiter geknüpft ist. Am
liebsten stellt sie sich allen Boden von gleicher Qualität als einen
einzigen großen Gemeinbetrieb vor. Wenn man nun statt dessen
versuchte, sich einen einzelnen isolierten Erdarbeiter oder eine
Sammlung von Grundbesitzern mit je einem kleinen Stück-
chen Land zu denken. Wenn da z. B. der eine Grundbesitzer
auf seinem Stück eine Quantität 200 produziert und ein anderer
mit derselben Arbeit nur 160 oder 150, ja — da sieht es so aus,
als ob die Grenzproduktivitätstheorie keine andere Antwort zur Er-
klärung dieses Unterschiedes in der Produktivität der Arbeit bei der
Hand habe als die, daß es Boden von verschiedener Fruchtbarkeit
sein müsse. Es gibt jedoch eine andere und sehr viel näherliegende
Ursache, die vielleicht von reichlich so großer praktischer Tragweite
sein dürfte.
Das mit den verschiedenen Qualitäten Boden als Hauptursache
des Bodenrentenphänomens ist überhaupt nicht einmal eine halbe
Wahrheit zu nennen. Es ist ungefähr, als wolle man sagen, die
Die Landwirtschaftsrente. 159
Hauptursache, daß nicht alle Menschen sich satt essen könnten, liege
darin, daß nicht alle Nahrungsmittel einen gleichen Prozentsatz an
Nährstoffen enthalten. Es ist durchaus dem nichts im Wege, daß
die gleiche Quantität Arbeit auch auf einem weniger fruchtbaren
Stück die gleiche Quantität hervorbringen kann. Es hängt einzig
und allein — von der Größe der beiden Grundstücke ab. Selbst
mit dem allerbesten und fruchtbarsten Erdreich gibt es ein be-
stimmtes Areal, das mit einer gewissen Menge Arbeit — vom Kapital
als produktivem Faktor abgesehen — nur einen Ertrag von 150
geben würde, während ein größeres Areal mit der gleichen Menge
Arbeit auch bei Boden von geringerer Qualität einen Ertrag von
200 gäbe.
Es gibt auch von jeder Qualität Boden ein bestimmtes
Areal, das einem Arbeiter nicht mehr Ertrag geben kann als das,
was er zur notdürftigsten Fristung des Daseins nötig hat, und das
also trotz erstklassiger Fruchtbarkeit überhaupt keine Bodenrente
abwirft. Und soll ein Grundstück überhaupt eine Bodenrente ab-
werfen, so muß es jedenfalls größer als dieses Areal sein. Das gilt
nicht allein von Kleinbetrieben mit nur einem Arbeiter. Auf jedem
rentegebenden Betrieb wird auf jeden an ihm beschäftigten Arbeiter
ein größeres Areal fallen als das Minimum von Boden, das erforder-
lich ist, um das was der Arbeiter selbst an Arbeitslohn bezieht,
aufzutreiben. Es gibt nur eine Sorte Boden, die niemals eine Boden-
rente abwerfen wird, nämlich der Boden, der so mager und un-
fruchtbar ist, daß das größte Areal, das ein Arbeiter lohnend
bewirtschaften kann, keinen höheren Ertrag abwirft, als einen ge-
wöhnlichen normalen Arbeitslohn. Dahingegen gibt es keinen noch
so fruchtbaren Boden, der nicht seinen Mann zum Hungerleider
machen kann, wenn er nur klein genug ist. In der Geschichte der
Landwirtschaft, von der grauesten Urzeit bis auf unsere Tage, wimmelt
es von derartigen Beispielen.
Gleichviel ob nun der Boden seinem Eigentümer
eine Rente über den normalen Arbeitslohn hinaus
gibt oder nicht, die Produktivität der Arbeit ist in
jedem Fall abnehmend. Und wenn nun dieser abnehmende
Ertrag in dem einen Fall einen Ueberschuß über den Arbeitslohn
gibt, in dem anderen Fall nicht, dann darf man es wohl kaum als
sehr treffend bezeichnen, die Ursache der Bodenrente in dem Gesetz
des abnehmenden Ertrages an und für sich zu suchen.
Im höchsten Grade auffallend ist es darum auch, daß die all-
gemein gebräuchliche Bodenrententheorie nicht als den zentralen
Punkt der Bodenrentenfrage die Bedeutung der sozialen
Verteilung des Bodens hervorgehoben hat. — Ebenso wie Ricardo
durch seine Arbeitswerttheorie das Wertproblem in eine Bahn gelenkt
hat, auf der es — man darf wohl sagen — den zentralen Punkt des
Wertphänomens, das erst später von der neueren Grenzwerttheorie
hervorgezogen worden ist, umgeht, ebenso hat er auch durch sein
160 K. Schönheyder,
Gesetz von der Abnahme des Bodenertrages nicht wenig dazu bei-
getragen, die bedeutendste und praktisch so ungleich wichtigere Seite
des Grundrentenproblems — die Bedeutung der sozialen Verteilung
des Bodenareals zu verdunkeln.
Anstatt der von Ricardo aufgestellten entscheidenden Voraus-
setzung des Bodenrentenphänomens, der nämlich, daß aller bebaute
Boden aus Grundstücken höchst verschiedener Qualität und Frucht-
barkeit besteht, — eine Voraussetzung, die ich wegeliminiere, indem
ich den Fruchtbarkeitsgrad zu einem Faktor bei der Bestimmung
der Größe der einzelnen Betriebe im Verhältnis zu anderen Be-
trieben mache — stelle ich als die entscheidende Voraussetzung auf,
das aller bebaute Boden in Betriebe von äußerst verschiedener Größe
und Ausdehnung eingeteilt ist. — Eine ungeheuer große Zahl
dieser Betriebe ist nicht größer, als daß sie zum Unterhalt einer
einzigen Familie dienen kann, die selbst alle Arbeit ohne fremde
Hilfe verrichtet. Je mehr Arbeit und Fleiß diese Menschen auf ihr
Grundstück verwenden, desto mehr wird sich der Ertrag — inner-
halb einer gewissen Grenze erhöhen. Und je größer das Grund-
areal ist, über das sie verfügen, desto mehr wird sich der Ertrag
— wieder innerhalb einer gewissen Grenze — erhöhen, und „Ueber-
schuß* geben. Aber an einem bestimmten Punkte erreicht die
Arbeit ihre höchste Durchschnittsproduktivität. Wird die Arbeit im
Verhältnis zum Bodenareal noch weiter vermehrt, dann wird sich
auch der Ertrag allerdings erhöhen, aber nicht mehr in demselben
Verhältnis. Die Produktivität der Arbeit ist von einem bestimmten
Punkte an im Abnehmen. Schließlich kommt immer der Augenblick,
da die Vermehrung der Arbeit nicht fortgesetzt werden kann —
teils weil die Opfer, die diese fortgesetzte Arbeit erheischt, wachsen,
und zwar um so mehr, je mehr die Arbeit vermehrt wird — teils
auch, weil der Wert des Mehrertrages der letzten Arbeitsvermehrung
re sinkt. Das Grenzopfer steigt, während der Grenzwert
sinkt.
Damit soll indes nicht behauptet werden, daß der Wert der
Arbeit durch ihre Grenzproduktivität bestimmt wird. Denn wo ist
dies Grenzprodukt bei einem isolierten landwirtschaftlichen Betrieb
— einem Einzelbetrieb? Wie viele Stunden täglicher Arbeit macht
die Quantität, die das Grenzprodukt bestimmt, aus? — Die Boden-
rente — oder der Ueberschuß, der sich zeigt, nachdem man von dem
gesamten Ertrag des Besitztums die Quantität, die den Wert der
Arbeit ausmacht, abgezogen hat — diese Rente tritt erst dann in
die Erscheinung, wenn der eine Landwirt einen größeren Ertrag
aufzuweisen hat, als der andere, weil sein Grundareal relativ größer
ist — mit anderen Worten, weil er sozial besser gestellt ist als der
andere, und neben seiner Arbeit über eine größere pro-
duktive Kraft verfügt.
Und dies gilt natürlich nicht nur von den kleinen Einzelbetrieben,
sondern auch von den größeren Betrieben. Daß diese einen Ueberschuß
Die Landwirtschaftsrente. 161
über den Maximumswert der Arbeit geben, kann ja seinen Grund in
nichts anderem haben, als daß bei diesen größeren Betrieben eine
größere Quantität Boden auf jeden Arbeiter fällt, als bei den Be-
trieben, die keine Bodenrente abwerfen. Wenn es nicht in der
Macht der größeren Betriebe stünde, die Arbeitsquantität so zu be-
schränken, daß sie verhältnismäßig kleiner als auf den kleinsten Be-
trieben wird, dann würde überhaupt keine Bodenrente entstehen können.
— Das Gesetz des abnehmenden Ertrages dient also vor allem als
Erklärung der Tatsache, daß die gleiche Quantität Arbeit, je nach-
dem die Quantität des Bodens größer oder kleiner ist,
einen verschiedenen Ertrag ergibt. Demnächst dient das Gesetz als
Erklärung des Umstandes, daß die Arbeitsquantität auf einem
größeren Betriebe verhältnismäßig mehr beschränkt werden muß,
als auf einem kleineren. Die Bodenrente liegt also in der
ganz naturgemäßen Begrenzung der Arbeitsquantität
im Verhältnis zum Bodenareal — die eine notwendige
Folge der ungleichen Verteilung des Grundbe-
sitzes ist.
Wenn auf einem größeren Betrieb von 150 ha die Produktivität
der Arbeiter bei 9 Arbeitern von 200 auf 190, 180 herab bis auf
120 sinkt, dann wird ein Drittel dieses Betriebes folgende Resul-
tate aufweisen: Der erste Arbeiter ein Drittel oder den Durchschnitt
der gesamten Produktivität der drei ersten Arbeiter auf den 200
Hektaren. Der zweite Arbeiter ein Drittel von dem gesamten Produkt
der drei folgenden = 160, und der dritte 130. Teilt man die Betriebe
wieder in drei, so daß jeder Betrieb ein Neuntel des ursprünglichen
ausmacht, wird das Resultat, daß ein Arbeiter auf einem solchen
Betrieb den Durchschnitt der drei auf dem vorigen Betriebe produ-
ziert, oder den dritten Teil dessen, was diese zusammen produzieren,
nämlich 160.
200) Wenn dies letztere das Minimum ist, das notwendig
1901190 ist, um den heutigen minimalen Kulturbedarf des Men-
rêo schen zu befriedigen, so daß also der neunte Teil von
us iéolı6o 150 ha Land, d. h. 16—17 ha, genügend für einen ein-
veel zelnen Arbeiter mit den üblichen Ansprüchen an das
140) Leben ist, — dann wird ein Eigentum von 50 ha Land
wid nicht mehr als 2 Arbeiter lohnend beschäftigen können,
da der dritte den Ertrag nicht um mehr als 130 ver-
mehrt und infolgedessen einen gewöhnlichen Arbeitslohn nicht deckt.
Auf jeden der zwei Arbeiter fällt dann ein Areal von 25 ha, — und
auf dem ersten Betrieb von 150 ha können nicht mehr als 5 Ar-
beiter beschäftigt werden, was auf jeden Arbeiter ein Areal von
30 ha ausmacht.
. Während also ein Betrieb von 16 bis 17 ha keine Rente ab-
wirft, weil das Areal hier das Minimum pro Arbeiter ist, so wird
ein Betrieb von 50 ha einen Ueberschuß von 30 geben, weil hier
auf jeden der zwei Arbeiter 25 anstatt 17 ha fallen, und in Ueber-
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). 11
162 K. Schönheyder,
einstimmung hiermit ein Betrieb von 25 ha mit einem Arbeiter einen
Ueberschuß über den normalen Arbeitslohn von der Hälfte von 30
= 15 geben. Während ein Betrieb von 150 ha nicht nur eine drei-
mal so große Rente geben wird, als einer zu 50 ha, sondern noch
einen weiteren Zuschuß von 10 — weil hier ein durchschnittliches
Areal von 30 ha auf 5 Arbeiter fällt.
Hierdurch bestätigt sich indessen auch, daß die
Bodenrente der Arbeit nichts von ihrem natürlichen
Wert raubt. Nicht die abnehmende Produktivität des Bodens ver-
ursacht die Bodenrente, sondern dessen zunehmende Produktivität,
sobald die Quantität des Bodens erhöht wird. — Die kleinen selb-
ständigen Ackerbauer mit ihren Einzelbetrieben sind es, die das
allgemeine soziale Niveau bilden. Sie bilden den Gleichgewichts-
punkt der Arbeitslöhne nicht nur in Neuansiedelungen, sondern auch
in den alten Kulturländern. Und neben dieser Gesellschaftsschicht
der kleinen Landwirte, die den ökonomischen Minimumsanspruch
des Kulturmenschen bezeichnet, stehen die übrigen selbständigen
Kleinbetriebe, wie Fischer, Handwerker und Kleinhändler, die mit
einem Minimum von Kapital arbeiten. Aus dieser Gesellschafts-
schicht rekrutiert sich der eigentliche besoldete Arbeiterstand sowohl
für die Landwirtschaft wie für die Industrie. Die ökonomischen
Lebensbedingungen der Feldarbeiter sind daher im tiefsten Grunde
eine rein soziale Frage, abhängig von der Durchschnittsgröße der
verschiedenen Kleinbetriebe. Der große und wesentliche Irrtum der
Grenzproduktivitätstheorie besteht gerade darin, daß sie in der
Grenzproduktivität eine Größe sehen will, die ohne Rücksicht auf
die soziale Verteilung des Bodenareals durch die Quantität der
Arbeit und des Bodens bestimmt ist. Die Grenzproduktivitätstheorie
geht mit anderen Worten davon aus, daß, wenn die Arbeit immer
nur da aufgewandt würde, wo sie sich produktiv am besten lohnte,
damit gegeben wäre, daß die Grenzproduktivität der Arbeit und der
Arbeitslohn — mit den gegebenen quantitativen Voraussetzungen —
am denkbar höchsten wären — und demnach auch der gesamte
Produktionsertrag der denkbar höchste sein müsse.
Aus dem oben Gesagten geht indes hervor, daß die soziale Ver-
teilung des Bodens nicht allein auf die Höhe des produktiven Zu-
schusses, den der letzte Arbeiter zum Ertrag liefert, einwirkt, son-
dern auch auf die Höhe des Ertrages der gesamten Produktion. Das
geht aus der Tatsache hervor, daß die großen Betriebe eine ver-
hältnismäßig kleinere Anzahl Arbeiter lohnend beschäftigen können
als die kleineren Betriebe, woraus folgt, daß der Boden nicht überall
gleichmäßig ausgenutzt wird. Das geht vielleicht noch deutlicher
aus dem Umstand hervor, den ich in Verbindung hiermit nach-
gewiesen habe, daß die produktive Bedeutung eines bestimmten
Bodenareals bei den großen Betrieben geringer ist als bei den
kleinen, und daß also ein Landareal, das von einem großen Betrieb
weggenommen und einem kleinen zugelegt würde, die Produktion
Die Landwirtschaftsrente. 163
des letzteren mit einer größeren Quantität erhöhen würde, als sie
auf dem ersteren vermindert wurde.
Das kann mit Leichtigkeit durch eine ganz einfache graphische
Darstellung belegt werden. Wenn die Quantität der Arbeit ungleich-
mäßig auf zwei gleichgroße Bodenareale verteilt ist, dann kann das
Rechteck AB CD die Produktmenge bezeichnen, die durch die über-
schüssige Arbeitsquantität auf dem einen der beiden gleichgroßen
Areale erzeugt wurde. Dann muß aber die erste Hälfte dieser über-
schüssigen Arbeitskraft eine größere produktive Zulage bringen als
die zweite Hälfte. Wird nun die Arbeitskraft gleichmäßig auf beide
Areale verteilt, wird die Produktquantität wachsen mit der Diffe-
renz zwischen diesen beiden Teilen n,—n,, indem die zweite Hälfte
der überschüssigen Arbeitskraft auf dem ersten Areal, wenn sie auf
das zweite überführt wird, einen ebenso großen Zuschuß geben wird,
wie die erste Hälfte auf dem ersten Areal. Man sieht hieran also
die tatsächliche Bedeutung des Umstandes, daß die abnehmende
Produktivität der Arbeit zusammenfällt damit, daß die produktive
Bedeutung wächst, je größer die Quantität des zweiten Produktions-
faktors des Bodens ist.
Oder man kann das Ganze vom umgekehrten Gesichtspunkte aus
betrachten. Man nimmt zwei gleichgroße Quantitäten Arbeit, an die
sich verschiedene Quantitäten Boden knüpfen. Das Rechteck ABCD
bedeutet in diesem Falle den Zuschuß zum Produktionsertrag, den
das überschüssige Bodenareal in Verbindung mit der einen der
beiden gleichgroßen Arbeitsquantitäten gibt. Wird nun das Boden-
areal gleichmäßig auf jede der zwei Arbeitsquantitäten verteilt, dann
wird der Ertrag wachsen mit der Differenz zwischen den beiden
Teilen, die die abnehmende Produktivität des Grundstückes bedeuten.
— Die Größe der Mehrproduktion ist also abhängig von der ab-
nehmenden Produktivität der Arbeit und des Bodens und der Un-
gleichmäßigkeit der sozialen Verteilung.
Diese rein mathematische Voraussetzung, auf der die ganze
Schlußfolgerung sich aufbaut, entspricht nicht ganz genau der Wirk-
lichkeit. Aber der Unterschied des produktiven Resultates als Folge
der sozialen Verteilung ist in Wirklichkeit bedeutend größer als der
tein mathematische — aus zwei sehr wichtigen Ursachen, die von
der allergrößten Bedeutung sind, und zwar nicht allein für die Oeko-
11*
164 K. Schönheyder,
nomie der Landwirtschaft. — Die wirkliche Verteilung der Arbeits-
kraft im Verhältnis zum Boden weist eine sehr viel ausgeprägtere
Ungleichmäßigkeit auf, als aus der rein mathematischen Darstellung
hervorgeht. Einmal weil die zweckmäßigere und ökonomischere
Arbeitsverteilung beim Großbetriebe eine vermehrte Beschränkung
der Arbeitsquantität mit sich führt — eine Beschränkung, die noch
dadurch befördert wird, daß die Kleinbetriebe nicht in demselben
Maße wie die Großbetriebe aus der arbeitsparenden Kapitalan-
wendung Nutzen ziehen können.
Andererseits dagegen haben wir ja doch ein Moment von
praktischer Bedeutung, das als Gegengewicht zu diesen Folgen
der ungleichen sozialen Verteilung dienlich ist. Es gibt bekanntlich
viele verschiedene Arten der Bodenbewirtschaftung. Es gibt Be-
wirtschaftungen, die ihrer Art und Beschaffenheit nach eine inten-
sivere Bebauung, eine größere Menge Arbeit im Verhältnis zu dem
bebauten Areal erforderlich machen, wie z. B. der Gartenbau. Es
gibt mit anderen Worten solche Kulturen, die sich ausgesprochen
für Kleinbetriebe eignen, und solche, die sich für Großbetriebe
eignen. Eine vollständig gleichmäßige Verteilung der Arbeit im
Verhältnis zum Boden würde sich also doch nie ganz durchführen
lassen.
Aus der rein mathematischen Natur der Produktivität geht in-
dessen hervor, daß nicht das gesamte bebaubare Grundareal und
dessen Verhältnis zur Arbeitsstärke die Produktivität der Arbeit be-
stimmen, sondern die Größe der Bodenmenge, die auf die Einzel-
betriebe verteilt ist, und die Größe der Bodenmenge, die infolge-
dessen auf jeden einzelnen Kleinbauer fällt. Hierdurch wird ein
soziales Durchschnittsniveau für den sozialen Wert der Arbeit fest-
gestellt, das verschieden ist von dem Durchschnittsniveau, das eine,
praktisch gesprochen, gleichmäßige Verteilung des Bodenareals pro
Arbeitseinheit zur Folge haben würde. Und ebensowenig ist es die
Grenzproduktivität der Arbeit, die den Arbeitswert bestimmt, sondern
die durchschnittliche Produktivität der Arbeit auf den kleinen Einzel-
betrieben, die wiederum ihrerseits die Grenze ziehen, wie weit auf
den großen und größten Betrieben Arbeit lohnend betrieben werden
‚kann.
Und nicht die Grenzproduktivität des Bodens — die Bedeutung
des letzten kleinen Bodenareales bestimmt die Höhe der Bodenrente
oder den Anteil, den der Eigentümer des Bodens an dem Produk-
tionsertrag erhält. Denn diese produktive Bedeutung des Bodens
ist bei jedem der verschieden gearteten Landwirtschaften verschieden.
Bei den Kleinbetrieben ist sie groß, bei den größeren verhältnismäßig
kleiner. Und bei den allergrößten Betrieben ist sie fast ver-
schwindend klein.
Ebensowenig verhält es sich so, daß die Anwendung von Arbeit,
da sie produktiv am lohnendsten ist, eine Garantie dafür gibt, daß
das produktive Resultat absolut das denkbar größte und günstigste
ist. Denn das produktive Resultat verändert sich mit der sozialen
Verteilung des Bodenareals.
Die Landwirtschaftsrente. 165
Der Kernpunkt dieser Sache ist in der Tat nicht eine mehr
oder weniger bedeutungslose mathematische Ungenauigkeit der
Grenzproduktivitätstheorie, sondern eine ökonomische Realität von
der allergrößten Bedeutung und Tragweite — eine soziale Frage
von Rang. — In Ländern wie Irland und vielleicht mehr noch in
Rußland ist die soziale Verteilung des Bodens die große brennende
Frage der Zeit gewesen. Und das wird sie zu allen Zeiten überall
sein und überall werden da, wo eine verhältnismäßig geringe Zahl
von Grundbesitzern eine unverhältnismäßig große Menge des ge-
samten bebauten Bodenareals innehaben, während das übrige Areal
auf eine unverhältnismäßig große Anzahl von Kleinbauern verteilt ist.
Was ist die Schuld daran, daß die Verteilung der Arbeit im
Verhältnis zum Bodenareal — unabhängig von der sozialen Ver-
teilung — nicht mit Naturnotwendigkeit das denkbar größte pro-
duktive Resultat ergibt, sobald nur die Quantität des Bodens und
der Arbeit gegeben sind. — Diese Frage ist es, auf die ich hier-
durch eine rein theoretische mathematische Antwort gegeben habe.
Und diese Frage ist bisher der Aufmerksamkeit der Bodentheoretiker
entgangen, weil sie sich nur beantworten läßt in der Erkenntnis
des sozialen Elementes in der Produktion, während die
iech bisher nur vom rein produktiven Gesichtspunkt aus betrachtet
worden ist.
166 Hellmuth Wolff,
II.
Die inneren Wanderungen,
unter besonderer Berücksichtigung der Wanderungen mit
fester Wohnstätte.
Von
Hellmuth Wolff.
Mit der politischen Befestigung der modernen Staaten von 1815
bis 1871, mit der gesetzlichen Gewährleistung der persönlichen Frei-
heit, der Freizügigkeit und der Gewerbefreiheit, und mit der Ver-
vollkommnung der Massenverkehrsmittel hat sich in allen modernen
Kulturstaaten eine große Beweglichkeit der Bevölkerung eingestellt 1),
die in einer von Volkszählung zu Volkszählung immer wieder sichtbar
werdenden Verschiebung der Bevölkerung?) ihren Ausdruck findet.
War es anfänglich mehr die Aus- und die Einwanderung, d. h.
die etwas merkantilistisch behandelte Möglichkeit, Staatsangehörige
zu verlieren oder zu gewinnen, die eine weitgehende Beobachtung
fand, so ist mit dem Nachlassen der „äußeren Wanderungen“, wie
man die Aus- und Einwanderung (einschließlich der sogenannten
Durchwanderung) zusammenfassend bezeichnet, und dem hiermit wohl
teilweise zusammenhängenden Anwachsen der Städte und besonders
der Großstädte das Schwergewicht sowohl von der praktischen als
auch von der theoretischen Staatswirtschaft immer mehr auf die
„inneren Wanderungen“ gelegt worden, wie die innerhalb der
Landesgrenzen vor sich gehenden Wanderungen genannt werden.
In der Tat ist der Unterschied zwischen dem Umfang der
äußeren und der inneren Wanderungen rein ziffernmäßig so ge-
waltig groß, daß die stärkere Beachtung der inneren Wanderungen
als durchaus berechtigt gelten muß.
Könnte man, wenn wir uns auf das Deutsche Reich beschränken,
auf der einen Seite die Zahl der deutschen Auswanderer und der
1) Die uns ähnlich aus der Vergangenheit nur einmal bekannt ist: als die Städte
und die Stadtwirtschaften entstanden im 11. bis 14. Jahrhundert. Bücher, Zeitschr. f.
Schweiz. Statist., 1887, S. 12.
2) Vgl. hierzu die Abhandlungen in „Die Großstadt“, Vorträge und Aufsätze zur
Städteausstellung in Dresden 1907, von Karl Bücher, F. Ratzel, G. v. Mayr, G. Wäntig,
G. Simmel, Th. Petermann und D. Schäfer.
Die inneren Wanderungen. 167
fremdbürtigen Einwanderer, auf der anderen Seite die Zahl der
irgendwie innerhalb der Reichgrenzen in einem bestimmten Zeitraum
Gewanderten feststellen, so wäre die wirkliche Differenz dieser beiden
Wanderermassen zu erkennen.
Leider fehlt es dazu heute noch an der wichtigsten Unterlage,
nämlich der fortlaufenden Beobachtung, für alle Wanderer-
gruppen, abgesehen von der der deutschen überseeischen Aus-
wanderer. Sie ist die einzige Gruppe, welche wenigstens an-
nähernd in ihrem vollen Umfange laufend beobachtet wird.
Für alle anderen Wanderergruppen gibt es, soweit die Reichs-
resp. Landesstatistik als Beobachtungssubjekt in Frage kommt, nur
periodische Bestandserhebungen oder gar nur Ableitungen aus
solchen Bestandszählungen; während andererseits viele Städte mit
Hilfe der polizeilichen An- und Abmeldungen den Zu- und Fortzug
als die im allgemeinen am meisten in die Augen fallende Wande-
rungsbewegung laufend beobachten. Da jedoch die landesstatistische
Zusammenfassung fehlt, kommen für die Staatsgebiete nur die Be-
standszählungen, wie sie die Volkszählungen darstellen, in Betracht.
Von der Auswanderung kennen wir also die Zahl der Aus-
wanderer, soweit sie aus deutschen und einigen wichtigen nahen
fremdländischen Häfen !) überseeisch auswandern ?).
Außer diesen durch fortlaufende Beobachtung gewonnenen
Wandererzahlen, die monatlich und jährlich zusammengestellt wer-
den, ist uns die Zahl der Ausländer im Deutschen Reiche
durch unsere Volkszählungen und die Zahl der Deutschen im
Auslande durch die Volkszählungen im Auslande bekannt. Eine
entsprechende Aufstellung über den Bestand um die Jahrhundert-
wende hat das Kaiserl. Statistische Amt an Hand der allerdings zu
verschiedenen Terminen in fast allen Ländern der Erde aufge-
nommenen Volkszählungen gegeben’).
Die hier gewonnenen Zahlen zeichnen nur den Zustand im
Augenblick der einzelnen Zähltermine; sie eignen sieh aber für
unsere Betrachtung besser, weil auch — wie wir schon wissen —
die Zahlen der inneren Wanderungen gleichgeartete Bestands-
ziffern sind.
Die inneren Wanderungen finden diesen gleichgearteten
Ausdruck in den Gebürtigkeits$ziffern der deutschen Volks-
zählungen. Die umfassendste Wanderermenge ergibt sich durch die
Feststellung der Gebürtigkeit der ortsanwesenden Bevölkerung, in-
dem die innerhalb der Zählgemeinde gebürtigen Personen von
den außerhalb der Zählgemeinde gebürtigen, soweit es reichs-
deutsche Gemeinden sind, abgetrennt werden. Die so gewonnenen
Fremdbürtigen haben eine „innere Wanderung“ hinter sich; und
zwar mindestens eine. Denn von den vor der Zählung aus-
1) Belgischen, holländischen, französischen und seit 1899 auch einem englischen
Hafen (Liverpool).
2) Vgl. Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 1909, Heft 1, S. 121.
3) Vgl. Vierteljahrshefte 1905, Ergänzungsheft 1, 8. 3ff.
168 Hellmuth Woltt,
geführten Wanderungen, auch soweit sie einen Wechsel der Wohn-
stätte mit sich brachten, wird durch die Gebürtigkeitsfeststellung
nur die eine einzige erfaßt, die am Zähltage vorliegt. Ob vorher
keine andere oder zahlreiche Wanderungen stattfanden, ergibt
sich aus der Gebürtigkeitsermittlung nicht.
Die Gebürtigkeitsstatistik!) ist also ein offenbar recht unge-
nügender Ausdruck für den Wanderungsumfang. Trotzdem ist sie
die erste Quelle mit, wenn auch nur für einen Augenblick im Leben
des Volkes, annähernd vollkommener Gültigkeit für die Beobachtung
der inneren Wanderungen.
Mit den hier gegebenen Einschränkungen zeigen die folgenden
Zahlen das starke numerische Uebergewicht der inneren
Wanderungen gegenüber den äußeren.
Ueber die Reichsgrenze sind gegangen;
A. Auswanderung.
1) Deutsche Reichsgebürtige in überseeischen Gebieten (um 1900) 2 770 000
2) Deutsche Reichsgebürtige im übrigen Auslande (um 1900) ca. 360 000
3) Von den deutschen, im Auslande geborenen und um 1900 auch im Aus-
lande lebenden Staatsangehörigen (ca. 450 000) höchstens ca. 350.000
Das sind zusammen höchstens ca. 3480000 Personen als Auswanderer aus dem
Deutschen Reich.
B. Einwanderung.
4) Die am 1. Dez. 1900 im Deutschen Reich gezählten Ausländer, soweit Fremd-
bürtige, mit 778 700
und sonstige Fremdbürtige mit 44 900, zusammen also 823 600
Einwanderer im Deutschen Reiche.
Diese beiden Posten stellen den Gesamteffekt der Aus- und
Einwanderung, also der äußeren Wanderungen (ohne die ja gänzlich
anders zu bewertende Durchwanderung) dar; es sind demnach höch-
stens 4303600 Personen für die äußeren Wanderungen zu zählen.
Dagegen ergab die Volkszählung vom 1. Dez. 1900 allein für
Preußen 15394693 Personen, die nicht in der Zählgemeinde
(aber innerhalb Preußens) geboren waren?); und für das ganze
Deutsche Reich ca. 28 Millionen nicht in der Zählgemeinde geborene
Personen °) reichsdeutscher Gebürtigkeit. Die numerische Bedeutung
der inneren Wanderungen als Wanderungsresultat ist also aus der
Ortsgebürtigkeitsermittlung bei der Volkszählung zu erkennen.
Viel enger wird der numerische Umfang der inneren Wande-
rungen allerdings, wenn man an Stelle der Ortsgebürtigkeit größere
Gebürtigkeitsbezirke bildet, wie den Kreis, die Provinz. Dann
verschwinden die Wanderungen innerhalb des einzelnen Bezirkes
vollständig und es bleibt nur die über die Bezirksgebürtigkeitsgrenze
in das übrige Staatsgebiet hinausgetretene Personenmenge für die
innere Wanderung übrig.
Verwaltungspolitische, auch nationale Gründe haben jedoch
1) Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 150 u. 151.
2) Nach der Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statistischen Landesamtes, 47. Jahrg.,
1907, S. 313, berechnet.
3) Vgl. Bd. 150 der Statistik des Deutschen Reichs.
Die inneren Wanderungen. 169
gerade diese regionale Wanderungsmengen häufig feststellen lassen,
nachdem v. Mayr!) für Bayern und Ravenstein?) für zahlreiche
andere Länder die Bedeutung dieser regionalen Wanderungen auch
für die natürliche Bevölkerungsentfaltung dargelegt hatten, und die
preußische Landesstatistik infolge der großen Polenzüge aus den
östlichen Provinzen nach dem Westen auf die regionale Verschiebung
der Bevölkerung noch ein besonderes Augenmerk richtete.
Den bestandsmäßigen Ausdruck finden diese inneren Wande-
rungen ebenfalls durch die Volkszählung, und zwar durch die
Summe der außerhalb der Zählgemeinde „sonst in Preußen“ und „in
anderen deutschen Bundesstaaten“ Gebürtigen, die allein für Preußen
am 1. Dez. 1900 (4,03 + 1,07 =) 5,1 Millionen Personen groß war.
Die Volkzählungen werden weiter noch zu einer anderen Ab-
leitung der Wanderungen (allerdings gewöhnlich einschließlich der
äußeren Wanderungen) für größere Verwaltungsbezirke, wie haupt-
sächlich die Provinzen, benutzt.
Gleicht man nämlich die Differenz der ortsanwesenden
Bevölkerung an zwei Zählterminen mit dem Geburten-
überschuß’(also der Differenz der Geburten und Sterbefälle) für
dasselbe Gebiet und denselben Zeitraum ab, so ist diese neue Diffe-
renz nicht anders als durch Wanderung (Zuwanderung bei positiver
Differenz, Abwanderung bei negativer Differenz) zu erklären.
Eine sehr lehrreiche (ungekürzte) Zusammenstellung in dieser
Art, d. i. an Hand der Volkszählungsergebnisse für 1900 und 1905,
der Geburten und Sterbefälle und des Geburtenüberschusses für
diesen Zeitraum und der hiermit für jede Provinz resp. jeden
Bundesstaat sich ergebenden Wanderungsmenge bringt die deutsche
Reichsstatistik in ihren Vierteljahrsheften °).
Hiernach hatten in dem Jahrfünft 1900/1905 die acht öst-
lichen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Posen,
Schlesien, Hannover, Hohenzollern trotz zum Teil hohem Geburten-
überschuß und trotz natürlicher Zunahme der Bevölkerung um
104355 Personen, doch im ganzen einen Verlust durch Wande-
rung von 439347 Personen, während die übrigen Provinzen
(Brandenburg, Rheinland, Stadtkreis Berlin, Westfalen, Hessen-
Nassau, Schleswig-Holstein) jeweils Gewinne durch Wanderung (d. i.
ein Plus über den Geburtenüberschuß) mit zusammen 535803 Per-
sonen zu verzeichnen hatten.
Haben die bisher genannten Zusammenstellungen und Ab-
leitungen Bestandsübersichten über die. Wanderungsmengen
gebracht), so gestatten die Volkszählungen weiter auch gewisse
1) v. Mayr, Die bayerische Bevölkerung nach der Gebürtigkeit. 32. Heft der
Beiträge zur Statistik des Kgr. Bayern. München 1876.
2) Ravenstein, The laws of migration, 1896, passim,
3) 1906, Heft 4, p. 298/299.
4) Es sei erwähnt, daß mit Hilfe der Volkszählungen auch noch die Heimat,
die Muttersprache, die Nationalität, die Religion als Ausdrucksmittel der inneren Wande-
rungen benutzt werden können.
170 Hellmuth Wolff,
soziale Ergebnisse der Wanderungen zu erfassen, die sich mit den
Schlagworten „Stadt und Land“, „Zug in die Stadt“, „Landflucht“ u. ä.
bezeichnen lassen, und die seit geraumer Zeit im Mittelpunkt des
Problems der inneren Wanderungen stehen.
Eine Verschiebung der Bevölkerung innerhalb der
Landesgrenzen vom Land in die Stadt ist in der Tat in großem
Umfange erfolgt. Fassen wir mit der deutschen Reichsstatistik die
Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohner als Land, die mit mehr
als 2000 Einwohnern als Stadt zusammen, so hat sich die Bevölke-
rung im Deutschen Reich verschoben nach dem Bestand bei den
Volkszählungen !):
Fahr In Gemeinden mit weniger Proz In Gemeinden mit mehr Proz
als 2000 Einwohnern “| als 2000 Einwohnern
1875 26 070 188 | 61,0 16657 172 39,0
1895 26 376 927 56,3 20478 777 43,7
1895 26 022 519 49,8 26 257 382 50,2
1905 25 822 481 42,6 34 818 797 | 57,4
Das Verhältnis von Stadt und Land im Deutschen Reich hat
sich demnach beinahe umgekehrt im Laufe der letzten 30 Jahre.
Die inneren Wanderungen dürften reichen Teil an dieser Ver-
schiebung haben, wie die Ortsgebürtigkeitsnachweise vermuten lassen.
Noch mehr zeigt sich die Verschiebung der Bevölkerung bei
den Städten allein; besonders bei den Großstädten (mit 100000
Einwohnern und mehr). Es gab nach der Volkszählung?) von
Großstädte mit Einwohnern und Städte mit 20—100000 Einw.
1875 12 2 665 914 88 3 487 857
1885 21 4446 381 116 4 171 874
1895 28 7 276 993 150 5 580 074
1905 41 11 509 004 208 7 816 630
Hierbei sind allerdings zahlreiche Eingemeindungen mitein-
geschlossen; aber man darf doch dabei nicht vergessen, daß die Ein-
gemeindung fast regelmäßig nur eine Folge der städtischen Agglome-
ration ist. Das Wachstum der Großstädte geht eben nicht bloß
populationistisch, sondern auch regional vor sich; eine Tatsache, die
schon vor fast zwei Jahrzehnten zu der bekannten Untersuchung
Brückners über die Entwicklung der großstädtischen Bevölkerung
führte ë), und die uns die noch bekannter gewordenen Studien des
Mannheimer Statistikers Prof. Schott über das Wachstum der Groß-
städte auf kilometrischer Unterlage im Statistischen Jahrbuch deut-
scher Großstädte 11 gegeben hat.
Aber mit all den bisher behandelten Ergebnissen aus den Volks-
zählungen und ihrer Abgleichung mit der Bevölkerungsfortschreibung
ist der große Rahmen der inneren Wanderungen noch nicht aus-
gefüllt.
1) V.-H. 1907, IV, S. 71/72.
2) Neefe, Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, XV, 8. 43.
3) v. Mayrs allgem. Statist. Archiv, I, 1890.
4) Jahrg. XI, S. 129 ff.; XII, S. 18 ff. (Breslau 1903 und 1904).
Die inneren Wanderungen. 171
Wir können uns das Wort von H. Wirminghaus zu eigen
machen): „Die beiden Schlagworte „Der Zug nach dem Westen“
und „Der Zug nach der Stadt“ erschöpfen die Binnenwanderungs-
vorgänge bei weitem nicht.
Wir haben im vorstehenden als Probleme innerer Wanderung
kennen gelernt:
1) die Ortsgebürtigkeit (lokale Geb.);
2) die Bezirksgebürtigkeit (regionale Geb.);
_ 8) die Wanderung als Ausgleich zwischen ortsanwesender Be-
völkerung und natürlicher Bevölkerungsbewegung;
4) die Verschiebung der Bevölkerung in Stadt und Land und
die Bevölkerungsdichte;
5) das Wachstum der Großstädte.
Alle diese Fragen haben zwei Gemeinsamkeiten. Zuerst sind
sie landesstatistischer Natur, und beruhen auf Bestands-
zählungen, auch einschließlich der letzteren betreffend das Wachstum
der Großstädte, wenn sie auch wiederholt kommunalstatistisch an-
gefaßt worden ist. Zweitens aber haben sie alle gemeinsam, daß es
sich immer um Wanderungen handelt, die an der Verlegung des
Wohnsitzes erkannt und gemessen werden.
So treten wir vor zwei neue Fragestellungen: 1) vor die
methodologische Frage, ob es nicht vielleicht noch ein
anderes Kennzeichen für Wanderungen gibt als das des
Wohnortswechsels, der Verlegung der Wohnstätte und des Wohn-
Sitzes; 2) vor die technische Frage, was die kommunale Statistik
auf dem Gebiete der inneren Wanderungen leisten kann, und dazu
2a) ob die Landesstatistik noch weitere Fragen der (inneren)
Wanderungen in ihren Arbeitsbereich einbeziehen kann.
Uns hat zuerst die Methodenfrage der Wanderungsarten zu be-
schäftigen. Bevor wir in diese eintreten, möchten wir praktisch auf
einige Wanderungsarten hinweisen, die in der obigen Zusammen-
fassung nicht haben Platz finden können, weil sie in der Landes-
statistik nicht oder nicht ausreichend gepflegt werden.
Die erste große Gruppe solcher inneren Wanderungen wird
durch den Zuzug und Fortzug auf Grund kommunalstati-
stischer Beobachtung dargestellt; es sind das noch Wanderungen,
die die Verlegung der Wohnstätte und das Aufgeben des
bisherigen Wohnsitzes als Erkennungsmerkmal an sich tragen, da
sie anders als an diesem Merkmal gar nicht zu erfassen wären. Die
polizeilichen An- und Abmeldungen bilden die Unterlage.
Die zweite große Gruppe solcher inneren Wanderungen umfaßt
die Umzüge innerhalb einer Gemeinde; auch hier gilt die Ver-
legung der Wohnstätte als Kennzeichen, und die polizeiliche An-
und Abmeldung als Erhebungsunterlage für die kommunale Statistik.
Doch fällt bereits die Aufgabe des bisherigen Wohnortes fort, da
der Umzug innerhalb des alten Wohnortes vor sich geht.
1) Conrads Jahrbücher, 3. F., Bd. 9, 1895, S. 165/166.
172 Hellmuth Wolff,
Alle diese Wanderungen sind Wanderungen mit neuer Wohn-
stätte.
Dagegen gibt es nun (neben Wanderungen mit beweglicher
Wohnstätte wie im Hausierhandel) noch Wanderungen mit fester
Wohnstätte, d. h. Wanderungen, die nicht das Verlegen der
Wohnstätte als Erkennungsmerkmal haben. sondern nur das (zeit-
weilige) Verlassen der Wohnstätte, so daß also der bisherige
Wohnsitz nicht aufgegeben wird.
Hierher gehört zuerst der Ausflügler- und der Fremdenverkehr,
der außerordentlich große Menschenmassen in jedem Jahre in Be-
wegung setzt; dann die Wanderarbeit z. B. der Sachsengänger, der
Spessarter Wanderarbeiter, der Lipper Ziegler, der Westerwald-
gänger; und drittens die sehr große Zahl von Personen, die ihrer Be-
schäftigung ständig außerhalb ihres Wohnortes nachgehen, und zu
diesem Zweck täglich von ihrem Wohnort zu ihrem Arbeitsort
wandern.
Sie alle sind mit Ausnahme der letzten Art der Landesstatistik
fast unbekannt.
Diese kurze Aufzählung der Formen innerer Wanderung zeigt,
daß die Landestatistik die Wanderungen mit fester Wohnstätte ver-
nachlässigt und bis auf eine Ausnalıme (nämlich die Frage nach
„Arbeitsort !) und Wohnort“ bei der Volkszählung von 1900) in der Tat
nicht behandelt hat; und zeigt weiter, daß die ganzeauf fortlaufende
Beobachtung gestützte Wanderungsbewegung in der Bevölkerung:
„von Ort zu Ort“ (Zu- und Fortzug) und „innerhalb eines Ortes*
(Umzug) ebenfalls noch nicht in den Arbeitsbereich der Landes-
statistik gelangt ist.
Auch diese Wanderungen werden vielmehr bisher fast aus-
schließlich von der kommunalen Statistik beobachtet und be-
handelt, offenbar und mit einer gewissen Berechtigung deswegen,
weil — wenigstens in der Hauptsache — die Registrierung von
kommunal begrenzten Verwaltungseinrichtungen (Einwohner-
meldeamt) vorgenommen wird.
Die Betrachtungen über die inneren Wanderungen, die fort-
laufend beobachtet werden (Zu- und Fortzug; Umzug), oder aber
außerdem Wanderungen mit fester Wohnstätte sind (Fremdenverkehr;
Wanderarbeiter ; Außerortsarbeiter), haben also im allgemeinen bis
jetzt an die Feststellungen der kommunalen Statistik anzuknüpfen.
Die Daten über Zu- und Fortzug sind hierbei am zahl-
reichsten ; sie werden auch regelmäßig verwertet. Sie bilden eine
unentbehrliche Unterlage der Fortschreibung der Bevölkerungszahl
in den einzelnen Städten; und weiter eine unentbehrliche Grund-
lage für zahlreiche andere weniger ausgesprochen populationistische
Fortschreibungen und Beobachtungen, wie die Berufsverschiebungen,
den Arbeitsmarkt, den Beschäftigungsgrad usw.
1) Bearbeitet von Brösicke, in der Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen
Landesamtes, 1904, für 29 preußische Städte; bearbeitet von Losch für Württemberg ;
bearbeitet von Böhmert für Bremen; bearbeitet von Beukemann für Hamburg.
Die inneren Wanderungen. 173
Uns kommt es hier nur darauf an, ein zahlenmäßiges Bild von
dem ungeheueren Umfang dieser Wanderungen zu geben (wobei wir
bemerken müssen, daß eine Ausscheidung der, wie wir wissen, ja
unbedeutenden äußeren Wanderungen leider nicht möglich war).
Die Zahl der Zugezogenen aus den 20 deutschen größten Städten,
die über diese Bewegung an das Statistische Jahrbuch !) deutscher
Städte berichten, betrug (wie ich berechnet habe) im Kalenderjahr
1906 rund 1423000 Personen; die Zahl der Fortgezogenen für die-
selben Städte im gleichen Jahre 1110000 Personen.
Da der Austauschverkehr zwischen den Großstädten selbst
recht ansehnlich ist, so ist in diesen Zahlen wohl eine beträchtliche
Menge Personen sowohl im Zuzug wie im Fortzug gezählt; viele
Personen sind infolge mehrfacher Wanderung (innerhalb der Be-
richtszeit) ebenfalls mehrfach gezählt.
Aber mit den Zahlen über Zu- und Fortzug für die 20 Groß-
städte ist erst ein bescheidener Teil dieser ganzen Wanderungs-
bewegung im Deutschen Reiche erfaßt. Läßt man das Verhältnis
der Einwohnerzahl dieser 20 Städte zur Bevölkerung des ganzen
Reiches?) als Maßstab gelten, was unter gewissen Einschränkungen?)
zulässig ist, so wäre die gesamte Wanderungsbewegung durch Zu-
und Fortzug im Deutschen Reiche auf beinahe Smal so viele Wande-
rungsakte anzunehmen mit rund 20000000 Wanderungsakten im
Jahre 1906). Oder um es relativ auszudrücken, es gibt im Deut-
schen Reiche viele Orte, in denen jährlich auf 1000 Ein-
wohner bis 300, ja bis 400 Zuzüge und annähernd ebensoviele
Fortzüge stattfinden; Ziffern, die die ungeheuere Beweglichkeit der
Bevölkerung über die Ortsgrenze hinaus deutlich erkennen lassen.
Doch auch innerhalb des städtischen Weichbildes findet noch
eine erstaunlich große Wanderung mit Wohnungsverlegung statt;
der Umzug ist der Ausdruck des Wohnungswechsels innerhalb der
Stadt. Nehmen wir wieder nur die 20 größeren Städte im Deutschen
Reich, die über den Umzug an das Statistische Jahrbuch deutscher
Städte berichten *), so sind mn diesen Städten im Jahre 1906 fast 3,2 Mill.
Umgezogene zur Meldung gelangt. also noch mehr Umgezogene
innerhalb der Städte, als Zu- und Fortgezogene.
Ueber diese riesenhaften Bewegungserscheinungen kennen wir,
soweit die Umzüge in Frage kommen, kaum viel mehr als die ab-
solute Zahl der Umgezogenen, vereinzelt noch das Geschlecht, und
noch seltener den Familienstand und die Haushaltungsumzüge.
Beträchtlich besser sind wir über die Zusammensetzung
1) Statistisches Jahrbuch deutscher Städte, XV, Breslau 1908, 8. 61.
2) 7,67 Millionen zu 60,64 Millionen im Jahre 1905, 1. XII.
3) Auf der einen Seite haben die großen Städte eine — wenigstens absolut —
stärkere Zu- und wohl auch Abwanderung als eine Summe kleiner Städte mit ähnlich
großer Einwohnermenge; auf der anderen Seite ist aber die Wanderungsbewegung ge-
rade auf dem Lande von großer Ausdehnung und in den kleinsten Orten wieder sehr
stark, wie es v. Mayr für Bayern schon 1871, Kollmann für Oldenburg, 1880,
v.Zwiedeneck-Südenhorst für Baden 1900 gezeigt haben.
4) a. a. O. XV, S. 61.
174 Hellmuth Wolff,
des Zu- und Fortzuges unterrichtet, so hauptsächlich über das
Geschlecht, das Alter, den Familienstand und den Beruf; dagegen
z. B. so gut wie gar nicht über die Einkommensverhältnisse, die für
die Kommunen kennen zu lernen von größter Wichtigkeit ist, und
wozu z. B. in Preußen die jährlichen Personenstandsaufnahmen reich-
lich Material bieten würden. Weiter kennen wir auch den Gesund-
heitszustand, die Herkunftsorte dieser Bewegungsmassen nicht oder
nur ungenügend, Fragen, die für die „Selbsterhaltung* der Groß-
städte von einschneidender Bedeutung auch heute noch sind, wo
die kommunale Hygiene so riesige Fortschritte gemacht hat.
Die wichtigste Frage des Zu- und Fortzuges, des Wachs-
tums der Städte von außen her, wird allerdings durch die
Beobachtung des Zu- und Fortzuges auch heute schon vollauf be-
antwortet.
Aber diese Frage ist nun bereits in einer derartigen Vielseitig-
keit behandelt worden, daß neue Ergebnisse kaum noch zu ge-
winnen sind.
Weiter hat die Frage des Wachstums der Großstädte mit
dem relativen Nachlassen des Wachstums in den letzten Jahren von
ihrer Bedeutung einiges eingebüßt.
Nach den statistischen Zusammenstellungen in Silbergleits!)
„Preußens Städte“, die sich auf sämtliche Ortschaften in Preußen
beziehen, die nach der Volkszählung 1905 mehr als 25000 Ein-
wohner hatten, habe ich berechnet, daß die Zuwachsquote dieser
110 Städte in dem Jahrfünft 1885/90 19,1 Proz. betrug, dagegen in
dem Jahrfünft 1895/1900 nur noch 17,9 Proz. und in dem letzten
Jahrfünft 1900/05 nur noch 17,4 Proz.
Danach scheint mir in der Gegenwart die Frage des Wachs-
tums der Großstädte, des Zuges nach der Stadt, überhaupt nicht
mehr die wichtigste Frage der inneren Wanderungen zu sein.
Vielmehr drängt sich das Gebiet der Wanderungen mit
fester Wohnstätte immer mehr hervor, nachdem durch die
Wanderungen mit neuer Wohnstätte (Zu- und Fortzug, Umzug)
die erste große Umschichtung der Bevölkerung offen-
bar erreicht ist.
Der Wert der Beobachtung der inneren Wanderungen mit
fester Wohnstätte liegt in ihrer ergänzenden Bedeutung zu der
Frage des Wachstums der Großstädte.
Wanderungen mit fester Wohnstätte beschneiden
das Wachstum der Städte und die Verschiebung der Bevölke-
rung zwischen Land und Stadt überhaupt, das ist wohl sicher. Denn
das Beibehalten des bisherigen Wohnsitzes von so vielen Tages- und
Saisonwanderern hält ansehnliche Mengen von Außenwohnern lange, ja
vielleicht dauernd von dem Zuzug in die Stadt und überhaupt in
den Beschäftigungsort ab. Wenn auch wohl mancher der noch außer-
halb des Arbeitsortes Wohnenden später oder gelegentlich an den
1) Herausgegeben im Auftrage des Preußischen Städtetages, Berlin, Heymann, 1908.
Die inneren Wanderungen. 175
Arbeitsort zieht, d. h. seinen Wohnsitz dorthin verlegt, so ist doch
die Tages- und die Saisonwanderung ganz gewiß ein wichtiger Re-
gulator für das Anwachsen der Städte und für die Ent-
völkerung der Außengebiete und des „Landes“ überhaupt, also von
eminenter volkswirtschaftlicher Bedeutung.
Dem Lande — allerdings dem Lande im zeitgemäßen Sinne —
werden durch die Außerortsarbeit große Mengen Menschen erhalten ;
Menschen, die sehr oft in einer zu eigen besessenen Parzelle ihr
soziales Rückgrat haben !); Menschen, die andererseits durch die
Nähe der Stadt mit ihrem starken Konsumbedürfnis agrarer Produkte
auf die intensivste Ausnutzung ihres Bodens hingelenkt werden,
durch die Außerortsarbeit sich wirtschaftlich erholen.
Und der Stadt im besonderen wird durch die Ueberweisung der
überschüssigen Arbeitskraft aus der Umgebung doppelt genützt,
wenn die Menschen, die sie übermitteln, nur in ihrer Eigenschaft
als Produktionsfaktoren in die Stadt gelangen, dagegen in ihrer
Eigenschaft als Konsument draußen bleiben, wie es die Beibehaltung
des auswärtigen Wohnsitzes, die die Tageswanderung ja besonders
kennzeichnet, bewirkt.
Die Tageswanderung vom Wohnort zum auswärtigen
Arbeitsort entlastet vor allen Dingen die städtischen Schu-
len, belastet aber die Vorortschaften, entlastet weiter die kom-
munale Armenpflege, belastet dafür die Vororte, entlastet den
städtischen Wohnungsmarkt ohne besonderen Schaden für
den Vorortswohnungsmarkt, belebt den städtischen Arbeits-
markt und steigert den städtischen Beschäftigungsgrad, drückt
dafür aber vielleicht auf den Beschäftigungsgrad der Umgebung und
auf die Vorortsfinanzen; alles Fragen, die, wenn auch nur zum Teil,
das KAG. vom 14. Juni 1893 durch die Verpflichtung der Betriebs-
gemeinden zur Leistung von Zuschüssen 2) an die Wohngemeinden
bereits auch gesetzlich zu regeln versucht hat.
Die saisonmäßige Wanderarbeit ist dagegen in ihrer
Eigentümlichkeit des festen Wohnsitzes noch nicht gesetzgeberisch
behandelt worden; die Wanderarbeiter gehen zu sehr auseinander
und erschweren einen Eingriff besonders steuerpolitischer Art aufs
stärkste.
Ueber den Umfang der saisonmäßigen Wanderarbeit hat uns
zuerst K ärger?) unterrichtet, wenigstens soweit die Sachsengänger
im engeren Sinne, d.h. die landwirtschaftlichen Saisonarbeiter für die
Provinz Sachsen und die angrenzenden sächsischen Staaten aus Posen,
Ost- und Westpreußen etc. in Frage kommen. Seine Zahlen sind nun
schon stark überholt; und was die Hauptsache ist, die Wanderarbeit
hat sich auf andere große Gebiete ausgedehnt, ja sogar auch auf andere
1) Vgl. mein Buch „Der Spessart“, Aschaffenburg 1905, p. 316.
2) Wenigstens für die Zwecke des öffentlichen Volksschulwesens, des Armenwesens
und für polizeiliche Zwecke. Adickes, Kom. Abg. Ges., S. 106—110.
3) K. Kärger, Die Sachsengängerei. „Landwirtschaftliche Jahrbücher“, heraus-
gegeben von H. Thiel, Bd. 19, 1890.
176 Hellmuth Wolff,
Erwerbsarten, unter denen die ungelernte Arbeit im Straßen-, Kanal-
und Bahnbau einen ersten Platz einnimmt.
Heute dürften jährlich wenigstens 200000 deutsche landwirt-
schaftliche Wanderarbeiter (sogenannte Sachsengänger) und wenig-
stens 40000 deutsche gewerbliche Wanderarbeiter saisonweise von
ihrem Wohnort abwesend sein, wie es die Berichte der Landwirt-
schaftskammern und die verschiedenen privaten Untersuchungen über
die gewerbliche Wanderarbeit innerhalb Deutschlands!) vermuten
lassen; also allein mehr Menschen sind auf Wanderarbeit im Lande
unterwegs als die ganze überseeische Auswanderung in den Jahren
der ausgedehntesten Abwanderung betrug.
Von beträchtlich größerem Umfang ist die Tageswanderung
vom Wohnort zum Arbeitsort. Die Zusatzfrage betr. Arbeits-
ort und Wohnort gelegentlich der Volkszählung 1900 gibt darüber,
wie wir schon erwähnten, Aufschluß, und zwar recht guten, da sie
in verschiedenen Bundesstaaten, wenn auch in ungleichem Umfang,
aufgearbeitet worden ist.
Wir beschränken uns hier auf Preußen, wo durch Brösicke?)
29 Großstädte und große Industrieplätze als Arbeitsort der in der
Umgebung wohnenden Außerortsarbeiter, und als Wohnort der in
der Umgebung beschäftigten Außerortsarbeiter behandelt worden
sind, und wonach in diesen 29 preußischen Städten 206535 Personen
erwerbsfähig waren und außerhalb wohnten, und andererseits täglich
72479 Personen aus den 29 Städten in die Umgebung auf Arbeit
gingen.
Wenn wir die Bearbeitungen für Württemberg), Hamburg und
Bremen noch berücksichtigen und daraus auf die Tageswanderung
im ganzen Deutschen Reich schließen, dürfte im ganzen Deut-
schen Reich eine Tageswanderung von annähernd 1!/, Mill.
Menschen vom Wohnort zu einem auswärtigen Arbeitsort anzu-
nehmen sein.
Ein und eine Viertel Million Menschen im Deutschen Reiche
wandern täglich von ihrem Wohnort nach einem auswärtigen
Arbeitsort; das sind 300mal so viele Wanderungsakte im Jahr!
oder ca. 375 Mill. Wanderungsakte in jeder Richtung, wenn nur ein
Morgen- und ein Abendweg gerechnet werden.
Wie viele Wanderungen hiervon zu Fuß, per Rad, zu Wagen,
per Eisenbahn ausgeführt werden, das ist für einzelne Orte, z. B.
Karlsruhe ®), Aschaffenburg untersucht worden, ebenso wie die Wan-
derungsentfernung vom Wohnort zum Arbeitsort.
Was diese Tageswanderung kostet, an Zeit und Geld, das ist
kaum zu errechnen; auf jeden Fall sind es Riesensummen, die für
1) z. B. mein Buch: Der Spessart, 1905; Abschnitt „Die Wanderarbeit der
Spessarter‘‘,
2) In der Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statistischen Landesamtes, 1904.
3) 55 134 Tageswanderer (Personen mit auswärtigem Arbeitsort) in Württemberg,
ca. 15000 D D ” DI D „ Bremen,
23717 LA » HI D HI HU Hamburg,
4) Von Baurat Fuchs, Die Verhältnisse der Industriearbeiter bei Karlsruhe, 1904.
Die inneren Wanderungen. 177
die Wanderung vom Wohnort zum Arbeitsort jährlich ausgegeben
werden.
Was diese Tageswanderung für die Verteilung der Industrie usw.
auf die Städte, Industrieplätze usw. bedeutet, ist ebenfalls auch
nicht annähernd in seiner Bedeutung zu ermessen. Sicher ist nur
das eine, daß die Dezentralisation der Industrie durch
diese Tageswanderung bis zu einem gewissen Grade vorbereitet
wird!): die Arbeitsstätte zieht dem Arbeiter nach; nachdem zuerst
der Arbeiter der Arbeitsstätte nachzog und dann jetzt der Arbeiter
nur seine Arbeitskraft in den Arbeitsort trägt, und so eine Dezen-
tralisierung der Personen, wie es Zahn?) einmal nennt, einge-
treten ist.
Die Citybildung?) endlich ist eine der wichtigsten Folgen
der Tageswanderung für die Städte. Die Möglichkeit des Auswärts-
wohnens hat die Wohnbevölkerung der City überall dezimiert, sie aber
als Arbeitsbevölkerung nicht bloß erhalten, sondern oft noch vermehrt.
Neben diesen beiden wichtigsten Formen der Wanderung mit
fester Wohnstätte tritt die dritte Form, der Fremdenverkehr,
wenn auch vielleicht nicht der Zahl, so doch der Bedeutung nach
zurück. Die Kommunalstatistik gibt als Fremdenverkehr die in
Hotels, Gasthäusern u. ä. gemeldeten Fremden, in vielen Städten
auch noch den Verkehr in den Herbergen. Sehen wir von dem
letzteren auch ab, weil er oft ohne jede Wohnstätte vor sich geht,
so ist doch der Fremdenverkehr noch recht ansehnlich, wie die
Daten einiger Städte belegen.
Berlin hatte 1908 ca. 930000 Fremde in seinen Hotels*) usw.
Dresden „ 1908 „ 362800 „p » » a; j
Düsseldorf „, 1908 , 121500 D n D » nm
Bremen „ 1908 „ 196900 D »n D D
Halle a. 8. a 1908 An 108 000 » n n nm ”
Der Vollständigkeit halber sei auch noch der Straßenver-
kehr, der Personenverkehr in den Straßen zu Fuß, per Straßen-
bahn usw. als die, wenn ich so sagen darf, matteste Form der
inneren Wanderung mit fester Wohnstätte hier genannt. Erhebungen
hierüber haben nur in einigen Städten und bisher im ganzen nur
für wenige Stunden stattgefunden. Man dürfte diese Wanderungen
übrigens besser als örtliche Wanderungen mit fester Wohnstätte
von den eigentlichen inneren (zwischenörtlichen) Wanderungen
mit fester Wohnstätte trennen, und ihnen als zweite Gruppe ört-
licher Wanderung, aber solcher mit neuer Wohnstätte, die Um-
züge beigesellen 5).
1) Vgl. Walli, Die Dezentralisation der Industrie in Baden. Karlsruhe, Braun, 1908.
2) Friedrich Zahn, Die Volkszählung 1900 und die Großstadtfrage. Conrads
Jabrbücher, 1903, 3. Folge Bd. 26, S. 201.
3) Schott, Statist. Jahrb. d. Städte, XIV.
4) Einschließlich der Ausländer, die vielleicht im ganzen 10 Proz. ausmachen.
5) Im Statistischen Jahrbuch deutscher Städte wird auch Zu- und Fortzug als
örtliche Wanderung bezeichnet; wir können uns mit dieser ausgedehnten Fassung des
Begriffs örtliche Wanderung nicht einverstanden erklären.
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). 12
178 Hellmuth Wolff,
Wie gliedert nun die wissenschaftliche Statistik diese Wande-
rungsarten ?
Wie lassen sich, um die Fragestellung enger zu begrenzen, die
hier geschilderten, so verschiedenartig inneren Wanderungen in der
Wanderungsstatistik methodisch zusammenfassen ?
Wie muß, mit anderen Worten, das Gebiet der Wanderungen
eingeteilt werden, damit alle geschilderten inneren Wanderungen
darin organisch Platz haben?
Wir haben in der obigen Darstellung der inneren Wanderungen
bereits für uns eine Aufteilung gewählt, die eine in jeder Beziehung
feste Abgrenzung und ein gewisses organisches Gefüge der Wande-
rungen ermöglichte.
Ueber die Arten der äußeren Wanderungen besteht kein
Zweifel; sämtliche Abgrenzungen wissenschaftlicher Natur beziehen
in die äußeren Wanderungen die Aus- und die Einwanderung, sowie
die Durchwanderung ein!. Wir hatten hierzu schon in den ein-
leitenden Sätzen dieser Darstellung darauf hingewiesen, daß das ein-
heitliche Moment dieser Wanderungen ein staatsrechtliches ist: die
Möglichkeit des Verlustes der Staatsangehörigkeit.
Dementsprechend ist die Nichtmöglichkeit des Verlustes der
Staatsangehörigkeit das Kennzeichen aller anderen Wanderungen,
die zusammenfassend wegen ihres wichtigsten Merkmals, der Wande-
rung innerhalb der Landesgrenzen, als innere Wanderungen zu be-
zeichnen sind.
Sehen wir nun von denjenigen äußeren Wanderungen, die nur
als Grenzverkehr gelten können, ab, so lassen sich die inneren
Wanderungen nach verschiedenen Gesichtspunkten aufteilen.
Die bisher üblichste Aufteilung gründet sich auf die Ver-
legung der Wohnstätte; Wanderung und Umsiedlung werden gleich-
gesetzt und dann das ganze Gebiet halb räumlich, halb zeitlich ?)
aufgeteilt in
1) Wanderungen mit steter Ortsveränderung (Hausiergewerbe),
2) Wanderungen mit temporärer Umsiedlung,
3) Wanderungen mit dauernder Umsiedlung,
wobei Bücher auch noch die äußeren und inneren Wanderungen zu-
sammenwerfen kann, um das staatsrechtliche Moment auszuschalten.
Oder aber aufgeteilt?) unter Einbeziehung der Wanderungen mit
fester Wohnstätte in
1) Wanderungen mit steter Ortsveränderung,
2) Wanderungen ohne dauernde Niederlassung (wie Fremden-
verkehr),
3) Wanderungen mit periodischer Ortsveränderung (Sachsen-
gänger),
4) Wanderungen mit dauernder Umsiedlung.
1) v. Mayr, Statistik, Bd. 2; Wirminghaus, Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, 3. Aufl., Bd. 2; Brösicke, Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statist. Landes-
amts, 1904.
2) Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft, S. 423.
3) Wirminghaus, H. d. St.W., II, S. 32.
Die inneren Wanderungen. 179
Oder weiter aufgteilt!) in
1) interlokale Wanderungen,
2) lokale Wanderungen,
allerdings mit der Einschränkung, daß die interlokalen Wanderungen
allein als Binnenwanderungen bezeichnet sind, und die lokalen eine
gesonderte sozusagen dritte Stufe bilden, und die v. Mayrsche
Stufenleiter dann lautet:
1) äußere Wanderungen,
2) Binnenwanderungen,
3) lokale Wanderungen.
Bei dieser letzteren Aufteilung ist aber noch ein neues Rechts-
moment hineingetragen, nämlich das der Heimatgemeinde, wie es
v. Mayr in Bayern allerdings praktisch vor sich hat, und wie es
anderswo der Unterstützungswohnsitz wäre. Wir möchten diese
weitere Scheidung nach dem Rechtsmoment der Möglichkeit des
Verlustes des Unterstützungswohnsitzes nicht als Abgrenzung des
einen Teiles der inneren Wanderungen von dem anderen anwenden,
ohne die Zweckmäßigkeit dieser Abgrenzung für manche Frage, be-
sonders kommunalen Charakters, berühren zu wollen, weil ver-
schiedene Arten der inneren Wanderung sich hier kaum einfügen
lassen, vor allem nicht der Fremdenverkehr.
Eine weitere Aufteilung könnte sich an ein reines Zeitmoment
halten, und die inneren Wanderungen einteilen in
1) ständige Wanderungen,
2) periodische Wanderungen,
3) einmalige Wanderungen,
aber auch hier wäre die Unterbringung mancher Wanderungsgruppe
zweifelhaft.
Wir lenken das Augenmerk deshalb auf den für die Wanderung
vielleicht wichtigsten Punkt, nämlich darauf, ob der Wanderer in
die Wanderungsbewegung eintritt mit der Absicht, seine bisherige
Wohnstätte aufzugeben oder sie beizubehalten, ob er mit anderen
Worten seine Wohnstätte verlegen will resp. verlegt hat oder nicht.
Danach ergibt sich die oben angewandte Teilung in
innere Wanderungen mit Verlegung der Wohn-
stätte, und
innere Wanderungen mit Beibehaltung der Wohn-
stätte.
Die (inneren) Wanderungen mit Verlegung der Wohnstätte sind
dann Wanderungen mitneuer Wohnstätte; und zwar a) mit
stetem Wohnstättenwechsel, wohin die kleine Gruppe der im
Hausiergewerbe und Wanderhandel usw. lebenden Personen gehört;
b) Wanderungen mit einmaligem Wohnstättenwechsel, wohin
die große Wandergruppe der Zu- und Fortzüge, dann die Gruppe
der Umzüge gehört.
1) v. Mayr, Statistik, II, S. 354.
12*
180 Helimuth Wolff,
Die Wanderungen mit Beibehaltung der Wohnstätte nennen wir
Wanderungen mit fester Wohnstätte.
Sie lassen sich, nachdem das räumliche Moment feststeht, nach
dem zeitlichen Umfang einteilen in
a) Wanderungen mit vorübergehend auswärtigem Aufenthalt
(Ausflügler- und Fremdenverkehr) ;
b) Wanderungen mit periodisch auswärtigem Aufenthalt;
a) für eine Saison (Wanderarbeiter, Messebesucher);
8) für einen Tag (Tageswanderung zwischen Wohnort und
Arbeitsort).
Die Wanderungen mit fester Wohnstätte haben wir in ihrem Um-
fang kennen gelernt, wir haben sie in die inneren Wanderungen
eingefügt. Es bleibt uns noch ein Wort über ihre volkswirtschaft-
liche Bedeutuug zu sagen.
Vor allen Dingen läßt sich der Umfang der Tageswanderung, auf
die es in erster Linie ankommt, erst richtig einschätzen, wenn man
berücksichtigt, daß es sich bei der Tageswanderung vorwiegend, ja oft
ausschließlich um erwerbstätige Personen handelt (sonst höch-
stens noch Schulkinderwanderung beachtenswert), so daß die Zahl
der Tageswanderer nicht mit der Einwohnerzahl der Arbeits-
orte, sondern mit ihrer erwerbstätigen Bevölkerung — und
für das ganze Reich also die Zahl der Tageswanderer mit der Zahl
der Erwerbstätigen — zu vergleichen ist.
Wir hatten im Deutschen Reich im Jahre 1900 ca. 23 500 000
Erwerbstätige 1); die 1'/, Million Tageswanderer machen also 5,3 Proz.
der ganzen erwerbstätigen Bevölkerung im Deutschen Reiche aus!
Und es gibt Orte, wo die Zahl der außerhalb ihres Wohnorts Er-
werbstätigen 12, ja 15 Proz. der Gesamtzahl der Erwerbstätigen im
Orte beträgt!
Sehr wichtig wäre für die Beurteilung der Bedeutung der
Tageswanderung der Vergleich der beruflichen und sozialen Gliede-
rung der Tageswanderer mit der entsprechenden Gliederung der
überhaupt am Arbeitsorte Erwerbstätigen.
Leider fehlt es infolge der separaten Stellung der Berufs-
zählungen an einschlägigen Untersuchungen.
Die Tageswanderung innerhalb der Städte ist noch
fast ganz unbekannt, obgleich sie und die Außerortsarbeit die An-
lage der Straßenbahnen, den Bau von Kleinwohnungen, von Schul-
häusern u. a. stark beeinflussen ?).
1) Die Berufszählung 1895 ergab 20,6 Mill., die Berufszählung 1907 26,8 Mill.
Erwerbstätige.
2) Die Tageswanderung innerhalb der Städte ist überhaupt nur in Hamburg unter-
sucht worden, wo noch die Arbeitsstelle mit Straße und Hausnummer zu bezeichnen
war. In der Statistik des Hamburgischen Staates, Heft 21, 1. Hälfte, 1902, S. 88,
heißt es hierzu: Damit war die Möglichkeit zu einer zuverlässigen Feststellung des
Verhältnisses zwischen Wohn- und Arbeitsstelle für die Bewohner der Stadt gegeben,
woraus Antwort auf mannigfache Fragen zu erlangen war, die gerade in der Gegenwart
für die Lokalverwaltung von großer Bedeutung sind, so die Anlage und die Linien-
führung der Stadt- und Vorortbahnen, die Errichtung von kleinen Wohnungen usw.
Die inneren Wanderungen. 181
Die Wanderungen mit fester Wohnstätte haben im allgemeinen
volkswirtschaftlich eine ganz andere Bedeutung als die mit neuer
Wohnstätte, und besonders als der Zu- und Fortzug, weil sie die
Wohnbevölkerung der Arbeitsorte nicht belasten, son-
dern unterstützen.
Der sogenannte Wanderungsgewinn mehrt die Dichtigkeit der
Bevölkerung, beengt den Wohnungsmarkt, erhöht die Arbeitslöhne,
aber auch die Mieten und die Preise der Lebensmittel, er belastet,
wie wir schon ausführten, den Schuletat, den Armenetat u. a. im
Arbeitsorte.
Die Tageswanderung vom Wohnort zum Arbeitsort stellt da-
gegen in der Hauptsache nur die restliche Ergänzung des
Arbeitskraftbedarfes im Arbeitsorte dar.
Bücher!) sagte einmal gelegentlich eines Vortrags in Basel
über innere Wanderungen: „Wenn man den großen Entwicklungsgang
ins Auge faßt, so weist alles darauf hin, daß die Menschheit im
Laufe ihrer Geschichte immer seßhafter geworden ist.“ Und er
sagt andererseits, daß alle großen Kulturepochen durch eine ver-
stärkte Wanderungsbewegung eingeleitet worden sind ?).
Wir scheinen in der Tat in den letzten Jahrzehnten die Ein-
leitungsepoche einer neuen Zeit durchgemacht zu haben; die Um-
schichtung der Bevölkerung ist in erstaunlichem Umfange und Tempo
erfolgt. Nun aber gelangen wir in das Stadium größerer Seßhaftig-
keit, nicht der Person als solcher, wohl aber des Haushaltes, der
Familie. An die Stelle der Abwanderung tritt — wie es scheint
immer mehr — die Tageswanderung, solange nicht die Umschichtung
der Arbeitsstätten (durch Dezentralisation der Industrie usw.) sich
vollzogen hat.
Hoffentlich gelingt es, auch bei der nächsten Volkszählung (1910)
die Zusatzfrage über Arbeitsort und Wohnort zu stellen (die nach
dem gegenwärtigen Stande der Vorbereitungen zur Volkszählung 1910
leider scheint ausfallen zu sollen), damit die Frage der Tageswande-
rung in dem Sinne der neuesten Phase der inneren Wanderungen
überhaupt weiter ihrer Bedeutung gemäß beobachtet werden kann.
Nach den Ergebnissen der Erhebung der Tageswanderung vom
Jahre 1900 glaube ich nicht zu viel zu sagen, wenn ich die Frage:
Erhalten sich die Städte selbst? als von dem Gegenwartsproblem der
inneren Wanderung überholt bezeichne, und deshalb auch die ganze
biologisch-soziologische Kontroverse zwischen Hansen-Ballod und
Brentano-Kuczynski vollständig aus der vorliegenden Betrachtung
ausgeschaltet habe. Es ist die Frage der Tageswanderung, die heute
zur Diskussion steht, und für die wir mit Hilfe der Volkszählung
1910 erst wieder brauchbare Unterlagen gewinnen können.
1) In der Zeitschrift für Schweizerische Statistik, 1887, S. 8.
2) Entstehung der Volkswirtschaft, S. 418.
182 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
II.
Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten von Amerika
zum Schutze der Fabrikarbeiter, namentlich der weiblichen
und jugendlichen Personen, ferner der Heimarbeiter.
Von Hugo Graf Lerchenfeld-Köfering.
(Schluß.)
Kapitel 4.
Die Regelung der Heimarbeit.
Die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten kennt keinen Begriff
„domestic workshop“, — „Heimarbeit“, — sie berücksichtigt jedoch in 12
Staaten, nämlich Connecticut, Illinois, Indiana, Maryland, Massachusetts,
Michigan, Missouri, New Jersey, New York, Ohio, Pennsylvania und
Wisconsin, die Herstellung von Kleidungsstücken und bestimmten Ge-
brauchsgegenständen, soweit sie gewerbsmäßig in Mietshäusern mit
mindestens 3 Parteien, „Tenements“, oder auch in Wohnhäusern über-
haupt erfolgt; allgemein findet sich der Ausdruck „Sweat-Shops“ auf
solche Werkstätten angewendet, auch wenn kein eigentliches „Schwitz-
system“, d. i. die Tätigkeit eines Mittelmannes zwischen Unternehmer
und Arbeiter, besteht !).
Das Verständnis der betreffenden Gesetzgebung in den Vereinigten
Staaten wird durch einige Ausführungen über ihre Entstehung erleichtert.
Das Bekleidungsgewerbe hat seinen Sitz hauptsächlich in New York,
Chicago, Philadelphia, Rochester (N. Y.), St. Louis, Boston und Balti-
more; man berechnet, daß allein in New York und Chicago 40 und
13 Proz. vom Gesamtwert der Männerkleidung, 65 und 6 Proz. vom
Gesamtwert der Frauenkleidung jährlich hergestellt werden. Nach der
Volkszählung von 1900 beschäftigte die Kleiderfabrikation rund 300 000,
die Herstellung von Unterkleidern rund 40000 Arbeiter; diese Zahlen
dürften inzwischen erheblich gestiegen sein. Etwa °/, der Gesamt-
erzeugung an Kleidern wird im Großen auf Vorrat hergestellt. Die
Arbeitskräfte gehören überwiegend der neueingewanderten Bevölkerung
an, die sich in den großen Städten des Ostens und Mittelwestens staut.
Die Verwendung von Maschinen ist beschränkt, viele Arbeitsleistungen
eignen sich für Frauen und jugendliche Personen.
Die osteuropäischen Juden, seit neuerer Zeit aush die Italiener,
bilden das Hauptkontingent der Arbeiter. Der scharfe Wettbewerb
drückt die Löhne, wenn auch in den Zweigen, die eine geübtere Hand
erfordern, z. B. der Zuschneiderei, die Organisation der Arbeiter auf
die Sicherung auskömmlicher Arbeitsbedingungen günstigen Einfluß ge-
übt hat. Als allgemeine Folge dieser Verhältnisse ergibt sich die Tat-
1) Vgl. The new Encyclopedia of Social Reform, Bliss, New York 1908, S. 1178 ff.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 183
sache, daß die Bekleidungsindustrie vorwiegend in den Mietskasernen
der größten Städte innerhalb unzureichender Werkstätten und unter
ungünstigen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch Arbeiter von tief-
stehender Zivilisation betrieben wird. Ein eigentliches „Sweat-system“
soll allerdings nicht vorherrschen, vielmehr der Arbeitnehmer meistens
in unmittelbarem Vertragsverhältnis zum Unternehmer stehen. Die auf-
sehenerregenden Enthüllungen über die Zustände in den Schwitzwerk-
stätten Londons in den 80er Jahren, wodurch die Gefahr der Ver-
breitung ansteckender Krankheiten aus solchen Werkstätten in ein
grelles Licht gerückt wurde, blieb nicht ohne Einfluß auf die öffent-
liche Meinung in den Vereinigten Staaten. Im Jahre 1890 ging
New York mit einer gesetzlichen Regelung der in „Tenements“, d. h.
Mietshäusern untergebrachten Betriebe voran, andere Staaten folgten.
Hierbei wurden außer dem Bekleidungsgewerbe noch andere Gewerbs-
zweige einbezogen, bei denen erfahrungsgemäß ähnliche vom Standpunkt
der öffentlichen Gesundheitspflege bedenkliche Verhältnisse herrschten.
Das New Yorker Gesetz ist mehrfach, zuletzt im Jahre 1908, ab-
geändert worden, es stellt den verhältnismäßig gründlichsten Versuch wirk-
samen Eingreifens dar, weshalb es eine gesonderte Erörterung verdient.
„Das Herstellen, Abändern, Ausbessern und Fertigstellen von
Röcken, Westen, Beinkleidern, Mänteln verschiedener Art, Kopfbe-
deckungen, Hosenträgern, Kleidungsstücken für Frauen, Unterkleidern,
Kragen, Pelzwerk, Schürzen, Geldtaschen, Pantoffeln, Papierschachteln,
Papierkörben, Federn, künstlichen Blumen, Zigaretten und Zigarren,
Regenschirmen, Gummiartikeln, dann das Verfertigen und Verpacken
von Makkaroni, Speiseeis, Süßigkeiten, Konditorwaren, Nüssen und Kon-
serven in einem Mietshause — „Tenement“ — oder Teil eines solchen,
ist an die Voraussetzung einer behördlichen Erlaubnis — „License“ —
geknüpft“. Die Aufzählung ist erschöpfend, Handschuhe befinden sich
also auffallenderweise nicht unter den Gegenständen. Eine Ausnahme
ist für leinene oder baumwollene Kragen, Manschetten, Hemden und
Blusen gemacht, die vor dem Verkaufe noch gewaschen werden. Die
Erlaubnis gilt für das Haus als solches und ist vom Eigentümer bei
der Gewerbeaufsichtsbehörde zu erholen; sie ist nach Anhörung der
örtlichen Gesundheitspolizeibehörde unter der Voraussetzung zu erteilen,
daß dort keine ansteckenden Krankheiten herrschen und der sanitäre
Zustand des Hauses, was namentlich die Kanalisation und Reinlichkeit
betrifft, Gewähr für die Möglichkeit einer einwandfreien Herstellung der
betreffenden Waren bildet. Die Erlaubnis wird auf Grund einer persön-
lichen Augenscheinnahme des zuständigen Beamten in widerruflicher
Weise erteilt. Die auf diese Weise konzessionierten Häuser unterliegen
emer alle 6 Monate auszuübenden Nachschau durch die Gewerbeauf-
sichtsbehörde. Ausgeschlossen von der Erlaubnis bleiben unter allen
Umständen Kellerräume, die bis über ihre halbe Höhe unter dem um-
gebenden Gelände liegen, dann Räume, die ungenügend belichtet und lüft-
bar und nicht mindestens 500 cb' (— etwa 18 cbm) Luftraum für jede be-
schäftigte Person besitzen. Ausgeschlossen von der Arbeit in solchen
Mietshäusern sind ferner Personen, die nicht zur Familie des Mieters
gehören, es sei denn in Räumlichkeiten des Frdgeschosses oder ersten
184 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Stockwerks, die nur als Werkstätten unmittelbar für Kunden arbeiten-
der Kleidermacher dienen. Doch bedürfen solche Betriebe, um fremde,
d. i. nicht zur Familie des Mieters gehörige Arbeitskräfte zu be-
schäftigen, einer besonderen Erlaubnis der Gewerbeaufsichtsbehörde —
„Permit“. Die Aufstellung dieses „Permit“ ist außerdem davon ab-
hängig, daß die Werkstätte allen sanitären Anforderungen im höchsten
Maße entspricht, für jede beschäftigte Person 1000 cb‘ Luftraum bietet,
und daß dort keine Kinder unter 14 Jahren arbeiten oder wohnen.
Entfallen die Voraussetzungen, unter denen die Erlaubnis — „License“ —
für ein Mietshaus erteilt worden ist, so kann sie zurückgenommen
werden; auch ist die Sperrung einzelner Wohnungen, sei es wegen des
Auftretens ansteckender Krankheiten, sei es wegen gesundheitswidriger
Beschaffenheit nach dem Ermessen des zuständigen Beamten möglich.
Beim Auftreten ansteckender Krankheiten ist die Freigabe der Wohnung
erst dann zulässig, wenn die örtliche Gesundheitsbehörde das Erlöschen
der Krankheit, unter Umständen nach erfolgter Desinfektion, festgestellt
hat. Im Falle der Zuwiderhandlung gegen die gesetzlichen Vor-
schriften stehen neben der Strafverfolgung den Behörden weitgehende
Befugnisse an den Waren zu: Vorschriftswidrig hergestellte Waren
sind vom Verkauf oder Feilbieten ausgeschlossen; die Beschlagnahme
kann durch Aufkleben eines Zettels mit „tenement-made“ erfolgen; der
Verfügungsberechtigte mag sie binnen eines Monats durch Reinigen
oder Desinfektion wieder auslösen. Ergibt sich beim Auftreten einer
ansteckenden Krankheit in einer solchen Werkstätte die Möglichkeit
einer Weiterverbreitung durch die dort hergestellten Waren, so ist nach
dem Ermessen der Gesundheitsbehörde entweder die gleiche Beschlag-
nahme oder aber die Vernichtung jener Waren ohne Anspruch auf Ent-
schädigung vorgesehen. Endlich ist die Gewerbeaufsichtsbehörde er-
mächtigt, die aus anderen Staaten eingeführten Waren der genannten
Art beim Verdacht der gesundheitswidrig erfolgten Herstellung unter-
suchen zu lassen, je nach dem Ergebnis der Untersuchung auf die er-
wähnte Weise zu beschlagnahmen und der Gesundheitspolizeibehörde
zur geeigneten weiteren Verfügung zu überweisen.
Um den Vollzug dieser Bestimmungen zu sichern, ist den Unter-
nehmern zur Pflicht gemacht, über ihre Heimarbeiter ein Verzeichnis
zu führen und vor der Ausgabe von Arbeitsstoff sich darüber zu ver-
gewissern, ob das betreffende Mietshaus die Konzession besitzt und ob
die betreffende Wohnung infolge ansteckender Krankheiten infiziert ist.
Dieses Gesetz dient demnach überwiegend der öffentlichen Gesund-
heitspflege, der Seuchenbekämpfung und -Verhütung und nur mittelbar
dem Arbeiterschutz, indem es auf die Schaffung und Erhaltung gesund-
heitlich einwandfreier Werkräume abzielt; die Regelung der eigentlichen
Arbeitsbedingungen ist ihm fremd.
Dem gleichen Grundsatz folgen, nur durchweg mit geringerer Ge-
nauigkeit, die Gesetze der 11 übrigen Staaten; sie beschränken sich
nahezu sämtlich auf das Bekleidungsgewerbe und die Anfertigung von
künstlichen Blumen und Tabakfabrikaten; Connecticut, Ohio und Missouri
verzichten auf die Erteilung einer besonderen Konzession für solche
Häuser oder einzelne Werkstätten und machen nur Vorschriften über
Nationalökonomische Gesetzgebung. 185
deren Beschaffenheit; vielfach beziehen die Gesetze der übrigen Staaten
auch Wohnhäuser schlechthin unter die Regelung ein; erhebliche Unter-
schiede bestehen in dem Maße der gesetzlichen Anforderungen, die an
solche Werkstätten und die Nebenräume, z. B. Aborte, gestellt sind,
ferner in der Behandlung der Frage, ob in den Werkräumen nur Mit-
glieder der gleichen Familie oder auch fremde Arbeiter zugelassen
werden sollen. Fremde Arbeiter sind regelmäßig aus den für Wohn-
und Schlafzwecke benützten Räumen ausgeschlossen, in Wisconsin kann
der Fabrikinspektor für den Fall der Zulassung fremder Arbeiter die
völlige, räumliche Trennung verlangen. Nach dem Wortlaut der Gesetze
von Indiana, Maryland und Massachusetts ist überhaupt die Aus-
übung der betreffenden Gewerbe in den Räumen oder Wohnungen eines
Miets- oder Wohnhauses für andere Personen, als die Mitglieder der
dort wohnenden Familien, verboten; nach dem Wortlaut der Gesetze
von Connecticut und Ohio bleiben gerade solche Werkräume, die nur
von den Mitgliedern der Familie benützt werden, von den Vorschriften
unberührt, so daß also die eigentlichen Heimarbeiter hier gar nicht ge-
troffen würden. Der Vollzug der Gesetze ist durchgängig Sache der
Gewerbeaufsichtsbehörden; die Strafbestimmungen geben zu keiner be-
sonderen Bemerkung Anlaß.
Kapitel 5.
Einiges über die Handhabung der Gesetze.
SL
Die Handhabung der Arbeiterschutzvorschriften hängt zuvörderst
von der Wirksamkeit der Gewerbeaufsichtsbehörden ab. Wie die Ueber-
sicht zu Kapitel 3 aufweist, lassen es gegenwärtig nur folgende Staaten
an eigenen Beamten für diesen Zweig der öffentlichen Verwaltung
fehlen: Florida, Georgia, Idaho, Montana, New Hampshire, North Carolina,
North Dakota, South Carolina, South Dakota, Texas, Utah und Vermont;
in Alabama hat ein und derselbe Beamte als Inspektor der Fabriken,
Gefängnisse und Armenhäuser zu wirken, in Louisiana und Mississippi
müssen die Selbstverwaltungskörper für die Gewerbeaufsicht sorgen,
und zwar in Louisiana die Gemeinden mit über 10000 Einwohnern,
jedoch ist für die Stadt New Orleans eine staatliche Fabrikinspektorin
bestellt. Demnach entbehren neben einzelnen industriearmen West-
staaten ein großer Teil des Südens und zwei kleine Neuengland-Staaten
der ersten Voraussetzung für einen richtigen Vollzug bestehender Schutz-
vorschriften. Auf die gewerbliche Entwickelung des Südens ist bereits
in der Einleitung hingewiesen worden; was ferner New Hampshire be-
trifft, so wird für 1907 die Zahl der Fabrikarbeiter auf nahezu 90000,
darunter rund 25000 Frauen und 1000 Kinder unter 16 Jahren ange-
geben; hierbei sind allein in 21 Textilfabriken rund 25000 Personen,
die Hälfte weiblichen Geschlechts, beschäftigt gewesen.
Die Annahme, daß die Verhältnisse in den übrigen mit Gewerbe-
aufsichtsbehörden ausgerüsteten Staaten befriedigten, wäre indes nicht
zutreffend. Zur Handhabung einer gründlichen Aufsicht gehört ein
gehörig geleiteter, der Zahl nach genügender Stab wohlausgebildeter,
186 Nationalökonomische Gesetzgebung.
unabhängiger und tüchtiger Beamten. Diese Forderung erfüllen recht
wenige Staaten. Anspruch auf ene günstige Beurteilung können hauptsäch-
lich Massachusetts, New York, Michigan, Illinois und Wisconsin machen.
Für diesen Zustand sind mehrfache Ursachen verantwortlich.
1) Einmal sind die Leiter des Dienstes vielfach von politischen Ein-
flissen abhängig.
In einer Anzahl von Staaten ist die Gewerbeaufsicht dem Com-
missioner of Labor unterstellt. Der Commissioner, eine Art Minister,
wird in einzelnen westlichen Staaten vom Volke auf 2 bis 4 Jahre ge-
wählt, sonst vom Gouverneur auf dessen Amtsdauer ernannt. Die mit
dem Amte verbundenen Bezüge machen daraus eine Belohnung von
Parteigenossen für politische Dienste, die persönliche Eignung entscheidet
wohl erst an zweiter Stelle. Das gleiche gilt im allgemeinen von dem
selbständigen Leiter des Gewerbeaufsichtsdienstes, dem Chief Factory
Inspector, oder dem Vorstand des Bureau of Labor oder Labor Statistics,
mit dem jener Dienst verbunden ist; auch hier erfolgt die Ernennung
durch den Gouverneur entweder auf seine Amtsdauer oder auf eine im
Gesetz ausdrücklich bezeichnete Zeit, meist 4 Jahre. Stetigkeit in der
Person des Leiters ist nur dann möglich, wenn die gleiche Partei
mehrere Wahlperioden durch am Ruder bleibt und zugleich persönliche
und politische Rücksichten für seine Beibehaltung sprechen. Daß ein
häufiger Wechsel im allgemeinen der Sache nicht förderlich ist, liegt
auf der Hand. Bei den letzten Verhandlungen des National Child Labor
Committee wurde öffentlich Klage darüber geführt, daß der Vorstand
des Bureau of Labor Statistics in Maryland ausschließlich als Partei-
politiker zu seiner Ernennung gelangt sei und der oberste Fabrikinspektor
in Pennsylvanien die Interessen der Unternehmer einseitig vertrete.
2) Auf die Person des Leiters kommt es um so mehr sn, als ihm
durchweg die Anstellung des gesamten Unterpersonals zusteht. Sein
Ermessen ist hier rechtlich nur durch die Vorschriften über die Be-
werbung um den Staatsdienst — „Civil Service“ —, wie sie in einer
Reihe von Staaten, darunter den meisten Staaten des Ostens, Mittel-
westens und Nordwestens in Kraft sind, beschränkt. Der „Civil Service“
macht die Anstellung in bestimmten Staatsdienstzweigen von dem Bestehen
einer Prüfung und von der Einhaltung einer Reihenfolge nach dem Jahre
und Ergebnis der Prüfung abhängig; die Anstellung erfolgt ohne feste
Zeitbegrenzung auf Wohlverhalten. Dem „Civil Service“ ist zu danken,
wenn die früher allenthalben herrschende Willkür und das Partei-Beute-
system — „Spoil-System“ — gewichen und die Bildung eines Beamten-
körpers auch bei der Fabrikinspektion in vielen Staaten gelungen ist.
3) Die Zahl der Unterbeamten ist regelmäßig im Gesetze begrenzt;
es besteht vielfach die Klage, daß sie ungenügend für den wachsenden
Umfang der Dienstgeschäfte bemessen sei; so erklärt der Bericht des
Sonderausschusses für den Ausbau der Fabrikgesetzgebung in Illinois,
April 1909, daß mit den vorhandenen Kräften der Vollzug der vorge-
schlagenen (inzwischen zum Gesetz erhobenen) Maßnahmen zum Schutze der
Gesundheit und zur Erhöhung der Sicherheit für die Arbeiter in Fabriken
sich nicht bewältigen ließe; der Jahresbericht der Fabrikinspektion
von Massachusetts für 1908 beklagt die Tatsache, daß mangels verfüg-
Nationalökonomische Gesetzgebung. 187
barer Kräfte einzelne entlegenere Bezirke ohne regelmäßigen Aufsichts-
dienst bleiben müßten. Dabei gehören sowohl Illinois als Massachusetts
zu den führenden Staaten auf diesem Gebiete; die meisten anderen Staaten
verfügen über ein offenbar unzureichendes Personal, um an die eingehende,
folgerichtige Erfüllung der Aufgaben heranzutreten. Erschwert wird diese
Erfüllung auch dadurch, daß verlässige örtliche Behörden, die zur Ueber-
wachung des Vollzuges erteilter Anordnungen oder sonst zur Unterstützung
der Gewerbeaufsichtsbeamten herangezogen werden könnten, fehlen.
In den größeren Staaten sind Inspektionsbezirke gebildet; die Stadt
New York allein erfordert 42 Inspektionsbeamte. Ueberhaupt verfügt
New York als der gewerbreichste Staat über den weitaus größten Be-
amtenstab, nämlich den Deputy Commissioner of Labor als obersten
Fabrikinspektor (Abteilungsvorstand), 2 Assistenten, einen ärztlichen und
2 rechtliche Berater, dann 51 Bezirksinspektoren, darunter 8 Frauen.
4) Eine umfangreiche und zeitraubende Pilicht erwächst der Ge-
werbeaufsicht durch die Strafverfolgung. Sie hat die Anklage vorzu-
bereiten, durchzuführen und zu vertreten, Aufgaben, die im Deutschen
Reiche zum größten Teil von der Staats- oder Amtsanwaltschaft wahr-
genommen werden. Der Jahresbericht für New York 1908 führt über
den Zeitverlust Beschwerde, der allein durch die häufigen Vertagungen
der Hauptverhandlung entstehe. Im Jahre 1908 sind in New York
allein 632 Anklagen, 422 Verurteilungen mit Geldstrafen von zusammen
5146 $ und 1796 von Gerichtsgeschäften beanspruchte Tage zu ver-
zeichnen. Bei dem Formalismus der amerikanischen Rechtspflege be-
dürfen die Anklagen einer gründlichen Vorbereitung.
5) Die Gehälter des Gewerbeaufsichtspersonals sind, wie überhaupt
die Beamtengehälter, nicht hoch, und mitunter ein Grund, daß die Gewinnung
und Erhaltung tüchtiger Kräfte Schwierigkeiten macht. In New York er-
hält der Abteilungsvorstand bis zu 3000 $, die Bezirksinspektoren sind
auf 1000—1500 $ im Jahre gestellt. In Illinois betragen die Gehälter
des Leiters 2000, der Hilfskräfte 1000 $. Nur vereinzelt finden sich
Bezüge bis zu 5000 $ (z. B. in Pennsylvania); solch hohe Bezüge sind
aber deshalb der Sache nicht besonders dienlich, als sie die Begehrlichkeit
der Politiker reizen. Versorgungsansprüche stehen den Beamten nicht zu.
Die Verbindung der Fabrikinspektion mit den Arbeitsämtern, also
mit Aufgaben, die im wesentlichen auf dem Gebiete der Wohlfahrts-
pflege und der Statistik liegen, erfährt manchmal eine abfällige Beur-
teilung; die Fabrikinspektion sei polizeilicher Natur, sie genieße nicht
das unbedingte Vertrauen der Unternehmer, weshalb diese die Be-
hörden in ihren übrigen Aufgaben nur widerwillig unterstützten. Wenn,
wie in New York, die Fabrikinspektion, abgesehen von der Dienstes-
aufsicht des Commissioner of Labor, die selbständige Abteilung einer
groben Zentralbehörde bildet, so trifft ein solcher Vorwurf kaum zu;
anders, wenn der Vorstand eines staatlichen Arbeitsamtes daneben auch
noch die Geschäfte eines ersten Fabrikinspektors zu besorgen hat und
hierin nur von einzelnen untergeordneten Hilfskräften unterstützt wird.
Jedenfalls ist das entgegengesetzte System, nämlich die Trennung
der Gewerbeaufsicht nach sanitären und sonstigen Aufgaben, wie dies
in Massachusetts seit einigen Jahren eingeführt ist, wohl keineswegs
188 Nationalökonomische Gesetzgebung.
glücklich, da erfahrungsgemäß rein technische Beamte, wie die mit dem
Vollzuge der Schutzvorschriften betrauten beamteten Aerzte — State
inspectors of health — die notwendige Strenge in der Durchführung
polizeilicher Anordnungen häufig vermissen lassen.
Bei der Verschiedenheit der Gesetzgebung und Behördenbildung
ist der Zusammenschluß der Gewerbeaufsichtsbeamten zu einer auf
Canada ausgedehnten und „International Association of Factory In-
spectors* genannten Vereinigung doppelt wertvoll, um eine gewisse
Einheitlichkeit wenigstens der dienstlichen Bestrebungen zu fördern.
Eine gleiche Verbindung besteht für die Bureaus of Labor Statistics.
Auf jährlichen Versammlungen werden Erfahrungen ausgetauscht und
Vorträge, sei es über bestimmte Berufsfragen, sei es über neue Gesetze
und deren Wirkung, gehalten. Ueber den Verlauf wird ein Versamm-
lungsbericht veröffentlicht. Im Jahre 1909 sind erstmals die Versamm-
lungen beider Vereine zusammengelegt worden. Die Vereine bestehen
seit mehr als 20 Jahren und haben entschieden fortschrittlich gewirkt.
Ueber die Tätigkeit der Gewerbeaufsichtsbehörden übermittelt der
Gouverneur jährlich ausführliche Berichte an die gesetzgebende Ver-
sammlung. Meist leidet die Wirksamkeit dieser Kundgebungen durch
ihre Breite und die Größe des statistischen Materials; auch dürften die
Berichte über die Wirksamkeit der Aufsicht häufig etwas optimistisch
gefärbt sein; ein allzu großer Wert wird auch auf die ziffernmäßige
Häufigkeit der Revisionen gelegt. So verzeichnet der Jahresbericht für
1908 im Staate New York bei einem Aufsichtspersonal von kaum
60 Personen über 50396 Besuche von Betrieben, wozu noch über
140 000 Inspektionen von Werkräumen in Tenements kommen, übrigens
ein Zeichen, welche Last für die Gewerbeaufsicht die Regelung jener
Heimwerkstätten bildet. Massachusetts meldet bei 15 Inspektoren für
das gleiche Jahr über 8000 besuchte Betriebe mit nahezu 500 000
Arbeitern und nahezu 9000 Inspektionen; daß es hierbei nur zu 22 Straf-
verfolgungen gekommen ist, erscheint als auffallend niedrig.
Uebrigens gewinnt man den Eindruck, daß die Gewerbeaufsichts-
beamten im allgemeinen bestrebt sind, ihre Pflichten nach Kräften zu
erfüllen und auf Beachtung der Gesetze mit Nachdruck dringen. Daß
hierbei oft einflußreiche Widerstände zu überwinden sind und das An-
sehen der Person mehr gilt, als dies mit demokratischen Idealen verein-
bar ist, darf wohl angenommen werden. Die Schwierigkeiten, die sich
der wirksamen Ausübung der Aufsicht entgegenstellen, nehmen im Ver-
haltnis der Kleinheit des Staates zu. Offenbar ist die Gewerbeaufsicht
ziemlich milde, wo es sich darum handelt, in älteren Betrieben Ver-
besserungen für die Gesundheit, Sicherheit und Sittlichkeit der Arbeiter
einzuführen. Der Abstand zwischen neueren und älteren Fabrikbauten
fällt ungemein auf; ältere Bauten lassen im allgemeinen viel zu wünschen
übrig, auch in solchen Staaten, wo die Gesetzgebung eine Handhabe zur
Verbesserung des Zustandes bieten würde.
§ 2.
Bei der Beurteilung der Verhältnisse in den Vereinigten Staaten
darf der Anteil nicht übersehen bleiben, den nichtbehördliche Kreise
Nationalökonomische Gesetzgebung. 189
und darüber hinaus die Oeffentlichkeit an der Gestaltung der Dinge
haben. In einem Bericht aus Wisconsin über den Vollzug neuer
Kinderschutzvorschriften im Jahre 1906 finde ich folgende bezeichnende
Stelle: „Eine tüchtige Legislative im Verein mit einem tüchtigen
Gouverneur wird ein Gesetz durchbringen, aber nur die öffentliche
Meinung kann in fortwährendem Einwirken auf die mit dem Vollzug
betrauten Beamten den Vollzug eines Gesetzes sichern.“
Der Amerikaner hat sich nach dem Vorgang einiger autoritativer
Schriftsteller, z. B. James Bryce in dem Werk „The American Common-
wealth“, daran gewöhnt, in der öffentlichen Meinung ein Allheilmittel
für die politischen und sozialen Verhältnisse zu sehen und ihr Auf-
gaben zuzuweisen, die sie unmöglich zu erfüllen vermag. Die öffentliche
Meinung wird den Geist der Gesetzgebung bis zu einem gewissen
Grade bestimmen, auf den Gesetzesvollzug jedoch immer nur mittelbar
wirken; hier steht vielmehr privaten Vereinigungen ein weites Feld
tätigen Eingreifens in dem Maße offen, als die Behördenorganisation
lose gefügt ist.
Zunächst sind hier die American Academy of Political and Social
Science mit dem Sitz in Philadelphia und die American Association of
Labor Legislation mit dem Sitze in Madison (Wisconsin) als zwei Ver-
bände zu nennen, die in Wort und Schrift die Verbreitung des sozialen
Denkens und die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung nach ein-
heitlichen Zielen zu fördern bestrebt sind.
Einem vornehmlich praktischen Zweck dienen die National Con-
sumers league und das National Child Labor Committee.
Die National Consumers League mit 61 Zweigvereinen in
verschiedenen Staaten und größeren Städten — der älteste Zweigverein ist
zu New York bereits 1891 gegründet worden, der Zusammenschluß zum
Verband 1898 erfolgt — geht von dem Gedanken aus, die wirtschaftliche
Macht des Käufers für die Besserung der Arbeitsverhältnisse zu be-
nutzen; zu diesem Zwecke wurden Forderungen aufgestellt, welche die
Firmen ihren Arbeitern gegenüber erfüllen müssen, um vom Verband
mittels sogenannter weißer Listen empfohlen zu werden oder das Recht
der Benutzung des Verbandszeichens — „Label“ — auf ihren Waren
zu erhalten. Uebrigens wird ein Minimalarbeitslohn nicht gefordert.
Außerdem verbreitet der Verband volkstümliche Flugschriften und son-
stige dem Bedürfnisse des Augenblicks dienende Veröffentlichungen über
Arbeiterfragen und fördert die Sache des Arbeiterschutzes durch private
Erhebungen, z. B. die Heimarbeit in New York; er berücksichtigt vor
allem die Arbeit der Frauen und jugendlichen Personen. Der New
Yorker Zweigverein, in dessen Vorstand und Beamtenstab nur Frauen
sich befinden, der sich jedoch des männlichen Elementes durch Ver-
mittlung eines 16-köpfigen Beirates bedient, hat sich Verdienste um die
Regelung der Tenement-Werkstätten erworben.
In ähnlicher Weise ist das National Child Labor Com-
mitteel) aus einem Landesausschuß von 45 Mitgliedern, darunter
hervorragende Männer der Gelehrten-, Geschäfts- und politischen
1) Zu vergl. Anlage.
190 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Welt, und 25 Zweigausschüssen in einzelnen Staaten und Städten
gefügt. Die Geldmittel werden durch die nach Beiträgen in ver-
schiedene Klassen abgestuften Mitglieder (etwa 3000) des hinter dem
Landesausschuß stehenden Vereins aufgebracht. Die Geschäfte werden
von einem lö-gliedrigen Sonderausschuß geleitet und von einem
Generalsekretär in New York sowie dreien in verschiedenen Teilen
der Union eingesetzten Sekretären geführt. Trotz seiner Jugend —
der Verein ist aus einer 1903 zur Verfechtung der Sache des Kinder-
schutzes in Alabama ins Leben gerufenen Vereinigung hervorgegangen
— bat das National Child Labor Committee erhebliche Erfolge auf-
zuweisen. Sein Arbeitsgebiet ist streng auf die Förderung uud Durch-
führung der Kinderschutzgesetzgebung beschränkt; er veranstaltet Er-
hebungen über bestehende Verhältnisse, veröffentlicht die Ergebnisse
ohne Rücksicht auf Unternehmer und Behörden, veranstaltet Feldzüge
in rückständigen Staaten zugunsten der Einführung guter Gesetze, sucht
auf die öffentliche Meinung einzuwirken, unterstützt die Behörden beim
Vollzug der vorhandenen Vorschriften. Jedes Jahr wird unter dem
Titel „Child Workers of the Nation“ ein Sammelwerk herausgegeben.
Der letzte Band enthält unter anderem eine Sammlung von Stimmen
namhafter Sozialpolitiker zugunsten des Vorschlags, ein Bundesamt für
Kinderarbeit zu gründen, dann eine Reihe von Aufsätzen über be-
stimmte, die Kinderarbeit berührende Fragen, z. B. über Erziehung,
Förderung des Kinderschutzes in besonderen Gewerben, Stellung der
Jugendgerichtshöfe zur Frage der Kinderarbeit, ferner Berichte über den
Stand der Frage in einzelnen Staaten und Gewerben, z. B. Illinois,
Louisiana, der Konservenindustrie Neuenglands, und über die Vereins-
tätigkeit während des abgelaufenen Jahres. Die Berichte können als
zuverlässig, im allgemeinen sogar als etwas ungünstig gefärbt gelten.
Aus diesen Veröffentlichungen geht hervor, welche Bedeutung für die
Durchführung der Altersgrenze und Arbeitszeit der Kinder ein wichtiger
Nachweis der Lebensjahre des Kindes ist und unbewiesene Behaup-
tungen der Beteiligten keineswegs genügen, wie die Schulversäumnisse
mangels genügender Aufsicht an den meisten Orten zahlreich vorkommen,
wie ein strenger Vollzug der gesetzlichen Vorschriften z. B. in Indiana,
Ohio, New York, Illinois sich in dem wesentlichen Rückgaug der Zahl
beschäftigter Kinder zeigt, wie aber auch allenthalben noch viel zu
tun bleibt. Um den armen Kindern, oder vielmehr ihren Eltern den
Hauptbeweggrund zu Schulversäumnissen zu nehmen, setzen einzelne
Zweigausschüsse, z. B. in New York, den regelmäßig der Schulpflicht
genügenden Kindern Stipendien von 2—3 $ wöchentlich, also im un-
gefähren Betrag möglichen Arbeitsverdienstes aus; diese Maßregel von
zweifelhaftem sozialpolitischen Wert wird lediglich als vorübergehende
angesehen, um die Einführung eines neuen oder die strengere Durch-
führung eines alten Gesetzes zu erleichtern, und besitzt wohl keine
ausgiebige Wirkung, da erhebliche Geldmittel — in New York
2—3000 $ jährlich — nicht verfügbar sind.
Die Fortschritte der letzten Jahre auf dem Gebiete des Kinder-
schutzes, die neueste Gesetzgebung in Kentucky, Ohio und Pennsylvania,
Nationalökonomische Gesetzgebung. 191
die Tatsache, daß die Kinderfrage in der breiten Oeffentlichkeit mit
wachsendem Anteil verfolgt wird, ist wesentlich ein Verdienst des
National Child Labor Committee. Ohne das Vorgehen beherzter Männer
und Frauen, die nunmehr in diesem Verbande zusammengeschlossen
sind, wäre wohl die geradezu unerhörte Ausbeutung der kindlichen
Arbeitskräfte in den Kohlengruben Pennsylvanias, in den Glashütten
Indianias und Ohios, namentlich aber in den Textilfabriken der Süd-
staaten noch manche Jahre verborgen geblieben. Jetzt, wo die all-
gemeine Aufmerksamkeit auf diese Verhältnisse gelenkt ist, wird wohl
auch der amerikanische Süden schrittweise mit den Uebelständen auf-
räumen müssen; der Anfang ist bereits in einzelnen Staaten, nament-
lich in Louisiana und Mississippi, gemacht. Nach den vorliegenden Be-
richten wird man sich darüber keinem Zweifel hingeben dürfen, daß
dort das Zeitalter der Sklaverei kaum ähnliche Erscheinungen gezeitigt
hat, zumal da auch die arme weiße Bevölkerung darunter leidet.
Die Notwendigkeit, sich der Mithilfe privater Personen und Ver-
eine beim Vollzug der Sozialgesetze zu versichern, erkennen die Behörden
bereitwillig an: Die Jugendfürsorgevereine üben geradezu amtliche
Funktionen bei der Zwangserziehung aus, — nach allgemeiner Erfah-
rung stellen die gewerblich beschäftigten Kinder eine verhältnismäßig
sehr hohe Zahl von Zwangszöglingen; in Nebrasca und Oregon sind
freiwillige Helfer mit dem Vollzug der Vorschriften über Kinderarbeit
amtlich betraut,
Wenn die öffentliche Meinung auch, wie gesagt, unmittelbar mit
dem Gesetzesvollzug nichts zu tun hat, so ist doch ihre Richtung
von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Gesetzgebung
überhaupt, denn auf die Dauer wird sie über Gegenströmungen, wie sie
von kurzsichtigen Privatinteressen vielfach ausgehen, den Sieg davon
tragen. Verfolgt man aufmerksam den Ideengang des breiten amerika-
nischen Volkes, so erblickt man wachsende Anzeichen dafür, daß der
Gedanke der Erhaltung vorhandener Kräfte und Schätze Boden faßt.
Zu diesen Kräften und Schätzen gehört aber in erster Linie eine arbeits-
fähige Bevölkerung. Die Erhaltung dieser Arbeitsfähigkeit wird durch
das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte gefährdet. Arbeiterschutz
dient der Gesundheit des einzelnen, wirkt der Ausbreitung von Volks-
krankheiten, wie der Tuberkulose, entgegen, hebt also die Gesundheit
der Bevölkerung überhaupt; Arbeiterschutz entspricht aber nicht dem
unmittelbaren Streben des Unternehmers. Deshalb ıst das Eingreifen
des Staates notwendig. Diese Grundsätze einsichtiger Sozialpolitiker
gewinnen mehr und mehr Raum in den Massen der Wähler, und dem
werden die Parteien auch ohne das Vorhandensein einer sozialistischen
Arbeiterpartei in steigendem Maße Rechnung tragen. So ist denn eine
rasche Weiterentwicklung der Gesetzgebung auf diesem Gebiete in den
Vereinigten Staaten zu erwarten; allerdings wird mit diesem Fort-
schritt vorerst noch kaum eine wesentliche Vervollkommnung der Technik
in der Gesetzgebung oder eine allgemeine Reform des Behördenwesens
eintreten; denn diese Mängel liegen zu tief in der Verfassung und dem
Volkscharakter begründet.
192 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Anlage 1. Uebersich
Gesetzliche Bestimmungen z
Von Kindern. E
x d
S Voraussetzung, von der
> | Schulpflicht als | Beschäftigung nach Er- Ausnahme von der dë
A Altersgrenze reichung der Alters- Altersgrenze Bemerkungen
= grenze abhängt
<
ER 2 E 3 | 4 Er Ge
12 |12—16J.,8Woch.| Versicherung der Eltern über|Altersgrenze gilt nur für —
mindestens im; das Alter des Kindes Textilindustrie und be-
Jahr stimmte Gewerbe oder Be-
schäftigungen
14 — Versicherung der Eltern Konservenindustrie während — i
der Ferien. |
5 Für Kinder armer Eltern |
cugei, der Gratschatts- oder mit elementarer Schul-
bildung von 12—14 J.
14 |Bis 16 J. beim|12—14 J., für arme Kinder|12—14 J.: Schulferien, und —
Fehlen element.| Erlaubnis des Gerichts;| für arme Kinder
Kenntn., — Illi-| 14—16 J. Zeugnis der
terates, — Tag-| Schulbehörde über Alter
od. Abendschul-| und Bildung
pflicht
14 — — — Kein Altersnachweis
14 (Bis 16 J. für Mi-|Altersnachweis der Schul- E — |
terates Abend-| behörde, 14—16 J.
schulpflicht i
Fabrikinsp. kann Beschif-
tigung v. 14—16 J. v. Bä-
14 — 14—16 J., Zeugnis der Schul- Konservenindustrie und Ver-| bring. eines Zeugn. über
behörde über Alter und fertigung von Körben usw. kër Sn Beie rd
Schulbesuch | für Konserven cal fitness A
14 = 14—16 J., Zeugnis der Schul- Jugendrichter kann armen Genauer Nachweis de
behörde über Alter und) Kindern, 12—14 J., Er-| Alters
Kenntnisse | laubnis für ungefährliche
Beschäftigung erteilen
|
12 — — | = e
12 — 12—14 J., Alters- und Bil- — Kein Altersnachweis
14 |Bis 16 J. Beschäf-
tigung der Illite-
rateswährend der
Schulstund. ver-
boten
14 |Bis 16 J. Abend-
schulpflicht der
Dliterates
dungszeugnis der Schul-
behörde
14—16 J., Alters- und Bil-
dungszeugnis der Schul-
behörde
12—14 J., während der
Schulferien von mindestens
2 Wochen Dauer
außer Versicherung der
Eltern
Sorgfältiger Altersnach-
weis
zu Kapitel 2.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Regelung der Fabrikarbeit.
193
Von jugendlichen Personen und Frauen.
Beschränkung der
Beschränkung
e beta
Sa: = Arbeitszeit sen | der Nachtarbeit ez
(Territorien |m. = männlich, w. = weiblich Besondere Bestimmungen und
nicht berück- |3 2|% ə |Stund. Be: Bemerkungen
sichtigt; [Alter |&$ 55 | im | Alter |S EIER
E21## | Tage as 8"
6° +1:7 18 190:1.30 LR ECH EG Er
Alabama |ı14m.| — | 6o | — [ı6m.!)| 7 | 6 [Beschränkungen gelten nur für die in Rubr.
14 w. 16 w. 4 genannten Gewerbe.
| 1) Jugendliche unter 18 J. dürfen bei Nacht-
| zeit nicht mehr als 8 Std. beschäftigt werden.
Arkansas [ı6m.| — | 60 10 |16 m. 16 —
16 w. 16 w.
California Tome — | 54 9?°)|16 m. | 10 | 6 |2) Ueberschreiten zulässig zum Ausbessern
18 w, 16 w. von Maschinen und zum Ausgleich abge-
kürzter Arbeitszeit an einem anderen Tage
der Woche, jedoch nie mehr als 54 W.
|
Colorado el — | — 83| — | — | — |8 Std. Höchstarbeitszeit für alle Arbeiter in
16 e, Berg- u. Hüttenwerken (Strafe).
3) Ueberschr. zul. bei Gefährdung v. Eigentum,
um Weihnachten u. mit bes. richterl. Erlaub-
nis im Interesse der jugendl. Personen.
Zonneetieut | 16 m.) — |58% 10)| — | — | — |4) Falls während der 3 Sommermonate nur
Frauen, 55, dann in den übrigen Monaten 60.
5) Ueberschreiten (wie Cal.) zum Ausbess. od.
| Ausgleich, jedoch nie mehr als 58 W.
Delaware "Tel — | 54 9°%)|ı6 m. | 7 | 6 Ausnahme für Konservenfabriken usw., wie
16 w, 16 w. bei Kindern, vgl. Rubr. 4.
6) 30 Min. Mittagspause.
D. of Colum 16m.| — | 48| sën | 7| 6 =
bia (Wa. |16 w, ? 16 w.
-hington)
Florida - |=| — — — — | — |In Baumwollenfabriken ist der Arbeitstag auf
11 Std, festges., doch fehlt Strafbestimmung.
Georgia lol —| —- (rm | 7] 6 =
14 w.
Idaho Im — 54 9 16m 9 6 |In Hüttenwerken (Smelters) Arbeitstag, außer
1b w, 16 w. für Arbeiten zur Abwendung einer Ge-
fahr, 8 Std. (Strafe).
Verbot der Verwendung von Jugendl. unter
16 J. zu gefährlichen Arbeiten (Strafe).
Illinois 16m. | — | 48 8 Jı6 m. | 7 | 7 |Verbot der Beschäftigung von Jugendlichen
16 w, 16 w. bei bestimmten Betrieben oder Arbeiten
Frauen az 10
bat 1909.
Dritte Füge Bà, XXXIX (XCIV).
13
194
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Von Kindern.
g I}
S Voraussetzung, von der
5 | Schulpflicht als | Beschäftigung nach Er- Ausnahme von der Bemerkungen
E Altersgrenze reichung der Alters- Altersgrenze ge
£ grenze abhängt
4
SS 2 = enge. | Mm 5 x
14 |Illiterates bis 16 J.|14—16 J., Zeugnis der El- —
14
14
14
14
14
12
14
14
14
arbeiten
Bis 16 J. für Illi
terates
schulpflicht
dürfen nur wäh-| tern über Alter
rend Schulferien
Altersnachweis der Schul-
behörde, 14—16 J.
Alters- und Bildungsnach-
weis der Schulbehörde,
14—16 J.
14—16 J., Altersnachweis
der Schulbehörde
Altersnachweis nach Be-
stimmung des Fabrikin-
spektors, 14—16 J.
Altersnachweis: in Baltimore
Fabrikinspektor, sonst Ge-
sundheitsbehörde, 12—16 J.
-|Alters- und Bildungszeugnis
Abend-| der Schulbehörde nach Vor-
weis einer Arbeitskarte des
Arbeitgebers (Employment
Ticket), 14—16 J.
Notlage, Alters-, Bildungs-
und Tauglichkeitszeugnis
der Schulbehörde oder eines
staatlichen Arbeitsnachweis-
amtes, 14—16 J.
Notlage, Alters- und Bil-
dungszeugnis der Schul-
behörde, 14—16 J.
Konservenfabrikation, Fa-
brikinspektor kann jedoch
ungesunde Arbeit der Kin-
der verbieten oder an Be-
dingungen knüpfen
Schulferien in
schaften außer Baltimore
Mangelhafter Alterenack
weis. Certificate al
physical fitness, verg,
Delaware
Genauer Altersnachweis
im Zweifel durch ärzıl
Untersuchung. Ges. v
1908
Ev. Bestätigung des Zeug
nisses der Eltern übe
Alter durch eine Amts
person. Ges. v. 1908.
19 Graf- —
Genauer Altersnachweis
Erholung eines ärztliche
Zeugnisses über Tan:
lichkeit im Zweifelsfal
Genauer Nachweis. Ge
v. 1909
Certif. of physical fitnes
Weitgehender Kinde
schutz
Nationalökonomische Gesetzgebung. 195
Von jugendlichen Personen und Frauen.
Staat
[erntorien
nt berück-
Ideal
Beschränkung der
Arbeitszeit
m. — männlich, w. = weiblich
Beschränkung
der Nachtarbeit
Besondere Bestimmungen und
KÉ
o
Ed
E
È
"e
E
=
"Ze
Std, In
Stund.
Alter
Sg
an
=
Bemerkungen
ER
=
11
1
ER
14
aine
arland
tiana 16 m.| —
18 w.
ma 16 m.| —
16 w.
iisas — =
mtucky 16 m. | —
16 w.
nılsiana 18 m.| —
asschn- |18 m. | —
Sit Frauen
iima | 13 m. | —
Frauen!
zc ı6 m.| —
54
10
10°)
10‘)
10
10°)
10°)
durchsch.
9
höchst.
10
überh.
16 m.
16 w.
18 m.
Frauen
Frauen|
10
10
6
In Textilfabrik. :
16 m.
18 w.
16 m.
16 w.
6
6
1) Ueberschreiten zum Ausgleich. 60 Min
Mittagspause, vorbehaltlich Ausnahme
durch Fabrikinspektor.
Verbot der Verwendung Jugendl. bis 16 J. mit gefährl.
Arbeiten, bei Arbeiten mit Explosivstoffen, jugendl.
weiblicher auch, wo fortgesetztes Stehen erforderl. ist,
Ausnahmen für bestimmte Konservenfabriken mit Hand-
betrieb,
2) 30 Min. Mittagspause bei mehr als 5-stünd. Arbeit.
Verbot der Verwendung Jugend), bis 16 J.
mit gefährlichen Arbeiten (Strafe).
Verbot der Beschäftigung Jugendl. bis 16 J.
bei Aufzügen, bis 18 J. beim Reinigen
in Betrieb befindl. Maschinen, bis 16 J.
in bestimmten Betrieben usw., vgl. Illinois.
13) 1 Std. Mittagspause, auf Antrag von ?/,
der Arbeiter bis 30 Min. weniger.
‚Ausnahme für Konservenfabrikation wie bei
| Kindern, vgl. Rubr. 4. Verbot der Ver-
wendung Jugendl. bis 16 J. bei Aufzügen
überh. und bis 18 J. bei Aufzügen von
bestimmter Schnelligkeit an.
4) Ueberschr. z. Ausb. u. Ausgl. = Californien.
Regelung der Pausen: Wo mehr als 5 Jugendliche oder
Frauen: Mahlzeitspause gleichzeitig; bei mindestens
6-stünd. Arbeit: I/a-stünd, Mittagspause ausser wenn
Arbeit spätestens um 2 Uhr schliesst. Ausnahmen durch
Fabrikinspektor möglich. Keine Anwendung auf ein-
zelne Gewerbe mit fortlaufendem Brtrieb (Eisen-, Glas-,
Papier-Druckereien, Färbereien u. Bleichereien),
Jugend]. Pers. ausgeschlossen : Aufzüge = Maine, Reinigen
von Maschinen (16), durch Verfügung des Staatsgesund-
heitsamts in Fabriken von Säuren (18 J., Reinigen
von Maschinen (14 J.).
5) In Saisonındustrien bis 58, wenn Jahresdurchschnitt
auf 56 bleibt,
6) Ueberschreiten zum Ausgleich.
Ausnahme von der Stundenzahl (jedoch nicht
der Nachtarbeit) für Konservenindustrie.
Verbot der Beschäftigung v. Frauen unter 21 u,
sonst Jugendl. unter 18 J. mit Reinigen von
Maschinen, dann in Betrieben, wo alkohol.
Getränke hergestellt u. behandelt werden,
und überhaupt in gefährlichen Betrieben.
Verbot der Beschäftigung Jugendl. bis 16 J.
in bestimmten gefährlichen Betrieben oder
Arbeiten.
13*
196
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Von Kindern.
Š
S Voraussetzung, von der
= | Schulpflicht als | Beschäftigung nach Er- Ausnahme von der e
€ Altersgrenze reichung der Alters- Altersgrenze Bemerkungen
2 grenze abhängt
E
1| 2 d 3 Í 4 | 5
12 — 12—16 J., Genehmigung|Nur für Textilindustrie, ferner für G--| Bis 1908 keinSchutz. Sheri?
R r be, bei d die Kinder nicht im) Kind.bis 16J. weg ai
der Eltern oder gesetzlichen| freien mit gesundheitsgef Verricht | Krankh, od VC
Vertreter oder gefährl. Masıhin. befasst sind keit von d. Arbeit erter
14 — 14—16 J., Altersnachweis == Certif. of physical fitr
des Fabrikinspektors oder Seit 1907 genauere
der Ortsbehörde stimmungen
16 — Von 16 J. ab Altersnach weis — Weitgehender Schut
des Fabrikinspektors
14 ‚Bis 16.J. bei nicht Alters-, Bildungs- und Taug- _ Weitgehender Scl:
12
14
14
13
14
genügender Bil- lichkeitszeugnis der Schul-
dung Abend-| behörde; im Zweifel über
schulpflicht die körperliche Tauglich-
keit entscheidet amtsärztl.
Untersuchung, 14—16 J.
Bis 14 J. während 14—16 J., während der
der Schulzeiten,| Schulzeiten Schulzeugnis,
bis 16 J. Abend-| Alter durch Versicherung
schulpflicht für| der Eltern ermittelt
Dliterates
‚Bis 15 J. Abend- 14—16 J., Altersnachweis
schulpflicht durch Fabrikinspektor
Bis 16 J. Schul-
pflicht der Ili-
terates
| der Gesundheitsbehörde
[Bis 14 J. während!
der Schulzeiten
14—16 J., Alters- und Bil-
dungsnachweis der Schul-
behörde
Alters- und Bildungszeugnis'
1) Austernindustrie; 2) 12
bis 13 J. für Lehrlinge,
die einen bestimmten Schul-
besuch aufweisen
Für arme Kinder, die be-
stimmten Schulbesuch nach-
weisen durch Schulbehörde,
12—14 J.
sorgfältige Bestimm:
und besondere Kom
sion zum Vollzug
Läßt sich die Ab
schule mit der At
nicht vereinbaren,
fälltdie Schulpflicht
Certif. of physical fit
= Delaware
Musterstaat
Mangelhafter Altersn!
weis
Certif. of physical fit
= Del.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Beschränkung der
Von jugendlichen Personen und Frauen.
á Fr Beschränkung
Staat Arbeitszeit T e
Territorien |[m-= männlich, w.— weiblich der. Nachtarbeit Besondere Bestimmungen und
iht berück- KE se Stund. 5. e Bemerkungen
siehtigt) [Alter 9818| im [Alter (ES zz
SIT Tage jana”
4 at F TLS f orj 20 3 NK CEA e 13,
= Misisippi |16m.| — | 58 | ro |16m.| 7 | 6 |Schutzvorschriften gelten nur für Textil-
16 w. 16 w industrie usw., vgl. Rubr. 4.
* Wissouri 16 m. | — | 54 9')| ı6 m 7 7 |Verbot der Beschäftigung Jugendlicher bis 16 J. in be-
16 w. 16 w stimmten gefährlichen Betrieben oder Arbeiten (vgl.
H Darstellung), ferner jugendlicher bis 21 J. und von
Frauen beim Reinigen von Maschinen sowie zwischen
den festen und beweglichen Teilen der Garnmaschinen
(selfactors).
1) 8 Std. Hö hstarbeitszeit in Berg- und Hüttenwerken
(Strafe) für alle Arbeiter,
Montana sz" a e Ce — |— | — 8 Std. Höchstarbeitszeit in Berg- u. Hütten-
D werken für alle Arbeiter.
Sebrasen 16 m. | — | 48 8 Im" 8 6 ‚Verbot der Beschäftigung Jugendl. bis 16 J.
` 16 w. 16 w. mit gefährlichen Arbeiten; Strafe bedroht
Frauen 60 10 Frauen 10 | 6 | Eltern und die, die jugendliche Person be-
aufsichtigen, also nicht den Arbeitgeber.
evada — |-|1-| = — | — | — |8 Std. Höchstarbeitszeit in Berg- u. Hütten-
= werken für alle Arbeiter außer bei Gefahr.
ew Hamp- | 18 m. | — | 58 19,40%)| — — | — 2) Ueberschreiten zum Ausbessern und Aus-
Frauen gleich.
į
}
fer Jersey |16 m. | — | 55 | 109/18 m.| 6 | 7%) Ges, v. 1904. Nach dem Ges. v. 1895 dürfen
16 w. jugendl. Pers. unter 18 u. Frauen nur v.
f 18 m. — 10?) Frauen 7—12 u. 1—6 beschäftigt werden, außer
Frauen in Konserven- u. Glasfabriken.
Verbot der Verwendung Jugendl. bis 16 J.
mit dem Reinigen von Maschinen.
ew York |16m.| 6| — 8t) 16m. | 5 8 |4) Ausnahme: Ueberschreiten zum Ausgleich.
j 16 w. 16 w. Hierüber und für die verbotenen Beschäf-
5 ı8 m. | 6 | 60 10*)| 18 m. | 12 4 tigungen Jugendl. s. Darstellung.
Frauen) 6 | 60 | 10*)|Frauen| ol 6
Beth cl — | —|— | ss | = Ise Les =
lina
North = Al SCH Ee ss AU Se CES —
Dacota
Mio 16 m. | — |48 8 Im. 7| 6 Verbot der Beschäftigung Jugendl. bis 16 J. in
18 w. 20 Min, Mittags-| 18 w. bestimmt. Betrieben od. Arbeiten (vgl. Dar-
\ pause stellung), ferner von Mädchen bis 16 J.,
| | wo sie dauernd stehen müssen, dann in
der Zigarrenfabrikation.
198 Nationalökonomische Gesetzgebung.
= Von Kindern.
S >=
S Voraussetzung, von der
SS | Schulpflicht als | Beschäftigung nach Er- Ausnahme von der
4 Altersgrenze reichung der Alters- Altersgrenze Bemerkangen
5 grenze abhängt
<
1 2 3 | 4 | 5
14
14
12
14
14
12
14
14
14
Bis 15 J., während der
Schulzeit
16 Jahre
15 J., ord. Schul-
pflicht |
14 J., während
der Schulzeiten |
14—16 J., Alters- und Bil- Schulferien von 2 Wochen
dungsnachweis der Schul-| Dauer, 12—14 J., mit be-
behörde sonderer behördl. Erlaubnis
Wie vorher
Alterszeugnis der Schulbe-
hörde, 14—16 J.
In Textilfabriken 1) für arme Kinder
2) für solche, die einen bestimmten
Schulbesuch u. Kenntnisse im Lesen
und Schreiben aufweisen, während
3 Sommermonate
12—14 J., für Literates u.
arme Kinder
12—16 J., Erlaubnis d. Schulbeh, für
die Schulzeiten ; falls ausserhalb der
Schulstd. u. in den Ferien, sowie
nach Erfüllung 9-jähr. Schulpfl, für
Kind. über 12 J. freie Beschäftigung
12—14 J., arme Kinder, eigene Kin-
der, Konservenfabriken
12—14 J., für arme Kinder
und ungefährl. Verwend-
ung, Erlaubn. durch Richter
12—14 J., wenn Schulbesuch
nicht leidet, auch während
der Schulzeit
14—16 J., Erlaubnis durch
Fabrikinspektor oder Rich-
ter nach Altersnachweis
für Literates ; kann im Falle
körperlicher Untauglichkeit
verweigert werden
Genauer Altersnach wá
Ges. v. 1909
Dürftige Bestimmun ger
Wie vorher
Mangelhafter Altersn ac
weis durch Eltern
Dürftige Vorschriften
Dürftige Vorschriften
Keine Vorschriften üb:
Altersnachweis
Dürftige Vorschriften
Genauer Altersnachwei
Nationalökonomische Gesetzgebung.
199
Staat
Territorien
Von jugendlichen Personen und Frauen.
Beschränkung der
Arbeitszeit Beschränkung
m. = männlich, w.— weiblich der Nachtarbeit
Besondere Bestimmungen und
nicht berück- 5 2|% g |Stund. SS Cen Bemerkungen
sichtigt) | Alter |%$| =%| im |Alter E ZS R g
E537 | Tage ee re
J 6 We: ZUR IR ZEITEN ~ piş
klahoma — lz ll — cen en —
16m.| 6| — 10 |16m.| 6 7 —
Frauen 30 Min. Mittags-| 16 w. Verbot der Beschäftigung Jugendl.: bis 18 J. in be-
pause stimmten gefährlichen Betrieben, z. B. Hochöfen,
| Gerbereien, Bedienen von Aufzügen. 16—18 J. in
ennsylva- | 16m. | — 58 10!) |16 m.?) 9, 6 Fabriken, wo gittige Stoffe, wio Säuren, Phosphor,
d 18 18 N Erlaubnis durch Fabrikinsp., wenn keine gesundheitl.
Ss" w. | Bedenken vorliegen; bis 16 J. Reinigen v. Maschin.
| 1) Mittagspause vorbehaltl. anderer Regelung mit Gee
nehmigung des Fabrikinspekt. 45 Min., Ueberschreiten
zum Ausbessern und Ausgleich.
2) Verbot der Nachtarbeit, nicht für fortlaufende Be-
triebe, dann jedoch nur 9 Std. Arbeit erlaubt,
ode Island] 16 m. | — | 58 | 10%|16m.| 8 | 6 |Verbot des Reinigens von Maschinen durch
Frauen 16 w Jugendliche bis 16 J.
3) Ueberschreiten wie vorher.
Caro) — | —- | — — — — | — |Vertrag auf Beschäftigung in Textilfabriken
über 10 Std. ist nichtig, Durchführung
eines solchen Vertrages durch Arbeitgeber
strafbar.
uth Dacotaf 18 m. | — | — | ro — | — | — Nur Zwang über 10 Std. zu arbeiten strafbar.
Frauen
ennessee ım.| — | 60 | — — ı-|— —
Frauen
s=" exas -o —|— — |i4m 6 6 |Verbot der Beschäftigung Jugendl. bis 16 J.
14 w in Brauereien und Schnapsbrennereien.
tah = et — | — | — Verbot der Verwendung v. Kindern bis 16 J. u.
Frauen in Berg- u. Hüttenwerken, für sonst.
Arbeiter Höchstarbeitszeit dort 8 Std. tägl.
ermont -— — | — | — |i6m.| 8| — =
16 w.
D
irginia m| =| =] ıo igm] lz — e
(Frauen fehlt Strafbestimmung) 14 w. |
ashington |Frauen — | — | 10 — |- — —
est-Virgi- = ES EE = — 25 =
nia
Wisconsin 16 m. | 6 |55 10 |ı6m. 6 | — (Beschränkungen finden keine Anwendung
16 w. 16 w. auf Arbeiten zur Verhütung des Verderbens
| von Gegenständen, Konservenindustrie.
Zigarrenfabriken: Verbot der Verwendung Jugendl. bis 16 J. in
18 m. | — A8 8 bestimmten gefährl. Betrieben u. Arbeiten
18 w. (vgl. Darstellung), bei Aufzügen, dann
yoming
von Mädchen bis 16 J., wo sie fortwährend
stehen müssen.
200
Anlage 2.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Uebersicht zu Kapitel 3, 4 und 5.
Gesetze zum Schutze der Arbeiter gegen Betriebsge-
fahren, zur Regelung der Tenement-Werkstätten und
zur Organisation des Gewerbeaufsichtsdienstes.
Art der Auflagen (bei besonders genauer Regelung ist ein Kreuz (*) dem
Buchstaben beigefügt I) Buchstabe
Gesundheit: Reinlichkeit der Betriebsstätte a
Kanalisierung, Beseitigung übler Ausflüsse b
gute Beleuchtung c
gute Lüftung d
Mindestluftraum für jeden Arbeiter e
Absaugung von Staub, Gasen usw. f
Erhaltung von Boden, Wänden, Decken (Anstrich) g
Anstalten zum Waschen und Ankleiden h
Sitzgelegenheit für Arbeiterinnen in Fabriken i
Sicherheit: Feuersicherheit, Beschaffenheit der Ausgänge k(a)
A Feuerleitern, Treppen DEI
Sicherung von Aufzügen, Absturzstellen 1
Beschaffenheit der Treppen (Geländer) m
Sicherung gefährlicher Maschinenteile n
Dampfkessel, allgemeine Vorschriften o(a)
e besondere Nachschau DIEN
Verbindung zwischen Maschinenraum und Werkmaschinen P
Sittlichkeit: Abortanlagen (Beschaffenheit, Mindestzahl, Trennung für
Geschlechter) q
Anstalten zum Waschen und Ankleiden siehe oben h
Weitere Auflagen sind in der Uebersicht ausdrücklich genannt.
Maßnahmen zum Schutze gegen Maßnahmen zur Regelung be-
sonderer Betriebe
Gewerbeaufsichtsdienst
Brase Gefahren
Alabama k(B) (für Gebäude von 2 Stock-
werken und mehr)
Arkansas —
California ee
Colorado i, o(ß) (jährliche Nachschau)
Connecticut Ja, e (Beseitigung undurchsichtiger
Fensterscheiben nach Bedarf), d, i
(nicht ausführlich), k(8), 1, n, o(B),
q (bei mindestens 5 Arbeitern)
Delaware k(ß), i, h (in der Grafschaft New
Castle in Betrieben mit mind. 10
weibl. Arbeitern, außerdem EB-
raum), Heizung in Betrieben mit
weibl. Arbeitern, Verbot der Be-
schimpfung u. schlechten Behand-
lung weibl. Arbeitskräfte
stätten für Konfektion usw.
D.otColumbiali, Ko, B), 1
Bäckereien (Gesundheit u. bau-
liche Erhaltung) ; Metallschlei-
fereien f; Gießereien mit mehr
als 9 Arb. h; Tenement-Werk-
Fabrikinspektor (gleichzeiti:
für Gefängnisse u. Armen
häuser)
State Bureau of Labour Sta
tistics
ge $ Commissioner (si!
1909 als Fabrikinsp.)
Fabrikinspektor auch fü!
Tenements, Assistenten nach
Bedarf
Fabrikinspektor
jährlich Gehalt)
(1000 $
2 Kommissäre der Stadtver-
| waltung
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Maßnahmen zum Schutze gegen |Maßnahmen zur Regelung be-'
| Gefahren
201
sonderer Betriebe
Gewerbeaufsichtsdienst
Michigan
Massachusetts
Minnesota
Mississippi
t*, i, k(8), dann im Ges. v. 1909:
a, b, d,e (Mindestmaß von frischer
Luft), h (auch Eßräume), n*, q
e, f, g, h, i, Ke, B), 1 m, n,
oa, 8) (behördlich anerkannte
Privatinspektion), p, q
f, i, n, ofa), q, Verbot des Betriebes
von Färbereien und Reinigungs-
anstalten mit feuergefährlichen
Stoffen in Wohnhäusern
ke, 1, n
d D i, DER n, q
f, g (wenn von der Gesundheits-
behörde angeordnet), h, i, Ka, Bi
kan, 9
a, b, ¢, d (allgemein gehaltene An-
ordnung), f (Schleifereien in einer
bestimmten Grafschaft), i, k(8),
Verbot, bestimmte feuergefährliche
Stoffe zum Heizen u. Beleuchten
von Werkstätten u. Fabriken mit
0%) Baltimore, sonst Privatinspek-
tion, Verbot überfüllter Werkräume
a, b, h, q (sämtlich für Betriebe
mit mindestens 2 geschützten Per-
sonen oder 5 sonstigen Arbeitern),
! (für alle stauberzeugenden Be-
friebe, für Schleifereien sehr aus-
führlich), Ka, Bi, i, 1, m, n, o(a)
b, d, f, q (sämtlich in Fabriken
mit mindestens 5 Arbeitern), f*
(Schleifereien), h (Gießereien mit
mind. 10 Arbeitern, wenn einzu-
richten), i, Ka, B), l, n (* Spinn-
maschinen u. Webstühle), p, Be-
reitstellung von Spucknäpfen und
Medizinkasten, Trinkwasser
a b, f i, k(a, B), I, n, ola, B),
Rauchverbot in RE N
kä
mehr als 4 Arbeitern zu benützen, |
Margarine u. Eislice eream)-Fa-
briken (Gesundheit, baul. Er-
haltung), Tenement - Werk-
stätten für Konfektion usw.
'Tenement-Werkstütten für Kon-
fektion usw. i
Maßnahmen gegen Verbreitung
ansteckender Krankheiten in
der Kleiderfabrikation, Tene-
ment- Werkstätten für Konfek-
tion usw. (Permit)
Gießereien: Gesundheit und
Sicherheit, auch Bereithaltung
von Medikamenten. Matratzen-
fabriken: f. Tenement-Werk-
stätten für Konfektion (Permit)
Tenement-Werkstätten für Kon-
fektion (Permit)
Bäckereien :
sundheit (nicht ausführlich)
Fabrikinspektor (3000 $ auf
4 Jahre), 24 Assistenten,
darunter auch weibliche
Comm. of Labour Stat.,
gleichzeitig Fabrikinspek-
tor, 2 weitere Inspektoren
Comm. of Labour Statistics
auch Fabrikinspektor; 2
Hilfskräfte
Dgl.
Labour Insp., 1 Hilfskraft
Fabrikinspektion gemeind-
lich in Städten über 10 000
Einw., gegenwärtig nur in
New Orleans (Frau)
Fabrikinspektor (1000 $) u.
Hilfskräfte nach Bedarf
Bureau of Statistics (ein
Leiter, ein Assistent, 2 Fa-
brikinspektoren, 6 Auf-
sichtsbeamte für Kinder-
schutz
‚Comm. of Labour, 2 Hilfs-
kräfte, 14 Inspektoren (4
weibliche)
Fabrikinspektion verbunden
mit Staatspolizei: 16 In-
spektionsbeamte (2 Frauen).
Für Vollzug der gesund-
heitlichen Vorschriften:
staatliche Gesundheitsbe-
hörden
Reinlichkeit, Ge-!Comm. of Labour, 3 Hilfs-
kräfte, 11 Inspektionsbe-
amte (1 Frau)
Sheriff u. örtliche Beamten
der Gesundheitspolizeit mit
Vollzug der Scehutzvor-
schriften betraut
Nationalökonomische Gesetzgebung.
Staat Gefahren aönderer "Betriebe Gewerbeaufsichtsdienst
Missouri a, b (Fabriken mit mind. 5 Ar-|Bäckereien u. Konditoreien: Be-|Fabrikinspektor für Städte
beitern), d, f, g, h (für weibliche] schränkung der Arbeitszeit, über 10 000 Einw., 9 Hilfs-
Arbeiter, mit unreinlichen Ar-) Ausschluß kranker Arbeiter,| kräfte (2 Frauen)
beiten verwendet), i, k(@, BI, n, q.| Reinhaltung, Gesundheit. Tene-
Ueberfüllung kann von Fabrik-| ment-Werkstätten für Kon-
inspektor verboten werden fektion usw., Ueberwachung
Montana o(@)*, (B) — —
Nebrasca i — Comm. of Labour. 5-glie-
driger unbezahlter Board of
Inspectors für Kinderschutz
(2 Frauen darunter)
Nevada — — —
New Hamp- |i GH =
shire
New Jersey WM. e, f*, g, i, ke, Bin, 1, n, q
New York Je, d, e, g, h, i, k(a,ß), I, m, n,
ola, B) (Inspektion muß vom Fa-
brikinspektor als genügend ange-
sehen sein), q. Falls Maschine
nicht gut gesichert, so kann Be-
nützung durch Insp. verboten u.
zu diesem Zweck Zettel mit Verbot
an der Maschine befestigt werden.
Besondere Bestimmungen für Fa-
briken in gemieteten Räumen
(tenant fact.), Verantwortlichkeit
des Eigentümers
North Carolina
North Dakota
Ohio
f*, i, m, n (Verbot der Weiterbe-
nützung von Maschinen bis zur
Sicherung zulässig durch Fabrik-
inspektoren), o(a)
Oklahoma o(a)
d, i, l, n. Ausstellung eines Zeug-
nisses auf Grund der Inspektion
über dem Gesetze entsprechenden
Zustand im Betriebe. Eventuell
schiedsgerichtliche Entscheidung
Oregon
Pennsylvania [Ermächtigung des Inspektors, MiB-
stände bezüglich Lüftung, Heizung,
Beleuchtung u. Feuersgefahr abzu-
stellen. h + q (Frauen), i, k(B)*,
l, n, o(a, Bi (Inspektion in Phila-
delphia bes. Beamte, außerhalb
private Inspektion)
Rhode-Island |h (* für Gießereien mit mindestens
10 Arbeitern), i, k(a, 8), I, n, q,
Trinkwasser
Bäckereien wie Missouri, Tene-
ment-Werkstätten für Konfek-
tion usw. Permit
Bäckereien usw. wie Missouri,
(ausführlich). Tenement- Werk-
stätten: Konzession für das
Haus, bes. Erlaubnis für ein-
zelne Räume: Konfektion, ein-
zelne Nahrungsmittel u. Ge-
brauchsgegenstände. Arbeiten
unter Druckluft u, bei Tunnel-
bauten
Tenement-Werkstätten für Kon-
fektion usw.: gesundheitliche
Maßnahmen. Bäckereien: ge-
sundheitliche Maßnahmen
Bäckereien und Konditoreien:
Beschränkung der Arbeitszeit,
gesundh. Maßnahmen (scharf),
Permit. Tenement - Werk-
stätten für Konfektion: gesund-
heitliche Maßnahmen (scharf),
Permit
‚Comm. of Labour, 1 Hilfs-
| kraft, 11 (2 weibliche) Fa-
brikinspektoren
Fabrikinspektion Teil des
Labour Departments unter
Leitung des Comm. of La-
bour (5000 $), 3 leitende
Gew. - Aufsichtsbeamte, 1
Arzt, 53 Inspektoren (9
Frauen), 42 in New York
selbst (1000—1500 $)
Fabrikinspektion — oberster
Insp. 2000 $, 13 Inspek-
toren (2 für Bäckereien),
8 Frauen als „visitors“
Labour Comm. auch als In-
spektor
Bureau of Labour auch Fa-
brikinspektion; Durchfüh-
rung des Kinderschutzes:
eigener freiwill. Ausschuß
5 Mitglieder (3 Frauen)
Fabrikinspektion, oberster
| 5000 $, 39 Inspektoren
(5 Frauen) 1200 $
Fabrikinspektor, 2 Hilfs-
kräfte (eine Frau)
Nationalökonomische Gesetzgebung.
203
Staat
Maßnahmen zum Schutze gegen
Gefahren
Maßnahmen zur Regelung be-
sonderer Betriebe
Gewerbeaufsichtsdienst
South Carolina
&uth Dakotalf für Hüttenwerke
Tennessee
Texas
Utah
Vermont
Virginia
Washington
Westvirginia [Allgemeine Klausel für gesundh.
Wisconsin
Wyoming
a, d, 1l, n, q (für Frauen)
Rauchverbot in Fabr. zulässig k(ß)
k(3), i, Mundschwämme (gegen
Staub) in Betrieben zum Reinigen
der Baumwolle u. Nüsse (Peanuts)
, f i, l, n Ausstellung eines Zeug-
nisses durch Fabrikinsp. usw. wie
Oregon
Verhältnisse, i, k(ß), 1, n, h (für
weibliche Personen), q
Allgemeine Klausel für gesund-
heitliche Verhältnisse (a mit d),
f*, h*, i, k(a, B), I, n, p, q;
Ueberfüllung kann vom Fabrik-
inspektor abgestellt werden
Verbot des Betretens von Hütten-
werken in trunkenem Zustand u.
Einbringens geistiger Getränke
— Lab. Comm. als Fabrikinsp.
— Comm. of Labour als Fabrik-
Bäckereien: Gesundh. Maßnah-
men, Ausschluß von Arbeitern|
mit ansteckenden Krankheiten
inspektor
Dgl.
— Dgl.
Bäckereien u. Konditoreien; ge-
sundh. Maßnahmen, Ausschluß
von Arbeitern mit ansteckenden
Krankheiten, Konzession. Zi-
garrenfabriken:: gesundh. Maß-
nahmen, Arbeitsstunden. Ju-
gendliche Arbeiter. Tenements-
Werkstätten: für Konfektion u.
Gebrauchsgegenstände : gesund-
heitliche Maßnahmen, Inspek-
tion, Permit (scharfe Regelung)
Comm. of Labour auch
Leiter der Fabrikinspek-
tion 2200 $, 12 Inspek-
toren (2 Frauen) 1200 bis
1500 $
204 Miszellen.
Miszellen.
Vë
Die Probleme des New Yorker Frachtverkehrs.
Von Dr. Ernst Schultze-Großborstel.
Man hat in Deutschland bisher nur wenig Notiz davon genommen,
daß der Fraehtverkehr in New York einer Krisis entgegenzutreiben
scheint. Schon im Jahre 1899 wurden in den Vereinigten Staaten ent-
sprechende Besorgnisse geäußert. Der damalige Gouverneur des Staates
New York, Mr. Black, ernannte deshalb einen Ausschuß, der die Gründe
der Stauung des Frachtverkehrs und der dadurch veranlaßten Be-
fürchtungen für den Niedergang New Yorks untersuchen, gleichzeitig
auch Mittel für die Abstellung der Uebelstände in Vorschlag bringen
sollte. Diese Kommission untersuchte vor allem die Größe des Fracht-
verkehrs, der sich in New York abspielt. Sie stellte fest, daß der
Frachtverkehr auf dem Wasserwege sich auf 100 Mill. Tons jährlich
belief, daß der Geldwert der so verfrachteten Güter etwa 7 Milliarden $
jährlich betrug, und daß die Zunahme des Frachtverkehrs sich auf etwa
5 Proz. jährlich stellte Alle Berechnungen über den Umfang des
Frachtverkehrs im New Yorker Hafen haben sich seither auf diese
Ziffern gestützt. Ihre Richtigkeit — die meist so angenommen
wurde — vorausgesetzt, müßte sich der Jahresverkehr New Yorks in
Frachtgütern gegenwärtig auf ungefähr 163 Mill. Tons im Werte von
11!/, Milliarden $ belaufen. Das sind Zahlen von so kolossaler Größe,
daß man sich einen Begriff von ihrer Bedeutung nur dadurch bilden
kann, daß man Vergleiche heranzieht. Ich führe deshalb an, daß der
gesamte Außenhandel des Deutschen Reiches im Jahre 1908 66,4 Mill. t
in Einfuhr und 52 Mill. t in Ausfuhr, zusammen also 118,4 Mill. t aus-
machte. Da 118,4 t = 116,4 Tons sind, wird also der gesamte Außen-
handel Deutschlands von dem Frachtverkehr im Hafen von Neu York
um 46,6 Mill. Tons, also um mehr als ein Drittel, übertroffen. In Geld-
werten ausgedrückt, betrug die Einfuhr in das Wirtschaftsgebiet des
Deutschen Reiches im Jahre 1908 8,3 Milliarden M., der Wert der
Ausfuhr 7 Milliarden M., der gesamte Außenhandel also 15,3 Milliarden M.
Dieser Summe würde das Dreifache (mehr als 46 Milliarden M.) für
den Wert des Frachtverkehrs in New York gegenüberstehen.
Nehmen wir selbst an, daß die Amerikaner in ihren Schätzungen,
Miszellen. 205
wie dies einigermaßen häufig bei ihnen geschieht, allzuhoch gegriffen
haben — auf alle Fälle ist der Frachtverkehr im New Yorker Hafen
ein so gewaltiger geworden, daß er gigantische Dimensionen angenommen
und Verkehrsprobleme der schwierigsten Art mit sich ge-
bracht hat. Seit 10 Jahren sind einige der fähigsten Verkehrsfachleute
an der Arbeit, um die New Yorker Frachtprobleme zu lösen. Von
Jahr zu Jahr wird die Lösung dringender, und die Zeit ist nicht fern,
da sie für die Weiterentwicklung New Yorks geradezu vitale Be-
deutung gewinnen wird. Haben doch vor nicht gar langer Zeit die
beiden mächtigsten Eisenbahnkönige Nordamerikas, der kürzlich ver-
storbene Harriman und der scharfsichtige Hill, offen erklärt, daß die
steigenden Kosten, die der Frachtverkehr in New York verursache,
schließlich dahin führen müßten, daß das Wachstum seines Hafens auf-
höre, weil man einfach gezwungen sein würde, den größten Teil des
Frachtverkehrs aus dem Westen der Vereinigten Staaten entweder
über die Großen Seen und den Sankt Lorenz-Strom (also durch Kanada)
abzuleiten oder über die Häfen des Golfs von Mexiko, so daß dann dem
Süden der Union ein großer Teil des New Yorker Fraclıtverkehrs zu-
gewiesen würde.
Tatsächlich gibt es heute an der ganzen Küste von Manhattan
— der langgestreckten, von Norden nach Süden sich dehnenden Insel,
auf der die eigentliche Stadt New York liegt — ebenso wie in Jersey
City und Hoboken (also an der Westküste des North River) oder in
Brooklyn (an dem Ostteil des New Yorker Hafens) nicht eine einzige
Ladestelle, die nicht durch den Frachtverkehr überlastet wäre. Ueberall
herrscht die dringendste Nachfrage nach erweiterter und ver-
besserter Dockgelegenheit. Die Kohlendampfer und die riesigen Fracht-
kähne, die den Hudson hinunter kommen und die einen erheblichen
Teil des Frachtverkehrs nach dem Westen vermitteln, haben nur noch
zwei verhältnismäßig schmale Stellen an den Docks der beiden Hafenseiten
zur Verfügung. Wird nun gar, was in kurzer Zeit zu erwarten ist,
der Erie-Kanal, für dessen Erweiterung und Vertiefung der Staat New
York enorme Summen bewilligt hat, in seiner neuen Gestalt für den
Verkehr nutzbar gemacht, so wird sich der Frachtverkehr innerhalb
New Yorks in einer ganz und gar unerträglichen Weise stauen müssen.
Dieser Frachtverkehr setzt sich aus verschiedenen
Teilen zusammen. An erster Stelle steht die Einfuhr von Fracht-
gütern aus Europa, die alter Gewohnheit gemäß zum größten Teil in
New York gelandet werden. Ferner kommt der New Yorker Hafen
auch als Umschlagsplatz für Güter, die aus dem Süden der Vereinigten
Staaten stammen und für die Neuenglandstaaten bestimmt sind, in Be-
tracht. Und endlich werden in New York viele Rohmaterialien zu
Halbfabrikaten oder Ganzfabrikaten verarbeitet. Denn New York ist
nicht nur die wichtigste Handelsstadt Nordamerikas, sondern auch —
entgegen der häufig verbreiteten Ansicht, daß es von Chicago über-
flügelt worden sei — die größte Fabrikstadt der Vereinigten Staaten.
So fließt denn hier ein geradezu riesenhafter Frachtverkehr zu-
sammen. Rohprodukte oder Halbfabrikate aus allen Teilen der Welt
206 Miszellen.
ergießen sich von hier aus über Nordamerika. Ebenso wird ein erheb-
licher Teil der gesamten Ausfuhr erst von hier aus in das Ausland
verschifft. Petroleum, das im Staate Kansas dem Boden entnommen
wird, wird in New York nach Europa, nach Brasilien, nach Persien,
nach Afghanistan verfrachtet. Zucker aus Westindien geht über New
York, um in die Zuckerraffinerien von Long Island gebracht zu werden;
wenn er von dort weitergeht, um etwa nach Idaho oder in einen der
anderen westlichen Staaten der Union verfrachtet zu werden, so nimmt
er häufig abermals den Weg über New York. Da nun der Außenhandel
der Vereinigten Staaten und ihr gesamtes Wirtschaftsleben sich im
letzten Jahrzehnt trotz der mancherlei Krisen, die sie heimgesucht
haben, in lebhaft aufsteigender Linie bewegt haben, so kann es gar
keinem Zweifel unterliegen, daß nach ganz kurzer Zeit schon, wenn der
Frachtverkehr in New York sich noch weiter steigert, ein Zustand ein-
treten muß, der jede pünktliche und regelmäßige Abwicklung unmöglich
macht und damit der wirtschaftlichen Entwicklung nicht nur New Yorks,
sondern der ganzen Vereinigten Staaten einen unheilvollen Stoß ver-
setzen muß.
Eine kleine Besserung würde sich zunächst einmal erzielen lassen,
wenn man den Umschlag aller Güter, die vom Süden nach dem Norden
bestimmt sind, nur noch dann in New York vornähme, wenn eine
zwingende Notwendigkeit dazu vorhanden ist. Gewohn-
heit und Bequemlichkeit — beides Mächte, die in den Vereinigten
Staaten mindestens dieselbe Rolle spielen wie in Westeuropa — haben
dazu geführt, daß zahllose Frachtgüter, die auch in anderen Häfen um-
geschlagen werden könnten, nach New York geschickt werden, um von
dort aus weitertransportiert zu werden. Wird z. B. Baumwolle von den
Häfen des Südens (von Galveston oder New Orleans, von Savannah usw.)
in die Baumwollspinnereien der Neu-Englandstaaten verschickt, so wird
sie in New York umgeschlagen, um dort von anderen Dampfern oder
von der New York-, New Haven- und Hartford-Bahn übernommen zu
werden. Brauchen die Wollspinnereien Neuenglands Wolle, die sie
namentlich von England, von Australien, von Argentinien erhalten, so
wird auch diese zunächst nach New York geschickt. Ebensogut würde
sich dafür ein anderer Hafen, wie z. B. Boston, benutzen lassen. Solcher
Unzweckmäligkeiten findet man im Wirtschaftsleben der Amerikaner
trotz ihres praktischen Sinnes und ihres Organisationstalents eine große
Menge. .
Indessen würde dieses Mittel allein keineswegs ausreichen, um das
Frachtproblem des New Yorker Hafens zu lösen. Bevor jedoch die
weiter möglichen Abhilfsmittel besprochen werden sollen, sei ein Blick
auf die zahlenmäßige Gestaltung des New Yorker Fracht-
verkehrs geworfen.
Die Stadt New York umfaßt insgesamt (zusammen mit Brooklyn,
ihrer „Vorstadt“, zusammen mit den Bronx und allen anderen Gemeinden,
die New York sich augegliedert hat) etwa 325 englische Geviertmeilen.
Auf diesem Gebiete, oder eigentlich auf einem kleinen Teil davon, soll
sie es möglich machen, den ungeheuren Frachtverkehr zu bewältigen,
Miszellen. 207
der oben in runden Summen angegeben ist. Wie stark allein die
Einfuhr vom Ausland ist, ergibt sich aus den Einnahmen der
New Yorker Zollbehörde: in den letzten 3 Jahren (1906 ein Jahr des
Aufschwunges, 1907 halb Aufschwungs- und halb Krisenjahr, 1908
scheinbarer Stillstand des Wirtschaftslebens) betrugen ihre Durch-
schnittseinnahmen 199,2 Mill. $, also mehr als 800 Mill. M. Nun sind
allerdings die amerikanischen Zollsätze großenteils unerhört hoch.
Dennoch gibt diese Zahl eine Vorstellung von dem ungeheuren Umfang
des auswärtigen Handels New Yorks. Eine andere sehr bezeichnende
Zahl ist die, daß der auswärtige Handel der Stadt im Jahre 1908 in-
folge der Wirtschaftskrisis um mehr als 900 Mill. M. geringer war,
als im Jahre 1907. Die Einbuße betrug ungefähr ebensoviel wie der
gesamte auswärtige Handel zweier anderer wichtiger Häfen der Ver-
einigten Staaten, Boston und Charleston, im Jahre 1907 zusammen
aufwies.
Der überseeische Frachtverkehr stellte sich für die sämt-
lichen Häfen der Union im Jahre 1908 auf folgende Zahlen:
New York 1 482 Mill. Dollars
die übrigen atlantischen Häfen At ` Le d
die Häfen im Golf von Mexiko 532 ep er
die nördlichen Grenzhäfen 308 „ e
die Häfen des Stillen Ozeans 183 » ge
die Häfen an der mexikanischen Grenze SÉ u `
die Binnenhäfen 20
zusammen 3315 Mill. Dollars
New York hat also 47 Proz. des gesamten ausländischen Handels-
verkehrs der Vereinigten Staaten zu bewältigen gehabt. Es übertrifit
im Frachtverkehr alle anderen nordamerikanischen Häfen so unbedingt,
deb selbst der zweitwichtigste Hafen, Galveston, das im Jahre 1908
einen Frachtverkehr von etwa 242 Mill. $ aufzuweisen hatte, nur um
16 Mill. $ mehr Güter erhielt oder verschickte, als die Abnahme
betrug, die der New Yorker Frachtverkehr 1908 gegenüber 1907 erlitt!
Von allen Gütern im Werte von je 1000 $, die 1908 in die Ver-
einigten Staaten eingeführt wurden, liefen für 581 $ durch den Hafen
von New York. Von je 1000 $ Ausfuhrgütern gingen für 402 $ durch
den Hafen von New York. Im Durchschnitt berührten also 470 Proz.
des Außenhandels der Vereinigten Staaten den Hafen von New York.
Dadurch wird auch, zum Teil wenigstens, die Vorherrschaft
New Yorks im Bank- und Börsenwesen bedingt. Mehr als
60 Proz. aller Banküberweisungen, die in den Vereinigten Staaten 1908
stattfanden, wurden in New York vorgenommen. Daß für fast alle
Börsenvorgänge Nordamerikas die New Yorker Wall Street maßgebend
st, wissen wir zur Genüge. Die großen Börsenkrisen der Jahre 1901
und 1907 z.B. sind hier ausgebrochen. Gewiß spielen auch die Börsen
anderer Städte eine bedeutende Rolle, namentlich die Weizenbörse in
'hicago — aber mit der hervorragenden Bedeutung New Yorks können
Sie sich trotzdem nicht messen.
Sehr bedauerlich ist, daß genaue Angaben über den Eisenbahn-
frachtverkehr in New York nicht vorliegen. Selbst die dortige
208 Miszellen.
Handelskammer hat bekennen müssen, daß sie außerstande sei, darüber
zuverlässige Angaben zu machen oder sich diese Angaben zu verschaffen.
Die Schwierigkeit liegt darin, daß eine Anzahl verschiedener Eisenbahn-
linien nach New York hineinführt: 8 ganz große (trunk lines) und etwa
ein halbes Dutzend kleinerer Bahnen, die New York mit der näheren
Umgebung verbinden. Man ist also auf den guten Willen aller dieser
Eisenbahngesellschaften gemeinschaftlich angewiesen, wenn man sich
ein klares Bild machen will. Leider verweigert aber die „Trunk Line
Association“, die genaue Angaben über den Verkehr jedes Tages erhält
und sie jeden Tag zusammenrechnet, der Oeffentlichkeit jede Mitteilung
darüber. Die Handelskammer hat versucht, diese ablehnende Haltung
zu überwinden, hat aber alsdann erklären müssen, daß auch sie nicht
imstande sei, in den eisernen Ring dieser „geschlossensten Organisation
der Vereinigten Staaten“ einzudringen. Nur eine Zeitlang, etwa 1 Woche
hindurch, erhielt die Presse einmal genaue Nachrichten über den Ver-
kehr jeder Eisenbahnlinie, die nach New York lief. Diese Nachrichten
wurden von einem Eisenbahnreporter geliefert; als plötzlich im Bureau
der Trunk Line Association ein Angestellter ohne Innehaltung der
Kündigungsfrist entlassen wurde, hörten die Nachrichten in der Presse
sofort wieder auf.
Einer der Männer, die solche Zahlenangaben am besten machen
können, ist Mr. C. M. Keys. Er weiß im Finanzwesen und Wirt-
schaftsleben der Vereinigten Staaten so ausgezeichnet Bescheid, daß
seine Angaben mit als die zuverlässigsten gelten können. Keys hat nun
kürzlich den Geldwert des New Yorker Eisenbahn- und Wasserver-
kehrs, Ein- und Ausgang zusammengerechnet, auf 15 Milliarden $ jährlich
geschätzt, oder in Gewichtszahlen auf 200 Mill. Tons. Wollte man
diese Gütermengen in einem Eisenbahnzuge unterbringen, dessen einzelne
Wagen eine Fassungskraft von etwa 20 Tons!) besitzen, so würde der Zug
mehr als 75000 englische Meilen (120000 km) lang sein; man würde
also die Erdkugel dreimal damit umgürten können.
Nehmen wir einige Beispiele für den Eisenbahnfrachtverkehr. Was
die Riesenstadt New York mit ihren etwa 3500000 Einwohnern allein
an Milch und Butter, an Fleisch und Gemüsen, an Geflügel und Eiern,
kurzum an Lebensmitteln braucht, füllt Tag für Tag schon eine
große Zahl von Eisenbahnzügen. Die ganze Nacht hindurch ergießt
sich der Strom dieser Züge in die Stadt. Noch bevor die Sonne ge-
sunken ist, gehen die Milchzüge z. B. von Buffalo ab, nehmen an den
Zwischenbahnhöfen weitere Milchvorräte auf und liefern sie schon vor
Tagesgrauen in New York ab. Auch von anderen Seiten rollen Eisen-
bahnzüge mit Milch heran; bis an die Grenze von Kanada erstrecken
sich die Milchbezugsquellen der Stadt. Der Bedarf an Fleisch erfordert
noch eine weit größere Zahl von Eisenbahnzügen. Von Long Island
her rollen in der Austernzeit Tag für Tag Dutzende von Zügen, bis
oben hin mit Austern und Muscheln beladen, heran. Wieder in anderen
Zügen wird nur Blumenkohl, aberınals in anderen nur Kohl nach New
1) 1 Ton = 1016,4 kg.
Miszellen. 209
York gebracht. Die Farmer der gesamten Umgebung bis zu einer Ent-
fernung von fast 500 km wissen ganz genau, bis zu welcher Minute sie
eine bestimmte Ware auf ihrem Bahnhof abliefern müssen, damit sie mit
dem dafür bestimmten Zuge nach New York abgeht. Auch für die
Gemüse- und Obstfarmer von South Jersey und anderen Punkten gilt
dies. So hat sich allmählich ein kompliziertes, aber ausgezeichnet
arbeitendes System herausgebildet, um die 31/, Millionen der Bevölke-
rung New Yorks Tag für Tag zur bestimmten Stunde mit Lebens-
mitteln zu versorgen.
Indessen ist man sich dieser Dinge so wenig mehr bewußt, daß
man in Zeiten plötzlicher Verkehrsstörung mit wahrem Er-
schrecken und mit Erbitterung erfährt, daß die gewohnte Speise nicht
zur rechten Zeit erhältlich ist. Wütet etwa im Winter ein Schnee-
sturm von 2 oder gar 4 Tagen Dauer, so ist es weder der New York
Central- noch der Erie-, weder der Lackawanna- noch der West Shore-
Bahn möglich, ihre Milchzüge rechtzeitig nach New York hereinzu-
bringen. Denn dann stockt der Verkehr überhaupt, weil die Schnee-
verwehungen auf den Geleisen nicht so schnell beseitigt werden können.
Infolgedessen geht der Preis der Milch in der Stadt schnell fabelhaft
in die Höhe und alle Welt schimpft auf die Eisenbahnen, obwohl diese
ihr Möglichstes tun, um schon in ihrem eigensten Interesse die Störung
so rasch wie möglich zu beseitigen.
Was eine Riesenstadt wie New York ferner an Kohlen ver-
braucht, ist ebenfalls schwer in Worte zu fassen. Namentlich die
Lackawannabahn bringt über die Delawannabrücke ungeheure Mengen
von Kohlen nach New York hinein. Am Sonntag kann man das Schau-
spiel genießen, wie hier in verhältnismäßig kurzen Stunden etwa ein
halbes Dutzend Züge nur mit Kohlen nach New York hineinfährt, jeder
Zug aus etwa 50 schweren Stahlwagen bestehend, jeder mit einer
Fassungskraft von 50 t, bis an den Rand beladen. 6 Züge bringen
also zusammen etwa 15000 t Kohlen nach New York hinein. Dasselbe
Schauspiel kann man auf der Central Railroad von New Jersey be-
obachten. Der Kohlenverkehr auf beiden Bahnen spielt sich zum großen
Teil des Sonntags ab.
Die verfrachteten Kohlen werden zum Teil im Haushalt, zum Teil
in den Fabrikanlagen verfeuert. Wie schon erwähnt, spielt New York
als Fabrikstadt eine größere Rolle, als gemeinhin angenommen wird.
Tatsächlich ist es die größte Fabrikstadt der ganzen Ver-
einigten Staaten: es erzeugt ebensoviel Waren, wie die beiden
anderen größten Fabrikstädte der Union (Chicago und Philadelphia)
zusammengenommen. In den Veröffentlichungen des Statistischen Amtes
der Vereinigten Staaten (Census Office) werden 15 Industriezweige als
die führenden bezeichnet. Nur in 3 von diesen 15 Gewerben steht
New York nicht mit in erster Reihe: das sind Eisen und Stahl, Baum-
wollenwaren und Leder — obwohl der Prozentanteil New Yorks an
der Produktion dieser Wirtschaftszweige ebenfalls sehr bedeutend ist.
In anderen Industriezweigen übertrifft es dagegen alle anderen amerika-
nischen Städte an Bedeutung so völlig, daß z. B. von der Edelstein-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 14
210 Miszellen.
industrie 97 Proz. der Gesamterzeugung der Vereinigten Staaten auf
New York entfallen, und daß von der Industrie der künstlichen Blumen
und Federn 75 Proz. auf New York zu rechnen sind.
Die Gründe dafür sind zum nicht kleinen Teil darin zu suchen,
daß die riesigen Mengen von Einwanderern, die in das Land strömen,
größtenteils in New York landen, und daß von ihnen ein erheblicher
Prozentsatz wenigstens zunächst dort sitzen bleibt. Von den osteuro-
päischen Juden, die gerade im letzten Jahrzehnt in gewaltigen Massen
nach den Vereinigten Staaten ausgewandert sind, ist ein besonders
großer Prozentsatz in New York hängen geblieben. So sind allein etwa
700000 russische und rumänische Juden in dieser Stadt zu finden.
Fast alle befinden sich, wenn sie ins Land kommen, in äußerster Armut.
Soweit sie noch einiges Geld besitzen, müssen sie es in wenigen Wochen
ausgeben. Die Einwanderer stellen daher für die Fabriken und
noch mehr für die Hausindustrie, insbesondere für die Schwitzindustrie,
ein sehr billiges Arbeitermaterial dar. Aus diesem Grunde
blüht namentlich die Konfektionsindustrie in der sogenannten „East
Side“ von New York: dem östlichen Teil der älteren Stadt, der haupt-
sächlich von osteuropäischen Juden bewohnt wird. Hier wird fast aus-
schließlich Jiddisch gesprochen, dieser merkwürdige Jargon, der aus
einer Mischung von etwa 75 Proz. Hebräisch, vielleicht 20 Proz. Deutsch
und 5 Proz. Polnisch oder Russisch besteht. Und hier, im Osten des
alten New York, werden Jahr für Jahr für mehr als 300 Mill. $ (11/, Mil-
liarden M.) Kleider hergestellt. Das bedeutet die Hälfte der Gesamt-
erzeugung der Vereinigten Staaten an Kleidern. In Manhattan und
der Bronx (dem nördlichsten Stadtteil New Yorks) werden 36 Proz. aller
Männerkleider, ebenso 66 Proz. aller Frauenkleider der Union hergestellt.
Aber die Stadt New York spielt selbst in solchen Industrien eine
hochbedeutende Rolle, für diegar keine zwingende Notwendig-
keit vorhanden ist, sie gerade hier zu betreiben. So wird z. B. Holz
aus den Waldungen der Staaten Michigan, Maine und aus dem Nord-
westen nach New York geschickt und hier verarbeitet; denn New York
steht in der Manufaktnr von Holzwaren innerhalb der Union an der
Spitze. Die Tabakpflanzer von Kentucky und Tennessee verfrachten
ihren Rohtabak hierher; denn New York nimmt eine hervorragende
Stelle in der Fabrikation von Zigarren und Zigaretten ein. Die Weizen-
und Maisstaaten des Westens (Nord- und Süd-Dakota, Kansas, Ne-
braska usw.) schicken einen Teil ihrer Erzeugung hierher; denn Weizen
und Mais werden in großen Mengen von den Mühlen New Yorks ver-
mahlen.
Es sind hauptsächlich Industrien, die nur ungelernte
Arbeiter brauchen, die sich in New York in großem Umfang ent-
wickelt haben. Gelernte Arbeit wird in der Regel besser z. B. in den
Fabrikstädten Neuenglands getan werden Können, weil hier ein ver-
hältnismäßig größeres Heer von geschulten Arbeitern zur Verfügung
steht. Insgesamt stellt sich der Anteil New Yorks an derin-
dustriellen Erzeugung der Vereinigten Staaten folgender-
maßen dar:
Miszellen. 211
F N Gesamterzeugung der Prozentanteil
Industriezweig Verein. Staaten in Dollars New Yorks
1. Eisen und Stahl 905 787 000 13,6
2. Fleischwaren 801 757 000 12,1
3. Maschinenbau 799 862 000 12,0
4. Mühlenerzeugnisse 713 033 000 10,7
5. Konfektionsindustrie 605 596 000 9,1
6. Druckereien und Verlagsbuchhandlungen 496 085 000 7,5
7. Baumwollwaren 450 467 000 6,6
8. Tabak 331 117 000 5,0
9. Schuhwaren 320 107 000 4,8
10. Bier 298 358 000 4,5
11. Lederwaren 252 620 000 3,8
12. Holzwaren 247 441000 3,6
13. Möbel 170 446 000 2,4
14. Elektrische Maschinen 140 809 000 2,1
15. Seide 133 288 000 2,0
Das alles zusammen macht die Verkehrsbewältigung in New York
naturgemäß zu einem überaus schwer lösbaren Problem. Es kommt
hinzu, daß die Gestaltung Manhattans an sich dafür keineswegs günstig
ist. Die Insel ist etwa 2 englische Meilen breit und ungefähr 15 eng-
lische Meilen lang. So hat der Personenverkehr, der sich hier ab-
spielt, mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn da das geschäft-
liche Zentrum nicht in der Mitte der Insel, sondern entsprechend ihrer
historischen Entwickelung an ihrer äußersten Südspitze liegt, so müssen
jeden Morgen unzählige Menschenmengen von Norden nach Süden, und
am Abend dieselben Menschenmengen wiederum von Süden nach Norden
geschafft werden. Das Personenverkehrswesen innerhalb New
Yorks ist deshalb schon seit Jahren in verzweifelter Verfassung. Die
Privattransportgesellschaften, die es in Händen haben, sind der schnellen
Verkehrssteigerung nicht gewachsen gewesen — ganz abgesehen davon,
daß sie durch eine mehr als leichtsinnige Finanzpolitik, teilweise sogar
durch unsaubere Machenschaften, ihre Position arg geschwächt haben.
Unter ähnlichen Uebelständen leidet teilweise auch der Personenverkehr
von New York hinüber nach Brooklyn. Wer in den letzten Jahren
einmal in New York am Ende der Brooklynbrücke in der Nähe des
Rathauses gestanden hat, wird den Eindruck des lebensgefährlichen
Gedränges, das sich hier abspielt — nein, der wirklichen Kämpfe und
Schlachten, die hier Tag für Tag geschlagen werden, um auch nur
einen Stehplatz auf dem Trittbrett eines elektrischen Wagens zu er-
halten, nicht vergessen.
Indessen soll ja hier nicht von dem Problem des Personenverkehrs
in New York gesprochen werden, sondern nur von dem des Fracht-
verkehrs. Dieser kommt in die Stadt hinein und wird aus ihr wieder
herausgeschafft auf Eisenbahnen und Schiffen; innerhalb der Stadt
selbst geht er zum großen Teil auf Wagen vor sich. Die Sachver-
ständigen sind der Ansicht, daß 27 Proz. des gesamten Frachtverkehrs,
oder in absoluter Zahl ausgedrückt, 54 Mill. Tons jährlich durch die
Straßen von Manhattan in Wagen aller möglichen Arten be-
fördert werden. Schon vor 20 Jahren fühlte man, daß der Wagen-
verkehr einen Umfang angenommen hatte, der mit der Größe und
14*
212 Miszellen.
Breite der Straßen nicht mehr in Einklang zu bringen war. Damals
war dieser Verkehr aber nur etwa halb so stark wie heute! Von Jahr
zu Jahr ist er gewachsen, und heute steht man vor geradezu uner-
träglichen Verhältnissen.
Ein eigenartiges Abhilfsmittel hat kürzlich Mr. Gerard Bolce vor-
geschlagen: er will die Pferde aus der Stadt New York ver-
bannen. Es gibt gegenwärtig dort etwa 120000 Rosse, von denen
die Hälfte für Geschäftszwecke benutzt wird. Nun würde ein einziges
Geschäftsautomobil nach der Annahme von Bolce ebensoviel leisten
können wie 4 oder 6 Pferde zusammen. Dadurch würden monatlich
nicht nur etwa 400 M. für jeden Wagen erspart werden, man würde
auch auf den Straßen mehr Platz erhalten. Denn wenn man sich die
Pferde der Stadt New York in eine Linie gestellt denkt, immer Kopf
an Schwanz, so würde ihre Reihe 190 englische Meilen lang sein, d. h.
304 Kilometer, oder etwas länger als die Eisenbahnentfernung zwischen
Berlin und Hamburg. Die Straßen New Yorks sind so bepackt mit
Verkehr, daß es eine erhebliche Raumersparnis bedeuten würde, wenn
man rechnet, daß vielleicht nur der dritte Teil der Pferde sich gleich-
zeitig auf den Straßen befindet. Sie würden dann eine Länge von 100
Kilometern einnehmen, die frei bezw. anderweitig verfügbar sein würde,
sobald die mit Pferden bespannten Wagen durch Automobile ersetzt
sind. Insbesondere am Hafen würde sich diese Platzersparnis sehr
angenehm bemerkbar machen. Auch würde ein Automobil, das dort
nutzlos 6 Stunden wartet, weniger Unterhaltskosten erfordern als ein
mit Pferden bespannter Wagen, da für diese doch die Fütterung ge-
rechnet werden muß, auch wenn sie während der Wartezeit nichts zu
tun haben. Daß auch an Stallungen gespart werden, und daß die
Stadt New York nicht mehr wie jetzt für Spülung und Reinigung ihrer
Straßen jährlich etwa 24 Mill. M. auszugeben haben würde, sondern er-
heblich weniger, sobald die mit Pferden bespannten Wagen sämtlich
durch Automobile ersetzt würden, sei nach dem etwas humoristisch
anmutenden, aber ernsthaft gemeinten Vorschlage von Bolce nur er-
wähnt, der die Gegenwart des Pferdes in New York „als eine wirt-
schaftliche Last, als eine Beleidigung der Reinlichkeit und als eine
schreckliche Steuer auf das menschliche Leben“ bezeichnet.
Doch zurück zu den ernster zu nehmenden Abhilfsmitteln. Am
ärgsten liegen die Dinge am Hudson von der Südspitze New
Yorks, der sogenannten Battery an, bis etwa zur 50. Straße nördlich.
Die Stadtverwaltung hat hier schon vor vielen Jahren für die bessere
Abwickelung des Wagenverkehrs zu sorgen gesucht, indem sie die
Straßen am Flußufer (wenigstens von der Battery bis zur 30. Straße)
ganz wesentlich verbreiterte Und dennoch staut sich der Verkehr
auch hier täglich mehr und mehr. Denn an dieser Uferstelle entladen
die meisten transatlantischen Dampfer, ferner die Fährboote aller der
Eisenbahnen, die an der gegenüberliegenden Küste von New Jersey
enden, außerdem viele Dutzende der Küstenlinien, die die Verbindung
mit dem Süden pflegen, und mehr als die Hälfte der Flußdampfer, die
auf dem Hudson verkehren, ihre Fracht.
Miszellen. 213
Man muß bedenken, daß fast alle Güter, die zu Schiff nach
New York kommen, dortumgeschlagen werden. 1906 z.B. gingen
von den Gütern im Werte von mehr als 8 Milliarden M., die auf dem
Wasserwege hier einliefen, nur 160 Mill. M. (etwa der 19. Teil) ohne
Zollzahlung durch. Jahr für Jahr wächst der Güterverkehr im New
Yorker Hafen um etwa 10 Proz., d. h. er pflegt sich in 10 Jahren zu
verdoppeln. Diese riesige Zunahme des Verkehrs stellt natürlich an
alle in Betracht kommenden Faktoren — Hafenanlagen, Docks, Leichter,
Eisenbahnen usw. — gewaltige Anforderungen. Während noch vor
wenigen Jahren die Höchstzahl der Güterwagen, die von einer Eisen-
bahn an einem einzigen Tage in New York einliefen, 500 betrug, ist
es heute durchaus nicht selten, daß die beiden hauptsächlichsten Bahn-
gesellschaften, die ihre Geleise nach New York hineinführen, an einem
einzigen Tage mehr als je 1000 Güterwagen in die Stadt einlaufen
lassen.
Nun haben zwar die beiden wichtigsten Bahngesellschaften für die
Erweiterung bezw. den Neubau ihrer Bahnhofsanlagen energische Vor-
sorge getroffen. Die New York Central- und die Pennsylvania -Bahn
haben dafür seit 5 Jahren zusammen etwa 600 Mill. $ ausgegeben. Aber
die Erweiterung der Hafenanlagen hat damit nicht
Schritt gehalten. Die Folge ist, daß der Güterverkehr sich staut,
daß die Fortschaffung der Güter viel zu langsam vor sich geht und
dab ungeheure Kosten für den Aufenthalt der Frachtgüter entstehen,
Kosten, die durch bessere Hafenanlagen sehr wohl vermieden werden
könnten. Man hat berechnet, daß 1907 für den unnützen Aufenthalt
von Gütersendungen in New York Unkosten von stwa 100 Mill. M.
entstanden sind. Der Kaufmann, der Güter in New York zu empfangen
hat, ist geneigt, zu den Frachtkosten 10 Proz. hinzuzuschlagen, weil er
eine Menge Zeit und Mühe braucht, um sie dort in Empfang nehmen
zu können. Die Güter stapeln sich derartig in die Höhe, daß es oft
notwendig ist, stundenlang zu suchen, die Riesenberge von Kisten und
Fässern auseinanderzunehmen und anders wieder aufzuschichten, um ein
einzelnes Stück herauszufinden. Zuweilen bleiben die Güter tagelang
liegen, ohne daß es möglich wäre, zu ihnen durchzudringen. Hunderte
und tausende von Wagen stehen während dieser Zeit nutzlos wartend
da und müssen zuweilen am Abend ganz unverrichteter Dinge wieder
abziehen. Die Kosten für einen Wagen betragen täglich etwa 7 $,
also 28 M. Man mag sich selbst berechnen, zu welchen Riesensummen
diese vergeblich aufgewendeten Kosten anschwellen müssen. Die Kais
und die Güterbahnhöfe der Eisenbahnen sind mit Gütern vollgepackt,
die ganzen umliegenden Straßen sind mit Wagen gestopft voll; tritt
dann noch irgendein Unfall hinzu, der Zusammenbruch eines Roll-
wagens oder etwas Aehnliches, so steigern sich diese Unannehmlich-
keiten zu wahrer Kalamität.
Es ist schwer zu begreifen, wie die Stadtverwaltung von New
York es hat zugeben können, daß die Verhältnisse diese Wendung
genommen haben. In Chicago hat man schon vor Jahren Tunnels
unter der Stadt gegraben, die nur für den Frachtverkehr bestimmt
214 Miszellen.
sind und die etwa die Hälfte des gesamten Güterverkehrs aufgenommen
haben, der sich früher durch die Straßen der Stadt oberirdisch be-
wegte und so den übrigen Verkehr behinderte. In New York hat man
in dieser Richtung nichts getan. Die einzigen unterirdischen Tunnels
sind die der Untergrundbahn, die die ganze Stadt von Süden nach
Norden durchzieht, und die unter dem Hudson hindurch für den Per-
sonennahverkehr und für die Personenzüge einzelner Eisenbahngesell-
schaften. Große Tunnels für den Frachtverkehr sind aber noch nicht
geschaffen worden. Außerdem ist von der langen Uferlinie, die die
Stadt New York zur Verfügung hat, erst ein Teil für Docks nutzbar
gemacht: von den Uferstrecken, die man nutzbar machen
könnte, ist erst weniger als die Hälfte tatsächlich für
Hafenanlagen hergerichtet worden.
Andere Hafenstädte der Alten und der Neuen Welt haben
im Verhältnis weit mehr für die Bewältigung des gleichen Problems
getan. In Genua z. B. sind im letzten Menschenalter viele Millionen
für die Erweiterung der Hafenanlagen ausgegeben worden. Auch die
kleineren italienischen Häfen wachsen aus ihren Größenverhältnissen
heraus; von den französischen Häfen gilt dies in noch höherem Grade.
In Antwerpen, in Bremen und in Hamburg nun gar werden alle paar
Jahre Dutzende von Millionen Mark für die Anlage neuer Häfen be-
willigt. Im englischen Unterhause ist vor Jahresfrist ein Gesetz für
die Verbesserung und Erweiterung des Londoner Hafens angenommen
worden. Liverpool hat in den letzten Jahren nicht weniger als 800 Mill.
M. für die Verbesserung seiner Docks ausgegeben, und ähnliche Ver-
hältnisse finden wir in einigen Häfen der Neuen Welt wieder.
Dabei ist die Küste der Insel Manhattan schon wiederholt weiter
ins Meer hinausgeschoben worden. Früher verlief sie dicht an
dem Fort, das an dem Endpunkt des Broadway stand. Der große Battery-
park und die entsprechenden Stadtteile nach Osten hin, ebenso wie
Greenwich Street, Washington und West Street sind erst später dem
Meer abgerungen worden. Von den Vermögen der Knickerbockers
sollen viele auf diesem Wege errungen worden sein: sie spekulierten
mit Land, das noch unter dem Wasser lag. Auch sonst hat man dies
in Amerika häufig getan. Ein großer Teil der heutigen Stadt San Fran-
cisco südlich der Market Street steht auf aufgeschüttetem Boden, wo
früher Wasser war. Man trug ganze Dünen ab, um sie an die flachen
Ufer des Meeres zu schütten und dadurch neue Straßen zu gewinnen !).
In den letzten Jahren hat sich dies in einer Stadt des Nordwestens,
Seattle, wiederholt, wo man mit Grundstücken, die noch unter dem
Meeresspiegel lagen, spekuliert hat.
Uebrigens baut die Stadt New York augenblicklich mit Energie
an neuen großen Dockanlagen; namentlich am North River in
der Nähe der 23. Straße, und ebenso an der Küste von Brooklyn.
1) Siehe die Schilderung „Aus der ersten Geschichte der Stadt San Francisco“ in
meinem Buche „Aus dem Werden und Wachsen der Vereinigten Staaten“ (Kulturge-
schichtliche Streifzüge, Bd. 1, Hamburg, Gutenberg-Verlag 1908), S. 40—69.
Miszellen. 215
Hier ist auch eine Privatdockgesellschaft mit der Herstellung gleicher
Anlagen beschäftigt. Im Hafen von New York liegen zahlreiche Schiffe,
die nicht anlegen können, weil kein Platz dafür da ist. Namentlich
Trampdampfer verfallen häufig diesem Schicksal. Für die Zeit des
Stilleliegens muß ihre Mannschaft ganz wie sonst entlohnt werden, die
Waren selbst können nicht entladen und weiterbefördert werden und
fressen Zinsen; das Kapital, das in den Schiffen steckt, liegt ebenfalls
während dieser Zeit brach. Wenn die Schiffe dann endlich anlegen
können, haben sie allzu hohe Dockgebühren zu zahlen. Die
Höhe dieser Gebühren wird allgemein als sehr lästig empfunden und
beschwört die Gefahr einer Konkurrenz herauf.
Bereits haben sich an der Küste von New Jersey in der
Bucht von Newark, wo man Land noch vor wenigen Jahren leicht und
billig kaufen konnte, Konkurrenzbestrebungen gezeigt. Der
Board of Trade in Newark hat seine Absicht kundgegeben, eine Summe
von etwa 10 Mill. $ dafür zu verwenden, um Newark zu einem Ozean-
hafen zu machen. Schon sind die Preise der Grundstücke stark ge-
stiegen; und wenn die Newarker es einigermaßen geschickt anfangen,
so können sie wohl trotz der Ungunst ihrer Küste einen Teil des New
Yorker Verkehrs dorthin ableiten. Selbst wenn sie nur !/, Proz. davon
erhalten, so können sie dabei schon reich werden.
Auch sonst sind Pläne vorhanden, die auf eine Ableitung des
Frachtverkehrs aus New York hinzielen. Die Pennsylvaniabahn
z. B. geht schon seit längerer Zeit mit der Erwägung um, ob sich nicht
die Ablenkung eines Teils dieses Verkehrs nach Montauk Point,
etwa 115 englische Meilen östlich von New York auf Long Island ge-
legen, empfehlen würde Wenn auf den Sanddünen dort, die einstweilen
noch billig zu haben sind, eine neue Stadt angelegt wird, so könnte
diese von dem Frachtverkehr der „Metropole“, wie New York in
Amerika häufig genannt wird, einen Teil vielleicht um so eher an sich
ziehen, als die transatlantischen Dampfer bis Montauk Point einen
etwas kürzeren Weg haben würden als bis nach New York. Das Pro-
jekt hat also auch deshalb Aussicht auf Erfolg, weil dadurch die Fahr-
zeit der Ozeanpassagiere abgekürzt werden würde. Diese könnten mit
der Bahn nach New York weiterbefördert werden und würden dort
wenigstens ein paar Minuten, wenn nicht einige Stunden früher ein-
treffen als jetzt.
Man könnte einem solchen Plane gegenüber einwenden, daß es
nicht leicht sei, Konkurrenzhäfen hochzubringen. Wir haben Bei-
spiele davon ja auch in Deutschland: Altona kann trotz aller An-
strengungen gegenüber Hamburg doch nicht recht hochkommen und
Harburg wird es vermutlich, trotz aller Fürsorge der preußischen Regie-
rung, ebenso ergehen. Indessen gibt es auch Gegenbeispiele. Die
Eisenbahnen und Schiffahrtslinien Großbritanniens haben den Verkehr
von Queenston in Irland zurückzuziehen und nach Fishguard an der
Küste von Cornwall hinüberzuleiten gesucht und sie haben bisher da-
mit Erfolg gehabt. Die Frachtprobleme New Yorks aber haben bereits
einer anderen Stadt die Entstehung gegeben: Newport News im
216 Miszellen.
Staate Virginia, das dadurch groß wurde, weil der Getreideverkehr von
den Elevatoren an den Küsten des New Yorker Hafens nicht mehr
bewältigt werden konnte.
Allerdings wird die Pennsylvaniabahn ihr Projekt in Montauk Point
erst ausführen können, wenn sie dafür gesorgt hat, daß der Fracht-
verkehr vom Süden nach dem Norden die Stadt New York auf
einem leichten und schnellen Wege umgehen kann. Die
ersten Schritte hat sie in dieser Beziehung schon getan: südlich von
Jersey City hat sie in Greenville große Bahnhofsanlagen gebaut, ebenso
hat sie ihre Anlagen in Südbrooklyn wesentlich erweitert. Für den
Passagierverkehr hat sie 2 Tunnels unter dem Hudson hindurchgebohrt,
durch welche die Passagierzüge in kurzen Zwischenräumen elektrisch
„hindurchgeschossen“ werden. Aber für den Frachtverkehr würde dies
zu teuer sein, und sie wird daher erst eine große Güterumgehungsbahn
bauen müssen, ehe sie mit der Anlage einer Hafenstadt in Montauk
Point beginnen kann.
Gelingt es der Pennsylvaniabahn alsdann, auch nur 1 Proz. des
überseeischen Frachtverkehrs New Yorks dorthin zu leiten, so würde
Montauk Point einen Frachtumsatz erhalten, wie ihn heutzutage New-
port News besitzt. Gelänge es der Pennsylvaniabahn, 6 Proz. des
New Yorker überseeischen Frachtverkehrs nach Montauk Point zu
bringen, so würde sich dessen Umsatz ebenso hoch stellen wie heute
der ganze überseeische Frachtverkehr von San Francisco. Eine Ab-
leitung von 10 Proz. des New Yorker überseeischen Frachtverkehrs
nach Montauk Point würde diesem sogar eine Bedeutung geben, wie
sie heutzutage nicht einmal Baltimore ganz erreicht.
Allerdings wird man in New York selbst dieses Mittel, die Fracht-
stauung zu vermindern, nicht mit besonderer Freude begrüßen, da man
wahrscheinlich gar nicht wünschen wird, den Frachtverkehr zu ver-
mindern oder auch nur einen Teil seiner jährlichen Zunahme zu ver-
lieren. Es sind daher auch andere Projekte im Gang, die eine Lösung
der Frachtprobleme möglich erscheinen lassen, So ist jetzt ein Plan
für die Anlegung eines Netzes von Güterbahnen unter der
Erde ausgearbeitet worden. Daß man in Chicago schon vor Jahren
unterirdische Tunnels hergestellt hat und daß diese etwa die Hälfte
des Güterverkehrs aufgenommen haben, ist schon oben erwähnt worden.
Das Projekt, das jetzt in New York von einer Gruppe von Geldmännern
gefördert wird, an deren Spitze der Präsident der Amsterdam Company,
Mr. William Wilgus, steht, läuft darauf hinaus, eine Güterbahn unter
der Erde anzulegen, die das ganze Geschäftsviertel der Innenstadt um-
säumen, außerdem an den beiden Wasserfronten östlich und westlich
von Manhattan in ihrer vollen Länge bis zur 60. Straße hinauflaufen
soll. Nach den großen Bahnhöfen der New York Zentralbahn und der
Pennsylvaniabahn, ebenso nach den wichtigsten Stellen der Landungs-
plätze, nach den großen Speichern usw. sind Anschlußverbindungen ge-
plant, ebenso nach allen größeren Geschäftshäusern, die in ihren Kellern
eigene Frachtauf- und -Abladestellen zu erhalten wünschen. Auch mit
den Tunnels, die unter dem Hudson hindurchlaufen und von denen jetzt
Miszellen. 217
etwa 14 fertiggestellt sind, sollen die Linien der Güteruntergrundbahn
verbunden werden. Die Stauung des Lastwagenverkehrs auf den Straßen
würde dadurch sicherlich in nennenswertem Umfang beseitigt werden.
Den Geschäftshäusern, die sich an diese Güteruntergrundbahn an-
schließen wollen, sollen leere Wagen in ihren Verladekellern bereit-
gestellt werden. Die beladenen Wagen werden dann abgeholt. Die
Tragkraft der zu benutzenden Wagen ist auf nur 5—10 t bemessen,
um eine leichtere Handhabung zu ermöglichen. Der Betrieb der Güter-
untergrundbahn würde elektrisch sein.
Dieser Plan ist zunächst der „Public Utilities Commission“ einge-
reicht worden, die darüber zu entscheiden hat. Wilgus hat erklärt,
daß die Beschaffung des enormen Kapitals, welches für die Ausführung
des Planes notwendig ist, gesichert sei, und daß mit dem Bau baldigst
begonnen werden könnte, da bereits an den Plänen im einzelnen ge-
arbeitet werde.
Die energische Durchführung von Abhilfsmitteln, um die Stauung
des Frachtverkehrs in New York zu beseitigen, ist nicht nur für die
Stadt selbst von größter Bedeutung. Auch das Wirtschaftsleben
des ganzen Landes wird davon berührt. Pünktlichkeit und
Schnelligkeit in der Frachtgüterverschiebung ist ja eine der Grund-
lagen des modernen Wirtschaftslebens geworden. Schon die enormen
Kosten, die sich in den letzten Jahren in New York durch verspätete
Ablieferung in immer höherem Grade ergeben haben, müssen verderb-
liche Wirkungen ausüben. Man wird daher jetzt mit aller Energie
daran zu arbeiten haben, diese Frachtstauung gründlich zu beseitigen,
gleichzeitig aber auch Fürsorge dafür zu treffen, daß sie sich in den
nächsten Jahren bei der weiter zu erwartenden Zunahme des Fracht-
verkehrs nicht abermals wieder einstellt.
218 Miszellen.
yI.
Zur Verteidigung des Gesetzes der kleinen Zahlen.
Von L. v. Bortkiewicz.
Ein vor zwölf Jahren unter dem Titel „Das Gesetz der kleinen
Zahlen“ von mir veröffentlichter Beitrag zur Theorie der Dispersion
statistischer Zahlen ist neuerdings seitens des italienischen Statistikers
Corrado Gini zum Zielpunkt lebhafter und wiederholter Angriffe ge-
macht worden 1) Daraufhin habe ich in einer kurzen Erwiderung ?) zu
zeigen versucht, daß Ginis Kritik auf Mißverständnissen und fehler-
haften Annahmen beruht. Das veranlaßte meinen Opponenten zu einem
weiteren Artikel), aus welchem hervorgeht, daß er in einem wesent-
lichen Punkte seine Position preisgegeben hat‘), im übrigen aber auf
seinem früheren Standpunkte verharrt.
Es handelt sich vor allem um die Frage, ob die von Lexis her-
rührende Lehre, daß durch Verringerung der Beobachtungszahlen eine
Annäherung an die normale Dispersion unter Umständen erzielt wird,
dazu berechtigt oder nicht, solche Ergebnisse, wie ich sie in meinem
„Gesetz der kleinen Zahlen“ vorführe, zu erwarten. Ich meine: ja.
Gini aber findet, daß es schlechterdings ausgeschlossen sei, durch jene
Lexissche Konstruktion meine Ergebnisse zu erklären, weil es sich
nämlich bei diesen Ergebnissen nicht um kleine, sondern um große, ja
sehr große („grandissimi“) Beobachtungszahlen handelt. Dementsprechend
hätte man hier umgekehrt eine stark ausgesprochene übernormale Dis-
persion bezw. sehr hohe Werte des Divergenzkoeffizienten erwarten
müssen (S. 656).
Zur Abwehr dieses anscheinend so wuchtigen Angriffes genügt ein
simples numerisches Beispiel. Gesetzt, es handelt sich um einen Fall,
wo als Beobachtungszahl die Einwohnerzahl eines Landes erscheint,
1) Siehe die beiden Artikel „La legge dei piccoli numeri“ und „La regolarità dei
fenomeni rari“ im Giornale degli Economisti, Sept. 1907 und März 1908. Vgl. Ginis
Referat über dasselbe Thema in den Akten des 4. Internationalen Mathematiker-Kon-
gresses in Rom 1908 (Sektion IIIb).
2) Giornale degli Economisti, Oktober 1908. Vgl. C. Bresciani, A proposito
della „Legge dei piccoli memeri“. Ebendaselbst, April 1908.
3) „Su la legge dei piccoli numeri e la regolarità dei fenomeni rari“, im Giornale
degli 'Economisti, Dezember 1908.
4) Dieser Punkt betrifft die Frage, ob die kleinen Ereigniszahlen oder die aus
ihnen gebildeten Verhältniszahlen eine höhere Stabilität aufweisen. Das Nähere darüber
folgt unten.
Miszellen. 219
und man habe für ein Land mit 50 Mill. Einwohnern als Divergenz-
koeffizienten bei irgendeiner statistischen Relativzahl, z. B. bei der
Selbstmordziffer, den Wert 5 erhalten. Es fragt sich, wie hoch er-
wartungsgemäß der Divergenzkoeffizient für einen Gebietsteil mit 50 000
Einwohnern ausfallen wird, sofern diesem Gebietsteil gewissermaßen
eine „repräsentative“ Bedeutung in bezug auf das ganze Land beigelegt
werden kann.
Es sei mit œ das Verhältnis bezeichnet, in welchem die Einwohner-
zahl des betreffenden Gebietsteils zu der Einwohnerzahl des ganzen
Landes steht, und es seien Q und „Q die beiden Divergenzkoeffizienten,
die für das ganze Land und für jenen Gebietsteil maßgebend sind. Ver-
abredet man sich noch die mathematische Erwartung einer Größe x
durch E(x) zu bezeichnen, so kann man mit Lexis die Formel aufstellen:
EQ) = 1 +a fE) — 1). (1)
Im gegebenen Falle ist œ =0,001 und Q=5. Man hat also er-
wartungsgemäß:
«aQ=Y1--0,001.24—= Y1,024 = 1,012.
Man hat mit anderen Worten allen Grund, zu erwarten, daß die
Dispersion für den ins Auge gefaßten Gebietsteil eine nahezu normale
sein wird. Und dies, trotzdem die betreffende Beobachtungszahl sich
auf 50000 stellt, mithin „sehr groß“ („numero grandissimo“) ist.
Wenn man daher für das Deutsche Reich als Divergenzkoeffizienten
der Selbstmordziffer etwa 5 festgestellt hat, so wird man wohl erwarten
dürfen, daß z. B. für das Fürstentum Schaumburg-Lippe der analoge
Divergenzkoeffizient sich von 1 wenig unterscheiden wird. Es ist frei-
lich denkbar, daß die Variationen, die die Wahrscheinlichkeit, einen
Selbstmord zu begehen, erfährt, in Schaumburg-Lippe viel größer sind,
als im Deutschen Reiche im ganzen. Dann würde «Q, d. h. der für
Schaumburg-Lippe maßgebende Divergenzkoeffizient, mehr oder weniger
erheblich über 1 hinausgehen. In Wirklichkeit ist das nicht der Fall,
und man erhält bei der Selbstmordziffer für Schaumburg-Lippe eine
nahezu normale Dispersion. Nichts liegt näher, als dieses Resultat auf
den Umstand zurückzuführen, daß die betreffende Beobachtungszahl
(etwas über 40000) im Verhältnis zu der Beobachtungszahl, die dem
Ergebnis Q==5 zugrunde liegt, klein ist, und es macht nichts aus, daß,
absolut genommen, die Einwohnerzahl Schaumburg-Lippes als eine „sehr
große“ Zahl erscheinen mag.
Auch bei meinen Beispielen im „Gesetz der kleinen Zahlen“ sind
die Beobachtungszahlen meist gleich einigen Zehntausend!),. Und
darum soll man nach Gini in jenen Beispielen „sehr hohe“ Divergenz-
koeffizienten erwarten! Gini scheint den wichtigen Umstand übersehen
zu haben, daß für die Frage, ob der Divergenzkoeffizient größer oder
kleiner ausfällt, die Größe der Beobachtungszahlen etwas durchaus
Relatives ist.
mem
anwenden zu können. Siehe
1) Das genügt, um die grundlegende Formel E
Gesetz der kleinen Zahlen, § 6.
220 Miszellen.
Aber noch von einem anderen Standpunkte aus stellt Gini die An-
wendbarkeit der Lexisschen Konstruktion auf die im „Gesetz der kleinen
Zahlen“ untersuchten Fälle in Abrede Hier handle es sich nämlich
um absolute, bei jener Konstruktion aber um relative Zahlen.
Nun stimmt aber der Wert von Q, den man für die absoluten
Zahlen erhält, mit dem Wert von Q, den die entsprechenden Relativ-
zahlen ergeben, überein, wenn die Beobachtungszahlen konstant bleiben.
Also bedarf nur der andere Fall, d. h. der Fall variabler Beobachtungs-
zahlen, näher ins Auge gefaßt zu werden.
Es seien bei einer aus o Gliedern bestehenden Reihe mit x; die
Ereigniszahlen, mit n; die Beobachtungszahlen, mit Ek die ent-
sprechenden Relativzahlen und mit p; die ihnen zugrunde liegenden
Wahrscheinlichkeiten bezeichnet. Man setze außerdem:
Xn;pi
So;
1 1
1 —pi= qi, g= Her = Po E een,
n;—no=a; und p— po = èi.
Bezeichnet man noch mit d, den theoretischen mittleren Fehler
von x; und mit Q, den entsprechenden Divergenzkoeffizienten, so hat man:
ò =E | SE — ac)
und
ò?
e kg: Säi 2
Die durch das Symbol X angedeutete Summierung erstreckt sich
auf alle i-Werte von 1 bis o.
Es ist:
Xi — Do Po = (zi Fame n;Ppi) 4 (nipi = Dopo)
und da
E(x;) = pp
und
El (x; — nipi)? } = gp,
so findet man:
ò = SEH F äs —DoPo)”. (2)
Weiter ist:
IniPiqi = d'De Poqo — Zujei”
und
Z(n;pi —noPo)’ = Inj’ej’ + po Zai’ + 2 po Injaje,.
Daher denn:
EQ?) =1 + IR EH — )e’+ pè 3a;? + 2 Po Sn;a;e; }. (3)
Man ersieht aus letzterer Formel, daß der Divergenzkoeffizient,
auch wo es sich um die absoluten Ereigniszahlen handelt, bei gegebenen
Variationen von p; erwartungsmäßig um so kleiner ausfallen wird, je
kleiner die Beobachtungszahlen sind. Verringert man die Beobachtungs-
zahlen im Verhältnis von œ zu 1, so wird zwischen dem neuen Diver-
genzkoeffizienten „Q, und dem alten Q, (bei einigermaßen großen Werten
Miszellen. 221
von n; die es gestatten, in Formel (3) n; —1 durch n; zu ersetzen) die
Beziehung bestehen:
El) =1 Haf EQ) — 1}. (4)
Ob es sich also um die Dispersion der absoluten Zahlen, d. h. der
Ereigniszahlen x; oder der relativen Zahlen, d. h. der Quotienten yi,
handelt, der Zusammenhang zwischen dem Divergenzkoeffizienten und
der Ausdehnung des Beobachtungsfeldes bleibt ein und derselbe.
Für den Fall, auf den sich mein Gesetz der kleinen Zahlen be-
zieht, braucht man übrigens nicht erst Formel (3) aus (2) abzuleiten,
sondern man hat in (2) qi==1 zu setzen nnd findet in Uebereinstimmung
mit $ 15 des „Gesetzes der kleinen Zahlen“:
ae 1
Re +
woraus der besagte Zusammenhang unmittelbar hervorleuchtet 1).
Soviel über den Ginischen Einwurf, ich hätte etwas, was für die
relativen Zahlan gilt, kritiklos auf die absoluten Zahlen übertragen.
Eine ganz andere Frage ist die, ob die relativen Zahlen oder die
absoluten Zahlen bei gleichen Variationen von p; einen höheren Diver-
genzkoeffizienten liefern. Diese Frage soll jetzt untersucht werden.
Der Divergenzkoeffizient, der sich auf die relativen Zahlen y; be-
zieht und der mit Q, bezeichnet werden soll, berechnet sich am ge-
nauesten nach der Formel):
Zinipi —noPo)”, (5)
Sa;(yi—Po)”- (6)
Man findet leicht:
5) Ki
<pigi + Zniei
E(Q}) = en 7
Care H
Der Ausdruck Zpo: läßt sich in folgender Weise umformen. Man hat:
Piqi = (Po + ei) (qo —ei)
oder
Pidi =Poqo — (Po—qo)e;—e;*?
und
.... ZPigi = tpo qo — (Po — q0) Zo; Ze,
Weiter ist:
1
Se; = Sp; — i Znp,
Ze; = — Za (n—n,)
oder auch, da X(n; EN =o,
XIe; — „(mi — no) (pi — po).
1) Statistische Belege dafür, daß bei kleinen Ereigniszahlen mehr oder weniger
erhebliche Schwankungen der Beobachtungszahlen keinen merklichen Einfluß auf die
Dispersion ausüben, finden sich bei Rudolf Schmidt, Beiträge zum Gesetz der kleinen
Zahlen (Göttinger Dissertation), S. 46—54. München 1900.
2) Vgl. meinen Artikel „Der wahrscheinlichkeitstheoretische Standpunkt im Lebens-
versicherungswesen‘“ in der „Oesterreichischen Revue, Organ für Assekuranz und Volks-
wirtschaft“, 1906, No. 26, Formeln (32) und (33) und Fußnote 19.
2232 Miszellen.
Man erhält also:
Zpig = Poqo + nn Zaje; — Sei’. (8)
Setzt man den Wert von Zpg: aus (8) in (7) ein, so ergibt sich:
E(Q) = 1 + Cfno än — 1)e;? + (Po — qo) Zaiei }. H
Bei p; = const. = De verwandelt sich die eingeklammerte Summe
in o, weil dann e = o.
Aus (3) und (9) findet man:
EQ? — Qj) =C (Xn; — 1) aiei’ p Ia; 2720; — 1) po+1]ae;} (10)
oder auch:
EU — QZ) = C {pè Ja; + Sin — 1) (pi + Po) + 1] aiei}. (11)
Aus letzterer Formel ersieht man, das Q, erwartungsmäßig kleiner
als Q, ausfällt, wenn die Variationen von n; sich zu den Variationen
von p; indifferent verhalten, denn in diesem Fall hat man zu erwarten,
daß der zweite Summand in dem eingeklammerten Ausdruck der
Formel (11) gleich Null ist.
Umso eher wird die Ungleichung Q, <Q, erfüllt sein, wenn die
Größen n; und p; die Tendenz haben, in derselben Richtung von den
maßgebenden Durchschnittswerten no und po abzuweichen.
Nur in dem entgegengesetzten Fall, d. h. wenn zwischen den Varia-
tionen von n; und p; ein antagonistisches Verhältnis besteht, derart, daß
bei n; > n, eine Tendenz zu p; < po und umgekehrt sich bemerkbar
macht, wird man sich auf die Möglichkeit von Q, > Q, gefaßt machen
müssen. Aber ganz verkehrt wäre es, zu glauben, daß, wenn solch ein anta-
gonistisches Verhältnis besteht, für E(Q}) unter allen Umständen ein
größerer Wert als für E(Q?) herauskommt. Es würde vielmehr sich
das Gegenteil, d. h. E(Q,) <E(Qx) zeigen, wenn z. B. n;, relativ ge-
nommen, erheblich stärkere Variationen als p; erfahren würde. Man
kann sich davon in folgender Weise überzeugen.
Damit E(Q2) < E(Q}) sich ergibt, muß laut Formel (11) die Be-
dingung erfüllt sein:
p’ al < — (m — 1) (pi + po) + am,
Wenn man in dieser Ungleichung n; durch n, + a; und p; durch
Po + e; ersetzt, so findet man:
på Zaj? < — 2 nopo J (1 + b;) aje;,
wo
ai 1 e aiei e 1
ee R 2 Po Tian a SS 2 DoPo
Sind die Quotienten S und TA im Verhältnis zu 1 klein und das
o
Produkt nopo im Verhältnis zu 4 hinreichend groß, so darf man unbe-
denklich b; vernachlässigen, und man erhält näherungsweise:
på Xai’ < 2 no po Saje;
1 N? 1 i o
ot oc? o
oder
Miszellen. 223
D H D .
Es wird also im Durchschnitt (5) kleiner als — mg
Do Do Po
oder S dem absoluten Wert nach kleiner als 2 = sein müssen.
o o
Wenn daher umgekehrt die relativen Abweichungen 2. positiv ge-
o
: Dë e
nommen, die positiv genommenen relativen Abweichungen — stets um
o
mehr als das Doppelte übertreffen, dann ist es, trotzdem zwischen den
beiderseitigen Abweichungen ein antagonistisches Verhältnis besteht,
ausgeschlossen, daß sich E(Q}) <E(Qy) herausstellt.
In dem besonderen Fall, wo nipi const. = He Dan hätte man da-
gegen notwendigerweise EZ) < E(Q5). Aus pin; = po no folgt nämlich:
Dap = — Poßi.
Daher:
aj?
a0 = — SH
und folglich :
aje; <0.
Substituiert man in Formel (11) für paa; den Ausdruck — ne, so
ergibt sich:
E(Q— Q) = 0 3 {m — 1) pi +1 — po} aiei. (13)
Also ist in diesem Fall in der Tat Q, erwartungsmälig kleiner
als Q,.
Die vorstehenden Ausführungen über das zu erwartende Verhältnis
zwischen Q, und Q, stehen durchaus im Einklang mit meiner früheren
Behauptung, daß nämlich die Berechnung des Divergenzkoeffizienten
ohne Rücksicht auf die Variationen der Beobachtungszahlen in der
Regel zu größeren Abweichungen von 1 führen müsse, als die An-
wendung einer auf diese Variationen Rücksicht nehmenden Formel. Ich
hatte auch hinzugefügt, daß dem allerdings anders sein könne, wenn
eine Kompensation zwischen den Variationen der Beobachtungszahl auf
der einen Seite und den Variationen der betreffenden Wahrscheinlich-
keit auf der anderen Seite stattfindet 1).
Nach Gini soll dieser Zusatz in einem Widersprueh zu jener Be-
hauptung stehen. In Wirklichkeit ist hier aber der Widerspruch nicht
größer als bei einem beliebigen Fall, wo ein Hauptsatz mit einem Neben-
satz durch die Worte „es sei denn“ („purchè non“) verbunden ist 2).
Gini selbst aber hatte früher®) sich in dem Sinne ausgesprochen,
daß Q, größer als Q, ausfallen müsse, wenn nur, was normalerweise
1) Giornale degli Economisti, Oktober 1908, S. 421.
2) Gini sagt von mir auf S. 663 seines neuesten Artikels: „Egli . . . afferma che,
anche nel caso in cui la probabilità varia, si viene attribuire a Q un valore minore
del reale, non tenendo conto del variare del numero delle osservazioni.“ Das gesperrte
„minore“ statt „maggiore“ ist wohl ein lapsus calami.
3) Giornale degli Economisti, September 1907, 8. 772.
224 Miszellen.
sicher zutreffe, „lľindice di dispersione della frequenza assoluta di nn
größer als 1 ist. Denn man hätte mit diesem „indice di dispersione“
die Größe Q, zu multiplizieren, um Q, zu finden.
Ich lasse es ganz dahingestellt, auf welche Weise der „indice di
dispersione“ von n; bestimmt werden soll. So viel ist jedenfalls gewiß,
daß er schlechterdings nicht davon abhängt, wie sich die Variationen
von n; zu denjenigen von p; verhalten. Dieses Verhalten ist aber für
die Frage, ob Q, oder Q, erwartungsmäßig größer ist, gerade ent-
scheidend. Also scheint Gini damals nicht gewußt zu naben, welche
Momente für das Verhältnis zwischen Q, und Q, ausschlaggebend sind.
Was Gini jetzt zu dieser Frage beibringt, sieht ganz anders aus.
Er hat in seinem neuesten Artikel versucht, den von mir gegebenen
Wink sich zunutze zu machen, dabei aber in unzweckmäßiger Weise
die „Korrelation“ zwischen den Variationen von n; und nicht von p;
sondern von x; ins Auge gefaßt.
Ist aber Gini jetzt von der falschen Meinung, daß Q, normaler-
weise größer als Q, ausfallen müsse, abgekommen und hat er sich zu
der Ansicht bekehrt, daß je nach den besonderen Umständen des einzelnen
Falles sowohl Qy > Q, als Qy < Qx sich ergeben kann, so meint er
trotzdem, daß speziell in den Beispielen meines „Gesetzes der kleinen
Zahlen“ notwendig Qy > Q, zu erwarten sei, weil nämlich diese Bei-
spiele durch Q, = 1 charakterisiert seien.
An der Hand der von mir im vorstehenden gegebenen Formeln
folgt in der Tat aus E(Q2)—=1 die Ungleichung E(Q})>1. Denn
damit E(Q}) == 1 sei, muß, wie aus den Formeln (2) und (3) hervor-
geht, nipi = nopo sein. Man kommt zu diesem Ergebnis, wenn man
in (3) n; an Stelle von n; — 1 schreibt. Für den Fall, auf den sich das
Gesetz der kleinen Zahlen bezieht, erhält man aber ohne weiteres die
Formel (5), aus welcher zu entnehmen ist, daß nipi = nopo, wenn
EQ)=1.
Nun gilt aber bei np = const. = nopo die Formel (13), welche
in der Tat dazu berechtigt, Q,>Q, zu erwarten. Diese Schlußfolgerung ist
zwingend. Ob sie aber, wie Gini will, auch auf die Beispiele des „Ge-
setzes der kleinen Zahlen“ anwendbar ist?
Diese Frage verneine ich ganz entschieden. Denn ich habe nie
und nimmer angenommen, daß es sich in diesen Beispielen um eine
normale Dispersion im strengen Sinne des Wortes handelt, und daß
dementsprechend die Bedingung np = const. wirklich in aller Strenge
erfüllt ist. Ich war mir vielmehr vollkommen dessen bewußt, daß die
Dispersion in jenen Beispielen nur eine annähernd normale ist, und
daß das Produkt n;p; Variationen erfährt, die nur deshalb keinen merk-
lichen Einfluß auf den Divergenzkoeffizienten ausüben, weil die Zahlen
n; relativ klein sind. Hierzu brauche ich nur auf das 3. Kapitel des
„Gesetzes der kleinen Zahlen“ zu verweisen. Es wäre doch das Ver-
kehrteste, was es geben kann, anzunehmen, daß n;p; für kleine Gebiete
konstant bleibt, während es für große Gebiete notorisch variabel ist.
Es ist also auch in den Beispielen des „Gesetzes der kleinen Zahlen“
viel eher zu erwarten, daß Q, kleiner als Q, ausfällt.
Miszellen. 225
Das Beispiel der Kinderselbstmorde ist in dieser Beziehung, wie
ich früher bemerkt hatte, nicht ausschlaggebend, weil die Werte Q,
und Qy, die man da erhält, zu unsicher sind!), Es ist überhaupt
zwischen den Größen E(Q,?) und E(Q,?) auf der einen Seite und den
Größen Qi und Q auf der anderen Seite zu unterscheiden. Man sollte
es nie unterlassen, den Präzisionsgrad des Divergenzkoeffizienten zu be-
rücksichtigen !
Ich habe für das 3. Beispiel des „Gesetzes der kleinen Zahlen“ 2)
(Die tödlichen Unfälle bei 11 Berufsgenossenschaften) die Werte Q, und
Q, berechnet. Die Unterlagen und die Resultate der Berechnung sind
die folgenden.
Tabelle 1 enthält die Zahlen der tödlichen Unfälle (x;), die sich
in den Jahren 1886—1894 in jeder der 11 Berufsgenossenschaften er-
eignet haben, wobei die Berufsgenossenschaften nach den Ordnungs-
nummern, mit denen sie in den statistischen Publikationen versehen
sind, bezeichnet sind.
Tabelle 1.
No, der Berufs-
genomsenschaft | 1886 GE | 1888
1889 | 1890 | 1891 | 1892 | 1893 | 1894
za
HP tri Lei Loi „ww rat HM
-
AUSG nAaA22 OA
rä
Es
nunnana |
Nn AWUN ONON Om
NVU mA N On HAH
NU OAN DO NO pin
wen |w non u oe |
la lan eupuuen
Moona ap pw. pn
Für jede Berufsgenossenschaft ist Q, besonders berechnet worden
und zwar nach der Formel:
A D s)?
0 = e >(s-#), (14)
wo s = Æx; und o = H. Formel (14) geht in
en (15)
= (ø—1)s
über.
Zur Berechnung von Qy sind die Zahlen der in jedem Jahr ver-
sichert gewesenen Arbeiter (n;) mitherangezogen worden. Diese Zahlen
sind in Tabelle 2 enthalten.
1) Giornale degli Economisti, Ottobre 1908, S. 421—422. Vgl. Gesetz der kleinen
Zahlen, S. 20.
2) S. 22—23.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 15
226 Miszellen.,
Tabelle 2.
No. der Berufs-| 1886 | 1887 | 1888 | 1889 | 1890 | 1891
genossenschaft SZ
12 29 7ı1| 31 713/34 422) 38 191| 42389) 42049) 41011] 41 167| 41957
13 42 542| 46 280| 47 812| 55 846| 65 531| 59917) 59653] 64.359 66909
14 14 389| 18 267| 20 192| 22 166| 22680| 23557| 22 267] 22792| 23585
20 35 754 34 139| 37 573| 38 635| 40995| 42 197| 41 197| 42316) 42144
23 38 396| 38 656| 40001 41 636| 423791 42433) 43 169| 45 097| 46496
27 33 692| 35 526| 37 037| 40699] 46927| 43899 43 672| 47 493| 46 266
29 47 971|48 906| 51 541| 55 882| 58494| 60 668| 63 632| 64 124, 73062
40 89 467| 90 375| 90 562| 98 280| 105 486| 109 111| 107 468| 110 642| 116 507
41 82 609| 86 193| 96 180| 99 599| 107 171| 104 748| 106 071| 109 882| 116 617
42 5452| 5648| 5808| 5869| 5752| 5804| 5887| 5919| 5945
55 5177355 792| 58 753| 59 681| 60404| 69 806| 74.075] 80250| 85403
Aus Formel (6), in welcher e durch o—1 ersetzt werden mub,
wenn für po sein Näherungswert Ze: Sn; substituiert wird, erhält man:
tu — s?
? m — 16
Q; Gija’ (16)
x?
wo t = Jn; und u pn
i
Die numerische Auswertung der Formeln (15) und (16) hat ergeben :
Tabelle 3.
nr |o |a | & | o
12 2,168 1,801 1,471 1,342
13 1,076 | 0,891 1,037 | 0,944
14 0,702 | 0,590 | 0,838 | 0,768
20 1,269 1,168 | 1,127 1,081
23 1,116 1,260 1,056 1,123
27 0,588 | 0,548 | 0,767 | 0,740
29 1,590 | 1,222 | 1,261 | 1,105
40 2,288 | 2,078 | 1,518 | 1,441
41 0,951 | 0,620 | 0,975 | 0,788
42 1,049 | 1,046 1,024 1,028
55 0,692 | 0,842 | 0,832 | 0,917
Wie man sieht, ist Q, bei 9 Berufsgenossenschaften aus 11 kleiner
und nur bei 2 (No. 23 und 55) größer als Q, ausgefallen. Im Durch-
schnitt ergibt sich 1,107 für Q, und 1,047 für Q,.
Es sei hier übrigens bemerkt, daß diese Durchschnittswerte be-
rechnet sind nach den Formeln
VAIR? bezw. VIR. ,
Die Formeln A 211. und A ZU, liefern etwas kleinere Werte, näm-
lich 1,082 und 1,025. Dies war zu erwarten, und um diese Werte den
anderen vergleichbar zu machen, müßte man sie nach einer von mi.
Së erhöhen.
1
gegebenen Näherungsformel um Ts oder genauer um
Miszellen. 227
Diese Korrektur stellt sich bei o == 9 auf 0,027. Man hätte also bei
Q: 1,109, statt 1,107 und bei Qy 1,052 (genauer 1,051) statt 1,047 1).
Der mittlere Fehler der Durchschnittswerte von Q, und von Qy
1
berechnet sich nach der Formel es: zu 0,071. Bei Q: übertrifft
also die gefundene Abweichung (0,107) den maßgebenden mittleren
Fehler um etwa 60 Proz., während bei Q, die gefundene Abweichung
(0,047) kaum 70 Proz. des mittleren Fehlers ausmacht.
Interessant ist es auch, die Dispersion der Werte Q% und Q% ins
Auge zu fassen. Man findet
VAQ I)" = 0,588
und
VHS = 0,477.
Der entsprechende theoretische mittlere Fehler berechnet sich nach
der Formel ]/Ż zu 0,471. Die Uebereinstimmung ist also eine fast
6
vollkommene bei Qj, während sie bei Qł zu wünschen übrig läßt.
Man findet noch:
Vılr!(Q,—1)’ = 0,218
und der entsprechende theoretische mittlere Fehler ist l
z = 0286.
Das Ergebnis ist weniger günstig als bei Qf, aber es ist zu be-
denken, daß die Differenz 0,018 kaum 40 Proz. des maßgebenden mitt-
leren Fehlers beträgt. Dieser berechnet sich nämlich nach der Formel
5
24.11.9
Man sieht, wie unberechtigt es von Gini ist, zu behaupten, daß
in meinen Beispielen sich Q,>Q, ergeben müsse. Er sagt ganz all-
gemein (S. 666): „In particolare, se, supponendo costante il numero delle
osservazioni, si ottiene una dispersione normale, è da ritenere, che,
tenendo conto delle sue variazioni, si sarebbe ottenuto un coefficiente
di divergenza più che normale. Queste era appunto il caso negli esempi
del Bortkiewicz. Resta cosi dimostrato teoricamente e confermato em-
piricamente che, se egli avesse tenuto conto del variare del numero
delle osservazioni, avrebbe ottenuto dei coefficienti di dispersione al-
quanto più che normali.“
Dabei hatte Gini mein 4. (letztes) Beispiel, betreffend die durch
Hufschlag getöteten Soldaten, aus einem besonderen Grunde von diesem
Urteil früher ganz ausgeschlossen, und er behauptet jetzt, nachdem ich
zu 0,46.
1) In dem „Gesetz der kleinen Zahlen“ (S. 23 und 28) ist für dieses Beispiel als
durchschnittlicher Divergenzkoeffizient 1,12 angegeben. Nach Ueberprüfung der Rech-
nungen hat sich gezeigt, daß sich da ein Rechenfehler eingeschlichen hat. Die korrekte
Zahl ist 1,10 und stimmt mit der jetzt ermittelten (1,11) auch gut überein. Die Dif-
ferenz 0,01, die auch etwas größer hätte ausfallen können, rührt davon her, daß in dem
„Gesetz der kleinen Zahlen“ eine von der jetzigen etwas abweichende Methode der
Durchschnittsberechnung von Qx benutzt worden ist.
15*
228 Miszellen.
ihn auf die Nichtigkeit dieses Grundes hingewiesen habe, daß auch in
diesem Beispiel Q,> Q, sich zeigen würde, jedoch nicht mit Sicherheit,
sondern nur wahrscheinlich („verisimilmente“).
Schaltet man aber dieses Beispiel aus, so verbleiben drei Beispiele:
1) Kinderselbstmorde in Preußen, und zwar: a) Selbstmorde von Knaben,
b) Selbstmorde von Mädchen und c) Selbstmorde von Kindern beiderlei
Geschlechts; 2) weibliche Selbstmorde in 8 deutschen Staaten und
3) tödliche Verunglückungen bei 11 Berufsgenossenschaften. Die bisher
festgestellten empirischen Resultate sind die folgenden:
Beispiel | Qx Qy
ra 1,12 1,15
ıb 0,88 ?
Ic 0,99 ?
2 1,09!) ?
3 1,10 1,05
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß in dem Beispiel 1a die
Differenz 0,03 gegenüber einem mittleren Fehler von 0,14 gar nicht
ins Gewicht fällt. Für die anderen Beispiele war, als Gini schrieb,
Q nicht berechnet. Jetzt zeigt es sich, daß im 3. Beispiel, entgegen
seiner Behauptung, Q, sich kleiner als Q, stellt, wobei die betreffende
Differenz, wie aus obigen Ausführungen hervorgeht, keine zufällige ist.
Im 2. Beispiel ist eher zu erwarten, daß Q, ebenfalls etwas kleiner
als daß es größer wie Q, ausfällt, weil in Deutschland in der Zeit von
1881 bis 1894 die allgemeine Selbstmordziffer sich kaum merklich ge-
ändert, aber der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Selbstmorde
etwas zugenommen hat. Demnach dürfte sich die weibliche Selbstmord-
ziffer, d. h. das Verhältnis der weiblichen Selbstmorde zu der weiblichen
Bevölkerung, wenn auch unbedeutend, erhöht haben ?).
Soviel über die empirischen Grundlagen der Ginischen These,
wonach in den Beispielen des „Gesetzes der kleinen Zahlen“ Q, not-
wendig größer als Q, ausfallen müsse.
Was die theoretische Begründung dieser These anlangt, so
beruht sie, wie oben bemerkt wurde, auf der ganz willkürlichen und
den Darlegungen des 3. Kapitels des „Gesetzes der kleinen Zahlen“
direkt widersprechenden Annahme, daß in den betreffenden Beispielen
die Ereigniszahlen eine normale Dispersion im strengen Sinne aufweisen.
In Wirklichkeit handelt es sich da um eine sehr schwach ausgesprochene
übernormale Dispersion, und es ist im allgemeinen zu erwarten,
daß die zugehörigen Verhältniszahlen eine noch schwächer ausgesprochene
übernormale Dispersion zeigen, oder, anders ausgedrückt, daß Q, noch
etwas niedriger als Q, ausfällt.
1) Im „Gesetz der kleinen Zahlen“ (S. 28) ist 1,15 angegeben. Der Wert 1,09
ergibt sich, wenn man in diesem Fall dieselbe Methode der Durchschnittsberechnung
anwendet, die in dem Beispiel der tödlichen Unfälle zu Qx = 1,10 geführt hat.
2) Vgl. H.A. Krose, Der Selbstmord im 19. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1906,
S. 61, und Derselbe, Die Ursachen der Selbstmordhäufigkeit, Freiburg i. Br. 1906, S. 22.
Miszellen. 229
Ich sage: im allgemeinen. Damit ist die Möglichkeit zugegeben,
daß gleichsam ausnahmsweise, nämlich, wenn zwischen den Variationen
von n; und denjenigen von p; gewisse kompensatorische Beziehungen
obwalten, das entgegengesetzte Resultat, nämlich Q,>Q, Platz greift.
Aber selbst wenn bei sämtlichen meinen Beispielen im „Gesetz der
kleinen Zahlen“ zufällig gerade dieser Ausnahmefall vorliegen würde,
würde Ginis Kritik doch ihren Zweck verfehlen. Denn Gini will durch
die Ungleichung Qy > Q, erklären, warum sich in jenen Beispielen
so auffallend niedrige Divergenzkoeffizienten ergeben haben. Niedrig
erscheinen sie im Verhältnis zu den Divergenzkoeffizienten, die für die-
selben Erscheinungssphären sonst, d. h. bei Betrachtung ausgedehnter
Gebiete oder großer Gruppen, zur Feststellung gelangen. Ich hatte im
„Gesetz der kleinen Zahlen“ ausdrücklich erwähnt, daß man da als
Werte des Divergenzkoeffizienten leicht 5, 10 und mehr erhält. Dem-
gegenüber ist die Differenz zwischen Q, und Q, in der Regel minimal,
wie dieses auch aus den von Gini selbst mitgeteilten Ergebnissen her-
vorgeht 1). Der Ginische Erklärungsversuch wäre also schon aus diesem
Grunde abzulehnen, selbst wenn, was ja tatsächlich nicht im entferntesten
der Fall ist, in meinen Beispielen sich immer Q,<Q, zeigen würde.
Dazu kommt, daß, sofern ein kompensatorischer Zusammenhang
zwischen den Variationen von n; und denjenigen von p; zu dem Er-
gebnis Q,<Q, führen kann, dies doch von der größeren oder kleineren
Ausdehnung des Beobachtungsfeldes so gut wie unabhängig ist?), während
die zu erklärenden niedrigen Divergenzkoeffizienten Q, gerade nur bei
kleinen Beobachtungszahlen herauskommen.
In dieser Hinsicht ist es von Interesse, für die Beispiele 2, 3 und 4
des „Gesetzes der kleinen Zahlen“ die betreffenden statistischen Gruppen,
also die 8 deutschen Bundesstaaten, die 11 Berufsgenossenschaften und
die 14 Armeekorps zu je einer größeren Gruppe zu vereinigen und die
auf diese Weise summierten Ereigniszahlen auf ihre Dispersion hin zu
untersuchen. Die neuen Divergenzkoeffizienten, die man bei solch einer
ungeteilten Bearbeitung des Materials erhält, seien im Unterschied
1) Vgl. die Tabelle auf S. 665 seines neuesten Aufsatzes. Es ist nicht uninteressant,
daß nach dieser Tabelle sich fast ausnahmslos entweder Qy = Qx oder Qy < Qx ergibt.
Bei „moccio e cimurro“ hat Gini zwar Qx = 1,57 und Qy = 1,67, aber der erste dieser
beiden Werte dürfte auf einem Rechenfehler beruhen. Wenn die Zahlen der 3. und
4. Spalte richtig sind, so ist Qx = 1,65. Eine Differenz von 0,02 kommt bei einem
mittleren Fehler von 0,2 gar nicht in Betracht. Diese gute Uebereinstimmung zwischen
Qı und Qy zeigt, daß Gini vielleicht etwas zu weit geht mit der Behauptung: „Misurare
la regolarità di una serie di rapporti tenendo conto solo delle variazioni del numeratore
è assurdo“ (S. 659). Gewiß drückt Qx etwas anderes aus als Qy, aber in vielen Fällen
dürfte praktisch Qx als angenäherter Wert von Qy angesehen werden. Uebrigens kann
das Ginische „assurdo“ mich in keiner Weise treffen. Denn ich habe zwischen der
Dispersion von Relativzahlen und von absoluten Zahlen immer unterschieden.
2) Aus Formel (11) geht hervor, daß, wenn die Zahlen ni groß und die Produkte
2i(pi+ po) nicht allzu klein sind, die Differenz zwischen Qx? und Qy? erwartungsgemäß
zu- und abnimmt ungefähr in demselben Verhältnis wie die Beobachtungszahlen. Ist
also diese Differenz bei gegebenen Beobachtungszahlen z. B. negativ, so wird sie durch
eine gleichmäßige Vermehrung der Beobachtungszahlen nicht leicht positiv gemacht
werden können.
230 Miszellen.
von den alten, die sich bei geteilter Bearbeitung ergeben, mit Or.
bezeichnet. Man findet:
Beispiel No. Qx | Qx
2 1,09 1,21
3 1,10 1,56
4 1,01 1,84
Das für das 4. Beispiel ermittelte Resultat zeigt übrigens, wie
grundlos die Ginische Behauptung ist, daß hier der Divergenzkoeffizient
(bei geteilter Bearbeitung des Materials) deshalb von 1 kaum abweiche,
weil die Wahrscheinlichkeit, durch Schlag eines Pferdes getötet zu
werden, eine konstant zusammengesetzte sei (S. 667). Verhielte es sich
tatsächlich so, so wäre es unerfindlich, warum sich dieser Umstand
nicht auch bei Zusammenfassung der 14 Armeekorps in derselben Weise
geltend macht.
Die beiden Erklärungen, welche Gini für das von mir konstatierte
eigenartige Verbalten der kleinen Ereigniszahlen zu geben versucht hat
(nämlich die Betrachtung der absoluten, statt der relativen Zahlen, und
die Tatsache, daß die betreffende Wahrscheinlichkeit eine konstant zu-
sammengesetzte sei), erweisen sich also, wie ich dies bereits in meiner
ersten Erwiderung auf Ginis Angriffe bemerkt habe, als absolut un-
haltbar.
Die einzig richtige Erklärung ist die von mir selbst im 3. Kapitel
des „Gesetzes der kleinen Zahlen“ gegebene, und von dem, was ich in
dieser Beziehung, wie überhaupt, in jenem Werkchen ausgeführt habe,
sehe ich mich durch Ginis Kritiken nicht veranlaßt, auch nur ein Wort
zurückzunehmen.
Zum Schluß sei noch auf die Frage der von Gini so lebhaft be-
anstandeten Bezeichnung „Gesetz der kleinen Zahlen“, sofern diese
Frage durch die Bemerkungen in meinem früheren Artikel nicht er-
schöpft ist, kurz eingegangen.
Gini meint, daß man mit gleichem Recht von einer „legge dei
numeri grandissimi“ sprechen könnte, weil nämlich jedesmal, wo für
ein sehr seltenes Ereignis ein von 1 wenig abweichender Divergenz-
koeffizient festgestellt wird, der gleiche Divergenzkoeffizient auch für
das entsprechende fenomeno complementare, das notwendigerweise sehr
häufig ist, gelte (S. 657—658).
Diese Behauptung soll an der Hand eines Beispiels geprüft werden.
Ich fasse die tödlichen Unfälle bei der Berufsgenossenschaft No. 13 ins
Auge. Hier hat man Q, = 1,04 erhalten. Das „komplementäre Phä-
nomen“ besteht hier in der negativen Tatsache, daß der Arbeiter im
Laufe eines Jahres keinen tödlichen Unfall erleidet. Die betreffenden
Ereigniszahlen findet man dadurch, daß man von den Zahlen der
Tabelle 2, die sich auf die Berufsgenossenschaft No. 13 beziehen, die
entsprechenden Zahlen der Tabelle 1 in Abzug bringt. Man erhält:
42536, 46272, 47805, 55841, 65517, 59909, 59644, 64355, 66 901.
Miszellen. 231
Für den in Frage stehenden Divergenzkoeffizienten, den man mit
Qa—x bezeichnen kann, gilt die Formel
1 1
tes
Do a
U Do Del de
wo mit X; die soeben angeführten Ereigniszahlen, mit S ihre Summe,
mit n, die durchschnittliche Beobachtungszahl, d. h. "m, bezeichnet
sind und außerdem q,=8:3n;, po' = 1 — q'o undo=9. Schreibt man
noch s für die Differenz In; — ZX: d. h. für die Gesamtzahl der töd-
lichen Unfälle, so erhält man nähberungsweise (indem man nämlich in
der Formel oi, = 1 setzt):
o 3X; — 8S’
H SE —————
und findet
Qn_x = 3270.
Dieses Resultat, welches typisch ist und zu der obigen Behauptung
Ginis in dem denkbar krassesten Widerspruch steht, erklärt sich sehr
einfach.
Man hat nämlich, wenn man die Bezeichnung p; für die Wahrschein-
lichkeit eines tödlichen Unfalls beibehält, entsprechend der Formel (5):
1
ek Eh a ng Segel, (17)
Unter Anwendung der alten Bezeichnung a; für n—n, und der
neuen Bezeichnung u; für np —n.p., geht Formel (17) in:
EG )=1+
und weiter, mit Benutzung der Formel (5), in:
E(Q-,) =E(Q}) + Zai(a; — 2u;) (18)
Ono De
über.
Bei sehr kleinen Werten von p; sind aber die Abweichungen u in
der Regel verschwindend klein im Verhältnis zu den Abweichungen ao.
Daher muß sich für Q,_, ein viel höherer Wert als für Q, ergeben !).
1) Anders ist es um die Dispersion der Relativzahlen bestellt. Dem Divergenz-
koeffizienten QY würde für das komplementäre Ereignis der Divergenzkoeffizient Q1—y
entsprechen, und da hätte man in der Tat, wie aus Formel (6) zu ersehen ist, Qi—y = Qy.
Aber das Gesetz der kleinen Zahlen stellt eine Norm der Schwankungen eben für die
absoluten Zahlen auf, und Gini selbst spricht von einer „legge dei numeri grandissimi“
gerade in bezug auf die absoluten Ereigniszahlen. Siehe Giornale degli Economisti,
1907, Settembre, S. 767. Uebrigens war es R. Benini, der als erster die „komple-
mentären Erscheinungen“ in Zusammenhang mit dem Gesetz der kleinen Zahlen gebracht
hat, aber nicht um letzteres zu diskreditieren, sondern um das gesetzmäßige Verhalten
der kleinen Ereigniszahlen zu erklären (Principii di statistica metodologica, Torino 1906,
8. 236). Gegen diesen Erklärungsversuch hat mit Recht Ugo Broggi Stellung ge-
nommen (Rote alla statistica metodologica del Prof. Benini“ im Giornale degli Econo-
misti, Serie 2*. Vol. XXXIV, [1907], S. 243—246).
232 Miszellen.
Die Ginische „legge dei numeri grandissimi“ ist also ein schlechter
Witz, nicht mehr!
Bei allen in vorstehendem berührten Punkten stehen die Erwar-
tungen, die Gini in bezug auf das Verhalten der statistischen Zahlen
bildet, immer im Widerspruch mit den Tatsachen.
So meint Gini, daß in den Beispielen des „Gesetzes der kleinen
Zahlen“ eigentlich hohe Divergenzkoeffizienten zu erwarten waren, weil
die Beobachtungszahlen sehr groß seien. Das Gegenteil ist der Fall:
man erhält auffallend niedrige Divergenzkoeffizienten.
So meint Gini weiter, daß für dieselben Beispiele die Divergenz-
koeffizienten notwendig höher ausfallen würden, wenn man, statt der
absoluten, die relativen Zahlen ins Auge faßte. Die Tatsachen lehren,
daß es sich in der Regel umgekehrt verhält.
Im dem Beispiel der durch Hufschlag getöteten Soldaten erklärt
Gini den niedrigen Divergenzkoeffizienten dadurch, daß die betreffende
Wahrscheinlichkeit eine konstant-zusammengesetzte sei; er muß also er-
warten, daß der Divergenzkoeffizient bei Zusammenfassung aller Armee-
korps zu einem ganzen ebenso niedrig ausfallen wird. In Wirklichkeit
führt die Zusammenfassung dazu, den Divergenzkoeffizienten nicht un-
wesentlich zu erhöhen.
Gini formuliert schließlich die ganz bestimmte Erwartung, daß,
wenn für irgendwelche selten vorkommende Ereignisse ein von 1 wenig
abweichender Divergenzkoeffizient festgestellt worden ist, dies auch für
die Zahlen, welche sich auf das komplementäre Ereignis beziehen, zu-
treffen wird. In Wirklichkeit ergeben sich da Divergenzkoeffizienten,
die um ein vielfaches höher sind.
Eine Wissenschaft von solcher Beschaffenheit kann vor dem Forum
des Positivismus mit seiner Losung „savoir c’est prévoir“ jedenfalls
nicht bestehen.
Vor längerer Zeit hat Achille Loria zu dem Gesetz der kleinen
Zahlen Stellung genommen!). Ohne wie Gini die von mir zutage ge-
förderte Tatsache zu leugnen, daß sich bei kleinen Ereigniszahlen im
allgemeinen eine ausnehmend gute Annäherung an die normale Dispersion
zeigt, meint Loria, ich hätte diese Tatsache nicht richtig zu erklären
verstanden. Er argumentiert in folgender Weise.
In dem bekannten Aufsatz von Lexis über die Theorie der Stabilität
statistischer Reihen ?) sei der Nachweis erbracht worden, daß durch
Einschränkung des Beobachtungsfeldes, auf welches sich die betreffenden
statistischen Zahlen beziehen, eine Annäherung an die normale Dis-
persion erzielt werden könne. Dies hänge damit zusammen, daß in
relativ engen Grenzen des Raumes und der Zeit die physische Schwankungs-
1) „Intorno ad alcune opinioni del Bortkiewicz in materia di statistica teoretica‘',
im Giornale degli Economisti, Serie 2*, Vol. XX (1900), 8. 81—86. Abgedruckt in
„Verso la giustizia sociale“, Milano 1904.
2) Diese Jahrbücher, Jahrg. 1879. Abgedruckt in den Abhandlungen zur Theorie
der Bevölkerungs- und Moralstatistik, Jena 1903, S. 170—212.
Miszellen. 233
komponente verschwindend klein ist („la variazione fisica & in tal caso
quasi nulla“).
Ich aber soll nach Loria in meinem „Gesetz der kleinen Zahlen“
einen ganz anders gearteten Fall der Betrachtung unterzogen haben,
nämlich den Fall, wo es sich nicht um häufig vorkommende Ereignisse
handelt, die in verhältnismälig enge Raum- und Zeitgrenzen eingeschlossen
sind, sondern um seltene Ereignisse, die ohne räumliche und zeitliche
Beschränkung beobachtet werden („fenomeni rari, osservati senza limiti
di spazio e di tempo“). Wenn nun auch in diesem Fall eine nahezu
normale Dispersion herauskommt, so hätte ich dies darauf zurückzuführen
versucht, daß auch hier die physische Schwankungskomponente nach
Null tendiere.
In Wirklichkeit aber, meint Loria, sei gerade bei den von mir
untersuchten seltenen Ereignissen die physische Schwankungskomponente
relativ hoch („più forte“). Gleichzeitig sei jedoch die normal-zufällige
Schwankungskomponente „außerordentlich hoch“ und die Folge davon
müsse eine annähernd normale Dispersion sein. Das sei durchaus be-
greiflich, wenn auch nicht auf der Grundlage meiner Ausführungen.
In Lorias Raisonnement fordert schon der Ausgangspunkt die
Kritik heraus. Lexis ist weit davon entfernt gewesen, anzunehmen,
daß durch Einschränkung des Beobachtungsfeldes die physische
Schwankungskomponente irgendeine Reduktion erfährt. Seine Meinung
geht vielmehr dahin, daß diese Komponente grundsätzlich als unab-
hängig von der Größe des Beobachtungsfeldes gedacht werden muß,
aber daß sie, je kleiner die Beobachtungszahlen sind, um so eher ver-
deckt bleibt). Es ist auch gar nicht einzusehen, weshalb man im
allgemeinen bei kleineren Gebieten kleinere Werte der physischen
Schwankungskomponente als bei großen erwarten sollte. Was aber die
zeitliche Ausdehnung der Beobachtung anlangt, so wird wohl einer
kürzeren Beobachtungsperiode in der Regel eine kleinere physische
Schwankungskomponente entsprechen. Indessen kommt eine Verschieden-
heit in der Länge der Beobachtungsperioden für die maßgebenden
Lexisschen Beispiele gar nicht in Betracht. So stellte Lexis z. B. bei
dem Geschlechtsverhältnis der Geborenen in der Periode 1859—1871
ganz England den Divergenzkoeffizienten 1,625 und für die
einzelnen Grafschaften im Durchschnitt den Divergenzkoeffizienten 0,961
fest?2). Beide Male hat es sich um 13 einjährige Zeitabschnitte ge-
handelt! Benutzt man aber gelegentlich, um die Beobachtungszahlen zu
reduzieren, statt der Jahresergebnisse die Monatsergebnisse, so wird
auf diese Weise zwar die Beobachtungsperiode (bei einer gegebenen
Zahl der Glieder einer statistischen Reihe) verkürzt, aber dafür kommen
die Einflüsse der Jahreszeiten zur Geltung, wodurch die physische
Schwankungskomponente in die Höhe getrieben wird.
Ebensowenig wie Lexis in jenem von Loria herangezogenen Artikel,
habe ich in bezug auf die Beispiele des „Gesetzes der kleinen Zahlen“
1) Abhandlungen, S. 189—190.
2) Ebendaselbst, S. 156 und 189.
234 Miszellen.
mit der Annahme einer verschwindend kleinen physischen Schwankungs-
komponente operiert. Ich sage da auf S. 37: „Durch Verwendung
kleiner und kleinster Ereigniszahlen ist es möglich geworden, den
relativen Fehlerexzedenten bezw. die Wirkung der Veränderungen der
Wabrscheinlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren und auf diese
Weise eine nahezu normale Dispersion herbeizuführen.“ Es ist hier
ausdrücklich von dem relativen und nicht von dem absoluten
Fehlerexzedenten die Rede, welch letzterer mit der Lexisschen physischen
Schwankungskomponente identisch ist. Die Kleinheit des relativen
Fehlerexzedenten, die sich bei Verwendung kleiner Ereigniszablen er-
gibt, rührt aber davon her, daß er der Quadratwurzel aus der maß-
gebenden Beobachtungszahl proportional ist!) Die Beobachtungszahlen,
die den Beispielen des „Gesetzes der kleinen Zahlen“ zugrunde liegen,
sind zwar an sich groß, aber sie sind klein, relativ genommen, d. h.
im Vergleich zu den Beobachtungszahlen bei den Reihen, welche durch
eine stark übernormale Dispersion charakterisiert sind ?).
Indem mich Loria sagen läßt, daß der bei den Reihen kleiner Er-
eigniszahlen sich zeigende annähernd normale Charakter der Dispersion
aus der Kleinheit der physischen Schwankungskomponente oder, was
dasselbe ist, des absoluten Fehlerexzedenten entspringe, setzt er sich
also mit unzweideutigen Aeußerungen von mir, die sich im „Gesetz der
kleinen Zahlen“ finden, in direkten Widerspruch. Und wenn Loria
seinerseits eine hohe physische Schwankungskomponente und eine außer-
ordentlich hohe normal-zufällige Schwankungskomponente als bezeichnend
für die Reihen kleiner Ereigniszahlen hinstellt, so möchte man ihn
fragen, an welchem Maßstab er diese beiden Größen beurteilt wissen will.
Vergleicht man nämlich eine Reihe kleiner Ereigniszahlen mit einer
Reihe von Ereigniszahlen, denen dieselben Wahrscheinlichkeiten, aber
z. B. 100mal größere Beobachtungszahlen entsprechen, so wird man
finden, daß bei der ersten Reihe die für die Ereigniszahlen maßgebende
normal-zufällige Schwankungskomponente 1Omal kleiner und die für die
Ereigniszahlen maßgebende physische Schwankungskomponente 100mal
kleiner als bei der zweiten Reihe ausfällt. Da sieht man also, daß für
die Ereigniszahlen — und im „Gesetz der kleinen Zahlen“ habe ich
gerade die Ereigniszahlen auf ihre Schwankungen hin untersucht —
das Umgekehrte von dem gilt, was Loria in bezug auf die Größe der
beiden Komponenten behauptet. Würde man hingegen die Relativzahlen
ins Auge fassen, so ergäbe die erste Reihe im Vergleich zu der zweiten
eine 1Omal größere normal-zufällige und die gleiche physische Schwan-
kungskomponente, so daß auch hier Lorias Behauptungen nur sehr
teilweise zutreffen würden.
Möglicherweise hat aber Loria, als er von einer hohen physischen
und einer außerordentlich hohen normal-zufälligen Schwankungskom-
ponente bei kleinen Ereigniszahlen sprach, einen Vergleich mit dem
Fall im Auge gehabt, wo die Ereigniszahlen nicht wegen größerer Be-
1) Gesetz der kleinen Zahlen, S. 31.
2) Vgl. die kritischen Ausführungen gegen Gini im Anfang dieses Artikels.
Miszellen. 235
obachtungszahlen, sondern infolge größerer Wahrscheinlichkeiten (p;)
des Einzelereignisses relativ groß sind. Es läßt sich indessen in keiner
Weise begründen, daß bei gegebenen Beobachtungszahlen die beiden
Komponenten mit abnehmenden Werten von p; zunehmen sollten, und
zwar die normal-zufällige in stärkerem Maße als die physische. Erstere
wird im Gegenteil, sofern po kleiner als !/, ist, mit abnehmendem po
selbst sinken!), und von letzterer gilt unter bestimmten Bedingungen,
die meist erfüllt sein dürften, dasselbe ?).
Es ist überhaupt von Loria wenig angebracht gewesen, zwischen
dem Fall „mäßiger Grundzahlen“, den Lexis in seiner Abhandlung über
die Theorie der Stabilität statistischer Reihen erörtert, und dem Fall,
auf den sich mein „Gesetz der kleinen Zahlen“ bezieht, einen prinzipiellen
Gegensatz zu konstruieren und dort von häufig vorkommenden, aber in
enge Grenzen des Raumes und der Zeit eingeschlossenen, hier von
seltenen, aber ohne räumliche und zeitliche Einschränkung sich der
Beobachtung darbietenden Ereignissen zu sprechen. Ein Gegensatz
dieser Art besteht nicht. Was nämlich die Erfüllung des Kriteriums
normaler Dispersion, d. h. eine geringe Abweichung des Divergenz-
koeffizienten von der Einheit, anbelangt, so bringt der Uebergang von
nicht sehr großen Ereigniszahlen, mit denen Lexis operiert, zu den
kleinen und kleinsten Ereigniszahlen, die bei mir auftreten, nichts
wesentlich Neues mit sich. Nur sofern dieser Uebergang dazu führt,
> tera
daß die Formel RO N Pa
halten der kleinen Ereigniszahlen in die Erscheinung, welches ich als
Gesetz der kleinen Zahlen bezeichnet habe). Jener Formel liegt die
Voraussetzung eines kleinen po zugrunde. Damit ist aber nicht gesagt,
daß die Fälle, in denen p, entsprechend klein ist, durch die Lexissche
Theorie der Stabilität statistischer Reihen nicht gedeckt würden. So-
fern sich in solchen Fällen ein von 1 wenig abweichender Divergenz-
koeffizient ergibt, erklärt sich dies, Lorias Ausführungen zum Trotz,
genau in der nämlichen Weise wie in den Fällen, die Lexis selbst
untersucht hat.
anwendbar wird, tritt jenes eigenartige Ver-
Aehnlich wie Loria hat sich Ernst Blaschke gegen die von
mir vorgeschlagene Interpretation der im „Gesetz der kleinen Zahlen“
mitgeteilten Ergebnisse ausgesprochen 2).
Diese Ergebnisse, meint er, „charakterisieren zahlenmäßig eine
1) Vgl. Ugo Broggi, „Di un problema fondamentale di statistica investigatrice‘“
im Giornale degli Economisti, Serie 2°, Vol. 28, 1904, S. 405—406.
2) Die Frage, ob mit abnehmendem po der Divergenzkoeffizient der Einheit näher
gebracht wird behandle ich im Giornale degli Economisti, Oktober 1908, S. 423—424.
Dort sind übrigens die Worte „in egual misura“ (S. 424, 2. Zeile von oben) zu streichen.
3) Ueber die Gründe, die diese Bezeichnung meiner Meinung nach rechtfertigen,
siehe Giornale degli Economisti, Oktober 1908, S. 425—426.
4) Monatshefte für Mathematik und Physik, herausg. von G. v. Escherich und
L. Gegenbauer, Jahrg. IX, Wien 1898, S. 39—41.
236 Miszellen.
ganze Klasse von statistischen Erscheinungen“ und „sind auch im all-
gemeinen für den gegenwärtigen Stand der Forschung in der Theorie
der Statistik von Bedeutung“, aber meine Auffassung, „daß die kleinen
Ereigniszahlen die Ursache für die normale Dispersion in jenen Er-
scheinungen seien“, könne „nicht ganz unwidersprochen“ bleiben. Die
wahre Ursache der in diesem Fall zutage tretenden annähernd nor-
malen Dispersion ist nach Blaschke in der gegenseitigen Unabhän-
gigkeit der betreffenden Einzelerscheinungen zu suchen. Diese Unab-
hängigkeit werde bei kleinen Ereigniszahlen aus dem Grunde relativ
häufig beobachtet, weil bei ihnen „das die Unabhängigkeit oft störende
Moment der Gleichzeitigkeit nahezu eliminiert wird“.
Mit „Gleichzeitigkeit“ kann Blaschke nichts anderes gemeint
haben als jene Modalität der Wirkung zufälliger Ursachen, die ich im
„Gesetz der kleinen Zahlen“!) als „akute Solidarität der Einzelfälle“
bezeichnet habe. Aber gerade wenn durch letztere der übernormale
Charakter der Dispersion herbeigeführt wird, ist es, wie ich a. a. O.
dargelegt habe, ausgeschlossen, daß die Größe des Beobachtungsfeldes
irgendwelchen Einfluß auf die Höhe des Divergenzkoeffizienten ausübt.
Also hat die „Gleichzeitigkeit“ mit der Frage des verschiedenen Ver-
haltens der großen und der kleinen Ereigniszahlen nichts zu tun.
Wenn Blaschke alsdann noch darauf hinweist, daß bei sehr
kleinen Wahrscheinlichkeiten p; des Einzelereignisses das Lexissche
Kriterium der Dispersion „alle Brauchbarkeit verliert“, weil unter dieser
Bedingung die normal-zufällige Schwankungskomponente zu Größen
erster, die physische Schwankungskomponente aber zu Größen zweiter
Ordnung der Kleinheit gehört und demnach der Divergenzkoeffizient
sich notwendig auf 1 stellt ?), so scheint er hierbei übersehen zu haben,
daß (soweit es sich um die Relativzahlen handelt) die normal-zufällige
Schwankungskomponente der Quadratwurzel aus der maßgebenden Be-
obachtungszahl umgekehrt proportional ist, während die physische
Schwankungskomponente von der maßgebenden Beobachtungszahl (so gut
wie) unabhängig ist. Mögen daher die Wahrscheinlichkeiten p; und
ihre Schwankungen noch so klein sein, es wird sich immer eine (hin-
reichend große) Beobachtungszahl angeben lassen, bei welcher die normal-
zufällige Schwankungskomponente unter einen beliebig kleinen Wert
herabsinkt und dementsprechend der Divergenzkoeffizient beliebig über
1 hinausgeht.
Nach dem Vorstehenden glaube ich auch Blaschke gegenüber
an der von mir gegebenen Deutung des Gesetzes der kleinen Zahlen
festhalten zu müssen.
1) S. 46—47.
2) Vorlesungen über mathematische Statistik, Leipzig und Berlin 1906, S. 148
—149.
Miszellen. 237
VII.
Die französischen Kreditinstitute und die französischen
und englischen Kapitalanlagen im Ausland,
Von Ferd. Moos, Paris.
Die Auswanderung des französischen Kapitals, mit welchem Namen
man die umfangreiche Anlage der französischen Kapitalien in auslän-
dischen Werten und in den Operationen der ausländischen Banken be-
legt hat, steht seit geraumer Zeit im Vordergrunde der wirtschafts-
politischen und selbst der politischen Erörterungen.
Der Präsident des Ministerconseils, M. Briand, hat in seiner viel-
besprochenen politischen Programmrede in Perigueux darauf hingedeutet:
„Das Gold unseres Landes fließt wie ein Sprühregen über die ganze
Welt, und wenn man eine Beunruhigung oder ein Bedauern äußern soll,
so wäre es die Sorge, daß nicht genug in unserem eigenen Lande bliebe.“
In der Kammer hat der Deputierte für Arles, M. Henri Michel,
am 30. November 1909 diese Worte angeführt und hinzugefügt: „In
der Zeit von 1892 bis 1907 hat Frankreich der Welt 16 Milliarden frcs.
geliehen . . . Während das Gold Frankreichs sich über die ganze Welt
ergießt, vegetieren bei uns Handel, Industrie und Landwirtschaft und
erlahmen im Marasmus.“
Die Rede Michels füllt 11 Spalten im „Journal officiel“. Der
Präsident der Parlamentskommission für Handel und Industrie, M. Codet,
gibt dem Gedanken Ausdruck, daß „der Abfluß des Goldes in das Aus-
land verhindert werden müsse; die ihn betreiben, sind die großen Kredit-
institute, welche das Geld an sich reißen; man muß dagegen Maßregeln
ergreifen, ein Gesetz erlassen“.
Diese Bewegung ist nicht neuen Datums; die Kammerverhand-
lungen im Januar 1907, die Artikel des „Monde Economique“, an dessen
Spitze der Deputierte M. Paul Beauregard steht, in den Jahren 1906
und 1907, und zahlreiche andere Revuen und Zeitungen haben sie vor-
bereitet. Die Polemik zwischen Lysis, welcher die Kreditinstitute wegen
ihrer Politik angreift, und Testis, welcher sie verteidigt, stellen vielleicht
die ersten Etappen dar (Lysis: L’oligarchie financière, und Testis:
Les établissements de crédit; beide: Paris 1907). Heute beschäftigt
das Thema die politischen und die Regierungskreise, und es ist nicht
ausgeschlossen, daß, wenn auch nicht gerade in der allernächsten Zeit,
die Bewegung weitere Wellen zieht. Vielleicht wäre es schon ge-
238 Miszellen.
schehen, wenn nicht der größere Teil der Publizistik sich auf der Seite
der Kreditinstitute hielte und wenn nicht die besondere Art der An-
gelegenheit die Verwendung bei der Wahlpolitik erschwerte.
Unter den bedeutendsten publizistischen Gegnern des Abflusses
des Kapitals in das Ausland befindet sich M. Jules Domergue, der
Leiter der Zeitschrift „Reforme Economique“ und einer der eifrigsten
Mitarbeiter am Zolltarif des Jahres 1892.
Eine anschauliche Darstellung der Kontroverse, soweit sie sich auf
die Kreditinstitute bezieht, findet sich in dem Vortrag, den M. A. Ney-
marck im vorigen Jahre vor der „Société d’&conomie politique“ über
das Thema „Die Kreditgesellschaften und die Konzentration der Kapi-
talien“ gehalten hat. Als Anwalt der freien Bewegung der Kapitalien,
die Anlage erklärend und begründend, erscheint M. Yves Guyot, der
vor kurzem, als Nachfolger des allverehrten M. de Molinari, der wegen
Alters zurückgetreten ist, zum Leiter des „Journal des Economistes“
ersehen worden ist.
Die Kontroverse entwickelt sich crescendo in der Publizistik und
in den politischen Kreisen. Sie hat bis jetzt, wenn man von den heftigen
Angriffen der Sozialisten in der Kammer im Januar 1907, die sich
hauptsächlich gegen die Anlagen in russischen Anleihen richteten, ab-
sieht, den Charakter eines je nach dem Standpunkte verschieden aus-
fallenden Bildes von Tatsachen und Zahlen nicht verlassen.
Die umfangreiche und systematische Anlage der Kapitalien im
Ausland, unter teilweise prinzipieller und motivierter Nichtberücksich-
tigung der heimischen Gewerbe, wie sie als bekanntestes Beispiel der
vor 4 Jahren verstorbene Leiter des „Crédit Lyonnais“, M. Henri
Germain in seinen Geschäftsberichten und in der Kammer darbot, hat
in die Diskussion historische Parallelen getragen. Unter den bekanntesten
Beispielen, die hierbei angeführt werden, treten Portugal, Spanien und
die Niederlande hervor.
Henri Martin in seiner „Histoire de France“ (Bd. 14 und 15) be-
richtet darüber, ohne Quellen anzugeben:
Portugal hat allein aus Brasilien in den Jahren 1696 bis 1754
Gold im Werte von 2400 Mill. fres. bezogen. Das damals gewerbearme
Land ließ die Kapitelen nach dem gewerbfleißigen England fließen,
welches damit bei sich Gewerbe und Handel entwickelte. Portugal
besaß im Jahre 1754 nur 25 Mill. fres. Metallgeld.
Spanien gab seine aus den Kolonien fließenden Edelmetallschätze
zuerst an die Niederlande, dann an England ab. Beide Länder be-
fruchteten damit ihre Gewerbe und ihren Handel.
Die Entwicklung der Niederlande hatte zur Mitte des 18. Jahr-
hunderts ihren Höhepunkt überschritten; sie gingen ihrerseits dazu über,
ihre Kapitalien im Ausland anzulegen. Im Jahre 1747 betrugen die
in England angelegten holländischen Kapitalien die damals enorme
Summe von 1600 Mill. Gulden, die zur Belebung von Englands Gewerbe
und Handel beitrugen.
Uebrigens liegt eine Verminderung des französischen Goldbestandes
nicht vor und wird auch nicht behauptet.
Miszellen. 239
Die These der Gegner des Kapitalexodus lautet: Der Exodus ent-
zieht dem gewerblichen Leben des Landes zuviel Kapital. Zugleich
begünstigt er das industriereiche Ausland.
Daß keine Abnahme des Goldbestandes vorliegt, ergibt sich aus
den Zahlen des Goldbestandes der Bank von Frankreich:
am 29. Dezember 1906 2671,9 Mill. fres.
o, BI j 1907 26761 „ »
„ 31. » 1908 34892 „» »
n 9. » 1909 3563,6 » DI
Es liegt eine fortgesetzte Steigerung vor, welche seit dem Jahre
1906 rund 1 Milliarde beträgt. Der Verkehr im Lande ist mit Gold
gesättigt.
Unter den Ländern, nach welchen sich der Abfluß der französischen
Kapitalien vollzieht, hält es schwer, ein Land herauszufinden, welches
unverhältnismäßigen Anteil hätte. Rußland, die Türkei, die Balkan-
staaten, Oesterreich-Ungarn, die Vereinigten Staaten, England, Spanien,
Italien und die anderen Länder, von Afrika und dem fernen Asien ab-
sehend, sind alle beteiligt; der Ministerpräsident Briand hatte ganz
recht, als er in Perigueux von einem Goldsprühregen sprach, der sich
über die ganze Welt ergießt. Allein in jedem einzelnen Fall liegt die
Ursache in der zutreffenden Berechnung der französischen Kapitalisten
und Bankiers, daß diese Anlagen Quellen großer Gewinne sind.
In fast allen dem Kapitalexodus feindlichen Erörterungen wird be-
hauptet, ein großer Teil des abfließenden französischen Goldes diene zur
Alimentation der deutschen Industrie sowie der sonstigen Unternehmungen
der deutschen Banken.
Diese Argumentation spielt jedoch in der ganzen Erörterung nur
eine beiläufige Rolle; sie ist hineingetragen, um der These eine leb-
haftere Färbung zu geben. Man muß allerdings nach den vorliegenden
Anzeichen und nach Mitteilungen, welche auch in den Kreisen der
deutschen Privatbankiers zirkulieren, annehmen, daß die seitens der
französischen Kreditinstitute zu Zeiten den deutschen Banken zur Ver-
fügung gestellten Mittel sehr bedeutend sind, allein sie begründen sich
schon im allgemeinen durch den höheren Zinsstand in Deutschland und
außerdem ist die Gesamtsumme kaum ins Gewicht fallend gegenüber
dem Gesamtexodus der französischen Kapitalien.
Der Goldbestand der Bank von Frankreich ist wirksam geschützt
durch die Zahlungspraxis der französischen Kreditinstitute, welche soviel
als möglich Goldbewegungen vermeiden.
Sie leisten ihre Zahlungen zu 90 vom Hundert durch Anweisungen
auf die Bank von Frankreich. Unter den übrigen 10 vom Hundert
kommt Metallgeld nur zu 1 vom Hundert in Betracht.
Was die Zahlungen der Bank von Frankreich angeht, so sagt der
Bericht ihres Gouverneurs vom 30. Januar 1909: der Anteil des Metall-
geldes an den Gesamtzahlungen betrug nur 20296 frcs. für jede Million;
also ungefähr 2 vom Hundert.
Da angesichts der Klagen über die Kapitalienauswanderung der
Goldbestand unerschüttert bleibt, so suchen die Beschwerden ihr Haupt-
240 Miszellen.
gewicht in den Kreditoperationen der Kreditinstitute mit ihren aus-
ländischen Korrespondenten und stützen sich bei diesen Argumentationen
auf den Umstand, daß das Metallgeld nur die Unterlage der Geschäfte
bildet; im weiteren Fortgang der Argumentation ausführend, daß, wenn
man diese Kreditoperationen den heimischen Gewerben zuwende, anstatt
dem Ausland, die gewerbliche Lage Frankreichs, anstatt die des Aus-
landes, den Vorteil davon habe.
Diese Begründung führt in das innere Getriebe der Kreditinstitute
ein. Danach käme es bei der Kontroverse nicht so sehr auf die Gold-
bewegungen de facto an, als vielmehr auf die Verwendung der den
Kreditinstituten, auf der Grundlage des Goldbestandes, zustehenden
Kreditmittel.
In der „Information“ (Dezember 1909) wird ausgeführt:
„Von der Goldproduktion, auf 69 Milliarden fres. berechnet, sind,
in Barren und Münzen, an 37 Milliarden frcs. an die Kreditinstitute
gelangt. — Nun belaufen sich aber die täglichen Umsätze allein in den
Vereinigten Staaten und England in den Clearing houses:
Ver. Staaten auf 800 Mill. fres. täglich,
England » 50 o nm ”
Dazu die Erfordernisse in Deutschland, Frankreich und den anderen
Ländern.“
Diese Argumentation ergänzt M. Yves Guyot (Journal des Econo-
mistes, November 1909) mit dem Hinweis auf die Handelsbilanz der
Vereinigten Staaten im Jahre 1908:
Güter Gold
Ausfuhr 15 660 Mill. $ Ausfuhr 576 Mill. $
Einfuhr 10200 „ $ Einfuhr 898 „ $
Ueberschuß der Ausfuhr 5460 Mill. $ Ueberschuß der Einfuhr 322 Mill. $
In Francs berechnet ergibt sich ein Ueberschuß der Güter-
ausfuhr von 28 Milliarden fres., welcher ein Ueberschuß der
Goldeinfuhr von nicht ganz 18/, Milliarde frcs. gegenüberstand; an
6 vom Hundert des Ueberschusses der Güterausfuhr.
Die Differenz entfällt auf die Bewegungen in der Zahlungs-
bilanz, die Guthaben und Anlagen in Europa, die Bewegungen ameri-
kanischer Werte zwischen Europa und Amerika, die Arbitrage, Zins-
verrechnungen usw.
Diese Darstellungen sollen beweisen, daß die Kapitalbewegungen
zwischen den verschiedenen Ländern sich nicht an dem Goldbestand
der Banken abmessen lassen.
Ueber die französischen Kapitalanlagen im Ausland bestehen ver-
schiedene, voneinander abweichende Schätzungen: M. Manchez (Revue
finangiere, Le Temps, 2. Januar 1910) gibt die französischen Kapitalien
im Ausland auf rund 35 Milliarden fres. an.
Ueber die Tendenzen, welche bei den Anlagen der Kapitalien in
Frankreich obwalten, gibt M. Max Dutray (Le Journal, Dezember 1910)
einige Mitteilungen.
Im Jahre 1908 betrug die Anzahl der Erbschaften 355 937; ihr
Gesamtbetrag 7 Milliarden 426 Mill. frcs, wovon nach Abzug der
Miszellen. 241
Passiva und der Steuern 5 Milliarden 350 Mill. fres. bleiben. Die
obigen 7426 Mill. frcs. verteilen sich auf:
größtenteils mobile Werte verschiedener Art 4090 Mill. frcs.
Grundeigentum in Stadt und Land 3336 „ e
j 7426 Mill. fres.
Die in Grundeigentum angelegten Kapitalien stehen also um 22
vom Hundert hinter den mobilen Werten zurück.
Bekanntlich sinkt der Bodenwert auf dem Lande in Frankreich
beständig und in bedeutendem Umfang, selbst in der Nähe größerer
Städte.
Die Grundeigentumwerte zeigen die folgende Verteilung:
in den Städten 1816 Mill. fres.
auf dem Lande 1520 » n
3336 Mill. fres.
Die Wertanlage in Grundeigentum in den Städten überstieg die
auf dem Lande um 300 Mill. frcs.
Unter den zu Anfang erwähnten Werten verschiedener Art in
Höhe von 4090 Mill. fres. nehmen die mobilen Werte den größten
Teil in Anspruch: mit 2 Milliarden 313 Mill. fres.
Sonst greift die folgende Verteilung Platz:
Bargeld 85 Mill. fres.
Lebensversicherungen Ai u »
Bankdepositen IS » n»
Sparkassebücher 3 u»
Privatrenten A
Forderungen SEI SR
Geschäftskapitalien 125 „ nm
Mobiliarwerte 340 » DI
Die obigen 2 Milliarden 313 Mill. frcs. verteilen sich auf:
Französische Werte.
Staatsrenten und andere Werte des Schatzamts 400 Mill. fres.
Aktien 486 „u »
Obligationen 626 „p »
Interessenanteile und Beteiligungen 101 ,„ D
1613 Mill. fres. `
Ausländische Werte.
Renten und andere Staatspapiere 342 Mill. fres.
Aktien 157» DI
, Obligationen 150 + „ dë
Interessenanteile und Beteiligungen . Lg >
700 Mill. fres.
Danach betrugen die Anlagen in französischen Werten
10; Proz. der Gesamtsumme, während die Anlagen in ausländischen
Werten 30 Proz. darstellen.
Gegenüber den Zahlen des Jahres 1898 liegt eine Abnahme der
französischen Anlagen und eine Zunahme der aus-
ländischen Anlagen vor.
1898 betrug die Anlage in französischen Werten 78 Proz.
in ausländischen Werten 22 ,
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 16
242 Miszellen,
Diese Abnahme der französischen Anlagen wird zum Teil mit einer
Abnahme des französischen (zur Kapitalanlage geeigneten) Materials
erklärt:
1898 betrugen die französischen Staatsrenten
und die anderen französischen Staatswerte 492 Mill. fres.
1908 betrugen dieselben 400
Also eine Verminderung um 92 Mill. fres. oder 18 Proz.
Die ausländischen Staatsrenten betrugen:
1898 187 Mill. fres.
1908 342 „ ü
Also eine Zunahme um 155 Mill fres. oder 29 Proz.
Ebenso ist die Zunahme der französischen Aktien, Obligationen,
Interessenanteile und Beteiligungen geringer als die Zunahme der
ausländischen Werte dieser Kategorie.
In dieser Kategorie nahmen zu:
1898—1908 französische Werte um 65 Mill. fres, oder 5 Proz.
dto. ausländische Werte um 104 „ , a 28 A
Die Ursache findet M. Dutray (Le Journal, Dezember 1909) darin,
daß die Masse der Kapitalien, welche sich in den Händen der unter
Staatsaufsicht und Staatsverwaltung stehenden Institute und Kassen
ansammeln, beständig wächst.
In den letzten 10 Jahren sind rund 21. Milliarden frcs. den
Privatinstituten entzogen worden und in die Kassen der staatlichen
Institute geflossen.
Die Ursache dieser Abnahme liegt zum Teil in den Erschütterungen
des Vertrauens, welche die Streiks, die weitgehenden sozialistischen
Forderungen, Steuerprogramme, die Politik im allgemeinen bewirkt und
welche den Unternehmungsgeist gelähmt haben.
Ihren Platz in den Kassen der privaten Institute haben aus-
ländische Werte eingenommen, deren zuströmende Masse beständig
wächst. Der Umstand, daß die ausländischen Werte mit hohen Zahlen
in den Erbschaftserklärungen figurieren, beweist, daß die Anlagen in
ausländischen Werten nicht erfolgen, um diese Kapitalien der Steuer
zu entziehen.
Zurzeit hält diese Tendenz an. Die Einwanderung ausländischer
Werte in Frankreich soll, wenn es nach dem Willen der Kreditinstitute
geht, noch erleichtert werden. Begründet wird dieser Wunsch mit der
Angabe, daß es auf dem Markt an französischem Material fehle, welches
zu Anlagen geeignet sei. Die Pariser Börse sehe ihre Entwicklung da-
durch gehemmt und geschädigt; die Operationen an der Börse gingen
zurück. Zum Teil ist diese Motivierung zutreffend. Jedoch steht der
Rückgang der Pariser Börse im Zusammenhang mit der Herabsetzung
der Courtagen, im Einverständnis zwischen den agents de change und
den Kreditinstituten, wodurch viele der tätigsten Remisiers veranlaßt
wurden, die Ausführung ihrer Geschäfte von Paris fort und nach London,
Brüssel und anderen Plätzen zu verlegen, wo die Courtagen höher sind.
Ohne Zweifel spielt hierbei der Einfluß der großen Institute mit; auch
die agents de change beugen sich vor denselben. Sodann aber wird
Miszellen. 243
der Einfluß der Weltpolitik eine Rolle spielen. Paris ist nicht mehr
wie ehemals der Brennpunkt aller Kombinationen. — Auch ist es klar,
daß die langsame Entwicklung der französischen Gewerbe dem Markt
kein ausreichendes Anlagematerial schaffen kann; um so weniger als
die Geschäftsprinzipien der Kreditinstitute sich der Förderung indu-
strieller Geschäfte widersetzen.
M. A. Neymarck („Le Rentier“) schätzt den französischen Besitz
an ausländischen Werten im Jahre 1908 auf 25—30 Milliarden fres.
Der Gesamtbetrag der an der Pariser Börse amtlich notierten
Werte ist 130 Milliarden fres. Darunter sind
164 Milliarden frcs. französischer Werte
66 e „ ausländischer Werte.
Die Differenz zwischen den obigen Schätzungen und den an der
Börse amtlich notierten Werten entfällt auf das flottante Material, den
Besitz der Kreditinstitute usw.
In dem Bild, welches das heutige Frankreich darbietet, tritt ein
Zug hervor, welcher es von der gewerbreichen Periode Colberts ebenso
wie von der Spekulationsperiode unter der Regentschaft scheidet; die
Kapitalien fließen nicht, wie zu Colberts Zeiten, in Gewerbe, Handel
und andere Bahnen der Arbeit, auch nicht, wie zur Zeit von Law, in
Spekulationen, sondern die Kapitalien suchen die Ruhe und, damit ver-
bunden, die Sicherheit auf. Die Masse des französischen Kapitals dient
zurzeit nicht dem Aufschwung des Landes, sondern sucht seine Mission
im Ausland. Natürlich werfen die Anlagen hohe Zinsen ab und diese
tragen zur Erhöhung des Nationalwohlstandes erheblich bei. Da aber
auch diese neugebildeten Kapitalien wieder ins Ausland wandern, so
hat die gewerbliche Entwicklung Frankreichs davon nicht viel Impulse
zu erwarten.
Der diesen Tendenzen zugrunde liegende Zug hat sich zu allen
Zeiten gezeigt. Die Rente hat stets eine wichtige und entscheidende
Rolle gespielt. Unter dem ancien régime schreibt der Minister Choiseul
an den französischen Gesandten in Madrid: „Die Zinsreduktion der
Rente würde eine Revolution bringen“ (Flassan: „Histoire de la diplo-
matie“). Die Revolution hat vor der Rente Halt gemacht. Man denke
auch an den Widerstand, welchen unter der Restauration der Plan des
Finanzministers de Villele zur Zinsherabsetzung der Rente gerade in
den Kreisen der wohlhabenden Bourgeoisie fand. Diese Maßregel, wäre
sie zustande gekommen, hätte so bedeutende Kapitalien flüssig gemacht,
daß der bald folgende Krach in den Eisenbahnunternehmungen ver-
mieden worden wäre. Das Interesse der Rentiers behielt jedoch, auf
die Politik gestützt, das Wort.
Die heutige Entwicklung stellt die Interessen der Rentiers den
anderen Rücksichten voran. Ob sie anhalten wird, ist eine offene
Frage, deren Beantwortung hier nicht versucht werden soll, da es sich
im Rahmen dieser Arbeit lediglich um objektive Darstellung der Tat-
sachen und Zahlen handelt. Es ist jedoch klar, daß die Einwanderung
ausländischer Werte, die Auswanderung der Kapitalien einerseits und
andererseits der soeben (Dezember 1909) von der Kammer beschlossene
16*
244 Miszellen.
hohe Schutzzoll und die Steuer auf ausländische Arbeiter Gegensätze
darstellen, welche auf die Dauer sich nicht nebeneinander bewegen
können.
Die hohe gewerbliche Bedeutung, welche Frankreich in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts einnahm, beruht in der Hauptsache
auf der Pflege von Gewerbe und Handel, welche, auf dem Unterbau der
Vergangenheit, unter der Restauration und in der folgenden Zeit vor
sich gegangen. Die gewerbliche Entwicklung in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts vollzog sich auf nationalem Boden; die damals sich ent-
wickelnden und neu auftretenden Kreditinstitute sorgten natürlich für
möglichst hohe Verzinsung, allein sie strebten dieselbe nicht so sehr
in Renten als in der Förderung des Gewerbslebens an. (Auch die
Finanzpolitik der Staaten hatte damals gesundere Prinzipien und vor
allem eine gesundere Praxis als heute. Ihre heute so tief in die
Kapitalienbewegung und in die Praxis der Bankiers eingreifende Wir-
kung trat damals kaum hervor.)
In jener Periode gesunder Entwicklung ragt vor allem der Name
Jacques Laffitte hervor, als Förderer von Gewerbe und Handel. Die
Kapitalien flossen der Gewerbstätigkeit zu. Große Kapitalien wurden
im Eisenbahnbau angelegt. In der ganzen Zeit von 1823—1839 waren
auf den Bau von Eisenbahnen nur 100 Mill. fres. verwendet worden
(A. Courtois: „Histoire de la Banque de France“). In dem einzigen
Jahr 1846 schätzte man den Betrag der den französischen Eisenbahn-
bauten zugeflossenen Kapitalien auf 700 Mill. fres. Alle im französischen
Eisenbahnbau angelegten Kapitalien wurden im Jahre 1846 mit
2 Milliarden frcs. angegeben.
Die Tätigkeit der französischen Unternehmer ging damals über
die Landesgrenzen hinaus und viele der in den Nachbarstaaten damals
gebauten Bahnen sind von französischem Kapital und französischen In-
genieuren gebaut.
Gleichzeitig vollzog sich die Entwicklung der Kreditinstitute, ob-
gleich der Schwerpunkt des Geld- und Kredit-Verkehrs in den Bankiers-
firmen hlieb, deren Gesamtheit man als die „haute banque“ bezeichnet.
Von diesen Bankiersfirmen, welche unter dem zweiten Kaiserreich die
höchste Bedeutung erreichten, und deren Ruhm es bleibt, dem Land
eine große Anzahl ausgezeichneter Finanziers, Minister und um das
Gemeinwohl hochverdienter Bürger gegeben zu haben, bestehen zurzeit
noch folgende Firmen in Paris:
De Rothschild frères; Vernes et Cie; Hottinguer et Cie; Heine et
Cie; Mallet freres et Cie; Marcnard et Cie; de Neuflize et Cie; De-
mache et Seillöre; Mirabaud Puerari et Cie; Stern et Cie; Claude La-
fontaine, Martinet et Cie; Lehideux et Cie.
In Lyon: Aynard et fils: Vve. Guérin et fils; Vve. Morin Pons et
Cie; Saint Olive Chambefort et Cie; de Riaz Andra et Cie.
In Marseille: Bonnase Couve et Cie; Mathieu et Martin, Felix
Abram et Cie.
In Bordeaux: Samazeuilh et fils; Gomez Vaez et fils.
Miszellen. 245
In Lille: Verley Decroix et Cie; Henry Devilder et Cie; Jean Joire,
Scallert.
In Boulogne: Adam et Cie.
Die Aufzählung ist damit nicht erschöpft; die meisten dieser Firmen
behaupten ihren alten Geschäftskreis und sind wichtige und unentbehr-
che Stützen von Gewerbe und Handel, vielfach in bedeutenderem
Sinne als die Kreditinstitute. Das Haus Rothschild stand 1889—1891
noch an der Spitze der russischen Finanzgeschäfte.
Die Herabsetzung des Geldzinses, der Kommissionen usw. sind die
Hauptursachen, weshalb die Bankiers sich von der Ausdehnung der
Geschäfte fernhalten. Das Risiko hält sie von der Beteiligung an den
großen ausländischen Anleiheoperationen fern. Die Kreditinstitute mit
ihren hohen Depositengeldern nehmen dabei den ersten Platz ein.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die großen Kreditinstitute, welche
wir hier, außer der Bank von Frankreich und dem Credit foncier, in
alphabetischer Ordnung anführen.
Jahr der Kapital
Errichtung Millionen
Banque d’Algerie 1851 20 fres.
» J. Allard et Cie. 1901 12 „
» Commerciale et Industrielle 1880 Ks
» Commerciale Italienne 1894 86 „
» de Bordeaux (Scoula, de Trincaud
La Tour et Cie.) 1899 TE 5
Banque de l’Indo-Chine 1875 24 »
„ de Paris et des Pays Bas 1876 62'/, fres.
» de Tunisie 1884 8 fres.
„ Espagnole de Crédit 1902 20 „
» Française pour le Commerce et
Y’Industrie 1901 60 „
Banque Hypothécaire d’Espagne 1873 50 „
„ Impériale Ottomane, konstituiert
bis zum Jahre 1925 1863 250 „
Oesterreichische Länderbank 1880 80 Kronen
Banque de Nationale d’Haiti 1881 10 fres.
„ du Mexique 1882 26 Piaster
» de l’Union Parisienne 1904 40 fres.
» Busse pour le Commerce Etranger 1871 54 »
» Russo Chinoise 1895 İN e
» Suisse et Française 1894 10 ,„
» Transatlantique 1881 20 „
Compagnie Algerienne 1877 25, wé
Compagnies Frangaises des Mines d’Or de
l’Afrique du Sud 1895 26 „
Compagnie Générale pour l’Industrie en
France et A l’Etranger 1896 4,8 fres.
Comptoir Nationale d’Escompte de Paris 1889 150 fres,
Credit Algerien 1881 Br
» du Nord 1866 20- 4
Se Foneier Colonial 1860 ER
D D Egyptien 1880 200 n
D „ et Agricole d’Alg£rie 1880 30 „
D » France Canadien 1881 26%
» Lyonnais 1863 250 „
» Mobilier Français 1902 45 »
Henry Devilder et Cie in Lille 1892 25 »
246 Miszellen.
Jahr der Kapital
Errichtung Millionen
Société Anonyme de le Rue Impériale de Lyon 1854 ı1!/, fres.
„ Commerciale Française du Chili 1893 NEE
» Financière d’Orient 1896 5 fres.
» Foncière Lyonnaise 1879 50 „
» Française de Reports et Dépôts 1881 (Gi fros.
» Générale 1864 250 fres.
Se > Alsacienne de Banque 1881 ES a
SG Ab de Credit Industriel et Com-
merciale 1859 80 „
Oesterreichische Boden-Kredit-Anstalt 1863 60 „
Société Immobilière d’Algerie 1899 E Ze
se e Marseillaise 1878 36'/, fros.
» Lyonnaise de Dépôts, de Comptes
Courants et de Crédit Industriel 1865 30 fres.
Société Marseillaise de Crédit Industriel
et Commercial et de Dépóts 1865 30 „
Société Torlades 1897 LK:
Banque du Nord et du Pas de Calais 1888 20 p
„ de Consignation 1880 Bi
Jene unter den in Vorstehendem genannten Institute, deren Name
den vorwiegend ausländischen Charakter ihrer Geschäfte anzeigt, haben
ihren Hauptsitz in der Hauptstadt des betreffenden Landes.
Unter den großen französischen Instituten machen die Banque de
Paris et des Pays Bas, die Banque de l’Union Parisienne, die Banque
Ottomane keine Börsengeschäfte, sondern wenden sich vorwiegend der
Emissionstätigkeit zu. Von den anderen besitzen die größten ein aus-
gezeichnetes Netz von Filialen im Inland und Ausland.
Credit Lyonnais: Außer in Frankreich in allen Städten Algiers,
London, Brüssel, Genf, Madrid, Barcelona, San Sebastian, Sevilla, Va-
lencia, Lissabon, Oporto, New York, St. Petersburg, Moskau, Odessa,
Konstantinopel, Smyrna, Jaffa, Jerusalem, Alexandrien, Kairo, Port Said.
Comptoir National: Filialen in London, San Sebastian, Brüssel,
Antwerpen, Straßburg, Kolmar, Metz, Mülhausen i. E., Saargemünd,
Schlettstadt, Diedenhofen, Frankfurt a. M., Mainz, Luxemburg, Lausanne,
St. Petersburg, Moskau, Kasan, Charkow, Minsk, Baku, Orel, Riga,
Rostow am Don, Woronesch und anderen Städten in Rußland.
Credit Industriel: Filialen in London, Brüssel, Genf.
Die meisten der großen Institute sind, wie namentlich die Banque
de l’Indo-Chine, vertreten in: Saigun, Pnom, Penh, Haiphong,
Hanoi, Turau, Bangkok, Battanbang, Pondichdry, Singapore, Hongkong,
Shanghai, Hankow, Tientsin, Kanton, Peking, Numea, Papete.
In einem Teil der Publizistik hat man diesen Instituten vorgehalten,
sie täten nicht viel für die Ausbreitung des französischen Handels in
ihrem ausländischen Betrieb, allein diese Behauptung hat entschiedenen
Widerspruch gefunden.
Die Entwicklung der Kreditinstitute fällt unter das zweite Kaiser-
reich, welches in den sechziger Jahren dem Unternehmergeist bedeutende
Förderung erwies. Die „haute banque“ sah damals ihre Glanzzeit,
Miszellen. 247
während andererseits die Kreditinstitute ihre Schwingen stärkten. Ein
langsamer Umschwung begann in den siebziger Jahren.
Der Beginn desselben war von den Thiersschen Anleiheoperationen
und deren Wirkungen beherrscht, welche, bei allen Schattenseiten, die
damalige einflußreiche Stellung der französischen Finanz zum Ausdruck
brachten. Von den Thiersschen Operationen ist viel Rühmens gemacht
worden; im Ausland noch mehr als in Frankreich, da sie der kosmo-
politischen Finanz große Gewinne brachten, und zum Teil die Grundlage
der heutigen kosmopolitischen Solidarität der Bankinteressen schufen.
Wenn nicht die Grundlage, so doch das Beispiel. In Wirklichkeit ist an
diesen Thiersschen Operationen viel Kritik zu üben. Ihr unmittelbarer
Erfolg, den Unterschied der Verhältnisse in Betracht gezogen, war nicht
bedeutender als jener der ähnlichen Anleiheoperationen unter der Re-
stauration. Die Thiersschen Anleihen waren jedoch viel teurer als not-
wendig und haben den Staat für die Zukunft schwer belastet. Ihre
eingehende Darstellung würde ein besonderes, aber interessantes Ka-
pitel erfordern.
Einen neuen Aufschwung nahm die Entwicklung der Kredit-
institute um das Jahre 1882.
Unter den damaligen Begleiterscheinungen begegnet man dem
schnellen und nachteiligen Rückgang der kleinen Industrien, welche zu
dem Wohlstand des Landes ungemein viel beigetragen haben.
M. Leon Barety bemerkt in seiner Schrift über die Entwicklung
der Lokalbanken (Annales politiques, März 1909), daß z. B. in den
Departements der Basses Alpes die Tuchindustrie verschwunden und
die Seidenzucht aufgehört hat; im Departement Gard nahm die Teppich-
industrie bedeutend ab und zugleich beginnt die Landbevölkerung in
die Städte zu wandern.
Solche Erscheinungen zeigten sich allgemein. Sie sind von Einfluß
auf die Brachlegung vieler der im Land angelegten und in der
heimischen Industrie arbeitenden Kapitalien. Dieselben ziehen sich
zunächst zurück und fließen dann in schnell wachsendem Maß den
großen Kreditinstituten in Paris zu, welche durch diese Kapital-
ansammlung in den Stand gesetzt werden, auf Herabsetzung der Zins-
sätze, der Provisionen usw. hinzuwirken und in der Folge das Geschäft
zu monopolisieren beginnen.
Während also einerseits die durch die bekannte Rede Gambettas
in Grenoble, wenn nicht eingeleitete, so doch manifestierte neue politische
Entwicklung, die Klasse der Lohnarbeiter in den sozialpolitischen und
politischen Vordergrund rief, hat fast gleichzeitig der Rückgang, um
nicht zu sagen der Verfall des kleinen und mittleren Gewerbestandes,
die einseitige Säule des Wohlstandes Frankreichs, begonnen.
Hier liegt die Wurzel der heute so erregt behandelten Frage nach
den Ursachen und Wirkungen der Auswanderung der Kapitalien. Sie
ist zu finden in der Stockung des Mittel- und Kleingewerbes und in
der trotz allem beschränkten Entwicklung der Großindustrie, über
deren Mängel, an der Seite großer Vorzüge, keiner so hart geurteilt
als Henri Germain, welcher, als Leiter des Credit Lyonnais, zu
248 Miszellen.
Anfang der Großindustrie viel Geld zur Verfügung gestellt hat, aber,
anläßlich der Krise seiner Gesellschaft, das entgegengesetzte System
annahm, das seitdem für die französischen Kreditinstitute maßgebend
geworden ist; das neue System gewährt der Entwicklung der Industrie
nur geringe Unterstützung.
Unter den Ursachen des Kapitalabflusses ins Ausland steht der im
Ausland höhere Zinsfuß mit an erster Stelle. Die Beobachtung, daß ein
hoher Zinsfuß das Merkzeichen der Blüte von Gewerbe und Handel
in dem betreffenden Lande sind, zeigt sich hier wieder. In Deutsch-
land ist Geld teuer. In Frankreich, wo zwar nicht von einer Nieder-
lage, jedenfalls aber von einer sehr langsamen und den Kräften des
Landes keineswegs entsprechenden Entwicklung die Rede ist, zeigt sich
billiger Geldstand.
Der durchschnittliche Diskont bei der Bank von Frankreich, dem
wir (zur Vergleichung) den durchschnittlichen Diskont der Reichsbank
hinzusetzen, betrug:
Bank von Deutsche Bank von Deutsche
Frankreich Reichsbank Frankreich Reichsbank
Proz. Proz. Proz. Proz.
1876 3,40 4,16 1892 2,70 3,20
1877 2,28 4,42 1893 2,50 4,07
1878 2,18 4,34 1894 2,50 4,12
1879 2,58 3,70 1895 2,10 3,14
1880 2,81 4,24 1896 2,— 3,66
1881 3,84 4,42 1897 2,— 3,81
1882 3,80 4,54 1898 2,20 4,27
1883 3,08 4,05 1899 3,06 4,58
1884 3,— 4— 1900 3,28 5,33
1885 3,— „412 1901 3,— 4,10
1886 3,— 3,28 1902 3,— 3,32
1887 3,— 2,41 1903 3,— 3,84
1888 3,10 3,32 1904 3,— 4,22
1889 3,16 3,67 1905 3,— 3,82
1890 3,— 4,52 1906 3,— 5,15
1891 3,— 3,80 1907 3,47 6,08
Mit der steigenden Entwicklung trat an die großen Institute die
Aufgabe zur Konzentration heran; nicht nur die Errichtung der Filialen
nahm ihr Interesse in Anspruch, sondern es trat die Absorbierung,
durch Aufnahme in den Organismus der großen Institute, der Banken
und Bankiersfirmen in den Provinzen ein. An der Spitze dieser Kon-
zentration stand das Comptoir National d’Escompte, das von 1893 an
6 Bankiersfirmen, über das ganze Land verteilt, in sich aufnahm. Ihm
war der Credit Lyonnais im Jahre 1890 mit der Aufnahme der Firma
Lafargue et Cie. in Bordeaux vorangegangen.
Das Seitenstück zu der schnell ansteigenden Entwicklung der
großen Institute bildet die Stockung in den Bewegungen der kleinen
Banken, was übrigens der ganzen Sachlage, dem Rückgang des Mittel-
standes, entspricht.
Der Immobilienkredit auf dem Land und in den kleineren Städten
lag in den Händen der banques populaires (Volksbanken), die den
Miszellen. 249
landwirtschaftlichen Kredit pflegten. Die Entwicklung derselben zeigt
keinen Aufschwung. Es gab deren im Jahre 1905:
4 in den Seealpen, 2 in den Bouches du Rhöne, 1 in der Charente,
2 in der Haute Garonne, 1 im Gers, 1 im Departement der Loire, 1
in der Haute Loire, 2 in der Loire Inferieure, 1 im Morbihan, 3 im
Nord, 1 in den Hautes Pyrénées, 2 im Departement du Rhône, 1 in
Algier, zusammen 22.
Von großer Bedeutung ist die Frage der Lokalbanken. Sie
beherrscht, an der Seite der Frage nach der Auswanderung der
Kapitalien, zurzeit die Diskussion.
M. Paul Beauregard gab im Jahre 1892 die Anzahl der lokalen
Bankfirmen auf rund 800 an; er schätzte ihr Gesamtkapital auf
1200 Mill. frcs.
Den Lokalbanken kommt der Umstand zu statten, daß in einigen
größeren Städten ein bedeutender Verkehr in lokalen Werten, statt-
findet, welche nur in der betreffenden Stadt, an der dortigen Börse,
gehandelt werden (nicht in Paris). Diese lokalen Werte (valeurs propres)
betragen im Jahre 1904 in:
Lyon 753 Mill. fres. nominal (al pari)
Lille 320 nm nm UI ba n )
Marseille 209 ,„ D D (» » )
Bordeaux 44 » nm nm » n»n
Nantes 128. 3 vi d Dé, wai)
Toulouse 24 „ » D Cea)
1475 Mill. frcs. nominal (al pari)
Die bedeutendsten Lokalbanken sind ungefähr 16 an der Zahl, die
meisten haben ein Bureau in Paris.
Bei dem breiten Raum, welche die Lokalbanken zurzeit in der
Erörterung einnehmen und ihrer wachsenden Bedeutung, sind einige
Worte darüber geboten. Die wichtigsten unter ihnen sind :
Credit du Nord 7 Dividende im Jahre 1906 7 Proz.
Société Marseillaise 1906 7 D
Comptoir des Ardennes 1906 7,65 „
Société Nanceienne 1906 10 ER
Société Lyonnaise 1906 7,65 „
Banque Privée 1906 5 Se
Banque de Bordeaux: 1906 5,50 „
Comptoir d’Escompte de Nancy 1906 5,50 „
Credit Havrais 1906 6 y
Caisse de Credit de Nice 1906. 16. ee
Banque de Nancy 1906 5 S
Comptoir d’Escompte, Fougères 1906 7 <
Banque Renauld, Nancy 1906 6t; „
Comptoir d’Escompte de la Sarthe 1905 8 p
Caisse Lecuyer 1905 4 Pr
Banque de Barcelonette 1905 4 „
Auch die Lokalbanken nehmen Teil an den Konzentrations-
bestrebungen und haben ihrerseits eine große Anzahl ehemals be-
deutender selbständiger Banken und Firmen in sich aufgenommen. An
250 Miszellen.
der Spitze dieser Bewegung steht anscheinend die Société Nancéienne
de Crédit Industriel et de Dépôts. Sodann die Banque de Meurthe et
Moselle und die Banque de Bordeaux, jede davon in ihrem Rayon.
Auch die Straßburger Bank und die sehr tätige Gesellschaft,
Comptoir d'Escompte de Mulhouse, die ihren Sitz in Mülhausen im
Elsaß hat, erfordern in dieser Aufzählung einen Platz. Das Comptoir
d'Escompte hat 1907 die Firma Parisot et Cie in Plombieres in sich
aufgenommen und Filialen errichtet in: Bains, Val d’Ajol, Xertigny,
Saint Loup, ferner 1907 in Remiremont, Havre, Belfort, Besançon,
Kolmar, Troyes, Saint Die.
Ein unter Umständen wertvolles Privileg steht der Caisse de Credit
de Nice zur Seite; sie hat, aus den Zeiten vor der Annexion Nizzas,
das Privileg vor allen französischen Banken, zur Errichtung von Filialen
in Italien. Ihre Sukkursale in Genua ist großer Entwicklung fähig.
Vom Elsaß aus arbeitet auch die Mülbäuser Bank mit Erfolg in
Frankreich, namentlich in Epinal und Belfort.
Bedeutende Filialarbeit entfalten Banque Privé de Lyon, das
Haus Arnaud Guidau et Cie in Nîmes, Banque du Nord, und, sehr be-
deutend, die Société Marseillaise. In den Ostdepartements entwickelt
die Banque Renauld in Nancy große und erfolgreiche Tätigkeit. Der
Mineralreichtum des dortigen Bodens begünstigt die Ausdehnung der
Industrie und ebenso die kleineren Gewerbe In früheren Jahren
wollten die Banken im Süden und Westen Frankreichs die ihnen von
den Banken im Osten angebotenen Industriewerte nicht annehmen, was
eine der Ursachen der bis dahin langsamen Entwicklung der gewerb-
lichen Tätigkeit im Osten war. Das hat sich jedoch geändert, und der
Süden sieht seine Kundschaft mehr und mehr, wenn auch noch nicht
in genügendem Umfang, Interesse für ostfranzösische industrielle Werte
fassen. Ein Beweis, daß die Politik der Banken großen Einfluß auf
den Gang der Gewerbe übt.
Im Süden und Westen haben die Lokalbanken bis vor kurzem
noch an den Gewohnheiten der alten Zeit festgehalten. Ihre Geschäfts-
räume befanden sich oft in Seitenstraßen und zeigten vernachlässigte
Fassaden und mehr als bescheidene innere Einrichtungen. Das hat sich
jedoch, unter dem Einfluß der wiedererwachten gemeinsamen Aktion
der Lokalbanken, gebessert und in vielen Städten entstehen neue Bank-
gebäude.
Von den oben aufgezühlten Banken haben viele ihr Gesellschafts-
kapital in den letzten Jahren erhöht; die Société Nanceienne hat 1908
das ihrige von 30 auf 60 Mill. Troes, die Société Marseillaise das ihrige
30 auf 50 Mill. fres. erhöht. Aehnlich verfuhren die meisten anderen.
Die großen Pariser Kreditinstitute haben lange Zeit an dem Grund-
satz festgehalten, die Lokalbanken in den Schatten zu stellen und sie
an den Gewinnen der großen Anleihegeschäfte nur indirekt teilnehmen
zu lassen. Dieser Standpunkt kann jedoch nicht mehr aufrecht erhalten
werden; teils weil die ausländischen Anlagen einen zu großen Umfang
annehmen und eine Verteilung der Risiken verlangen, zum anderen
Teil, weil die Lokalbanken erstarkt sind, sich organisiert haben und
Miszellen. 251
ihre Gleichberechtigung verlangen. Dieses Verlangen haben sie heute
durchgesetzt und voraussichtlich werden sie in Zukunft noch an Be-
deutung wachsen.
Vor einigen Jahren haben die Lokalbanken eine Vereinigung unter
der Firma „Société Centrale du Syndicat des Banques de Province“
mit dem Sitz in Paris geschaffen. Das Präsidium führt der angesehene
Bankier M. Achille Adam. Dieser mächtigen, keiner anderen Kom-
bination nachstehenden Vereinigung gehören 278 angesehene Banken
und Bankiersfirmen an, deren Gesamtkapital mehr als eine Milliarde
Francs darstellt. Das Programm lautet: Beschaffung und Prüfung vor-
teilhafter Geschäfte, Berichterstattung darüber an die Mitglieder, Er-
leichterung des Geschäfts in Fonds und Effekten. — Seitdem machen
die anderen Kreditinstitute die großen Anleihegeschäfte nicht mehr
allein. Die Beteiligung der Lokalbanken daran ist diesen gesichert.
Die Propaganda für Zusammenschluß der lokalen Banken wird fort-
gesetzt; Jahreskongresse der beteiligten Banken und Bankiers haben
stattgefunden in Bordeaux, Nancy, Marseille, Royat, Nancy.
Der Schwerpunkt der Erfolge der großen Institute liegt auf dem
Gebiete der Emissionen, wobei die großen Mittel, welche die Ansamm-
lung der Depositen ihnen beschaffen, freies Schalten und Walten er-
möglichen.
Am 30. Juni 1907 betrugen die Depositen, kurzfälligen und Konto-
korrentguthaben bei den folgenden Kreditinstituten:
Credit Lyonnais I 824 000 000 fres.
Société Generale 436 000 000 „,
Comptoir National d’Escompte 1031 000000 ,
Credit Industriel 228 000000 ,„
Von diesen Kapitalien fließt nur ein Teil — wir haben im Vor-
hergegangenen die Zahlen und die Proportionen mitgeteilt — in fran-
zösische Anlagen. Die industrielle Tätigkeit Frankreichs schafft nicht
genügend Anlagewerte und im allgemeinen gibt es in Frankreich nicht
genug heimische Werte, welche eine Rentabilität von 4—5 Proz. dar-
stellen.
Die Lokalbanken nehmen ihrerseits der Industrie gegenüber die-
selbe Stellung ein, wie die Pariser Kreditinstitute; sie geben derselben
nur mäßige Unterstützung. Alle diese Kreise stehen auf dem Stand-
punkte, daß es nicht Sache der Kreditinstitute sei, die Industrie mit
Kapitalien zu dotieren. Die französische Industrie nimmt in der Tat
den Bankkredit nicht in derselben Art und nicht in demselben Umfang
in Anspruch, wie das anderswo der Fall ist. Sie pflegt sich entweder
einzuschränken und langsam aufzubauen oder sich durch Ausgabe von
Obligationen Geld zu verschaffen.
Abgesehen von alledem bleibt die Tatsache bestehen, daß die großen
Kreditinstitute sich eine Art von Monopol geschaffen haben, ohne daß
sie auf die gewerblichen Interessen des Landes eine dem Umfang ihrer
Mittel entsprechende Rücksicht nehmen.
Die darüber an manchen Stellen bestehende Mißstimmung ist in
252 Miszellen.
scharfer und polemischer Form zum Ausdruck gelangt in einer Broschüre,
welche unter dem Titel; „L’oligarchie financière“ von Lysis im Jahre
1907 erschien. Die Organisation der Institute wurde darin als ein
Ring geschildert, in den selbst so einflußreiche Männer wie der frühere
Minister Rouvier und M. Villars nur mit Mühe Zutritt gefunden hätten.
Das Filialnetz der Institute erdrücke alles; dem Publikum würden die
Kapitalien durch die Agenten der Banken, die eigene Besuchsagenten
(commis voyageurs) unterhalten, entzogen und die Depositen usw. den
Instituten zugeführt; die Chefs der Filialen würden nach ihren Erfolgen
besoldet. Die Art der Vermögensverwaltung bei ihnen ersticke im
Publikum jede Lust zu eigenem Nachdenken und jede Selbständigkeit
des Urteils. Die Depositen wachsen gewaltig an, wie die folgende
Aufstellung zeige:
Depositen bei den folgenden Instituten: Credit Lyonnais, Comptoir
National; Société Generale, Credit Industriel et Commercial:
1885 912 Mill. fres. 1900 2171 Mill. frcs.
1890 1302 , a 1905 2897 ,„ i
1895 I5II „ de
Innerhalb 20 Jahren eine Zunahme der Depositen um 2 Milliarden fres.
Die Bilanzen zeigen rapide Steigerung:
Credit Lyonnais 1895 1239 Mill. fres.
1908 2163 nm n
Société Générale 1895 59I » D
1908 1253 „ DI
Comptoir National 1895 535 nm n
1908 I5SII ,„ D
Die Veröffentlichung der Bilanzen sei undurchsichtig und unvoll-
kommen.
Um Verwaltungsrat zu werden, genüge der Besitz beim:
Credit Lyonnais von 300 Aktien,
Société Générale „ 200 z
Comptoir d'Escompte „ 50 ,„
Credit Industriel 200 ,„
Hi
So zwar, daß ungefähr 50 Personen, welche im Besitz von zusammen
nicht mehr als 8 Mill. fres, zu sein brauchen, über 2!/, Milliarden
Depositen und über jährlich 11/, Milliarden fres. neuer Anlagen Jahr
für Jahr entscheiden, ohne irgend jemand darüber Rechenschaft zu
geben.
Die agents de change, 70 an der Zahl, seien im Einverständnis
mit den Kreditinstituten, mit welchen sie eine Interessengemeinschaft
bildeten. So sei während des russisch-japanischen Krieges, als die
russischen Werte zu sinken begannen, auf Veranlassung der Kredit-
institute beschlossen worden, im Zeitgeschäft an der Pariser Börse die
Verkaufsordres aus dem Publikum nicht auszuführen. Die 70 agents
de change gehören einer Syndikatskammer an, die in ihrem Namen
handelt und deren Mitglieder an den Gewinnen bei den großen Anleihen
beteiligt sind. — Die Finanzberichte und Rundschauen in den großen
Miszellen. 253
Zeitungen sind verpachtet. Die von den Kreditinstituten ausgehenden
Emissions- und anderen Inserate in den Zeitungen werden nicht von
ihnen direkt verteilt, sondern sie bedienen sich dazu der Vermittlung
von 2 oder 3 Personen, die als „distributeurs de la publicité“ bekannt
sind und großen Einfluß und Ansehen besitzen.
Die Vorbereitung der großen Anleihen vollziehe sich nicht zwischen
den Instituten und den Staaten direkt, sondern liege in der Hand der
„syndicats d’apporteurs“. Dieses Syndikat erhalte nicht unter 5 Proz.
des Ertrages der Anleihe. Alsdann gelangen die Geschäfte an die
„syndicats de garantie“, welche ebenfalls nicht unter 5 Proz. erheben.
Der borgende Staat erhalte in keinem Falle über 90 Proz. des Anleihe-
ertrages.
Als Beispiele führt Lysis an: Chinesisch-russische Anleihe 1895:
400 Mill. fres. zu 4 Proz. Uebernahmspreis 450. Erster Kurs 495.
Höchster Kurs 520. Differenz in einem Monat 45 fres. oder 10 Proz.
— Die Institute hatten nur 1/, fest übernommen; die Optionen wurden
in Portionen von 266 Mill. frcs. ausgeübt, nachdem man den Absatz
gesichert hatte. Die Banque de Paris et des Pays Bas habe an diesem
Geschäft allein 20 Mill. fres. verdient. Diese Angabe hat im Januar
1907 in der französischen Kammer zu einer stürmischen Sitzung ge-
führt.
Bulgarische Anleihe 1904 von 80 Mill. fres. Von der Emissions-
gruppe übernommen. Allein darunter befanden sich 30 Mill. fres.
Von der Bulgarischen Nationalbank und der Bulgarischen Landwirt-
schaftlichen Bank akzeptierte Titres und 30%/, Mill. fres. an die fran-
zösische Geschützfabrik Creusot zu leistende Zahlungen. Außerdem
hatte die Finanzgruppe von Creusot und anderen Banken für die für
bulgarische Rechnung geleisteten Zahlungen Provisionen erhalten.
Da die Kreditinstitute den Spekulanten jeden Monat mehrere
Hunderte von Millionen Frances für Reports leihen, so haben sie die
Lenkung der Kursbewegungen an der Börse in ihrer Hand.
Der Credit Lyonnais habe, ohne Inserat und ohne Prospectus in
den Zeitungen, an seinen Schaltern und durch seine Agenturen im
Lande 874 Mill. fres. (nominal) der Obligationen der Russischen Adels-
bank (Banque Foncière de la Noblesse Russe) verkauft zum durchschnitt-
lichen Preis von 96,80, Kurs 1908: 66.
Außer den 130 Milliarden frcs. zur amtlichen Notierung an der
Pariser Börse zugelassenen Werten (58 Milliarden französische und
711/, Milliarden ausländischer Werte) werden im freien Verkehr
gehandelt:
8 Milliarden französische Werte
10 Eh ausländische ,,
Nach Neymarck („Le Rentier‘ 1907) sind die im eigenen Besitz
der französischen Kapitalisten befindlichen mobilen Werte von 1890
bis 1904 von 74 auf 93 Milliarden frcs. gestiegen. In derselben
Zeit stieg der Gesamtbetrag der ausländischen Werte von 20 auf
30 Milliarden frcs.
254 Miszellen.
Eingeführt an der Pariser Börse wurden:
1905 2 Milliarden 174 Mill. fres. ausländische Werte
1906 3 n 482 DH HI n HI
Im Verhältnis zum Gesamtbetrag der Einführung jeder Art von
4 Milliarden und 567 Mill. fres., erscheint der Anteil der ausländischen
Werte mit 77 Proz.
Unter den 1906 zugelassenen ausländischen Werten waren allein
600 Mill. fres. Bankwerte (viele mexikanische Banken).
Die in Paris notierten Balkanwerte werden mit 1600 Mill. frcs.
angegeben.
Die Erfordernisse von Gewerbe und Handel in Frankreich würden
vernachlässigt. Credit Lyonnais, Societe Generale, Comtoir d’Escompte
stellten 1905 der Industrie, außerhalb des Diskont- und Lombardverkehrs,
zusammen nur 143 Mill. Fres. zur Verfügung (Journal: „Pour et
Contre“ 1905).
Der Präsident der Nord-Eisenbahn-Gesellschaft, Baron Alphonse
de Rothschild, führt in der Versammlung der Aktionäre am 29. April
1905 Klage über das Daniederliegen von Industrie und Handel in den
Landschaften des Nordens. — Dieselbe Klage erhebt 1905 M. André
Lebon in der „Federation des Commerçants et des Industriels“. M. Paul
Doumer führt denselben Gedanken (im „Matin“ 1906) aus. M. de
Lamarzelle macht schon 1897 darauf aufmerksam. M. Edmond Thery
führt vor der „Association de l’Industrie et de l’Agriculture“ und im
„Economiste Européen“ ähnliches aus. Der polemische Ton der Schrift
von Lysis und das starke Echo, welches sie weckte, riefen zahlreiche
Erwiderungen hervor, unter welchen die von Testis unter dem Titel
„Les établissements de credit“ 1907 erschienene Schrift am bekanntesten
ist. Testis setzt den Argumenten von Lysis überall ein Veto ent-
gegen. Ein syndicat d’apporteurs sei nicht da; die alte Haute Banque
existiere noch, unter den Kreditinstituten bestehe eine lebhafte Kon-
kurrenz auch bei Anleihegeschäften,
Der Industrie würde der Kredit keineswegs vorenthalten und die
Liste der von den Kreditinstituten ins Leben gerufenen Industrie-
gesellschaften sei bedeutend.
Die Langsamkeit der gewerblichen Entwicklung in Frankreich sei
die Folge des Mangels an unterirdischen Bodenschätzen; ferner der
Stockung in der Volkszunahme, von Gewohnheiten, von Politik,
Streiks usw.
Die Zunahme der Anlage in ausländischen Werten ergebe sich
schon als Folge des lehhaften Verkehrs mit dem Ausland; die Pariser
Institute verrechnen monatlich bis zu 200 Mill. frcs. im Auslandverkehr.
Lysis hatte darauf hingedeutet, daß die englischen Joint Stock Banks
Anleihen nur in Kommission übernehmen und dafür nur 1Y,—2 Proz.
berechnen.
Dagegen bemerkt Testis: mit der Bank von Frankreich und dem
Credit Foncier betragen die Depositen in Frankreich 4—5 Milliarden
frcs. In England dagegen betrugen am 31. Dezember 1905 die Depositen
Miszellen. 255
bei den Joint Stock Banks 835 Mill. £, außer den privaten Banken,
die ihre Bilanzen veröffentlichen und deren Depositen 28 Mill. £
betrugen; zusammen an 21 Milliarden fres. Das System der Filialen
der Banken ist in England viel ausgedehnter als in Frankreich, und
der lokale Bankier sieht sich dort noch mehr in den Hintergrund
gestellt als in Frankreich.
Ueber die Politik der englischen Banken äußert sich ein in der
Times vom 8. Oktober 1909 erschienener Aufsatz (Financial and
Commercial Supplement). Dort wird das Verlangen nach Industrie-
banken begründet. Die lokalen Banken sind in den großen Londoner
Banken aufgegangen. Im allgemeinen befolgen die englischen Banken
gegenüber der Industrie dieselbe Politik wie die französischen Kredit-
institute, sie suchen ihren Profit im Diskont- und Börsengeschätt.
Vor einigen Jahren äußerte sich der französische Botschafter
M. Paul Cambon in London in der folgenden Art über die eng-
Dechen Banken (die Rede ging durch die englische Presse; ein Résumé
findet sich im „Journal des Economistes“, November 1909): „Die eng-
lischen Banken sind weit entfernt, der britischen Arbeit die wünschens-
werte und notwendige Unterstützung zu geben; ihre Richtung ist seit
20 Jahren schlecht gesichert; sie glaubten sich ihrer Stellung und ihres
Reichtums sicher, und waren nicht genug bestrebt, im Inneren des
Landes die Kapitalien und die Ersparnisse des Landes anzulegen, welche
dem Land in der heutigen Stunde so unentbehrlich sind.“
Gegen diese Auffassung hat sich Mr. Georges Paish in der Ver-
sammlung der Royal Statistical Society in London am 15. Juni 1909
ausgesprochen (Bulletin of the Royal Statistical Society): Die Einkommen-
steuerkommission schätzt das im Ausland (und Kolonien) angelegte
englische Kapital auf:
£ fres.
1886—87 44 508 000 r112 Mill.
1900—01 60 331 000 1508 ,
1906—07 79 560 000 1989 „
Mr. Paish berechnet den Gesamtbetrag der englischen Einkommen
auf 140 Mill. £ oder 3500 Mill. frcs.
Die englischen Kapitalzeichnungen betrugen
1. Juli 1908 bis 30. Juni 1909
für Indien und Kolonien 72544 000 £
für das Ausland 103 121.000 ,,
175 665 000 £
4 oder Milliarden 366 Mill. frcs.
Die vorstehenden Ausführungen verdienen alle Beachtung. Ihr
“Gewicht ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß, zur Frage der
Kapitalanlage im Ausland, die Stellung Englands von vornherein eine
andere ist als diejenige Frankreichs. Das abfließende englische Kapital
sichert fast überall dem englischen Ausfuhrhandel und der sich jenseits
der Meere ganz anders als seitens Frankreichs entwickelnden Unter-
nehmertätigkeit reiche Felder. Dagegen hat Frankreich etwa 12 Milliarden
256 Miszellen,
fres. in Rußland angelegt, wofür es allerdings gute Zinsen bezieht, aber
von der an 2 Milliarden frcs. betragenden Wareneinfuhr Rußlands ent-
fallen auf französische Waren nur etwa 70 Mill. fres. oder 3,53 Proz.
Das französische Nationalvermögen wird von Yves Guyot (Journal
des économistes, Nov. 1909) auf 210—230 Milliarden fres. geschätzt.
Der vorige Finanzminister, M. Caillaux, schätzt das Einkommen
aller Franzosen (Journal officiel), einschließlich der aus Arbeit, auf
221/, Milliarden fres. Die Schätzung Paul Leroy Beaulieus (Economiste
français) geht auf 27 Milliarden frcs.
Der Präsident der französischen Zolltarifkommission, M. Klotz,
sagte in seiner Rede vom 1. Juli 1909:
„Seit 1892 sind 27 Milliarden frcs. ausländische Werte nach Paris
gekommen ........ Das französische Portefeuille hat sich um wenigstens
16 Milliarden fres. ausländischer Werte vermehrt.“ 16 Milliarden in
16 Jahren ergeben 1 Milliarde jährlich.
Miszellen. 257
VIII.
Deutschlands Handelsbeziehungen zu Argentinien und die
internationale Eisenbahn- und Verkehrsmittel-Ausstellung
in Buenos-Aires 1910.
Von Dr. Kreuzkam, Wilmersdorf/Berlin.
In der deutschen Presse wird die deutsche Industrie schon seit
längerer Zeit zur Beteiligung an der in diesem Jahre in Buenos-Aires
stattfindenden internationalen Eisenbahn- und Verkehrsmittel-Ausstellung
aufgefordert. Die Beteiligung an der Ausstellung soll dazu beitragen,
den Absatz von deutschem Eisenbahnmaterial, von Maschinen und
anderen Erzeugnissen der deutschen Industrie nach Argentinien zu
fördern. Wenn Ausstellungen diesen Zweck zu erfüllen vermögen, so
sollte man meinen, daß vor allem eine Ausstellung in dem wirtschaftlich
und finanziell rasch aufblühenden Argentinien geeignet ist, der deutschen
Industrie neue Absatzgelegenheiten zu verschaffen. Die deutschen Fa-
brikanten müssen alle Anstrengungen machen, um ihre Stellung auf dem
argentinischen Markte gegenüber dem englischen und nordamerikanischen
Wettbewerbe zu behaupten und zu befestigen.
Deutschland ist ohne Zweifel der beste Kunde Argentiniens, aber
lange nicht in genügendem Maße an der Versorgung Argentiniens mit
Industrieerzeugnissen beteiligt. Die außerordentliche Entwicklung Ar-
gentiniens und seine Bedeutung im internationalen Handelsverkehr wird
am besten dadurch gekennzeichnet, daß sich sein Außenhandel im Laufe
der letzten 10 Jahre nahezu verdreifacht hat. Ein- und Ausfuhr be-
tragen in Millionen Pesos (zu 4,05 Mi:
Einfuhr Ausfuhr Gesamtaußenhandel
1898 107,4 133,8 241,2
1903 131,2 221,0 352,2
1908 273,0 366,0 639,0
An dieser günstigen Entwicklung ist Deutschland in besonderem
Maße beteiligt. Nach der deutschen Handelsstatistik betrug (in Mill. M.):
1898 1903 1908
die Einfuhr von Argentinien 143,2 270,5 446,0
die Ausfuhr nach vm 42,7 71,0 147,0
Einfuhr wie Ausfuhr sind mithin um das Dreieinhalbfache gestiegen.
Dabei ist anzunehmen, daß sich dieser Handelsverkehr auch für die
nächste Zeit günstig weiterentwickeln wird, weil Argentinien in der
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 17
258 Miszellen.
Hauptsache landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie Rohstoffe nach Deutsch-
land ausführt, während umgekehrt Deutschland vor allem industrielle
Erzeugnisse nach Argentinien absetzt. So befanden sich 1908 unter den
von Argentinien nach Deutschland eingeführten Artikeln: Weizen (145,6
Mill. M.), Leinsat (84,5 Mill. M.), Rindshäute (36,7 Mill. M.), Mais (27,7
Mill. M.), Kleie (20,8 Mill. M.), Hafer (10,3 Mill. M.), Wolle (81,6 Mill. M.),
Quebrachoholz (10,3 Mill. M.). Unter den von Deutschland ausgeführten
Waren stellen vor allem die Erzeugnisse der Textilindustrie, Eisen-
industrie und elektrischen Industrie den Hauptanteil. So wurden 1908
ausgeführt: bunte Baumwollgewebe (9,1 Mill. M.), baumwollene Strümpfe
(4,5 Mill. M.), Wollgewebe (6,1 Mill. M.), schmiedbares Eisen (6,3 Mill. M.),
Eisendraht (4,8 Mill. M.), Eisenbahnschienen (3,2 Mill. M.), eiserne Eisen-
bahnschwellen (2,2 Mill. M.), Lokomotiven (2,2 Mill. M.), Maschinen
(1,6 Mill. M.), elektrische Kabel (4,7 Mill. M.) und Dynamomaschinen
(1,3 Mill.M.). Im Jahre 1907 war die deutsche Einfuhr in Eisenbahn-
bedarfsartikeln noch bedeutend größer, weil in diesem Jahre eine be-
deutende Vergrößerung des argentinischen Schienennetzes stattfand; so
betrug die Ausfuhr von Eisenbahnschienen 8,6 Mill. M. und von
eisernen Eisenbahnschwellen 9,2 Mill.M. Auch muß dabei in Rechnung
gezogen werden, daß die deutsche Handelsstatistik noch nicht alle von
und nach Argentinien gehenden Waren umfaßt, weil ein jedenfalls nicht
unbeträchtlicher Teil über englische, belgische und italienische Häfen
geht, der dann unter anderen Herkunfts- und Absatzländern mit auf-
geführt ist.
An dem Handelsverkehr zwischen Deutschland und Argentinien ist
immerhin die Tatsache erfreulich, daß deutsche Industrieerzeugnisse im
Laufe der letzten Jahrzehnte einen steigenden Anteil an der Einfuhr
nach Argentinien zu verzeichnen haben. So betrug Deutschlands Anteil
an der Gesamteinfahr Argentiniens 1886 8,3 Proz., 1896 12,13 Proz.,
1906 14,2 Proz, 1907 16 Proz, um dann allerdings unter der un-
günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und besonders unter dem Nach-
lassen der Eisenbahnbestellungen 1908 wieder auf 13,9 Proz. zu sinken,
Hält man aber demgegenüber, daß Englands Anteil von 1896 auf 1908
von 39,8 auf 34,2 Proz., Frankreichs Anteil von 10,7 auf 9,7 Proz.,
Italiens Anteil von 10,1 auf 9,1 Proz. gesunken ist, während nur der
Anteil der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine Zunahme von 9,9
auf 13 Proz. aufzuweisen hat, so erscheint die Entwicklung des
deutschen Absatzes nach Argentinien verhältnismäßig günstig und zu-
gleich weiter ausdehnungsfähig.
Im Gegensatz zu Deutschland haben andere Länder, voran England
und Frankreich, von jeher eine zielbewußte Handelspolitik in Südamerika
verfolgt. Die staunenerregende weltwirtschaftliche Entwicklung Argen-
tiniens ist auch zum größten Teile England zu verdanken. Es ist haupt-
sächlich englisches Geld, das in argentinischen Staatsanleihen, in Eisen-
bahnen, Grundbesitz und im Handel und Verkehr festlieg. Nach
Schätzungen betrug vor kurzem das in Argentinien angelegte englische
Kapital 250 Mill. £, hiervon 187,54 Mill. £. in Staats-, Provinz- und
städtischen Anleihen, ferner in Werten der Eisenbahnen, Trambahnen,
Miszellen. 259
Finanz- und Versicherungsgesellschaften mit einem Ertrage von 8,88
Mill. £. Hierzu kommen noch die Einkünfte, die das britische Kapital
aus der argentinischen Volkswirtschaft mittels industrieller und kom-
merzieller Tätigkeit im Lande, Beteiligung in argentinischen Reedereien
usw. zieht, wodurch eine Gesamtziffer von 250 Mill. £ und eine 60-proz.
Beteiligung des britischen Kapitals an der gesamten Jahresschuldigkeit
Argentiniens erreicht wird. Durch die seitber eingetretenen neuerlichen
Kapitalanlagen ist das in Argentinien arbeitende britische Kapital auf
350 Mill. £ gestiegen.
Die französischen Kapitalien werden auf 800 Mill. fres. oder 32
Mill. £ geschätzt,; die deutschen auf 30 Mill. £, und mit Einschluß der
im Reedereigeschäft arbeitenden Geldmittel auf 40 Mill. £. Hierbei
ist gerade die deutsche Investitionstätigkeit in Argentinien in rascher
Zunahme begriffen, und bereits um die Mitte des vorigen Jahres er-
reichte das deutsche Kapital in Argentinien eine unvergleichlich höhere
Summe.
Den internationalen Kapitalanlagen und der Entwicklung von
Handel und Industrie in Argentinien entspricht eine hervorragende
Entfaltung des Bankwesens, das ein durchaus internationales Gepräge
hat. England, Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Belgien und
die Union haben teils schon seit Jahrzehnten, teils erst in neuerer Zeit
Banken gegründet, die teilweise die Eisenbahnbaugesellschaften, die
Schiffahrtsgesellschaften und die Exporthäuser unterstützen, wie nament-
lieben die englischen Kreditinstitute, teilweise — und das gilt von der
Deutsch-Ueberseeischen Bank — außer einer Förderung des Handels, die
Unterstützung der deutschen Ein- und Ausfuhr sowie die Förderung
industrieller Unternehmungen sich haben angelegen sein lassen. Die
europäischen Banken in Argentinien stehen in enger Verbindung mit
großen Finanzgruppen in den Hauptstädten der Mutterländer. Die
deutsche Bankwelt ist in Argentinien durch die genannte Deutsch-
Ueberseeische Bank (Deutsche Bank), die Deutsch-Südamerikanische
Bank (Dresdner Bank, Schaaffhausenscher Bankverein, Nationalbank
für Deutschland) und die Firma E. Tornquist A. G. (Diskonto-Gesell-
schaft) vertreten. Die Engländer und Franzosen und in neuester Zeit
auch die deutschen Kapitalisten haben die Rentabilität der argentini-
schen Tramway-, Eisenbahn-, Elektrizitäts-, Hafen- und sonstiger Unter-
nehmungen erkannt und sich dadurch manches Absatzgebiet auf eine
Reihe von Jahren gesichert.
Deutschland beherrscht hauptsächlich das Gebiet der Elektrizität
und es gelingt anderen Völkern nur mühsam, ihre Elektrizitätsartikel
in geringen Mengen nach Argentinien einzuführen. Die Elektrizitäts-
industrie hat in den letzten Jahren in Argentinien erhebliche Fort-
schritte gemacht, vor allen Dingen verdienen hier die Bahngesellschaften
in den großen Städten hervorgehoben zu werden, in denen das inter-
nationale Kapital vertreten ist; daran schließen sich die Beleuchtungs-
gesellschaften, Telegraphen- und Telephongesellschaften, die sich in
rascher Zahl vermehrt haben: von den deutschen Elektrizitätsgesell-
schaften ist vor allem die Deutsch-Ueberseeische Elektrizitätsgesellschaft
17*
260 Miszellen.
zu erwähnen. Für den Bau von Elektrizitätswerken war die zunehmende
Verwendung des elektrischen Lichtes, der Uebergang der Straßenbahnen
vom Pferdebetriebe zum elektrischen Betriebe u. a. m. maßgebend.
Auch hierbei betätigt sich wieder das englische Kapital, aber sein In-
teresse wird von dem des deutschen Kapitals wesentlich übertroffen.
Neuerdings bewarben sich unter anderen Konkurrenten der Brüsseler
Gruppe der Cie. Generale de Tramways de Buenos Aires die Eng-
länder (Tramway-Anglo-Argentine) erfolgreich um den Bau der schon
seit längerer Zeit geplanten Untergrundbahn in Buenos Aires, deren
Ausführung etwa 50 Mill. $ erfordern wird, sowie (Western Telegraf-
Co.) um die Legung eines direkten überseeischen Kabels nach Buenos
Aires. Die Einfuhr Argentiniens an Erzeugnissen der elektrischen In-
dustrie stellte sich in den ersten 3 Monaten der nachstehenden Jahre
folgendermaßen in 1000 Goldpesos:
1904 868 1907 2487
1905 1658 1908 2478
1906 2200
Auf den Kopf der Bevölkerung betrug die Einfuhr in diesem
Artikel nach Argentinien 1904 1,09 M., 1905 1,59 M., 1906 2,55 M,
1907 2,43 M., 1908 2,40 M. Der Bedarf Argentiniens an Industrie-
erzeugnissen dieser Art wird sich in den nächsten Jahren zweifellos
wieder bedeutend vergrößern.
Was die Einfuhr von Transportmitteln nach Argentinien betrifft,
— ein Begriff, der von der argentinischen Statistik, dem Stande des
Verkehrswesens des Landes Rechnung tragend, allerdings sehr weit
gefaßt wird — so erreichte sie einen Wert von 6,02 Mill. Goldpesos
im Jahre 1901, sank im folgenden Jahre auf 5,70 Mill, stieg dann
wieder auf 6,78 Mill. im Jahre 1903, auf 13,44 Mill. im Jahre 1904
und schnellte 1905 auf 23,36, im Jahre 1906 auf 35,05 und im Jahre
1907 auf 52,32 Mill. Goldpesos empor. Das waren 5,28 bezw. 5,53,
5,17, 7,19, 11,39, 12,90 und 18,30 Proz. des ganzen Bezuges Argen-
tiniens an fremden Erzeugnissen. Die Beförderungsmittel haben also
im Rahmen der argentinischen Einfuhr einen ganz hervorragenden Platz
gewonnen: reichlich 1/ der ganzen Einfuhr entfällt jetzt auf diese
Warengruppe.
Wenn man die argentinische Einfuhr von Transportmitteln etwas
zergliedert, so ergibt sich, daß im Durchschnitt der Jahre 1901/03 für
2,47 Mill. Goldpesos Stahlschienen eingeführt wurden, im Durchschnitt
der Jahre 1904/06 aber schon für 6,77 und im Jahre 1907 für 9,95 Mill.
Goldpesos; der Bezug Argentiniens an Schienen hatte sich also in
kürzester Zeit vervierfacht. Großbritannien ist der Hauptlieferant, weit
über die Hälfte der argentinischen Bezüge stammte in den Jahren
1901/05 aus England. Großbritannien führte im vorletzten Jahre
60032 t, im letzten Jahre aber 118384 t Schienen nach Argentinien
aus, also nahezu das Doppelte von der früheren Menge. In den
ersten 8 Monaten 1907 hatte die britische Schienenausfuhr dorthin erst
42013 t betragen. Die Schienenausfuhr Deutschlands nach Argentinien
hat zwar auch zugenommen, jedoch lange nicht in dem Grade, wie die
Miszellen. 261
britische: die letztere stieg um 90 Proz., die erstere aber nur um
28 Proz., so daß Großbritannien den weitaus größeren Vorteil von dem
gesteigerten Bedarf Argentiniens hatte.
Lokomotiven wurden im Durchschnitt der Jahre 1901/03 für
0,37 Mill. Goldpesos eingeführt, im Durchschnitt der Jahre 1904/06 für
2,51 Mill. und im Jahre 1907 für 8,07 Mill. Goldpesos. Auch hier ist
reichlich die Hälfte der Einfuhr englischen Ursprungs. Früher benutzte
man in Argentinien beim Eisenbahnbau nur Holzschwellen; Eisen-
schwellen sind erst in jüngster Zeit zur Verwendung gekommen. Von
1901 bis 1904 stellte sich die ganze Einfuhr von Eisenbahnschwellen
dem Werte nach auf rund 70000 Goldpesos, 1905 erreichte sie aber
einen Wert von 2,11 Mill. Goldpesos, wozu Deutschland über die Hälfte
beisteuerte; im Jahre 1906 stieg die Einfuhr auf 4,29 und 1907 auf
7,97 Mill. Goldpesos. Die Einfuhr von Laschen schwankte 1901/03
zwischen 1/ und 3/, Mill. Goldpesos, stieg 1904 auf 1 Mill. und 1905
auf 1,28 Mill. Goldpesos, wovon wiederum die Hälfte englischer Her-
kunft war. Für 1906 verzeichnete man eine Einfuhr im Werte von
2,14 und 1907 von 2,29 Mill. Goldpesos. An Waggons kaufte Argen-
tinien vom Auslande 1901/03 für etwa 1/ Mill. Goldpesos, im Durch-
schnitt der Jahre 1904/06 für 2,92 und 1907 für 8,90 Mill. Goldpesos,
in der Hauptsache englisches Erzeugnis. Man sieht aus diesen Stich-
proben, in welcher Weise das argentinische Eisenbahnnetz in den letzten
Jahren erweitert und verdichtet, in welchem Umfange der Fahrpark
ergänzt und verstärkt worden ist, u. dgl. mehr; und doch reicht er
namentlich zur Erntezeit an manchen Stellen zur Bewältigung der großen
Getreidetransporte bei weitem nicht aus, so daß also die rasch wachsende
Aufnahmefähigkeit des in fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung
befindlichen Landes für die Lieferung von Beförderungsmitteln die
besten Aussichten bietet.
Bei dem großen Interesse, das die führenden Eisenbahngesellschaften
an einem glänzenden Erfolge der Ausstellung in Buenos Aires haben,
und aus den Gesuchen, die bereits an das Exekutivkomitee der Eisen-
bahn- und Verkehrsmittel-Ausstellung gerichtet wurden, kann man schon
ersehen, daß zahlreiche Industrielle der ersten Nationen sich an ihr
beteiligen werden, um die fortgeschrittensten und besten Erzeugnisse
ihrer Fabriken in den verschiedensten Zweigen der Verkehrsmittel-
industrie auszustellen. — Die Ausstellung wird in 16 Sektionen einge-
teilt, die folgende Gruppen umfassen: Eisenbahnen und nicht elektrisch
betriebene Tramways; Geschichte der Eisenbahnen und Tramways;
Automobilindustrie; Fahrradindustrie; Post, Telegraph, Telephon und
andere Verkehrsmittel; Geschirre, Fuhrwerke; gewöhnliche Reit-, Fahr-
und andere Sportwege; Militärtransport, Sanitätsdienst in Kranken- und
Verwundetentransporten ; Gepäck, Koffer, Verpackung; städtisches Trans-
portwesen und Feuerwehrdienst; dekorative Kunst in der Industrie der
Transportmittel; Hygiene und Sanitätsdienst in den Verkehrsmitteln;
Arbeiterschutz, soziale Bestimmungen zugunsten der verschiedenen
Beamten und Arbeiter in den Transportunternehmungen; Galerien für
die nationalen mechanischen Industrien, die mit dem Transportwesen in
262 Miszellen.
Verbindung stehen, Arbeitsgalerien mit Maschinen in Tätigkeit; spezielle
nationale Bauten; Luftschiffahrt.
Argentinien sehnt sich danach, sich von dem übermäßigen britischen
Drucke zu befreien, und jetzt, wo es im Begriffe steht, seine hundert-
jährige politische Unabhängigkeit auch mit einer internationalen Aus-
stellung in Buenos Aires zu feiern, sucht es Mittel und Wege, um sich
auch wirtschaftlich möglichst frei zu machen. England ist jedoch auch
hier wieder als die erste Nation erschienen, die sich offiziell an dieser
Ausstellung beteiligt, und die keine Kosten zu scheuen scheint, um sich
in diesem außerordentlich vorteilhaften Absatzmarkte für alle Zukunft
zu behaupten. Erfreulicherweise hat aber auch bereits eine Anzahl der
namhaftesten deutschen Firmen der Verkehrsmittelindustrie ihre Be-
teiligung an der Ausstellung zugesagt. Im Mittelpunkte der deutschen
Beteiligung wird eine große Kollektivausstellung des deutschen Stahl-
werksverbandes stehen, an der sich alle ihm angeschlossenen Firmen
des rheinisch-westfälischen Industriegebietes beteiligen werden. Man
sagte sich in diesen Kreisen mit Recht, daß in Argentinien ebenso wie
in Brasilien bedeutende Pläne für den Ausbau des Eisenbahnnetzes be-
stehen, und aus diesem Grunde glaubt man auf günstige Aussichten
für die deutsche Industrie als Folge der Beteiligung Deutschlands hoffen
zu dürfen. Auch rechnet man wohl damit, daß bei dieser Gelegenheit
dem Abschlusse eines deutsch-argentinischen Handelsvertrages und einer
weitgehenden Erleichterung des deutschen Absatzes nach Argentinien
die Wege geebnet werden könnten. Welch großes Interesse die deutsche
Industrie an dem Abschlusse eines vorteilhaften Handelsvertrages mit
Argentinien hat, liegt auf der Hand. Vor allem wäre es für den
deutschen Ausfuhrhandel wichtig, daß die argentinischen Einfuhrzölle in
den für Deutschland in Frage kommenden Positionen auf eine Reihe
von Jahren festgelegt würden, da der jetzige Zustand, wonach Argen-
tinien beliebig seine Zölle in kurzen Fristen erhöhen kann, naturgemäß
zu einer fortgesetzten Beunruhigung der an der Ausfuhr beteiligten
Kreise und zu häufigen Verlusten führen muß. Argentinien hat sich
schon vor längerer Zeit geneigt gezeigt, sich in einem derartigen Ab-
kommen den Vereinigten Staaten von Nordamerika gegenüber zu binden.
Man sollte annehmen, daß es Deutschland gegenüber zu einem gleichen
Schritte bereit sein würde, namentlich wenn man dabei berücksichtigt,
daß Argentinien mit seiner großen Ausfuhr nach Deutschland an dem
Fortbestande guter Handelsbeziehungen zu Deutschland ein viel größeres
Interesse haben muß, als den Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber.
Literatur. 263
Literatur.
I.
Amberg, Rudolph, Die Steuer in der Rechtsphilosophie
der Scholastiker.
Ein Beitrag zur Beurteilung der Scholastiker in ihren Beziehungen zum
Rechts- und Wirtschaftsleben ihrer Zeit. Berlin und Leipzig 1909.
(Dr. Walther Rothschild). (XVI + 127 S. 5 M.) Beiheft zum Archiv
für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie.
Von Axel Nielsen-Kopenhagen.
Der Titel, besonders der Untertitel der vorliegenden Schrift ver-
spricht viel. Man erwartet eine Untersuchung darüber, wie sich die
Steuertheorie der Scholastiker unter dem Wandel der ökonomischen
Verhältnisse entwickelte, der sich in dem Zeitraum von Thomas von
Aquino bis auf Suarez und Molina vollzog, sowie umgekehrt, wie die
Steuertheorie das praktische Leben zu prägen vermochte. Bietet nun
das vorliegende Buch uns eine derartige Untersuchung? Keineswegs.
Verf. weist in der Vorrede darauf hin, daß er nicht beabsichtigt, eine
Entwicklungsgeschichte der Steuertheorie in der Rechtsphilosophie der
Scholastiker zu schreiben, indem er meint (S. XVI), daß eine solche
Untersuchung „zur Würdigung und tieferen Erfassung des einschlägigen
Materials vom Standpunkt der modernen Wissenschaft nicht einmal
besonders zweckdienlich sein“ würde. Daher gibt er uns keine Ent-
wicklungsgeschichte, sondern seine Arbeit bezweckt nur, eine Dar-
stellung der Steuertheorie bei den Scholastikern zu bieten; hier wird
nun gleich unsere Skepsis wachgerufen, indem wir uns wundern, daß
Verf. sich über die Zulässigkeit einer Identifizierung der Theorie bei
Thomas Aquinos und der Spätscholastiker nicht ausspricht; hat nämlich
eine Entwicklung sich vollzogen, so wird ein solches Verfahren die
ganze Arbeit unbrauchbar machen. Indessen braucht man nur ein
wenig in dem Buch zu blättern, um bald zu erkennen, daß die haupt-
sächlichen Quellen des Verf. ganz natürlich nur die Schriften der Spät-
scholastiker sein konnten. Ist nun aber, wie der Titel verspricht, die
Theorie der Spätscholastiker in ihren Beziehungen zu dem Rechts- und
Wirtschaftsleben ihrer Zeit betrachtet? Nein. Verf. scheint in dem
Buch sein Versprechen ganz vergessen zu haben, und doch ist es Tat-
sache, daß ein Suarez oder ein Molina keinen so scharfen Blick für
Steuerfragen gehabt haben würden, wie sie ihn nun einmal hatten,
wenn sie nicht gerade in Spanien gelebt hätten, wenn nicht die ökono-
mische Entwicklung und Blütezeit, welche in Spanien im XVI. Jahr-
hundert eintrat, sozusagen mit Gewalt die Augen Vieler über ökono-
mische Fragen geöffnet hätte. Verf. scheint sogar mit Absicht jede
Berücksichtigung der zeitlichen Verhältnisse zu vermeiden. S. 8 er-
264 Literatur.
zählt Verf. z. B., daß decima „zehnte“ u.a. bei Lugo „als Uebersetzung
von alcavala“ vorkommt, und S. 10, also bloß 2 Seiten weiter hin, heißt
es: „Lugo nennt die alcavala in lateinischer Uebersetzung decima,
während Sanchez dieses Wort für die lateinische Uebersetzung von
gabella reserviert.“ Daß der Leser sich über diese Wiederholung
wundern kann, dabei werde ich mich nicht aufhalten, der Leser hat
aber auch das Recht, vom Verf., wenn er seinem Buch einen Titel ge-
geben hat wie den obigen, Aufklärung zu verlangen, was denn die
alcavala für eine Steuer war. Sobald man erfährt, daß die alcavala
eine 10-proz. Besteuerung der Kaufsumme bei jeder Art von Umsatz
war, so erklärt sich der Gebrauch von decima, gabella und alcavala
als Synonyme.
Doch nun zu der Hauptsache! Verf. nimmt Wagners Definition
der Steuern an als „Zwangsbeiträge der Einzelwirtschaften zur Deckung
der allgemeinen Staatsausgaben, welche vom Staate kraft der Souverä-
nität (Finanzhoheit) in einer von ihm einseitig bestimmten Weise und
Höhe als generelle Entgelte und Kostenersätze der gesamten Staats-
leistungen und Maßstäbe eingefordert werden“, und mit dieser De-
finition vergleicht er nun diejenigen, die er bei den verschiedenen
Scholastikern findet. Z. B. zieht er die Definition des Lessius hervor,
nach der das Wort Steuer heißt: „das was dem Fürsten oder dem
Staate zum Zwecke der öffentlichen Bedarfsdeckung . . . gezahlt zu
werden pflegt“, und darin findet er eine Uebereinstimmung mit Wagners
Forderung, die Steuer solle „zur Deckung der allgemeinen Staatsausgaben“
dienen. Einen solchen Eindruck bekommt man freilich auch, wie Verf.
die Definition des Lessius wiedergibt, und man wundert sich, daß dieser
schon damals an eine „Finanzwirtschaft“ dachte. Aber die Uebersetzung
der Definition des Lessius, wie Verf. sie gibt, ist nicht ganz treffend,
denn jener sagt „ad principis dignitatem vel communia impendia susti-
nenda“; der Kostenmoment, der im Gebrauch des Wortes impendium
enthalten ist, und der wohl durch einem Ausdruck wie etwa „Deckung
gemeinsamer Ausgaben“ wiedergegeben werden mußte, kommt in der
„Bedarfsdeckung“ des Verf. nicht zur Geltung. Auch darin kann ich
dem Verf. nicht beistimmen, wenn er Lugos Definition der Steuer
wiedergibt als „dasjenige, was die Untergebenen oder Glieder der Ge-
meinschaft zum allgemeinen Nutzen und zum staatlichen Bedarfe zwangs-
weise beitragen“, denn Lugo sagt „ad communem utilitatem et publicas
necessitates“. Die publicae necessitates mit „staatlicher Bedarf“ zu
übersetzen, ist wahrscheinlich nicht richtig, denn im Plural liegt der
Begriff: Einzelfälle staatlichen Bedarfes.. Daß die Steuern kein not-
wendiger Bestandteil einer Finanzwirtschaft sind, was in den hier vor-
gebrachten Beispielen unzweifelhaft enthalten ist, bringt Verf. in seiner
Uebersetzung nicht zum Ansdruck. Aber nur an einer Stelle stößt Verf.
auf eigentliche Schwierigkeiten, denn keine Definition der Scholastiker
enthält einen Ausdruck, der Wagners „generellen Entgelten und Kosten-
ersätzen der gesamten Staatsleistungen“ entspricht, und nun wird es
für den Verf. ein Kapitalpunkt, nachzuweisen, daß die Scholastiker
dennoch Steuern als „generelle Entgelte“ kannten, sie also von den
Literatur. 265
Gebühren unterschieden; diesem Umstand dürften auch die obigen,
wenig gelungenen Uebersetzungen zuzuschreiben sein, denn man wird
leicht sehen, wie diese beiden Punkte sich gegenseitig bedingen.
In dem Kapitel II: „Rechtsgrund der Steuer“ hebt Verf. nun
zwei Gesichtspunkte als die hauptsächlichsten hervor, von welchen aus
sich das öffentlich-rechtliche Verhältnis, das die Steuerzahlung bedingt,
betrachten läßt, nämlich erstens die Konsequenztheorie, indem man
die Steuer mit der Naturnotwendigkeit des Staates begründet, und
zweitens die Vergeltungstheorie, indem man hervorhebt, daß die von
dem Staat gebotenen Vorteile auch bezahlt werden müssen. Von hier
aus prüft Verf. nun die Steuertheorie der Scholastiker und findet, daß
sie der Konsequenztheorie huldigen. Freilich findet man auch Aeute-
rungen, die darauf hinzuweisen scheinen können, daß sie sich der Ver-
geltungstheorie angeschlossen haben, Verf. weiß das aber immer zu
erklären ; besonders Ausdrücke wie „Lohn“ des Fürsten, bereiten ihm
Schwierigkeiten. Das Ergebnis der Erörterungen im Kapitel II faßt
er (S. 123) zusammen, indem er bewiesen zu haben glaubt, daß „sobald
es sich aber um die Begründung der Steuer im allgemeinen, d. h. der
Steuer als Deckungsmittel für den öffentlichen Bedarf, wovon der Unter-
halt, die „Entlöhnung“ des Königs nur ein Teil, eine Funktion ist,
handelt, wird mit keinem Wort von „Lohn“ oder irgendeiner spe-
ziellen Vergeltung oder Gegenleistung gesprochen“. An anderer Stelle
(S. 42) nennt Verf. die Vergeltungstheorie das „Gebührenprinzip“, und
daraus ergibt sich deutlich, von wie großer Bedeutung es für den Verf.
ist, die Scholastiker der Konsequenztheorie zu vindizieren, im Hinblick
darauf, daß die Scholastiker die Steuern im modernen Sinne als „gene-
relle Entgelte“ kannten. Daß die Scholastiker Anhänger der Konsequenz-
theorie waren, kann nun nicht wundernehmen, weil sie ja auf Aristoteles
fußten und dessen Ansicht über den Menschen als von Natur aus „ge-
sellschaftliches Wesen“ teilten. Aber es ist deutlich, daß die unge-
heuren Anstrengungen des Verf. um die Lösung dieser Frage im Hin-
blick auf die Frage: Gebühren oder Steuern in Wirklichkeit ganz
überflüssig und nur darin begründet sind, daß Verf. offenbar meint, die
Entscheidung über Steuern oder Gebühren beruhe auf dem Gesichts-
punkt, nach welchem man die Steuern begründet, während sie doch
faktisch auf der Beantwortung der Frage über die Auferlegung der
Steuer beruht. Auch auf diesem Gebiet gibt es eine Vergeltungs-
theorie als Gegenstück zur Opfertheorie (Steuerleistung nach der
Leistungsfähigkeit). Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß man von der
Vergeltungstheorie als Begründung nicht leicht zu einer anderen Theorie
als der Vergeltungstheorie gelangen kann, wenn die Frage der Steuer-
erhebung brennend wird; aber die Konsequenztheorie läßt sich mit der
Vergeltungstheorie im Sinne einer Steuererhebungstheorie sehr wohl
vereinigen, und eben dies haben die Scholastiker getan, trotz aller Ver-
suche des Verf.s, sie als Anhänger der Opfertheorie nachzuweisen. Verf.
behandelt aber die Frage der Steuererhebung mit so eigentümlicher
Entschiedenheit, offenbar weil er glaubt, die Hauptsache erledigt zu
baben. Er findet nun, daß die Scholastiker der Ansicht sind, jeder
266 Literatur.
solle nach seinem Vermögen oder seiner Leistungsfähigkeit die Steuer
entrichten, und zieht daraus den Schluß, es sei eine Opfertheorie, der
die Scholastiker huldigen; es sei eine Prozentualsteuer nach Maßgabe
des Vermögens, indem eine solche Steuer im Einklang stehe mit der
„ausgleichenden Gerechtigkeit“, die in derartigen öffentlich-rechtlichen
Verhältnissen walten müsse. Dieses Ergebnis ist irreleitend, und nur
darin begründet, daß Verf. nur unter causa formalis Auskunft über die
Art der Steuererhebung gesucht hat, die causa materialis usw. dagegen
nicht berücksichtigt — denn die vier aristotelischen Ursachen finden
sich natürlich auch bei den Scholastikern, wenn auch in etwas ver-
änderter Gestalt. — Wäre das nicht der Fall gewesen, so würde Verf.
darauf aufmerksam geworden sein, daß die Scholastiker sich nicht mit
der Forderung einer Steuererhebung nach Maßgabe der Leistungsfähig-
keit begnügen, sondern vor allem auch verlangen, daß eine justa causa
der Steuer gegeben sein muß, also die öffentliche Notwendigkeit einer
Steuererhebung; ferner fordern sie, daß eine Uebereinstimmung der
Ursache der Steuererhebung und der Steuer selbst bestehen müsse,
nicht nur derart, daß nicht mehr erhoben werden dürfe, als erforderlich
war, sondern auch so, daß diejenigen, welchen die Steuer zum Vorteil
geriete, sie zu zahlen hätten. Sagt nicht Molina (De iust. de iure,
Tom. 3, disp. 668, Nr. 1) „praeterea intellegendum est, quando tributum
erigitur ob commune bonum, quod aeque ad omnes spectat; quando
vero exigitur propter bonum quod, peculiariter respicit quosdam, illi
praecipue sunt gravandi“. Stand nicht die Forderung einer Bemessung
der Steuer nach dem Vorteil, den eine öffentliche Maßnahme dem Ein-
zelnen brachte, im Einklang mit, war sie nicht geradezu notwendig für
den strengen Begriff der Gerechtigkeit, der von den Scholastikern
durchgeführt wurde; konnte man eine Steuer in conscientia zahlen,
wenn einem kein eigener Vorteil daraus erwuchs? Gewiß nur in dem
Falle, wenn die Steuer Feinden oder aufrührerischen Untertanen auf-
erlegt wurde. Erst nachdem dies untersucht war, wurde von einer
Anwendung der Theorie der ausgleichenden Gerechtigkeit die Rede.
Wenn nun Verf. geltend machen will, daß die erwähnten Verhältnisse
bei den Scholastikern nicht mit besonderer Schärfe hervorgehoben
werden, so ist das eine natürliche Folge des Umstandes, daß die zu der
Zeit besonders aktuelle Frage eben die der neuen allgemeinen Steuern
war, welche zum Zweck der Erhaltung der Beamtenschaft, der Heere usw.
auferlegt wurden, also stets zu Zwecken, die der Allgemeinheit zum
Vorteil gereichen. Wollte man nun behaupten, daß die Erhebung nach
der iustitia distributiva trotzdem ein Ausfluß der Opfertheorie sei, so
wäre damit mehr behauptet, als sich beweisen läßt; von der Vergeltungs-
theorie aus gelangt man zu demselben Ergebnis, denn die Aufgaben des
Staates bestanden damals in der Verteidigung des Landes und der
Handhabung der Gerechtigkeit, also wiederum die Allgemeinheit be-
treffenden Aufgaben. Eigentliche Aufgaben der Volkswohlfahrt hatte
der Staat keine, und erst wenn man dem Staate solche zuerteilt, kann
auch von einer Begünstigung einer einzelnen Volksklasse die Rede sein,
erst dann erlangt die Frage: Opfertheorie oder Vergeltungstheorie, eine
praktische Bedeutung.
Literatur. 267
Noch ein Punkt verdient Beachtung. Nach Erwähnung des Um-
standes, daß schon bei den Scholastikern die berühmten Adam Smith-
schen „maxims“ angetroffen werden, fährt Verf. fort (S. 105): „Allein
noch ein weiterer Punkt ist zu beachten. Während Smith einseitig
nur die Besteuerung des Einkommens verlangt, finden wir bei den
Scholastikern, wie wir gesehen haben, fast ausschließlich Hinweise auf
die Besteuerung des Vermögens. Ich sage „Hinweise“, denn ein eigent-
liches Postulat wird diesbezüglich von den Scholastikern nicht aufgestellt.“
Sollte der Grund dazu nicht in der Tatsache zu suchen sein, daß Verf.
konstant das Wort „facultas“ als „Leistungsfähigkeit“, nicht als Ver-
mögen übersetzt, eine unzweifelhaft keineswegs einwandfreie Ueber-
setzung. Aber diese ganze Frage, welche Abzüge vorzunehmen sind,
wie das Vermögen einzuschätzen ist, u. ä., alles Dinge, die den National-
ökonomen in hohem Maße interessieren, läßt Verf. so gut wie unerwähnt.
Daß die Scholastiker auch Steuern im modernen Sinne kannten,
bestätigt dem Verf. die Scheidung von Gebühren und Steuern, von
vectigal und tributum bei den Scholastikern. Es beruht aber auf einem
Irrtum von seiten des Verf.s, wenn er (S. 10) die „Steuern aus Ver-
mögen und Ertrag“ (tributum, census) den „besonderen, außerordent-
lichen Abgaben“ (sallia etc.) gegenüberstellt; in „etc.“ sind nach An-
sicht des Verf.s auch collecta enthalten. Aber man wird sehen, daß das
Verhältnis vielmehr umgekehrt wurde, so daß tallia und collecta als
Steuern, tributum und census als Abgaben bezeichnet wurden, denn
dies waren sie, sofern nicht tributum in weiterem Sinne, als auch die
außerordentlichen Steuern, collecta, einschließend gefaßt wurde. Wenn
Verf. später von tributum redet, so faßt er daher das Wort im weiteren
Sinne, aber er hätte unzweifelhaft sehr wohl collecta an dessen Stelle
setzen können; denn die Grundbuchabgaben u. ä., die in tributum mit
einbezogen sind, will Verf. ja selbst als Abgaben ausscheiden lassen.
Molina gibt eine klare Darstellung dieser Verhältnisse (De iust. et iure,
Tome III, disp. 661). Es ist wiederum das Bemühen des Verf.s nach-
zuweisen, daß die Scholastiker ganz moderne Ansichten hatten, das ihn
irreführt; einen ernsthaften Versuch, sich in den Gedankengang der
Scholastiker selbst hineinzuversetzen, hat Verf. nicht gemacht.
Wenn Verf. nun meint, die Scholastiker würden in der Gegenwart
verkannt, so trifft das wohl nicht zu, soweit die Theologie und Philo-
sophie in Betracht kommen, sondern nur für die Nationalökonomie. Ist
nun durch das Buch des Verf. erwiesen worden, daß diese Uebergehung
unberechtigt ist? Keineswegs, denn dazu wäre vor allem erforderlich
ein wirklicher Versuch einer Beurteilung dessen, was die Theorie der
Scholastiker für ihre Zeit bedeutete, eine Untersuchung darüber, wie-
viel sie ihren Vorgängern, wieviel ihrer eigenen Beobachtung ver-
danken. Daß die Theorie nicht von den Scholastikern selbst ausge-
gangen ist, hätte Verf. erwähnen sollen, es scheint aber, als sei ihm
die Steuerlehre der Postglossatoren, auf denen die Scholastiker fußten,
gänzlich fremd.
268 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes.
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
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Bernstein, Eduard, Die Geschichte der Berliner Arbeiter-Bewegung. Ein
Kapitel zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. 3. Teil. Fünfzehn Jahre Ber-
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Lex.-8. VI—493 SS. M. 5.—.
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W. Lexis und Edg. Loening. 3. gänzlich umgearb. Aufl. 4. Bd. Jena, Gustav Fischer,
1909. Lex.-8. IX—1227 SS. M. 20.—.
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haltung, Wirtschaft und Volkswirtschaftslehre. Vortrag. Nebst Diskussion. Berlin,
Carl Heymann, 1910. gr. 8. 38 SS. M. 1.—. (Schriften des deutschen volkswirt-
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fr. 3,50. (Bibliothèque sociologique, n° 41.)
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 269
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2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Somlo, Felix, Der Güterverkehr in der Urgesellschaft. Brüssel
und Leipzig 1909.
Unzweifelhaft ist von den Nationalökonomen bisher das Studium
der wirtschaftlichen Verhältnisse der primitiven Völkerschaften über-
mäßig vernachlässigt, obwohl sich daraus ungemein viel lernen läßt. Ein
besonderes Verdienst Büchers ist es, hier eingegriffen zu haben,
und die modernen Soziologen haben ja nicht unterlassen können, in
gleicher Weise vorzugehen. Ein sehr wichtiges Unterstützungsmittel
dieser Bestrebungen ist das Brüsseler Institut de Sociologie Solvay,
welches ein musterhaft organisiertes und reichlich ausgestattetes sozio-
logisches Laboratorium mit einer vortrefflichen Spezialbibliothek be-
sitzt. Der Verfasser des oben genannten Werkes hat in demselben
eingehende Studien gemacht und legt in demselben in sehr dankens-
werter Weise die Ergebnisse derselben vor.
Wie es der Titel besagt, beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem
Güterverkehr, doch bietet er weit mehr, ja uns will scheinen, daß ge-
rade nach anderer Richtung seine Forschungen uns noch Wichtigeres
geboten haben. Er war bestrebt, besonders die primitivsten Stufen der
Kultur ausfindig zu machen, um womöglich die ersten Anfänge des
Güterverkehrs aufstellen zu können. Mit Recht rügt er, daß die Sozio-
logen bisher eine genaue Staffelung über die Entwicklungsstufen von
den ersten Anfängen an nicht aufgestellt haben. Uns ist aber etwas
zweifelhaft, ob man darüber überhaupt zu einer Einigung gelangen
würde. Er erstreckt seine Untersuchung auf die Tasmanier, Botokuden,
Feuerländer, Andamanen Insulaner, Negrikos der Philippinen, Busch-
männer, Seri-Indianer, Weddahs und greift außerdem auf die euro-
päische Urgeschichte zurück. Er legt besonderen Wert darauf, nach-
zuweisen, daß der Güterverkehr der Wilden nicht allein im Tausch-
verkehre besteht und auch nicht der stillschweigende Handel als der
ursprünglichste anzusehen sei, daß vielmehr schon ein beträchtlicher
Güterverkehr zwischen Stämmen und außerdem zwischen Individuen
desselben Stammes stattfindet, auf dem Wege des Scheukens, wobei
allerdings ein Gegengeschenk erwartet wird, welcher mehr oder weniger
auf fester Usance beruht, die natürlich im Laufe der Zeit an Umfang
und Festigkeit zunimmt, wodurch dann nach ihm der „Geschenktausch“
sich ausbildet. Von allgemeinem Interesse sind dann seine Ausführungen
über die Entwicklung der Arbeitsteilung, die er übrigens nicht als das
Primäre, sondern vielmehr als das Sekundäre durch den Tauschverkehr
sich Entwickelnde ansieht. War auch schon von anderer Seite, wie von
H. Panckow, Ratzel u. a. auf die Stammesweise ausgebildete Arbeits-
teilung und innerhalb desselben Stammes die Zerteilung in Kasten und
dadurch bevorrechtete Schichten in einem Volke hingewiesen, so er-
270 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
halten wir hier doch noch besondere beachtenswerte Nachweise für
diese Erscheinung.
Einen wesentlichen Teil des Güterverkehres findet er herbeigeführt
durch den Gebrauch streng vorgeschriebener Abgaben an die Häupt-
linge, dann aber an die verschiedenen Verwandten und älteren Personen,
die sich vielfach in merkwürdig ausgedehntem Maße vorfinden und die eine
in soziologischer Hinsicht nicht genügende Berücksichtigung gefunden
haben.
Besondere Beachtung verdienen seine Angriffe gegen die Bücher-
schen Aufstellungen von der individuellen Nahrungssuche und dem sonst
von ihm aufgestellten Bilde des sozialen Urzustandes. Besonders wendet
er sich auch gegen die Auffassung des ausschließlich individuellen Be-
sitzes auf primitivster Stufe der Kultur und Leugnung eines Erbrechtes
resp. des Usus der Vererbung. Der Verfasser weist vielmehr nach,
daß die Vererbung des Besitzes ganz allgemeiner Brauch bei den
von ihm untersuchten Völkern ist, außer bei den Buschmännern, bei
denen die ganze Habe dem Toten mit ins Grab gegeben wird.
Der Verfasser wendet sich auch gegen Engels Auffassung, einer
ursprünglichen kommunistischen Gesamthaushaltung, vielmehr verwirft
er die Annahme sowohl einer kollektiven Produktion, die nicht einmal
für die Familie anzuerkennen sei, wie ebensowenig eine gleiche Ver-
teilung der Nahrungsmittel stattfinde, vielmehr bleibe für ein ungeteiltes
Privateigentum ein weiter Spielraum allgemein gegeben.
Wir müssen dem Verfasser für seine umsichtige und interessante
Arbeit in hohem Maße dankbar sein, wenn auch gewiß weitere Spezial-
untersuchungen manche Aenderungen in seinen Aufstellungen herbei-
führen dürften, und nichts wäre wünschenswerter, als daß wir bald eine
größere Zahl ähnlicher Arbeiten erhielten, welche das reiche Material
über die wirtschaftlichen Verhältnisse der primitiven Völkerschaften,
das uns eine große Zahl von Forschungsreisenden geliefert hat, für
unsere Wissenschaft verwerten. J. C.
Brawer, A. J., Galizien, wie es an Oesterreich kam. Eine historisch-statistische
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Wien, F. Tempsky, 1910. gr. 8. 107 SS. M. 4.—.
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Roermond, J. J. Romen & Zonen, 1909. gr. 8. XVI—120 blz. fl. 1.—.
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tion des Doctrines politiques XIV. Paris (Giard & E. Briere) 1909.
622 SS. 6 fres.
Die vorliegende Arbeit stellt eine eingehende, umfassende Ver-
teidigungsschrift des Munizipalsozialismus dar; zwar sind in den letzten
Jahren eine ganze Reihe, vor allem auch französischer Schriften er-
schienen, die, auf dem gleichen Standpunkte wie Mater stehend, diesen
Munizipalsozialismus verfechten, aber nach einer nicht unwichtigen und
nicht uninteressanten Richtung hin schlägt Mater dabei zum Teil neue
Wege ein. Er sucht nämlich diesen Munizipalsozialismus historisch zu
rechtfertigen und zu verteidigen. Ein großer Teil des Buches ist dem
Nachweis gewidmet, daß die Grundgedanken des heutigen Munizipal-
sozialismus schon recht alt seien; eingehende Erörterungen über die
Entstehung der Dorfgemeinden und Städte, über ihre weitere Entwick-
lung das Mittelalter hindurch, das wirtschaftliche und soziale Leben in
ihnen sollen dafür den Nachweis erbringen. In der Tat kann es kaum
einem Zweifel unterliegen, das haben zahlreiche wirtschaftshistorische
Arbeiten, deren Ergebnisse der Verfasser geschickt verwertet und zu-
sammenfaßt, gezeigt, daß die ältere Dorf- und Stadtverfassung und vor
allem das wirtschaftliche und soziale Leben in diesen älteren Gemein-
wesen zahlreiche ähnliche Züge mit den Bestrebungen aufwies, die man
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 18
274 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
heute im allgemeinen mit dem Ausdrucke „Kommunalsozialismus“ zu-
sammenfaßt, eine Form des gesellschaftlichen Lebens, welche Mater für
die ältere Zeit als „communisme municipal“ bezeichnet. Er folgert
dann weiter aus diesen Ergebnissen, daß der heute von so vielen Seiten
bekämpfte Munizipalsozialismus keineswegs den ihm so häufig nach-
gesagten revolutionären Charakter aufweise, sondern daß er, wie schon
der Titel des vorliegenden Buches, in dem diese Ergebnisse vorweg-
genommen sind, besagt, eher einen konservativen Grundzug trage. Nach
dieser historischen Betrachtung folgt ein zweiter Teil, der, vorwiegend
wirtschaftspolitischen Charakters, die sozialen und wirtschaftlichen Vor-
teile des Munizipalsozialismus darzustellen die Aufgabe hat. Von den
hierher gehörigen Kapiteln seien besonders diejenigen hier hervor-
gehoben, in denen die Vorteile des Munizipalsozialismus geschildert und
die Argumente seiner Gegner entkräftet werden sollen, und dann vor
allem die schöne Uebersicht, die in Kap. XIII über die Entwicklung
der munizipalsozialistischen Theorien und Lehren gegeben wird, eine
Uebersicht, die sich von Thomas von Aquin bis zu den letzten Schriften
Anton Mengers erstreckt. In dem, was Mater zugunsten des Munizipal-
sozialismus anführt und in dem, was er gegen dessen Gegner einwendet,
ist ungemein viel Beachtenswertes enthalten, aber doch kann das darüber
von ihm Vorgebrachte nicht allseitig befriedigen.
Nicht der Umstand, ob Munizipalsozialismus etwas prinzipiell Neues
ist, ob er mit allem Hergebrachten bricht, oder ob er, wie Mater meint,
nur ein weiteres Glied in einer jahrhundertelangen Entwicklung ist,
kann über seinen gesellschaftlichen Wert oder Unwert entscheiden; be-
stimmend darüber allein können lediglich seine wirtschaftlichen und
sozialen Wirkungen sein. Bei deren Beurteilung ist Mater doch wohl
nicht immer tief genug gegangen, vor allem dort nicht, wo er die
Gegner dieses Munizipalsozialismus zu widerlegen versucht. Eine Reihe
dieser gegnerischen Argumente, die vor allem von England ausgehen,
sind zwar recht nichtssagend und auch leicht zu entkräften, wie vor allem
der Einwand, daß die Schuldenlast der Städte sich zu sehr vermehrte
oder daß die städtischen Betriebe nur ungenügend rentierten. Anders
liegt es dagegen z. B. mit den Einwänden, daß die städtischen Betriebe
unwirtschaftlicher geführt würden als Privatbetriebe und daß sie ein
Hemmnis für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt bildeten
und mit den Gefahren, die ja vor allem kürzlich bei den Verhandlungen
des Vereins für Sozialpolitik in Wien zu den lebhaftesten Erörterungen
Anlaß gegeben haben. Als bedenklichste Folge eines zu weitgehenden
Staats- und Gemeindesozialismus hat man bekanntlich das Ueberhand-
nehmen einer abhängigen Beamtenschaft und vor allem dasjenige einer
bureaukratischen Verwaltung, die auf allen Gebieten des öffentlichen
Lebens immer mehr Boden erobere, betrachtet. Das sind Einwendungen,
die sicherlich nicht leicht zu nehmen sind und die in ihrer Bedeutung weit
schwerer wiegen als die Tatsache, ob der Munizipalsozialismus nun
etwas vollständig Neues für uns ist, oder nur eine wenn auch stark ver-
änderte Neuauflage älterer gesellschaftlicher Einrichtungen darstellt.
Ob das eine oder das andere der Fall ist, scheint mir vollkommen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 975
irrelevant zu sein. Aber diese verschiedenen letztgenannten Einwen-
dungen, vor allem diejenige, welche die wirtschaftliche Seite der Ge-
meindebetriebe betont, hätte in einer so umfassenden Arbeit mehr Be-
achtung und eine eingehendere Besprechung verdient. Zwar sind diese
Einwände, selbst wenn sie ganz oder zum Teil berechtigt sein sollten,
nicht unter allen Umständen entscheidend bei der Beurteilung des
Munizipalsozialismus, da es sich dabei doch um ein gegenseitiges Ab-
wägen seiner Vor- und Nachteile handelt und diesen letzteren doch auch
große Vorzüge mannigfachster Art gegenüberstehen. Wenn man aber
die neuere Entwicklung des Gemeindesozialismus und vor allem auch
die zahlreiche Literatur darüber in den letzten Jahren betrachtet, so
sieht man, wie vielfach nicht so sehr die klare nüchterne Kenntnis
seiner sozialen and wirtschaftlichen Bedeutung, als häufig politische
Erwägungen, viel guter Wille und menschlich sehr schön anmutende
Begeisterung dabei mit im Spiele sind und den Ausschlag geben. Bei
dieser Sachlage scheint es mir aber dann doppelt wichtig zu sein, daß
die Freunde und Anhänger dieser Entwicklung die Argumente ihrer
Gegner kennen lernen und auch in eingehendster Weise zu ent-
kräften versuchen. Eine solch sachliche und nüchterne Betrachtung wird
der weiteren Entwicklung zum Gemeindesozialismus die besten Dienste
leisten.
Freiburg i. Br. Mombert.
Moll, Bruno, Die Landarbeiterfrage im Königreich Sachsen.
Leipzig 1908.
Die in geschicktem Stile geschriebene Arbeit behandelt in ihrem
ersten Abschnitt das Aufkommen des Arbeitermangels in der sächsischen
Landwirtschaft. Als Unterlage hierzu dienen dem Verfasser Berichte,
welche er teils aus archivalischem Material, teils aus älteren Veröffent-
lichungen entnommen hat. Er kommt hierbei zu dem Ergebnis, daß
schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Arbeitermangel
in der sächsischen Landwirtschaft geklagt wurde. Jedoch bezieht sich
dieser Mangel nur auf einzelne Fälle, von absolutem Mangel ist noch
keine Rede. In den 50er und 60er Jahren wird dagegen der Arbeiter-
mangel infolge des rapiden Aufschwunges der Industrie, den der Ver-
fasser etwas eingehender schildert, aber auch infolge der Intensivierung
des Landwirtschaftsbetriebes akut. Seit den 1870er Jahren ist der
Arbeitermangel, von einigen Schwankungen abgesehen, beständig im
Steigen. Von 1882—1895 hat die Zahl der landwirtschaftlichen Dienst-
boten um 18,6 Proz. die der Tagelöhner um 15,3 Proz. abgenommen.
Auch für diese Zeit bezeichnet der Verfasser den hohen industriellen
Aufschwung Sachsens als die Ursache der zunehmenden Verschlimmerung
des landwirtschaftlichen Arbeitermangels. Eine weitere Ursache erblickt
er in der durch den Getreidepreisfall herbeigeführten landwirtschaft-
lichen Krisis, welche die Rentabilität und somit die Lohnkraft der
Landwirtschaft minderte. — Der zweite Abschnitt der Schrift beschäftigt
sich mit dem heutigen Stand der Landarbeiterfrage. Moll benutzt hier-
zu die leider etwas schon veralteten Ergebnisse der Enquete des Ver-
18%
276 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
eins für Sozialpolitik aus dem Jahre 1892. Wünschenswert wäre es
gewesen, wenn der Verfasser wenigstens für einzelne Betriebe die
heutigen Lohnverhältnisse mitgeteilt hätte, da doch seit dem Jahre
1892 eine recht erhebliche Verschiebung in den landwirtschaftlichen
Lohnverhältnissen fast allenthalben eingetreten ist. Er erörtert alsdann
einzelne Maßnahmen zur Bekämpfung des Arbeitermangels. Solange ein
Ersatz der ausländischen Wanderarbeiter durch einheimische Arbeiter
nicht möglich ist, hält er mit Recht eine Zurückdrängung der Wander-
arbeiter für unangebracht. Ein eingehenderes Kapitel widmet er dem
Kontraktbruch. Dabei polemisiert er gegen Bestrebungen, welche eine
strafrechtliche Verfolgung des kontraktbrüchigen Arbeiters herbeiführen
wollen. Unerörtert läßt der Verfasser dabei die Bestrebungen, welche
eine Bestrafung desjenigen Arbeitgebers herbeiführen wollen, der
wissentlich kontraktbrüchige Arbeiter annimmt, Bestrebungen, welche
heutigentags nämlich zur Bekämpfung des Kontraktbruchs fast all-
gemein seitens der Landwirtschaft als geeigneter angesehen werden, als
die Bestrafung des kontraktbrüchigen Arbeiters. Auch in der Seßhaft-
machung der landwirtschaftlichen Arbeiter sieht der Verfasser mit Rück-
sicht auf die starke Industrialisierung des Königreich Sachsens kein
geeignetes Mittel, ebenso verspricht er sich von einem Ausbau des
behördlichen oder korporativen Arbeitsnachweises nicht viel. Er be-
hauptet hierbei, daß bisher von den preußischen Landwirtschaftskammern
in dieser Beziehung nur sehr geringe Erfolge erzielt seien. Augen-
scheinlich liegt hier eine mißverständliche Auffassung der vom Ver-
fasser benutzten Berichte vor. Denn gerade in den letzten Jahren hat
die Tätigkeit der Kammerarbeitsnachweise im allgemeinen eine erheb-
liche Erweiterung erfahren. (So sei hier mitgeteilt, daß der Arbeits-
nachweis der Landwirtschaftskammer für die Provinz Sachsen im Jahre
1896 5585, 1906 16729 und 1908 25050 Vermittlungen ausführte.)
In dem Resumé seiner Arbeit verlangt schließlich der Verfasser die
Durchführung der Koalitionsfreiheit für die landwirtschaftlichen Arbeiter,
wovon er die Lösung der Landarbeiterfrage eher erhofft, als von Maß-
regeln gegen den Kontraktbruch, als von Kolonisationsversuchen, als
von einer Verbesserung des Arbeitsnachweises, als von der privaten
Wohlfahrtspflege. Durch welche gesetzlichen Bestimmungen die Koali-
tionsfreiheit der landwirtschaftlichen Arbeiter im Königreich Sachsen
beschränkt ist, gibt der Verfasser dabei nicht an. Wahrscheinlich wäre
er bei Einziehung von Erkundigungen zu dem Ergebnis gekommen, daß
das Königreich Sachsen nicht zu den Gebieten des Deutschen Reiches
gehört, in denen irgendwelche Beschränkungen der Koalitionsfreiheit
bestehen. Franz Mendelson.
Rost, Hans, Das moderne Wohnungsproblem. IV u.
21 S. Sammlung Kösel, Heft 30. Köselsche Buchhandlung, Kempten
und München, 1909.
Der Verfasser hat vor einigen Jahren eine Wohnungsenquete in
der Stadt Augsburg durchgeführt, die in recht gründlicher Weise in
die Wohnungsverhältnisse der alten Reichsstadt Einblick gebracht hat.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 277
Bei dieser — bis heute ja nur wenigen Volkswirten möglich gewesenen —
praktischen Arbeit hat er offenbar das Rüstzeug zu seiner vorliegenden
Behandlung des modernen Wohnungsproblems gewonnen. Aus den ein-
zelnen Abschnitten tritt dementsprechend die Schilderung der Wohnungs-
zustände in der Gegenwart am meisten hervor. Es ist erfreulich, daß
dabei zablreiche vergleichende Zusammenstellungen deutscher Städte
gegeben sind, und weiter, daß das Statistische Jahrbuch deutscher
Städte hierfür die wichtigste Materialquelle bildete. Neben den großen
Handbüchern der Wohnungsfrage von Jäger und Eberstadt trägt eine
so gedrängte Behandlung des Wohnungsproblems gewiß zur weiteren
Vertrautmachung mit der Wohnungsfrage bei. Der niedrige Preis (1 M.)
macht das Büchlein außerdem wohl auch breiteren Schichten zugänglich.
Hellmuth Wolff.
Forst, Wilhelm, Zurück ins Paradies ist die Lösung des sozialen Problems.
Die hohepriesterliche Inthronisierung und Seßhaftmachung der Frau als verschwesterte
Gattungsspezies in der paradiesischen Stammesfamilie ist die lebend. Religion. 3. Aufl.
Helpenstein, W. Forst (1909). 8. VIII—249 SS. M. 2,50.
Joachim, Hermann, Handbuch der Wohltätigkeit in Hamburg. Herausgeg.
vom Armenkollegium und in dessen Auftrage bearbeitet. 2. Aufl. Hamburg, Lucas
Gräfe, 1909. 8. XXVI—501 SS. M. 3.—.
Kähler (Prof.), Die Grundlagen der Dienstbotenfrage. Referat nebst Diskussions-
reden. Berlin, Vaterländische Verlags- und Kunstanstalt, 1910. 8. 61 SS. M. 0,50.
(Hefte der freien kirchlich-sozialen Konferenz. Heft 43.)
Kaphengst-Kohlow, Axel v. (Reichstags-Abg.), Soziale Kolonisation. Ein
Beitrag zur Beschäftigung vorübergehend Arbeitsloser. Materialbeiträge von Hans Ost-
wald. Berlin, J. Harrwitz Nachf., 1909. gr. 8. 96 SS. M. 1,50.
Lindner, F., Der Wohnungsaufsichtsdienst in Bayern. München, Mages & Müller,
1909. kl. 8. 160 SS. M. 2.—.
Most, Otto, und Heinz Potthoff, Fürsorge für Stellenlose. Düsseldorf, Werk-
meister- Buchhandlung, 1910. 8. 46 SS. M. 0,40. (Schriften des deutschen Werk-
meister-Verbandes. Heft 13.)
Plass, Louis (Erziehungsheims-Dir.), Praktische Erziehungsarbeit im Fürsorge-
heim „Am Urban“ Ein Beitrag zur sozialen Erziehungsreform. Berlin, Carl Hey-
mann, 1910. gr. 8. IV—104 SS. M. 2.—.
Seidel, Robert (Priv.-Doz.), Soziale Frage, Schule und Lehrerschaft. Ihr Zu-
sammenhang und ihr Verhältnis. 2. Aufl. Zürich, Orell Füssli (1910). 8. 80 SS.
M. 1.—.
Simons, A. M., Klassenkämpfe in der Geschichte Amerikas. Aus dem Englischen
übersetzt von B. L. Stuttgart, Paul Singer (1909). gr. 8. 40 SS. (Ergänzungshefte
zur Neuen Zeit. Nr. 7. 1909/1910. Ausgegeben am 31. Dezember 1909.)
Strecker, R., Zur Frauenbewegung. 3. verb. Aufl. Darmstadt, Eduard Roether,
1910. 8. III—38 SS. M. 0,40.
Theimer, Camilla, Frauenarbeit in Oesterreich. Wien, Ambr. Opitz Nachf.,
1909. gr. 8. 251 SS. M. 4.—.
Wirken, Das soziale, der katholischen Kirche in Oesterreich. 4. Bd., II. Heft.
Mioni, Hugo (Prof.), Diözese Triest-Capodistria.. Wien, Ambr. Opitz Nachf., 1909. gr. 8.
96 SS. M. 3,40.
Bosnyák, Zoltan de, et C° L. Edelsheim-Gyulai, Le droit de Penfant
abandonné et le système hongrois de protection de l’enfance. Avec une préface de
Minist. M. le comte Jules Andrässy. Budapest, C. Grill’s Hofbuchh., 1909. gr. 8.
XVI—-511 SS. M. 12.—.
Garriguet, L., La valeur sociale de Pévangile. Paris, Bloud et Ce, 1909. 16.
319 pag. (Études de morale et de sociologie.)
Maurivex, Louis, De la question sociale. Tome 1": Économie politique.
Paris, V. Giard & E. Brière, 1909. 18. 310 pag. fr. 3.—.
278 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Vermeersch, A. (S. J.), et A. Müller (S. J.) Manuel social. La législation
et les oeuvres en Belgique. Avec une préface de M. Gérard Cooreman. ` Zär: édition,
entièrement refondue. Tome II. Louvain, A. Uystpruyst, 1909. 8. XX—681 pag.
Abbott, Edith, Women in industry; a study in American economic history ;
with an introductory note by Sophonisba P. Breckinridge. New York, Appleton, 1910.
8. XXII—408 pp. $ 2.—.
Abram, A., Social England in the XVth century; a study of the effects of
economic conditions. New York, Dutton, 1909. 12. XV—244 pp. $ 1.—.
Britton, Wiley, The white slavery; a study of the present trades-union system.
Akron, Werner Co. (1909). 8. 328 pp. $ 1,50.
Paston Letters, The. A selection illustrating English social life in the 15th
century. Edited with introduction and notes by M. D. Jones. Cambridge, University
Press, 1909. 12. 88 pp. 1/.—.
Peabody, Francis Greenwood, The approach to the social question. New
York, The Macmillan Company, 1909. 8. VII—210 pp. $ 1,25.
Teaching, The social, of the Bible; edited for the Wesleyan Methodist Union
for Social Service by S. E. Keeble. New York, Eaton & Mains (1909). 8. XI—
283 pp. $ 1.—.
Dalmazzo, Fanny, La tutela sociale dei fanciulli abbandonati o traviati. Torino,
fratelli Bocca, 1910. 8. 115 pp. 1. 3.—.
Magrini, Effren, Le abitazioni popolari. Seconda edizione, riveduta ed ampliata.
Milano, Ulrico Hoepli, 1910. 16. XV—465 pp. (Manuali Hoepli.)
Hamel, J. A. van, Handleiding bij de practijk der kinderwetten. Uitgegeven in
opdracht van den Nederlandschen Bond tot kinderbescherming. 3e, geheel verm. en
bijgew. druk. Haarlem, H. D. Tjeenk Willink & Zoon, 1909. kl. 8 X1I—206 blz.
fl. 1,50.
Slotemaker de Bruine, J. R., Christelijke sociale studiën. (Supplement van
den eersten druk.) Utrecht, G. J. A. Ruys, 1909. 8. IV—66 blz. fl. 0,60.
Sociologus, Eenige fragınenten uit toestanden in Nederland en Insulinde, be-
schouwd uit een christelijk economisch standpunt en voorgelegd aan het Nederlandsche
volk. ’s-Gravenhage, M. van der Beek, 1909. gr. 8. VI—63 blz. fl. 0,60.
10. Gesetzgebung.
Preußisch-Deutscher Gesetzeskodex. Ein chronologisch
geordneter Abdruck der in der Gesetzsammlung usw. enthaltenen Ge-
setze, Verordnungen, Kabinettsordres, Erlasse etc. mit Rücksicht auf
ihre noch jetzige Gültigkeit und praktische Bedeutung, von Paul Stoepel,
4. Aufl. bearb. von Thiele in Königsberg. 8 Bände. Frankfurt a. O.
(Trowitzsch u. Sohn) 1907—1909.
Die preußische Gesetzsammlung und das Reichsgesetzblatt befinden
sich in vollständiger Auflage nur ziemlich selten im Privatbesitz; daraus
erwächst eine Schwierigkeit für den, der die preußisch-deutsche Gesetz-
gebung zur Anwendung zu bringen oder zu studieren hat. Einen Er-
satz dafür bieten Sammlungen wie die vorliegende, seit langem berühmte.
Sıe bringt aber, wie der Titel besagt, die Gesetze nur mit Rücksicht
auf ihre jetzige Gültigkeit, ohne wie der Verfasser im Vorwort anführt,
„eine maßgebende Entscheidung darüber zu treffen, was aufgehoben ist
und was heute noch gilt“. Er hat sich „vielmehr darauf beschränkt,
alle diejenigen Bestimmungen auszumerzen, welche entweder ausdrück-
lich aufgehoben sind oder zweifellos insbesondere nach den Entschei-
dungen der Gerichte oder nach Aussprüchen der Motive nicht mehr
bestehen oder auch sonst kein erhebliches Interesse bieten“. In allen
Fällen, in denen es zweifelhaft und Frage der Auslegung ist, wieweit
eine gesetzliche Bestimmung noch Gültigkeit hat, ist der Entscheidung
des Benutzers des Werkes mit Recht nicht vorgegriffen worden.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 279
Bei dem außerordentlich großen Umfang des Werkes ist es nicht
zu vermeiden, daß hier und da auch aufgehobene oder unpraktische
Bestimmungen, z. B. der Erlaß vom 25. Juni 1848 außer Ziffer 5, das
Gesetz vom 20. Oktober 1862 stehen geblieben sind, man andererseits
vereinzelt einmal etwas vermißt, so das Gesetz vom 23. Juni 1876 betr.
die Vereinigung von Preußen und Lauenburg, das Gesetz vom 29. Februar
1876 betr. das Etatsjahr für den Reichshaushalt.
Als wünschenswert will es mir ferner erscheinen, daß Gesetze, wie
z. B. das Polizeiverwaltungsgesetz und das Gesetz betr. die Erweite-
rung des Rechtsweges, ähnlich wie es in den Lehrbüchern der Fall, in
der gegenwärtigen Fassung auch insofern erscheinen, als statt Bezirks-
rat und Bezirksregierung die jetzigen Behörden Bezirksausschuß und
Regierungspräsident angeführt, sowie das Fortfallen von $ 9 des erst-
erwähnten, SS 4, 13 und 14 des letztgenannten Gesetzes durch Ein-
klammern oder dgl. kenntlich gemacht wird.
Für die Handhabung des ganzen Werkes ist von großer Bedeutung
der vom Verfasser in Verbindung mit Herrn Referendar Hoosmann be-
arbeitete (8.) Sachregisterband, der — fast allzu stattlich — 887 Seiten
umfaßt. Die Aufgabe eines solchen Registers kann sich darauf be-
schränken, die Auffindung von Gesetzen, deren Datum man nicht weiß,
durch kennzeichnende Stichwörter, wie Eisenbahnpostgesetz, übertrag-
bare Krankheiten (Bekämpfung), höhere Verwaltungsbeamte (Ausbildung)
zu ermöglichen, oder sie kann wie im vorliegenden Falle weitergehend
sich auch auf Einzelheiten der Gesetzgebung erstrecken, wie z. B. unter
dem Stichwort „Beanstandung“ die entsprechenden Bestimmungen der
Städte-, Kreis- usw. Ordnungen mit Seitenzahl etc. angeführt sind.
Damit gewinnt ein solches Register eine weitgehende selbständige Be-
deutung, es wird zu einer Art Gesetzeslexikon und ermöglicht eine
rasche Orientierung darüber, welche gesetzlichen Vorschriften über
einen bestimmten Gegenstand handeln. Ueber die Auswahl der Stich-
worte, die, soll das Register nicht zu einem mehrbändigen Werke an-
schwellen, hier besonders schwierig ist, kann man verschiedener Meinung
sein. Manches Stichwort hätte meines Erachtens fortbleiben können,
manches gekürzt werden; das Wort „Krankheiten“ umfaßt z. B.
3 Spalten, was ein rasches Auffinden erschwert. Entsprechend dem
oben für die ersten Bände Erwähnten, möchte ich es auch hier
für richtiger halten, Stichworte wie Bezirksverwaltungsgericht und
-direktor als aus der Verwaltungsgesetzgebung verschwundene nicht auf-
zunehmen.
Durch praktische Anordnung des Materials und geschickte Aus-
stattung haben Verfasser und Verleger es ermöglicht, die unge-
heure Gesetzgebung in 7, trotz ihres Umfanges, — die mir vorliegenden
Bände I und II enthalten je etwa 1100 Seiten — handlichen Bänden
zu vereinigen. Durch alle seine hervorragenden Eigenschaften ist der
Codex das, was er sein will, ein ständiger Begleiter und zuverlässiger
Führer durch die verschlungenen Pfade der Gesetzgebung, und wer ihn
einmal kennen gelernt hat, wird ihn je länger um so weniger missen
wollen. Herbert Conrad.
280 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Aenderungsvorschläge zum Entwurf einer Strafprozeßordnung nebst Gerichts-
verfassungsgesetz. Veröffentlicht vom Berliner Anwaltsverein. Berlin, Carl Heymann,
1909. 4. III—99—30 SS. M. 3.—.
Geller, Leo, Gesetz über Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Voll-
zugsvorschriften. 2., verm. Aufl. Wien, Moritz Perles, 1910. kl. 8. IV—234 SS.
M. 3,20.
Neukamp, Ernst (Reichsger.-R.), Die Gewerbeordnung für das Deutsche Reich
in ihrer neuesten Gestalt. 8., durchgearb. Aufl. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1910. 8.
XVI—684 SS. M. 6.—.
Dupré, Réné, La protection internationale des travailleurs en ce qui concerne
/assurance et la prévoyance sociale. Étude de droit international public et privé. Paris,
V. Giard & E. Brière, 1909. 8. 129 pag.
Graux, Gustave, Le contrôle de la durée du travail dans les établissements
industriels. Thèse. Paris, E. Larose, 1909. 8. 202 pag.
Percerou, J., Des faillites et banqueroutes et des liquidations judiciaires. Tome
1%. Paris, Arthur Rousseau, 1909. 8. 886 pag. fr. 12.—. (Traité général de droit
commercial, publ. par Ed. Thaller.)
11. Staats- und Verwaltungsrecht.
Reorganisation, Die, der inneren Verwaltung in Preußen besonders die Ein-
richtung von Landeskultur-Behörden. Berlin, Illustrierte landwirtschaftliche Zeitung, 1909.
8. 47 SS. (Aus: Deutsche Tageszeitung.)
Dubuc, Joseph, La question et l’interpellation. Thèse. Paris, A. Pedone,
1909. 8. 263 pag.
Flandin, Étienne, La représentation proportionnelle. Mécanisme et fonctionne-
ment. Paris, H. Le Soudier, 1909. 16. 64 pag. fr. 0,50.
Caetani, Leone (deputato), La riforma elettorale, il sistema proporzionale e
l’evoluzione del parlamentarismo. Roma, casa ed. Italiana, 1909. 8. 131 pp.
Fabius, D. P. D., Staatsrecht en politiek. 2 dln. Utrecht, G. J. A. Ruys, 1909.
8. fl. 7,50.
12. Statistik.
Allgemeines.
Grotjahn, A. u. Kriegel, F., Jahresbericht über soziale Hygiene,
Demographie und Medizinalstatistik, sowie alle Zweige des sozialen
Versicherungswesens. 8. Band: Bericht über das Jahr 1908. Jena
(G. Fischer) 1909. 365 SS.
Grotjahn und Kriegel haben ihrem Jahresbericht seit dem Jahre
1905 den obengenannten Titel gegeben, der früher „Jahresbericht für
soziale Hygiene und Demographie“ lautete. Der Grund für die Titel-
änderung war, daß früher manchem nicht genügend vor Augen geführt
war, daß die soziale Medizin, unter welchem Namen man zurzeit die
Beziehungen der Medizin zur Arbeiterversicherung versteht, zum größten
Teil (mit Ausnahme der Gutachtertätigkeit) in den Rahmen der sozialen
Hygiene fällt. Von Anfang an war daher auch die soziale Medizin
in ihrer ganzen Ausdehnung in die Berichte aufgenommen. Unter
sozialer Hygiene verstehen die Verfasser nach der Definition in den
Vorworten des 3. und 4. Bandes „die Lehre von den Bedingungen,
denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter einer Gruppe
von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen
und deren Nachkommen unterliegt, und von den Maßnahmen, mit Hilfe
deren jene Bedingungen dem körperlichen Befinden der Menschen dienst-
bar gemacht werden können“. Das Hereinnehmen der Bevölkerungs-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 281
statistik halten die Verfasser mit Recht für nötig, weil die Begriffe
dieser Wissenschaft für den Hygieniker zur allgemeinen Orientierung
nötig sind, wie dies auch der Präsident des Kais. Gesundheitsamts auf
dem 14. internationalen Kongreß für Hygiene und Demographie (Bericht
über diesen Kongreß I, 172) hervorhob.
Das bedeutende Anschwellen der Literatur auf den Gebieten, die
in den Rahmen der sozialen Hygiene fallen, geht daraus hervor, daß
die Bibliographie für 1908 allein 181 Seiten umfaßt. Die einzelnen
Referate stammen außer von den Herausgebern von Berner, Blaschko,
A. Gottstein, Hüls, Kaupp, O. Neumann, Prinzing, Spiethoff, Südekum
und Tugendreich.. Die Jahresberichte haben seit ihrem ersten Er-
scheinen (s. auch die Besprechung in diesen Jahrbüchern Bd. 26 S. 393)
viele Freunde gewonnen und sind für Hygieniker, Nationalökonomen und
Statistiker ein unentbehrlicher Führer auf dem weiten Gebiet der sozial-
hygienischen Literatur geworden.
Ulm. F. Prinzing.
Tuchscherer, J. B. H., Statistisch onderzoek. Handleiding ter beoefening van
de statistiek, de grafische methode, en de administratieve statistiek. Rotterdam, Nijgh &
van Ditmar, 1909. gr. 8. XII—148 blz. fl. 2,90.
Deutsches Reich.
Beiträge zur Statistik der Stadt Straßburg i. E. Herausgeg. vom Statistischen
Amte der Stadt. Heft VIII: Die Ergebnisse der Grundstückszählung vom November
1905 und der Wohnungs- und Volkszählung vom 1. Dezember 1905. Im Auftrage des
Bürgermeisters bearb. von K. Eichelmann. Straßburg, Druck von M. Du Mont Schau-
berg, 1909. Lex.-8. 52—125 SS.
Evert, Georg (Ober-Reg.-R.), Die preußischen Landtagswahlen von 1908 und aus
früheren Jahren. Mit 3 Taf. Im amtlichen Auftrage bearbeitet. Berlin, Verlag des
Königlichen Statistischen Landesamts, 1909. Imp.-4. III—XLIX—279 SS. M. 9.—.
(Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungsheft XXX.)
Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt.
204. Bd. Berufsstatistik. 3. Abt. Die Bevölkerung Preußens nach Haupt- und Neben-
beruf. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1909. Imp.-4. V—4-834 SS. M. 6.—.
— 229. Bd. Die Krankenversicherung im Jahre 1908. Ebenda 1909. Imp.-4. 21—
81 8S. M. 1,20.
Statistik des hamburgischen Staates. Herausgeg. vom statistischen Bureau.
24. Heft. Alter, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Religionsbekenntnis und Geburts-
ort der Bevölkerung im hamburgischen Staate (Volkszählung 1905. 2. Teil). Ergeb-
nisse der Bevölkerungsaufnahmen vom 1. XI. 1906, 1907 und 1908. Sterblichkeits-
tafel für den hamburgischen Staat für 1906. Hamburg, Otto Meissner, 1909. 4. III—
82 SS. M. 4.—.
Statistik, Preußische. (Amtliches Quellenwerk.) Herausgeg. in zwanglosen
Heften vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamt in Berlin. 220. Die Ge-
burten, Eheschließungen und Sterbefälle im Preußischen Staate während des Jahres
1908. Nebst einem Anhang, enthaltend die Altersverhältnisse der eheschließenden
Männer und Frauen 1905/1906 im Preußischen Staate, Berlin, Verlag des Königlichen
Statistischen Landesamts, 1909. Imp.-4. XXVI—256 SS. M. 7,20.
Oesterreich.
Statistik, Oesterreichische. Herausgeg. von der k. k. statistischen Zentralkom-
mission. 87. Bd. II. Statistische Nachweisungen über das zivilgerichtliche Depositen-
wesen, die kumulativen Waisenkassen und über den Geschäftsverkehr der Grundbuchs-
ämter im Jahre 1907. 2. Heft der „Statistik der Rechtspflege“ für das Jahr 1907.
Wien, Carl Gerolds Sohn, 1909. 4. II —XXXVIII—118 SS. M. 4,80.
282 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Holland.
Bijdragen tot de crimineele aetiologie. Uitgegeven door het Centraal Bureau
voor de Statistiek als zelfstandige bijlagen der Crimineele Statistiek. N° 1. De sexueele
eriminaliteit. te ’s-Gravenhage, Gebr. Belinfante (1909). 4. 63 blz. fl. 0,25.
Bijdragen tot de Statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks. Uitgegeven door
het Centraal Bureau voor de Statistiek. CXI. Statistiek van het Rijkstucht- en -opvoe-
dingswezen over het jaar 1907. ’s-Gravenhage, Gebr. Belinfante, 1909. 4. XXI—
43 blz. fl. 0,50. — CXVIII. Statistiek van de loonen der volgens de Ongevallenwet
1901 verzekerde werklieden, in 1904. (Provincie Gelderland.) Ebenda 1909. 4.
XXXII—154 blz. fl. 0,25. — CXXIII. Statistiek van de sterfte naar den Leeftijd en naar
de oorzaken van den Dood over het jaar 1908. Ebenda 1909. 4. LII—282 blz. fl. 0,75.
Belgien.
Delruelle, L., et A. Delmer, Statistique des accidents miniers. (Commission
d'enquête sur la durée du travail dans les mines de houille.) Bruxelles, Misch et
Thron, 1909. 4. VIII—504 pag. fr. 10.—.
13. Verschiedenes.
Blondel, Georges, L’education économique du peuple Allemand.
Paris 1908. 136 SS.
Die Bedeutung dieser Schrift des in Deutschland wohlbekannten
und Deutschlands wirtschaftliche Verhältnisse gut kennenden National-
ökonomen liegt für den deutschen Leser nicht in dem, was sie als Stoff
bietet, sondern in der Tatsache, daß dieser Verfasser ihn behandelt, und
in der Art, wie er ihn auffaßt. Der Verfasser stellt das deutsche gewerb-
liche und kaufmännische Unterrichtswesen dar. Nur wenige Deutsche
kennen diese Materie und die Schwierigkeiten ihrer literarischen Bear-
beitung wirklich gründlich. Wer sie aber kennt, wird sich nicht wundern,
daß dem Verfasser manche Ungenauigkeiten im einzelnen und nicht ganz
richtige Auffassungen im System der Schulen unterlaufen: es ist ohne
weiteres richtig, was der Verfasser verschiedentlich betont, daß das System
nicht leicht aufzubauen und die einzelnen Schulen nicht leicht zu systemati-
sieren sind. Der Verfasser hat auf seinen Reisen manche Schule selbst
angesehen. Aber die literarischen Arbeiten der letzten Zeit sind ihm
augenscheinlich nicht alle bekannt, sondern er hat sich mehr auf ge-
legentliche Informationen hin sein Urteil gebildet. Man kann sich
nur wundern, daß das Bild, das er als Ausländer uns entwirft, die
treibenden Kräfte und die Tatsachen im wesentlichen richtig wieder-
gibt, die den Deutschen selbst nicht bekannt sind. Daß er einzelnes
zu stark heraushebt, einzelne Schulen übertrieben hoch auf Kosten
anderer einschätzt, vermag das Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen.
Man kann über diese Tatsachen hinweggehen. — Was aber wichtig ist,
ist der Umstand, daß Blondel unseren Fachunterricht zum Gegen-
stand einer besonderen Darstellung macht, daß er die Aufmerksamkeit
der französischen maßgebenben Wirtschaftskreise auf diese Einrichtungen
zur Schulung unseres gewerblichen und kaufmännischen Nachwuchses
richtet, und damit allein schon diesem Unterrichtswesen eine bedeutsame
Rolle in unserem nationalen Aufschwung zuerkennt. Und endlich sind
beachtenswert die allgemeinen Beobachtungen, die er in seiner aus-
führlichen Vorrede und in seinen „Conclusions“ anknüpft. Seine Vorrede
kennzeichnet den Geist, den die französische höhere Bildung durchweht,
in seinen Einwirkungen auf das Wirtschaftsleben: Eine Ueberschätzuug
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 283
derklassischen Bildung, eine unzweckmälig eingerichtete „moderne Bildung“
entfremden die Jugend der wirtschaftlichen Arbeit, vernichten Initiative
und Tatkraft, lassen das Diplom als Anwartschaft auf eine ruhige Beamten-
stellung mit Pensionsberechtigung höher einschätzen als jede Arbeit
auf dem wirtschaftlichen Gebiet, speziell im Handel, und erzeugen
schließlich ein gebildetes Proletariat, dessen Kräfte nicht voll ausgenutzt
werden. Und in seinem Schluß zieht er dann die allgemeinen Folgerungen
aus der Darstellung des deutschen fachlichen Unterrichtswesen. Es ist
eine Frage der Erziehung, der Berufswahl, der öffentlichen Meinung, daß
die einseitige Ueberschätzung der klassischen Studien und der liberalen
Berufe aufhören und an ihre Stelle eine richtige Würdigung der wirt-
schaftlichen Tätigkeit trete. Mit dieser Umstimmung muß dann im
Unterrichtswesen eine Aenderung Hand in Hand gehen: Das Fachschul-
wesen für Handel und Industrie von den höchsten Formen an muß
besser ausgestaltet werden. Einzelne Vorschläge zu machen, vermeidet
Blondel; aus dem Anlaß seines Buches wie aus der ausführlichen
Mitteilung der einschlägigen Tatsachen geht aber hervor, daß ihm eine
Handelshochschule nach deutschem Muster als erstes Ziel dieser Aende-
rungen vorschwebt.
Aachen. W. Kähler.
Barten, Ernst, Notwendigkeit, Erfolge und Ziele der technischen Unfallverhütung.
Groß-Lichterfelde, A. Troschel, 1910. gr. 8. 101 SS. M. 3.—.
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Ribbing, Seved (Prof.), Hygiene und Ethik der Ehe. 2 Vorträge. Deutsch
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Bibbing, Seved (Prof.), Sexuelle Hygiene und Ethik für die männliche Jugend.
2 Vorträge. Deutsch herausgeg. von Oskar Reyher. Darmstadt, Peter Hobbing, 1910.
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Essen, G. D. Baedeker, 1909. 8. 32 SS. M. 0,60.
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284 Die periodische Presse des Auslandes.
Die periodische Presse des Auslandes.
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ses effets, par G. de Molinari. — La crise anglaise, par Yves Guyot. — Prévisions
commerciales, industrielles et financières pour 1910, d’apres Joseph Davies et C. P. Hai-
ley. — La liquidation des loteries, par Georges de Nouvion. — Le nouveau tarif des
douanes à la Chambre des députés, par Cohen. — Lëtat actuel de la question des
retraites ouvrières en France, par Maurice Bellom. — ete.
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Note sur la durée moyenne de la vie dans une petite ville de province, par Paul
Meuriot. — Statistique des successions et donations, par G. Delamotte. — ete.
Réforme Sociale, La. 28° année. N° 96, 16 décembre 1909: Le syndicalisme chez
les ouvriers de Pagriculture, par A. Souchon. — La fuite des populations pastorales
françaises, par L.-A. Fabre. — Le travail des femmes à la campagne (dernier article),
par Ardouin-Dumazet. — Les concours d’apprentis institués par le conseil de prud'-
hommes de Nimes, par André Vovard. — L’oeuvre des gares et des ports de mer, par
Jules Fourdinier. — ete.
Revue generale d’administration. 32° année, novembre 1909: Le contrôle juri-
dietionnel des règlements d'administration publique (suite), par Henry N&zard. — ete.
Revue d’&conomie politique. 23° Année, N™ 11—12, Novembre—D&cembre 1909:
Les valeurs mobilières et les projets de réforme fiscale, par Henri Truchy. — L’infil-
tration des idées sociales dans la littérature économique allemande (suite et fin), par
Eugène de Philippovich. — La question du minimum de salaire dans l’industrie à
domicile en Allemagne, par Jean Leroy. — etc.
Revue internationale de Sociologie. 17° Année, N° 12, Décembre 1909: Les
formes primitives de la ville, par René Maunier. — Société de Sociologie de Paris,
séance du 10 novembre 1909: Les types sociaux: Phomme politique. Communication
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attitude towards England, by Charles Tuchmann. — The constitutional crisis, by J. A.
R. Marriott. — A general strike, by Bernard C. Molloy. — The theory of evolution and
mutual aid, by Prince Kropotkin. — A self-supporting penal labour colony, by Edith
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kers’ advances on stock exchange securities, by A. R. Butterworth. Lectures I and II.
— etc.
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(Prof.) D. H. Macgregor. — The economics of boy labour, by R. H. Tawney. — The
patents and designs act, 1907, by George Schuster. — Land as a free gift of nature,
by J. S. Furnivall. — The Swedish general strike, by T. H. Penson. — The present
state of working-class pensions in France, by Maurice Bellom. — ete.
Journal of the Royal Statistical Society. Vol. LXXII, Part 4, 31st December,
1909: The recent growth of population in western Europe, by Sir J. A. Baines. —
A suggestion for the international comparison of wages by the use of the median, by
A. L. Bowley. — The application of the method of correlation to social and economic
statisties, by G. Udny Yule. — ete.
Review, The Contemporary. No. 529, January, 1910: Fifty years of social pro-
gress, by R. F. — Higher education in India, by Sir Andrew Fraser. — The Budget and
British capital, by Lord Welby. — Canada and tariff reform, by J. J. Harpell. — etc.
Review, The Fortnightly. N° 517, January, 1910: Liberalism and the future, by
Sydney Brooks. — Every man his own landlord, by J. Ellis Barker. — Naval agree-
ment delusions: a letter from Berlin, by R. C. Long. — ete.
Die periodische Presse des Auslandes. 285
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and the navy, by H. W. Wilson. — The relations of Canada and Germany, by J.
Castell Hopkins. — The player’s poverty, by Cecil Raleigh. — ete.
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1909, Nr. 50: Wirtschaftliche Daten über Japan, von Siegmund Schilder. — Das neue
serbische Troscharinagesetz. — ete. — Nr. 51: Wirtschaftliche Verhältnisse in Argen-
nien, — Argentinische Quebrachoproduktion. — ete. — Nr. 52: Wirtschaftliche Ver-
hältnisse im nördlichen Portugal. — etc.
Mitteilungen, Volkswirtschaftliche, aus Ungarn. Herausgeg. vom königl. ung.
Handelsministerium. Jahrg. IV, Heft XI, November 1909: Volkswirtschaftliche Ent-
wicklung Ungarns. Vortrag von (Ministerial-R.) Wilhelm v. Lers. — Gesetzentwurf
über Patente. — Der Weinbau in Ungarn im Jahre 1907. — Das ungarische Tabak-
gefülle im Jahre 1908. — Die Gefahrentabelle der Arbeiterunfallversicherung. — ete.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amt im Handels-
ministerium. Jahrg. X, November 1909: Die Gewerbeinspektion im Jahre 1908 (Oester-
reich. — Wirtschaftsreehnungen minderbemittelter Familien (Deutsches Reich). —
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— ete. — Dezember 1909: Gesetzliche Regelung des Tarifvertrages (Schweiz). — Arbeits-
beirat (Oesterreich). — Die Streikbewegung im Jahre 1908 (Oesterreich). — ete. —
Sonderbeilagen: Vorschriften über die Sonntagsruhe im gewerblichen Betriebe Oester-
reichs, — Ergebnisse der Arbeitsvermittlung in Oesterreich in den Jahren 1907 und 1908.
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sellschaft österreichischer Volkswirte. Bd. 18, 1909, Heft VI: Die agrarpolitische Ge-
setzgebung der Landtage 1902— 1908, von Walter Schiff. — Die deutsche Banknovelle,
von Louis Katzenstein. — Das bosnische Kreditwesen, von Oskar Somogyi. — Die
Stellung der Notenbanken in der heutigen Volkswirtschaft, von Lumm. — etc.
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teoria dell? equilibrio economico secondo il prof. Vilfredo Pareto, di Luigi Amoroso.
— ete.
Riforma Sociale, La. Vol. XX, Fasc. 6, Novembre—Dicembre 1909: L’ opera di
rinnovamento nella Sardegna. Il presente e l’ avvenire, di Umberto Vacca Maggiolini.
— La piccola proprietà rurale in Russia, di Virginio Gayda. — La crisi americana del
1907, di Attilio Garino. — etc.
Rivista della beneficenza pubblica. Anno XXXVII, N° 11, Novembre 1909:
La pubblica assistenza ai poveri, di (avv.) Filippo Conconi. — ete.
Rivista Italiana di Sociologia. Anno XIII, Fase. V—VI, Settembre-Dicembre
1909: Cesare Lombroso e la funzione sociale della scienza, di E. Ferri. — La terra e
la vita sociale, di R. De La Grasserie. — Sulle origini del regime comunistico nel
matrimonio, di F. Ercole. — Dell esistenza e del contenuto della scienza politica, di
G. Crescimanno Vilardita. — Per la prevenzione della criminalità giovanile, di A. Mar-
tinazzoli. — ete.
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Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. 58° jaarg., 1909, december:
Het vraagstuk der vuilnisverwerking te Manchester en eenige andere steden, door A. 8.
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Bibliothèque universelle et revue suisse. N° 169, jauvier 1910: De l'assistance
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mi Louis XVI, par Maurice Dumoulin. — Mères congolaises, par C. Seguin. — ete.
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Heft 15/16: Schule und soziale Frage. Vortrag von Otto Hunziker. — Die schweize-
rische Hausindustrie, von J. Beck. (Schluß.) — Theodor Barth }. Ein Gedenkwort,
von Paul Gygax. — ete. — Heft 17: Die ländlichen Genossenschaften und das Groß-
2836 Die periodische Presse Deutschlands.
kapital, von (Prof.) Dade. -— Denkschrift über die Assimilation der Ausländer in der
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L'État moderne et la démocratie, par Pierre Baudin. — La situation des petits États
et lidée d'un cartel économique, par Eugene Baie. — La lutte des revenus et son
influence sur la distribution numérique des rentiers, par Achille Loria., — Les industries
de l’eleetrieitt au Canada, par Julien Dalemont. — Les finances autrichiennes, par
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international trade, by John J. Macfarlane. — The prosperity of the brewing industry,
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von Heinz Potthoff. — Die Wurzeln unserer Wehrkraft. Ein kritischer Beitrag zur
Statistik über die Herkunft der deutschen Soldaten, von Fritz Burgdörfer. — ete.
Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Königlich Preußischen Ministerium
der öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1910, Heft 1, Januar u. Februar: Wohlfahrtseinrich-
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Der Generalausstand der Arbeiter in Schweden. — Brasilien und seine Bahnen, von
Jänecke. — Die neueste Entwicklung der Eisenbahnen Argentiniens, von Offermann.
— ete.
Archiv für Volkswohlfahrt. ` Jahre, III, Heft 3, Dezember 1909: Ueber not-
wendige Ergänzungen des Fürsorge-, insbesondere des Säuglingsfürsorgewesens, von
(Prof.) v. Drigalski. — Streik und Arbeiterversicherung, von (Stadt-R.) H. v. Franken-
berg. — Das außerschulmäßige Bildungswesen und die Städtetage, von (Stadtbibliothekar)
Fritz. — Zur Chronik der Volkswohlfahrtspflege im Jahre 1908, von Oscar Neve.
(Forts.) — ete.
Bank, Die, 1910, Heft 1, Januar: Der extreme Kapitalismus, von Alfred Lans-
burgh. — Der Kalistaat, von Felix Pinner. — Hypothekenunrecht, von Ludwig Esch-
wege. — Die Ursachen der Geldverteuerung im Herbst 1909, von Eugen Kaufmann.
— Mütterchen Reichsbank, von A. L. — etc.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. VIII, 1909, Nr. 24: Der Treuhänder, von
(Prof.) J. Friedr. Schär, — Zur Bewertung der Börsenkurse von Industriepapieren, von
Tiegs, Reiners, Stillich. — Neues zur Verwaltungsreform, III. — ete.
Die periodische Presse Deutschlands. 287
Export. Jahrg. XXXI, 1909, Nr. 51: Der neue schwedische Zolltarif. — Wirt-
schaftliches aus den skandinavischen Ländern. — ete. — Nr. 52: Der niedrige Kurs-
stand der deutschen Staatsanleihen. — Das 50-jährige Jubiläum Queenslands, von W.
Kelbe. — ete. — Jahrg. XXXII, 1910, Nr. 1: Zur Jahreswende. — Die deutschen
Interessen in Marokko und insbesondere die Interessen der Firma Mannesmann daselbst.
— etc. — Nr. 2: Die Einfuhrscheine. — etc.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 139, Heft 1, Januar 1910: Die Lungentuberkulose
des Proletariats, von (Chefarzt) F. Köhler. — Ostmärkische Ansiedelung, von R. v. Kienitz.
— Der staatsbürgerliche Unterricht an den Schweizer Schulen, von Adolf Hedler. —
Zur Reform der Preußischen Finanzverwaltung, von (Oberverwaltungsgerichtsr.) Mrozek.
— Der Betrag der Feuerversicherungswerte in Deutschland, von (Reg.-R.) E. Freih.
v. Liebig. — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXVIII, 1909, Nr. 52: Sicherheitsvor-
schriften für die Feuerversicherung von Fabriken, von Ziegler. — Landwirtschaft und
Industrie. — Der portugiesische Handelsvertrag, von O. Ballerstedt. — ete. — Jahrg.
XXIX, 1910, Nr. 1: Englische Neuwahlen und Tarifreform, von Ballerstedt. — ete. —
Nr. 2: Die Süddeutsche Baumwollindustrie im Jahre 1909, von (Kommerz.-R.) Heinrich
Semlinger. — ete. — Nr. 3: Industrieller Wahlfonds. — etc.
Kultur, Soziale. Jahrg. 30, Januar 1910: Der Vorentwurf zu einem Deutschen
Strafgesetzbuche, von (Landrichter) Mengelkoch. — Das französische Heimstättengesetz
vom 12. Juli 1909, von Hans L. Rudloff. — Einige interessante Ergebnisse der Berufs-
und Betriebszählung von 1907, von Fr. Hitze. — ete.
Medizin, Soziale, und Hygiene. Bd. IV, 1909, Nr. 12: Die Gottsteinschen
Organisationsbestrebungen für den ärztlichen Dienst in den deutschen Großstädten, von
(8.-R.) Wilhelm Feilchenfeld. — Die Stellungnahme des Kaiserlichen Aufsichtsamts für
Privatrersicherung zur Kinderversicherung, von Otto Welge. — Die Kindersterblichkeit
auf den Philippinen, von Ernst Schultze-Hamburg-Großborstel. — etc.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. 1909, Nr. 24: Der Wirtschaftliche Aus-
schuß und der Handelsvertrag mit Portugal. — Die Denkschrift des Handelsvertrags-
vereins zum Handelsvertrage mit Portugal. — etc. — 1910, Nr. 1: Soll der portu-
giesische Handelsvertrag abgelehnt werden? Von Borgius. — Revision des Handels-
vertrags mit Portugal? — Der amerikanische Zolltarif. — ete.
Monatshefte, Sozialistische. 1909, Heft 26: Um das Wahlrecht, von Max
Maurenbrecher. — Zur Reform der preußischen Landesorganisation, von Paul Löbe. —
Agrarpolitische Aufgaben der preußischen Sozialdemokratie, von Arthur Schulz. — Die
Fortbildungsschule im Kommunalprogramm der preußischen Sozialdemokratie, von Julius
Bruhns. — ete. — 1910, Heft 1: Ein Rundblick über die amerikanische Kolonisations-
politik am Stillen Ozean, von Max Schippel. — Die gesetzliche Regelung des Arbeits-
nachweises, von Hugo Poetzsch. — ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXVII, 1909, No. 1408: Englands Wirt-
schaftspolitik. — ete. — Jahrg. XXVIII, 1910, No. 1409: Rückblick und Ausblick an
der Jahreswende. — ete. — No. 1410: Deutschlands wirtschaftliche Aktivität. — ete.
No. 1411: Die deutschen Emissionen im Jahre 1909. — Das Reichs-Kaligesetz. — ete.
Plutus. Jahr 6, 1909, Heft 52: Das Herz in der Volkswirtschaft, von C. A.
Bratter. — ete. — Jahr 7, 1910, Heft 1: 1909. Ein Rückblick, von Felix Somary.
— ete. — Heft 2: Russenpfändung. — Der Landarbeiter, von Rudolf Streich. — ete.
— Heft 3: Freihandel. -— Ein neues Verkehrsmittel, von Ernst Kliemke. — etc.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 14, 1909, Nr. 12:
Zwanglose Betrachtungen über § 1 des neuen Wettbewerbsgesetzes, von Albert Oster-
riet. — Die Abdankung des Reichsgerichts, von (Rechtsanwalt) Alfred Rosenthal. —
Ersparnisse im Warenzeichenwesen, von (Reg.-R.) Pflug. — etc.
Bevue, Deutsche. Jahrg. 35, Januar 1910: Weltanschauung und Medizin, von
Elias Metschnikoff. — Libertus Scientiae, von Sir Henry Roscoe. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VIII, No. 10, Januar 1910: Der Typus
des Genies des 14.—17. Jahrhunderts, von Otto Hauser. — Die Bedeutung der Lebens-
dauer im modernen Staate, von F. Gasters. — etc.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 4, Januar 1910: Die Deutschen im Ur-
teile des Auslandes, von (Prof.) Georg Steinhausen. (Schluß.) — ete.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1910, Heft 1, Januar: Die Eisenindustrie der
Eingeborenen Kameruns, von Guillemain. — Gedanken über die Eingebornenfrage in
288 Die periodische Presse Deutschlands.
Britisch-Südafrika und Deutsch-Südwestafrika, III, von Georg Hartmann. — Französisch-
Guinea und Kamerun, I, von Külz. — etc.
Rundschau, Masius. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XXI, 1909, Heft XII: Die zweite amtliche Denkschrift zur Privatbeamten-Ver-
sicherung und die öffentliche Kritik. — Aufgaben der Feuerversicherungs-Technik. Die
Versicherung von Modellen u. dgl. — ete.
Sozial-Technik. Jahrg. IX, 1910, Heft 1, 2: Wichtige Fragen der Unfallver-
hütung, von Konr. Hartmann. -— Fortschritte auf dem Gebiete des Heimarbeiterschutzes,
von Morgner. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. V, 1909, Nr. 24: Die Preispolitik des
Kohlensyndikates und ihre Wirkung auf die allgemeine wirtschaftliche Lage seit dem
Jahre 1908, von fe — Die lateinische Münzunion in der Gegenwart, von Albert
Calmes, — Die Lage auf dem Arbeitsmarkt, von G. Sydow. — Entwicklungstendenzen
in der niederrheinisch-westfälischen Montan-Industrie, von Kreuzkam. — ete. — Jahrg.
VI, 1910, Nr. 1: Betrachtungen über das Wirtschaftsjahr 1909, von (Reg.-R. a. D.)
Voelcker. — Ein sonderbares Kartellgesetz, von (M. d. R.) Georg Gothein. — Der Zu-
sammenschluß des Exporthandels, von Leuckfeld. — Streifzüge durch den neuen ameri-
kanischen Zolltarif, von (Rechtsanwalt) Marcuse. — etc.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 13: De la Mettrie. Zu seinem zwei-
hundertsten Geburtstage, von Victor Constans. — Fünfundzwanzig Jahre Krankenver-
sicherung in Deutschland, von Gustav Hoch. — ete. — Nr. 14: Zur Methode der poli-
tischen Oekonomie, von Gust. Eckstein. (Schluß.) — ete. — Nr. 15: Das Kali-Zwangs-
syndikat, von M. Nachimson. — ete. — Nr. 16: Der preußische Parteitag, von Hans
Block. — Das Ministerium Briand, von Charles Rappoport. — ete.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 2, Heft 10,
Januar 1910: Die Währungsreform in Ostasien und Ostafrika, von (Prof.) R. Sonn-
dorfer. — Das Problem einer internationalen Geldverfassung (Schluß), von Walter Conrad.
— ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. XI,
Heft 12, Dezember 1909: Die Zulässigkeit der Ausweisung von Reichsangehörigen und
von Ausländern aus den Schutzgebieten, von (Prof.) Karl von Stengel. — Die rechtliche
Stellung der britischen Herrschaftsgebiete, von H. Edler v. Hoffmann. (Schluß.) — Die
Diamantvorkommen in Deutsch-Südwestafrika und ihre Bedeutung für das Schutzgebiet,
von (Öberstleutn. z. D.) Gallus. — ete.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Neue Folge. Jahrg. 1, 1910, Heft 1: Bei-
träge zur Theorie des Kapitalzinses, I, von H. Oswalt. — Konjunkturschwankungen
und Konjunkur-Berichterstattung, insbesondere die allgemeine Wirtschaftslage im Jahre
1909, von L. Pohle. — Sklaverei und Leibeigenschaft bei Naturvölkern, I, von H. Ber-
kusky. — ete.
Zeitschrift des Königlichen Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungs-
heft XXX: Evert, Georg (Öber-Reg.-R.), Die preußischen Landtagswahlen von 1908
und aus früheren Jahren. — Jahrg. 49, 1909, Heft 4: Die Geburten, Eheschließungen
und Sterbefälle im preußischen Staate während des Jahres 1908. — Die Gesellschaften
mit beschränkter Haftung in Preußen, von (Prof.) F. Kühnert. — Die Fideikommisse
in Preußen im Jahre 1907 und die Wanderungen in den Kreisen mit besonders ausge-
dehntem Fideikommißbesitze im Zeitraume 1875 bis 1905, von (Prof.) F. Kühnert.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. 30, 1909, Heft 4:
Literaturbericht: Gefängniswesen. Berichterstatter: Walther Leonhard. — Kriminalistik
und Verwandtes. Berichterstatter: v. Lilienthal. — ete.
Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft. Bd. X, 1910, Heft 1:
Kritische Bemerkungen zur Mietsverlustversicherung für Berlin, von Seeger und Beck.
— Ein Streifzug durch die Haftpflichtversicherung der Vereinigten Staaten, von Serini.
— Ueber Kollektiv-Unfallversicherung an deutschen Hochschulen, von (Rechtsanwalt)
Josef. — Sparprämien und Risikoprämien, von Böhmer. — Der Versuch des Fürsten
Hardenberg, die öffentlichen Feuer-Versicherungs-Sozietäten zu reformieren, von Schmidt.
— Zum Problem einer Telegrammversicherung, von Nietschmann. — ete.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
Herbig, Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 289
IV.
Die Löhne im staatlichen Steinkohlen-
bergbau bei Saarbrücken.
Von
Bergassessor Dr. iur. et phil. Herbig.
Inhalt: I. Die Bedeutung der achtziger und neunziger Jahre für die Sozialpolitik
im Bergbau. II. Die frühere Lohnstatistik, 1821—1888. III. Die amtliche Lohnstatistik
seit 1888. A. Statistische Technik. B. Die Lohnstatistik der Gesamtbelegschaft. C. Anteil
der Klassen a, b, c, d an der Gesamtbelegschaft. D. Die Lohnstatistik der Klassen a,
b œ d. IV. Die Lohnstatistik der Hauer in Klasse a nach Lohnstufen. V. Statistik
des Gesamtlohnes. VI. Die Schichtdauer. VII. Der Reallohn. VIII. Die Lohnpolitik
im staatlichen Saarbergbau. IX. Wirtschaftliche Folgen der Saarbrücker Lohnpolitik.
X. Sozialpolitisches Ergebnis der Saarbrücker Lohnpolitik.
Der Saarbrücker Bergbau bietet eine fast bis zum Beginn der
preußischen Herrschaft zurückreichende Lohnstatistik. Vom Jahre
1321 ab kann man eine 89-jährige Entwicklung verfolgen, in deren
Verlauf sich die Förderung auf die 110-fache Höhe, von 0,1 auf
11 Mill. t gehoben hat. Knapp 1000 Köpfe zählte im Jahre 1821
die Belegschaft, die jetzt auf 52000 angewachsen ist. Der Durch-
schnittslohn der eigentlichen Grubenarbeiter betrug damals noch
nicht 1 M. jetzigen Geldes; zurzeit beträgt er etwa 4,60 M. So
verlockend es ist, den sozialpolitischen Werdegang, der diese mächtig
gewachsenen Ziffern verbindet, bis zurück zu jenen ersten Regungen
großindustriellen Lebens zu verfolgen, so soll dgch die vorliegende
Abhandlung, die einen weiteren Leserkreis für den Saarbergbau und
seine gegenwärtigen Arbeiterverhältnisse interessieren möchte, ein-
gehender nur die beiden letzten Jahrzehnte behandeln, die eine
gegen die frühere Zeit deutlich abgegrenzte Periode der sozial-
politischen Entwicklung im Bergbau bilden.
I. Die Bedeutung der achtziger und neunziger Jahre für die
Sozialpolitik im Bergbau.
Die Arbeiterverhältnisse haben um die Wende der achtziger
und neunziger Jahre tiefgehende Veränderungen erfahren: manche
Anschauungen haben sich gewandelt, manche Begriffe sind umge-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 19
290 Herbig,
wertet worden. Man braucht nur die Stichworte: Arbeiterversiche-
rungsgesetzgebung, Gewerbenovelle von 1891, Berggesetznovelle von
1892 zu nennen, um die Aenderung zu kennzeichnen, die auf gesetz-
lichem Wege der wirtschaftlichen Existenz und der persönlichen
Stellung des Arbeiters zuteil wurde.
Das sozialpolitische Interesse der Oeffentlichkeit richtete sich
in besonderem Maße auf den Bergbau: Spricht schon ein gewisses
sentimentales Gefühl mit, das dem Fernerstehenden gerade den
Beruf des Bergmanns in einem besonders trüben Licht erscheinen
läßt, so sind doch vorwiegend nüchterne sozialpolitische und wirt-
schaftliche Erwägungen der Grund der starken Teilnahme für die
Bergarbeiterfragen : In den ungeheueren Belegschaftsmassen sammelt
sich leicht Zündstoff an, dessen oft unerwartete Explosion gewaltige
Arbeitskämpfe heraufbeschwört. Diese können im Industriebezirk
selbst die öffentliche Ordnung gefährden und bringen fast jedem
Gewerbetreibenden empfindliche wirtschaftliche Nachteile; sie werfen
auch weiterhin ihren Schatten in jedes Kohle verbrauchende Gewerbe
und dadurch auf die ganze Volkswirtschaft. So hat sich die öffent-
liche Meinung daran gewöhnt, mit reger Aufmerksamkeit die Berg-
arbeiterverhältnisse zu verfolgen. Sie wird darin unterstützt durch
die seit 1888 vierteljährlich veröffentlichte amtliche Lohnstatistik.
Diese wird, da die anderen Industrien eine derartige amtliche Lohn-
statistik nicht kennen, regelmäßig nicht nur in den Fachzeitschriften,
sondern auch in der Tagespresse als Gradmesser für die wirtschaft-
liche Lage breiter Arbeitermassen mit lebhaftem Interesse begrüßt
und eingehend besprochen.
Die gewaltigen Bergarbeiterausstände im Jahre 1839 waren das
weithin hallende Signal, durch das sich die jüngste Periode der
Bergarbeiterbewegung ankündigte. Die Arbeiter sind selbstbewußter
geworden. Ihre ständig fortschreitende Organisation und fast noch
mehr die ihnen durchweg — oft ohne objektiv abwägende Prüfung
— beistehende öffentliche Meinung stärken ihre Stellung gegenüber
dem Unternehmertum. Aber auch dieses sammelt und mehrt seine
Macht, nicht nur auf wirtschaftlichem, sondern auch auf sozial-
politischem Gebiet. Der Arbeiterfrage, besonders der Lohnfrage,
wird eine erhöhte Bedeutung beigemessen; sie werden mit besonderer
Vorsicht und Aufmerksamkeit nach einheitlichen und wohlüberlegten
Grundsätzen behandelt. Kurz: die Parteien haben sich gewisser-
maßen fester ins Auge gefaßt; Konsolidierung der Kräfte,
konsequente zähe Verfolgung bestimmter Ziele ist auf
beiden Seiten das Merkmal der beiden letzten Jahrzehnte.
Für den Saarbergbau trifft diese Schilderung allerdings nicht
in allen Stücken zu; manche Erscheinung, die sicle auf dem heißen
Boden des Ruhrbergbaus schnell und deutlich entwickelte, tritt im
Saarbezirk nicht hervor, manche nur abgeschwächt. Trotzdem steht
auch der Saarbergbau deutlich unter der Wirkung jenes Umschwungs;
ja, gerade der Saarbergbau ist es, in dem die jüngste Zeit sich
sozialpolitisch gegen die frühere ganz besonders scharf abhebt.
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 291
Diese neuere Entwicklung der Lohnfrage und die aus ihr abzuleiten-
den Erfahrungen sind es, die hier besonders interessieren. Die
Lohnstatistik früherer Jahre soll nur so weit herangezogen werden,
als es nötig ist, um den veränderten Charakter der neueren Ent-
wicklung zu zeigen.
II. Die frühere Lohnstatistik, 1821 bis 1888.
Die ältere Statistik zeigt nicht die Vollständigkeit der
heutigen amtlichen Lohnstatistik, die mit dem Jahre 1888 beginnt
und es also glücklicherweise gestattet, die unruhigen Uebergangs-
jahre zu einer ruhigeren Fortentwicklung an vergleichbarem Zahlen-
material zu verfolgen. Weiter zurück bietet die Statistik hinsicht-
lich des Lohnes nur die in Tabelle I zusammengestellten Angaben,
Tabelle I.
Hauer und Schlepper bezw. von 1861 ab: eigentliche
Grubenarbeiter
Nettolohn einschl. Gefälle
Tse legschaft | Anzahl in Pro- Iechiebte und Oelkosten
zenten der Gesamt- ahl nn rege ag IE Ve gg
belegschaft z pro Schicht | pro Jahr
M. M.
| 4 | 5 | 6 E
1821 114 655 1003 . d | 0,98 S
1823 94 607 777 e f 1,08 A
1830 | 199962 1245 87 285 1,06 302
1832 | 157 298 1 060 87 278 1,06 294
1835 | 207 260 1 383 84 275 1,07 293
1836 | 265 284| 2058 82 235 1,08 254
1837 | 323 294| 2063 83 280 1,10 307
1842 | 521 103| 3151 82 280 1,20 338
1843 | 423 142| 2953 80 280 1,20 337
1847 | 576512| 3961 77 268 1,29 370
1848 | 436337| 3375 77 290 1,29 374
1851 679 268 | 5 782 76 272 1,34 365
1861 |2 090 744 | 12650 89 271 2,17 | 588
1862 | 2086 718| 13228 90 253 2,11 533
1863 |2 197 115| 13 295 89 252 2,13 538
1864 |2 597 514 | 14.290 87 272 2,28 621
1868 13 273 293 | 19 124 88 279 2,50 699
1870 |2734 019| 15 662 85 272 2,64 719
1874 |4 229 786| 22240 87 269 3,58 963
1879 14474 961 | 21464 86 261 2,99 780
1884 |6087 126| 26 500 86 276 3,28 906
1887 |5 973 008 | 25 379 86 266 3,26 866
1888 |6 238 191 | 25 670 85 270 3,31 894
Die Ziffern der Tabelle I sind den Akten der Königlichen Bergwerksdirektion
entnommen. Eine vollständige Zusammenstellung bietet der von E. Müller bearbeitete
Band VI des Werkes „Der Steinkohlenbergbau des Preußischen Staates in der Um-
gebung von Saarbrücken“.
EM
292 Herbig,
die sich bis zum Jahre 1860 auf die „Hauer und Schlepper“ be-
ziehen, während vom Jahre 1861 ab gemäß den Anschnitten über
Gedingelöhne sowie über Grubenausbau und Nebenarbeiten die beim
Grubenbetrieb unter und über Tage beschäftigten Arbeiter, die so-
genannten eigentlichen Grubenarbeiter, mit Ausnahme des Auf-
sichts- und Maschinenpersonals gezählt werden. Hierdurch erklärt
sich der durch einen Querstrich hervorgehobene Sprung der lohn-
statistisch erfaßten Arbeiter an der Gesamtbelegschaft von 76 auf
89 Proz.
Von einer Wiedergabe sämtlicher Jahreszahlen ist wegen der
für die vorliegende Betrachtung geringeren Bedeutung der älteren
Statistik Abstand genommen. Das, was für den anzustellenden Ver-
gleich wichtig ist, wird genügend klar, wenn man, wie dies ge-
schehen ist, aus der wellenförmigen Entwickelung der Zahlenreihen
die Jahre des Hochstandes und Tiefstandes heraushebt.
Die Höhe des durchschnittlichen Schichtlohns
(Spalte 6 der Tabelle I) hebt sich im allgemeinen ziemlich gleich-
mäßig empor. Einen ruckweisen Aufstieg (von 1,34 M. in 1851 auf
2,17 M. in 1861) bringen die fünfziger Jahre, in denen der seit Er-
öffnung der Eisenbahn schnell wachsende Absatz zur Heranziehung
neuer Arbeitskräfte drängt. Diese günstige industrielle Entwicke-
lung findet ihren Ausdruck in einer starken Lohnerhöhung, die im
Hinblick auf eine durch mehrere Mißernten hervorgerufene Teuerung
der Lebensmittel besonders nötig erschien. Den zweiten außerge-
wöhnlichen Aufstieg brachten die Gründerjahre: Von 1870 stieg der
Lohn in 4 Jahren von 2,64 M. auf 3,58 M., um dann allerdings in
den nächsten 5 Jahren wieder auf 2,99 M. zurückzusinken. Abge-
sehen von diesen beiden Ausnahmen, hat sich der Durchschnitts-
schichtlohn mit nur geringen Schwankungen in langsam und ruhig
aufsteigender Linie bewegt.
Aber das Bild ändert sich, wenn man den durchschnittlichen
Jahresarbeitsverdienst betrachtet (Spalte 7). Seine Höhe be-
stimmtneben dem Durchschnittsschichtlohn die Schichtenzahl (Spalte 5) ;
und diese ist je nach der Konjunktur starken Schwankungen unter-
worfen. Die steigende oder sinkende Tendenz des Schichtlohns
wird vielfach durch die in gleicher Richtung gehende Wirkung der
größeren oder geringeren Schichtenzahl in stark vergrößertem Maße
auf die Jahreslöhne übertragen: So veranlaßt ein Rückgang der
Schichtenzahl von 271 auf 253 in den Jahren 1861—1862 bei einem
nur um 6 Pf. geringeren Schichtlohn ein Sinken des Jahresver-
dienstes von 538 M. auf 553 M. Von 1863 nach 1864 machte ein
Mehr von 20 Schichten bei einem um 15 Pf. gestiegenen Schichtlohn
einen Zuwachs von 83 M. am Jahresverdienst aus. In den Jahren
1874—1879 ist der Rückgang des Jahresverdienstes von 963 M. auf
780 M. durch das Zusammenwirken sinkender Schichtlöhne und
sinkender Schichtenzahl so groß geworden. Aus den früheren
Jahren mag noch die besonders auffallende Tatsache bemerkt werden,
daß in den Jahren 1835, 1836, 1837 die stark schwankende Schichten-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 293
zahl 275— 235—280 bei gering steigendem Schichtlohn 1,07, 1,08,
1,10 M. die großen Unterschiede im Jahresverdienst — 293 M.,
254 M., 307 M. — erzeugt. Nach alledem spielten also die Feier-
schichten, und zwar nicht nur in Krisenjahren, eine recht be-
denkliche Rolle für den Saarbrücker Bergmann.
Sprunghaft wie die Schichtenzahl ist auch vielfach die Bewegung
der Belegschaftsziffer (Spalte 3). Die Vermehrung vollzieht
sich mit Schwankungen, deren Höchst- und Tiefstand hier wieder-
holt sei:
Jahr Arbeiterzahl Jahr Arbeiterzahl Jahr Arbeiterzahl
1821 1003 1843 2 953 1876 23 351
1823 777 1847 3 961 1879 21464
1830 1245 1848 3375 1884 26 500
1832 T 060 1868 19 124 1887 25 379
1842 3 151 1870 15 662
Wie das steile Ansteigen der Belegschaftskurve in den fünfziger
und sechziger Jahren die Heranziehung fremder Arbeiter erkennen
läßt, die nach dem Jahre 1867 nicht mehr stattfand, so zeigen die
in vorstehender Zusammenstellung ersichtlichen Rückgänge der Be-
legschaftsziffer den Einfluß ungünstiger Wirtschaftsperioden, in denen
man nicht nur die Neuanlegung von Arbeitern unterließ —
eine Maßregel, die für eine auf den Bergbau angewiesene Bevölke-
rung von schwerschwiegender Bedeutung ist — sondern auch zu
Arbeiterentlassungen schritt. Sieht man die Belegschafts-
verminderungen, die in den siebziger und achtziger Jahren ein-
treten mußten, unter diesem Gesichtswinkel an, so erscheint die
wirtschaftliche Lage der Belegschaft als Gesamtheit durch die Kon-
junkturerscheinungen schlimmer beeinflußt, als es bei alleiniger Be-
rücksichtigung des Lohnrückgangs scheinen möchte.
Ohne die Sorgfalt zu unterschätzen, die die Verwaltung seit
Uebernahme der Saargruben der Lohnfrage entgegengebracht hat —
eine Tatsache, auf die schon die Führung einer genauen Lohnstatistik
hinweist — kann man vom Standpunkt moderner Sozialpolitik an
der Ungleichmäßigkeit in der Lohnstatistik jener Jahrzehnte eine
Kritik üben, die dahin zusammenzufassen ist: Die Schwankungen
der jährlichen Schichtenzahl veranlaßten trotz einer im allgemeinen
gleichmäßigen Aufwärtsbewegung des durchschnittlichen Schichtlohns
eine Unsicherheit des jährlichen Arbeiterbudgets, die noch dadurch
vermehrt wurde, daß zeitweise Belegschaftsverminderungen vorge-
nommen wurden, die fast allen Bergmannsfamilien drohten, und
viele von ihnen hart trafen, nicht nur, wenn die Verminderung durch
Arbeiterentlassungen, sondern auch, wenn sie durch Nichtanlegung
der heranwachsenden Jugend durchgeführt wurde.
III. Die amtliche Lohnstatistik seit 1888.
A. Statistische Technik.
Die Lohnstatistik der beiden letzten Jahrzehnte bedarf einiger
Erläuterungen, ehe man Schlußfolgerungen aus ihr herleitet.
294 Herbig,
Die statistische Technik sieht sich im Bergbau sehr
großen Schwierigkeiten gegenüber, die letzten Endes alle daraus
entstehen, daß es unmöglich ist, die Belegschaft, die Kohlenförde-
rung, die Geldwirtschaft, den Materialienverbrauch und andere Ge-
samtziffern derartig zu zerlegen, daß die entstehenden Unterabtei-
lungen dieser Gesamtbegriffe genau miteinander korrespondieren
und in richtigen Beziehungen zueinander statistisch verarbeitet
werden können. Die Belegschaftsstatistik verfolgt eigene Zwecke,
die vielfach mit der Kohlenproduktion, den Selbstkosten usw. gar
nichts zu tun haben; man denke z. B. an Heimat, Alter, Familien-
stand, Besitz des Bergmannes. Die Produktionsstatistik, die
Selbstkostenstatistik, und besonders auch die zur Etatsaufstellung
nötigen Zahlenermittelungen haben praktische Ziele und Zwecke,
die in erster Linie berücksichtigt werden müssen, auch wenn dadurch
die Möglichkeit verringert wird, das Zahlenmaterial durchweg so
zu gruppieren, wie es eine nur von wissenschaftlichem Interesse
geleitete Statistik wünschen möchte.
Die Schwierigkeit liegt aber nicht allein in der Bildung kor-
respondierender Gruppen auf den verschiedenen Gebieten, sondern
in der Gruppenbildung überhaupt, auch innerhalb des einzelnen
Gebiets. Gerade innerhalb der Belegschaftsstatistik macht das viel-
seitige Ineinandergreifen der einzelnen Tätigkeitsgebiete eine sichere
Abgrenzung der Arbeiterkategorien schwierig. Selbst bei gleich-
bleibenden Betriebsverhältnissen gelingt es nur mit Mühe, die
laufenden statistischen Erhebungen, die sich auf viele Gruben und
eine Unmenge von Beamten verteilen, überall und Jahre hindurch
in einheitlichem Sinne zu erhalten. Dazu kommt, daß die Betriebs-
verhältnisse nicht gleich bleiben. Die ganze Bergbautechnik ist im
schnellen Fluß: Wo anfangs der neunziger Jahre noch Pfeilerbau
herrschte, war um die Jahrhundertwende der Strebbau fast zur
Alleinherrschaft gelangt, und schon wird auch dieser bereits wieder
abgelöst durch den Stoßbau, den der Spülversatz und der Schüttel-
rutschenbetrieb wieder zu Ehren gebracht haben. Diese umwälzenden
Aenderungen des Abbaubetriebes, deren eingehende Schilderung hier
zu weit führen würde, bringen neue Arbeiten und neue Arbeiter-
kategorien mit sich, deren Einordnung in ein ohne Rücksicht auf
sie aufgestelltes Schema kaum zu erreichen ist. Dies ist nur ein
Beispiel für viele andere. Es soll damit den nicht selten erhobenen
Forderungen, die auf eine weitere Differenzierung der amtlichen
Belegschafts-, Lohn- und Leistungsstatistik hinausgehen, das nicht
unerhebliche Bedenken entgegengehalten werden, daß jede weitere
Zergliederung neue Fehlerquellen mit sich bringt.
B. Die Lohnstatistik der Gesamtbelegschaft der Ta-
belle II Abt. I (Spalte 2—6) kann an die ältere Statistik nur ange-
schlossen werden, indem für das Uebergangsjahr sowohl die nach der
alten Methode festgestellten Ziffern (Tab. I) als auch die neuen (Tab. II)
angegeben werden. Die Gesamtbelegschaft erscheint geringer, weil die
Beamten und Aufseher in der neuen Statistik ausgeschaltet sind. Die
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 295
Tabelle II.
Abteilung I Abteilung II
Durch- Durch- Durch- Von der Gesamtbelegschaft
Förde- pizi schnittliche | schnittlicher|schnittlicher] entfallen auf die Arbeiter-
Jahr | rung beleg- jährliche reiner Lohn | reiner Lohn klassen
1000 TE | Schichten- | pro Schicht | pro Jahr | a | b | e d
zahl M. M. Proz. | Proz. | Proz. | Proz.
| 2 3] 4 5 | &_ 923.38: 2 9 10
1888 | 6 238| 24 402| 289 2,92 842 71,1 | 12,3 16,2 | 0,4
1889 | 6084| 25 666| 288 3,24 933 71,9 | 124 | 15,1 | 0,6
1890] 6213| 27 528 294 3,79 1114 72,1 13,0 14,3 | 0,6
1891 | 6390| 28 897 292 3,89 1137 71,7 13,0 | 14,6 | 0,7
1892| 6 259| 29 823 282 3,69 1042 59,6 | 24,7 | 14,9 | 0,8
1893| 5 883: 27 536 274 3,37 925 58,7 | 24,8 , 15,5 | 1,0
1894| 6 592| 30 070 284 ‚24 921 59,0 | 24,6 | 14,9 | 1,5
1895| 6 886| 30 531 285 3,27 929 59,1 | 24,5 | 15,0 | 14
1596 | 7 706| 32 396 294 3,28 966 59,6 | 24,0 | 14,8 | 1,6
1597 | 8 258| 34 248 294 3,34 982 59,8 | 23,5 | 15,0 | 1,7
1893| 8769' 35 856 298 3,40 1015 59,9 | 23,4 | 14,7 | 2,0
1899| 9025, 38 049 295 3,46 1019 60,2 | 22,8 | 14,5 | 2,5
1900| 9397| 40 303 293 3,56 1044 59,7 | 23,8 | 13,3 | 3,2
1901| 9376| 41 923! 294 3,54 1042 58,5 24,6 13,4 3,5
1902| 9494, 42 036 295 357 1053 59,4 | 23,8 | 14,1 | 2,7
1903 | 10 067| 43 811 297 3,60 1068 59,1 | 24,2 | 13,9 | 2,7
1904 | 10 364| 44 949 296 3,71 1097 59,9 | 23,9 | 13,6 | 2,8
1905 | 10 639. 45 737 293 3,80 1114 59,8 | 24,2 | 13.7 | 2,3
1806| rat 47 891 296 3,88 1146 59,2 | 24,5 | 13,5 | 2,8
1907 | 10 693| 48 845 295 4,02 1185 56,9 | 26,4 | 13,5 | 3,2
1908 | 11 071) 49 998| 293 4,04 1182 50,1 | 32,6 | 13,5 | 3,8
1909 | 11 064) 51 788| 287 3,96 1136 48,2 | 34,2 | 13,4 | 4,2
Alle Zahlen der Tabelle II sind der amtlichen Statistik entnommen, veröffentlicht
in der im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe herausgegebenen Zeit-
schrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen.
Spalten 4 —6 beziehen sich auf die Gesamtbelegschaft; ein Vergleich mit
den Angaben der früheren Statistik, die sich auf „eigentliche Gruben-
arbeiter“ beziehen. ist unmöglich. Grundzahlen der Lohnstatistik
in Tabelle II Abt. I sind die Gesamtzahl der verfahrenen Schichten
und die gesamte Lohnsumme. Aus der letzteren sind ausge-
schieden die vom Bergmann zu tragenden Knappschaftsgefälle, die
zurzeit im Jahresdurchschnitt 0,33 M. auf die Schicht betragen, und
der den Arbeitern unter Tage abgezogene Betrag von 0,06 M. auf
die Schicht für Oel und Gezähe. Der in der amtlichen Statistik
Nettolohn genannte reine Lohn stellt also den nach Abzug aller
Unkosten an den Arbeiter ausgezahlten Betrag dar.
Aus Gesamtlohnsumme und Gesamtschichtenzahl ist der durch-
schnittliche Schichtlohn durch Division leicht und sicher zu
ermitteln. Um den durchschnittlichen Jahreslohn zu erhalten, muß
man die Gesamtlohnsumme durch die Zahl der Gesamtbelegschaft
dividieren. Während Lohnsumme und Schichtenzahl eine sichere
statistische Grundlage darstellen, ist dies bei der Gesamtbeleg-
schaft nicht in gleichem Maße der Fall. Als Arbeiterzahl ist nach
296 Herbig,
amtlicher Anordnung anzunehmen „die nach den Belegschaftslisten
sich ergebende mittlere Zahl der vorhandenen Arbeiter, einschließlich
der zeitweilig wegen Krankheit oder aus sonstigen Ursachen feiernden“.
Die Zahl wird also aus Listen entnommen, die nicht wie Lohnsumme
und Schichtenzahl einer rechnerischen Kontrolle unterworfen sind.
Da eine Zählung nicht täglich, sondern nur am Anfang und Ende
des Monats stattfindet, hat die Zahl nur den Wert eines Durch-
schnitts von zwei Stichproben. Daß sich trotzdem recht gute sta-
tistische Resultate ergeben, ist der genauen Führung der Beleg-
schaftslisten und der sehr geringen und gleichmäßigen Bewegung
der Belegschaftsziffer zu verdanken.
Die amtliche Statistik wird vierteljährlich aufgestellt. In Ta-
belle II, wie auch fernerhin, sind trotzdem nur die Jahresziffern
wiedergegeben, weil für Vergleiche, die sich auf längere Zeiträume
erstrecken, die Vierteljahrsperioden zu viele für das Gesamtergebnis
unwesentliche Zufälligkeiten enthalten, die sich im Laufe eines Jahres
wieder ausgleichen. So wechselt z. B. die auf das erste und zweite
Vierteljahr entfallende Schichtenzahl ganz erheblich, je nachdem
Ostern in den März oder in den April fällt. Bedauerlicherweise
wird gerade dieser Nachteil der Vierteljahrsstatistik oft in tenden-
ziöser Weise ausgenützt, indem eine Vierteljahrslohnsumme, die in-
folge der durch die Zahl der Arbeitstage bedingten Schichtenzahl
verhältnismäßig gering erscheint, mit einem korrespondierenden
Vierteljahr des Vorjahres verglichen wird, das zufällig mehr
Arbeitstage und deshalb mehr Schichten aufweist.
Aber auch bei den Jahresdurchschnitten, die im allgemeinen der
Erörterung der Lohnfrage zugrunde gelegt werden, muß man stets
Schichtlohn und Jahreslohn nebeneinander berücksichtigen; nur dann
kann man erkennen, welche Rolle für die Höhe des Jahreslohnes
etwaige Mehrschichten oder Feierschichten spielen.
Der Inhalt der Tabelle II Abt. I zeigt vom Jahre 1896 ab eine
außerordentlich gleichmäßige Entwicklung aller Zahlen. Die Jahre
1889 bis 1895 darf man als Uebergangsjahre im Sinne der vor-
liegenden Betrachtung bezeichnen. Sie tragen den Stempel der im
Jahre 1889 und für den Kohlenbergbau im Jahre 1890 kulminie-
renden Hochkonjunktur und der Arbeiterausstände von 1889, 1890,
1892 und 1893. Geht man vom durchschnittlichen Schicht-
lohn aus, so spricht die Steigerung von 1888 (2,92 M.) bis 1891
(3,89 M.) von dem durch die günstige Geschäftslage unterstützten
guten Willen üer Verwaltung, der durch den Streik von 1889 beun-
ruhigten Belegschaft möglichstes Entgegenkommen zu zeigen. Bei
dem Konjunkturrückschlag im Jahre 1892, und noch schärfer im
Jahre 1893, konnte die Verwaltung die Löhne nicht auf der Höhe
halten, zu der sie in steiler Kurve gestiegen waren. Die Schicht-
löhne mußten einen Teil ihrer Besserung wieder hergeben und
standen im Jahre 1894 (3,24 M.) wieder wie 1889. Die ungünstige
Wirkung des Rückgangs der durchschnittlichen Schichtlöhne zeigt
sich bei den Jahresverdiensten durch die sinkende Schichten-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 297
zahl verstärkt. Die durch den Absatzmangel im Jahre 1892 not-
wendig werdenden Feierschichten trugen im Verein mit der Herab-
setzung der Gedinge mit zu dem Ausbruch des Streiks im Winter
1892/1893 bei. Auch in den Jahren 1894 und 1895 mußten noch
Feierschichten eingelegt werden. Von 842 M. in 1888 war der
Jahresdurchschnittslohn auf 1137 M. in 1891 gestiegen und sank
dann wieder bis auf 921 in 1894 zurück. Einen tiefen Eingriff jener
Krisen zeigt auch die Ziffer der Gesamtbelegschaft. Sie sinkt von
1892 nach 1893 um fast 2300 Mann, ein Rückgang, der hauptsäch-
lich darauf zurückzuführen ist, daß die Verwaltung die in den Aus-
ständen besonders hervorgetretenen und am längsten im Ausstand
verharrenden Leute teils überhaupt nicht, teils erst nach einiger
Zeit wieder anlegte.
Von 1894 ab beginnt eine durch keinen Rückschlag gestörte
langsame, aber sichere Aufwärtsbewegung in den Spalten 3, 5 und
6 der Tabelle II: Die Belegschaft wird allmählich vermehrt aus
dem natürlichen Bevölkerungszuwachs, und durch Aufschließung des
Hinterlandes durch Bahnen, die den Bewohnern das Arbeiten auf
den Gruben gestatten, ohne sie zur Aufgabe der alten Heimat zu
nötigen. Landfremde Arbeiter werden — schon seit 1867 — nicht
mehr herangezogen. Bei dieser langsamen Vermehrung ist es auch
in ungünstigen Zeiten möglich, fast alles Arbeitsangebot, jedenfalls
aber den Nachwuchs der eigenen Belegschaft anzunehmen. Eine
Unterbrechung der regelmäßigen Neuanlegungen brauchte nicht
stattzufinden und noch viel weniger kamen Arbeiterentlassungen vor,
von denen frühere Konjunkturrückschläge zuweilen begleitet waren.
Die Löhne erfahren durch die vom Jahre 1895 einsetzende Besserung
der wirtschaftlichen Lage keine sprunghafte, sondern nur eine lang-
same Steigerung; dies gilt nicht nur für die Schichtlöhne, sondern
bei der kaum schwankenden Schichtenzahl (Höchstziffer 298, Mindest-
zahl 293) auch für den Jahresverdienst. Infolgedessen war es bei
dem einsetzenden Niedergang der Konjunktur, möglich, die Löhne
auf der erreichten Höhe zu erhalten. Daß der in Tabelle II er-
scheinende Lohnrückgang um 2 Pf. im Jahre 1901 bei richtiger Be-
urteilung sich ins Gegenteil verwandelt, wird an Hand der Tabelle V
gezeigt werden. Auch der letzte wirtschaftliche Niedergang, der
sich in anderen Bergbaubezirken durch niedrige Löhne schon im
Jahre 1908 bemerkbar macht, zeigt im Saarbezirk noch eine kleine
Lohnsteigerung, die erst im Jahre 1909 einem kleinen Rückgang
Platz macht. 1909 mußten auch zum erstenmal seit 1895 wieder
einige wenige Feierschichten eingelegt werden. Dadurch sowie
durch die Einschränkung der an sich schon nicht häufigen Einzel-
nebenschichten sank die Jahresdurchschnittszahl auf 287. Aller
Voraussicht nach werden aber diese weniger als Rückgang denn
als Stillstand zu bezeichnenden Ziffern des Jahres 1909 mit der bereits
eingetretenen wirtschaftlichen Erholung wieder in eine steigende Ent-
wicklung überleiten.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß auf die Höhe der Schichten-
298 Herbig,
zahl der im Jahre 1908 zum erstenmal gewährte Erholungsurlaub
einen gewissen Einfluß ausübt, der auf die Gesamtbelegschaft etwa
eine halbe Schicht ausmacht.
C. Anteil der Klassen a, b, c und d an der Gesamt-
belegschaft.
Die Gesamtbelegschaft wird in die 5 Klassen a bis e eingeteilt,
von denen letztere, die die weiblichen Arbeiter umfaßt, für den
westdeutschen Kohlenbergbau nicht in Frage kommt. Klasse a um-
faßt die unterirdisch und in Tagebauen beschäftigten
Bergleute im engeren Sinne, die bei den Aus- und Vor-
richtungs-, sowie den eigentlichen Gewinnungsarbeiten angelegt sind,
also in der Hauptsache die Gesteins- und Kohlenhauer nebst den
mitihnen im Gedinge arbeitenden oder ihnen zugewiesenen Schleppern.
Zur Klasse b gehören die außerdem noch unterirdisch und
in Tagebauen, namentlich beim Grubenausbau und bei Nebenarbeiten
beschäftigten Personen, wie Zimmerhauer, Reparaturarbeiter, Maurer,
Anschläger, Bremser, Bergeverfüller usw. Die Klasse c, über Tage
beschäftigte erwachsene männliche Arbeiter, umfaßt
einerseits die Arbeiter bei der Förderung, Verladung und Auf-
bereitung, andererseits die Werkstättenarbeiter. Die Klasse d wird
von den jugendlichen Arbeitern unter 16 Jahren gebildet.
Einen Anschluß an die „eigentlichen Grubenarbeiter“ der Tabelle I
Spalte 4—7 bietet die amtliche Statistik, wie besonders hervorgehoben
werden soll, nicht.
Die Verteilung der Belegschaft auf die einzelnen Klassen ist
vielfach zum Gegenstand statistisch-technischer Erörterungen ge-
macht worden, die auch für die Bewertung der Lohnstatistik von
Bedeutung sind. Der große Prozentsatz der Belegschaft, der nach
Tabelle II Abteilung II auf Klasse a entfällt, legt an sich schon den
Gedanken nahe, eine weitere Zerlegung dieser Ziffer herbeizuführen.
Und auch die in dieser Klasse vereinigten Tätigkeitsgebiete machen
eine Trennung wünschenswert. Aus- und Vorrichtung einerseits,
und die eigentlichen Gewinnungsarbeiten andererseits sind so ver-
schiedene Arbeiten wie Säen und Ernten. Unter Aus- und Vor-
richtung versteht man die mit dem bequemen, aber nicht glück-
lichen Ausdruck „unproduktiv“ bezeichneten Vorbereitungsarbeiten
— das Abteufen von Schächten, das Treiben von Querschlägen und
Strecken — die die Kohlenlagerstätte aufschließen müssen, ehe man
diese durch den Abbau, die „produktive* Gewinnungsarbeit, aus-
beuten kann. Es liegt auf der Hand, wie wichtig es für die sach-
gemäße Leitung des Betriebs und die richtige Erkenntnis der be-
trieblichen und wirtschaftlichen Tatsachen ist, zwischen Aus- und
Vorrichtung und Abbau eine reinliche Scheidung der Ziffern vor-
zunehmen, mögen sie Arbeiterzahl, Leistungen, Löhne oder, was es
auch sei, betreffen. Jede Grubenverwaltung sucht deshalb diese und
auch noch weitergehende Differenzierungen peinlich durchzuführen.
Aber eine Statistik, die den Bedürfnissen und Besonderheiten einer
einzelnen Grube genau angepaßt werden kann und dort deshalb
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 299
richtig durchzuführen ist und ihren Nutzen trägt, versagt bei der
Uebertragung auf eine große Zahl von Gruben, wenn die Aufstellung
der laufenden Statistik nicht von einer einheitlichen Betriebsverwaltung
kontrolliert wird, welche etwaige, aus dem Schema herausfallende
Fragen im Sinne des statistischen Zwecks und vor allem einheitlich
regelt. Deshalb muß eine Statistik, die viele Betriebe umfaßt, nur
mit Rubriken arbeiten, die für alle Betriebe passend sind, zweifels-
frei abgegrenzt und dann auch bei verhältnismäßig roher Behandlung
innegehalten werden können. Eine solche begriffliche Trennung ist
aber zwischen Vorrichtung und Abbau nicht möglich, denn zwischen
diesen beiden Begriffen gibt es Uebergänge, bei denen die Zu-
rechnung zu dem einen oder dem anderen Betriebsstadium be-
rechtigte Zweifel erweckt. Es gibt zwar Vorrichtungsarbeiten, die
ihren Charakter als Vorrichtungsarbeit auch dann nicht verlieren,
wenn viele Kohle in ihnen gewonnen wird, und ebenso gibt es Ab-
baubetriebe, die ihren Charakter als Abbauarbeit behalten, selbst
wenn die Kohlenförderung auf ein Minimum zusammenschmilzt.
Aber sehr häufig sind doch auch die Fälle, in denen die Zurechnung
einer Arbeit zur Vorrichtung oder zum Abbau gleichberechtigt ist.
Es wird z. B. eine Grundstrecke getrieben, zweifellos eine Vor-
richtungsarbeit. Wenn man beiderseits 1 m Kohle mitnimmt, wird
man wohl allgemein auch noch von einer Vorrichtungsarbeit sprechen.
Werden 2, 3, 4, 5 oder noch mehr m Kohle mitgenommen, so geht
jedoch der Charakter der Arbeit immer mehr in den eines Abbaus
über. Theoretisch würde man als entscheidend für die Zuteilung
zur einen oder anderen Kategorie den Zweck der Arbeit ansehen
können. Praktisch ist man damit keinen Schritt weiter gekommen;
denn der Fall wird meist so liegen, daß sowohl die Aufschließung
neuen Feldes als auch die sofortige Kohlengewinnung durch die
gleiche Arbeit erreicht werden soll. Man müßte also nach dem
Vorwiegen des einen oder des anderen Zweckes fragen. Derartige
Grenzbestimmungen, die auf den verschiedenen Gruben in den ver-
schiedensten Händen lägen, können aber als Grundlage für ein
statistisch verwertbares Zahlenmaterial nicht anerkannt werden.
Selbst bei der besten Instruktion würde die verschiedene Auslegung
solcher durchaus nicht seltenen Fälle ein sehr unsicheres Moment
in die Statistik bringen.
Es mag zweifelhaft sein, ob man trotz dieser Grenzschwierig-
keiten nicht versuchen soll, auch in der amtlichen Lohnstatistik die
Trennung in Vorbereitungs- und Gewinnungsarbeiten durchzuführen.
Die pessimistische Ansicht über das zu erwartende Ergebnis darf
aber um so weniger zurückgehalten werden, als schon die jetzige
Statistik in der Abgrenzung der Klassen a und b Schwierigkeiten
gemacht hat, die in den Jahren 1892 und 1908 zum deutlichen Aus-
druck kommen und in beiden Fällen bei den Benutzern der Statistik
zu falschen Schlußfolgerungen geführt haben: 1892 sinkt der Anteil
der Klasse a an der Gesamtbelegschaft von 71,7 auf 59,6 Proz.,
während gleichzeitig Klasse b von 13,0 auf 24,7 Proz. steigt (vgl. auch
300 Herbig,
Tabelle VI). Es ist nichts anderes geschehen, als daß von 1892 ab
die in der Förderung, beim Anschlagen und Abladen beschäftigten
Leute nicht mehr wie früher unter a, sondern unter b verrechnet
werden. Nieder jedoch z. B. zieht in seiner Abhandlung über
„Die Arbeitsleistung der Saarbergleute“ aus dieser rein zahlen-
mäßigen Verschiebung den Schluß, daß diese etwa 3000 Mann aus
produktiver Beschäftigung in die unter Klasse b geführten „un-
produktiven“ Arbeiten verlegt worden seien. Seine auf die
Schwächung der Klasse a gegründeten weitgehenden Schlüsse gehen
von einem Irrtym aus und fallen deshalb zusammen. Eine ähn-
liche Bewandtnis hat es mit dem Rückgang der Klasse a im Jahre
1908 von 56,9 auf 50,1 Proz. unter gleichzeitigem Steigen des An-
teils der Klasse b von 26,4 auf 32,6 Proz. Hier handelt es sich
um die einheitliche Lösung der Frage, ob Nacharbeiten, die in einer
bereits fertiggestellten Vorrichtungsarbeit vorgenommen werden,
bevor der Abbau noch begonnen hat, weiter als Vorrichtungsarbeit
gelten, wie bei der ersten Ausführung, oder als eine der unter
Klasse b fallenden Arbeiten (Grubenausbau, Nebenarbeiten. Man
entschied sich für das letztere. Soweit die in solchen Arbeiten be-
schäftigten Leute bisher unter Vorrichtung bei Klasse a geführt
worden waren, mußten sie nunmehr nach b überführt werden. Auch
dieser rein rechnerische Vorgang ist falsch gedeutet worden.
Schaltet man diese beiden Störungen aus, so ist in den ein-
zelnen Klassen das gleiche ruhige Bild der Entwicklung zu er-
kennen, wie bei der Gesamtbelegschaft, mit einer Ausnahme im
Jahre 1907. Das Sinken des Anteils a von 59,2 auf 56,9 Proz. und
das Steigen des Anteils b von 24,5 auf 26,4 Proz. bedeutet hier eine
tatsächliche Verschiebung, die ihren Grund nur zum Teil in der
nach einiger Dauer der guten Konjunktur wieder nötig werdenden
stärkeren Belegung von Grubenausbau und Nebenarbeiten hat, son-
dern in erster Linie auf die Verstärkung aller auf die Sicherung der
Arbeiter gerichteten Maßnahmen zurückzuführen ist. Mittelbar ist
diese Verschiebung also hauptsächlich durch das große Redener
Grubenunglück vom 28. Januar 1907 veranlaßt worden. Die weitere
Verschiebung im Jahre 1909 entspricht der durch die Konjunktur-
verhältnisse gebotenen stärkeren Belegung der „unprodnktiven“
Arbeiten.
Eine weitere Erscheinung, die Beachtung verdient, ist die Zu-
nahme jugendlicher Arbeiter, die, wie die Prozentzahlen
(0,4 Proz. in 1888, 4,2 Proz. in 1909) zeigen, weit schneller vor
sich geht als die Vermehrung der Gesamtbelegschaft. Während man
bei dem vorletzten wirtschaftlichen Niedergang 1902 etwas zurück-
hielt, hat man neuerdings auch über die Hochkonjunktur hinaus die
Anlegung Jugendlicher weiter stark gesteigert. Diese Anlegungen
gehen sogar über den eigentlichen Bedarf hinaus. Es wird —
z. B. in den Werkstätten — Arbeitsgelegenheit für Jugendliche be-
sonders geschaffen. Die Verwaltung bezweckt damit die Heran-
ziehung eines sicheren, gut angelernten Nachwuchses. Für die
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 301
Jungen selbst ist das halb spielende Hineingewöhnen in geregelte
Tätigkeit fast ohne körperliche Anstrengung (Herauslesen von
Steinen aus der Kohle, Lampenreinigen, leichte Werkstattarbeit) die
beste Vorbereitungszeit, und den Eltern ist durch die Unterbringung
des Sohnes eine große Sorge genommen. Wenn oben gesagt worden
war, daß das Arbeitsangebot dauernd aufgenommen werden könne,
so muß dies hier hinsichtlich der jugendlichen Arbeiter in etwa ein-
geschränkt werden. In diesen bleibt immer noch ein Ueberangebot,
weil die Verwaltung sie unter Tage nicht beschäftigen will und die
geeigneten Arbeiten über Tage sehr beschränkt sind. Hier durch
Einrichtung weiterer Arbeitsgelegenheiten Abhilfe zu schaffen, liegt
sicher im Interesse beider Teile.
D. Die Lohnstatistik der Klassen a, b, c, d.
Die im vorigen Abschnitt besprochenen Verschiebungen von
Klasse a nach b kommen in den Löhnen der Tabelle III in einer
ganz überraschenden Weise zur Geltung.
Tabelle III.
Klasse a Klasse b Klasse e | Klasse d
E Reiner Lohn 5 Reiner Lohn g Reiner Lohn g Reiner Lohn
Jahr ER pro ER pro ZS Dro 33 pro
= S /Schicht| Jahr 2 8 Schicht Jahr |3 Š Schicht) Jahr (2 Š Schicht! Jahr
B M. | M. Ié M. M. Lë M. M. Lë M. M.
1: 122] 8 TATS 7 JCT Im Ihr 18
1888 | 289 | 3,06 885 |302| 2,60 785 |279| 2,55 711 |278) 1,19 331
1889 | 284 | 3,44 976 |306| 2,87 879 | 296 | 2,70 798 |278 1,31 365
1890 | 289| 4,09 | 1180 |314| 3,23 | 1013 |304| 2,98 906 | 27 1,38 384
1891 |288| 4,21 | 1212 |309| 3,30 | 1018 |301| 3,01 908 |264| 1,37 361
1892 |276| Aan | 1167 |293| 2,96 868 | 292| 2,98 869 |245| 1,31 321
1893 | 266 | 3,82 | 1021 |286| 2,78 794 |286| 2,84 812 |241| 1,06 256
1894 |277 | 3,88 | 1020 |298| 2,65 791 |291| 2,79 810 |243| 1,01 245
1595| 279 | 3,70 | 1030 | 296 | 2,69 796 |295 | 2,80 826 |241| 0,98 236
1596 | 289 | 3,73 | 1079 |307| 2,67 821 |299| 2,76 826 | 254| 0,99 250
1897 | 290| 3,80 | IIOI | 311 | 2,69 838 | 296 | 2,77 820 |220| 1,09 246
1898 | 294 | 3,90 | 1146 |316| 2,70 855 |298| 2,82 839 |227| 1,13 256
1599 | 290 | 3,99 | r158 |310| 2,72 842 | 296 | 2,86 846 |251| 1,11 277
1900 | 290 | 4,11 | 1193 | 295 | 2,83 837 |307 | 3,00 921 |276| 1,09 302
1901 | 292| 4,09 | 1191 |296| 2,89 855 |309| 3,01 929 |281 | 1,13 316
1902 | 292| 4,07 | 1189 |296| 2,93 869 |309] 3,01 929 |275| 1,14 313
1903| 295 | 4,12 | 1213 |299| 2,94 878 |309| 3,04 938 |280| 1,13 316
1904 | 292| 4,22 | 1230 |299| 3,05 gıı 1313| 3,16 988 | 279| 1,21 336
1905 | 289 | 4,29 | 1239 |297| 3,16 938 |310| 3,26 | 1010 | 27 1,29 357
1906] 291 | 4,40 1283 |299| 3,21 960 |312| 3,36 1047 | 27 1,30 363
1907 | 291 | 4,57 1330 | 297 | 3,42 1018 |310| 3,58 1094 |278| 1,37 381
1908 | 288 | Aen | 1333 |296| 3,64 | 1076 |308| 3,59 | tout |281| 1,36 383
1909| 282| Aan | 1273 |289| Aen | 1056 |303| 3,59 1085 |268| Lan 371
Alle Zahlen der Tabelle III sind der amtlichen Statistik entnommen.
Der Durchschnittslohn der Gesamtbelegschaft sinkt von 1891
nach 1892 um 0,20 M. Der Durchschnittslohn der Gruppe a steigt
um 0,02 M., der der Gruppe b sinkt um 0,34 M. Aller Wahrschein-
lichkeit nach sind die Arbeiter der Klasse a von der allgemeinen
302 Herbig,
Lohnreduzierung auch betroffen worden, aber, da gleichzeitig eine
große Anzahl gering gelohnter Arbeiter statistisch von a nach b
verschoben wurde, kann der Durchschnittslohn in a statistisch noch
steigen.
Noch auffallender wirken die Verschiebungen 1907 und 1908.
Der Durchschnittslohn der Gesamtbelegschaft steigt 1907 um 0,14 M.,
der der Klassen a, b, c, d um 0,17 M., 0,21 M., 0,17 M. und 0,07 M.
Da die Minderzunahme der kleinen Klasse d die Mehrzunahmen der
großen Klassen a, b und e nicht ausgleichen kann, so sind die Mehr-
zunahmen bei a und b zweifellos dadurch entstanden, daß der Durch-
schnittslohn der von a nach b verlegten Arbeiter niedriger als der
Durchschnittslohn der Klasse a, aber höher als der Durchschnittslohn
der Klasse b war.
Dasselbe Spiel wiederholt sich, nur noch viel drastischer, 1908.
Der Durchschnittslohn der Gesamtbelegschaft steigt um nur 0,02 M.,
der der Klassen a, b und ce um 0,06 M., 0,22 M. und 0,06 M. Auch
hier lag der Durchschnittslohn der — nur statistisch — verschobenen
Arbeiter zwischen den Durchschnittslöhnen der Klassen a und b,
und zwar offenbar ziemlich hoch über dem Durchschnitt von b, da
er diesen so kräftig in die Höhe rücken konnte.
Scheidet man diese rein rechnerischen Einflüsse aus, so erhält
man im allgemeinen das gleiche Bild der Lohnentwicklung
wie bei der Gesamtbelegschaft. Bemerkenswert ist nur, daß
der geringe Rückgang, den Tabelle II im Jahre 1901 zeigt, von allen
Klassen nur a trifft und sich auch noch bis 1902 fortsetzt. Diese
Tatsache beweist, daß eine allgemeine Reduktion der Löhne bei dem
Abflauen der Konjunktur nicht vorgenommen worden ist. Man hat
offenbar die Schichtlöhne und die ziemlich feststehenden Gedinge
unverändert gelassen und nur bei den Kohlengedingen etwas an-
gezogen. Die Differenz von nur 2 Pf. jährlich beweist aber, daß
die Absicht, die Löhne zu halten, auch hinsichtlich der Gedinge-
löhne geherrscht hat und auch durchgeführt worden ist. Das gleiche
Bild bietet das Jahr 1909, in dem der Rückgang des durchschnitt-
lichen Schichtlohns nur die Klasse a trifft.
Bei dem Sinken der Schichtenzahl der Klasse a in 1908 um
3 Schichten ist zu berücksichtigen, daß der bereits erwähnte Er-
holungsurlaub, der 1908 zum ersten Male erteilt wurde, besonders
Mitglieder der Klasse a trifft. Feierschichten sind, wie bereits er-
wähnt wurde, von 1896 bis 1908 nicht eingelegt worden. Aber
ebensowenig gibt es, wie die Tabelle zeigt, in der Hochkonjunktur
Nebenschichten oder Ueberschichten mit Ausnahme von solchen, die
zur Einholung einer wegen eines Festes oder dergleichen aus-
gefallenen Schicht eingelegt werden. Die verhältnismäßig hohe
Schichtenzahl (rund 310) der Arbeiter über Tage, Klasse c, erklärt
sich durch den unvermeidbaren Sonntagsdienst der Maschinen- und
Kesselwärter und der Arbeiter, die die nur an Sonntagen bei ruhen-
dem Betrieb möglichen Reparaturen vorzunehmen haben. Die Aende-
rung, die die Schichtenzahl und dadurch der Durchschnittsjahreslohn
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 303
der Klassen b und ce von 1899 auf 1900 erleiden, ist im wesentlichen
rechnerischer Art: die Schichtenzahl wird ermittelt durch Division der
Gesamtschichtenzahl einer Klasse durch ihre Arbeiterzahl. Für die
Feststellung der auf die einzelnen Klassen entfallenden Arbeiterzahl
wurde 1900 ein einheitliches Verfahren eingeführt, das die Arbeiter-
zahl in b etwas steigen, in c etwas sinken ließ (vgl. Tabelle II
Abt. II). In dem Quotient Schichtenzahl durch Arbeiterzahl würde
also der Divisor für b größer und für c kleiner, der Wert: Schichten-
zahl entsprechend für b kleiner und für c größer.
IV. Lohnstatistik der Hauer in Klasse a nach Lohnstufen.
Die Tabellen I, II und III gaben Durchschnittslöhne.
Eine Durchschnittslohnstatistik hat nivellierende Wirkung. Man wird
sie deshalb gern durch eine Lohnstufenstatistik ergänzt sehen. Eine
solche bietet Tabelle IV. Wenn sie auch nur einen Teil der Beleg-
schaft umfaßt, nämlich die Hauer der Klasse a, so gibt sie doch
ein ausreichendes Bild für die Spannung der Löhne in der Beleg-
schaft überhaupt. Denn erstens umfaßt sie, für das Jahr 1908 ge-
sprochen, mehr als 18000 Arbeiter von 50000 und zweitens sind
diese Arbeiter nicht nur der Kern der Belegschaft, sondern auch
die höchstgelohnten Bergleute mit den am meisten schwankenden
Löhnen. Berücksichtigt man zudem, daß die mit den Hauern zu-
sammen die Klasse a bildenden Lehrhauer und Schlepper das gleiche
Gedinge teilen und deshalb auch den gleichen, nur ihrem Dienst-
alter entsprechend auf 6, 7, 8 und 9 Zehntel reduzierten Lohn er-
halten, so hat man in Tabelle IV eine Statistik der Lohnspannung
für mehr als 50 Proz. der Belegschaft. In den Klassen b und e
kommen auch sehr verschiedene Lohnhöhen vor; das liegt aber
daran, daß in ihnen Arbeiterkategorien von sehr verschiedenen
Tätiekeitsgebieten und sehr verschiedener Leistungsfähigkeit zu-
sammengefaßt sind. Tatsächlich verdient der einzelne Arbeiter in den
Klassen b, e und natürlich auch in d einen sehr gleichmäßigen Lohn.
Die Tabelle IV bezieht sich im Gegensatz zu der übrigen Lohn-
statistik auf das Etatsjahr. Sie reicht nur bis zum Jahre 1893
zurück und erleidet im Jahre 1899 eine Unterbrechung, indem die
Löhne vorher einschließlich der Knappschaftsgefälle und des Abzugs
für Oel und Gezähe, nachher ausschließlich dieser Beträge eingesetzt
sind. Das Uebergangsjahr 1899 ist aus diesem Grunde nach beiden
Methoden berechnet worden. Es wird dadurch eine irrtümliche Auf-
fassung verhindert, wie sie Nieder in seiner bereits angezogenen
Schrift über „die Arbeitsleistung der Saarbergleute“ (S. 49 ff.) unter-
gelaufen ist. Er läßt den Anteil der Hauer mit Löhnen von 5,00 M.
und mehr von 1899 nach 1900 sinken, während er tatsächlich steigt
und erst 1901 sinkt. Insgesamt ist der Rückgang dieser Stufe bis
zum Tiefstand 1902 nicht, wie Nieder rechnet, = 20,25 Proz. —
7,16 Proz. = 12,79 Proz., sondern nur = 12,83 Proz. —7,46 Proz. =
5,37 Proz. gewesen.
304 Herbig,
Tabelle IV.
Lohn der Hauer für die verfahrene Schicht.
3,40 3,80 4,00 4,40 4,80 4,00 [5,00 M.
y Unter .| Aë bis bik bis bis bis | und
Etatsjahr [340 M.| 379 | 399 | 439 | 4,79 | 4,99 | 4,99 | mehr
Proz. Proz. Proz. Proz. Proz. Proz. Proz. Proz.
1 BEE Er E EE DN a SCH DE d es St)
A. 1893—1899. Nettolohn einschl. Beiträge für Knappschaft, Oel und Gezähe.
——— —
1893 1,87 21,70 f 3 A 72,46 3,97
1894 2,03 10,31 | 13,60 5 e x 70,71 3,35
1895 0,73 7,09 12,11 $ r . 75,70 4,37
1896 0,38 5,24 | 9,63 38,42 32,78 7,61 78,81 5,94
1897 0,23 2,75 | 6,1 34,36 | 35,56 10,97 81,19 9,32
1898 0,17 1,89 | 5,14 28,95 37,91 13,40 80,32 12,48
1899 0,09 0,57 | 2,00 20,73 | 39,67 16,69 77,09 | 20,25
B. 1899—1908. Reiner Lohn ausschl. der obengenannten Beiträge.
1899 0,47 5,51 10,37 37,09 30,98 7,16 75,23 8,42
1900 0,33 3,35 7,81 32,02 | 33,01 9,75 | 75,68 | 12,83
1901 0,70 4,59 9,01 34,49 32,42 9,17 76,08 9,62
1902 0,76 5,04 9,43 35,15 33,28 8,57 77,31 7,46
1903 0,16 2,25 7,00 35,29 36,36 10,21 81,86 8,73
1904 0,04 1,18 4,50 31,98 38,38 12,38 82,74 11,54
1505 0,04 0,58 2,51 28,65 43,98 12.93 84,86 12,01
1906 0,01 0,22 0,96 17,94 43,57 16,56 78,07 20,74
1907 0,01 0,07 0,15 8,35 36,24 18,18 | 62,77 | 37,00
Ku m
1908 0,08 0,18 4,89 29,44 21,46 55,79 43,95
I. Halbjahr
1909 0,33 0,66 8,50 | 36,98 | 21,85 | 67,33 | 31,68
Die Zahlen der Tabelle IV sind den Akten der Königlichen Bergwerksdirektion
‚entnommen. Bis 1903 sind sie bereits bei Müller (s. Fußnote zu Tabelle I) ver-
öffentlicht. Im Unterschied von den übrigen Tabellen ist hier nicht das Kalenderjahr,
sondern das Etatsjahr zugrunde gelegt.
Es ist vielleicht nicht unnötig» zu bemerken, daß die Tabelle IV
in keiner Hinsicht mit der Lohhgruppenstatistik des Allgemeinen
Knappschaftsvereins zu Bochum vergleichbar ist, die alljährlich durch
die regelmäßig in der Presse besprochenen Jahresberichte des Ver-
eins für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dort-
mund einem größeren Leserkreise bekannt wird.
Die deutlich erkennbare Gesamttendenz in Tabelle IV ist eine
allmähliche Abnahme der geringen und Zunahme der höheren Löhne.
Wie die stärkste Besetzung von Spalte 5 (4,00 bis 4,39 M.) auf
Spalte 6 (4,40 bis 4,79 M.) übergegangen ist, so zeigen die Spalten
2, 3, 4 und 5 der niedrigeren Löhne eine deutliche Abnahme. Das
viel feinere Ausschlagen dieses statistischen Instrumentes zeigt sich
darin, daß die kleinen Rückgänge des Durchschnittslohnes in der
vergleichbaren Spalte 3 der Tabelle III um je 2 Pf. in den Jahren
1901 und 1902 sich in erheblichen Veränderungen der Spalten 2 bis 5
der Tabelle IV bemerkbar machen. Spalte 6 (4,40 bis 4,79 M.) bietet
das interessante Bild eines Kulminationspunktes im Laufe des unter-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 305
suchten Zeitraums. Bis zum Jahre 1905 sind immer mehr Häuer
in die Lohnklasse 4,40 bis 4,79 M. eingerückt. Von 1906 ab da-
gegen wird die Abwanderung aus dieser Stufe in die höheren Stufen
stärker als der — recht erhebliche — Zuzug aus den unteren Stufen;
der Anteil der Spalte 6 beginnt zu sinken. Die Spalte 7 mit Löhnen
von 4,50 bis 4,99 M. zeigt bis zum Schluß ein Ansteigen ihres
Prozentsatzes, das nur durch den allgemein bemerkten Niedergang
in 1901 und 1902 unterbrochen wird. Die Spalte 8, die die 3 Lohn-
gruppen von 4,00 bis 4,99 M. nochmals zusammengefaßt wiedergibt,
hat bereits einen solchen Umfang, daß die Feinheiten einer Stufen-
lohnstatistik in ihr nicht mehr klar zum Ausdruck kommen. Die
Entwicklung ihres Anteils ist schwankend; man kann aus ihr allein
die Tendenz der Lohnentwicklung nicht erkennen. Schlagend geht
dies aus dem Uebergang vom Jahre 1899 nach 1900 hervor: Spalte 8
bleibt fast unberührt (0,45 Proz. Differenz), obwohl sie einen Zuzug
von 4,36 Proz. aus den geringeren Lohnstufen und eine Abwande-
rung von 4,41 Proz. in die höheren Lohnstufen erfahren hat.
Bei der deutlichen Verschiebung nach oben, die die Jahre 1907
und 1908 bringen, ist daran zu erinnern, daß die Besserung nur
zum Teil auf tatsächlicher Lohnsteigerung beruht, während sie zum
anderen Teil nur rechnerisch dadurch zustande kommt, daß 1907
eine wirkliche Entnahme von unter dem Lohndurchschnitt stehenden
Häuern aus den produktiven Arbeiten zum Grubenausbau und Neben-
arbeiten stattfand, und daß 1908 eine ganze unterdurchschnittlich
gelohnte Arbeiterkategorie statistisch aus Klasse a nach b überführt
wurde. Tatsächlich ist die Aufwärtsbewegung von 1907 und 1908
nicht so stark, wie sie in Tabelle IV zum Ausdruck kommt. Daß
aber in den Ziffern auch eine erhebliche tatsächliche Aufwärts-
bewegung steckt, ist zweifellos, da sonst die Erhöhung, die der
Durchschnittslohn der Gesamtbelegschaft (Tabelle II) erfahren hat,
nicht möglich wäre.
Im ersten Halbjahr des Etatsjahres 1909 kommt der kleine
Rückgang, den auch die Durchschnittslöhne anzeigen, der Empfind-
lichkeit der Lohnstufenstatistik entsprechend deutlich zur Geltung.
Man erkennt aber auch hier wieder wie in der Depression 1901
bis 1902, daß das Sinken des Durchschnittslohnes mehr in einer
Verkleinerung der hohen Lohnstufen als in einer Vergrößerung der
niedrigen Lohnstufen liegt. Mit anderen Worten: Man hat wohl die
höheren Löhne etwas beschnitten und nach dem Durchschnittslohn
hin zurückgedrängt, während man die untere Grenze ziemlich un-
verändert gelassen hat. Auf diese Weise hat sich bei einem Rück-
gang der Spalte 9 (5,00 M. und mehr) um 12,27 Proz. der Anteil
der Löhne unter 4,00 M. nur um 0,73 Proz. und auch der der Lohn-
stufe 4,00 bis 4,39 M. nur um 3,61 Proz. vermehrt.
Ein Blick auf das Gesamtbild, das die Tabelle IV bietet, zeigt
ein starkes Zusammendrängen der Löhne an den Durchschnittslohn.
(Bei der verhältnismäßig geringen Besetzung der Spalte 7 [4,80 bis
4,99 M.] ist zu berücksichtigen, daß es sich hier um eine 20 Pfennig-
Diitte Foige Bd. XXXIX (XCI). 20
306 Herbig,
Stufe handelt.) Die extremen Löhne sind nur in kleinen Prozent-
sätzen vertreten. Dies Bild entspricht der zwar nicht an vergleich-
barem Zahlenmaterial nachzuweisenden, aber wohl von jedem Kenner
der Verhältnisse anerkannten Tatsache, daß die Spannung der Löhne
im staatlichen Bergbau bei Saarbrücken wesentlich geringer ist als
im Privatbergbau. Daß die Spannung größer ist und größer sein
muß, als in anderen Gewerben, wo das Maß des Leistungsaufwandes
leichter zu kontrollieren ist, muß als eine Eigentümlichkeit des Berg-
baues mit in den Kauf genommen werden, solange man auf den
Akkordlohn nicht verzichten will.
V. Statistik des Gesamtlohnes.
Die amtliche Lohnstatistik, der die hier behandelten Tabellen
entnommen wurden, gibt den reinen Lohn nach Abzug aller Un-
kosten. Selbstverständlich ist es, daß man als Lohn nicht die auch
durch die Lohnberechnung hindurchlaufenden Beträge ansehen kann,
die dem Bergmann für geliefertes Werkzeug, für Sprengstoff und
sonstige bei der Arbeit benötigte Gegenstände im Bruttolohn ange-
rechnet, bei der Auszahlung aber einbehalten werden. Dieser vom
betrieblichen Standpunkt richtige Bruttolohn gibt keine Antwort
auf die Frage nach dem Arbeitseinkommen des Bergmannes, wird
deshalb in der Lohnstatistik seit langen Jahren nicht mehr erwähnt;
in die amtliche Lohnstatistik ist er nie aufgenommen worden. Diese
kennt in ihren Tabellen nur den reinen Lohn, wie er dem Berg-
mann bei der Löhnung bar in die Hand gegeben wird. Man ist
damit auch über einen Lohnbegriff hinweggegangen, der lange Zeit
im Saarrevier unter dem Namen Nettolohn geherrscht hat (vgl.
Tabelle I und IV A). Der „Nettolohn“ unterscheidet sich von dem
„reinen“ Lohn (der in der amtlichen Statistik allerdings auch als
Nettolohn bezeichnet ist) dadurch, daß ersterer die dem Arbeiter bei
der Lohnzahlung einbehaltenen Knappschaftsgefälle und einen fest-
stehenden Satz für das während der Schicht verbrauchte Benzin für
die Lampe und für Instandhaltung des Gezähes in sich enthält.
Diese 3 Abzüge werden neben den tabellarischen, nur die reinen
Löhne enthaltenden Uebersichten in der amtlichen Lohnstatistik be-
sonders erwähnt. Für das Jahr 1908 werden folgende Abzüge pro
Schicht aufgeführt:
Persönliche Versicherungsbeiträge 33,0 Pf.
Gezäheunterhaltung 20 „
Lampenöl (nur für Arbeiter unter Tage) 4,0 „
Es bedarf wohl keiner Erörterung, daß die beiden letzten Ab-
züge heutigen Tages begrifflich nicht mehr dem Lohne zugerechnet
werden können, daß ihre Ausmerzung aus dem Lohne der amtlichen
Lohnstatistik in jeder Beziehung erwünscht war. Einen ganz anderen
Charakter haben die von dem Arbeiter zu tragenden Versicherungs-
beiträge. Sie stellen die auf ihn entfallende Hälfte der Knapp-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 307
schaftsgefälle dar. Der Knappschaftsverein gewährt dafür die
Leistungen des Krankenversicherungsgesetzes und des Invalidenver-
sicherungsgesetzes. Darüber hinaus gibt er im Falle der „Berg-
fertigkeit“, die durchweg mehrere Jahre vor der Invalidität ein-
tritt, eine Pension, im Falle des Todes eine Witwenpension und
eine Waisenunterstützung (Erziehungsbeihilfe), und schließlich
trägt der Verein die Unkosten des Schulunterrichts der Kinder. Die
gleichen Knappschaftsgefälle wie der Arbeiter entrichtet die Berg-
verwaltung als Arbeitgeber. Außerdem trägt sie die Lasten der
Unfallversicherung in der Knappschaftsberufsgenossenschaft und
zahlt die Mehrbeträge an Krankengeld gemäß $ 5 Abs. 9 des Ge-
werbe-Unfallversicherungsgesetzes. Diese Leistungen des Arbeit-
gebers finden in der Lohnstatistik keinen Platz. Und doch darf
man wohl den Standpunkt vertreten, daß die gesamten Versicherungs-
beiträge, sowohl die des Arbeiters als auch die des Arbeitgebers,
begrifflich dem Lohne zuzurechnen sind. Lediglich die Arbeiter-
beiträge als Lohn anzusehen, wie dies bei den früheren Nettolöhnen
geschah, erscheint nicht als eine glückliche Lösung; denn die Theorie,
daß der Arbeiter seinen Beitrag und der Arbeitgeber den seinigen
bezahle, ist doch eben nur eine Theorie; der Arbeiter muß beide
Beiträge verdienen, der Arbeitgeber beide bezahlen; in der Praxis
empfindet der Arbeiter eine Erhöhung seines Schichtlohnes um 2 Pf.
bei einer gleichzeitigen Erhöhung seiner Knappschaftsabzüge um
3 Pf. nicht als ein Steigen, sondern als ein Sinken seines Lohnes.
Er hat also gar nicht das Gefühl, daß er den Versicherungsbeitrag
von seinem Lohn zu zahlen hat, sondern er rechnet als Lohn nur
den bar für ihn übrig bleibenden Betrag. Der Arbeiter wird sich
aus diesem Gefühl heraus in erster Linie auch für eine Statistik der
reinen Löhne interessieren. Diese Statistik würde auch genügen,
wenn sie nur mit solchen anderen Lohnstatistiken verglichen würde,
in denen die gleichen Versicherungsbeiträge und -leistungen zu be-
rücksichtigen sind. Dies ist aber durchaus nicht der Fall, und des-
halb sind reine deutsche Löhne nicht vergleichbar mit Löhnen
des Auslands, in denen keine oder eine nur geringe gesetzliche
Versicherungspflicht besteht; deshalb sind in Deutschland selbst reine
Löhne im Bergbau nicht vergleichbar mit Löhnen anderer In-
dustrien, die keine Hinterbliebenenversicherung und keine Ver-
sicherung für den Fall der Berufsarbeitsunfähigkeit haben; deshalb
sind schließlich auch die reinen Löhne der verschiedenen Berg-
baubezirke untereinander nicht vergleichbar, weil ihre Knapp-
schaftsbeiträge und demnach auch die Leistungen der Knappschafts-
vereine verschieden sind. Im Jahre 1908 betrug der Arbeiterbeitrag
pro Schicht:
im oberschlesischen Steinkohlenbergbau 19,7 Pt.
im niederschlesischen Steinkohlenbergbau 17,9 „
im Oberbergamt Dortmund 26,0 „
im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken 33,0 ,
im Steinkohlenbergbau bei Aachen 20,5 „
308 Herbig,
Die niedrigsten Knappschaftsbeiträge in Preußen überhaupt werden
im linksrheinischen Braunkohlenbergbau mit 10,3 Pf. auf die Schicht
bezahlt.
Vergleicht man die reinen Löhne dieser Bergbaubezirke mit-
einander, so vernachlässigt man vollständig, daß der Arbeiter mit
hohen Beiträgen in diesen einen weit größeren Spargroschen für den
Fall von Not und Tod zurücklegt als der andere. Eine Basis, auf
der man zu vergleichbaren Ziffern gelangt, kann nur dadurch her-
gestellt werden, daß man nicht nur die Arbeiterbeiträge, sondern
auch sämtliche Arbeitgeberbeiträge zur Arbeiterversicherung zu dem
reinen Lohn hinzuzählt, denn auch die letzteren begründen recht-
liche, aus dem Arbeitsverhältnis entstehende Ansprüche des Arbeiters
auf wirtschaftliche Leistungen. Ein solcher „Gesamtlohn“ umfaßt
scharf die an den Arbeiter und für den Arbeiter ausgezahlte Ent-
lohnung seiner Arbeit. Dieser Gesamtlohn ist die einzig richtige
Beantwortung der Frage: „Was muß der Arbeitgeber nach dem
Arbeitsvertrag für einen Arbeiter bezahlen?“ Vom Standpunkte des
Arbeiters ist der Gesamtlohn die von ihm zu beanspruchende volle
Entschädigung für seine Arbeit. Die Feststellung des reinen Lohns
auch in der Statistik verliert daneben nicht an Bedeutung für ihn,
und auch die Oeffentlichkeit hat an der Höhe des dem Arbeiter zur
freien Verfügung zufließenden Lohnes Interesse. Aber neben diesem
reinen Lohn der amtlichen Statistik müßte bei jedem Vergleich ver-
schiedener Lohnstatistiken der Gesamtlohn durch Hinzuzählen sämt-
licher Versicherungsbeiträge errechnet werden. Dadurch erhöht sich
der Saarbrücker Durchschnittslohn (Tabelle II) in der in Tabelle V
dargestellten Art. Im Jahre 1908 ist der Gesamtlohn = 4,81 M.
gegenüber dem von der amtlichen Statistik erfaßten reinen Lohn
von 4,04 M. Die Knappschaftsbeiträge sind im Laufe von kaum
18 Jahren fast auf das Doppelte (von 18 auf 33 Pf.) gestiegen.
Sie sind, wie oben mitgeteilt, die höchsten in ganz Preußen. Bei
einem Unterschied von 7 Pf. gegen den Ruhrbergbau mit den
nächst höheren Gefällen vermindert sich der Abstand zwischen dem
Durchschnittslohn von Saarbrücken und Westfalen durch eine Be-
rücksichtigung der Knappschaftsgefälle um 2 X 7=14 Pf. Aachen
gegenüber erscheint der reine Lohn um 25 Pf., Oberschlesien gegen-
über um 26,6 Pf. und Niederschlesien gegenüber um 30,2 Pf. zu
gering.
Die Bedeutung, die die Feststellung des Gesamtlohns für eine
richtige Erkenntnis der Lohnverhältnisse hat, zeigt ein Blick auf
das Jahr 1901. Die Unterbrechung, die der gleichmäßige Aufstieg
der Kurve des reinen Lohnes erlitt, fällt zusammen mit einer Er-
höhung der Knappschaftsbeiträge. Nur weil nicht auch die Erhöhung
des Arbeiterbeitrags sofort auf den Arbeitgeber abgewälzt wurde,
sank der reine Lohn um den Betrag der Erhöhung des Arbeiter-
beitrags. Im Jahre 1902 war die Ueberwälzung trotz absteigender
Konjunktur bereits vollständig durchgeführt. Verfolgt man die Ent-
wicklung des Gesamtlohns in Spalte 5, so sieht man die Aufwärts-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 309
Tabelle V. Gesamtlohn pro Kopf und Schicht der
Gesamtbelegschaft.
Reiner Lohn | Knappschafts- |Gesetzliche, vom Freiwillige
Jahr [nach der amt- beiträge Arbeitgebererho-| Gesamtlohn Beihilfen
lichen Statistik | der Arbeiter |bene Leistungen
1 | 2 | 3 = 4 | 5 | 6
2,92 0,18 0,26 3,36 A
3,24 0,18 0,26 3,68 E
3,79 0,18 0,26 4,23 =
3,89 0,24 0,33 4,46 E
3,69 0,23 0,34 4,26
3,37 0,24 0,36 3,97 £
3,24 0,25 0,38 3,87 d =
3,27 0,24 0,35 3,86 a B
3,28 0,25 0,34 3,87 EK
3,34 0,25 0,32 3,91 ge
3,40 0,25 0,32 3,97 3
3,46 0,25 0,32 4,03 =
3,56 0,26 0,33 4,15 5
3,54 0,28 0,37 4,19 y
3,57 0,28 0,39 4,24 Ki
3,60 0,29 0,40 4,29
3,71 0,28 0,40 4,89 0,07
3,80 0,28 0,41 4,49 0,07
3,88 0,29 0,41 4,58 0,08
4,02 0,33 0,48 4,78 0,08
4,04 0,38 0,44 4,81 0,09
Die Zahlen in Spalte 1 bis 3 und 6 sind der amtlichen Statistik entnommen, die
Zahlen in Spalte 4 sind aus den Jahresberichten des Knappschaftsvereins und den Akten
der Bergwerksdirektion entnommen. Sie umfassen die Arbeitgeberbeiträge zum Knapp-
schaftsverein, die Beiträge zur Knappschaftsberufsgenossenschaft und die Mehrbeträge an
Krankengeld gemäß $ 5 Abs. 9 des Gewerbe-Unfallversicherungsgesetzes.
bewegung im Jahre 1901 überhaupt nicht unterbrochen. (1900:
4,15 M., 1901:4,19 M., 1902: 4,24 M.)
In den oben vorgeschlagenen Gesamtlohn sind nicht aufzu-
nehmen die freiwilligen wirtschaftlichen Beihilfen, da
auf diese der Arbeiter keinen klagbaren Anspruch hat. Trotzdem
kann man im Saarbezirk dem Kohlendeputat, das nur in sehr seltenen
Fällen wegen Mißbrauchs entzogen wird, einen lohnähnlichen
Charakter nicht absprechen. Im Jahre 1908 betrug der Wert der
freiwilligen Beihilfen (Spalte 6) 9 Pf. auf die Schicht. Außer dem
Mehrwert der Deputatkohle über den von den Bergleuten gezahlten
Preis sind in diesem Betrage die Kosten der Wohnungsfürsorge,
die während des Erholungsurlaubs weiter gezahlten Löhne und der
Unterschied von Mieten und Pachten gegenüber dem ortsüblichen
Preis enthalten. Den größten Geldwert stellt das Kohlendeputat
dar, den größten sozialen Wert hat aber wohl die Wohnungsfürsorge,
die darin besteht, daß die Verwaltung alljährlich an eine große An-
zahl von Baulustigen Prämien verlost, die je nach dem umbauten
Raum bis 900 M. steigen. Außer diesem Geschenk erhalten die
310 Herbig,
Gewinner ein unverzinsliches, zu 10 Proz. jährlich zurückzahlbares
Darlehen von 2100 M. Mit diesen Beihilfen sind bisher insgesamt
7078 solcher „Prämienhäuser“ gebaut worden, deren großer sozialer
Wert darin liegt, daß sie von vornherein im Eigentum der Berg-
leute stehen.
Ganz unberücksichtigt sollen hier diejenigen Wohl-
fahrtseinrichtungen bleiben, denen jeder lohnähnliche Cha-
rakter fehlt, die aber auch neben der geistigen und sittlichen die
wirtschaftliche Hebung des Arbeiterstandes bezwecken: Fortbildungs-,
Haushaltungs-, Kleinkinderschulen, Konsumvereine, Kaffeeküchen,
Sparwesen, Bergfeste, Bergmusik, Büchereien.
VI. Die Schichtdauer.
Jede Lohnstatistik findet ihre notwendige Ergänzung in einer
Statistik der Arbeitszeit. Die Schichtdauer im Saarbrücker Bergbau
betrug bei Beginn der preußischen Verwaltung grundsätzlich 8 Stunden
für die Gedingearbeiter (Akkordlohn) und 12 Stunden für die Schicht-
löhner (Zeitlohn). Die Normallöhne der damaligen Schichtlohntabellen
waren für die Gedingelöhner auf 8-stündige Schichten zugeschnitten.
Vielfach wurden aber Ueberschichten verfahren, so daß sich die da-
durch verlängerte Schichtdauer als normal einbürgerte. Im allge-
meinen wurde aber die 10-stündige Dauer einschließlich Ein- und
Ausfahrt nicht überschritten. Die erste Arbeitsordnung von 1866
unterschied zwischen 8- und 12-stündiger Schicht. Es war dem
einzelnen Arbeiter überlassen, ob er 8, 10 oder 12 Stunden arbeiten
wollte, Da aber die Seilfahrt erst 10 Stunden nach Beginn der
Arbeitszeit wieder begann, so wurde tatsächlich ein gewisser Druck
im Sinne der 10-stündigen Arbeitszeit ausgeübt, weil die Arbeiter
zur früheren Ausfahrt den beschwerlichen Weg auf Fahrten oder
durch Tagesstrecken hätten zurücklegen müssen. Die Arbeitsordnung
von 1877 stellte die Festsetzung des Beginns und der Dauer der
Arbeitszeit in das Ermessen der Berginspektionen. Dies führte zu
Willkürlichkeiten und Mißständen, die einen der ersten Beschwerde-
punkte bei dem Ausstand von 1889 bildeten. Die Verwaltung er-
kannte diese Klagen als berechtigt an und setzte die Schichtdauer
der eigentlichen Grubenarbeiter auf 10 Stunden einschließlich Ein-
und Ausfahrt, kurz darauf auf 9 Stunden einschließlich Ein- und Aus-
fahrt, oder 8 Stunden ausschließlich Ein- und Ausfahrt fest. Diese
einheitliche Regelung wurde in der Arbeitsordnung von 1892 festge-
legt. Die durch die Berggesetznovelle von 1905 nötig gewordene
neue Arbeitsordnung vom 31. Oktober 1905, die zurzeit noch in
Kraft ist, bestimmt: „Die regelmäßige tägliche Arbeitszeit für die
eigentlichen Grubenarbeiter beträgt 8 Stunden, die Zeit vom Beginn
der Einfahrt bis zur Beendigung der Ausfahrt für den einzelnen
Arbeiter nicht mehr als Su, Stunden.“ (Diese Bestimmung entspricht
der in England jüngst gesetzlich eingeführten 8-stündigen Schicht
der Bergleute.) „Für Arbeiter, welche an Betriebspunkten, an denen
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 311
die gewöhnliche Temperatur mehr als +28° C beträgt, nicht bloß
vorübergehend beschäftigt werden, beträgt die tägliche Arbeitszeit
nicht mehr als 6 Stunden.“ Für die Arbeiter über Tage sieht die
Arbeitsordnung noch eine 12-stündige Schichtdauer vor; tatsächlich
werden solche Schichten aber nur noch von wenigen Arbeitern ver-
fahren, die als Wärter von kleinen Maschinen einen bequemen Dienst
fast ohne jede körperliche und geistige Anstrengung haben. Im
Jahre 1908 verteilte sich die Belegschaft auf die verschiedenen
Schichtzeiten wie folgt:
Von den eigentlichen Bergarbeitern (Klasse a) hatten
0,3 Proz. eine Schichtdauer bis 6 Stunden,
0,5 ” DI DI n 7 Hi
92 » » D » ê »
Von den sonstigen Arbeitern unter Tage (Klasse b)
hatten
0,3 Proz. eine Schichtdauer bis 6 Stunden,
0,1 » H ” HI HI
99,6 UI HI n » A Hi
Von den erwachsenen Arbeitern über Tage (Klasse c)
hatten
7,2 Proz. eine Schichtdauer bis 8 Stunden,
41,6 HI nm nm » 9 nm
14,8 nm D HI „ 10 HI
30,5 D HI nm n II nm
5,9 Hi HI H „ 12 HI
Von den jugendlichen Arbeitern (Klasse d) hatten
9,4 Proz. eine Schichtdauer bis 6 Stunden,
0.0 D D nm DM H HI
72,9 mm HI H D 8 H
3,7 zm nm Hi an 9 Hi
11,0 HI HI mm „ 10 nm
0,0 n r H n II nm
3,0 DI nm nm „ 12 n»
Bemerkenswert ist die allmählich bereits stark abgekürzte Schicht
der Klasse c, von der im Oberbergamt Dortmund nach der amt-
on Statistik noch! 68,3 Proz. eine Schichtdauer von 12 Stunden
aben.
Wie günstig die Saarbrücker Schichtdauerverhältnisse sind, er-
hellt wohl am besten daraus, daß selbst die radikalsten Forderungen
in dieser Richtung nicht mehr verlangen, als eine Abkürzung der
Schichtdauer der eigentlichen Bergarbeiter um eine weitere halbe
Stunde und eine engere Abgrenzung der Bedingungen für das In-
krafttreten der 6-stündigen hygienischen Höchstschichtdauer.
VII. Der Reallohn.
Die Versuche, dem Nominallohn einen Reallohn gegenüberzu-
stellen, sind leider im Saarbezirk ganz aussichtslos. Es liegt zwar
eine im Regierungsamtsblatt veröffentlichte Statistik der Markt- und
312 Herbig,
Ladenpreise in Saarbrücken - St. Johann vor, aber irgendwelche Be-
deutung für die Bewertung der Kaufkraft des Lohnes kann diesem
Zahlenmaterial nicht beigemessen werden. Um die Ziffern nicht
ganz totzuschweigen, mögen für einige wichtige Lebensmittel die
Martinimarktpreise für 1888 und 1908 nebeneinandergestellt werden:
1888 1908
M. M.
Weizenmehl 1 kg 0,50 0,40
Roggenmehl Dm 0,36 0,35
Rindfleisch 5 1,20—1,60 1,50—1,75
Schweinefleisch y 1,30 1,72
Speck 7 1,80 1,80
Eßbutter Se 2,20 2,60
Schweineschmalz ` 1,60—1,80 1,80
Erbsen j 0,27 0,35
Kartoffeln 100 kg 6,60 8,00
Abgesehen von dem Mangel, daß es sich hier lediglich um Martini-
marktpreise handelt, flößen die runden Ziffern ein entschiedenes Mu.
trauen gegen die auf ihre Ermittelung verwandte Sorgfalt ein. Aber
selbst wenn man diese Statistik als richtig anerkennen will, bleiben
noch wesentliche Bedenken gegen ihre Verwertbarkeit zur Bestimmung
des bergmännischen Reallohnes. Saarbrücken selbst kommt für die
Bergleute als Einkaufsort für Lebensmittel so gut wie gar nicht in
Betracht. Doch kann man diesem Einwand entgegenhalten, daß die
Lebensmittelpreise in den zu Industrieortschaften gewordenen Orten
Neunkirchen, Friedrichsthal, Sulzbach und Dudweiler nur wenig oder
gar nicht geringer seien als in Saarbrücken. Zahlenmaterial für eine
solche Behauptung liegt nicht vor; man kann aber ihre Berechtigung
nicht wohl ganz von der Hand weisen. Wohl aber ist zu berück-
sichtigen, daß in diesen Ortschaften nur etwa 10—15 Proz. der
Belegschaft wohnen, während die übergroße Zahl in Dörfern be-
heimatet ist und wohnt, die einen durchaus ländlichen Charakter
tragen. Aus den unten genannten Ziffern über den Besitz der Berg-
leute ist herauszulesen, daß jeder Hauseigentümer einen kleinen
Garten hat, in dem er sich einen mehr oder minder großen Teil
seines Küchenbedarfs zieht, daß die Feldbesitzer sich im allgemeinen
zum mindesten ihren Kartoffelbedarf aus eigener Landwirtschaft
decken und daß die Viehbesitzer in Gestalt von Milch oder Fleisch
einen wesentlichen Teil wichtiger Lebensmittel selbst gewinnen.
Die große Zahl der Haus-, Feld- oder Viehbesitzer ist demnach
in höherem oder geringerem Grade von den Lebensmittelpreisen
unabhängig. Aber auch die übrigen Arbeiter sind, soweit sie in
ländlicher Gegend wohnen, in der Lage, die wichtigsten Lebens-
mittel zu einem geringeren Preise einzukaufen, als sie in Saar-
brücken oder in den genannten Industrieorten zahlen müßten.
Ein Beispiel dafür, daß die Saarbrücker Preise mit der be-
sprochenen Lohnstatistik nicht in Beziehung gesetzt werden dürfen,
ist der Kartoffelpreis, der für Saarbrücken in den letzten Jahren mit
7—8 M. angegeben ist. Die meisten Berginspektionen, besonders
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 313
auch die in den mehrerwähnten Industrieorten Dudweiler, Sulzbach,
Friedrichsthal vermitteln allherbstlich ihren Bergleuten auf Wunsch
den Kartoffelbezug. Die Preise betragen je nach der Güte für
100 kg 4,50 M. bis 6 M. Man darf annehmen, daß auch diejenigen
Bergleute, die sich an dem Kartoffelbezug durch die Berginspektionen
nicht beteiligen, erheblich höhere Preise nicht zahlen. Der Saar-
brücker Marktpreis darf deshalb als geeignetes Zahlenmaterial nicht
angesehen werden. Auf die Errechnung von Verhältniszahlen aus
diesen Marktpreisen und den Löhnen ist deshalb verzichtet worden.
VIII. Die Lohnpolitik im staatlichen Saarbergbau.
Aus dem gesamten Tatsachen- und Zahlenmaterial, wie es in
den vorausgegangenen Abschnitten niedergelegt ist, läßt sich ein
seit fast zwei Jahrzehnten konsequent durchgeführter Grundgedanke
deutlich erkennen:
Das hervorstechende Merkmal der Saarbrücker
Lohnentwicklung seit 1893 ist die Stetigkeit in der
Aufwärtsbewegung der Löhne. Sie ist nicht das Ergebnis
eines freien Spiels der Kräfte auf dem Arbeitsmarkt, sondern einer
planmäßigen Lohnpolitik. Eine solche konnte die Verwaltung in
gewissem Grade unabhängig von der allgemeinen Arbeitsmarktlage
treiben, weil das Saargebiet einen in sich abgeschlossenen, geo-
graphisch isolierten Industriebezirk bildet, innerhalb dessen der Berg-
bau fast ausschließlich in den Händen eines Arbeitgebers, des Berg-
fiskus, liegt. Das starke Heimatgefühl der bodenständigen Be-
völkerung wirkt einer Abwanderung in andere Bergbaubezirke ent-
gegen, und die Nachteile eines Berufswechsels machen auch inner-
halb des Saarbezirks den Uebergang eines ausgebildeten Bergmanns
in eine Hütte, eine Maschinenfabrik usw. zur Seltenheit. Das erstere
Moment hat sich zwar bereits in etwa abgeschwächt und wird sich
noch weiterhin abschwächen, je mehr durch die Leichtigkeit des
Verkehrs und auch durch die interregionalen gewerkschaftlichen Be-
ziehungen, die Abwanderung nach dem gewaltigen industriellen
Magnet Westfalen erleichtert wird, und je stärker sich im benach-
barten Lothringen der private Steinkohlenbergbau entwickelt. In-
zwischen trägt aber die durch jene Vorbedingungen ermöglichte
Politik der Stetigkeit insofern ihre Früchte, als nunmehr in erster
Linie wohl sie es ist, die trotz aller Klagen über den absoluten
Abstand gegen westfälische Löhne den Saarbergmann veranlaßt, im
Lande zu bleiben. Die Stetigkeit der Löhne beschränkt sich im
Gegensatz zu den am Schluß des II. Abschnittes gekennzeichneten
früheren Zeiten nicht auf die durchschnittlichen Schicht-
löhne, sondern auch die durchschnittlichen Jahresverdienste
entwickeln sich vollkommen gleichmäßig aufwärts, weil die Schichten-
zahl kaum einem Wechsel unterliegt. Der Saarbrücker Bergmann
hat weder unter Ueber- und Nebenschichten, noch unter
Feierschichten zu leiden. In den Jahren 1896—1908 sind über-
314 Herbig,
haupt keine Feierschichten eingelegt worden. Erst im Jahre 1909
haben die Absatzschwierigkeiten zu wenigen Feierschichten ge-
zwungen, die auch in der Schichtenziffer zum Ausdruck kommen.
Immerhin bedeutet dieser geringe Schichtenausfall und der kleine
Lohnrückgang im Vergleich mit den Nachteilen, die dem Arbeiter
anderwärts aus dem Konjunkturrückgang erwachsen, einen nur ge-
ringen Verlust.
Die Stetigkeit der steigenden Löhne erhält zunächst eine be-
deutsame Ergänzung durch die zwar nicht zahlenmäßig zu belegende,
aber wohl von keinem Kenner der Verhältnisse bestrittene Tatsache,
daß die Spannung zwischen den höchsten und geringsten Löhnen
im Saarbezirk weit geringer ist als im Privatbergbau, und daß sich
die große Menge der Individuallöhne nicht weit von dem Durch-
schnittslohne entfernt. Das liegt daran, daß im Laufe der monat-
lichen Gedingeperiode Aufbesserungen stattfinden, wenn eine Kamerad-
schaft trotz normalen Arbeitsaufwandes nicht auf normalen Lohn
kommen kann, während umgekehrt eine Regulierung nach unten
innerhalb der Gedingeperiode außerordentlich selten ist.
Zu dieser Stetigkeit der Durchschnittslöhne und der guten Aus-
sicht, niemals mit dem Individuallohn weit unter dem Durchschnitts-
lohn der betreffenden Arbeiterkategorie zu bleiben, tritt dann noch
die Sicherheit der Arbeitsgelegenheit. Die Belegschafts-
ziffer der Saargruben zeigt nicht die sprunghafte Entwicklung wie
in Westfalen. Seit Jahrzehnten verzichtet der Saarbergfiskus auf
die Heranziehung landfremder Arbeiter und begnügt sich mit dem
natürlichen Bevölkerungszuwachs. Er schafft also, vom Standpunkt
des ansässigen Saarbrücker Arbeiters gesehen, diesem keine un-
willkommene Konkurrenz. In diesem Verzicht liegt naturgemäß
eine gewisse Garantie für die einheimischen Bergleute. Und ebenso
wie die Verwaltung bei steigender Konjunktur keine sprunghafte
Belegschaftsvermehrung herbeiführt, ebenso nimmt sie bei Krisen
keine Arbeiterentlassungen vor. Selbst wenn vom rein wirtschaft-
lichen Standpunkt eine Verminderung der Belegschaft sehr erwünscht
wäre, greift sie nie zu Arbeiterentlassungen, sondern schränkt
höchstens die Neuanlegungen ein, und auch dies nur in einem
Umfange, der den eigenen Bergleuten die Anlegung ihrer Söhne
mit dem 16. Lebensjahre meistens verbürgt. Diese Sicherheit
der Arbeitsgelegenheit gilt aber nicht nur gegenüber Kon-
junkturschwankungen, sondern auch in anderen Fällen, in denen
Privatverwaltungen sich weit mehr vom eigenen Interesse leiten
lassen: Der Staatsbergbnu beschäftigt eine große Anzahl von Ar-
beitern weiter, die nicht mehr voll erwerbsfähig sind, und das bis
an den Handelsminister gehende Beschwerderecht bürgt dafür, daß
selbst die gesetzlich jederzeit freistehende Kündigung nur aus sorg-
fältig geprüften Gründen, meist nur in solchen Fällen, die nach
Gesetz und Arbeitsordnung sofortige Entlassung gestatten würden,
niemals aber willkürlich erfolgt. In dieser Sicherheit des Arbeits-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 315
verhältnisses steht der Saarbergmann, wenn er auch einen Rechts-
anspruch nicht hat, tatsächlich einem Beamten nicht viel nach.
Diese große Stetigkeit, die das ganze Arbeitsverhältnis be-
herrscht, entlastet den Saarbergmann von manchem Risiko, das
andere Unternehmer ihren Arbeitern nicht abnehmen und oft auch
nicht abnehmen können. Die beiden letzten Wirtschaftskrisen sind
an dem Saarbrücker Bergmann fast spurlos vorbeigegangen.
IX. Wirtschaftliche Folgen der Saarbrücker Lohnpolitik.
Das Typische der Saarbrücker Lohnpolitik, sowohl was ihr
Wesen, als auch was ihre wirtschaftlichen Folgen anbetrifft, tritt
am schärfsten hervor bei einem Vergleich mit dem in seiner Art
nicht minder typischen Ruhrkohlenbergbau. Zur zahlenmäßigen
Belegung einiger der nachstehenden Erörterungen mag die Tabelle VI
dienen, die nach den Erläuterungen, die oben zu den entsprechenden
Tabelle VI.
Steinkohlenbergbau im Oberbergamtsbezirk
Dortmund.
Gesamtbelegschaft | Klassse a (eigentliche Bergarbeiter)
Förde- Reiner Lohn i Reiner Lohn
SE ees Anzahl u a —
Jahr] rung Jährliche e pro | in Proz Jährliche pro pro
1000 t | Anzahl |Schichten- | „nicht | Jahr Mer Gesamt-|"chiehten- (Schicht | Jahr
u belegschaft| ?ahl
M. | M. En M. | M.
Ska et ER ED EEE RER ET
1888 | 33 224 | 102 195 321 2,69 | 863 64,6 316 2,96 | 936
1891 | 37 402 | 134 603 307 3,54 | 1086 61,5 298 4,08 | 1217
1893| 38 613 | 142 285 301 3,14 946 53,0 292 3,71 |1084
1900| 59619 | 220031 318 4,18 |1332 51,3 309 5,16 |1592
1902 | 58039 | 236 543 296 3,82 | 1131 50,3 288 4,57 | 1314
1907 | 80 183 | 294 101 321 4,87 | 1562 50,0 313 5,98 | 1871
1908 | 82 665 | 324 895 310 4,82 | 1494 49,8 311 5,86 | 1766
Die Zahlen der Tabelle VI sind der amtlichen Statistik entnommen.
Saarbrücker Zahlen gegeben wurden, einer Erklärung nicht bedarf.
Zu einem Vergleich genügen die Jahre wirtschaftlichen Hoch- und
Tiefstandes. Der Unterschied gegen die Tabellen II und III springt
in die Augen: Im Ruhrkohlenbergbau ein rapides Anwachsen der
Belegschaft unter starker Heranziehung landfremder Arbeiter (1888:
102195 Mann, 1908: 324895 Mann), im Saarbergbau langsame
Steigerung lediglich aus dem natürlichen Zuwachs der ansässigen
Bevölkerung. Dort eine starke Vermehrung der durchschnittlichen
jährlichen Schichtenzahl in der Hochkonjunktur und demgegenüber
ım Tiefstand der Konjunktur Feierschichten (höchste Schichtenzahl:
321, niedrigste: 296), hier die Schichtenzahl von der Konjunktur
316 Herbig,
kaum verändert. Dort eine größere, hier eine kleinere Spannung
zwischen den höchsten und niedrigsten Individuallöhnen. Dort ein
steiles Steigen der Löhne bei guter Wirtschaftslage, aber auch ein
erhebliches Fallen der Löhne bei wirtschaftlichen Rückschlägen
(1888: 2,69 M., 1891: 3,54 M., 1893: 3,14 M., 1900: 4,18 M., 1902:
3,82 M., 1907: 4,87 M.), hier ein nur langsames Steigen der Löhne,
das aber auch in schlechten Zeiten nur einen Stillstand oder einen
Rückgang um einige Pfennige, aber keinen erheblichen Rückschlag
erfährt. Dort, in absoluten Ziffern, höhere, aber schwankende, hier
geringere, aber stetige Löhne.
In Westfalen steht beherrschend im Vordergrund das wirt-
schaftliche Interesse; nach wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten
regelt sich auch die Lohnfrage. In Saarbrücken dagegen sind die
Löhne nicht lediglich das Ergebnis wirtschaftspolitischer Ueber-
legungen, sondern diese treten zuweilen vor sozialpolitischen
Rücksichten zurück. Die Lohnfrage hat im Saargebiet in gewissem
Sinne ein selbständiges Leben, während sie im normalen Privat-
bergbau nur im engsten Zusammenhang mit den übrigen wirtschaft-
lichen Kalkulationen behandelt wird. Die westfälische Lohnpolitik
sucht den wirtschaftlichen Bedürfnissen möglichst zu entsprechen
und paßt sich jeder Veränderung der wirtschaftlichen Lage an. Die
in ihrer Stetigkeit starre Saarbrücker Lohnpolitik entspricht mehr
sozialen als wirtschaftlichen Forderungen und ist nichts weniger als
anpassungsfähig.
Für die Leistung des einzelnen Arbeiters bietet die
große Spannung der Individuallöhne, wie sie der groß-
industrielle Privatbergbau allgemein und besonders in Westfalen hat,
einen größeren Ansporn als die geringe Spannung der Saarbrücker
Löhne. Ohne auf das schwierige Problem hier näher eingehen zu
wollen, darf man wohl ohne Widerspruch behaupten, daß der Ge-
dingelohn (= Akkordlohn) größere Anstrengung beim Arbeiter aus-
löst als der Schichtlohn (= Tagelohn) und daß der leistungssteigernde
Charakter des Gedingelohns um so mehr in Erscheinung tritt, je
weniger die Betriebsleitung die durch besondere Anstrengung er-
reichten hohen Löhne nach unten oder die durch zu geringe An-
strengung verschuldeten niedrigen Löhne nach oben auszugleichen
sucht. Praktisch gesprochen: Wenn man tüchtige Arbeiter hohe
Löhne verdienen läßt und minderwertige mit geringem Lohn nach
Hause gehen läßt, wird man die besten Leistungen erzielen. Je
mehr man die Spannung zwischen dem höchsten und niedrigsten
Lohn verringert, je kleiner der Spielraum wird, in dem die Individual-
löhne um den Durchschnittslohn oszillieren, um so mehr geht die
Wirkung des Akkordlohnsystems verloren, um so mehr nähert man
sich dem Schichtlohnsystem, das zweifellos nivellierend auf die
Leistung wirkt. Demnach darf man in Saarbrücken eine weniger
intensive Ausnutzung der einzelnen Arbeitskraft vermuten als in
Westfalen. Ein zahlenmäßiger Nachweis für diese Folgerung ist
ausgeschlossen, da die Verschiedenheit der geologischen Verhältnisse
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 317
jedem Vergleich die Basis entzieht. Von einem Vergleich der west-
fülischen und Saarbrücker Leistung pro Kopf der Belegschaft ist
deshalb ganz abgesehen worden. Als eine indirekte Bestätigung der
geäußerten Vermutung darf man aber vielleicht die geringe Neigung
Saarbrücker Bergleute, dauernd in Westfalen zu arbeiten, ansehen.
Noch schwerer fällt in wirtschaftlicher Beziehung ins Gewicht
de mangelnde Anpassungsfähigkeit des Saarbrücker Berg-
baues an die Konjunkturschwankungen. Jeder wirtschaftliche Um-
schwung trifft mit voller Wucht den Steinkohlenbergbau, die Kraft-
quelle aller Industrie. Bei einem Hochstand möchte der Markt die
Kohlenproduktion am liebsten verdoppelt und verdreifacht sehen,
während in schlechten Zeiten der Steinkohlenbergbau, drastisch ge-
sprochen, in seinem eigenen Fett ersticken könnte. Das Kohlen-
syndikat hat die elementare Gewalt dieses wirtschaftlichen Wellen-
ganges durch seine Einwirkung auf die Förderung und die Preise
in allseitigem Interesse gemäßigt; aber auch so gemildert, bleiben
die Schwankungen für den Steinkohlenbergbau eine gegebene Tat-
sache von schwerwiegender Bedeutung. Das allgemeinwirtschaftliche
ebenso wie das privatwirtschaftliche Interesse verlangen, daß die
Kohlenbergwerke bei günstigem Geschäftsgang so viel als irgend
möglich den gesteigerten Anforderungen des Marktes entsprechen.
Betriebsmaßnahmen, insbesondere die Verschiebung von Arbeitern
aus „unproduktiven“ Aus- und Vorrichtungsarbeiten in die „produk-
tiven“ Abbaubetriebe, steigern die Förderung; doch bleibt diese
noch weit hinter der Nachfrage zurück. Es heißt also: entweder
Arbeitskräfte über den normalen Bedarf hinaus einstellen oder die
vorhandene Belegschaft Ueber- und Nebenschichten verfahren lassen.
Diesen Weg geht der Ruhrbergbau. Er forciert, soweit es mög-
lich ist, die Belegschaftsvermehrung noch über die normalen
Bemühungen hinaus, wozu er sich in erster Linie des Mittels der
Lohnerhöhung bedient, und legt, soweit es gestattet ist, Ueber-
und Nebenschichten ein (vgl. Tabelle VI). Indem er so das wirt-
schaftliche Interesse, das aber nicht nur sein eigenes, sondern auch
das der Allgemeinheit ist, in den Vordergrund stellt, muß er sich
zu einer außerordentlichen Steigerung der Schichtenzahl in
der Hochkonjunktur entschließen. Auf diese Weise wird in einer
wirtschaftlich rationellen Form die Leistungsfähigkeit eines Berg-
werks erheblich gesteigert. Der Saarbergbau, der die Löhne
nicht so steil in die Höhe gehen lassen will, vermag nicht nur
keine Leute heranzuziehen, sondern er verliert gerade in
der Hochkonjunktur, wo jeder Mann doppelten Wert hat, die Leute,
die sich durch die nunmehr verhältnismäßig sehr viel höheren Löhne
der Privatindustrie angelockt fühlen und dem Staatsbergbau den
Rücken kehren. Ueber- und Nebenschichten werden nicht
verfahren, so daß also auch die Arbeitszeit des einzelnen Arbeiters
keine Steigerung erfährt. In der Arbeitsleistung darf man
sogar ein Sinken annehmen; denn ohne auf die bekannte Streit-
frage über das Verhältnis von Lohn und Leistung einzugehen, darf
318 Herbig,
man schon aus der statistisch feststehenden Tatsache, daß bei guter
Konjunktur die Streiklust und das willkürliche Feiern zunimmt, den
Schluß ziehen, daß die Arbeiter aus ihrer stärkeren Stellung auch
insofern Nutzen ziehen, als sie sich während der Arbeitszeit nicht
so sehr anstrengen wie in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges, in
denen der Arbeitgeber der Stärkere ist. (Vgl. u. a. die Ausführungen
des Verfassers in Schmollers Jahrbuch 1908, S. 191 ff.)
Also: In Westfalen ein wirtschaftlich wünschens-
wertes Anpassen an die Konjunktur durch Anlegung
neuer und bessere Ausnutzung der vorhandenen Ar-
beitskräfte, in Saarbrücken eher das Gegenteil.
Beim wirtschaftlichen Niedergang das gleiche
Bild umgekehrt: In Westfalen Lohnherabsetzungen,
Feierschichten und Einschränkung der Neuanlegungen,
schlimmstenfalls auch Arbeiterentlassungen; in Saar-
brücken keine oder nur unerhebliche Lohnrückgänge,
keine oder verschwindend wenige Feierschichten und
überhaupt keine Arbeiterentlassungen; im Gegenteil:
man muß sich in den schlechten Zeiten die Leute für
die Hochkonjunktur seßhaft machen.
Die Anpassungsfähigkeit des Saarbrücker Bergbaus an
die Konjunkturschwankungen liegt deshalb nicht in der Möglichkeit,
die Arbeitskräfte und ihre Ausnutzung zu vermehren oder zu ver-
mindern, sondern lediglich in der Möglichkeit, durch Betriebs-
dispositionen die vorhandene Summe von Arbeitskraft je nach
der Konjunktur verschieden zu verwenden, sie bei schlechten Kohlen-
preisen mehr in die „unproduktiven“ Aus- und Vorrichtungs-
arbeiten, bei guter Konjunktur mehr in die „produktiven“ Ab-
bauarbeiten zu verschieben.
Eine möglichst zweckmäßige Ausnutzung dieser überaus wert-
vollen Möglichkeit wird aber durch die Starrheit des staatlichen
Etatierungswesens und die starke Abhängigkeit des Bergetats
von der allgemeinen Finanzlage des Staates nicht unwesentlich er-
schwert. Es sprechen hier vielfach die gleichen Fragen mit, die der
weiteren Oeffentlichkeit durch die Besprechung des geldlich so viel
wichtigeren Eisenbahnetats geläufig geworden sind. Aufnahmen von
Anleihen für produktive Neuanlagen und Schaffung eines Ausgleichs-
fonds sind praktische Wege, die einer staatlichen Betriebsverwaltung
wenigstens einen Teil der Beweglichkeit geben, die jedes wirtschaft-
liche Unternehmen nötig hat, um den schnell wechselnden technischen
und wirtschaftlichen Anforderungen zur rechten Zeit und mit dem
geringsten Geldaufwand gerecht zu werden. Der Weg der Anleihe
ist auch vom Bergfiskus bereits beschritten worden. Hoffentlich
bringt die im Laufe der diesjährigen Etatsverhandlungen bereits in
Taten umgesetzte Erkenntnis, daß die Eisenbahnverwaltung einen
ausreichenden Ausgleichsfonds nicht entbehren kann, auch der
kleineren, aber unter ähnlichen Etatsschwierigkeiten arbeitenden Ver-
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 319
waltung der Staatsbergweike die Aussicht auf eine ähnliche Ein-
richtung, die ihr eine erfolgreichere Anpassung an die Schwankungen
der Konjunktur ermöglichen würde.
Unter Berücksichtigung der zurzeit herrschenden Verhältnisse
kann man die wirtschaftlichen Folgen der Saarbrücker Lohnpolitik
dahin kennzeichnen, daß sie die Anpassung an die Anforde-
rungen des Kohlenmarktes erschwert. Dies ist eine
Schattenseite der Lohnpolitik, sowohl vom volkswirtschaftlichen
Gesichtspunkt der Kohlenversorgung Deutschlands als auch
unter dem fiskalischen Gesichtswinkel der Ueberschüsse. Wäh-
rend die Bedeutung des ersten Punktes unmittelbar in der Förder-
ziffer zutage tritt, hat man für die Feststellung der Beziehungen
des Lohns zur Rentabilität des Bergbaus verschiedene Wege gewählt.
Dr. Jüngst setzt in einem Sonderdruck aus der Zeitschrift
„Glück auf“ „Arbeitslohn und Unternehmergewinn im rheinisch-
westfälischen Steinkohlenbergbau“ den reinen Lohn der amtlichen
Statistik in Beziehung zu dem ebenfalls amtlich ermittelten Wert
der Produktion. Man findet dabei, wenn die letzten Jahre nach
seiner Methode ergänzt werden, für den Oberbergamtsbezirk Dort-
mund den Anteil des Lohns am Werte der Förderung in den Jahren
1888—1908 zwischen 46,7 und 60.2 Proz. schwanken, während im
Saarbezirk dieser Anteil sich zwischen 36,8 und 49,2 Proz. bewegt.
Diese Ziffern sind selbstverständlich von der verschiedenen Lohn-
entwicklung der beiden Reviere stark beeinflußt. Aber sie sind auf
einer so verschiedenen Basis aufgebaut, daß sie für einen Vergleich
dennoch nicht in Frage kommen können. Von den beiden Grund-
zahlen ist die reine Lohnsumme ein sicherer Ausgangspunkt, der
Wert der Produktion dagegen wird in Westfalen und Saarbrücken
nicht nach der gleichen Methode entwickelt. In Saarbrücken geht
diese Produktionsstatistik noch in jene Zeiten zurück, in denen die
Kohle, wie sie aus der Grube kam, verkauft wurde oder auch —
die gleiche Qualität! — auf der Grube selbst verbraucht wurde. Es
gab keinen Eisenbahnversand mit Uebergewicht und keine Kohlen-
wäschen mit Waschverlust. Die ganze Kohlenproduktion wurde des-
halb mit dem Verkaufspreis bewertet. Dieses Verfahren hat man
beibehalten. Dadurch entstand in der Wertstatistik eine Schiefheit
zu den übrigen Kohlenbezirken, die immer größer wurde, je mehr
durch die Einführung und Vergrößerung von maschinellen Einrich-
tungen der Selbstverbrauch wuchs, je mehr Kohlenwäschen gebaut
wurden und je mehr man es lernte, zum Selbstverbrauch nur gering-
wertige Kohle zu verwenden. Infolgedessen sind die Saarbrücker
Zahlen nicht mit den Dortmunder Zahlen vergleichbar, die den
Selbstverbrauch nur gering bewerten, und sie sind auch nicht einmal
recht in ihrer eigenen Entwicklung vergleichbar, da sich durch die
geschilderten technischen Fortschritte das Bild immer mehr ver-
schiebt. Hinsichtlich der westfälischen Ziffern bleibt auch noch zu
bemerken, daß, da der Wert an der Schachtmündung gemessen wird,
320 Herbig,
die Syndikatsumlage in ihm nicht enthalten ist. Bei den Bedenken
gegen die Wertstatistik können auch die mit ihrer Hilfe ermittelten
Prozentsätze als vergleichbares Material nicht anerkannt werden.
Den gleichen Weg wie Jüngst geht Bosenick („Der Stein-
kohlenbergbau in Preußen und das Gesetz des abnehmenden Er-
trages“), wenn er S. 110 in Spalte 5 den „Anteil der Löhne am
Erlös“ berechnet. Abgesehen davon, daß er den Wert der amtlichen
Produktionsstatistik fälschlich als Erlös bezeichnet, hat er auch
irrtümlich den Wert der Kohlenproduktion im Regierungsbezirk
Trier, in der auch noch private Produktion enthalten ist, mit den
Löhnen des staatlichen Bergbaus allein in Beziehung gebracht.
Anderenfalls wäre er auf die Jüngstschen Ziffern herausgekommen.
Die zu diesen geäußerten Bedenken treffen natürlich auch hier zu.
Wertvoller ist die Zusammenstellung Bosenicks auf S. 66 a. a. 0.
Die Spalten 1—6 der Tabelle VII sind ihr entnommen und für die
Tabelle VII.
|
CHECK a,” Reiner Lohn
kadie aao S Ap | Ee unten ar, 2%
Etats- cht: aamalss | pro t | ——— 30% Eog
jahr E SÉIS KK S E A ye PE Förde- | Etats- | Kal.- S sa 4 Ed
2 aSa |å> 3 1000 M. rung | jahr | jahr 3 E: Zë
M. M. M. M. M. M. M. a =
1 e 2 ee SS? E 6 SR | Ve
1888 5,71 3,59 7,31 8084 239 | 1,277 e 2,92 è 1:2,29
1889 | 6,91 4,46 8,78 | 8892313| 1,475 3,24 > 1:2,20
1890 | 8,30 5,33 10,91 |12546948 | 2,029 3,79 e 1: 1,87
1891 8,39 5,38 10,30 7589034 | 1,184 3,89 N 1: 3,29
1892 8,03 4,98 9,73 6707005 | 1,113 3,69 d 1:3,32
1893 | 7,29 4,48 8,94 | 5914945 | 0,958 3,37 è 1:3,53
1894 | 7,13 4,42 8,81 | 6323 215 | 0,954 3,24 e 1:3,40
1895 | 6,94 4,31 8,90 | 8474314 | 1,189 ` 3,27 è I: 2,15
1896 | 6,85 4,29 8,94 9324086| 1,196 ; 3,28 e 1: 2,74
1897 6,87 4,32 9,28 |12368457| 1,463 $ 3,34 e I: 2,28
1898 7,14 4,44 9,53 |12352262| 1,408 è 3,40 + 1:2,42
1899 | 7,51 4,54 10,35 [15945 316| 1,739 š 3,46 e 1:1,99
1900 | 7,94 | 4,72 11,99 |25436527| 2,711 | 3,56 | 3,56 | 221,81 | 1:181
1901 | 8,34 4,87 12,47 |24 987 739 | 2,69 3,54 | 3,54 | 1:12,82 | 1:73,88
1902 8,22 4,81 11,54 |19020264 | 1,96 3,57 | 3,57 | T: 1,82 | 1:17,88
1903 | 8,47 4,87 11,36 |14682 111) 1,44 3,62 | 3,60 | 1:2,51 | 1:2,50
1904 | 8,58 4,91 11,64 \16877872| 1,61 3,75 | 3,71 | 122,88 | 132,30
1905 8,51 4,97 11,59 |16979712| 1,57 3,81 | 3,80 | 1:2,48 | 1:2,42
1906 9,07 5,25 11,96 | 14412 222| 1,81 3,92 | 3,88 | 1:22,99 | 1:2,96
1907 | 10,06 5,62 12,49 8472666 | 0,78 4,04 | 4,02 | 1:5,18 | 1:5,15
1908 9,94 5,49 12,74 |12928771| 1,17 4,02 | 4,04 | 1:13,44 | 1:3,45
Die Zahlen in Spalte 1—6 der Tabelle VII sind den dem Abgeordnetenhaus mit
dem Etat vorgelegten Nachrichten entnommen. Die obige Zusammenstellung schließt
sich an die von Bosenick („Der Steinkohlenbergbau in Preußen und das Gesetz des
abnehmenden Ertrags“‘, S. 66) an.
fehlenden Jahre ergänzt worden. Preis, Selbstkosten und
Ueberschuß sind die 3 wichtigen wirtschaftlichen Ziffern, die in
Wechselwirkung mit dem Lohne stehen. (Daß in Tabelle VII Selbst-
1 o
+
H
ge- —
E re ON DW CG Lé
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 321
kosten + Ueberschuß pro Tonne nicht gleich dem Preis sind, liegt
daran, daß letztere sich nur auf die verkaufte Menge, erstere beiden
Angaben dagegen auf die Rohförderung beziehen.) Die Beziehungen
des Lohns zum Kohlenpreis werden in der Oeffentlichkeit am
meisten besprochen, weil beide Ziffern allgemein bekannt werden.
Bedeutungsvoller sind aber doch wohl die Beziehungen des Lohns
zu den Selbstkosten und zu dem Ueberschuß, erstere wegen ihrer
wirtschaftlichen, letztere wegen ihrer wirtschaftlichen und sozial-
politischen Bedeutung. Das Verhältnis des Lohns zu den Selbst-
kosten läßt wichtige Rückschlüsse auf die betriebliche Entwicklung
der Grube und eine schnelle Kontrolle über die wirtschaftliche Be-
deutung von Lohnveränderungen zu. Man wird in diesem Falle die
Löhne ebenso wie die Selbstkosten auf die Tonne berechnen. Zu
Spalte 3 darf nicht unbemerkt bleiben, daß es sich hier nicht um
die Löhne der Gesamtbelegschaft, sondern nur um die sogenannten
Betriebslöhne handelt, die z. B. die Maschinenabteilung nicht mit
umfassen. In ihrer Entwicklung geben sie aber trotzdem ein zu-
treffendes Bild der steigenden Lohnkosten pro Tonne. Für den
Arbeiter hat dieses Verhältnis ein unmittelbares Interesse nicht.
Von seinem wie auch vom volkswirtschaftlichen Standpunkt ist von
besonderer Bedeutung die Frage, in welchem Grade der Arbeiter an
den Gewinnen beteiligt ist, die dem Unternehmer zufließen. Schon
die absoluten Zahlen des Ueberschusses pro Tonne und des
reinen Lohnes zeigen, daß eine Abhängigkeit zwischen diesen beiden
Ziffern seit 1894 kaum besteht. Ein starkes Steigen des Ueber-
schusses beschleunigt wohl das Steigen der Löhne etwas, aber nicht
wesentlich. Umgekehrt geht auch der schärfste Fall des Ueber-
schusses fast spurlos an der ruhigen Entwicklung der Löhne vorüber.
Der Saarbrücker Bergmann macht in den letzten 15 Jahren die
allgemeine wirtschaftliche Aufwärtsbewegung nicht über Berg und
Tal der Konjunkturschwankungen, sondern auf einer geraden Mittel-
linie mit. Diese Stetigkeit der Lohnentwicklung, die bei dem hohen
Anteil der Lohnkosten an den Selbstkosten auch die letzteren zu
einer gewissen Starrheit verurteilt, muß natürlich bei einem Sinken
des Kohlenpreises den zwischen Selbstkosten und Preis liegenden
Ueberschuß stark zusammenschrumpfen lassen. Die großen Schwan-
kungen des Ueberschusses infolge der gleichmäßigen Steigerung der
Löhne ist durch die Verhältniszahl in Spalte 10 ausgedrückt. (Die
reinen Löhne des Kalenderjahrs sind hier in Beziehung gesetzt zu
den Ueberschüssen des Etatsjahrs, weil die reinen Löhne für die
früheren Etatsjahre nicht angegeben sind. Um zu zeigen, daß die
Zahlen auch so ein ziemlich zuverlässiges Ergebnis darstellen, sind
die Etatsjahrziffern, soweit bekannt, zum Vergleich in Spalte 9 eben-
falls berechnet.) Das ganz besonders ungünstige Ergebnis des
Jahres 1907 erklärt sich in erster Linie durch den Einfluß des
großen Unglücks auf Grube Reden. Im übrigen darf man in den
starken Schwankungen neben den Konjunktureinflüssen in hohem
Maße die Wirkung der Lohnpolitik erkennen. Eine rohe, aber
Dritte Folge Bà. XXXIX (XCIV). 21
322 Herbig,
trotzdem ziemlich zutreffende Schätzung zeigt deren Einfluß auf die
Ueberschüsse: Ein Mehr oder Weniger von 10 Pfennig
Durchschnittslohn bedeutet bei einer zurzeit mehr als 50000
Mann betragenden Belegschaft und einer jährlichen Anzahl von an-
nähernd 300 Schichten rund (Di Mill. M. weniger oder mehr
für den Etat der Bergwerksdirektion Saarbrücken.
X. Sozialpolitisches Ergebnis der Saarbrücker Lohnpolitik.
Daß eine vorwiegend von sozialpolitischen Gesichtspunkten ver-
folgte Lohnpolitik gewisse wirtschaftliche Schwierigkeiten mit sich
bringt, darf nicht wundernehmen. Man wird diese Nachteile aber
nur dann in den Kauf zu nehmen geneigt sein, wenn die sozial-
politischen Ziele auch wirklich erreicht werden. Hat sich die Sozial-
politik der Bergverwaltung im Saarbezirk bewährt? Aus einer Lohn-
statistik kann man diese Frage nicht beantworten. Vielfach sind
sogar aus ihr Vorwürfe abgeleitet worden, die alle mehr oder minder
darin gipfeln, daß die Bergverwaltung unter „stetigen“ Löhnen
„stetig niedrige“ Löhne verstehe und daß die Saarbrücker Löhne
allzuweit hinter den westfälischen Löhnen zurückstehen. Was den
ersten Einwand angeht, so ist es zutreffend, daß bei einem Auf- und
Abgehen der Löhne mit der Konjunktur infolge der dadurch ver-
besserten wirtschaftlichen Ergebnisse im großen Durchschnitt ein
höherer Lohn gezahlt werden könnte, als dies bei einer starren Lohn-
entwicklung der Fall ist. Das vollwertige Aequivalent für den etwas
niedrigeren Verlauf der Lohnkurve findet sich aber in der größeren
Beständigkeit des Arbeitereinkommens. Der oft erwähnte Abstand
gegen die westfälischen Löhne wird um einen im Laufe der Jahre
zwischen 10 und 20 Pf. schwankenden, zurzeit 14 Pf. ausmachenden
Betrag verkleinert, wenn man unter Berücksichtigung der im Saar-
bezirk höheren Knappschaftsgefälle den „Gesamtlohn“ einschließlich
der Versicherungsbeiträge zum Vergleiche heranzieht (Tabelle V).
Ein gewisser Abstand der Löhne ist aber auch aus den verschiedenen
Lebensbedingungen westfälischer und Saarbrücker Arbeiter gerecht-
fertigt. Zahlenmäßige Vergleiche zu ziehen, ist sehr schwer mög-
lich. Wohl aber gibt in zwei Richtungen eine zahlenmäßig festge-
legte Entwicklung im Saarbezirk selbst Grund zu der Annahme, daß
die Sozialpolitik der Bergverwaltung ihre Früchte trägt.
Die durchschnittliche Lebensdauer der Saarbrücker Berg-
leute läßt ein deutliches, nicht unerhebliches Steigen erkennen.
Verfasser hat dies in Nr. 43 und 44 der „Sozialen Praxis“ 1908
eingehend und unwidersprochen dargelegt. Ergänzt man die dort
aufgestellte Tabelle durch die Zahlen für 1908, die die mittlere
Lebensdauer der aktiven und pensionierten Bergleute ohne Unfall-
tote auf 54,46 Jahre angeben, so ergibt sich gegenüber dem Durch-
schnitt von 52,59 Jahren in den Jahren 1899 bis 1903 ein solcher
von 53,29 Jahren 1904 bis 1908. Es ist eine Zunahme von
0,70 Jahr = 8 Monaten und 12 Tagen eingetreten. Da diese
Die Löhne im staatlichen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken. 323
Erhöhung bei steigender Belegschaftsziffer vor sich gegangen ist,
so bezeichnet sie ein Minimum. In Wirklichkeit ist die durchschnitt-
liche Lebensdauer noch stärker gestiegen.
Eine andere Tatsache, die einen günstigen Rückschluß auf die
sozialpolitischen Erfolge der Lohnpolitik zuläßt, ist der Besitz-
stand der Saarbrücker Bergleute. Bei der letzten großen Beleg-
schaftszählung im Dezember 1905 waren bei einer Gesamtbelegschaft
von 46489 Mann, von denen 28025 verheiratet, verwitwet oder ge-
schieden waren, vorhanden 18223 Hauseigentümer und 10372
Besitzer von Feld, Wiesen usw. An Vieh besaß die Belegschaft
105 Pferde, 10498 Stück Rindvieh, 11836 Ziegen und 8534
Schweine. Bezieht man diesen Besitzstand nur auf die ver-
heirateten, verwitweten und geschiedenen Bergleute, da nur diese
für Haus- und Viehbesitz in Frage kommen, so findet man 65 Proz.
Hauseigentümer, 37 Proz. Feld- und Wiesenbesitzer. Auf
100 verheiratete Bergleute kommen 0,4 Pferde, 37,5 Stück
Rindvieh, 42,2 Ziegen und 30,5 Schweine. Die sozial-
politisch bedeutungsvollste Ziffer ist die des Hauseigentums, das
die Belegschaft, schritthaltend mit der eigenen Vermehrung, ver-
größert hat. Von 1875 bis 1905 stieg die Belegschaft von 23 388
Mann auf 46489 Mann, gleichzeitig aber auch die Häuserzahl von
9347 auf 18223. Mit diesen Ziffern steht der Saarbrücker
Bergbau einzig in der Welt da. Die Zahl 65 Proz. gewinnt
noch an Gewicht, wenn man berücksichtigt, daß die im Besitze von
pensionierten Bergleuten und Witwen stehenden Häuser, die doch
auch fast stets wieder in Hände von Bergleuten kommen, nicht be-
rücksichtigt sind. Schätzt man den Wert jedes Hauses auf 4500 M.
durchschnittlich, die bis 1910 erreiche Häuserzahl auf 20000 und
nimmt man, den Angaben aus Arbeiterkreisen folgend, an, daß jedes
Haus durchschnittlich zu einem Drittel mit Schulden belastet sei,
so stellen doch noch die beiden anderen Drittel eine Kapitalansamm-
lung von etwa 60 Mill. M. dar, die lediglich aus den Löhnen stammt.
Nicht nur diese Summe in ihrer absoluten Höhe, sondern noch viel
mehr ihre freudig zu begrüßende Verwendung ist einer der besten
Beweise für den Erfolg der von der Bergverwaltung mit
Hilfe ihrer Lohnpolitik getriebenen Sozialpolitik.
Die Lohnpolitik im weiteren Sinne, von der auch die Frage der
jährlichen Schichtenzahl mitumfaßt wird, findet in den beiden letzten
Abschnitten vom wirtschaftlichen und vom sozialpolitischen Gesichts-
punkt eine entgegengesetzte Beurteilung. Gerade ihre charakte-
ristische Eigenart, die Stetigkeit ist es, der sowohl der günstige
sozialpolitische als auch der weniger erfreuliche wirtschaftliche Er-
folg zuzuschreiben ist. Deshalb wird die Kritik dieser Lohnpolitik
verschieden ausfallen, je nachdem man dem Staatsbergbau mehr
eine staatssozialistische Auffassung entgegenbringt oder mehr die
Erfüllung allgemein-wirtschaftlicher und privatwirtschaftlich-fiskali-
scher Anforderungen von ihm verlangt. Jedenfalls aber darf man
š 21*
324 Herbig, Die Löhne im staatliehen Steinkohlenbergbau bei Saarbrücken.
bei der Kritik nach der einen Richtung nicht die andere Seite der
Sache übersehen. Wer in einem Atemzuge verlangt, daß der Staats-
bergbau seine Arbeiter im Lohne besser stelle als der Privatbergbau
und ihnen Ueberschichten und Feierschichten nicht zumute, daß der
Staatsbergbau im Falle der Kohlenknappheit durch eine starke Pro-
duktionssteigerung bei mäßigen Preisen den Markt befriedige, daß
der Staatsbergbau schließlich auch eine gleichmäßige, hinter der des
Privatbergbaus nicht zurückstehende Rente abwerfe; wer alles dies
von einem Unternehmen verlangt, das wie jedes andere wirtschaft-
lichen Gesetzen unterliegt, der verkennt die Zusammenhänge. Wer
die Betonung der Sozialpolitik wünscht, darf nicht über die wirt-
schaftlichen Rückwirkungen klagen; wer die wirtschaftlichen Forde-
rungen in den Vordergrund stellt, muß sich mit einem langsameren
Tempo der Sozialpolitik abfinden; wer einen Ausgleich sucht, mub
sich klar machen, daß jede auf der einen Seite ausgeübte Einwirkung
eine entsprechende Rückwirkung auf der anderen Seite auslöst.
Miszellen. 325
Miszellen.
IX.
Kritik des italienischen Sparkassenwesens.
(Unter Bezugnahme auf die französische Sparkassenreformbewegung.)
Von Prof. Dr. R. Schachner, Jena.
Die französischen und die italienischen Sparkassen sind zwei Pole
in der Art der Auffassung des Sparwesens, die Freiheit und Unfreiheit
des Geschäftsgebahrens bedeuten.
Seit Jahrzehnten besteht in Frankreich eine Reformbewegung, die
gegen die enge Umgrenzung der Tätigkeit der Sparkassen durch Staats-
gesetze sich richtet. Die Doktordissertation Marc Vidauds „De l’Emploi
des Fonds déposés aux Caisses d’Epargne“ (Limoges 1901), die Schriften
von Eugene Rostand, des Direktors der Sparkasse von Marseille „Une
visite A quelques Institutions de prévoyance en Italie“ oder „La réforme
des Caisses d’Epargne Françaises“, Paris 1891 und das Buch des jüngsten
Wortführers André Bosc, „Le rôle social des Caisses d'Epargne privées
en France et en Italie“, Paris 1909, stellen den französischen Sparkassen
die italienischen gegenüber; ein Ausspruch des berühmten Finanzministers
Luzzatti, der dem Preis der Freiheit der italienischen Sparkassen in
an Geschäftsgebahren gilt, schmückt das Titelblatt des letztgenannten
erkes:
„Wenn auch die Masse des Volkes in Frankreich gemäß seiner volks-
wirtschaftlichen Verhältnisse reicher ist als in Italien, so sind doch die
Zirkulationskanäle hier besser gezogen, und unsere Volksbanken, unsere
lamdwirtschaftlichen Kassen, finden einen durch die jahrzehntelange ge-
sc hiekte und freie Geschäftsführung der Sparkassen geschaffenen
Weg und durch sie geübte Gewohnheiten vor.“
Die Zwangsveranlagung der französischen Sparkassenkapitalien bei
der Staatskasse wird in diesen französischen Schriften aus dem In-
teresse der Sparkasse, wie des Staates heraus bekämpft, noch mehr
aber, weil dadurch die Sparkassen verhindert sind, das volkswirtschaft-
liche Leben mit ihren Kapitalien ebenso zu befruchten, wie das in
Italien und anderen Ländern erfolgt. Darüber hinaus wird aber von
den französischen Sparkassen verlangt, ebensowenig materielle Opfer
für andere Zwecke bei Veranlagung des Einlegerkapitals zu scheuen,
wie das dort geschieht, und die Reformer meinen, daß die soziale Auf-
gabe der Sparkassen nicht allein darin beruht, ihren Einlegern einen
326 Miszellen.
annehmbaren Zins auszuwerfen, sondern daß sie mit ihren Fonds der
Allgemeinheit ihrer Mitbürger Segen spenden sollen.
Die italienischen Sparkassen haben in der Tat eine ganz andere
Entwicklung genommen, als die französischen !).
Wie in Frankreich die zentralistische Bewegung und die nach dem
französischen Staatssystem allüberall sich eindrängende Macht des
Staates die Sparkassen entmündigt hat, so hat die Zersplitterung
Italiens und die geringere Macht und Wirtschaftsfürsorge in den ein-
zelnen Staaten die Sparkassen ihren eigenen Weg gehen lassen, der
auch nicht gestört wurde, als sich die Teile zu einem Ganzen zusammen-
schlossen. Das Gesetz vom 15. Juli 1888, das Reglement vom 21. ‚Januar
1897 und das Gesetz vom 17. Juli 1898 haben dieses Prinzip der
Nichteinmischung bestätigt und sich damit begnügt, den vom ersten
italienischen Sparkassenkongreß zu Florenz im Jahre 1886 gestellten
Forderungen der Einführung gewisser Vorschriften über Gründung
von Sparkassen und gegen unvorsichtiges Geschäftsgebahren zu ent-
sprechen, die Freiheit in der Verwendung der Einlagen ist geblieben.
Nur im Interesse der Liquidität der Kassen liegt das Verbot des
Erwerbs von Immobilien ohne Erlaubnis des Staates, wie es das
Reglement vom 14. April 1839 brachte.
Die Sparkassen sind auch nicht gehalten, den Einlegern einen ge-
wissen Zins zu geben, wie das in Frankreich der Fall ist, wo der Zins
der Privatsparkassen nicht unter 1/, Proz. des von der Staatskasse aus-
geworfenen Zinsfußes sein darf. Von den Ueberschüssen des Jahres,
die vornehmlich in der Differenz des Aktiv- und Passivzinses ihren
Ursprung haben, sind sie zwar verpflichtet, °/,, den Reserven zu über-
weisen, bis diese Un des Einlagekapitals betragen, dürfen aber in
letzterem Fall im Gegensatz zu Frankreich den Gesamtüberschuß
Werken der Wohltätigkeit und der Gemeinnützigkeit zuwenden.
Was die Anlage des Kapitals betrifft, so finden wir alle erdenkliche
Formen: Vom gefährlichsten Personalkredit bis zum sicheren Hypo-
thekarkredit, von Staatspapieren bis zu unsicheren Werten von Ge-
meinden und Aktiengesellschaften und Obligationen der „Credits fon-
ciers“; außerdem leisteten die Sparkassen der Landwirtschaft noch alle
möglichen Dienste, indem sie ihr in den verschiedensten Formen
Kapitalien kreditierten, ihre Kreditinstitutionen subventionierten, dann
noch, indem sie sich eigene „Credits fonciers“ und Landwirtschafts-
kassen angliederten, die sie mit ihrem Kapital dotierten und deren
Obligationen in ihre Tresors wanderten. „L’agricoltura specialmente
ebbe la cura maggiore da parte del nostre casse“ (der Landwirt-
schaft galt die Hauptsorge unserer Sparkassen) heißt es in der
Schrift für die Mailänder Ausstellung vom Jahre 1906 (Le casse
ordinarie di risparmio in Italia dal 1822 al 1904. Notizie storiche
presentate all Esposizione di Milano del 1906, Roma 1906.) Die Spar-
kassen rühmen sich, die italienische Landwirtschaft gehoben, das ganze
Land und die ganze Bevölkerung dadurch bereichert zu haben und
1) Siehe oben S. 1 ff. meinen Aufsatz: Das französische Sparkassenwesen,
Miszellen. 327
behaupten, daß sich das in der Zunahme der Sparkasseneinleger
widerspiegelt.
Einlagen Einlagen
in 1000 Lire in 1000 Lire
1830 6 300 1890 1 186 700
1840 21 400 1892 1 214 976 Einleger I 441 521
1850 42 500 1896 1333 972
1860 157 700 1900 1504 700
1870 347 700 1904 1776 900
1880 686 000 1907 1955 827 Einleger 2 012 168
Die italienische Regierung hat wesentlich mit Rücksicht auf diese
Tätigkeit des öffentlichen Sparwesens das Postsparwesen nicht nur sehr
langsam eingeführt, indem erst nach 20 Jahren alle Poststellen in die
Postspartätigkeit einbezogen wurden, um ja keine abträgliche Ein-
wirkung auf das bestehende Sparwesen auszuüben, sondern auch mit dem
Einlagemaximum von 2000 Lire, der Einlagebeschränkung eines Jahres
auf 1000 Lire und mit einem niedrigen Zins, der bis 1879 3 Dro,
1879—1886 31/, Proz., 1887—1894 3!/, Proz. betrug, 1895 auf 3 Proz.,
1898 2,88 Proz., 1901 2,76 Proz. und 1904 auf 2,64 Proz. herabgesetzt
wurde, die Kundenschaft der anderen Sparkassen unberührt gelassen.
Italienische Postsparkassen
Spar- d Einlagen
stellen Einleger in 1000 Lire
31. Dez. 1880 2313 339 845 46 253
1890 3479 2 126 289 310 484
1900 4113 3 990 983 682 136
1904 5931 5 265 446 983 621
Die Sparkassen haben sich dieses großen Vertrauens in ihre un-
gebundene selbständige Geschäftsführung nicht durchweg würdig gezeigt;
eine nicht geringe Zahl von ihnen hat sich in Unternehmungen ein-
gelassen, an denen sie zugrunde gingen.
Aus dem Bericht der italienischen Kassen für die Mailänder Aus-
stellung vom Jahre 1906 geht hervor, daß in neuerer Zeit nicht weniger
als 38 Sparkassen in Liquidation treten mußten, worunter 13 Kassen
mit mehr als einer Million Einlagen sich befanden.
In Liqui- Einleger- Stand Befriedigung
dation guthaben der der
getreten in 1000 Lire" Liquidation Einleger
Ivrea 1893 12 788 offen 100
Mondovi 1896 1734 at 75
Sarzema 1892 4.406 K 100
Faenza 1896 4134 abgeschlossen 60
Senigallia 1894 3057 offen 65
Urbino 1899 1 286 H 55
Spoleto 1895 1209 Pr 50
Barletta 1894 6054 wë 57,50
Aversa 1897 1084 F 60
Cagliari 1889 10 951 abgeschlossen 14,29
Sassari 1891 1549 D 33
Catania 1890 1648 offen 33
Messina 1895 2354 o 59
328 Miszellen.
Trotz der Staatskontrolle, die seit dem Jahre 1888 besteht, haben
die beklagenswerten Kunden dieser Sparkassen die Hälfte und mehr
von ihrem mühsam Ersparten eingebüßt. Daneben stehen noch zahl-
reiche Kassen, die, ohne direkt in eine Zwangslage gekommen zu sein,
die sie zur Liquidation zwang, ihre Türen wieder geschlossen und
damit die Spargelegenheit verringert haben. Die italienische Spar-
kassenstatistik zeigt uns ein ewiges Kommen und Gehen, wie das gleich-
falls in der Sparkassengeschichte anderer Länder unbekannt ist z. B.
1896 waren nicht weniger als 34 Kassen in Auflösung begriffen (s.
Fernand Lepelletier, Les caisses d’&pargnes Italiennes, Paris 1897).
Die Jahresbudgets der Sparkassen geben uns viele Verluste an, die
durch leichtfertiges Kreditgewähren entstanden: Die Sparkasse von Parma
büßte 1895 nicht weniger als 93671 frcs. infolge der Uneintreibbarkeit
von Schuldforderungen ein (Vidaud, l. c. S. 40); häufig begegnet uns
auch die zwangsweise Uebernahme von Immobilien.
Man muß sich wundern, wenn angesichts dieser Tatsachen Vidaud
schreiben kann, daß die Vorsicht des Geschäftsgebahrens das Vertrauen
des Volkes für sich gewann (S. 35), und Bosc, obwohl ihm jener Bericht
für die Mailänder Ausstellung vorlag, leicht über diese Tatsachen hinweg-
geht: Il ny a jamais eu d’echec vraiment sérieux et, si quelques
caisses secondaires se sont vues dans l’obligation douloureuse
de demander leur liquidation dans des circonstances difficiles, il n’en
reste pas moins qu'il n’y a là que de rares exceptions, amenées par
des imprudences malheureuses ou par des fautes d’administrateurs
souvent incapables et qui ne prouvent rien contre un régime
(l. c. S. 75).
Ist dadurch die Zügellosigkeit der italienischen Sparkassen ge-
richtet, die alles mehr ins Auge fassen bei der Art der Veranlagung,
als Liquidität und Solidität, wie es das Interesse der Einleger erheischt,
so wird dieses obendrein durch die Zinspolitik bei dieser Anlage der
Sparkapitalien auf das gröblichste verletzt.
An Gemeinden, wie an landwirtschaftliche Kassen oder im direkten
Personal- oder Hypothekarkredit oder für Zwecke der Verbesserung des
Wohnungswesens gewährten die meisten Kassen viele Millionen, die er-
heblich unter dem Zins verliehen wurden, wozu Banken oder Private er-
bötig waren, ja teilweise zinslos begeben wurden. Mochte es ein Ver-
dienst der italienischen Sparkassen sein, den Wucherzins in der Land-
wirtschaft von 15 Proz. und mehr bekämpft zu haben, so war es von
ihnen verfehlt, in Anlageformen, die der Sicherheit des Staats- und
Hypothekarkredits nicht entsprechen, diesem gleichen Zinsfuß ein-
zuräumen.
Die Sparkasse von Piacenza, für die uns die vollständigsten An-
gaben vorliegen, hat der Provinz 2 Mill. zu 4 Proz. geliehen; daneben
standen 31/, Mill. Lire der Gemeinden, wovon 752000 Lire, für
Schulzwecke gegeben, zinslos gewährt wurden, der Rest zu niederem
Zins; kurzfristige Darlehen an die Landwirtschaft wurden !/, Proz.
unter dem üblichen Zinsfuß gegeben, der langfristige wurde mit 31/, Proz.
Miszellen. 329
eingeräumt, zur Hebung der Viehzucht sogar schon zu 2 Proz. Bei
allen Kassen gleiches Vorgehen!
Aber mit diesen Zinsreduktionen zu ungunsten des Zinskontos des
Aktivgeschäftes begnügte man sich nicht, sondern man befriedigte mit
den Zinseinkünften noch zahlreiche öffentliche Zwecke, so daß für die
Sparkapitalien nur ein Zins übrig blieb, der nur etwas über den erbärm-
lichen Zins der Postsparkasse gehalten wurde, um nicht an diese die
Einegr zu verlieren. Manche Kassen haben freilich eine eigene
Rlasse von Sparbüchern geschaffen, die nur an die arbeitende Klasse
ausgegeben werden sollten und, auf den Namen geschrieben, der freien
Uebertrragung entzogen waren, andere begünstigten gesperrte Einlagen.
Diese wohl gerechtfertigten sozialen Maßregeln sind indessen bei vielen
Rassen in neuerer Zeit wieder beseitigt worden. Wo Sonderbegün-
stigungen noch bestehen, ist der Kreis der Teilnehmer nicht immer
glücklich abgegrenzt, oft zu weit, noch öfters zu eng; auch begleiten
sie engherzige Maximalbegrenzungen und Rückziehungsbedingungen. So
hst Bologna hierfür 2000 Lire festgesetzt und gibt nur 50 Lire ohne
Kündigung zurück. Daneben wurden aber wiederum Einlagen von
Institutionen der Landwirtschaft oder gemeinnützigen Unternehmungen
ein besonders günstiger Zins eingeräumt:
Verona gibt den gewöhnlichen Einlegern 3 Proz., denen, die ihre
Einlagen auf ein Jahr sperren, 31/, Proz., Arbeitern und gemeinnützigen
Anstalten 4 Proz. Der gewöhnliche Zinsfuß Bolognas ist 3 Proz., der
besonderer Bücher von Einlegern der unteren Klassen und von gemein-
titzigen Anstalten 4 Proz., Gesellschaften auf Gegenseitigkeiten erhalten
fir die ersten 5000 Lire 6 Proz., darüber hinaus 4! Proz.; Piacenza
hat einen Zinsfuß von 2,70 Proz., die Bücher der Arbeiter und gemein-
nützigen Gesellschaften erhalten 4 Proz. Auch der Vorzugszins für die
untere Klasse ist oft niedriger, als er möglich wäre, wenn die Spar-
kassen ein normales Finanzgebahren hätten.
Bei dieser Zinspolitik war es ihnen möglich, von 1881 bis 1904
"IL Mill. Lire für gemeinnützige Zwecke auszuwerfen.
Ueberschüsse der italienischen Sparkassen:
in Millionen Lire
1822—1880 7,3
1881—1890 13,6
1891—1900 22,9
1901—1904 35,9
Den Rekord in der Ueberschüssepolitik hat die Sparkasse von Mai-
land, die größte Italiens, mit 800 Millionen Einlagekapital:
Ueberschüsse
in 1000 Lire
1847—1850 166
1850 — 1860 106
1860—1870 1032
1870—1880 2 338
1880—1890 8 365
1890—1900 11438
1900—1804 23 520
Ap 965
330 Miszellen.
Dabei haben die meisten Verwendungszwecke nichts mit den sozialen
Aufgaben der Sparkassen als solcher zu tun, sondern sind eine Ueber-
nahme allgemeiner öffentlicher und wirtschaftlicher Aufgaben auf die
Schultern der Sparkunden.
Die Freigebigkeit der Mailänder Sparkasse erstreckt sich mit
864 999 Lire auf Einrichtungen für die Jugend (Kinderbewahranstalten u. ä.),
11920994 „ auf das Krankenwesen,
2432938 „ auf Fürsorge für Arbeitsunfähige,
18758637 „ auf Aufgaben des Armenwesens,
5615622 ,„ auf Mutterschulen,
1532932 „ auf Unternehmungen sozialer Vorsorge.
Piacenza, das am 31. Dezember 1907 28832157 Millionen Einlagen
besaß, erzielte von 1864—1907 2177826 Lire Ueberschüsse, von denen
828 442 Lire allgemeinen wohltätigen Zwecken zufielen
505838 „ Einrichtungen sozialer Vorsorge,
562369 „ dem Unterrichtswesen,
110458 „ der Hebung der Landwirtschaft (Bestellung von Wander-
lehrern, Schenkungen an landwirtschaftliche Kredit-
anstalten u. a. m.),
140000 „ der Errichtung einer Brücke über den Po und nur
23910 ,„ Prämien für kleine Sparer zugewendet wurden.
Verona erzielte an Ueberschüssen :
1898 582 173 Lire
1900 712907 »„
1902 689916 ,„
1904 877 444 »
1906 962015 ,
1907 873725 „, die nur zur Hälfte zu Reserve-
bildung verwendet wurden.
Das persönliche Vermögen besaß am 31. Dezember 1907 bereits
94], Mill. M., so daß bei einer Gesamteinlage von 72 Millionen weitere
Rücklagen sich zunächst erübrigt hätten. Wäre der letzte Ueberschub
von 873725 Lire allein zur Erhöhung der Zinsen verwendet worden,
so hätte sich dieser um 1,21 Proz. verbessert. Die Spar-
kasse rühmt sich der Zuwendung von 31/, Mill. Lire für allgemeine
Zwecke.
Von 1871—1908 wurden
1 785 000 Lire für gemeinnützige Anstalten und Unternehmungen (Armenpflege,
Waisenhaus, Taubstummenfürsorge, Lungenheilstätte, Unter-
stützung Ueberschwemmter u. a. m.),
89000 „ zur Förderung der Landwirtschaft (Bestellung von Wanderlehrern,
Ausstellungswesen u. a. m.),
353000 „ für Bildungszwecke (Schulen und Bibliotheken),
40000 „ für Volksbäder,
45800 „ für Errichtung gesunder Wohnungen,
6000 „ für die Universität Padua
und als seltsamste Gabe 220687 Lire zur Ausgrabung eines römischen
Theaters in Monga ausgeworfen. arg
Alle Kassen bieten uns ähnliche Beispiele und sie suchen ihre Dei
Miszellen. 331
hilfe zur Inangriffnahme und Durchführung von notwendigen Auf-
aben, besonders hygienischer, sozialer und pädagogischer Natur damit
zu rechtfertigen, daß sie behaupten, daß das bescheidene Budget der
italienischen Selbstverwaltungskörper diese dazu nicht befähigt.
Es ist bedauerlich, wenn die Finanzpolitik der italienischen Ge-
meinde so gering entwickelt ist; die Regierung wird hier eingreifen
müssen, da sie sich doch nicht darüber im Zweifel sein kann, daß der-
artige Aufgaben besser auf dem Steuerwege aufgebracht werden, als
durch Abzüge an den Zinsen der Sparkassenkunden.
Die italienischen Sparkassen, die den französischen Reformern als
vorbildlich erscheinen, bieten uns in Wirklichkeit ein trauriges Bild
der Entartung,. Die Sparkunden sind nur dazu da, Kapitalien für
andere Zwecke zu beschaffen und durch Beschneidung ihrer Zinsen eine
lahme staatliche und kommunale Wirtschafts- und Sozialpolitik zu er-
setzen.
Angesichts dieser Tatsache ist es auch ein falsches Rühmen, wenn
Vidaud (l. c. S. 35) sagt, die italienischen Sparkassen haben sich ein
dreifaches Ziel vorgesteckt:
1) die Spartätigkeit anzuregen, und zwar besonders bei den kleinen
Sparern,
2) den Sparkapitalien eine sichere und zu gleicher Zeit einträgliche
Veranlagung zu geben,
3) durch die Verteilung eines Teiles der Ueberschüsse den Sinn
für Unternehmungen der Vorsorge zu wecken und zu entwickeln.
Denn tatsächlich kreuzen sich diese Ziele, die Erreichung des einen
hindert die des anderen.
Wenn man den Anschauungen deutscher Reformer folgt, die allen
Sparkassenunternehmungen, die ihr Schwergewicht auf das Aktivgeschäft
legen, den Titel Sparkasse versagen will, so würde das italienische
Sparkassenwesen seines Namens verlustig gehen: Italien hat Kassen,
die den Sparinstitutionen unserer landwirtschaftlichen Kreditgenossen-
schaften entsprechen, keine eigentlichen Sparkassen.
Wenn vielleicht das österreichische Vorbild, nach dem die ersten
italienischen Sparkassen, die unter österreichischer Herrschaft ins Leben
traten, geformt wurden, ansteckend gewirkt hat, so ist den italienischen
Sparkassen doch ehedem „die reine Sparkassenidee“ nicht fremd ge-
wesen, wie uns das alte Statut der Sparkasse von Bologna zeigt, das
als Aufgabe stellt, „den Einlegern den höchstmöglichsten Zins“ zu
geben. Die österreichischen Sparinstitute haben jene Idee wohl auch
seit Jahrzehnten immer mehr!) verletzt, nicht aber sie geradezu ver-
leugnet, wie es heute die italienischen Sparkassen tun.
Die französischen Sparkassen und ihre Theoretiker werden gut tun,
das Vorbild ihrer Reform irgendwo anders als in Italien zu suchen;
die völlige Freiheit hat hier dazu geführt, die Sparkassen ihres Selbst-
Kritische Streiflichter auf das österreichische Sparkassenwesen
hner
e uereg (Br 2, Dach et,
im Oesterreichischen V
332 Miszellen.
zweckes zu entkleiden, und nur die geringe Intelligenz der italienischen
Bevölkerung, der Mangel eines geordneten Bankwesens und das System
der Postsparkasse, die Staatskasse mit einer großen Zinsdifferenz zu
bereichern, hat solches sozial höchst verwerfliche Geschäftgebahren er-
möglicht.
Druckfehlerverzeichnis.
Im Aufsatz „Das französische Sparkassenwesen‘ sind leider folgende Druckfehler
unverbessert geblieben, da ich wegen Ortsabwesenheit die Korrekturbogen nicht kontrol-
lieren konnte.
S. 2 letzte Zeile unterblieb der Zusatz: in beiden um Kassen auf Gegenseitigkeit;
S. 3 Zeile 14: 1818—1828; S. 6 Zeile 6 statt 2 651 831: 2651 841; 8.7 Zeile 26 statt
1634: 1834; S. 9 Zeile 8 v. u. statt 100057: 100037; S. 11 Zeile 13 v. u. statt
70 cts.: 60 cts.; S. 13 Zeile 17 v. u. statt 1837: 1847; S. 14 Zeile 11 statt 2 130 758:
2130768; S. 18 Zeile 29 statt 1844: 1884; S. 21 Zeile 28 nach „April“: 1904;
S. 22 Zeile 3 v. u. statt 21 453 377: 21 453 337; 8. 24 Zeile 15 statt priocés: privées;
S. 25 Zeile 22 v. u. statt 371 690000: 371699000, zwischen Zeile 9 u. 8 v. u
ein Additionsstrich und Zeile 2 v. u. statt 3532 106 385,78: 3522 106 385,78; S. 26
Zeile 11 statt 1342314: 1341314; S. 29 Zeile 23 statt wohl: voll; S. 31 Z. 10:
Paris 1906; S. 33 Zeile 4 v. u. statt Bedürfnis: Geldbedürfnis; S. 35 Zeile 16 statt
372: 382; S. 36 Zeile 11 v. u. statt 390: 340. Ferner sei noch das Buch von Bayard
zitiert: Histoire de la Caisse d’&pargne de Paris. Paris 1900.
Schachner.
Miszellen. 333
X.
Der Weinhandel von Basel.
Von Hermann Bruder.
§ 1.
Allgemeines über die Weinversorgung Basels.
Basel lag mitten in einem Wein produzierenden Lande; links und
rechts des Rheins war es von blühenden Rebkulturen umgeben. Darum
treffen wir seit den frühesten Zeiten in den Urkunden in steter Wieder-
kehr Rebgelände an!), und ein Beweis dafür, daß im Stadtgebiet selbst
der Weinbau sehr gepflegt wurde, ist die Existenz einer seit dem
14. Jahrhundert (1382?) nachweisbaren Rebleutezunft, die 1429, ca.
25 Grautücher eingerechnet, eine Mitgliederzahl von 413 Köpfen auf-
wies ?).
Leider unterrichten die bisher veröffentlichten Quellen über die
technische Seite des Basler Rebbaus und über dessen gesetzliche Rege-
lung nur sehr mangelhaft $). Das Wenige, das darüher vorliegt, bietet
en vom 1. September 1503 datierter Schiedsspruch, den der Rat in
einem Streite zwischen dem Basler Domstift und Kleinbasel wegen der
Weinlese fallte4). Danach war früher das Stadtgebiet auf der Klein-
basler Seite in 4 Rebbänne eingeteilt; da aber die Rebkultur mit der
Zeit zurückgegangen war, wurde ihre Zahl auf 2 vermindert. Das
Domkapitel, das selbst Rebgutsbesitzer war, mußte jährlich an einem
ihm von den Weinleuten angesagten Termine alle seine für die Wein-
lese erforderlichen Bütten und Kübel und seine zum Messen der Trauben-
menge verwandten „Stoßstecken“ auf ihren Inhalt, bezw. richtige Maß-
angabe nachprüfen und von neuem eichen lassen. Für diese durch die
Weinleutezunft geübte Maßkontrolle galten folgende Taxen:
Gegenstand der Eichung | Lohn
Eine neue Tragbütte 3
„ alte D I
ein neuer Kübel I
„ alter Se
„ neuer Stoßstecken I
» alter Zë
1) R. Wackernagel, Geschichte der Stadt Basel I, S. 54, 192.
2) P. Ochs, Geschichte der Stadt und Landschaft Basel II, S. 136 ff.; Geering,
Handel und Industrie der Stadt Basel, S. 41, 48.
_ 3) Ich verweise auf die allgemeinen Ausführungen bei M. Heyne, Das deutsche
Nahrungswesen (in Fünf Bücher deutscher Hausaltertümer, Bd. 2), 1901, S. 101 ff.
4) Urkundenbuch von Basel IX, No. 307.
334 Miszellen.
Dies war also eine Verpflichtung der Domherren; indes werden
wir wohl nicht fehlgehen mit der Annahme, daß eine gleiche Pflicht
ganz allgemein auch für alle anderen Weingutsbesitzer bestanden hat,
Die Rebgärten waren im Herbst geschlossen und wurden erst für
den Tag der Weinlese geöffnet. Besondere Termine wurden angesetzt
für die Lese des Rotweins und des Weißweins. Allein hatte einer nur
sehr wenige Weißweintrauben, so daß es sich nicht verlohnte, die beiden
Sorten zu trennen, so durfte er auf sein Ansuchen hin beide zusammen
schon am ersten Termine schneiden, und umgekehrt. Aehnliche Regeln
dürften wohl auch für die Großbasler Weinernte gegolten haben 4).
Basel war also in der Lage, einen Teil seines Weinbedarfs, wenn
auch den kleineren, durch Eigengewächs zu decken. Doch der gröfere
Teil mußte durch Import aus der näheren und weiteren Nachbarschaft
bezogen werden. Eingeführt wurde namentlich der sogenannte Land-
wein, eine gewöhnlichere Sorte, zu welcher der Baselwein selbst zählte;
er wuchs auf dem rechten Rheinufer „durch uff und abhin“ — also
Markgräfler — und dieseits des Stromes im Sundgau von Basel bis in
die Gegend von Mülhausen ®). Bessere Marken aber, die dem Basler
Markt zugeführt wurden, kamen aus dem Breisgau ®) und insbesondere
aus dem Elsaß. Sagt doch Andreas Ryff?) im Jahre 1569: „dan das
Sundgow und Elsas der Helvetier keller und kastenn genennt wirdt.*
Die Nachfrage nach Wein war im Mittelalter ungemein groß. Ein
getreues Bild des mit der Zunahme der Zahl und des Wohlstandes
der Bevölkerung sich stets steigernden Konsums dieses Getränkes bieten
unzweideutig die Erträgnisse der hierauf gelegten Verbrauchssteuer ê),
und mit Recht sagt Boos?): „Ein jeder nur einigermaßen wohlhabende
Bürger hielt Wein im Keller, und es war ein Zeichen großer Dürftig-
keit, wenn jemand den Wein am Zapfen kaufte, wie z. B. Holbein, von
dem Dr. Ludwig Isenlin bedauernd meint, „er must vormals Wein am
Zapfen kauffen“.“
82.
Die Formen des Weinhandels.
a) Bannwein und Fuhrwein.
Der Weinhandel war etwa bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts
ein Recht, dessen alle Bürger teilhaftig waren, ohne irgendwie durch
eine Zunftorganisation an der freien Ausübung desselben behindert zu
sein. Die einzige Einschränkung erfuhr er durch den sogenannten
Bannwein, ein Vorrecht des Bischofs, von dem uns das Basler Stadt-
4) Urkundenbuch von Basel IX, No. 307.
5) Ochs, a. a. O. III, S. 195ff. Diesen Landwein meint wohl auch Knebel, wenn
er in seinem Tagebuch von vinum commune spricht; vgl. Basler Chroniken III,
S. 166, 176.
6) Vgl. Basler Chroniken (Diarium Knebels) II, S. 18, 40, 289.
7) Basler Chroniken I, 8. 173,
8) Vgl. die Ertragstabelle des Basler Weinungelds von 1361/62—1500 bei Harms,
Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter, S. 246 ff.
9) H. Boos, Geschichte der Stadt Basel I, S. 238.
Miszellen. 335
recht von 1260—1262 ausführliche Kunde gibt!°®). Das Recht des
Bannweins besteht darin, daß der Bischof vom Montag nach Kreuzauf-
findung an (3. Mai) 6 Wochen hindurch schlechthin jeden Weinhandel
der Bürger untersagen darf, um diese Zeit dem alleinigen Klein- und
Großverkauf des Erträgnisses der eigenen (bischöflichen) Reben zu
reservieren 111. Die Amtmänner des Bischofs verkünden den Bann
genau 14 Tage vor dem Beginn der Periode, also gleichfalls an einem
Montage, in aller Frühe vor Sonnenaufgang. Wird dieser Ansage-
termin und diese Ansageform nicht eingehalten, so hat der Bischof sein
Bannrecht für das laufende Jahr verwirkt, und die Bürger können un-
gehindert ihrem eigenen Weinhandel auch während der üblichen Bann-
weinwochen nachgehen. Ist jedoch die Bannzeit rechtmäßig bekannt
gegeben worden, dann dürfen Bürger nur Wein verkaufen „mit des
bischoves urloube oder der, die den von ime hant“ 12). Doch auch
der genehmigte Weinverkauf ist einzig auf den Großhandel beschränkt,
indem nur eimerweise das Getränk abgesetzt werden darf. Ferner mub
zur besseren Kontrolle hierüber der Verkauf in aller Oefientlichkeit vor
dem Hause, „uzerhalb dem tachtroufe“, stattfinden, nicht aber im Innern
des Hauses oder gar im Keller, wo ja viel leichter in Uebertretung
des bischöflichen Reservats Kleinhandel hätte getrieben werden können.
Die Verletzung dieser Vorschriften wird mit einer an den Bischof zu
zahlenden Geldbuße von 21 & geahndet. Allein um auch die trotz
dieser Einschränkungen noch unbequeme Konkurrenz der mit bischöf-
licher Erlaubnis ausgestatteten Bürger nicht zu stark werden zu lassen,
wird ihnen verboten, ihren Wein zum feilen Kauf vor dem Hause oder
auf der Straße oder gar in der ganzen Stadt ausrufen zu lassen und
g die ganze Bürgerschaft oder wenigstens weitere Kreise derselben
davon in Kenntnis zu setzen. Denn dies will doch offenbar folgende
Bestimmung des Stadtrechts besagen: „Wer auch den Wein schreit,
der soll innerhalb der Schwellen stehen; mit einem Fuße mag er wohl
übertreten; geht er aber mit beiden Füßen über, so soll man ihm hut
unde har abe schern.“ Man sucht dadurch eben zu verhüten, daß die
bei einem Bürger sich bietende Kaufgelegenheit in der Stadt auf Kosten
der bischöflichen Interessen allzu bekannt werde.
10) Keutgen, Ausgewählte Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, No. 132,
$ 11; vgl. dazu auch Gothein, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwalds I, S. 322.
11) Vgl. Keutgen, Aemter und Zünfte, 8. 57, wo er in der Anmerkung 143 bei-
fügt: „Der Weinverkauf auch im Kleinen muß für die Großgrundherrschaft schon früh
eine bedeutende Einnahmequelle gebildet haben. Sonst würde der Weinbann in den
ältesten Allensbacher, Speyrer, Straßburger und Basler Rechtsaufzeichnungen keine so
große Rolle spielen. Die Erscheinung ist um so auffallender, je mehr die Kundschaft
bereits durch die konkurrierenden Bürger beschränkt wurde.“ Vgl. auch den Bannwein
der Uesenberger in Kenzingen bei Gothein, a. a. O. I, S. 129, und denjenigen des
Abtes von Gengenbach in der gleichnamigen Stadt, ebenda, S. 222, 238.
12) Fechter, Topographie, S. 42ff. (in der Säkularschrift „Basel im 14. Jahrh.“,
1856), faßt den im Text wörtlich angeführten Passus so auf, als habe nur der Bürger
das Recht zum Weinverkauf, der entweder eine Erlaubnis vom Bischof sich erwirkt hat
oder der den Wein vom Bischof bezieht. Meines Erachtens indes ist die Stelle folgender-
maßen zu deuten: mit des Bischofs Urlaub oder mit Erlaubnis derjenigen, die vom
Bischof die Berechtigung zur Erlaubniserteilung haben. Hierbei wäre etwa an die Amt-
männer zu denken.
336 Miszellen.
Der Bischof übernimmt mit dem Rechte des Bannweins auch einige
Pflichten. Einmal darf er den Preis des Weins gegen den bisher markt-
üblichen nicht erhöhen, und außerdem muß er die Stadt während der
Bannperiode mit Rot- und Weißwein von guter Qualität und in ge-
nügender Quantität versehen: „so sol man die stat bewinen mit wizem
unde mit roteme wine, daz man den alwege vinde wol smekenden,
roeschen, nit wüllenden 13) noch schimmelenden 14),“
Dieses so einträgliche Recht des Bannweins ging den Weg fast
aller anderen Rechte, die der Stadtherr in Basel besaß: es wurde der
bischöflichen Gewalt entfremdet. Bischof Gerhard v. Wippingen ver-
kaufte 1313 den Bürgern von Basel das ius vini in Groß- und Klein-
basel um 300 Mark Silbers auf 15 Jahre mit Kraft vom Jahre 1315
an, wenn auch unter dem üblichen Vorbehalt des Rückkaufs 15). Nach
Ablauf dieser Zeit, 1330, erneuerte der Bistumsverwalter, Bischof Johann
von Langres, den Verkauf auf weitere 15 Jahre zu den gleichen Be-
dingungen 16). 1350 endlich veräußerte Bischof Johann Senn v. Mün-
singen den Bannwein abermals an die Stadt um 1700 Florentiner
Gulden unter Vorbehalt des Rückkaufs 17). Zu einem solchen kam es
jedoch nicht mehr; im Gegenteil, die Bürgerschaft hatte das größte
Interesse daran, im Besitz eines so wichtigen Rechtes zu bleiben, und
zog es daher vor, den stets geldbedürftigen Fürsten 1394, 1431 und
1437 die Pfandsumme jeweils zu erhöhen, sicherte sich aber gegen
etwaige Rückkaufsgelüste dadurch, daß sie diese Pfandschaft mit anderen
bischöflichen Pfandschaften kopulierte und sich gemeinsame, gleichzeitige
Ablösung aller dieser Pfandschaften ausbedang. Dies war natürlich
den Bischöfen, die stets in Geldverlegenheit waren, aller Voraussicht
nach unmöglich 18), Auf diese Weise entledigte sich die Stadt des
lästigen, die Interessen der Bürger schwer schädigenden bischöflichen
Privilegs.
Dem Bannwein schließt sich ein anderes Recht des Stadtherrn an,
der sogenannte „vuorwin“ 19). Der Fuhrwein ist eine ordentliche, an den
Bischof zu entrichtende Weinsteuer, die durch bischöfliche Beamte, die
„winliute“, eingezogen wird. Sollte den Fuhrweinbeamten die Zahlung
verweigert werden, so wenden sich diese um Hülfe an den Schultheißen,
der ihnen „ze rehte helfen“ soll?°). Von jedem Faß Wein, das in den
Häusern und Kellern zu Basel verkauft wird, erhebt der Bischof ein
13) Zum Erbrechen reizend, ekelhaft, unsauber.
14) Keutgen, Urkunden, No. 132, § 11.
15) Urkundenbuch IV, No. 28.
16) Urkundenbuch IV, No. 85.
17) Urkundenbuch IV, No. 195.
18) Urkundenbuch V, No. 209; VI, No. 276 und 416.
19) Keutgen, Urkunden, No. 132, § 5.
20) Gothein, a. a. O. I, S. 322 meint, die Weinleute, die sich über die Erhebung
des Fuhrweins zu beschweren hätten, suchten ihr Recht vor dem Schultheißen; er faßt
demnach die Weinleute des Stadtrechts von 1260 —62 als die Basler Weinhändler, nicht
als bischöfliche Steuerbeamte. Indes besagt, um mit Gothein zu sprechen, die Stelle
gerade das Gegenteil; denn „bereiten“ heißt „bezahlen“ und nicht etwa „zu Unrecht
besteuert werden“, so daß man zur Beschwerde Anlaß hat. Vgl. dazu Heusler, Ver-
fassungsgeschichte der Stadt Basel im Mittelalter, S. 61, gegen den sich Gothein mit
seiner Interpretation wendet; ferner Wackernagel, a. a. O. I, S. 61, sowie S. 617 An-
sa ce De
Miszellen. 337
halbes Viertel als Fuhrwein, desgleichen von jedem Faß, das ange-
bochen wird, um zum Zapfen ausgeschenkt zu werden. Wird ein
angebrochenes Faß wieder verschlossen, so muß der Fuhrwein ein zweites
Mal bezahlt werden, sobald es wieder angestochen wird. Der Fuhr-
wein bedeutet also nicht allein eine Besteuerung des Großhandels,
sondern auch des Kleinverkaufs ?1). Gäste, die auf der Achse oder zu
Schiff Wein nach Basel auf den Kornmarkt oder an einen anderen
Platz zum Verkaufe bringen, unterliegen gleichfalls der Fuhrweinabgabe.
Allein die Auflage der Gäste fällt nicht an den Bischof, sondern an die
bischöflichen Amtleute, deren Amt damit finanziell ausgestattet zu sein
scheint, und zwar muß der fremde Verkäufer jedem einzelnen Amtmann
je ein halbes Viertel Wein abliefern. Vom Fuhrwein befreit sind die
Domherren, Pfaffen, Gotteshausdienstmannen und Bürger für ihr Eigen-
gewichs. Daraus geht hervor, daß nur der Zwischenhandel der Basler
Einwohnerschaft von dieser Weinsteuer betroffen wird. Damit steht
völlig im Einklang, daß die oben genannten Gruppen, sobald sie zu
ihrer Eigenernte noch eine oder mehrere Ohm hinzukaufen, um beides
zusammen loszuschlagen, ihres Steuerprivilegs verlustig gehen und wie
andere Zwischenhändler den Fuhrwein bezahlen müssen ??).
Der bischöfliche Fuhrwein hatte das gleiche Schicksal wie der
Bannwein. Die Bischöfe mußten ihn bei ihrer steten Geldnot versetzen
und schließlich überhaupt veräußern. 1386 verpfündete ihn Bischof
Imer v. Ramstein an den Basler Bürger Burchard Sinz um 300 Gulden
zur Bezablung der Schulden des Stifts?®), und 1436 verkaufte ihn
Bischof Johann v. Fleckenstein, vorbehaltlich der Wiedereinlösung, der
Weinleutenzunft um 600 Gulden ?*), wozu der Sohn des oben genannten
Sinz, Konrad, als Inhaber der Pfandschaft seine Zustimmung erteilte 25).
b) Der Weinhandel der Weinleute.
Die Tendenz zum gegenseitigen Zusammenschluß und zum pro-
fessionellen Abschluß gegen andere Kreise der Bürgerschaft machte sich
mit der Zeit auch bei denjenigen Basler Bürgern geltend, die den
Weinhandel als Beruf trieben. Dieser Assoziierungstrieb führte schließ-
merkung zu S. 109: „Der Name „Weinleute‘ der das Weingewerbe überhaupt Be-
treibenden geht zurück auf die „winlüte‘“ des Bischofs- und Dienstmannenrechts von
Basel (nach Keutgen „Basler Stadtrecht‘), die bischöfliche Beamte für Erhebung des
Fuhrweins sind“. Gothein hat sich wohl verleiten lassen durch den Namen „Weinleute“,
den die spätere Weingewerbezunft führt.
21) Mit dieser Ansicht stehe ich gegen Schönberg, Finanzverhältnisse der Stadt
Basel, S. 67, Anmerkung 1, und Wackernagel, a. a. O. I, S. 58, die beide den Fuhr-
wein als Abgabe vom faßweisen Verkauf betrachten. Anders kann ich mir die Stelle
im Stadtrecht nicht erklären: „Swenne ouch jeman den win ufgetuot, so ist er schuldik
des vuorwins. Verscleht ern danne, unde tuot in aber uf, er sol aber gen den vuor-
win.“ Allerdings könnte man hierbei den Verkauf nach Eimern, also immerhin einen
gewissen Engros-Umsatz im Auge gehabt haben (vgl. $ 11 über den Bannwein), aber
der Kleinhandel ist nach dem Text nicht ausgeschlossen.
22) Keutgen, Urkunden, No. 132, $ 5.
23) Urkundenbuch V, No. 77.
24) Urkundenbuch VI, No. 397.
25) Urkundenbuch VI, No. 398.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 22
338 Miszellen.
lich zur Zunftbildung, zur Gründung der Zunft der Weinleute oder
„zur Gelten“ 26), Ihre Existenz läßt sich bis zum Jahre 1311 zurück-
verfolgen, doch mag sie wohl schon einige Zeit früher bestanden
haben 371. Ihr Hauptzweck lag darin, den bisher freien Weinhandel
für die Zunftglieder soweit als möglich zu monopolisieren. Dieser
Wunsch wurde nur zum Teil realisiert; denn ein Teil der übrigen
Bürgerschaft, sowie die Fremden behielten, wenn auch mit einigen be-
deutsamen Einschränkungen, das Recht des Weinverkaufs.
Seit dem Bestehen der Weinleutenzunft verlieh also prinzipiell
nur die Zugehörigkeit zur Zunft das Recht des Weinhandelsgewerbes ?®),
Wenn Andreas Ryff 159729) und ebenso Ochs 3°) die Zunftglieder
scheiden in solche, „so den Wyn bey der Moß außzäpfen“, und solche,
„die uf die Fuohr verkauffen“, also eine Teilung in Groß- und Klein-
händler, in Weingroßkaufleute und Weinschenken vornehmen, so dürfte
dies wohl für die spätere Zeit, für das 16. Jahrhundert, dem Ryff selbst
angehört, berechtigt sein. Früher jedoch waren beide Handelsformen
in einer Person vereinigt; derselbe Weinhändler verkaufte zugleich auf
die Fuhr und zum Zapfen ®!). Für den Eintritt in die Zunft war der
Erwerb des Bürgerrechts nicht Voraussetzung. Wenn z.B. ein Hinter-
sasse der Stadt das Gewerbe betreiben wollte, so mußte er der Zunft
sich zwar anschließen, aber ohne darum sein öffentlich-rechtliches Ver-
hältnis zur Stadt zu ändern zu brauchen. Es bestand zwischen ihm
und seinem bürgerlichen Zunftbruder nur der eine Unterschied, daß der
Hintersasse außer dem von allen zu zahlenden Ungeld noch den Pfund-
zoll zu entrichten hatte, daß er also in der Besteuerung, wie wir unten ®?)
sehen werden, den Gästen gleichstand. Doch dieser Pflicht zur Be-
zahlung des Pfundzolls wurde seitens der Pflichtigen nicht regelmälig
entsprochen. Daher sah sich der Rat 1484 veranlaßt, die Zunft ein-
dringlich zu ermahnen, dafür Sorge zu tragen, daß die Nichtbürger
unter ihren Mitgliedern entweder den Pfundzoll abführten oder sich
das Bürgerrecht erkauften 83).
Dem Zunftzwang waren nicht unterworfen außer den Gästen die
Einwohner, welche Eigengut oder Schuldwein zu verkaufen hatten, die
also keinen Zwischenhandel trieben, ferner die Wirte, denen gleichfalls
mit der Zeit der Weinausschank zugestanden wurde 34) 35),
26) „Zur Gelten“ genannt nach einer Art Weingefüß, das in ihr Zunftwappen
Aufnahme gefunden hat; vgl. Ochs, a. a. O. II, S. 132.
27) Wackernagel, a. a. O. I, S. 109.
23) Ochs, a. a. O. V, S. 40.
29) Der Stadt Basel Regiment und Ordnung, Beiträge zur vaterländischen Ge-
schichte, Bd. 13, S. 131.
30) a. a. O. II, S. 132.
31) Vgl. darüber die Bemerkungen v. Belows über die Kölner Weinbruderschaft
in seinem Aufsatze: Großhändler und Kleinhändler im deutschen Mittelalter, Jahrb.
für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 75, S. 43; ferner H. v. Lösch, Die Kölner
Kaufmannsgilde, S. 46 ff.
32) § 2d.
33) Ochs, a. a. O. V, S. 40 ff.
34) Ochs, a. a. O. II, S. 132.
35) Ueber den Verkauf von Eigengewächs vgl. unten § Ze: über die Wirte
siehe § 4.
Miszellen. 339
Der gesamte Weinhandel der Stadt Basel war unter obrigkeitliche
Aufsicht gestellt. Als oberste Aufsichtsorgane fungierten die Wein-
herren, die ähnliche Obliegenheiten gehabt haben dürften, wie die Korn-
und Fischmarktherren 86). Im einzelnen aber wurde die Kontrolle aus-
geübt durch andere vereidigte städtische Beamte, nämlich durch die
Weinrufer und die Weinmesser, welch letztere auch den Namen Wein-
sticher führten. Es war bloß eine Konzession an die Weinleutenzunft,
daß diese beiden Beamtenkategorien zu ihr dienen mußten, wodurch
ihnen aber geradezu der Charakter von Zunftbeamten aufgeprägt
wurde 37). Wollte ein Weinschenk Wein verkaufen, so mußte er die
Vermittlung eines zünftigen Weinrufers und Weinmessers in Anspruch
nehmen; in eigener Person oder durch eigenes Personal durfte er nicht
ausschenken 88). Der Weinrufer ging im Auftrag seines Kommittenten
in der Stadt umher und machte durch Ausrufen bekannt, wo Wein zu
haben sei’). Der Weinmesser maß dann im Dienste des Wein-
schenken den Wein den Kunden zu und nahm gleichzeitig auch das
Geld ein 89),
Allein die Weinmesser trieben oft Mißbrauch mit ihrem Amt, das
doch ein Vertrauensposten war. Sie lieferten des öfteren den Erlös,
den sie aus fremdem Gut erzielt hatten, nicht rechtzeitig dem Eigen-
tümer ab, ja verspielten das Geld sogar und blieben es schuldig, so
daß der Weinbesitzer erst nach vieler Mühe zu seinem Rechte kommen
konnte. Natürlich beschwerten sich alle, die sich der Weinmesser be-
dienen mußten, vor allem aber die Weinleutezunft selbst über dieses
Unwesen. Der Rat gab den berechtigten Klagen über diese unhalt-
baren Zustände statt und befahl 1441 den Weinmessern, ihren Auftrag-
gebern das erlöste Geld spätestens 8 Tage nach Beendigung des Aus-
schankes auszufolgen. Geschah das nicht, dann sollte der Gläubiger
das Recht haben, den zahlungssäumigen Beamten durch einen Amt-
mann in den „Käfig“ legen zu lassen, bis ihm die geschuldete Summe
entweder in bar beigeschafft wäre oder in Gestalt eines Pfandes, an
dem er sich schadlos halten könnte. Im Käfig sollte der Delinquent
nur solche Kost bekommen, wie sie nach Stadtrecht Fremden in
gleicher Lage verabreicht wurde, also eine möglichst schlechte und
kärgliche Nahrung. Sein Bürgerrecht konnte ihn vor solcher Behand-
lung nicht schützen 281.
Der Rat wachte sorgsam darüber, daß jeder Weinschenk seine
Ware absetzen konnte, und verbot daher einem jeden, an einem Tage
aus mehr als einem Faß zu gleicher Zeit zu verkaufen. Wer 2 Fässer
an einem Tage auftun wollte, bedurfte dazu der besonderen Ge-
nehmigung des Bürgermeisters oder des Oberzunftmeisters 41). Aus
36) Ochs, a. a. O. V, S. 140; über ihre Zahl und ihre Aufgaben vermag ich
Näberes nicht festzustellen. Vgl. Bruder, Die Lebensmittelpolitik der Stadt Basel im
Mittelalter, Freiburger Dissertation. 1909, 8. 4f.
37) Ochs, a. a. O. II, S. 132; V, S. 140; Andr. Ryff, a. a, O., S. 131.
38) Ochs, a. a. O. III, S. 195 f.
39) Ochs, a. a. O. II, S. 132.
40) Rechtsquellen von Basel Stadt und Land I, 1, No. 131, S. 126.
41) Ochs, a. a. O. III, S. 195 f.
ER
340 Miszellen.
dem gleichen Grunde stand der Rat auch der Assoziierung mehrerer
Händler zu gemeinsamem Ausschank ablehnend gegenüber. Wohl ließ
er solche Genossenschaftsbildungen für den Einkauf zu, weil dadurch
der Wein verbilligt wurde, nicht aber zum Verkauf, weil sich daraus
gar leicht eine Art Verkaufsmonopol weniger hätte entwickeln können
zum Schaden der übrigen Gewerbetreibenden und schließlich auch der
Konsumenten. Der gemeinsam eingekaufte Wein mußte also unter die
Mitglieder der Einkaufsgenossenschaft aufgeteilt werden, damit jeder
seinen Anteil für sich feilbieten könne. Zuwiderhandelnde büßten laut
Verordnungen von 1417, 1420 und 1431 mit 1 Mark Silber von jedem
Fuder Wein, das durch diesen vorschriftswidrigen Handel abgesetzt
worden war*?). Im Jahre 1434 zwar mildert der Rat sein Verbot,
indem er den Weinleuten bewilligte, einen „Gemeinder“ zum Verkauf
zu haben. Doch die beiden Kompagnons durften nur einen gemeinsamen
Keller haben und auch nur einen gemeinsamen Zapfen benutzen. War
der Gemeinder ein Fremder, so sollte zu dem Weinungeld auch der
allgemein von den Gästen zu entrichtende Pfundzoll bezahlt werden.
Uebrigens scheint sich dieses Zugeständnis in den Augen der Re-
gierung nicht bewährt zu haben, und so wurde es 1463 wieder zurück-
gezogen, die Verkaufsgenossenschaft wieder schlechthin untersagt +3).
Die Weinschenken übten ihr Gewerbe aus in Kellern und in so-
genannten Weinhäusern, wo sie auch Gäste bedienten gerade wie die
Wirte in ihren Wirtshäusern. Sie mußten die Weinhäuser pünktlich
schließen, sobald der Laut des Nachtglöckleins verhallt war. Dann zog
der Nachtwächter, ausgerüstet mit Panzer, Helm und Schwert, Mordaxt
und Hellebarde, die Scharwache, pirschte, auf die „Nachtgahnder“,
darunter auch auf diejenigen, welche zu lange beim Weinschenken
sitzen geblieben waren, und arretierte sie**), An Sonn- und Feier-
tagen war die Feierabendstunde auf 10 Uhr festgesetzt. Während des
Vormittags solcher Tage durfte der Weinschenk vor und während des
Hochamtes (der „Fronmesse“) nur die kleine Türe offen halten und nur
Wein über die Straße verkaufen, Gästen jedoch nichts zu trinken geben,
ausgenommen den Pilgern und Reisenden, welche sich durch einen
Morgentrunk und Imbiß stärken wollten 45),
Um den Bedürfnissen der vielen Fremden, welche die Basler
Martinimesse 46) besuchten, entgegenzukommen und so den Meßverkehr
zu erleichtern, wurde jedem einheimischen und fremden Weinhändler
1486 durch das Dreizehnerkollegium die Erlaubnis erteilt, am heißen
Stein auf dem Kornmarkt, wo das rührigste Marktleben herrschte, bis
42) Ochs, a. a. O. II, 8. 385; III, S. 195 f.; V, S. 141.
43) Ochs, a. a. O. III, S. 196.
44) Fechter, a. a. O., S. 44.
45) Ochs, a. a. O. V, S. 185, Anmerkung 1 (14. Jahrh.). Man ist versucht, die
hier behandelten Weinschenken als Wirte überhaupt aufzufassen. Zu meiner oben dar-
gelegten Annahme indes bestimmte mich der Umstand hauptsächlich, daß diesen Wein-
schenken der Verkauf über die Straße erlaubt ist, während den Wirten derselbe ver-
boten war. Die Wirte durften nur an ihre Gäste Wein abgeben; vgl. unten § 4.
46) Sie wurde abgehalten während der 14 Tage vor dem Martinstag (11. Nov.);
vgl. das Meßprivileg Friedrichs III. für Basel von 1471 im Urkundenbuch VIII, No. 404.
Miszellen. 341
auf Martini Wein am Zapfen zu verkaufen; denn sonst war der Korn-
markt nur die Stätte des Weingroßhandels. Die Weinleutenzunft mußte
dafür Sorge tragen, daß mindestens 4 Schenken dort gleichzeitig ihr
Gewerbe übten 47). Im Jahre 1598 gab man dann ganz allgemein,
gleichfalls aus Rücksicht auf die die Basler Märkte besuchenden Gäste,
eine ähnliche Erlaubnis, und der Rat ließ sogar „das Geliger zu den
Fassen“ auf dem Kornmarkt aufstellen. Gegen früher jedoch begrenzte
man die Quantität des auszuschenkenden Weins: höchstens 4 und min-
destens 2 Saum durfte ein Weinschenk verzapfen #8).
c) Weinhandel der übrigen Bürger.
Nur der Zwischenhandel im Weingewerbe galt als Monopol der
Weinleutenzunft*®?). Dagegen konnte sonst jedermann, der Eigengewächs
oder sogenannten Schuldwein, d. h. Wein, der als Zahlungsmittel in
seinen Besitz übergegangen war, zu verkaufen hatte, denselben gerade
so wie ein Zunftmitglied ausschenken. Er mußte dazu nur einen der
Zunft angehörigen Weinrufer und Weinmesser nehmen, der für ihn
den Ausschank besorgte. Wollte er aber selbst einen Knecht als
Weinmesser einstellen, so mußte dieser Knecht vor Antritt seines
Dienstes zuerst sich das Zunftrecht und damit zugleich die Beamten-
eigenschaft erwerben 5°).
Selbst die Rebleute, die doch berufsmäßige Weinbauern waren und
als solche auf den Verkauf ihrer Produktion angewiesen waren, waren
für den größten Teil des Jahres an diese Bestimmungen betreffend die
Weinrufer und -messer gebunden. Nur für eine keine Spanne Zeit
waren für sie diese Beschränkungen außer Kraft gesetzt. Im Jahre
1389 wurde den Rebleuten das Recht bestätigt, vom „angehenden
Herbsten“ bis Martini ihren Eigenwein durch ihre Knaben und durch
ihr Gesinde selbst vertreiben zu dürfen 51),
d) Weinhandel der Fremden.
Schon im Basler Stadtrecht von 1260—62 wird bei Gelegenheit
des Fuhrweins der fremden Weinhändler gedacht, die ihre Ware auf
den Kornmarkt zum Verkauf bringen. Auch in der späteren Zeit übte
Basel auf den auswärtigen Weinverkäufer noch die gleiche starke An-
ziehungskraft aus. Naturgemäß setzten die Gäste ihren Wein meist
en gros um. Doch war ihnen auch der Kleinverkauf, der Weinausschank
gestattet, sofern sie einen Weinmesser der Zunft dazu anstellten. Als
Abgaben wurde von ihnen nicht allein das Ungeld erhoben, das ja auch
der Bürger bezahlen mußte, sondern auch noch ein Pfundzoll 52). Damit
47) Ochs, a. a. O. V, S. 141.
48) Wurstisen, Basler Chronik, Fortsetzung S. 65 (Ausgabe von 1765).
49) Auch in Konstanz war neben dem Großhändler nur der Zwischenhändler zunft-
pflichtig, nicht aber der Weinbauende selbst, und selbst der Großhandel setzt Zwischen-
handel voraus; vgl. Gothein, a. a. O. I, S. 492.
50) Ochs, a. a. O. V, S. 40 ff.
51) Ochs, a. a. O. II, S. 132.
52) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.
342 Miszellen.
sie sich der Zahlung des Pfundzolls nicht entziehen konnten, mußten die
Weinmesser nach Beendigung des Marktes, gewöhulich am Freitag
Abend, im Kaufhause auf sie warten und durften sie wohl erst nach
Regelung dieses Steuergeschäfts entlassen 53). Dem gleichen Zwecke
diente ein Verbot, wonach kein Städter irgendwelche Gemeinschaft im
Weinhandel mit einem Gast haben sollte; denn wenn ein Bürger Mit-
besitzer des Weins war, so fiel ja die Verpflichtung zur Bezahlung des
Pfundzolls weg54). 1434—63 allerdings war die Gesellschaftsbildung
unter Beteiligung je eines Bürgers und Fremden gesetzlich freigestellt,
aber nur unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß trotzdem der
Pfundzoll entrichtet werde 55); denn die Stadtkasse durfte keinen Aus-
fall an Einnahmen erleiden.
Die Weinleutenzunft, deren Mitglieder sich durch diese starke Kon-
kurrenz der Gäste, namentlich aber durch deren Kleinverkauf und
Zwischenhandel, sehr geschädigt sahen, erhob den Anspruch, daß die
fremden Zwischenhändler, die dem Detailhandel in Basel oblagen, zuerst
sich in den Besitz des Zunftrechtes setzen müßten. Allein der Rat
wies 1396 diese Forderung zurück mit der Begründung: „wond das
unsrer stadt nutze bringet“ 56), Er fürchtete eben mit Recht, daß im
Falle eines Entgegenkommens der Zunft gegenüber der Basler Wein-
markt die Kosten zu tragen hätte, d. h. die Weinzufuhr an Quantität
abnehmen würde.
§ 8.
Die Reglementierung des Weinhandels, insbesondere als Fürsorge
für das Publikum.
a) Sorge für genügende und billige Kaufgelegenheit.
Schon die Zulassung der Gäste zum Weinmarkt in der oben be-
sprochenen Ausdehnung zeigt, wie sehr der Rat sein Augenmerk darauf
richtete, den Markt von außen reichlich mit Waren beschickt zu wissen.
Dabei wußte er klug diesen Import, mochte er nun durch Einheimische
oder durch Fremde vollzogen werden, zu seinem finanziellen Vorteil
auszubeuten, und ebenso den Transitverkehr vom rechten nach dem
linken Rheinufer und umgekehrt, der ja Basel mit seiner Rheinbrücke
nicht gut umgehen konnte. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrh. z. B.
zahlt ein mit Wein befrachteter Wagen oder Karren eines Baslers
4 bezw. 2 A, wenn er am Tage der Ausfahrt wieder zurückkommt;
bleibt er aber außerhalb der Stadt über Nacht, so erhöht sich die Ab-
gabe auf 6 bezw. 3 55°). Später hatten Großbasler, die aus dem
Markgräflerland Wein importierten, pro Wagen 16 A und pro Karren
8 A zu steuern. Kleinbasler dagegen, die im Elsaß Wein holten,
wurden mit 2 B pro Wagen belastet. Fremde endlich, die mit Wein-
fuhren die Rheinbrücke passierten, gaben 2 8 4 A Der Rheinzoller
53) Ochs, a. a. O. V, S. 140f.
54) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.
55) Vgl. oben § 2, b.
56) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.
57) Ochs, a. a. O. II, S. 412, Anmerkung q.
Miszellen. 343
bescheinigte die Bezahlung dieses Transitzolles durch Aushändigung
eines Wortzeichens 58),
Der Weingroßhandel konzentrierte sich in der Hauptsache auf dem
Kornmarkt 9) und wickelte sich, wie wir gesehen haben, dort ab unter
kommunaler Kontrolle, die in die Hände vereidigter Weinherren gelegt
war pn), Für den Engros- Vertrieb waren besondere Weinläder an-
gestellt, die zu Weinleuten dienten, und die beim Verladen der Fässer
amtlich tätig waren ®!). Jeder Verkauf mußte unter Zuziehung von
Weinunterkäufern abgeschlossen werden. Als solche fungierten die Wein-
sticher, die nicht nur beim Handel die Vermittlerrolle zu spielen, sondern
auch darauf zu achten hatten, daß der Preis sich in angemessenen
Grenzen hielt ®2).
Jeder Bürger pflegte sich eine größere Quantität Wein für seinen
häuslichen Verbrauch in den Keller zu legen. Der Rat sorgte nun
dafür, daß diese Bürger ihren Wein direkt vom Produzenten oder
wenigstens vom fremden Zwischenhändler auf dem Markt und so ver-
hältnismäßig billig einkaufen konnten. Er untersagte zu diesem Zwecke
allen, die auf Mehrschatz kaufen wollten, also namentlich den Basler
Weinhändlern den Zutritt zum Markt zu bestimmten Stunden und
Zeiten. Von Martini bis Weihnachten war den Zwischenhändlern der
Kauf auf dem Weinmarkt ganz untersagt, während der übrigen Zeit
des Jahres aber nur von Donnerstag Abend bis Freitag Nachmittag.
Die Weinsticher hatten darüber zu wachen, daß diese Bestimmung nicht
übertreten wurde 63),
Standen infolge des schlechten Standes der Reben oder infolge
eines Hagelschlages Weinteuerungen in Aussicht, so ergriff der Rat
alsbald seine Vorkehrungen, damit die Stadt darunter so wenig als
möglich zu leiden hätte. Er ließ für sich große Quantitäten Wein auf-
kaufen, um für den Notfall eine Reserve zu haben. Trat der Mangel
ein, dann schenkte er ihn selbst zum Zapfen aus, und dies sogar unter
dem Einkaufspreis, wenn die Lage es erheischte. So scheint es 1373
gewesen zu sein®*), so war es der Fall in den Teuerungsjahren 1537
und 1538, wo der Rat die Maß um einen Plappert abgab. Dabei ist
es interessant zu sehen, daß der Rat das alte von ihm erworbene
bischöfliche Recht des Bannweins wieder aufleben ließ und allen anderen
Weinverkauf untersagte. Die Weinleutenzunft, gegen die sich diese
Maßregel richtete, beanspruchte zwar ein Bodengeld vom Verkauf dieses
Ratsweins, aber der Rat lehnte dieses Ansinnen ab mit der Begründung,
der Bischof habe früher nie ein solches bezahlt 65).
58) Geering, a. a. O., S. 177 f.
59) Fechter, a. a. O., 8. 42 f.
60) Ochs, a. a. O. V, S. 140.
61) Andreas Ryff, a. a. O., S. 13f.
62) Fechter, a. a. O., S. 42f.
63) Ochs, a. a. O. V, S. 1401.
64) Ochs, a. a. O. II, S. 427; 1373 wird erwähnt: „So ist erlöset usser wine, die
wir kouft hattent, und die wieder verkouft sind, 1384 Zë.
65) Ochs, a. a. O. VI, S. 530. Das Wesen des Bodengelds ist mir weiter nicht
bekannt; doch scheint es mir die alte Fuhrweinabgabe zu sein, welche die Weinleute-
zunft 1436 dem Bischof abgekauft hatte. Der Name wenigstens könnte auf den Aus-
344 Miszellen.
Eine andere Teuerungsmaßregel war das Verbot der Weinausfuhr.
Man „verbannte“ den Wein, d. h. man untersagte allen Privatleuten
und allen Weingewerbetreibenden, ihr Eigentum aus der Stadt hinaus-
zuverkaufen. So im Jahre 1497. An Martini dieses Jahres wurde das
Verbot zwar wieder aufgehoben, doch behielt sich der Rat vor, zum
Nutzen der Stadt, wenn es nötig werden sollte, darauf wieder zurück-
zukommen 66). 1644 endlich erließ der Rat die Verordnung, daß ein
Weinhändler von allem Wein, den er außerhalb der Bannmeile erworben
und nach Basel gebracht habe, 8/, nach seinem Belieben verkaufen
könne, wann, wo und wohin er wolle; über den Verkauf des 4. Viertels
aber sollte im Notfall der Obrigkeit die Entscheidung und das Ver-
fügungsrecht zustehen 67), Hiermit wird also der Export importierten
Weins zum größten Teil dem freien Ermessen des Händlers anheim-
gegeben und gestattet.
Einer willkürlichen Preisbestimmung seitens der Weinleute kam
der Rat dadurch zuvor, daß er selbst eine Taxe aufstellte. Im Jahre
1486 wurde dann — zuerst nur versuchsweise — das Institut der
Weinschätzer geschaffen, denen die Preisregulierung oblag. Nach den
offiziell normierten Sätzen mußten die Weinleute das ganze Jahr hin-
durch ihren Wein an die Kunden abgeben, und somit war einer Aus-
beutung des kaufenden Publikums durch sie ein Riegel vorgeschoben.
Allein die Zunft war über diese Tarife oft recht wenig erfreut, sie
glaubte den Gewinn ihrer Angehörigen dadurch allzusehr geschmälert.
Um daher einen Druck auf den Rat auszuüben und so eine Erhöhung
der Preise zu erzwingen, stellten einmal alle Weinschenken den Klein-
verkauf ein. Doch der Rat ließ sich nichts abtrotzen, im Gegenteil, er
ging energisch gegen die ungehorsame Zunft vor und verbot ihren
Gliedern für ein ganzes Jahr, „den Zapfen zu brauchen“, also den
Weinausschank zu treiben. Zugleich drohte er ihnen für den Fall einer
Wiederholung ihrer Unbotmäßigkeit, er würde allen Bürgern die Aus-
übung des Weinschankgewerbes ohne jede Einschränkung und obne
zünftige Weinmesser gestatten. Während des Strafjahres aber trat der
Rat mit eigenem Kleinverkauf in die Lücke und erteilte die Befugnis
zum Weinausschank auch dem Spital und der „Ellenden Herberge“, so
daß für die zünftigen Weinleute genügender Ersatz geschaffen war ®®).
Die Fürsorge der regierenden Kreise für das kaufende Publikum
kommt auch in einer Bestimmung zum Ausdruck, die schon im Basler
Stadtrecht aus dem 13. Jahrhundert enthalten ist, die also noch von
der stadtherrlichen Regierung ausgeht. Diese Verfügung dürfte sich
wohl auch in jene Zeit hinübergerettet haben, wo der Rat die gesetz-
geberische Tätigkeit des Stadtherrn immer mehr zurückdrängte und an
sich brachte Es handelt sich um die Abgabe von Wein und von
druck des Stadtrechts (Keutgen, Urkunden, No. 132, § 5) zurückgehen: „Swaz wines
verkouft wirt ze Basil in hiusern oder in kelren, daz zwene bodeme hat, daz git
dem bischove ein halpfierteil wins“.
66) Ochs, a. a. O. V, S. 140.
67) Ochs, a. a. O. VI, S. 821.
68) Ochs, a. a. O. V, S. 1411.
Miszellen. 345
„eig guot“ überhaupt gegen Pfand. Wenn ein Bürger, Domherr,
Kleriker oder Ritter keine sofortige Barzahlung leisten konnte, aber
dafür ein „gutes Pfand“ anbot, so mußte ihm Wein verabfolgt werden.
Weigerte sich ein Verkäufer, dieser Vorschrift Folge zu leisten, so
sollte er mit 3 d an den Bischof büßen 69),
b) Sorge für gute Qualität.
Eine ihrer Hauptaufgaben erblickte die städtische Lebensmittel-
polizei darin, dem Konsumenten einen echten und reinen Wein von
guter Qualität zu garantieren. Hatte sich doch schon der Bischof im
Stadtrecht verpflichtet, während der Bannweinzeit nur „wol smekenden,
roeschen, nit wüllenden noch schimmelenden“ Wein feilzubieten 7°). In
dieser Richtung bewegen sich verschiedene Weinordnungen. Bevor der
Wein marktfähig war, mußte der Verkäufer ihn 8 Tage lang liegen
lassen, damit die Hefe im Faß sich setzen und der Wein sich klären
konnte ?!), Aus Rücksicht auf die Bonität war es auch verboten, den
Wein aus einem großen Faß in mehrere kleine Fässer abzulassen, es
müßte denn sein, daß der Wein für den Hausgebrauch bestimmt war,
oder daß das in ein kleines Faß abgelassene Quantum mit dem Fasse
selbst en gros verkauft werden sollte; aber im letzteren Fall durfte
nur nach Bedarf ein kleines Faß vom großen aus gefüllt werden. Küfer,
die bei vorschriftswidrigem Ablassen mitwirkten, wurden dafür mit
einer einjährigen Leistung vor den Kreuzen bestraft und mußten außer-
dem noch 5 # bezahlen, um wieder Zutritt in die Altstadt zu er-
erlangen ?1). Die gleiche Strafe stand ihnen in Aussicht, wenn sie bei
der Vermischung verschiedener Weine mithalfen; denn es war nicht
zulässig, mehrere Weinsorten „ineinander zu ziehen“ oder zu „ver-
schrenken“, z. B. Elsässer mit Landwein zu verschneiden "71. Nicht
einmal durfte man altem Wein, sogenanntem Firnwein, neuen von der-
selben Marke beimengen 781. Auch Wein, der zur Bezahlung des
Zehnten bestimmt war, mußte unvermischt bleiben, es durfte auch hier
dem Neuen kein Wein eines älteren Jahrgangs oder gar Wasser zu-
geführt werden. Solche Zehntvergehen wurden dem Schultheißen an-
gezeigt, der „mit zimlicher straff gegen den verbrechern und uberfarern
handeln soll“ ?4), Wenn ein Bürger oder Hintersasse entgegen der
Verordnung verschnittenen Wein ausschenkte, so wurde ihm das an-
gestochene Faß vernichtet, das Ungeld davon mußte jedoch nichts-
destoweniger entrichtet werden. Wenn Gäste alten und neuen Wein
69) Keutgen, Urkunden, No. 132. § 6.
70) Keutgen, Urkunden, No. 132, $ 11; vgl. oben.
71) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.
72) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.; III, S. 195 f.
73) Ochs, a. a. O. III, S. 195 f.; Fechter, a. a. O., S. 421.
74) Urkundenbuch IX, No. 307. Diese Urkunde aus dem Jahre 1503 stellt, wie
schon oben § 1 gesagt, einen Schiedsspruch über Streitigkeiten dar, die zwischen dem
Domkapitel und Kleinbasel wegen der Weinlese entstanden sind. Doch dürfen wir im
Zusammenhang mit den anderen Verordnungen der hier angezogenen Bestimmung des
Schieds eine breitere Basis geben und sie verallgemeinern.
346 Miszellen.
vermischt zu Markte brachten, so mußten sie mit ihrer Fuhre wieder
von dannen ziehen, falls man den Betrug entdeckte; der übliche Pfund-
zoll aber wurde ihnen nicht erlassen 75).
Der Verkauf von „schwachem“ und „krankem“ Wein wurde eben-
falls inhibier. Der Meister und die Sechser der Weinleutenzunft
übten hierüber selbst die Kontrolle. Fanden sie in dieser Hinsicht
im Handel etwas zu beanstanden, so mußten sie sofort den betreffenden
Wein samt dem Faß in den Rhein schütten und werfen lassen, während
die Verpflichtung zur Bezahlung des Ungeldes für die der Exekution
verfallene Ware trotzdem bestehen blieb 75).
Am schärfsten aber bekämpfte die Kommunalbehörde die direkte
Weinfälschung, auf die man sich auch schon im Mittelalter mit großem
Raffinement verstand. Man nannte solche Manipulationen „den Wein
arznen“ oder einfach „machen“. Die hauptsächlichsten Mittel, die zur
Pantscherei verwandt wurden, waren Waidasche, Schwefel, „Scharlat-
kraut“, Salz, Kalk, Eier, Milch oder auch Senf. Der Verkauf von „ge-
arznetem“ Wein war streng untersagt; denn es galt der Grundsatz:
„Es soll ein jeder Wein bleiben, als ihn Gott hat wachsen lassen“,
und die Zunft wurde besonders auf diesen Grundsatz vereidigt?®). Um
Weinpantschern auf die Spur zu kommen, hatten die Sinner und die
Weinsticher Weisung, jeden Morgen den Kellern der Weinschenken
einen Besuch abzustatten. Dort mußten sie die Drusen, d. h. den
Bodensatz oder die Hefe, sowie den Abwein ans Licht bringen lassen
und sorgfältig prüfen, ob nicht etwa verdächtige Bestandteile darin zu
finden seien. Desgleichen hatten sie den Wein, den Gäste auf den
Basler Markt brachten, daraufhin zu untersuchen. Ergaben sich irgend-
welche belastende Momente, so gingen die Stadtobrigkeit oder die
Weinherren gegen die Fälscher mit Geld- und Leibesstrafen vor ?®),
Freilich, bei der großen territorialen Zersplitterung der ober-
rheinischen Lande konnte der Kampf gegen die Weinfälschung durch
ein einzelnes Territorium wie Basel nicht mit genügendem Erfolg durch-
geführt werden; denn es wurde nicht allein und nicht erst innerhalb
der Basler Landesgrenze gefälscht, sondern es wurden auch schon ge-
arznete Weine importiert. Darum dachte Basel an ein gemeinsames
Vorgehen aller benachbarten weinbautreibenden Herrschaften und Städte,
um das Uebel soviel als möglich im Keime schon zu ersticken. Zu
diesem Zwecke lud es am 22. April 1472 den burgundischen Statthalter
Vorderösterreichs, Bernhard v. Gilgenberg, den Abt von Murbach, den
Herrn von Rappoltstein, sowie die Städte Straßburg, Kolmar, Schlett-
stadt, Kaisersberg und Reichenweier zu einer Zusammenkunft nach
Kolmar. Hier scheint eine neue Tagfahrt auf den 8. Juni 1472 nach
Breisach verabredet worden zu sein, wozu durch Basel noch der Mark-
graf Karl von Baden, der Graf Konrad von Tübingen, der Junker
Jakob v. Lichtenberg, der Herr von Staufen, sowie die Städte Offen-
burg, Kenzingen, Endingen, Lahr, Freiburg, Breisach, Neuenburg,
75) Ochs, a. a. O. III, S. 1951.
76) Ochs, a. a. O. II, S. 195 £.; V, S. 1401f.; Fechter, a. a. O., S. 421.
Miszellen. 347
Zë, Oberehnheim, Rosheim, Obernbergheim, Andlau und Sennheim
ge eten wurden. Ueber den Erfolg dieser Beratungen haben wir
keinerlei bestimmte Nachricht. Basel wenigstens verbot unter Strafe
den Kauf und Verkauf gearzneter Weine und ersuchte in einem
Schreiben vom 6. März 1473 den burgundischen Statthalterstellvertreter,
ein Gleiches in seinen Landen zu tun’??), Wichtig für die Geschichte
der Lebensmittelpolitik aber ist es, daß wir aus diesen Verhandlungen
erfahren, durch welche Mittel und Wege man am wirksamsten der
Weinfälschung steuern zu können glaubte, und wir werden hierbei er-
innert an das gemeinsame Vorgehen des Rappenmünzbundes in Sachen
des Viehhandels und der Fleischpreise 78),
c) Sorge für richtiges Maß und für richtige
Ungelderhebung.
Ein Schutz des Konsumenten durch die Stadtverwaltung erwies
sich auch da als durchaus notwendig, wo es sich um richtigen Empfang
der verlangten und bezahlten Quantität handelte. Es mußten daher
die beim Weinhandel gebräuchlichen Maße auf ihren richtigen Inhalt
geprüft werden, wie überhaupt die mittelalterliche Stadtverwaltung,
früher der Stadtherr, später der Rat, eine ihrer wichtigsten Pflichten
in der Sorge für richtiges Maß und Gewicht erblickten. Der Rat über-
ließ die Ausübung der Kontrolle der Weinleutenzunft, die selbst das
größte Interesse an einem reellen Marktverkehr hatte. Die Zunft focht
alles private Weingeschirr 79). Die Einzelkontrolle wurde vorgenommen
durch ehrbare Männer, die mit dem sogeisannten Isenli von morgens
frih, wann die Nachtwächter den Tagesanbruch verkündeten, bis zum
späten Abend, wann das Nachtglöcklein geläutet wurde, von Weinhaus
zu Weinhaus zogen und das Maß der Kannen inspizierten. Entdeckten
sie irgendwo eine „bresthafte“ Kanne, so verhängten sie über den Be-
sitzer derselben eine Geldstrafe von 10 88°),
Die zu dem „Isenli“ bestellten Männer revidierten bloß die im
Schankgewerbe üblichen Maße, nicht aber die, welche beim Großhandel
im Gebrauch waren, nämlich die Fässer. Diese ließ der Rat selbst
nachprüfen vermittelst des städtischen Sinngeschirrs, dessen Eichung
hinwiederum ihm die Weinleutenzunft gegen eine Entschädigung von
Jährlich 30 ß besorgte 8!). Durch das Sinnen der Fässer wurde
wenigstens indirekt auch demjenigen, der Wein faßweise kaufte, die
richtige Weinmenge gewährleistet. Ich sage ausdrücklich indirekt;
77) Heinrich Witte, Ueber Weinfälschung im 15. Jahrh., Zeitschr. für Geschichte
«ies Oberrheins, N. F. I, S. 227.
78) Vgl. G. Adler, Die Fleischteuerungspolitik der deutschen Städte beim Ausgang
«des Mittelalters, 1893, Kapitel XIII, S. 107 f.
79) Ochs, a. a, O. II, S. 132; V, 5. 126.
80) Fechter, a. a. O., S. 44.
81) Ochs, a. a. O. V, S. 126. Ich mache hier auch auf das große eherne Weinmaß
aufmerksam, das die Stadt bald nach dem Erdbeben von 1356 „als eines der unent-
behrlichsten Geräte im Stadthaushalte‘“ herstellen ließ, und das noch heute im Histo-
rischen Museum zu sehen ist; vgl. dazu Wackernagel, a. a. O. I, S. 272.
348 Miszellen.
denn der Hauptzweck des städtischen Sinngeschäfts war der möglichst
vollständige Bezug des Weinungeldes 8?). Der Rat unterhielt für dieses,
für den Stadthaushalt äußerst wichtige Geschäft mehrere Beamte: die
Sinner, den Sinnschreiber, 2 Sinnerknechte und die Faßbesiegler. Legte
ein Weinschenk oder ein Privatmann Wein in seinen Keller, sei es
zum Verkauf oder zum Privatkonsum, so mußte das Faß in Gegenwart
eines Sinners oder eines andern ehrbaren Mannes durch einen amtlichen
Fabbesiegler besiegelt werden. Wollte der Besitzer des Weins dann
ein oder mehrere Fässer anstechen, so hatte er zuvor die Sinnerknechte
davon zu benachrichtigen. Diese verfügten sich daraufhin in den be-
treffenden Keller und überschlugen die zum Auftun bestimmten Fässer
und erstatteten den Sinnern Bericht, welche durch den Sinnschreiber
Notiz davon nehmen ließen. Sobald ein Faß leer war, mußte ep der
Besitzer sofort an den Sinnbrunnen auf dem Kornmarkt 82) bringen,
wo es durch Einschütten von Wasser auf seinen Inhalt geprüft und
neu geeicht wurde. Nach dem genauen Ergebnis des Sinnens wurde
sodann die Höhe des für den aufgebrauchten Wein zu entrichtenden
Ungelds berechnet, und jetzt erst mußte die Akzise an die Ungelder
bezahlt werden 84).
§ 4.
Das Wirtegewerbe.
Bisher habe ich nur vorübergehend der Wirte gedacht und dabei
bemerkt, daß sie nicht zur Weinleutenzunft, sondern zur Gartnerzunft
gehören. Es gab in Basel 3 verschiedene Klassen von Wirten, deren
gewerbliche Befugnisse scharf gegeneinander abgegrenzt waren: die
Herrenwirte, die Mittel- oder Karrenwirte und die Köche oder Koch-
wirte 85),
Den ersten Rang nahmen die Herrenwirte ein, bei denen die
„Herren“ und vornehmeren Reisenden verkehrten. Bei ihnen konnte
man Gastmähler geben. Pfennwert dagegen durften sie ihren Güsten
nicht verabreichen, sondern nur Speisen, für die ein höherer Preis an-
gelegt werden mußte 85). In der zweiten Hälfte des 15. Jahrh. fixierte
der Rat den Preis eines „rechten“ Gastmahls auf 10 Rappen. Unter
diesem Werte durfte ein Herrenwirt nichts abgeben, außer er stellte
zum Mahle auch noch den Wein, den er bei einem Weinschenken zu
offenem Zapfen holte; in diesem Fall brauchte er nur 9 Rappen für
die Zehrung zu verlangen 86). Als Wirt für die vornehmen Gesell-
schaftskreise mußte er sein Gasthaus immer sauber und reinlich halten
82) Vgl. über das ordentliche Weinungeld, sowie über die verschiedenen außer-
ordentlichen Weinsteuern: Schönberg, a. a. O., S. 81f., 262, 337, 430; ferner Heusler,
a. a. O., S. 164ff., 232ff., 250; ferner Wackernagel, a. a. O. I, S. 70. Siehe
auch die Tabelle des Ertrags der Basler Weinsteuer von 1361/62—1500 bei Harms,
Münz- und Geldpolitik der Stadt Basel im Mittelalter, S. 244, 246 ff.
83) Der große Kornmarktbrunnen; vgl. Fechter, a. a. O., S. 42.
84) Ochs, a. a. O. II, S. 385 f.; III, S. 11; V, S. 140.
85) Ochs, a. a. O. II, S. 1531.
86) Ochs, a. a. O. V, S. 143 ff.
Miszellen. 349
und durfte gemeines Volk nicht eintreten lassen 87). 1476 wurde die
Zahl der Herrenwirte durch den Rat auf 13 festgesetzt. Es waren
dies die Wirte „zum Goldenen Löwen“, „zum Schnabel“, „zum Schiff“,
„zum Roßgarten“, „zur Blume“, „zur Krone“, „zum Goldenen Kopf“,
„zur Sonne“, „zum Sternen“, „zum Hirschen“ und 3 Kleinbasler
Herrenwirte 88). Mit der Zeit vermehrte sich ihre Zahl. So erhielt
z. B. 1543 der Wirt „zum Wilden Mann“ die Rechte eines Herren-
wirts 89),
Die zweite Kategorie im Wirtegewerbe bildeten die Mittelwirte.
Sie führten auch den Namen Karrenwirte von der großen Mehrzahl der
Gäste, die bei ihnen Herberge nahmen, nämlich den Fuhrleuten. Ueber-
haupt kehrte das gewöhnlichere Volk bei ihnen ein. Sie gaben nicht
das Mahl, sondern bloß den Pfennwert, d. h. Speisen um einen ge-
ringeren Preis als die Herrenwirte 90),
Die Köche oder Kochwirte (Garköche) endlich sahen in ihren Gar-
küchen, die sich größtenteils auf dem Kornmarkt befanden, nur die
niedersten Schichten, die Hefe der Bevölkerung. Ihre Wirtschafts-
räumlichkeiten waren wirkliche Spelunken, wo das fahrende Volk sich
zusammenfand. Nachtquartier durften die Köche nur den feilen Dirnen
gewähren, jedoch mit äußerster zeitlicher Beschränkung: nur eine Nacht
durften sie eine „fremde fahrende Tochter, die sich um Geld minnen
läßt“, beherbergen, sie aber in derselben ihrer „Büberei“ nicht nach-
leben lassen. Bei längerem Aufenthalt sollten sie dieselbe gleich am
zweiten Tage in eines der Hurenhäuser in den Vorstädten verweisen.
Während der ganzen Zeit ihres Verweilens in der Stadt durften die
fremden Huren zwar bei den Köchen ihr Essen einnehmen, mußten
sich hernach aber sofort wieder in ihre Häuser zurückziehen. Die ein-
heimischen „üppigen Weiber“ hatten eine größere Bewegungsfreiheit in
den Garküchen, die Köche sollten ihnen um ihr Geld Essen und Trinken
nicht verweigern. Die Uebertretung dieser Verordnungen durch einen
Koch zog eine Strafe von 1 Mark Silber nach sich 91).
Eine Reihe von Verordnungen über den Einkauf der Eßwaren, die
in den Wirtschaften geführt wurden, sorgte für eine reelle Bedienung
des Konsumenten. Köche und Mittelwirte wurden angehalten, das Brot
frisch und direkt bei einem städtischen Bäcker zu kaufen und nicht
etwa bei den fremden Brothändlern, die das schon etwas alte Brot auf
„Krätzen“ (Rückkörben) oder auf Kärren nach Basel brachten, oder
aber sie sollten ihren Brotbedarf durch Selbstbacken decken und zuvor
davon das Ungeld bezahlen. Ein Gleiches galt vom Fischeinkauf, den
sie nur auf offenem Fischmarkt besorgen sollten. Hinsichtlich des
Fleisches schieden die finnige Schale und die Judenschule als Lieferanten
für sie aus; sie waren an die „rechten Schalen“, wo der reelle Fleisch-
87) Ochs, a. a. O. II, S. 1531.; VI, S. 531.
88) Ochs, a. a. O. II, S. 153 ff.; V, S. 143 ff.
89) Ochs, a. a. O. VI, S. 531.
90) Ochs, a. a. O. II, 8. 153 ff.; VI, S. 531.
91) Ochs, a. a. O. II, S. 153ff.; V, S. 145; Fechter, a. a. O., S. 42; Boos,
aa. O., 8. 238.
350 Miszellen.
verkauf konzentriert war, als Bezugsquelle gebunden. Alles Fleisch,
das sie zum Wiederverkauf kauften, mußte allen Ansprüchen der Rein-
lichkeit und Güte genügen. Ein Schwein, das für eine Hausschlachtung
ausersehen war, mußte zuvor der amtlichen Fleischbeschau unterworfen
werden. Auch durften die Köche zur Herstellung von Würsten keine
Rinderdärme verwenden ??). Alle diese Bestimmungen waren für die
Mittel- und Kochwirte erlassen. Um so mehr aber dürften sie oder
ähnliche für die Herrenwirte in Kraft gewesen sein, über die ich keine
weiteren Nachrichten habe.
Die Preisregulierung ließ sich die Obrigkeit gleichfalls angelegen
sein, damit Billigkeit mit guter Qualität sich paare. Wir haben schon
gesehen, wie der Rat den Herrenwirten den Preis für ein Gastmahl
vorschrieb. Ebenso stellte er für die Küchenprodukte der Köche feste
Taxen auf, z. B. durfte zu Anfang des 15. Jahrhunderts von den Köchen
ein Ziemerling zu nur 4 A und eine Drossel oder Amsel zu 3 A ver-
kauft werden 931.
Naturgemäß spielte im Wirtegewerbe der Weinausschank eine be-
deutende Rolle. Dem Weinverkauf der Wirte waren enge Schranken
gezogen. Kein Wirt war ursprünglich berechtigt, Wein in seinen Keller
zu legen, abgesehen von Wein zum persönlichen Konsum der Familie
oder vom Eigengewächs. Er mußte allen Wein, den er seinen Gästen
vorsetzen wollte, erst zu offenem Zapfen bei einem Weinschenken holen
lassen. Noch am Ende des 14. Jahrhunderts schwuren die Wirte einen
Eid dieses Inhalts. Sollte jedoch ein Gast noch zu so später Stunde
Wein bestellen, wo alle Weinschenken schon geschlossen hatten, dann
war es dem Wirt ausnahmsweise erlaubt, von seinem Privatwein dem
Gaste aufzuwarten. Er mußte jedoch nachträglich am anderen Tage
die abgegebene Quantität am Zapfen kaufen um den gleichen Preis, den
er dem Gast gemacht hatte 94).
Doch allmählich trat eine Milderung dieser rigorosen Bestimmungen
ein, zunächst zugunsten der Herrenwirte. Sie erhielten das Recht,
selbst Wein einzulegen unter der Bedingung, ihn nur an ihre Gäste,
nicht aber über die Straße auszuschenken 28). Im Jahre 1462 aber
wurden sie darauf aufmerksam gemacht, daß diese Erlaubnis nur dem
zugute kommen sollte, der all seinen Wein versiegeln und verungelden
ließ; erfüllte einer diese Bedingung nicht, so sollte dieser sich an die
alte Vorschrift des Weinkaufs am Zapfen halten. Einige Zeit später
erhielten jedoch schon wieder 2 Herrenwirte das Privileg, auch ohne
Ungeldbezahlung Wein im Keller führen zu dürfen. Im Jahre 1484
hingegen trat wieder ein radikaler Umschlag ein: jeder Wirt mußte
seinen Bedarf an Wirtschaftswein nur am Zapfen bei einem Wein-
schenken decken. Doch schon 1487 wurde das Zugeständnis von 1462
fast im alten Umfang erneuert; nur lief dabei die eine Abänderung
mit unter, daß der Wein verungeldet werden sollte, ehe er besiegelt
92) Ochs, a. a. O. II, S. 386; V, S. 143 ff.; Fechter, a. a. O., S. 42.
93) Fechter, a. a. O., S. 45.
94) Ochs, a. a. O. II, S. 386.
95) Ochs, a. a. O. II, S. 153 f.
— eme ,
Miszellen. 351
und in den Keller gebracht wurde, und daß von ihm nur auswärtigen,
nicht aber einheimischen Gästen gereicht werden durfte. Im Jahre
1495 endlich ließ der Rat alle unbequemen Beschränkungen fallen.
Die Herrenwirte konnten Wein für ihre Gäste einlegen gegen Bezahlung
des Ungeldes, das gerade wie bei den Weinschenken erhoben wurde ? 6).
Für dieses sogenannte Weinrecht hatten im 16. Jahrhundert die Herren-
wirte die einmalige Zahlung von 100 fl. zu leisten. Der Herrenwirt
hatte ferner die Berechtigung, verschiedene Sorten Wein zu gleicher
Zeit den Gästen aufzutischen im Gegensatz zu den Mittelwirten, die
auf einmal nur eine Sorte ausschenken durften. Allerdings bezahlten
die Mittelwirte auch nur 50 fl. für die Erlangung des Weinrechts, und
ihre Beschränkung auf eine Marke erscheint daher gerechtfertigt 97).
Ursprünglich war es auch den Mittelwirten und den Köchen untersagt,
Schenkwein im Keller zu halten. Aber auch bei ihnen können wir die
gleiche Entwicklung beobachten wie bei den Herrenwirten, die schließ-
lich endigte in der Erwerbung des Weinrechts 98).
‚ Der Widerstand gegen die Ausdehnung des Weinschankrechtes der
Wirte ging von der Weinleutenzunft aus, die im Wirtegewerbe eine
scharfe Konkurrenz sich erstehen sah. Auf ihr Betreiben und ihre
Vorstellungen dürfte wohl die oben skizzierte hin- und herschwankende
Haltung zurückzuführen sein, die der Rat in dieser Frage während der
zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einnahm. Die Opposition der
Weinleute ist um so erklärlicher, wenn wir bedenken, daß die Wirte
nicht ihrer, sondern der Gartnerzunft angegliedert waren. Neben diesem
Kampf um das Weinrecht der Wirte wurde daher gleichzeitig noch ein
anderer Kampf ausgefochten, der Kampf der beiden Zünfte um die Mit-
gliedschaft der Wirte. Schon 1484 mußte der Rat erkennen, daß künftig-
hin alle Wirte einmal jährlich bei den Gartnern die Ordnung schwören
sollten 99). Daraus geht hervor, daß die Sympathien der Wirte selbst
nicht durchweg auf seiten der gewissermaßen angestammten Gartner-
zunft waren. Die Herrenwirte, die ja den größten Weinverbrauch
hatten, und von denen einige nicht der Gartnerzunft angehörten, bildeten
im Jahre 1504 die Hauptursache eines solchen Streites, den der Rat
im wesentlichen auf Grund des status quo schlichtete: jeder Herrenwirt
soll in der Zunft bleiben, deren Mitglied er gerade war; dagegen soll
alljährlich bei der Gartnerzunft durch alle Wirte gemeinsam die Be-
schwörung der Wirteordnung stattfinden. Die Gartnerzunft übt die Ge-
werbegerichtsbarkeit und zieht die Strafen ein. Ein gartnerzünftiger
Wirt aber hat die vierfache Buße zu bezahlen, wenn er im Aerger
über eine über ihn verhängte Strafe aus der Gartnerzunft austreten
wollte 100),
Als gegen Ende des Mittelalters die Unsitte des Zutrinkens von
96) Ochs, a. a. O. V, S. 143.
97) Ochs, a. a. O. VI, S. 531: Verkauf von Weinrechten an den Herrenwirt
„zum Wilden Mann": und an die Mittelwirte „zum Schwarzen Ochsen“ und „zur Kanne“.
98) Ochs, a. a. O. II, S. 153 ff.; V, S. 143 ff.
99) Ochs, a. a. O. V, S. 42.
100) Ochs, a. a. O. II, 8. 153 ff.
352 Miszellen.
den Regierungsinstanzen bekämpft wurde, fiel den Wirten wie über-
haupt allen, die Weinausschank trieben, eine wichtige, wenn auch für
den einzelnen weniger angenehme Aufgabe zu. Sie hatten darüber zu
wachen, daß bei ihnen das Verbot des Zutrinkens beachtet wurde.
Leuten, welche die Absicht hatten, dieser Unsitte zu fröhnen, durften
sie keinen Wein verabreichen bei einer Strafe von 5 € 101), Ihre
bezüglichen Anweisungen wurden bei der endgültigen Durchführung der
Reformation in Basel 1529 noch verschärft. Unter harter Strafe mußten
sie alle Zutrinker zur Anzeige bringen, und sie hatten die Pflicht, auf-
klärend in dieser Sache ihren Gästen gegenüber zu wirken; denjenigen
Gästen, die von dem Verbote keine Kenntnis hatten, sollten sie darüber
Mitteilung machen. Wenn sie aber dieselben in ihrer Unkenntnis sich
zutrinken ließen, ohne sie gewarnt zu haben, so bedingte diese Nach-
lässigkeit gleichfalls eine gehörige Bestrafung 102). Gleichzeitig wurde
der Wirtshausschluß für Sommer und Winter auf die Zeit angesetzt,
wo das Glöcklein im Münster „verläutet“ hätte. Dann durfte kein
Wein mehr ausgeschenkt werden, und „alle Gäste und Gesellen sollten
heim und in ihre Ruhe gewiesen werden“. Ein Wirt, der seine Gäste
sitzen ließ, hatte 1 #8 zu büßen 108),
101) Ochs, a. a. O. V, S. 189, Anmerkung 1.
102) Ochs, a. a. O. V, S. 733 ff. (Allgemeine Verordnung über die Reformation
vom 1. April 1529.)
103) Ochs, a. a. O. V, S. 735. Eine ähnliche Verordnung war schon in der
Konzilszeit erlassen worden, „da das heilig Concilium bei uns ist wegen großer Sache
der Christenheit, deswegen jedermann desto züchtiger und ernsthafter sin soll“; vgl.
Wackernagel, a. a. O. I, 8. 489.
Miszellen. 353
XI.
Beiträge zur Fideikommissstatistik.
Von Dr. Friedrich Lenz.
Die Daten, welche die Erhebungen der Reichsstatistik über land-
wirtschaftliche Betriebe!) einer- und die preußische Fideikommiß-
statistik ?), andererseits für die Jahre 1895 und 1907 bieten, legen
erneut®) den Gedanken nahe, beide Arten der Erhebung auf ihre Ver-
gleichbarkeit zu prüfen und aus den nach möglichster Ausschaltung
aller Fehlerquellen verbleibenden Ziffern die in dem 12-jährigen Zeit-
raume eingetretenen Veränderungen anteilmäßig zu berechnen. Dies
soll im folgenden — zunächst für die Einheiten der landwirtschaft-
lichen Betriebsstatistik, sodann nach dem Umfange der landwirtschaftlich
genutzten Fläche — versucht werden.
I.
Die Schwierigkeit, welche sich jeder Berechnung des Anteils der
Fideikommisse an Zahl und Fläche der landwirtschaftlichen Betriebe
entgegenstellt, liegt in dem Umstande, daß die preußische Fidei-
kommißstatistik diese Einheiten der Reichsstatistik unberücksichtigt
läßt4); stets ergeben sich die folgenden Mißstände: einmal, daß in den
Fideikommissen eine statistisch nicht erfaßbare Mehrzahl landwirt-
schaftlicher Betriebe steckt und daher die Zahl der Fideikommisse
stets nur ein Minimum ihres Anteils an der Zahl der landwirtschaft-
lichen Betriebe überhaupt ergibt; zweitens, da die preußische Statistik
jede Fideikommißeinheit zu dem ihren Hauptstock enthaltenden Ver-
waltungsbezirk ausweist5), daß die Fläche der Fideikommisse an der
Fläche der in jedem Bezirk belegenen landwirtschaftlichen Betriebe
nicht meßbar ist‘). Daraus verbietet sich hier jedes Herabgehen auf
1) Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 112, S. 10—49; Bd. 2121a, S. 248—305.
2) Zeitschrift des Preußischen Statistischen Bureaus, 1897 I, S. 1—22, des Preußischen
Statistischen Landesamts, 1909 IV, S. 301—353.
3) S. Conrad in diesen Jahrb., Bd. 16, N. F. S. 121—170.
4) Vgl. Zeitschr. d. Preuß. Stat. Landesamts, 1909 IV, S. 345—346.
5) Vgl. Zeitschr. a. a. O. S. 345.
6) Es ergab sich, daß in den westlichen Landesteilen die Fideikommißfläche,
die in Vergleich gezogene landwirtschaftliche Betriebsfläche zum Teil um ein Beträcht-
liches überstieg; am stärksten in Westfalen und Hohenzollern.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 23
354 Miszellen.
irgendeine geringere Verwaltungseinheit als das gesamte Staatsgebiet;
für dieses geben wir nachstehend den
Anteil der Fideikommisse an Zahl und Fläche der land-
wirtschaftlichen Betriebe in Preußen 1895 und 1907.
Zahl Fläche
1895 1907 1895 1907
der Betriebe 3 308 126 3 400 144 28479739 ha 28512874 ha
„ Fideikommisse 1045 1195 2121412 „ 2299797 „
vom Hundert 0,03 0,04 7,45 8,07
Während die Fideikommisse an der Zahl der landwirtschaftlichen
Betriebe mit einem — auch unter Berücksichtigung des oben Gesagten
— verschwindend geringem Satze teilnehmen, zeigt ihr Anteil an der
Fläche der Landwirtschaftsbetriebe mit rund !/,, in 1907 gegen rund
1/,,; in 1895 sich ihrem mit 6,09 bezw. 6,6 v. H. berechneten Anteile am
Gesamtumfange des preußischen Staates!) nicht unbeträchtlich über-
legen; nach Zahl wie Fläche ist ein verhältnismäßig starkes Wachsen
der Anteilsziffer zu beobachten. — Ein genaueres Bild von der Be-
deutung des Fideikommißanteils erhalten wir, wenn wir die Fidei-
kommisse von 100 ha und mehr Fläche — es sind 1895 wie 1907
99,80 v. H. der Fideikommißfläche — zu den Betrieben dieser Größen-
klasse in Beziehung setzen; es ergibt sich dann der
Anteil der Fideikommisse am landwirtschaftlichen
Großbetriebe in Preußen 1895 und 1907.
Zahl Fläche
1895 1907 1895 1907
_ der Betriebe von 100 ha
und mehr 20 390 19 117 9331621 ha 8 291 936 ha
der Fideikommisse von
100 ha und mehr 951 1078 2117 262 „ 2 295 099 „
vom Hundert 4,66 5,64 22,69 27,68
Mit durchschnittlich !/,, der Zahl und !/, der Fläche aller Grob-
betriebe stellt sich der Anteil der fideikommissarisch gebundenen Groß-
betriebe bereits als recht beachtenswert dar; eine Verschiebung zu-
gunsten der fideikommissarisch gebundenen Fläche um 1/,, der
Gesamtfläche ist das hervorspringende Ergebnis dieses Jahrzwölfts, zu
dem mehr noch als das Wachsen der Fideikommisse der Rückgang in
Zahl und Fläche der landwirtschaftlichen Großbetriebe ?) beigetragen hat.
Noch bedeutender wird der Anteil der Fideikommisse, wenn wir,
einem in der preußischen Statistik gegebenen Fingerzeige folgend 3) die
1) Zeitschr. d. Preuß. Stat. Bureaus, 1897 I, S. 3, d. Preuß. Stat. Landesamts, 1909 IV,
S. 304.
2) Ihr Anteil ging von 0,62 auf 0,56 v. H. der Zahl und von 36,28 auf
29,08 v. H. der Fläche aller Betriebe zurück.
3) A. a. O. 1909 S. 346 wird festgestellt, daß nach Ausweis des verarbeiteten
Materials die Fideikommisse von 1000 ha und mehr ganz regelmäßig aus einem oder
mehreren Betrieben von 200 ha und mehr beständen.
Miszellen. 355
Betriebe von 200 ha und mehr mit den Fideikommissen von 1000 ha
und mehr in Beziehung bringen. Jene machten 1895 26,38, 1907
23,07 v. H. der Fläche aller landwirtschaftlichen Betriebe, diese 1895
88,77, 1907 88,40 v. H. der Fläche aller Fideikommisse aus; ihre
Gegenüberstellung erfaßt somit das Hauptgebiet der Fideikommißbildung.
Um zugleich den Umfang der sogenannten Latifundienbildung kennen
zu lernen, fügen wir die Zahlen der Fideikommisse von 10000 ha und
mehr bei!) und erhalten:
Zahl Fläche
1895 1907 1895 1907
der Betriebe von 200 ha
und mehr 11 693 10 881 7513506 ha 6576753 ha
der Fideikomınisse von
1000 ha und mehr 461 555 1915448 „ 2032466 „
vom Hundert 3,94 5,10 25,49 30,90
der Fideikommisse von
10000 ha und mehr 29 32 617 359 ha 639014 ha
vom Hundert 0,25 0,29 8,22 11,24
Danach ist die Hauptklasse der Fideikommisse von !/, in 1895
auf annähernd !/, der Fläche mit 1],, der Zahl der zu ihrer Re-
krutierang dienenden Größenklassen der landwirtschaftlichen Betriebe in
1907 angewachsen; auch hier ist !/,, der zur Verfügung stehenden
Fläche in diesem Zeitraum fideikommissarisch gebunden worden, während
der Anteil der gebundenen Betriebe kleiner, ihrer Fläche größer ist als
bei Gegenüberstellung der Großbetriebe schlechthin. Auch die ganz
großen Fideikommisse von 10000 ha und mehr umfassen in 1907 be-
reits über 1/ der verglichenen Fläche, während ihre Anzahl äußers
gering bleibt; ihr Flächenanteil ist in der verglichenen Zeit verhältnis
mäßig am stärksten, die Fideikommißfläche überhaupt verhältnismäßig
am schwächsten gewachsen, während das Wachstum der Fideikommisse
mit 100 bezw. 200 ha und mehr Fläche sich in der Mitte hält. In
den absoluten Zahlen ist bei den Fideikommissen, gegenüber dem Still-
stand der allerkleinsten Fideikommisse?) eine gleichmäßige Zunahme in
den oberen Klassen festzustellen, während bei den landwirtschaftlichen
Betrieben die bereits erwähnte Abnahme des Großbetriebes sich nach
obenhin verschärft’); hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Anzahl von
Betrieben und Fideikommissen fordert der oben genannte Uebelstand
mit der Größe der Fideikommisse wachsende Berücksichtigung 4).
1) Daß andererseits die Fideikommisse der obersten Größenklassen sich über-
wiegend nicht aus Betriebseinheiten von annähernd entsprechender Größe zusammen-
setzen, beweist der Umstand, daß 1907 die Fläche der Fideikommisse von 10000 ha
und mehr bereits die der landwirtschaftlichen Betriebe von 1000 ha und mehr be-
trächtlich übertraf.
2) Von unter 100 ha (s. oben); sie dürften häufig nur Grenzsplitter sein, liegen
aber überwiegend im Westen.
3) Z. B. sank die Fläche der Betriebe von 1000 ha und mehr von 1895 auf 1907
v. H. auf 61, während die Fläche der Fideikommisse gleicher Größenklasse auf 106 stieg.
4) Beiläufig sei bemerkt, daß die gleiche Berechnung für Zahl und Fläche der
Hauptbetriebe das Bild noch etwas zugunsten des Fideikommißanteils ändern würde.
23*
356 Miszellen.
II.
Innerhalb der hier eingehaltenen Grenzen erscheint die Berechnung
des fideikommissarischen Anteils an den landwirtschaftlichen Betrieben
statistisch einwandsfrei, doch führt sie noch nicht zu inhaltlich voll
befriedigenden Ergebnissen; eine Fideikommißstatistik darf weder von
der Ermittelung des für sie ja besonders bedeutsamen Waldbestandes
noch, angesichts der örtlich so ungleichen Verteilung des Fideikommil-
besitzes von seiner genaueren geographischen Erfassung absehen.
Beides ermöglicht ein anderer Teil der preußischen Statistik, welcher
Fläche und Waldbestand der Fideikommisse für die einzelnen Ver-
waltungsgebiete berechnet!). Setzen wir seine Angaben in Beziehung
zu den Daten der Reichsstatistik über die Art der Bodenbenutzung, so
müssen wir freilich auf die Zugrundelegung der Einheiten der Betriebs-
statistik — hinsichtlich der weniger wichtigen Zahl der Betriebe und
Fideikommisse dauernd, für die Größenklassen der erfaßten Fläche
wenigstens hinsichtlich der unteren Verwaltungseinheiten — Verzicht tun,
auch gestattet uns die preußische Statistik nicht die Berechnung der
landwirtschaftlich genutzten Fideikommißfläche im engeren Sinne, sondern
nur die Ausschaltung des Holzlandes unter Einbehaltung mithin des
Garten-, Oed- und Hauslandes, während die Reichsstaustik das Oed-
und Hausland von der landwirtschaftlich genutzten Fläche trennt;
immerhin werden wir so die Frage, zu welchem Teile die landwirt-
schaftlich genutzte Gesamtfläche fideikommissarisch gebunden ist, mit
noch etwas größerer Bestimmtheit beantworten können, als dies bereits
durch die Beziehung der Fideikommißziffern auf die Gesamtfläche des
Staatsgebietes und seiner Teile geschehen ist?) Mit diesen Ein-
schränkungen geben wir zunächst den
Anteil der Fideikommisse an der landwirtschaftlich
genutzten Fläche in Preußen 1895 und 190%.
Landwirtschaftlich genutzte Fläche davon fideikommissarisch gebunden
1895 1907 1895 1907
21 372025 ha 20 984 025 ha 1166 930 ha 1234 277 ha
vom Hundert: 5,46 ha 5,58 ha
Ungleich der Zahl und Fläche der landwirtschaftlichen Betriebe
hat die landwirtschaftlich genutzte Fläche in dem zugrunde liegenden
Zeitraume sich verringert (um 388000 ha), während der Fideikommib-
anteil auch hier sich — wenngleich langsam — vermehrt hat (mit rund
67000 ha zu 178000 ha Zunahne der Fideikommißfläche überhaupt);
die Verhältniszahl zeigt ein entsprechendes Wachstum, bleibt aber in
1895 mit 2, 1907 mit gut 2 v. H. unter dem fideikommissarischen An-
teil an der Betriebsfläche überhaupt. Die Ausschaltung der Wald-
flächen ergibt somit die erwartete Verringerung des fideikommissarischen
Anteils. — Wir schließen hieran eine Uebersicht über den
1) S. a. a. O. 1897, S. 3, 1909, S. 304—305.
2) Vgl. a. a. O. 1909, S. 337—338 und die Tabelle S. 339.
Miszel en. 357
Anteilder Fideikommisse an der landwirtschaftlich
genutzten Fläche in Preußen nach Provinzen und Regie-
rungsbezirken 1895 und 1907.
Landwirtschaftlich genutzte davon fideikommissarisch
Provinz Fläche gebunden
1895 | 1907 1895 vH 1907 H
Hektar ha Pr ha Nee
o = e — = ` ee
Ostpreußen 2553 985 2505979 | 88 215 (3,45)| 96719 (3,86)
Westpreußen 1662 913 1 623 847 49 186 (2,96) 58 163 (3,58)
Brandenburg 2 247 178 2192613 |150678 (6,71)153 127 (6,08)
Pommern 2041425 1999 001 [150952 (7,33)1169 923 (8,50)
Posen 2 087 749 2 044 848 96 328 (4,61)121 192 (5,93)
Schlesien 2 580 448 2531707 |254 825 (9,88),277 968 (10,98)
Sachsen 1731 877 1711107 | 85364 (4,93)| 71469 (4,19)
Schleswig-Holstein I 442 204 1421661 |11206073 (7,51) 115 838 (8,15)
Hannover 1751 282 1750 223 44 936 (2,57)| 42047 (2,40)
Westfalen 1 081 660 1 061 846 70 502 (6,52)| 65 256 (6,15)
Hessen-Nassau 749 807 735 202 28 083 (3,75)| 20 845 (3,65)
Rheinland 1378 509 I 343 583 30 786 (2,23)| 31670 (2,38)
Hohenzollern 62 988 62 408 4402 (Dani 4059 (6,50)
Regierungsbezirk :
1. Königsberg 1 484 773 1001 749 78 239 (5,27) 80207 (8,01)')
2. Gumbinnen 1069 212 772 368 9977 (0,»3)| 9858 (1,28)!)
3. Allenstein — 731 862 — — 6655 (o,sı)!)
4. Danzig 511343 503 064 6 702 (1,31) 6583 (1,31)
5. Marienwerder 1151570 1 120 783 42 485 (3,69)| 51580 (4,60)
6. Potsdam mit Berlin] ı 213 818 1 182 803 91 906 (7,57) 95633 (8,09)
7. Frankfurt 1033 359 1009 810 58 772 (5,69) 57494 (5,70)
8. Stettin 858 155 841639 50033 (5,83) 60008 (7,13)
9. Köslin 877 252 857890 | 37 557 (4.28) 42 125 (4,93)
10. Stralsund 306 019 299 472 63 361 (20,70)| 67 789 (22,64)
11. Posen 1 274.044 1 252 781 70 461 (5,53) 91613 (7,31)
12. Bromberg 813 704 792 067 25 867 (3,18)| 29579 (3,73)
13. Breslau 982 477 965 061 |10291ı (10,47)125 754 (13,08)
14. Liegnitz 766 317 749973 | 44225 (5,77)| 44209 (5,90)
15. Oppeln 831655 816673 |107 688 (12,95)|108006 (13,35)
16. Magdeburg 776 081 769964 | 45744 (5,89) 39685 (5,15)
17. Merseburg 726 959 716 108 33 164 (4,56)| 25577 (3,57)
18. Erfurt 228 836 225 035 6456 ae] 6207 (2,76)
19. Schleswig 1442 204 1421661 |112 673 (7,81) 115 838 (8,15)
20. Hannover 286 758 290 606 6634 (2,31) 5680 (1,95)
21. Hildesheim 277 520 273 802 10 205 (3,71)| 9476 (3,45)
22. Lüneburg 460 286 457 467 9 602 (2.08) 7936 (1,73)
23. Stade 315 479 310 648 4618 (143) 4335 (1,3%)
24. Osnabrück 210 920 221 185 6323 (2,99) 5873 (2,65)
25. Aurich 200 319 196515 | 7553 (Gaz 8749 (4,45)
28. Münster 398 190 390 287 38 166 (9,58)| 34011 (8,71)
2. Minden 325 088 321642 | 16567 (5,10)| 17917 (5,57)
25. Arnsberg 358 382 349917 | 15770 (4,40)| 13 328 (3,81)
1) Die Zahlen sind wegen der Neubildung des Regierungsbezirks Allenstein nicht
vergleichbar
358 Miszellen.
Landwirtschaftlich genutzte davon fideikommissarisch
a Fläche gebunden
Deia 1895 | 1907 1895 m. | 1907 5
Hektar We EE e ZE
29. Cassel 505 123 495 396 19 786 (3,92) | 19 301 (3,90)
30. Wiesbaden 244 685 239 806 8 297 (3,38) | 7544 (3,15)
31. Coblenz 261 684 256737 6310 (2,41)| 7611 (2,96)
32. Düsseldorf 355 786 345 735 13680 (3,85) | 14 538 (4,20)
33. Cöln 226 142 220 231 6 109 (2,70)| 5 380 (2,44)
34. Trier 326 824 319 006 2341 (0,72)! 1721 (0,54)
35. Aachen 208 073 201 874 2346 (1,13)! 2420 (1,20)
36. Sigmaringen 62 988 62 408 4 402 (6,99)| 4059 (6,50)
Es ist für die Provinzen östlich der Elbe durchweg ein Wachs-
tum der fideikommissarisch gebundenen Fläche festzustellen, am stärksten
für Posen und Schlesien (um 1,32 bezw. 1,10 v. H. der genutzten
Fläche), am schwächsten für Brandenburg (mit 0,27 v. H.); westlich
der Elbe hat nur die Rheinprovinz eine Zunahme des Fideikommil-
anteils (mit 0,10 v. H.), alle anderen eine Verminderung aufzuweisen,
darunter Sachsen mit 0,74 und Hohenzollern mit 0,49 v. H. Verhält-
nismäßig wie an sich den meisten Fideikommißbesitz hat Schlesien mit
rund !/, der landwirtschaftlich genutzten Fläche; es folgen Pommern
mit gut und Schleswig-Holstein mit fast 1/,,; über den Staatsdurch-
schnitt hinaus gehen ferner Brandenburg, Hohenzollern, Westfalen und
— in 1907 zum ersten Male — Posen, darunter bleiben Sachsen, Ost-
preußen, Hessen-Nassau, Westpreußen, Hannover (mit 2,40), das Rhein-
land (mit 2,33 v. H.). Im Durchschnitt beträgt die fideikommissarische
Bindung der landwirtschaftlich genutzten Fläche in den 7 Provinzen
des Ostens 6,85 v. H. in 1907 gegen 6,12 in 1895, in den 5 des
Westens (außer Hohenzollern) 3,74 gegen 4,00; sie geht im Osten also
mit rund 1 v. H. der Fläche über den Staatsdurchschnitt hinaus,
während sie im Westen um rund 2 v. H. hinter ihm zurückbleibt,
dieser Unterschied im Anteil an der landwirtschaftlich genutzten Fläche
zwischen Osten und Westen ist in starker Zunahme begriffen. — Die
Statistik der Regierungsbezirke ergänzt das so gewonnene Bild mehr-
fach: Von den östlichen Regierungsbezirken haben eine Verminderung
zwar nicht des Anteils, aber der Fideikommißfläche aufzuweisen Danzig,
Frankfurt, Liegnitz; im Westen sind die Regierungsbezirke Aurich und
Minden von dem allgemeinen Rückgange, in der Rheinprovinz Cöln und
Trier von der Zunahme des Fideikommibßanteils unberührt geblieben.
Dieser ist am beträchtlichsten im Regierungsbezirk Stralsund mit bald
LI, der landwirtschaftlich genutzten Fläche, Oppeln und Breslau mit je über
Ida, Münster, Schleswig, Potsdam, Königsberg mit je rund !/, 5; er ist am
geringsten in Trier mit 0,54, Allenstein (0,91), Aachen (1,20) und Gum-
binnen (1,28), — also im äußersten Westen und Osten der Monarchie.
Die Nichtausschaltung des Oed- und Unlandes dürfte den Fidei-
kommißanteil in den vorzugsweise dafür in Frage kommenden Bezirken
(Provinz Hannover) um ein geringes zu hoch erscheinen lassen; andrer-
seits ist zu beachten, daß — nach Angaben der preußischen Statistik!)
1) Zeitschr. a. a. O., 1909, S. 345.
Miszellen. 359
— die Fideikommisse „ganz überwiegend“ auf gegenüber dem Durch-
schnitt besseren Böden sich befinden.
Wir haben oben festzustellen gesucht, welchen Anteil die Fidei-
konmisse an Zahl und Fläche der landwirtschaftlichen Großbetriebe
haben; lassen wir im folgenden die geringe Quote der Fideikommisse
von unter 100 ha unberücksichtigt, so stellen sich einer Beziehung der
Fideikommißfläche auf die landwirtschaftlich genutzte Fläche der Groß-
betriebe (von 100 ha und mehr) im ganzen Staat keine Hindernisse in
den Weg. Wir erhalten sonach den
Anteil der Fideikommisse an derlandwirtschaftlich
genutzten Fläche der Großbetriebe in Preußen 1895
und 1907.
Landwirtschaftlich genutzte Fläche davon fideikommissarisch gebunden
1895 1907 1895 1907
6612469 ha 5 906 207 ha 1 166 930 ha 1 234 277 ha
vom Hundert: 17,65 ha 20,90 ha
Entsprechend dem starken Rückgange der im Großbetriebe genutzten
Fläche (um 706000 ha gegenüber 388000 für alle Betriebe) ist das
Anwachsen der Fideikommißfläche stärker als bei der in allen Betrieben
genutzten Fläche, von gut !/, auf reichlich !/,; damit bleibt sie doch
unter dem gut !/, betragenden Anteil der Fideikommisse an der Fläche
aller Großbetriebe, so daß die Ausschaltung der Waldflächen sich hier
in gleicher Weise bemerkbar macht 1).
Wollen wir auch noch den Anteil der Fideikommisse von 1000 ha
und mehr an der wirtschaftlich genutzten Fläche der Betriebe von
200 ha und mehr — wie oben für Zahl und Fläche überhaupt — be-
rechnen, so bietet uns die vorliegende Statistik keine unmittelbare
Handhabe; ein annäherungsweise richtiges Ergebnis werden wir er-
halten, wenn wir von der wirtschaftlich genutzten Fideikommißfläche
den oben errechneten Anteil der Fideikommisse von 1000 ha mit rund
10 v. H. in Abzug bringen. Wir erhalten dann
Landwirtschaftlich genutzte Fläche davon fideikommissarisch gebunden
1895 1907 1895 1907
5414467 ha 4741447 ha 1050 237 ha 1110849 ha
(Betriebe von 200 ha und mehr) (Fideikommisse von 1000 ha und mehr)
vom Hundert 19,40 23,43
Fast von 1, auf H. der zu seiner Bildung dienenden Fläche ist
danach — mit der gemachten Einschränkung — der fideikommissarisch
gebundene Anteil an der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Preußen
innerhalb eines Jahrzwölfts gestiegen; er bleibt damit unter dem Anteil
an der Betriebsfläche überhaupt, dessen Wachstum er (mit 1/,, der
jedesmaligen Fläche) erreicht, und übertrifft in gleichem Maße wie dort
den fideikommissarischen Anteil an der Fläche aller Großbetriebe, sowie
an der landwirtschaftlich genutzten Fläche überhaupt. Um genau !/,
bleibt er hinter dem Anteil an der Betriebsfläche überhaupt zurück ;
1) Leider gestattet das vorliegende Material ein Herabgehen auf Provinzen und
Regierungsbezirke nicht; es ergeben sich auch hier die oben in Anm. 6 zu S. 353 ge-
nannten Mißstände. Doch sei erwähnt, daß für den Regierungsbezirk Stralsund die
Höchstziffer des fideikommissarisch gebundenen Großbetriebes mit 30,82 v. H. der ver-
glichenen Fläche sich ergäbe.
360 Miszellen.
diese Zahl verschiebt sich zuungunsten des Anteils an der landwirt-
schaftlich genutzten Fläche im ganzen und wächst bei den Betrieben
von 100 ha und mehr, so daß — auch unter Berücksichtigung der Fidei-
kommisse von unter 100 ha — der Anteil der Fideikommisse am land-
wirtschaftlich genutzten Boden eine geringe verhältnismäßige !) Steige-
rung erfährt. — Berechnen wir in gleicher Weise den Anteil der
Fideikommisse von 10000 ha und mehr (mit 3,4 bezw. 3,6 v. H. der
Fideikommißfläche, so ergibt sich ihr Anteil an der hier zugrunde ge-
legten landwirtschaftlich genutzten Fläche mit 396748 und 443340 ha
oder 7,33 und 9,35 v. H. Annähernd jw der verglichenen Fläche
entfällt somit bereits auf die ganz großen Fideikommisse, gegenüber 1
der entsprechenden Betriebsfläche; die Vermehrung betrug 2 v. H. der
genutzten Fläche gegenüber 3 v. H, der Betriebsfläche im Jahrzwölft.
Sie war stärker als die der Fideikommisse von 100 und 200 ha und
mehr, beträchtlich stärker als des Fideikommißanteils überhaupt, so daß
auch hier das stärkste Wachstum bei den sogenannten Latifundien liegt.
— In den absoluten Zahlen ist die stärkere Abnahme in den höheren
Klassen der landwirtschaftlichen Betriebe auch für die landwirtschaft-
lich genutzte Fläche festzustellen; die Fideikommisse zeigen eine geringe
absolute Zunahme in der obersten, desgleichen in der Stufe von 1000 ha
und mehr, auf die (mit 60000 ha) rund neun Zehntel der Gesamt-
zunahme entfallen.
Vergleichen wir — um uns ein Gesamtbild von dem heutigen
Stand der Fideikommißbildung zu verschaffen — zunächst das Ergebnis
unserer, für Staat, Provinzen uud Regierungsbezirke aufgestellten Be-
rechnung des fideikommissarischen Anteils an der landwirtschaftlich ge-
nutzten Fläche (II) mit der bereits erwähnten amtlichen Ermittelung ?)
des Fideikommißanteils an der Gesamtfläche unter beiderseitiger Aus-
schaltung der Waldungen (I), so ergibt sich die folgende Gegenüber-
stellung:
I (v.H.) II I (v.H.) U
(in 1907) Staat 4,6 5,88 Marienwerder 3,8 4,60
Potsdam 6,7 8,09
Ostpreußen 3,2 3,86 Frankfurt 4. 5,10
Westpreußen er 3,58 Stettin 6,1 7,18
Brandenburg 5,8 6,98 Kösli X St
= S öslin 3,9 4,93
Pommern 7,1 8,50 É
P Gi Stralsund 19,9 22,64
osen 5,2 5,93 P ? 6 ~ g
s š S osen ,5 7,31
Schlesien 9,7 10,98 z
4 Bromberg 3,2 3,73
Sachsen 3,6 4,19 z
; i 3 Breslau 11,7 13,03
Schleswig-Holstein 6,5 8,15 Lieeni
Hannover 1,3 2,40 e 51 5,90
U DH O 1l
` ppeln 11,5 13,35
Westfalen 4,5 6,15
2 5 x Magdeburg 4,4 5,15
Hessen-Nassau 2,8 3,65 S È
€ Merseburg 3,1 3,57
Rheinland 1,7 2,33 De
Hohenzollern 5,4 6,50 Erinrt 2,8 SCH
o T Schleswig 6,5 8,15
Königsberg 6,9 8,01 Hannover 1,2 1,95
Gumbinnen 1,1 1,28 Hildesheim 2,7 3,45
Allenstein 0,7 0,91 Lüneburg 0,9 1,73
Danzig 1,0 1,31 Stade 0,7 1,39
1) zu der Fläche minus Forst-, Haus- und Oedland.
2) Zeitschr. a. a. O. 1909 S. 337.
Miszellen. 361
I (v.H.) U I (v. H.) II
Osnabrück 1,1 2,65 Coblenz 2,1 2,96
Aurich 2,9 4,45 Düsseldorf 3,2 4,20
Münster 5,8 8,71 Cöln 1,9 2,44
Minden 4,2 5,57 Trier 0,4 0,54
Arnsberg 3,0 3,81 Aachen 0,8 1,20
Cassel 3,1 3,90 Sigmaringen 5,4 6,50
Wiesbaden 2,3 3,15
Demnach ist der Fideikommißanteil — wie zu erwarten stand —
an der landwirtschaftlich genutzten Fläche durchweg ein beträchtlich
höherer; in der Reihenfolge der Anteilziffern ergeben sich nur unbe-
deutende Verschiebungen. Die Nichtausschaltung des Oed- und Unlandes
auf der Fideikommilßseite hat — wie bereits angedeutet wurde — für
Hannover ein verhältnismäßig zu starkes Anschwellen der Ziffer II zur
Folge. Der Unterschied zwischen den durchschnittlichen Anteilziffern
für die öst- und westlichen Provinzen ist, am Staatsdurchschnitt gemessen,
bei der Reihe I (mit 5,77 bezw. 2,78 gegen 4,6) größer als bei der land-
wirtschaftlich genutzten Fläche, von der der Osten also einen im Verhältnis
etwas geringeren Anteil beansprucht. — Stellen wir ferner die für den
fideikommissarischen Flächenanteil der verschiedenen Größenklassen ge-
wonnenen Ziffern nebeneinander, so ergibt sich für den ganzen Staat in
1997 die folgende Uebersicht (Anteil der Fideikommißfläche):
Betriebsfläche Landwirtschaftlich
überhaupt genutzte Fläche
Betriebe überhaupt 8,07 e H. 5,88 v. H.
Großbetriebe (100 ha und mehr) 27:88 20,90 „ Ji
Betriebe von 200 ha und mehr
Anteil der Fideikom. von 1000 ha u. mehr 30,90 „ » AA
Anteil der Fideikom. von 10000 ha u. mehr I1,24 „ » ee
Gesamtfläche des Staates 6,6 v. H., ohne Wald 4,6 v. H.
Der mit der Verengerung der ihm offenstehenden Fläche zunehmende
Fideikommißanteil läßt erkennen, daß die Bindung des für ihn ganz
überwiegend in Betracht kommenden Großbetriebsanteils bereits in viel
höherem Maße fortgeschritten ist, als die gewohnte Beziehung auf den
gesamten Staatsumfang vermuten läßt; mit einer Verdreifachung des
heutigen Fideikommißbestandes dürfte zwar erst 1/, des Staatsgebietes,
aber beinahe die ganze heute für neun Zehntel aller Fideikommißbildung
dienende Fläche bereits erfaßt sein. Bei aller Beschränkung, welche
wir uns nach Art und Umfang unserer Untersuchungen auferlegen
mußten, glauben wir doch durch sie die Schlußworte der letzten
preußischen Statistik 1) bestätigt und mit Zahlen belegt zu haben: „Klar
ergibt sich aus vorstehender Uebersicht, daß in den meisten Landes-
teilen Preußens die fideikommissarische Bindung von Grundbesitz neuer-
dings in starker Zunahme begriffen ist, wobei allerdings zugleich die
für die Umwandlung in Fideikommisse in Betracht kommenden Be-
Sitzungen ihrer Fläche nach offenbar immer mehr zurückgehen“ 2)
1) Zeitschr. a. a. O. 1909, S. 353.
2) Die gesonderte Berechnung des Waldanteils der Fideikommisse s. Zeitschr. 1897,
8. 2 und 20, 1909, S. 341/3, des Anteils an den Grundsteuerreinerträgen ebenda, 1897,
8. 20/1 mit Tabelle S. 3; 1909, S. 344/5 mit Tabelle S. 305.
362 Miszellen.
XII.
Die Entwicklung des Viehstandes während der letzten
Dezennien in den hauptsächlichsten Staaten Europas.
Von Prof. Dr. K. Steinbrück.
Die folgende Tabelle ist eine teilweise Wiederholung und Fort-
führung der im Jahrgang 1893 Seite 588—91 dieser Jahrbücher ent-
haltenen Zusammenstellung. Entsprechend dem früher angenommenen
Satz ist ein Haupt Großvieh — 1 Rind = ®/, Pferd —= 2 Maultieren,
Mauleseln oder Eseln = 10 Schafen — 4 Schweinen — 12 Ziegen,
alles ohne Rücksicht auf die Altersstufen angenommen !).
In allen angeführten Ländern ist die Zahl des Haupt Großviehes erst
in den 60er Jahren auf je 1000 Einwohner im allgemeinen ständig und
erheblich gesunken, immerhin in der letzten Periode seit Anfang der
90er Jahre meist nicht mehr so bedeutend wie früher, eine Ausnahme
bilden Preußen und das Deutsche Reich, in denen im genannten Zeit-
raum im ersteren Falle eine Erhöhung, im letzteren keine Veränderung
eingetreten ist. Am ungünstigsten ist das Verhältnis zwischen der Zahl
der Einwohner und des Viehes im Königreich Sachsen, wo infolge der
starken Bevölkerungsdichtigkeit die Viehbestände weniger als die Hälfte
des Durchschnitts des Deutschen Reiches ausmachen ; ähnlich liegen die
Verhältnisse im britischen Reiche.
Bezeichnend ist, daß auf dem im Jahre 1868 eröffneten Londoner
Zentralmarkt für ausgeschlachtetes Vieh, dem größten Zentralhandels-
platz der Erde, für den Umsatz von Fleisch die heimische Zufuhr zur-
zeit nur noch etwa 20 Proz. der Gesamtmenge beträgt ?).
Den günstigsten Stand zeigen die ausgezeichneten Zuchtgebiete
Süddeutschlands (Bayern und Württemberg) und die angrenzende
Schweiz. Freilich ist dabei zu berücksichtigen, daß bei der angewandten
Berechnungsart die Aufzuchtsgebiete günstiger abschneiden als die Ge-
biete, in denen hauptsächlich Abmelkwirtschaft und Mast getrieben wird.
Die Zahlen lassen aber auch keine weittragenden Schlüsse auf die
Fleischproduktion zu, weil es nicht möglich ist, aus ihnen die Ver-
änderungen in der Viehhaltung und Viehzucht zu ersehen. Gewicht
und Frühreife der Tiere ist dauernd stark gestiegen. So betrug das
durchschnittliche Lebendgewicht in Deutschland in Kilogramm bei:
1) In neuester Zeit ist als Einheit wenigstens für die Berechnung des dem mensch-
lichen Konsum zur Verfügung stehenden Viehbestandes das Schaf vorgeschlagan, 10 Schafe
wären = 1 Rind, 1 Schaf = 1 Ziege, 3 Schafe = 1 Schwein zu setzen. Letzteres im
Hinblick darauf, daß bei der großen Zahl der jungen Schweine, welche mehr und mehr
vorherrschend werden, die Unterschiede weit geringer sind.
2) Mitteilungen der „D. 1.G.“, 1909, Stück 33, S. 517.
Miszellen. 363
1883 1892 1900
Kälbern, noch nicht 6 Wochen alt 5o 53 55
Kälbern, 6 Wochen bis 6 Monate alt 94 97 99
Jungvieh, '/,—2 Jahre alt 210 219 230
Sieten uud Ochsen, 2 Jahre alt und älter 466 497 531
Kühen, 2 Jahre alt und älter 380 416 443
Schweinen, 1 Jahr alt und älter 116 119 126
Besonders interessant ist ein Vergleich mit weiter zurückliegenden
Zeiten. Rudolf Martin macht in seiner Schrift „Der Fleischverbrauch
im Königreich Sachsen“, Dresden 1895, darüber eine Reihe von An-
gaben, die sich auf amtliches Material stützen. Nach ihm stellte sich
das Durchschnittsgewicht eines Schlachttieres in Leipzig auf:
Jahr Ochsen Kühe Schweine Kälber Schafe
1836 325 kg 175 kg 45 kg 30,0 kg 22 kg
1851 369 „ 237 „ 86 „ 35,0 „ 25 „
1894 405 HI 308 HI 96 HI 45,0 » 31 D
Als ein Einzelbeispiel für die Zunahme des Lebendgewichtes kann
die jüngst veröffentlichte Schilderung eines Wirtschaftsbetriebes der
Provinz Sachsen dienen. Im Jahre 1863 wurden in ihr 11 Stück Kühe,
ältere Bullen und Zugochsen, 5 Färsen und jüngere Bullen und 2 Kälber
gehalten mit einem Gesamtgewicht von 141 Ztr., mithin pro Stück 7,9 Ztr.,
im Durchschnitt der Jahre 1897/1901 wurden 23 Stück Kühe usw.
12 Färsen und 11 Kälber gehalten mit einem Gesamtgewicht von
416 Ztr., mithin 9,0 Ztr. pro Stück 1). In dieser Wirtschaft hat auch
eine relative Zunahme des Viehbestandes stattgefunden. Während im
Jahre 1863 1 Stück Großvieh (zu 10 Ztr. Lebendgewicht) auf je 8,2
Morgen landwirtschaftlich genutzte Fläche (Acker und Wiese) kam,
kam es im Durchschnitt der Jahre 1897/1901 auf 7,8 Morgen. In dem
Zeitraum von 1872—1896 hatte das Verhältnis geschwankt zwischen 6,9
und 7,3 Morgen.
Wie in Europa, so ist auch eine Abnahme der Viehhaltung in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika zu konstatieren, wie aus einer
eingehenden Untersuchung über die Fleischerzeugung der Vereinigten
Staaten seitens des Chefs des Ackerbauministeriums, Sekretär Wilson,
die in dem jüngst veröffentlichten 13. Jahresbericht dieses Ministeriums
enthalten ist, hervorgeht.
Er berechnet einen Fleischverbrauch 2) auf den Kopf der Bevölke-
rung der Vereinigten Staaten für das Jahr 1900 von 84,03 kg gegen-
über einem solchen von 54,99 kg in Großbritannien und Irland, 52,52 kg
in Deutschland, 35,74 kg in Frankreich, 34,43 kg in Dänemark, 31,71 kg
in Belgien und 28,00 kg in Schweden und stellt dann fest, daß der
durchschnittliche Fleischverbrauch der Vereinigten Staaten seit langem
in der Abnahme begriffen ist.
1) A. Koch, Ein landwirtschaftlicher Rückblick auf dıe letzten 60 Jahre und auf
25-jährige Betriebsergebnisse einer Bauernwirtschaft. 16. Heft der Arbeiten der Land-
wirtschaftskammer für die Provinz Sachsen, Halle a. S., S. 43.
2) Es muß bei diesen Angaben über die Höhe des Fleischkonsums berücksichtigt
werden, daß nur in Deutschland die Berechnung auf Grund der Feststellung der Zahl
der wirklich geschlachteten Tiere erfolgt ist, während in den übrigen Ländern zumeist
uur schätzungsweise ein bestimmter Prozentsatz des bei der Viehzählung nachgewiesenen
Bestandes als geschlachtet angenommen wird.
Miszellen.
Die Entwicklung des Viehstandes während der letzten
ac? Bevöl- Jahr der Maultiere,
Staaten Volks- Kan Vieh- Pferde Maulesel, | Rindvieh ————
i ® | zählung Esel Kan p-1000
zählung Ei
nw.
- - |
Preußen (altes Gebiet vor 1817 10 319 993| 1817 1 243 261 4013 912| 2154645) 2
1866) 1849 |16296 483) 1849 1577417 5 371.644. 3.078 126 a
1867 |19671 841, 1867 1871 852 5 853 686, 3 653 787| 186
1873 |20 400 000,10. 1. 1873| 1 882 318 6 530 866| 3 821 024! 188
1883 |22 409 794 10. 1. 1883| 1 983 728 6630 771| 3 894 969, 174
1892 |24728 972|1. 12. 1892| 2 176954 7 490 286| -
Preußen (einschließlich 1.12. 1905|30 959 480.2. 12. 1907| 2516 651] 5995 | 9059 692 4560 213| 147
neue Provinzen) 1867 |24 047 934| 1867 2 279 337 7 996 596| 4865 768| 202
1873 |24 689 252 10.1.1873] 2 274 932 8612 150| 5.056400) 204
1883 |27 279 111/10. 1. 1883| 2 417 158| 8 737 641| 5 132839) 188
1892 |29 957 367/1. 12. 1892| 2 653 700 9 850 960 — _
1. 12. 1905|37 293 324 2. 12. 1907| 3 046 304 6973 |12011 584| 5967693! 160
Königreich Bayern 1810 3500000 1810 292 414 1 828 083| 825720 299 |
1854 4600000 1854 347 229 2616 152| 1341 362) 296
1863 4770000 1863 379 467 3 162 456| 1551000) 311
1873 4 860 000 10. 1. 1873| 350867 3 066 263! ı 557 286| 320
1883 5 284 778 10. 1. 1883| 360 636 3033 263| 1 584456| 299 i
1892 5 594 982 1. 12. 1892| 368 636 3333 953|) — =.
1. 12. 1905| 6 524 372 2. 12. 1907| 392 091 602 | 3725 430; 1718377, 263 |
Königreich Württemberg | 1820 1432241. 1820 68 600 669 850 328000 229
1855 1669720 1855 95 038 811 159 _ Pe,
1864 1748328 1864 104 527 974917) 485602 270 |
1873 1 818 539.10. 1. 1873 96 970 946 228 =
1883 1971 11810. 1. 1883 96 885 904 139| 459737| 223
1892 2 036 522 11.12.1892] ı01 625 970059 — =
1.12.1905, 2 302 179 |2, 12. 1907 115 352 235 | 1073 122| 506010| 220
Königreich Sachsen 1834 | 1595668 1834 73 535 546 942) 343784) 215
1853 1987 612, 1853 94 870 610836) 397 700| 200
1867 | 24263001 1867 112 800 625 260) 413755 170
1873 2 600 000110. 1.1873! 115 667 647 074 _ =
1883 | 2972 805|10. 1. 1883! 126 886 Ger 329| 442050| 148
1892 3 502 684|1. 12. 1892) 148417 664 077 _ E:
1.12.1905 4 508 601|2. 12. 1907) 171 715 757 731 528| 459 102
Großherzogtum Baden 1825 | 1110000) 1825 69 610 480 487| 224970| 202 |
1855 | 1314837| 1855 | 68828 582486| 322768| 245
1868 | 1438872| 1868 | 75 223 603 840| 326012) 210
1873 | 1 500 000110. 1. 1873 70 285 621 888 _ RK:
1883 | 157025410.1.1883) 66607 593 526| 323384] 206 |
1892 | 1657 8671. 12. 1892 64 089 635 015 _ E.
1.12. 1905| 2010 728|2. 12. 1907 75 842 274 | 673 146| 346805) 17?
Deutsches Reich 1871 |41 058 804/10. 1. 1873| 3 352 231| 13315 |15 776702 Ma 221| 218
1.12.1885 46 855 704/10. 1. 1883| 3 522 545 9795 |15 786 764| 9087 293| 195
1. 12. 1890/49 428 470|1. 12. 1892| 3 836 273 6703 |17 555 834 9946 255 S
1. 12. 1900 56 367 178|1. 12. 1900| 4 195 361 7848 |18 939 692110458631) 1
1. 12. 1905 60 641 27811. 12. 1904; 4 267 403| — 19 31 56810 456 137| EN
1. 12. 1905|60 641 27812. 12. 1907 4345 043) 11291 |20 630 54410 222 g
Miszellen. 365
Dezennien in den hauptsächlichsten Staaten Europas.
| Sa Haupt Grossvieh |Landwirtschaftlich Sa. Haupt Großvieh
N ausschl. Pierde u. Esel | benutzte Fläche E einschl. Pferde u. Esel
Schafe | Schweine | Ziegen er ——| Ackerfläche Se T- 2
g Jahr auf 1000)
| Gesamt- |p. 1000 der SS, Gesamt- |halandw. sad 1000
| zahl Einw. Erheb. ha zahl ee land
9260396 2494369] 143 433| 5325 496| 516 11.048 600 | 7 190386 641
16236328 1466 316° 584771| 7672254 470 | 12066 500 |10 035 378 840
18 806 400 3 785 674| 1043764 8873634 451 | 14579000 |11 681 412 801
16763 224 3 367 792| 1 149395! 9152918 448 ! = LI 979 595 820
12362936 4 504 611| 1 309 552| 9092328 405 14 406 855 |12 072513 838
8217296 5916539) 1 536592| 9919189 446 14494847 |13 184031 912
4337 938 10 915 628: 1749061|12368 148 400 | 1900 17738593 14677328 |14258634) 804 | 972
22 261 330 4875 114| 1343 615/11 553475 480 u 14 972 469| 856
19624758 4278531 1477 335/11 767 369 477 ‚17415587 |15 179 767, 871
14747 975 5818 732| 1679 686.11 806 653 433 | — 15 432 360| 886
10092568 7704 354| 1953 748|12 929 117 435 | 17 527 740 |16 900 199 964
5408 867 15 095 854; 2235 529 16512729 443 | 1900 23020987 17661549 |18 800944| 817 | 1065
1074232 501 509 65 289| 2616362 747 | } — 2 505 188 1091
122357 492767, 103 184| 2892715 629 — 3 413 557| 1071
2040372 922453 148493| 3911 909 820 3 186000 | 4481 199 1400
1342190, 872098, 193 881| 3439286 797 - 3 965 586 1239
1178270 1038 344 220818) 3432812 650 3070378 | 3967 286, 1292
965 772, 1356674 268992 3792 114 677 3051347 | 4345 068 1424
735 113. 2056 222 308 150) 4333676 665 | 1900 | 4629520) 3047191 | 4633045| 1001 | 1521
487 oun 128 830) 23 120| 751217 524 | 700 000 881 117 1260
485488! 143524 42064) 896658 537 — 1 039 215 1300
705 656: 263 504) 35 262) 1 114 509 638 927 250 | 1 271 299, 1371
577 290! 267 350 38 305| 1073936 591 — 1219 391] 1360
550 104! 292 206 54 876| 1036773 526 879971 | 1 182099 1343
354335! 394 402| 69987| 1 112924] 547 879 108 | 1265 375| 1439
273337 537 185 88 201| 1 252 163) 544 | 1900 , 1 244 851 875620 | 1338 894| 1075 | 1528
604 950° 104689 48553] 638967| 429 767 000 749 269 975
485 147, 124 158 74726| 696915| 350 — 839 220 1050
304087, 325504] 93004] 744114| 306 839 000 913 354, 1089
206 830, 301091| 105401) 751815] 289 — 925 315] ' 1101
149037), 355 550| 116547| 798 opp 269 812 268 989 295, | 1218
104 882, 433435| ı128482| 793931) 229 831 226 | 1016555) 1223
66 120| 744517] 144858] 971310) 215 | 1900 | 1028 144 843 759 | 1100475 1071 | 1304
189 000 204 000 23 1000 552487| 498 _ 656 902) 1184
162607 245413] 57014) 665659] 506 — 768 901 | 1407
174 127| 340713 57 302| 709727| 493 557 800 822 564| 1475
156287, 272333] 68873| 711355| 474 — 816 763 1460
131 461| 291 001 90782| 686987, 438 | 614038 786 896 1281
98 369) 390761] 102547| 751087| 453 | 612 974 847 222 1382
52020 558278| 119821] 827714| 412 | 1900 852 867 568 602 884 733| 1037 | 1555
24999 406) 7 124 088| 2 320. 002|20 250 999| 493 | 1878 |36 726 015| 26 063 084 |22 7718300 — | 874
19 189 715| 9 206 195 2 640 994|20 227 368| 433 | 1883 |35 640 419| 26 177 351 |22874175) — 874
13 589 Keck, 174 442| 3 091 508 22 216 037| 449 | 1893 35 164 597| 26 243 2ı4 |25 096594 — 956
9 992 501116 807 014| 3 266 997124 382 946| 433 | 1900 |35 055 398| 26 257 313 |27533 391] 870 | 1049
7 907 173118 920 666| 3 329 881|25 129 942| 415 | 1900 :35 055 398| 26 257 313 |28 330494 — | 1079
7 703 710/22 146 532| 3 533 97027 232 046| 450 | 1900 |35 055 398| 26 257 313 |30496474| — | 1162
366 Miszellen.
Jahr | ger. | Jahr der Manltiere, Kühe
Staaten Volks- Kenii Vieh- Pferde | Maulesel, |, Rindvieh ~~ —
zählun 8 zählung Esel Gesamt- |p.1000|
j zahl | Eiw.
Frankreich 1812 |30000000| 1812 2122617 6 681 952| 3 909 959| 130
1840 |34 230 178| 1840 2 818 400 9936 518) 5 501 825| 161 |
1866 138067 064! 1866 3 313 232 12 733 188| 6694 502| 186 |
1872 |36 102921| 1872 2 882 851 10023 716| 6013 089| 166 |
1879 |37672048) 1879 2 817 803 11 580 197| 7 267 573| 193
1886 |38 218 903| 1886 2911392 13 104 970| 6414 487| 170 |
1891 |38 343 192| 1891 2 883 460 13 661 533| 6557632 170 |
4.3.1906 |39 252 245| 1907 3 094 698| 552788 |13 949 722| 7 336214| 187
Oesterreich 1857 |18 224500| 1857 I 342 036 8 013 308| — =
1863 121974 236) 1863 1305 344 8610 162| 4185 328 199
1870 |20394980| 1870 1 367 023 7 425 212| 3831136, 188
1880 |22 144 244| 1880 1 463 282 8 584077| 4 138625; 186
1890 |23 895 413| 1890 1 548 197 8 643 936 — — |
31.12.1900|26 150 708| 1900 1716488) 66647 | 9511 170| 4749 1152| 182
Ungarn 1863 |14 672 526] 1863 2095 055 5646954| 2 167 758| 147
1870 |15 509455| 1870 2 158 819 5279 193| 2052488 132 |
1880 15725710) 1880 2078 528 5311378 — =
1884 |15738468| 1884 1748 859 4879038| 1752406) 111
31.12.1900|19 254 559| 1908 1859 5860| 15930 | 6446477 — =
Schweiz 1866 2519630) 1866 105 799 993 291) 553 205, 210 |
1876 2669 147| 1876 106 191 1035856) 592413) 222 |
1886 2917754| 1886 98 622 1 212538) 663 102| 227 |
1.12.1900, 3 325 023| 1906 135 372 4832 | 1498 144, 785950 236
Britisches Reich 1867 30 334 999| 1867 — 8731473 _ = ||
1870 131205 444 1870 1750498 9 235 052 _ = |
1875 132749 ı67| 1875 1 819 687 10 162 787 — =]
1881 |34929679) 1881 1923 619 9 905 013 a e
1886 |35 241 487 1886 1 927 527 10 872 811 -— |
1891 137 879 285| 1891 2 026 170 11 343 686 — en
31.3. 1901/41 458 721| 1908 2 150300| 271484 |11 697 592| 4350205 105
Die Fleischerzeugung hat sich, wie er nachweist, im Verhältnis
zur Bevölkerung seit dem Jahre 1840, dem Jahre der ersten Vieh-
zählung, bedeutend verringert. Nach dem Ergebnis der Viehzählungen
entfielen auf 100 Einwohner 1840 88 Rinder, Kälber ausgeschlossen,
1900 dagegen nur 69; 1840 113 Schafe, Lämmer ausgeschlossen, 1900
nur 52; 1840 154 Schweine, 1900 dagegen nur noch 83. Der gesamte
Bestand an Rindvieh, Schafen und Schweinen in Fleischgewicht umge-
rechnet und den Export hiervon in Absatz gebracht, ergibt nach der
Berechnung Wilsons, wenn er das Ergebnis auf Grund des Standes der
Viehzählung von 1840 auf den Kopf der Bevölkerung verteilt gleich
100 setzt, für das Jahr 1900 nur noch einen Fleischvorrat von 59,3
oder in Worten: „in siebzig Jahren ist der Tierbestand für den natio-
nalen Fleischkonsum auf weniger als drei Fünftel seines früheren Ver-
hältnisses zurückgegangen.“
„Seit 1900“, sagt Wilson dann in seinem Bericht weiter, „hat die
Viehzahl wahrscheinlich absolut kaum zugenommen, während die Be-
völkerung nahezu um 20 v. H. gewachsen ist.“
Miszellen.
367
Sa. Haupt Grossvieh |Landwirtschaftlich Sa. Haupt Großvieh
ausschl. Pferde u. Esel | benutzte Fläche d einschl. Pferde u. Esel
Schafe | Schweine | Ziegen jahre a ER =, if 1000|... aan
Gesamt- |p. 1000 mg Gesamt- |\halandw. 1000
zahl Einm: der ha zahl | benutzte |" Arker-
` | Erheb. ha Fläche | and
3500000) — en _ = | = — —
' 32151430 4910721| 964 000|14 459 674| 422 | — 18 687 274 —
30 386 233| 5 889 624| 167993817 384 217| 457 | 28 889 430 |22 354.065 >=
24 707 496, 5377 231| 1791 72515 248 782| 432 = 19 947 934 =
12 993 867| 5 502638 1 546 56615 390 122| 409 — 19 616 825 —
22616547, 5 881 088; 1 483 342|16 960 506| 450 — 21 327 594 759
21791909 6 096 232| 1480 229|17 488 134| 456 28 114 384 |21 813 324 776
17 460 284| 6995 124| 1421 009|17 562 948| 447 | 1907 |39 811 700) 26 220918 |20 160 366, 506 769
5 184 664| 3409 590| 1027 618| 9479 956| 520 = 11493 010 =
5682431] 3646 703| 1086 852|10 180652| 463 10 487 018 |12 228 668 1166
5026398| 2551 473| 979 104| 8647 311| 424 10 183 425 |10 697 844 1050
3841340 2721 541| 1 006 675| 9732485| 439 10 636 834 |11 927 408 1121
3 186 787| 3549700) 1035 832| 9936359] 416 10 854 875 |12 258 654 1129
2621026) 4682654 1019 664|11 028909, 422 | 1907 118014 200| 10633 493 |12 349599] 686 | 1162
11281 805| 4504 905| 430 973| 7937 271| 541 9839 588 |11 079 852 1126
15076 997| 4443 279) 5729511 7 945 458| 512 9840826 |11 183 685 1136
9839 797| 4 100 127| 333 214| 7363 158| 468 10910078 |10 480 950 961
10594 831| 4803 639 270 192| 7 161 946| 455 11741575 | 9785 236 833
7872742| 5358 802| 277 o60| 8596540) 447 | 1907 |20 560 700| 13768299 | 9999195| 486 726
447001| 304428 375482| 1145 388| 454 2080929 | 1304 085 626
367549 334 507| 396001| 1 189 237| 446 2 161 830 | 1348 522 624
341 804| 394917) 416323| 1380 140) 479 2129000 | 1598 073 759
209997, 5489701 362 117) 1686563) 507 1906 | 2 240 100 — 1790 508| 799 —
33817 951| 4 221 100 13 168 543) 434 18 381 761 — — — —
32786 783| 3 650730 — 13 426 412| 430 18 701 834 — 16052 159| 858| —
33491 948! 3 495 167| — |14385774| 439 18 162 084 — 17 115 306| 893 | —
27 896 273| 3 146173| — |13481933| 385 19 296 675 — 16 367 360| 848
28955 240 3 497 165 = 13 855 764| 393 = 16 747 053 e
33533 988| 4 272 764) — 15 766 275| 442 — 18 805 530 =
31245 836| 4 041 322 — 15 853031| 382 | 1908 |19698 500| 7882908 |17 601r 498) 894 | 2233
Als eine Folge dieser Abnahme der Viehzahl ist ein erheblicher
Rückgang des Fleischexportes, der nach den Feststellungen Wilsons
33 Proz. beträgt, zu beobachten.
Als Ursachen dieser rückläufigen Bewegung gibt Wilson den Ueber-
gang der Weidebetriebe in den Regionen des mäßigen Regenfalles zu
Damit haben sich die Erzeugungskosten des Viehes
wesentlich gesteigert.
Maßgebender als die Beziehung des Viehbestandes auf die Ackerfläche
Farmbetrieben an.
ist die auf die landwirtschaftlich benutzte Fläche.
Hier stehen die
süddeutschen Staaten allen anderen weit voran, den geringsten Bestand
zeigt Ungarn. Die außergewöhnlichen Unterschiede des Verhältnisses
des Viehbestandes zwischen dem britischen Reiche und allen übrigen
Staaten hat seinen Grund darin, daß in Großbritannien und Irland weit
über die Hälfte der landwirtschaftlich benutzten Fläche als permanentes
Grasland (von 47 Millionen acres 27 Millionen) dient.
368 Miszellen.
XIII.
Die Frage der Arbeitslosenversicherung in den deutschen
Städten.
Von Hellmuth Wolff, Halle a. S.
Die Darstellung der bestehenden Einrichtungen zur Versicherung
gegen die Folgen der Arbeitslosigkeit im Auslande und im Deutschen
Reich, die das Kaiserliche Statistische Amt, Abteilung für Arbeiter-
statistik, im Jahre 1906 herausgegeben!) hat, ist die Unterlage zu zahl-
reichen amtlichen, in der Hauptsache kommunalen Denkschriften über
die Frage der Arbeitslosenversicherung geworden.
Zu diesen Denkschriften mit dem praktischen Ziele, kommunale
Arbeitslosenversicherung zu schaffen, gehört die des Charlottenburger
Magistrats vom vorigen Jahre, der wir hier folgen ?), weil außer der
Darstellung der bisherigen Versuche mit Arbeitslosenversicherung eine
offenbar aus kundiger Feder stammende, großzügige sozialgeschichtliche
Einführung beigegeben ist.
Der starke Rückgang des Beschäftigungsgrades in den meisten
Industrien und sonstigen großen Gewerben ließ im Winter 1907/08, in
offenbarer Folge der oben genannten Veröffentlichung des Kaiserlichen
Statistischen Amtes, dem Magistrat der Stadt Charlottenburg durch die
Stadtverordnetenversammlung die Frage vorlegen, in Erwägung zu
ziehen, ob sich die Verwendung städtischer Mittel für die Zwecke der
Arbeitslosenversicherung empfehle.
Der Magistrat hat daraufhin die Frage der kommunalen Arbeits-
losenversicherung nach allen beachtenswerten Seiten hin behandelt und
die Unterfrage der bisherigen Ergebnisse in anderen Gemeinden
außerdem gesondert im Statistischen Amt der Stadt bearbeiten lassen.
Der Magistrat stellte sich zuerst die beiden wichtigen Vorfragen:
1) ob für Zwecke der Arbeitslosenversicherung kommunale und öffent-
1) Referent Reg.-Rat Dr. Leo, Verlag von C. Heymann, Berlin 1906. VI u.
691 SS.
2) Von anderen amtlichen Denkschriften zur Frage der Arbeitslosenversicherung
nenne ich hier vor allem die Magdeburger: Mitteilungen des Statistischen Amtes der
Stadt Magdeburg, No. 19. „Die „bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiete der Arbeits-
losenversicherung“. Im Auftrage des Magistrats der Stadt Magdeburg bearbeitet von
Prof. Dr. O. Landsberg, 1908; dann die Karlsruher „Denkschrift über die Arbeits-
losenversicherung‘‘, 1909, bearbeitet im Gr. Ministerium des Innern; und noch die
Hallesche „Denkschrift über die Arbeitslosenversicherung“, 1909, bearbeitet von
Magistrats-Assessor Köcher.
Miszellen. 369
liche Mittel überhaupt zu verwenden angezeigt erscheint, und 2) wie
sich die technische Möglichkeit einer Arbeitslosenversicherung gestaltet.
Zur Beantwortung der ersteren Frage wird auf die Wirtschafts-
und Gewerbeverfassung Deutschlands zurückgegriffen und ausgeführt,
daß die Gewerbeordnung von 1869 die nötige Freiheit des Arbeits-
vertrages aussprach, also die völlige Selbstverantwortlichkeit des
Arbeiters zu folgern resp. vorauszusetzen war; was ja auch in der Auf-
hebung des Verbotes des Zusammenschlusses der Arbeiter für Ver-
besserung der Lohn- und Arbeitsbedingung positiv zum Ausdruck kam.
Seither ist eine Wandlung in der Auffassung der Selbstverant-
wortlichkeit des Arbeiters für die Arbeitslosigkeit eingetreten. Die
Verbreitung des Großbetriebes und das Entstehen von Riesenbetrieben
und von Syndizierungen der verschiedensten Art in vielen Industrie-
zweigen haben Arbeitnehmer und Arbeitgeber viel weiter sozial getrennt,
als das je erwartet werden konnte. Die umfangreichen Wirtschafts-
krisen, die wir in den letzten 11/, Jahrzehnten einige Male erlebten,
stellten mit ihren Arbeiterentlassungen und Produktionseinschränkungen
zuerst die breite Oeffentlichkeit, dann die Gesetzgebung vor die Frage,
ob solehe Arbeitslosigkeit noch als selbstverschuldet anzusehen sei, ob
man den Arbeiter für solche Arbeitslosigkeit allein verantwortlich
machen und ihn allein den Schaden daraus tragen lassen könne.
So ist die Frage der Aufwendung öffentlicher Mittel für die Zwecke
der Arbeitslosenversicherung heute eine allgemeine soziale Frage ge-
worden; und so beantwortet der Magistrat von Charlottenburg denn
auch die entsprechende Vorfrage dahin, daß gegen eine Aufwendung
öffentlicher Mittel für Arbeitslosenversicherung grundsätzliche Bedenken
nicht bestehen (S. 7).
Für die zweite Vorfrage, wie sich die technische Möglichkeit einer
Arbeitslosenversicherung zu gestalten habe, sind bisher im wesentlichen
folgende — auf eine Ablehnung zielenden — Gesichtspunkte hervor-
gehoben worden.
Zuerst lehnt man die Arbeitslosenversicherung ab, weil es noch
keine ausreichende Erfahrung, keine daraufbezügliche Versicherungs-
statistik gibt, so daß ein Schritt ins Dunkle mit öffentlichen Mitteln
gemacht werden müsse. Dann wird betont, daß der Eintritt des Ver-
sicherungsfalles vollständig in das Belieben des Versicherten gestellt
sei, da er jederzeit die Arbeitslosigkeit herbeiführen könne. Drittens
sei es bei Versicherungen sonst das übliche, einen Schaden zu ersetzen,
der eingetreten ist, während die Arbeitslosenversicherung in großem
Umfang nicht eigentlich Schadenersatz, sondern Arbeitsgelegenheit zu
geben habe, und hiermit das Problem in die Versicherungsfrage hinein-
getragen wird, ob und wieweit der Versicherte die ihm angebotene
Arbeit anzunehmen verpflichtet sei.
Der Magistrat von Charlottenburg hält alle drei hier aufgeführten
Einwände heute für erledigt, indem er meint, daß der unzureichende
Umfang einer Statistik sich auch bei anderen Versicherungsarten in
ihren Anfängen gezeigt habe; weiter, daß, wenn die Streikversicherung
grundsätzlich von der Arbeitslosenversicherung ausgeschieden würde,
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 24
370 Miszellen.
das Moment des freiwilligen Eintritts in die Arbeitslosigkeit nicht weiter
vorhanden sei, da man der Böswilligkeit ja auch z. B. in der Haft-
pflichtversicherung Herr zu werden vermöge; und drittens, daß der
Zusammenhang von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsnachweis in
der Hauptsache eine Erleichterung der Abwicklung des Versicherungs-
geschäftes bedeute, und keine Erschwerung, weil der Arbeitsnachweis
resp. die Arbeitsvermittlung ja weiter nichts sei als eine Verhütung
des Eintritts des Versicherungsfalles.
Der Magistrat leitet hieraus die Widerlegung der Anschauung ab,
daß eine Arbeitslosenversicherung an sich unmöglich sei, und kommt
darauf zu dem Ergebnis, daß, wenn man sich dafür entscheidet, die
Arbeiterorganisationen zum Träger der Arbeitslosenversicherung zu
machen, das sogenanute gemischte oder Zuschußsystem, wie es im Jahre
1901 nach Vorschlägen von A. Varlez in Gent eingeführt wurde (das
sogenannte Genter System), wohl am meisten zu empfehlen wäre. Er
schlägt dementsprechend vor, nachdem er die Frage, ob sich die Ver-
wendung städtischer Mittel für die Zwecke der Arbeitslosenversicherung
empfehle, bejaht hat, in den Etat eine entsprechende Summe als Zu-
schuß für Arbeitslosenversicherung an Arbeiterorganisationen einzustellen.
Soweit die Denkschrift. Wir sind ihrem Gedankengange gern ge-
folgt, um zu verstehen, weshalb man städtische Mittel an soziale
Interessenverbände für die Arbeitslosenversicherung zu leisten bereit sei.
Wir müssen aber bekennen, daß uns die Darlegungen in der Denkschrift
trotz teilweise bemerkenswerter Gründlichkeit der Darstellung nicht
von dem Werte einer baldigen Arbeitslosenversicherung haben über-
zeugen können. Die Denkschrift sagt durchaus richtig, daß der Eintritt
des Versicherungsfalles im Belieben des Versicherten liegt. Welche
Kontrollmittel bestehen, muß man dann fragen, um Selbstver-
schulden und soziales Verschulden zu unterscheiden,
auch wenn man Streiks als Selbstverschulden zu rechnen geneigt ist.
Wir finden auf diese Frage keine Antwort, und wir meinen, daß sich
eine befriedigende Antwort — wenigstens im bejahenden Sinne — heute
auch gar nicht geben läßt. Arbeitslosenversicherung ‚und alle andere
Sozialversicherung stehen dadurch so weit voneinander entfernt, daß
alle Sozialversicherung, wie wir sie z. B. im Deutschen Reich haben,
in jedem Fall eine äußere, individuelle und konkrete Kontrolle voraus-
setzt und gestattet, beim Unfall, beim Kranksein, beim Altersfall durch
die Untersuchung und das Attest des Arztes oder den Geburtsschein.
Arbeitslosigkeit aber läßt sich wohl dadurch kontrollieren, daß der
Arbeitslose täglich ein- oder zweimal während der sonst üblichen
Arbeitszeit sich im Versicherungslokal persönlich melde; aber darauf
kommt es eben nicht an, sondern darauf, zu ermitteln, ob der
Arbeitslose ohne eigenes Verschulden arbeitslos ist.
Und das läßt sich heute bei der ungenügenden Organisation der
Arbeitsvermittlung nur schwer, sehr oft überhaupt nicht ermitteln, nach-
prüfen, so daß der Eintritt des Versicherungsfalles nach wie vor im
Belieben des Versicherten bleibt.
Den Arbeitslosen wird man viel schneller helfen, wenn man —
Miszellen. 371
wenigstens gegenwärtig — von einer Versicherungseinrichtung absieht,
dafür aber das, was die Denkschrift als „Erleichterung der Abwicklung
des Versicherungsgeschäftes“ empfiehlt, den Arbeitsnachweis, ausbaut
und immer mehr zu einer guten Vermittlungsstelle für Arbeit aller
Art macht.
Wenn man auf der einen Seite, wie es die Denkschrift richtig
meint, den Arbeitsnachweis als Verhütungseinrichtung für Arbeits-
losigkeit ansieht, so sollte man auf der anderen Seite fordern, daß der
Arbeitsnachweis gut funktioniert.
Erst dann, wenn der Arbeitsnachweis so weit ausgestaltet ist, daß
ihm die Feststellung, ob ein soziales Verschulden die Arbeitslosigkeit
bewirkt hat, möglich ist, wird auch die Zeit zu einer eigentlichen
Arbeitslosenversicherung gekommen sein. Um recht bald zu diesem
Ziele zu gelangen, scheint es richtiger, alle Mittel, die für die Zwecke
der Arbeitslosigkeit flüssig gemacht werden können, dazu zu verwenden,
den öffentlichen Arbeitsnachweis so auszugestalten, daß er den lokalen
Arbeitsmarkt vollständig übersieht und dem interlokalen Austausch in
vollem Umfange dient, wie es u.a. die Hallesche Denkschrift zur Frage
der Arbeitslosenversicherung fordert.
24*
372 Miszellen.
XIV.
Der Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit.
Ein Beitrag zur Geschichte des Sparkassenwesens
und der Wohlfahrtspflege.
Von Professor Dr. W. Kähler in Aachen.
Inhaltsübersicht: I. Die Entstehung des Aachener Vereins zur Beförderung
der Arbeitsamkeit und seine Verbindung mit der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-
Gesellschaft. lII. Die Spareinrichtungen. III. Die Vereinsorganisation und die Ver-
mögensverwaltung. IV. Die Verwendungen.
Die Eigenart des „Aachener Vereins zur Beförderung der Arbeit-
samkeit“ läßt sich aus seinem Namen nur sehr undeutlich erkennen.
Er ist eine Gründung des in der politischen und wirtschaftlichen Ge-
schichte Preußens wohlbekannten David Hansemann, welche eine sehr
eigenartige Sparkasse betreibt und ihre Ueberschüsse mannigfaltigen
Verwendungszwecken zuführt. Für den Regierungsbezirk und die Stadt
Aachen hat er in beiderlei Hinsicht eine sehr erhebliche Bedeutung;
das ist bei der Feier seines 75-jährigen Bestehens am 21. Juni 1909
von vielen Seiten bekundet werden.
Aber auch über diesen engeren räumlichen Bezirk seines Wirkens
hinaus verdient er bekannt zu werden. Es ist nicht nur die lange
Dauer seiner Wirksamkeit, die ihm einen Platz in der Geschichte des
Sparkassenwesens und der Wohlfahrtsbestrebungen sichert. Auch in
seiner heutigen Gestalt ist er eine so eigenartige Erscheinung auf diesen
Gebieten, daß es verlohnt, sie kennen zu lernen.
Seine Entstehung vor 76 Jahren führt in die Zeit der frühesten
industriellen Entwicklung Westdeutschlands zurück, wo von ähnlichen
Bestrebungen sonst noch nicht viel zu spüren war; sie zeigt eine um
so merkwürdigere Verbindung von Erwerbsstreben und Wohltätigkeit,
die eigenartige Organisationsformen zeitigte. Eine Einrichtung nicht
kirchlichen Ursprungs, die in der industriellen Sphäre des 19. Jahr-
hunderts entstanden ist und in 75 Jahren 261/, Mill. M. für Wohl-
fahrtsbestrebungen im engeren und weiteren Sinn — darunter zur
Förderung des Unterrichtswesens aller Stufen etwa 9,2 Mill. M. —
aufgewendet hat, wird sich wohl überhaupt nicht noch einmal in
Deutschland finden. Die Wirksamkeit als Sparkasse ist ebenso eigen-
artig, als umfassend: Von vornherein werden zwei Abteilungen ge:
Miszellen. 373
schaffen, deren eine für Einlagen aus den Kreisen der Handarbeiter
eine den landesüblichen Zinsfuß überschreitende Verzinsung gewährt
und durch besondere Prämien zum Sparen anspornt, während die andere
den allgemein üblichen Charakter einer Sparkasse trägt. 61 Jahre
lang ist der Aachener Verein die einzige Sparkasseneinrichtung im
Regierungsbezirk Aachen und versteht es, die Spartätigkeit im Bezirk
schnell und nachhaltig auf eine erhebliche Höhe zu heben. Durch
seine Zweiteilung der Spareinrichtung läßt sich in seinem Geschäfts-
gebahren deutlicher als bei anderen Sparkassen verfolgen, daß bei den
Sparkassen neben den Zweck der Ansammlung kleinster Vermögens-
teile durch Sparen aus den unteren Klassen allmählich mehr und mehr
auch die Verwaltung von bereits anderswo entstandenen, oder von bei
ihm allmählich angesammelten kleinen Vermögen tritt. Die Frucht seiner
Tätigkeit gibt dem Regierungsbezirk Aachen in der Statistik des Spar-
wesens bald eine eigenartige Bedeutung: er eilt in der Intensität der
Benutzung der Spareinrichtungen zunächst der Entwicklung im König-
reich erheblich voraus; in der neuesten Zeit wird anderwärts das Ver-
säumte nachgeholt und damit der Vorsprung schließlich wohl eingeholt.
Aber immer noch steht der Regierungsbezirk Aachen in allen wesent-
lichen Zahlen der neuesten Statistik über dem Durchschnitt. Unter
den preußischen Sparkassen übertrifft ihn nur eine an Einlagebestand,
die Berliner Städtische Sparkasse, die 1906 mit 327 Mill. M. mehr als
das Doppelte des Aachener Einlagebestandes enthält; freilich ist auch
die Einwohnerzahl Berlins dreimal so groß als die des ganzen Aachener
Regierungsbezirks. Wie groß der Vorsprung des Aachener Bezirks
gegenüber den durchschnittlichen preußischen Verhältnissen jahrzehnte-
lang war, läßt sich aus folgender Zusammenstellung erkennen:
Tabelle 1.
Von der Gesamt- Von sämtlichen Auf den Kopf der Bevölkerung
bevölkerung Preußens | preußischen Sparkassen- entfiel an Sparguthaben
entfielen auf büchern entfielen an! den | im Königreich | im Reg.-Bez.
den Reg.-Bez. Aachen Aachener Verein Preußen Aachen
< _ Jahr l Proz Jahr | Proz. Jahr l M. | Jahr M.
1852 2,5 1850 4,7 | 3,29 21,90
1860 4,8 | 8,30
1871 2,0 1870 3,9 20,25 66,16
1880 2,7 58,416
1890 1,9 109,55
1900 1,8 1901 1,7 1898 160,10 1900 209,01
1906 1,5 232,50 309,90
Diese ganze Entwicklung beginnt in einer Zeit, in
der die gewerb-
liche Bevölkerung des Bezirks noch auf einer tiefen Stufe wirtschaft-
licher Kultur stand, und führt uns die allmähliche Steigerung des Wohl-
standes vor Augen, welche trotz lokaler Hemmungen auch im Aachener
Bezirk in der Arbeiterschaft während des 19. Jahrhunderts erfolgt ist.
Sie beruht auf einer sehr eigenartigen Verbindung mit einer der be-
kanntesten Unternehmungen der Feuerversicherung, der Aachen-
374 Miszellen,
Münchener Feuerversicherungs - Gesellschaft, deren Eigenart sich in
ihren Beziehungen zum „Aachener Verein“ besonders deutlich zeigt !).
I. Die Entstehung des Aachener Vereins zur Beförderung
der Arbeitsamkeit und seine Verbindung mit der Aachen-
Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft.
Die Gründung des „Aachener Vereins zur Beförderung der Arbeit-
samkeit“ oder — wie er in seiner Heimat schlechtweg genannt wird
und auch hier weiterhin der Kürze halber bezeichnet werden soll —
des „Aachner Vereins“ wurde bereits 1824 bei der Gründung der
Aachener, später Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesell-
schaft?) — in Aachen kurz als „Aachen-Münchener“ bezeichnet — ins
Auge gefaßt. Auf die Anregung Hansemanns hin beschloß eine Ver-
sammlung von 13 Bürgern und Beamten, zumeist aus Aachen stammend,
„unter dem Namen Aachener Feuerversicherung eine anonyme Gesell-
schaft auf Aktien zu errichten, welche Versicherungen gegen Feuers-
gefahr vermittelst Prämienzahlung zum Gegenstand hat, und damit
einen Verein zu wohltätigen Zwecken zu verbinden, der den Namen
„Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit“ führen wird.
Am 24. Juni 1825 erhielt diese Gesellschaft die allerhöchste Genehmigung.
Hansemann, ein hannoverscher Pfarrerssohn, war 1817 nach Aachen
gekommen und hatte dort ein Wollgeschäft begründet, das ihm bald
Wohlstand schaffte und ihn in engste Beziehungen zum Geschäftsleben
seiner neuen Heimat brachte, dessen Hauptzweig die Wollindustrie war.
Sein lebhafter Geist und sein warmes Herz für allgemeine Angelegen-
heiten ließen ihn aber nicht bei seinem eigenen Wohlergehen sich be-
ruhigen. In ihm brannte das Verlangen, ins große Allgemeine zu
wirken, die Dinge an den Wurzeln zu fassen. Die Lage der Industrie
war damals nicht sehr günstig, die Unternehmungslust war gehemmt;
der Uebergang der alten Reichsstadt aus ihrer zeitweiligen Zugehörig-
keit zum französischen Kaiserreich in das neu arrondierte Preußen voll-
zog sich nicht ohne innere und äußere Schwierigkeiten. Uebersieht
man die Pläne und Arbeiten Hansemanns in den zwei Jahrzehnten
1) Die folgende Darstellung beruht auf dem Material, welches in der „Festschrift
zum 75-jährigen Jubiläum“ 1834—1909 niedergelegt ist. Diese reich illustrierte Fest-
schrift enthält zunächst eine von mir verfaßte Geschichte des Vereins, dann die von
der Verwaltung gegebene Darstellung von einer Anzahl seiner Einrichtungen, und
tabellarische Zusammenstellungen über die wichtigsten Tatsachen aus der finanziellen
Gebahrung des Vereins für alle 75 Jahre, deren wichtigste ich in einer Reihe graphischer
Darstellungen veranschaulicht habe. Die geschichtliche Darstellung fußt einerseits auf
den Akten und Drucksachen des Vereins, andererseits auf gedruckten Quellen, von
denen ich hier anführe, die Lebensbeschreibung David Hansemanns von Al. Bergen-
grün (Berlin 1901), und die Denkschrift der Aachener und Münchener Feuer-
versicherungs-Gesellschaft zur Jubelfeier des 75-jährigen Bestehens der Gesellschaft
1825—1900.
2) Auf Grund der Zulassungsurkunde der Gesellschaft in Bayern firmierte sie
seit 1834 dort: „Münchener und Aachener Mobiliar-Feuerversicherungs-Gesellschaft“,
während sie für das nichtbayerische Geschäft die umgekehrte Reihenfolge der Be-
zeichnungen führt.
Miszellen. 375
seines Aachener Aufenthalts, so wird man überrascht sein von deren
Mannigfaltigkeit und schöpferischen Kraft, während er auch weiterhin
sein Geschäft mit Erfolg betrieb. Neben den Gründungen der Aachen-
Münchener und des Aachener Vereins beschäftigten ihn die Fragen
der großen Politik, die ihn auf die politische Bühne, später ins Par-
lament und ins Ministerium führen sollten, ebenso wie die Fragen der
Stellung der Rheinlande zu ihrem neuen Vaterland. In Aachen selbst
stand er bald im Stadtrat, wie als Mitglied des Handelsgerichts und
als Mitglied, später als Präsident der Handelskammer im Dienst von
Handel und Gewerbe. Er hegte Pläne über die Gründung eines Woll-
marktes und einer Kreditbank in Aachen. Schließlich griff er ent-
scheidend in die Entwicklung des Eisenbahnwesens ein und sicherte
Aachen den Anschluß an die große internationale Eisenbahnlinie Köln-
Brüssel. Die neuen Gedanken der Zeit und des Wirtschaftslebens er-
griff er mit Lebhaftigkeit und wußte ihnen eine eigenartige persönliche
Prägung zu geben.
Die handarbeitende Bevölkerung in Aachen hatte unter der Un-
gunst der allgemeinen Lage besonders zu leiden. Das Volkschulwesen
lag im Argen, die kindliche Arbeitskraft wurde ungescheut. in den
Fabriken ausgenutzt und machte den erwachsenen Arbeitern Konkurrenz;
erst 1839 beginnt bekanntlich die Gesetzgebung in diese Verhältnisse
einzugreifen. Alle schlimmsten Folgen der Massenarmut waren in Aachen
heimisch: Verwahrlosung der Kinder, Massenbettel der Eltern und
Kinder, dem die Neigung der katholischen Bevölkerung zu unkontrol-
liertem wahllosen Almosengeben entgegen kam, Unwirtschaftlichkeit,
Trunksucht waren weit verbreitet. Hansemann hatte das Bestreben,
hier helfend einzugreifen; es war ihm noch nicht klar, daß zunächst
Staat und Stadt die Aufgabe hatten, das Schulwesen zu entwickeln;
er wollte es in freier Hilfstätigkeit als Grundlage der wirtschaftlichen
Erziehung der jugendlichen Bevölkerung zur Arbeitsamkeit aufnehmen.
Sollte hier aber etwas Durchgreifendes geschehen, dann mußten erheb-
liche Mittel aufgewendet werden.
Zu deren Beschaffung schlug er nun einen eigenartigen Weg ein:
er will die Geschäftsgewinne einer neu zu gründenden Feuerversicherung
dazu fruchtbar machen. Seit 1812 waren in Deutschland 3 Aktien-
gesellschaften zu deren Betrieb gegründet, während ausländische Ge-
sellschaften einen erheblichen Teil des Geschäfts besorgten. 1821
gründete Arnoldi seine bekannten Gothaer Gesellschaften. Hansemanns
Plan geht auf eine „wohltätige Feuerversicherungs-Gesellschaft“, deren
Gewinn zwischen den Aktionären und dem wohltätigen Zweck geteilt
werden soll. Anfänglich sollten diese Wohlfahrtsbestrebungen dem
1) In einer Besprechung der Festschrift in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft‘
N. F. 1, S. 130, macht Brüggerhoff auf einige Falle aufmerksam, in denen später der
Gedanke der Flüssigmachung von Geldern für öffentliche Wohlfahrtszwecke durch die
Geschäftsgewinne privater Erwerbsgesellschaften zwar angeregt, aber nicht durchgeführt
ist; er nennt Mevissens Plan einer Feuerversicherungsgesellschaft Germania 1852/4,
Dierzardts Privatnotenbank 1845, endlich Hansemanns 1857 veröffentlichten Pläne für
Notenbanken. Er ist der Ansicht, daß der Gedanke der Gewinnteilung zwischen den
Aktionären und Wohlfahrtseinrichtungen Hansemanns Eigentum ist.
376 Miszellen.
ganzen Staat zugute kommen. Doch bald beschränkt Hansemann deren
Wirkung auf den heimischen Regierungsbezirk. Das kam wohl hier
dem Absatz von Aktien zugute, wurde aber wieder ein Hindernis für
deren Absatz außerhalb. Zudem fanden die Kapitalisten vielfach keinen
Geschmack daran, daß sie den Gewinn mit der Wohlfahrtseinrichtung
teilen sollten. Indes aller dieser Schwierigkeiten, die wie eine Zwick-
mühle sich aus der eigenartigen Verbindung von Geschäft und Wohl-
tätigkeit ergaben, wurde Hansemanns Lebhaftigkeit und Tatkraft Herr.
Die Gründung kam nach seinen Plänen zustande.
In den Satzungen der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Ge-
sellschaft war — wie oben mitgeteilt wurde — bereits die Gründung
des Aachener Vereins mit enthalten: er war die Stelle, welche den für
gemeinnützige Zwecke verfügbaren Gewinnanteil der Aachen-Münchener
Feuerversicherungs-Gesellschaft verwalten sollte. Indes seiner prak-
tischen Wirksamkeit stand die Satzung entgegen, nach welcher der
Verein sich nicht eher konstituieren solle, als bis sein Fonds auf wenig-
stens 10000 Taler angewachsen sei; andererseits durfte die Aachen-
Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft den satzungsgemäßen Gewinn-
anteil an den Verein erst aushändigen, wenn er 30000 Taler betrug.
Wenn es also Hansemann nicht gelang, die 10000 Taler auf andere
Weise, insbesondere durch Vereinsbeiträge oder Unterstützungen zu
schaffen, dann mußte die Eröffnung der Wirksamkeit des Aachener
Vereins erheblich länger herausgeschoben werden. Und alle seine Be-
mühungen in dieser Richtung schlugen fehl. Aber die Wartezeit wurde
dadurch bedeutsam, daß die praktischen Ziele des Aachener Vereins
inzwischen in Hansemanns Kopfe eine andere Gestalt annahmen. Die
Zwecke, die Hansemann ursprünglich 1824 als Arbeitsgebiete des Ver-
eins ins Auge gefaßt hatte, waren gewesen: Errichtung von Arbeiter-
kolonien, Unterrichtsanstalten für hilfsbedürftige Kinder, Einrichtung von
Sparkassen, endlich Notstandsarbeiten.
Mittlerweile waren seitens der Regierung bei Stadt und Kirche
energische Schritte zur Verbesserung des Schulwesens getan und
die Einführung des Schulzwanges angebahnt. Dadurch entfielen die
eigentlichen Schulpläne Hansemanns. Auch die anderen Vorschläge
traten bald zurück hinter dem Sparkassengedanken, obwohl sie außer
dem ersten keineswegs ganz aufgegeben wurden; denn sehr bald be-
gegnen wir ihnen in den praktischen Arbeiten des Vereins zur Ver-
wendung seiner Geschäftsgewinne wieder. Als die Aussicht bestand,
daß die Aachen-Münchener aus ihrem Gewinn die zur Gründung nötige
Summe bald zur Verfügung stellen werde, wirbt Hansemann von neuem
für seinen Gedanken und begründet seine Sparkassenpläne ausführlich.
Diese Begründung sticht so eigenartig von der individualistischen Grund-
richtung des damaligen wirtschaftlichen und sozialen Denkens ab, daß
sie ausführlicher wiedergegeben werden soll: Hansemann schreibt: „Es
ist nicht zu verkennen, daß in Besserungsanstalten, Arbeitshäusern,
Armenkolonien und in ähnlichen Anstalten sehr viel für einzelne ge-
schehen kann; aber wegen der großen Kosten der Errichtung, der Ver-
waltung und der Aufsicht können solche Institute doch im Verhältnisse
Miszellen. 377
zur Gesamtheit nur wenige Menschen aufnehmen. Sie wirken deshalb,
verhältnismäßig zu den Kosten, auf das große Ganze nur wenig; dagegen
wirkt eine kleine Verbesserung des Zustandes oder der Moralität der
Menschen, wenn diese Verbesserung des Zustandes auf eine große Anzahl
sich ausdehnt, im ganzen weit mehr als jene, in den vorbemerkten
Anstalten besorgte, große Verbesserung einzelner Menschen.“ Im Gegen-
satz zur Armenpflege soll „die Arbeitsamkeit bei den handarbeitenden
Klassen so gefördert werden, daß diejenigen Menschen, welche nicht
hilfsbedürftig sind, arbeitsam bleiben oder es noch mehr werden“. Der
Arbeitsamkeit soll „ein größerer Reiz verliehen werden, indem der
Mensch durch Fleiß sich in eine bessere Lage allmählich zu bringen
imstande ist“. Das Sparen „befördert auf das wesentlichste die Arbeit-
samkeit und folglich einen ordentlichen Lebenswandel, sowie denn die
bewirkten Ersparungen auch der Arbeit einen höheren Reiz verleihen“.
„Wenn nun schon gewöhnliche Sparkassen, obwohl sie nur Einlagen
über 5 Taler annehmen und mäßigen Zins bringen, so günstig wirken,
wieviel nützlicher werden Sparkassen wirken, die 1) nicht nur den
Bewohnern einer Stadt, sondern infolge der Errichtung von Filialen
auch den Landbewohnern und den Bewohnern kleinerer Städte zugänglich
sind, 2) außerdem schon kleine Einlagen von 10 Silbergroschen an an-
nehmen, 3) auf sehr mühsames und verdienstliches Ersparen außer dem
Zins noch eine Prämie gewähren“. Und in einer Eingabe an die Re-
gierung glaubt er sogar, diesen Gedanken so spezialisieren zu können,
daß bei den Sparkassen „je nachdem das Sparen einen höheren oder
niederen Grad von Fleiß, Ordnung und gutem Betragen voraussetzt,
vermittelst größerer oder kleinerer Zinsen, etwa von 5—12,5 Proz.
— oder auch auf andere Weise eine Prämie auf Fleiß und gutes Be-
tragen gesetzt werde“. Indes dieser übertrieben individualisierende,
eine starke Bevormundung in patriarchalischem Sinne enthaltende Ge-
danke verschwindet alsbald wieder.
In diesen Aeußerungen Hansemanns liegen die Grundzüge seiner
Pläne völlig klar: den Mittelpunkt der Vereinstätigkeit soll ein neu-
artig organisiertes System von Spareinrichtungen bilden. Seine Eigenart
liegt in dem ausgedehnten Filialennetz, das den ganzen Bezirk in Stadt
und Land umspannen soll, in der Prämiierung der kleinen Sparer, welche
aus den Ueberschüssen der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-
Gesellschaft ermöglicht werden soll, schließlich in der Verwendung
weiterer Ueberschüsse zur Hebung der Arbeitsamkeit im Bezirk.
1834 wurde die erste Zahlung aus dem Gewinn der Aachen-
Münchener im Betrag von 35386 Talern überwiesen. Bis zum Jahre
1875, wo das äußere Verhältnis zur Aachen-Münchener Feuerversiche-
rungs-Gesellschaft gelöst wurde, hat diese 3 161 181 M. an den Aachener
Verein gezahlt. Mit jener ersten Zahlung war die Gründung des
Vereins ermöglicht; am 21. Juni 1834 fand die erste Bezirksversammlung
statt, die die Pläne Hansemanns und die von ihm bis ins einzelnste
ausgearbeiteten Einzelanordnungen billigte und ihn zum Praeses des
Vorstandes wählte —
In den Beziehungen zwischen Aachener Verein und Aachen-Münchener
378 Miszellen.
Feuerversicherungs-Gesellschaft lagen die Keime zu Schwierigkeiten.
Hansemann hatte zwar ursprünglich gemeint, es würde möglich sein,
für alle Bezirke des Königreichs Preußen ähnliche Vereine ins Leben
zu rufen. Aber zunächst geschah es doch nur im Aachener Bezirk und
die Wirkungen des Vereins blieben auf Aachen beschränkt. Dagegen
hatte die Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft sehr bald
eine weitere räumliche Grundlage sich gewonnen sowohl hinsichtlich
ihrer Aktionäre als auch hinsichtlich der Versicherten. Wenn nun
andere Gegenden und insbesondere Gebiete anderer Staaten Kapital-
beteiligungen in der Form neu gezeichneter oder erworbener Aktien auf-
brachten oder wenn die Regierungen die Konzession zur Geschäfts-
ausübung erteilen sollten oder wenn in anderen Gegenden das Geschäft
sich einbürgerte und sie damit zu dem von der Aachen-Münchener Feuer-
versicherungs-Gesellschaft erzielten Gewinn beitrugen, so waren sie
gleichwohl von der Teilnahme an den Wirkungen der gemeinnützigen
Verwendungen ausgeschlossen. Hansemann mußte einsehen, um so mehr
als natürlich nicht alle Aktionäre unbedingt auf seinem Standpunkt
standen und dies auch in den Generalversammlungen zum Ausdruck
brachten, daß das gemeinnützige Unternehmen im Interesse der Aachener
Bevölkerung kein Hindernis für die Ausgestaltung seiner wirtschaft-
lichen Nährmutter werden dürfe. So wurde schon 1825 eine freilich
erst 1832 bestätigte Aenderung der Satzungen der Aachen-Münchener
Feuerversicherungs-Gesellschaft beschlossen, nach der die Verwendungen
für gemeinnützige Zwecke nicht ausschließlich durch den Aachener
Verein bewirkt werden sollten. Vielmehr wurde ihm aus der gemein-
nützigen Gewinnhälfte der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Ge-
sellschaft nur ein Anteil zugesichert, der berechnet wurde zu 1/, nach
den im Aachener Bezirk befindlichen Aktien, zu 2/, nach dem dort
vorhandenen Versicherungskapital.
Auch diese Regelung wurde auf die Dauer von der Leitung der
Aachener-Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft als Hemmung ihrer
Geschäftstätigkeit empfunden. Während sie in anderen Gegenden als
Wohltäterin mit ihren gemeinnützigen Aufwendungen selbst auftrat und
damit natürlich bekannter wurde und für die Ausbreitung ihres Ver-
sicherungsgeschäfts wirkte, konnte in Aachen selbst diese Wirkung
nicht so umfassend eintreten, weil der Aachener Verein mit seinen
gebundenen Zwecken dazwischen stand. So führte die Direktion der
Aachen- Münchener Feuerversicherungs- Gesellschaft nach Hansemanns
Fortgang von Aachen, aber mit seiner Einwilligung nach längeren Ver-
handlungen 1847 eine Neuregelung auch für den Aachener Bezirk herbei:
die Verfügung über ein Fünftel des dem Verein zustehenden Gewinns
bis zum Höchstbetrage von 2400 Talern wurde der Direktion der
Aachen-Münchener Feuerversicherungs - Gesellschaft zu eigenen Ver-
wendungszwecken zugestanden. Diese Regelung des gegenseitigen Ver-
hältnisses bestand bis 1874.
Als Ende der 60er Jahre die Erträge aus dem Versicherungs-
geschäft nachließen oder doch wenigstens nicht in dem früheren Ver-
hältnis stiegen, andererseits die Gelegenheit zu einer Satzungsänderung
Miszellen. 379
nach 50-jährigem Bestehen der Gesellschaft gegeben war, entstand unter
den Aktionären eine Strömung auf starke Herabminderung der gemein-
nützigen Aufwendungen aus dem Gesellschaftsgewinn. Die Leitung gab
nur widerwillig nach und verhinderte jedenfalls eine zu starke Abkehr
von dem geschichtlichen Charakter der Gesellschaft. Immerhin wurde
durch das neue Statut der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesell-
schaft das Verhältnis zum Aachener Verein, der inzwischen seine Selb-
stäindigkeit erwiesen hatte, gelöst, und die Entscheidung über die Art
der Verwendungen aus dem Gewinn blieb der Aachen-Münchener
Feuerversicherungs-Gesellschaft selbst vorbehalten.
Diese Verwendungen wurden ursprünglich auf die Hälfte des ledig-
lich durch das Versicherungsgeschäft — nicht auch aus den Kapital-
rücklagen — erzielten Gewinnes festgesetzt. Eine weitere Begrenzung
der gemeinnützig zu verwendenden Mittel ist 1892 eingetreten durch
die Bestimmung, daß von einem 700000 M. überschreitenden Ueber-
schuß des Versicherungsgeschäfts dem gemeinnützigen Fonds nur !/, zu-
fließen soll. Bis 1908 sind 35,4 Mill. M. von der Aachen-Münchener
Feuerversicherungs-Gesellschaft dem gemeinnützigen Fonds überwiesen.
Bis 1900 hatte er 30,6 Mill. M. erhalten, über welche folgende ge-
nauere Uebersicht sich in der „Denkschrift“ findet: Es waren verwendet
für den Aachener Verein z. B. d. A. 3,16 Mill. M.
für Feuerlöschwesen Ai ve
zur Verfügung verschiedener Ministerien (meist auf Grund
der Zulassungsbedingungen zum Geschäftsbetrieb) Ba Gr
für kirchliche Zwecke EL Yo, um
zur Förderung der Landwirtschaft ZB: Ar 8
in Mobilmachungsfällen u. dgl. zu Unterstützungen Lët o ñ
für allgemeine Notstände 0,86: o e
für gemeinnützige Zwecke (insbesondere an Vereine) BE y
für die Technische Hochschule in Aachen 1,34
War 1875 das äußere Band zwischen Aachener Verein und Aachen-
Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft durchschnitten, so blieb eine
enge Verbindung teilweise dadurch doch bestehen, daß in den leitenden
Organen beider Institute vielfach dieselben Personen saßen, und daß
beide Institute sich vielfach bei der Förderung der gleichen gemein-
nützigen Zwecke begegneten. Daß zudem zwei große Finanzinstitute
am gleichen Orte nicht ohne vielerlei Berührungen arbeiten können
und daher auch viele Gelegenheiten zu gemeinsamem Handeln nach
vereinbarten Grundsätzen und Bedingungen wahrnehmen werden, ist
selbstverständlich, sobald enge persönliche Beziehungen dauernd gewahrt
bleiben.
Die Eigenart Hansemanns ist diesen seinen Schöpfungen auch heute
noch aufgeprägt. Haben sich auch nicht alle seine Pläne verwirklicht,
so tragen beide Einrichtungen, die eine völlig, die andere zum Teil, den
Charakter der Gemeinnützigkeit: Beim Aachener Verein ist das ohne
weiteres ersichtlich, bei der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-
Gesellschaft ergibt es sich aus der auch heute noch vorhandenen Teilung
des Reingewinns zwischen Aktionären und gemeinnützigem Fonds. Mir
ist keine andere Einrichtung bekannt geworden, bei welcher dies in
380 Miszellen.
gleichem Maße geschieht. Wohlfahrtseinrichtungen, die den eigenen
Angestellten und Arbeitern einer Unternehmung einen Anteil am Ge-
winn überweisen, nachdem die Unternehmung in ihrer Existenz und
ihrem Ertrag sichergestellt war, sind häufig von Industriellen begründet
worden. Hier aber handelt es sich um eine Erwerbsunternehmung, die
von vornherein die Aufgabe erhielt, ihren Gewinn zum erheblichen Teil
nicht den eigenen Angestellten, sondern der Gesamtheit der arbeitenden
Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Es zeigt sich aus der Ge-
schichte der beiden Organisationen, daß diese Aufgabe in der von
Hansemann ursprünglich geplanten Weise nicht gelöst werden konnte:
Die Verteilung des gemeinnützigen Gewinnanteils wurde zum Teil in
den Dienst der Propaganda für die Erwerbsunternehmung als solche
gestellt. Der Kampf der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesell-
schaft um die Verfügung über den ursprünglich ganz dem Aachener
Verein zugedachten Gewinnanteil ist ja ein Beweis dafür. Aber
andererseits ist es wichtig, daß bei der Neuregelung der Satzungen der
Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft 1875 die gemein-
nützige Gewinnverwendung beibehalten wurde trotz der auf ihre Ab-
schaffung zielenden Bestrebungen. Damit ist ein Beweis erbracht, wie
stark persönliche Faktoren auch in der Erwerbsunternehmung weiter-
wirken.
Dem Sinne nach ist also Hansemanns eigentümlicher Grundgedanke
seiner beiden Aachener Gründungen erhalten geblieben. Im einzelnen
bat er selbst dessen Abwandlung auch in anderen Hinsichten noch
selbst miterlebt. In den ersten Schriften spielt der Gedanke eine
Rolle, daß auch anderwärts gleiche Veranstaltungen mit ähnlichem
Zweck gegründet werden möchten. Dies ist nicht nur unterblieben, es
findet sich auch in der Geschichte Hansemanns oder seiner Gründungen
keine Andeutung darüber, daß ein praktischer Versuch in dieser Hinsicht
gemacht sei. Auch das ist ein Beweis für die Macht seiner Persönlichkeit:
nur wo er selbst mit seiner ganzen Kraft wurzelte und die Verhältnisse
überschaute, konnte etwas so Außergewöhnliches glücken. Ein anderer
interessanter Gedanke des — wie wir an seinen ursprünglichen Plänen
ja schon feststellen konnten — lebhaft springenden Geistes war der,
daß mit den Mitteln des Aachener Vereins gewissermaßen ein Versuchs-
feld für Wohlfahrtseinrichtungen geschaffen werden solle. Nicht dauernd
sollte der Aachener Verein die Wohlfahrtseinrichtungen (außer der Spar-
kasse) übernehmen, sondern nur so lange, bis „ihrer Zweckmäßigkeit
eine allgemeine Anerkennung gesichert sei und die entgegenstehenden
Vorurteile und etwaigen Befürchtungen beseitigt wären“. Ueber die
Wirkung dieser vorbildlichen Arbeit des Aachener Vereins hat sich
Hansemann sehr getäuscht. Nicht nur hat man ihm die einmal von
ihm übernommenen Arbeiten dauernd überlassen, sondern rechnete auch
darauf, daß die mit der Zeit steigenden Anforderungen dafür stets auch
von ihm aufgebracht werden würden. Man vertraute seiner Initiative neue
Fortschritte und ging sogar so weit, daß man anderwärts von Staat und
Gemeinde übernommene Leistungen getrost seinen Schultern auflegte.
Wir werden bei der Darstellung seiner Verwendungen (vgl. unten S. 395)
dafür genug Zeugnisse kennen lernen.
Miszellen. 381
Jedenfalls wird in der Geschichte der Unternehmung und in der
Geschichte der Wohlfahrtseinrichtungen diese Eigenart der Hansemann-
schen Gründungen Anspruch auf besondere Beachtung behalten.
II. Die Spareinrichtungen.
Aus dem von Hansemann ursprünglich vertretenen Programm von
Wohlfahrtseinrichtungen, denen der Gewinn der Aachen-Münchener
Feuerversicherungs-Gesellschaft und damit die Tätigkeit des Aachener
Vereins zugute kommen sollte, hatten die Sparkassen zunächst am
meisten Interesse erweckt. Und diese haben allezeit den Grundstock
der Arbeit des Aachener Vereins gebildet.
1839 bestanden in Preußen 85 Sparkassen mit 18 Mill. M. Ein-
lagen, 1906 1606 ‘Kassen mit 8788 Mill. M. Einlagebestand. Wie
bedeutsam an sich jeder Schritt in der Geschichte des Sparkassen-
wesens ursprünglich war, geht daraus hervor, daß die 1834 eröffneten
Sparstellen des Aachener Vereins 1839 bereits über 1 Million M. an Ein-
lagen aufweisen, den 18. Teil der Gesamteinlage hatte diese eine der
85 Kassen bereits aufgebracht.
Hansemann hat die Bedeutung des Sparens richtig erkannt: Nicht
nur dessen privatwirtschaftliche Wirkung in der Einzelwirtschaft, auch
seine volkswirtschaftliche Bedeutung für die Hebung des wirtschaft-
lichen Gesamtzustandes der unteren Volkskreise und für die Kapital-
ansamınlungen, welche die großen volkswirtschaftlichen Umwälzungen der
nächsten Menschenalter ermöglichen sollten: die Intensivierung der
Landwirtschaft, die Ausbreitung der Industrie, die Entstehung der
Eisenbahnen, den Ausbau der Städte. Demgegenüber war das Ver-
trauen zur Anlage kleiner Kapitalien in Wertpapieren wenig verbreitet,
fehlten doch die meisten großen Gruppen neuzeitlicher Wertpapiere noch
völlig. Die Spareinrichtungen selbst waren noch unbekannt, die vor-
handenen wenig zweckmäßig organisiert und von schwerfälligem Ge-
schäftsbetrieb: die Zahl der Annahmestellen gering und auf die großen
Städte beschränkt, die Einzahlungssummen hoch normiert, die Rück-
zahlungen erschwert durch lästige Kündigungsvorschriften. Demgegen-
über bahnt Hansemann erhebliche Verbesserungen an: Er geht gleich
auf große Verhältnisse aus; denn mit einer breiteren räumlichen Grund-
lage und größerem Kapital konnten die ängstlich bureaukratischen Maß-
nahmen kleiner Sparkassen am einfachsten überwunden werden. Dem-
gemäß wird der ganze Regierungsbezirk mit einem Netz von Annahme-
stellen überzogen: Neben der in Aachen bestehenden Zentralstelle
werden in anderen kleineren Orten des Regierungsbezirks von vorn-
herein 9 Nebenstellen eingerichtet, nach 10 Jahren bestanden bereits
20 Sparstellen. Bei dieser Zahl blieb es, bis 1893 eine Vermehrung in
Angriff genommen wurde, welche die Zahl auf den heutigen Bestand von
29 brachte, so daß alle wichtigeren Ortschaften eine Sparstelle be-
sitzen. In der ersten Zeit hielten die Mitglieder der Verwaltung, die
sich aus ehrenamtlich gewonnenen angesehenen Geschäftsleuten und
Beamten zusammensetzte, persönlich die Annahmetermine ab. Das war
für die Gewinnung des Vertrauens der Bevölkerung von großer Be-
382 Miszellen.
deutung. — Der Mindestbetrag der Einzahlungen wurde auf eine Mark
angesetzt, die Rückzahlungen nicht unnötig erschwert, wobei allmählich
die zur Sicherung der Sparkasse festgestellten Kündigungsvorschriften
in der Praxis außer acht gelassen wurden. — Der Höchstbetrag der
Einlage betrug bei den „Prämienkassen“ von
1834—1862 600 M.
1863—1874 900 ,,
seitdem 1000 ,
bei den „Sparkassen“ dagegen von
1834—1862 12000 M.
1862—1875 9000 „
1875—1897 10 000 „,
1897—1900 20 000 ,,
1900-—1902 ohne Grenze
seitdem wieder 20 000 M.
Dabei sind aber hinsichtlich der Verzinsung früher zeitweilig die höheren
Einlagen ungünstiger behandelt.
Die Propaganda des Sparwesens stößt auf Schwierigkeiten, die
heute überwunden sind: Hansemann klagt gleich im ersten Jahres-
bericht, daß „eine Einwirkung auf einen großen Teil der handarbeitenden
Bevölkerung nicht möglich sei, weil so viele zu derselben gehörige Per-
sonen nicht lesen können“. Trotzdem gibt der Verein 1338 ein eigenes
Blatt heraus, in dem alle möglichen Formen der Belehrung über den
Nutzen des Sparens angewandt sind, um dessen Verbreitung zu fördern.
Nach Di Jahren ist augenscheinlich der Stoff ausgegangen, das Blatt
erscheint nicht mehr. — Die entscheidende Neuerung und die wirksamste
und eigentümlichste Maßnahme war aber die Scheidung der Spar-
einrichtungen in eine Prämienkasse und eine gewöhn-
liche Sparkasse. „Auf sehr mühsames und verdienstliches Er-
sparen“ wollte Hansemann nach seinen ersten Plänen außer dem Zins noch
eine Prämie gewähren. Daher scheidet er einen Teil der Sparer aus, näm-
lich die der handarbeitenden Klasse angehörenden: 1) Handwerker ohne
Gesellen und nicht selbständige Handwerksarbeiter, 2) Fabriks- und Berg-
werksarbeiter, 3) Tagelöhner, 4) Dienstboten, 5) Personen, welche zwar
wegen Altersschwäche, Arbeitsmangel oder Dienstlosigkeit eine kürzere
oder längere Zeit nicht zu den vorbezeichneten Gruppen gehörten,
gleichwohl ihren Stand nicht eigentlich verändert haben. Dieser Klasse
von Sparern soll für einen gewissen Einlagebetrag nicht nur eine ständig
höhere Verzinsung gewährt werden, sondern auch der Uebergang zum
Sparen dadurch reizvoll gestaltet werden, daß ihnen für nachhaltiges
Sparen eine besondere Prämie gewährt wurde. Demgemäß wird als der
eine Teil der Spareinrichtung eine „Prämienkasse“ gegründet, welche
den Sparern bis zum Betrag von 600 M., 1863—74 von 900 M., seit-
dem von 1000 M. einen höheren Zinssatz gewährt, nämlich bis 1894
von 5 Proz., von da an bis 1902 4!/, und seitdem 4 Proz. Gegen-
über dem von der „Sparkasse“ gewährten Zins bestand danach zeit-
weilig eine Spannung von 21/, Proz., lange Zeit hindurch (1834—1892)
von 1?/, Proz., im letzten Jahrzehnt freilich nur noch von !/, Proz. zu-
gunsten der Prämiensparer. Außer dieser regelmäßigen „Zinsprämie“
Miszellen. 383
wurde außerdem nach einem etwas umständlichen Berechnungsver-
fahren noch eine „Extra- und Vorprämie“ für die ersten 60 M.
jedes Guthabens gewährt, welche am dritten Jahresabschluß nach
der ersten Ersparnis dem Guthaben im Betrag von 9 M. zugeschrieben
wurde. Das sind noch einmal 5 Proz. auf den ersparten Betrag. Diese
Lockungen wirkten und wirken heute noch fort, obwohl die Vor- und
Extraprämien seit 1902 abgeschafft sind. Bei mehreren Revisionen der
Prämiensparbücher auf die Berechtigung ihrer Inhaber zur Benutzung
der Prämienkasse wurde eine erhebliche mißbräuchliche Benutzung der
Einrichtung festgestellt. Heute gilt der Besitz einer Invalidenkarte
als Ausweis zur Benutzung der Kasse.
Die Mittel zur Gewährung dieser besonderen Vergünstigung flossen
zunächst aus dem Zinsertrag jener Ueberweisungen, welche die Aachen-
Münchener F.-V. gemacht hat, ferner aber zweifellos auch aus dem
Zinsertrag der in die „Sparkasse“ eingelegten Gelder, welche mit dem
niederen Zinssatz verzinst wurden. Die Zahl der jährlich neu auf-
genommenen Sparer zeigt erhebliche Schwankungen. Ihren Hoch-
stand erreichte sie 1897 mit 9971, während im letzten Jahrzehnt ein
erheblicher Rückgang bis auf 5508 im Jahre 1908 eintrat. Die Zahl
der am Jahresschluß vorhandenen Sparer zeigt eine fast
regelmäßig aufsteigende Kurve bis zum Jahre 1902, wo der Hoch-
stand mit 94936 Guthaben erreicht wurde. Seitdem trat ein Rückgang
ein auf 89015 im Jahre 1908. Das Gesamtguthaben der Sparer
zeigt in den ersten 30 Jahren ein langsames Ansteigen bis auf 4,2 Mill.
im Jahre 1860, wo auf jedes der 17000 Guthaben rund 247 M. ent-
fielen. Dann aber steigt das Gesamtguthaben mit alleiniger Ausnahme
der letzten 70er Jahre ganz gleichmälig stark bis 1900, wo mit 40,9
Mill. M. Gesamtguthaben ein Durchschnittsbetrag der 93500 Guthaben
von 437 M. erreicht wurde. Die dann wirksamen Hemmungen lassen
den Gesamtbetrag im Jahre 1908 nur auf 40,8 Mill. M. bei 89000 Gut-
haben mit je durchschnittlich 459 M. kommen.
Bemerkenswert ist das Verhältnis der Einzahlungen zu
den Rückzahlungen. Bis 1875 bewegt sich trotz vereinzelten
Ueberwiegens der Rückzahlungen die Linie der Einzahlungen und Rück-
zahlungen ziemlich gleichmäßig so, daß um ein geringes mehr ein- als
zurückgezahlt wird. Von 1876 an aber überwiegen meist die Rück-
zahlungen. Abgesehen von den infolge strengerer Kontrolle im letzten
Jahrzehnt notwendig gewordenen Rückzahlungen erklärt sich dies vor
allem folgendermaßen: Mit dem steigenden Betrag der Einzelguthaben
(vgl. dazu die Tabelle 3) wächst die Notwendigkeit, die den Höchst-
betrag überschießenden Beträge abzuheben und auf die Sparkasse zu
übertragen; das muß dann die an sich auf solch kleinen Guthaben
regelmäßig starke Bewegung erheblich steigern. Die Zunahme des
Gesamtbetrages beruht also vor allem auf der Gutschrift der Zins- und
sonstigen Prämien.
Der Zuschuß, den der Aachener Verein zu dem nach den Sätzen
der Sparkasse berechneten Zins der Einlagen in die Prämienkasse
zahlen mußte, belief sich von 1834—1908 auf 14,9 Mill. M. (darunter
384 Miszellen.
1,7 Mill. M. für Extra- und Vorprämie) bei einem Gesamtzinserfordernis
von 55,4 Mill. M. Das bedeutet also einen Zuschuß von rund 38 Proz.
der gezahlten Zinsen. Ueber die Berufszugehörigkeit der Sparer
ist eine fortlaufende Statistik geführt, welche aber leider infolge der
Gruppierung der einzelnen Berufe nicht ohne weiteres mit einer allge-
meinen Berufsstatistik vergleichbar ist, aber doch so viel Interessantes
bietet, daß sie im Auszug wiedergegeben sein mag.
Tabelle 2.
Von den Sparern der Prämienkassen gehörten zu den Arbeitern in
1908 1835—1908
m. w. zusammen | Die m. w. zusammen | Dy
Tuchfabriken 4063 | 2870 6 933 8] 15 807| 10711| 26518 8
Nadelfabriken 607 | 375 982 ı]| 4024| 1485| 5509 | 2
Maschinenfabriken 468 — 468 ı] 2361 — 2 361 I
Hüttenwerken 2 163 — 2 163 2| 8327 — 8327 3
Sonstigen Fabriken 5374| 1930| 7404 g| 16876) 8188| 25064 7
Bergwerken 4170 — | 4170 5] 13 936 — 13 936 4
Eisenbahnen kd — 1171 Il 4943 10 4953 3
Buchdruckereien 2351 — 225 — "ës — 785 | —
Dienstboten, einschließ- | |
lich landwirtschaftliche |
Arbeiter 6 215 |17 976 | 24191 27 | 26 793| 74400 101193 | 31
Näherinnen — |6453] 6453 7 — | 24527| 24527 8
Tagelöhner 7640| 5004| 5005 14 | 22753! 16411) 39164 | 12
Handwerker 13 691 — | 13691 15 | 50556) — 50559 | 15
Sonstige Arbeiter 5065 | 3555| 8620 ol 12212| 11 269 23481 7
Zusammen |50 852 38 163 | 89015 | 100179 373|147 001| 326374 | 100
Auffallend ist die starke Beteiligung der Frauen an der Spar-
tätigkeit.
Ueber die Höhe der Einlagen auf den einzelnen Prämienbüchern
und deren Entwicklung gibt folgende Uebersicht Auskunft:
Tabelle 3.
Am Schluß des Jahres befanden sich in Umlauf Prämienbücher
Davon entfielen auf die Bücher mit einer Einlage
bis 60 M. | 60—150 M. | 150—300 M. [300—600 M.|600—1000 M.
überhaupt
j
1835 1633 87 Proz. | 9 Proz. 5 Proz. 4 Proz. —
1855 12 689 24 on 23 y» 8 „ 34 » | =>
1875 48 700 22 D 17 n 16 HI 46 nm Gë vr
1908 | 89015 | 25 „ Ss ee Le | Re
Faßt man die Bücher mit Einlagen von über 300 M. zusammen,
so ergibt sich, daß deren Anteil an der Gesamtzahl ständig zunimmt
von 34 auf 46 und 51 Proz., sicherlich ein Beweis einerseits für die
Beharrlichkeit der Sparer, andererseits für die zunehmende Besserung
der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft.
1) Von 300—900 Mark.
Miszellen. 385
Neben der Prämienkasse wurde eine „Sparkasse“ eingerichtet.
Hansemann faßte diese zunächst auch als eine Wohlfahrtseinrichtung für
die handarbeitende Klasse auf. Sie sollte die Verwaltung der Guthaben
übernehmen, die den in der Prämienkasse anlagefähigen Betrag über-
schritten hatten. Außerdem sollte sie den nicht zur Benutzung der
Prämienkasse berechtigten Personen (siehe oben S. 382) der hand-
arbeitenden Klasse, sowie ferner auch handarbeitenden Personen „wegen
der großen Nützlichkeit der Sparkasse für jedermann, der nur kleine
Ersparungen machen kann und kleine erübrigte Kapitale auf kürzere
oder längere Zeit sicher gegen Zinsen unterzubringen wünscht“, dienen.
Noch 1846 hat sich Hansemann ausdrücklich dahin ausgesprochen, daß
die Sparkassen nicht die Aufgabe hätten, „dauernd die Verwaltung
größerer Vermögen zu übernehmen; der Zweck der Sparkassen sei voll-
kommen erreicht, wenn die Einleger sie zunächst zur Ansammlung
kleinerer Beträge gebrauchten und die angesammelten Guthaben dann
zurückzögen, wenn sich ihnen Gelegenheit böte, sie zu einem höheren
Zinsfuß unterzubringen“. Nach zwei Richtungen sind diese Grundsätze
für die Sparkasse des Aachener Vereins bedeutsam geworden: einmal
für die Bemessung der Höchstbeträge für Einzelguthaben. Diese
durften von 1834—1862 12000 M., 1862—1875 9000 M., 1875—1897
10000 M. nicht übersteigen. Von 1897 an hat dann aber der Verein
diesen Höchstbetrag auf 20000 M. erhöht, von 1900—1902 sogar jede
Grenze fallen lassen. — Ferner hat der Verein aber ständig für die
Einlagen in die Sparkasse an einer ziemlich niedrigen Verzinsung
festgehalten: 1834—1882 zahlte er 31/,, 1882—1887 3, 1887—1895
sogar nur 21/, Proz., 1895—1900 wieder 3, 1900—1901 31/,, 1901/02
A1, 1903/07 31/,, 1908—1910 3!1/, Proz. und ist im Begriff, wieder
auf 31/, Proz. herabzugehen. Verglichen mit der allgemeinen Höhe des
Zinses dürften wahrscheinlich die seit 1895 festgesetzten Zinssätze im
allgemeinen eine günstigere Behandlung der Sparer in dieser Zeit dar-
stellen als die von 1834—1882 gezahlten Sätze. Dabei hat er die
höheren Einlagebeträge zeitweilig noch ungünstiger behandelt: 1834 bis
1862 wurden Beträge über 1800 M., 1897—1900 solche über 10000 M.
nur mit 21/, Proz. verzinst. Aus diesen Angaben geht hervor, und die
heutige Praxis des Vereins hält daran fest, daß mindestens seit 1897
die Verwaltung kleiner Vermögen mit als Aufgabe der Sparkasse an-
gesehen wird. Denn im allgemeinen kann es sich bei den 10000 M.
übersteigenden Beträgen nicht um die Ersparnisse der handarbeitenden
Klassen im Sinne Hansemanns handeln. — Die Zahl der am Jahres-
schluß vorhandenen Einleger zeigt bis 1892 eine fast gleich-
mäßige, von da ab eine sprunghafte Zunahme und betrug 1908 77355.
Die Zahl der jährlich neu hinzukommenden Einleger weist
eine unregelmäßig und langsam steigende, von 1893—1897 und dann
von 1902—1908 sprunghaft steigende Linie. Von 1850—1893 war sie
nur von 1900 auf 4000 gestiegen, 1908 betrug sie 10400. Das Ge-
samtguthaben am Jahresschluß wächst bis 1869 ziemlich gleich-
mäßig auf 21 Mill. M., steigt dann schnell bis 1886 auf 47 Mill, um
bis 1893 ziemlich auf der gleichen Höhe zu bleiben. Dann hebt es
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 25
386 Miszellen.
sich in 15 Jahren auf weit über das Doppelte mit 109 Mill. M. Der
Durchschnittsbetrag der Einlagen erreicht bereits 1838
845 M., überschreitet Ende der Oer Jahre 1000 M. und steht am
höchsten im Jahre 1905 mit 1496 M., während er 1908 auf 1407 M.
zurückgeht. Das Verhältnis der Ein- und Rückzahlungen
ist so, daß fast ständig die Rückzahlungen um ein geringes hinter den
Einzahlungen zurückbleiben. Der wichtigste Faktor für das Anwachsen
des Gesamtguthabens sind danach die gutgeschriebenen Zinsen.
Ueber die Höhe der Einlagen auf den einzelnen Sparkassenbüchern
und ihre Entwicklung gibt folgende Tabelle Auskunft:
Tabelle 4.
Se Schluß des Jahres befanden sich in Umlauf Einlagebücher
Davon « entfielen auf die Bücher mit einer Einlage von
überhaupt
bis 60 M. | 60—150 M. |190- 300 M. |300— -600 M. -| über 600 M.
er WE =! — = =
1850 6141 17 Proz. 11 Proz. 11 Proz. 16 Proz. 45 Proz.
1875 | 23 208 2I y II, IO un 13 44 y»
1908 | 77355 23 » In 10 » 12 „ 43 a»
Danach sind die Verschiebungen im verhältnismäßigen Anteil der
einzelnen Größenklassen an der Gesamtzahl nicht sehr erheblich.
Das Verhältnis, in dem Prämien- und Sparkassen des Aachener
Vereins während dessen Geschichte von 75 Jahren standen, hat sich
verschoben. Ursprünglich stand, sachlich und an dem erforderlichen
Arbeits- und Zinsaufwand gemessen, die Prämienkasse im Vordergrund.
Aber schon 1837 hat die Sparkasse einen größeren Einlagebestand am
Jahresschluß als die Prämienkasse. Freilich noch 1873 haben beide
Kassen ungefähr den gleichen Zinsaufwand zur Gutschrift gebracht.
Indes waren ihre Verhältnisse doch ganz erheblich verschieden ge-
worden: im gleichen Jahre waren in der Prämienkasse 44018 Gut-
haben, in der Sparkasse ungefähr halb soviel: 21989: es traten in
jener 6415, in dieser 2686 neue Einleger hinzu. In der letzten Zeit
hat sich das Verhältnis verschoben: die Prämienkasse hat 1908 89015,
die Sparkasse dagegen 77355 Konten mit einem Neuzugang jene von
5508, diese von 10391 Sparern. Damit tritt die Sparkasse, deren Ge-
samtbestand den der Prämienkasse schon wenige Jahre nach der Grün-
dung überholt hatte, mit diesen auch hinsichtlich der Zahl der Sparer
und der Konten erfolgreich in Wettbewerb.
Versucht man, die Beobachtungen über die das Sparen beein-
flussenden Tatsachen zusammenzufassen, welche das Material von
75 Jahren ermöglicht, so können diese deshalb Anspruch auf besondere
Beachtung erheben, weil in dem Bezirk Aachen mit anfänglich 362000,
heute 651000 Einwohnern bis 1895 außer den Einrichtungen des
Aachener Vereins keine Sparkassen bestanden. Auch heute spielt diese
die Hauptrolle, obwohl inzwischen 12 öffentliche Sparkassen im Bezirk
errichtet sind. Denn 1906 entfielen von sämtlichen im Bezirk um-
laufenden 208406 Sparbüchern mit 207,6 Mill. M. Einlagen auf den
Miszellen. 387
Aachener Verein 164377 mit 147,3 Mill. M. Einlagen, also etwa Drei-
viertel. Wir haben also das Gesamtbild eines räumlichen Bezirks vor
uns, der größer ist als die Bezirke, die sonst von Sparkassen einheitlich
umfaßt werden.
Die erste Eigenart des Aachener Vereins ist sein ausgedehntes
Netz von Annahmestellen. In dem ersten Jahrzehnt wird dies so aus-
gestattet, wie es dann fast 50 Jahre blieb. Als 1894—98 dann eine
erhebliche Vermehrung der Annahmestellen eintrat (von 17421 auf
29 +29), machte sich die gesteigerte Spargelegenheit sowohl bei den
Prämienkassen als besonders bei den Sparkassen in einem starken An-
wachsen der neu aufgenommenen Sparer, der Neueinlagen und des Ge-
samtbestandes geltend.
Die zweite Besonderheit des Aachener Vereins liegt in der Prä-
miierung der kleinen Sparer in der Prämienkasse. Sie hat sich als ein
außerordentlich wirksames Mittel zur Heranziehung von Sparern er-
wiesen, sowohl was die Prämienkasse allein anlangt, als auch wenn
man sie als Vorstufe der Sparkasse in Betracht zieht. Bis zur Jahr-
hundertwende bewährt sich die werbende Kraft, indem die Neuauf-
nahmen nicht gleichmäßig, aber doch im ganzen stets wachsen und der
Gesamtbestand an Sparern ständig und regelmäßig zunimmt. Seitdem
sind die Neuaufnahmen erheblich weniger geworden und der Gesamt-
bestand bleibt auf der erreichten Höhe. Neben der schärferen Kon-
trolle und den gleich zu besprechenden Herabsetzungen des Zinsfußes
mag für die Abnahme der Neuaufnahmen der Wegfall der Vor- und
Extraprämie, die ja für den ersten Anfang eine jährliche Verzinsung
kleinster Summen mit 10 Proz. bedeutete, mitwirken. Aber man darf
doch nicht vergessen, daß die Zahl der zur Benutzung Berechtigten
sich allmählich erschöpft. Denn die Kinder bis zum 14. Jahr, die ein
Drittel der Bevölkerung ausmachen, kommen für die Prämienkasse nicht
in Betracht. Dann aber, wenn man diese abzieht, bleiben rund 430 000
Einwohner, von denen 90000, also jeder 5. ein Prämienbuch besitzt.
Von dem Rest von 340000 besitzen Sparkassenbücher des Aachener
Vereins 70000 und der anderen Sparkassen 44000, so daß davon auf
3 Einwohner außerdem eines der anderen Sparguthaben kommt. Rechnet
man hierfür die Kinder wieder mit, dann ergibt sich immer noch auf
jeden 5. Menschen ein Sparkassenbuch.
Was die Einwirkung des Zinssatzes auf die Bewegung des Ein-
lagebestandes anlangt, so ist nicht zu vergessen, dass dessen Fort-
setzung vielfach von dem Andrang der flüssigen Mittel zur Sparkasse
selbst abbängt und er nicht deren Ursache, sondern deren Wirkung
sein kann.
Bei den Prämienkassen kommt das weniger in Betracht. Denn
hier war der Zinssatz ausdrücklich zu dem Zweck normiert, um Sparen
zu belohnen, d. h. doch um zur Kapitalbildung anzulocken und damit
Kapital der Kasse zuzuführen. Zudem ist die Höhe des Zinssatzes
sich bis 1894 gleich geblieben. Seine zweimalige Herabsetzung um
!/, Prozent auf 4 Prozent wirkt deutlich in einer Verminderung der
neuzutretenden Sparer und der Neueinlagen und in einer Steigerung
25*
388 Miszellen.
der Rückzahlungen. Aber die Wirkung ist beide Male doch auf einen
kurzen Zeitraum von 2—3 Jahren beschränkt.
Bei der Sparkasse zeigt die Herabsetzung des Zinsfußes das erste
Mal 1882 eine kaum merkliche Steigerung der Rücknahmen und eine
ebenso unbedeutende Minderung der Neueinlagen. Das zweite Mal
1887 ist die Wirkung etwas stärker und führt zu einer Herabminderung
des gesamten Einlagebestandes. Beide Wirkungen halten bis zur
nächsten Zinsfußerhöhung an. Die nächste Herabsetzuug 1902 macht
sich nur in einer ganz geringen Minderung der Zahl der Neueinlagen
geltend. Wichtiger ist die 1898 eingetretene Herabsetzung des Zins-
fußes für Einlagen über 10000 Mark, die zu stark steigenden Rück-
nahmen und einer vorübergehenden kleinen Herabminderung des Ge-
samtbestandes führt. Die den Herabsetzungen folgenden Erhöhungen
des Zinsfußes machen sich sehr schnell im Steigen der neuhinzutretenden
Einleger, der Neueinlagen und des Gesamtbestandes fühlbar.
Die Aenderung der Bestimmungen über den Höchstbetrag
scheint nur eine mittelbar hemmende oder fördernde Wirkung auszu-
üben. Aus den graphischen Darstellungen ergibt sich keine deutliche
Wirkung; die Benützung dieser Möglichkeit bequemer Vermögens-
verwaltung scheitert doch wohl vielfach an dem verhältnismäßig niederen
Zins. Die große Steigerung des Zuwachses im Gesamtbestand scheint
nach eingehenden Berechnungen in den Einlagebeträgen zwischen 600
und 10000 Mark zu erfolgen. 1861 erfolgte die Herabsetzung mit der
Absicht, den Schwierigkeiten der Kapitalanlage zu begegnen. Trotzdem
steigen Neueinlagen und Gesamtbestand wie bisher weiter. Hier ist
also nur ein außergewöhnliches Heraufschnellen, wie etwa von 1894 ab,
verhindert worden.
Die Einwirkung steigender Konjunktur macht sich in der
Regel so geltend, daß Neueinlagen aus dem Mehrverdienst gemacht werden,
aber ebenso erhebliche Entnahmen stattfinden, um an den günstigen Er-
gebnissen der Konjunktur, sei es durch Verwendung im eigenen Betrieb,
sei es durch anderweite lohnendere Anlage teilzunehmen. Daher nimmt
die Sparkasse an der Möglichkeit gestiegener Verzinsung ihren eigenen
Anlagen bei steigendem Zinsfaß nur in geringem Maße teil. In
Zeiten weichender Konjunktur bleiben die Neueinlagen der Arbeiter
aus; das zeigt sich namentlich in der Prämienkasse. Dagegen zahlen
viele Einleger die Kapitalien, die sie im eigenen Betriebe oder in
anderen Anlagen nicht nutzbringend verwerten können, bei der Spar-
kasse ein, welche dann Schwierigkeiten mit einer gut verzinslichen
Unterbringung hat und selbst Kapitalüberfluß empfindet.
Von den eigentlichen Krisenjahren zeigten sich in der Ent-
wickelung der Prämienkasse bei der Zahl der neuen Sparer, der Neu-
einlagen und der Rückzahlungen nur späte Wirkungen des Jahres 1873:
von 1875 ab sinkt die Inanspruchnahme der Kasse und erreicht erst
1884 wieder den Stand von 1874. Aber im ganzen bedeuten diese Jahre
doch keinen Rückgang, sondern nur einen Stillstand. 1901 machen sich
die Wirkungen später geltend, ebenso 1907, treffen allerdings aber mit
Zinsherabsetzungen usw. (vergl. oben) zusammen. In der Sparkasse
Miszellen. 389
sind die Wirkungen ähnlich, aber nicht so anhaltend. Der Rückgang
von 1875 ist bereits 1879 eingeholt. Um die Jahrhundertwende setzt
der Rückgang der Einlagen und das Wachsen der Rücknahmen schon
in der Hochkonjunktur ein; bereits das Jahr 1901 bringt wieder einen
Rückfluß der Kapitalien zur Sparkasse. 1907 zeigt nur ein Anwachsen
der Rückzahlungen bei gleichbleibenden Einzahlungen.
Alle diese verschiedenen Momente wirken also hemmend und för-
dernd auf die Benutzung der Spareinrichtungen. Aber man kann ihre
Wirkungen doch nur mit den Wellen vergleichen, welche über einer
tiefen Wassermenge die Oberfläche bald heben, bald senken. Unter
ihnen vollzieht sich die Benutzung der Spareinrichtungen in starker
Gleichmäßigkeit. Im ganzen besteht in dem Steigen der Bevölkerung
und deren Wohlstand die wichtigste Voraussetzung für das dauernde
Wirken des erziehlichen Faktors, der in der Darbietung der Gelegen-
heit, der unzweifelbaften, in keinem Augenblick erschütterten Sicher-
heit der Kapitalverwaltung und dem Beispiel zweier Menschenalter besteht.
Das Gefühl der Sicherheit der Sparer wächst mit der Ein-
schätzung der öffentlichen Verhältnisse im Gefühl der Bevölkerung,
mit dem Alter der Einrichtungen des Aachener Vereins und der weiteren
Verbreitung der Spartätigkeit, des Wertpapierbesitzes und damit des
Verständnisses für gewisse Grundvoraussetzungen des Kreditverkehrs.
Man kann das deutlich an der Geschichte jener Ereignisse verfolgen,
bei denen das öffentliche Leben starken Erschütterungen ausgesetzt
war. Deren Einwirkungen auf den Aachener Verein gingen ursprüng-
lich sehr weit, und später sieht man mit Verwunderung, daß sie kaum
noch merkbare Spuren zurücklassen.
Das Revolutionsjahr 1848 führt zu einem ersten Sturm auf die
Sparkassen. Der Verein war mit einem Vermögen von etwas über
2 Millionen Thaler in das Jahr eingetreten: innerhalb dreier Monate
mußte er bei verhältnismäßig geringen Einlagen mehr als 825000 Thaler
zurückzahlen, das heißt: über ein Drittel seines Bestandes. Das war
für den noch jungen Verein eine schwere Zeit, und nur langsam
besserte sich der Zustand in der Prämienkasse, schneller in der Spar-
kasse. Aber die Probe war bestanden.
Die Mobilmachung gelegentlich des italienischen Krieges 1859, in
den aber Preußen selbst nicht verwickelt wurde, erschütterte noch ein-
mal das Geschäft. Ende August standen die Gesamtguthaben der
Sparer infolge der plötzlichen Rücknahmen um 916000 Thaler unter
dem Bestand des Vorjahres, das mit 4,5 Millionen Thaler abgeschlossen
hatte.
Während die kriegerischen Verwickelungen von 1864 ohne spür-
bare Wirkungen blieben, wurde der Krieg von 1866 Anlaß zu lebhafter
Unruhe: Vom Mai bis zum Juli nahmen die Sparguthaben um 1,1 Mill.
Thaler, etwa um "le, ab. Freilich doch schon weniger als 1859, wo
Il zurückgegezahlt werden mußte. Aber schon im August flossen
die Gelder reichlich zurück.
Dem gegenüber erscheint die Erschütterung im Sommer 1870
gering. Schon im September war die Einzahlung bei den Prämien-
390 Miszellen.
kassen stärker als die Rücknahme. Im ganzen betrug bei einem
Guthaben von 32,1 Millionen Mark der Gesamtbetrag der Einzahlungen
rund 13 Millionen Mark, der der Rückzahlungen 15,3 Millionen Mark,
sodaß das Mehr an Rückzahlungen doch nur !/,, des Bestandes
im ganzen Jahr ausmachte.
Die Tatsache, daß bei diesen Gelegenheiten die Zahlungsfähigkeit
des Aachener Vereins keinen Augenblick zweifelhaft geworden war, hat
das Zutrauen zu seiner Geschäftsführung natürlich wesentlich gestärkt.
III. Die Vereinsorganisation und die Vermögens-
verwaltung.
Aus dem von Hansemann ursprünglich in Aussicht genommenen
Verein ist schon in seinen Händen ein Apparat geworden, der den
Zweck hat, die Verwaltung der mit den Mitteln der Aachen-Münchener
F. V. geschaffenen Einrichtungen durch ehrenamtliche Mitwirkung er-
fahrener Geschäftsleute!) zu ermöglichen, durch Einbeziehung von
Staats- und Kommunalbeamten das Zutrauen zu ihnen zu erhöhen und
der Aachen-Münchener F. V. dauernd einen Einfluß auf die Verwendung
der von ihr ursprünglich zur Verfügung gestellten Mittel zu sichern.
Dieser tatsächliche Zustand ist dann auch zum Inhalt der Satzungen
gemacht worden, welche neu erlassen werden mußten, als 1875 mit der
Lösung des Verhältnisses zur Aachen-Münchener F.V. (vergl. oben S. 379)
die Verhältnisse des Aachener Vereins von Grund auf sich änderten. Hanse-
mann hatte ursprünglich eine Verbindung von gebundener Stiftungs-
verwaltung und freier Vereinsthätigkeit vorgesehen und zu dem Zweck
allgemeinen Beitritt, Mitgliedsbeiträge und die Möglichkeit weiterer Ein-
flußnahme der Mitglieder auf die Verwaltung eingerichtet. Heute ist der
Einfluß der Mitglieder des Vereins beschränkt auf die Teilnahme an
den Wahlen der Vereinsverwaltung. Die Mitglieder des Vereins
haben lediglich Wahlrechte; sie treten nur bei der Wahl der Kreis-
kommissionen in Tätigkeit, deren jeder Kreis des Regierungsbezirks
eine besitzt. Die Kreiskommission hat in ihrem Bezirk die Geschäfte
des Vereins zu erledigen und die Vertreter zur Bezirksversammlung zu
wählen. Die Kreiskommission besteht aus Ehrenmitgliedern, die die
Bezirkskommission ernennt, aus Delegierten der kommunalen Vertretungen,
die auf 10000 Einwohner einen Delegierten ernennen können, aus den
Landräten und Bürgermeistern kreisfreier Städte, sowie aus Personen,
welche die im Kreis ansässigen Aktionäre der Aachen-Münchener
1) Mit Recht sagte bei dem 75. Jubiläum der Regierungspräsident Dr. v. Sandt:
„Die Geschichte des A. V. ist zugleich eine Ehrentafel der ersten Familien Aachens,
die ihre besten Männer in den Dienst des dem Volkswohl und der Nächstenliebe ge-
widmeten Vereins gestellt haben.“ Als Präsidenten des Vorstandes haben gewirkt:
David Hansemann 1834—42, Joh. Friedr. Pastor 1842—66, Geh. Kommerzienrat
Scheibler, 1866—81, Geh. Kommerzienrat v. Wagner 1881—98, Geh. Kommerzienrat
Erckeng 1898—1901, Geh. Kommerzienrat Dr. ing. Delius seit 1901, letzterer wie
mehrere seiner Vorgänger auch Handelskammerpräsident.
Miszellen. 391
wählen. In der Bezirksversammlung, die jährlich in der Regel
einmal tagt, treten zu den von den Kreisversammlungen gewählten
Mitgliedern der Präsident und zwei Räte der Kgl. Regierung in Aachen,
sowie von ihr selbst gewählte Ehrenmitglieder und die Mitglieder des
Vorstandes und der Bezirkskommission. Die Bezirksversammlung ist
das oberste beschließende Organ des Vereins. Sie bestellt als oberstes
Verwaltungsorgan den Vorstand, dem als Kontrollorgan die Be-
zirkskommission zur Seite gestellt wird. In der Bezirksversamm-
lung wie in der Bezirkskommission führt der Regierungspräsident den
Vorsitz. Der Vorstand hat „die nützlichste Rentbarmachung der dis-
poniblen Gelder“ zu besorgen, sowie die „Verwendungen“ im einzelnen
festzustellen. Er stellt die Vereinsbeamten an. Je größer die Vereins-
tätigkeit wurde, um so mehr wurde das Schwergewicht der Verwaltung
in die Tätigkeit des Vorstandes und der Bezirkskommission verlegt, um
so mehr wuchs auch die Zahl der Beamten, die der Verein in der
Zentralverwaltung und bei seinen einzelnen Veranstaltungen anstellen
mußte.
Alle diese umständlichen Bestimmungen haben im letzten Grunde
keinen anderen Zweck, als eine ständige Verbindung mit den lokalen
Interessen im Regierungsbezirk herzustellen und eine Kontinuität der
Verwaltung in deren Interesse zu sichern.
Der Vereinszweck ist in dem „revidierten Statut von 1877“
gegenüber Hansemanns ursprünglichen Absichten erweitert worden.
„Die Beförderung der Arbeitsamkeit unter der ärmeren Volksklasse“
war früher als Zweck bezeichnet und als besonderes Mittel zu dessen
Erreichung die Fürsorge für die Kinder angegeben. Jetzt wird der
Zweck folgendermaßen bestimmt:
1) Durch Anregung der Arbeitsamkeit unter der ärmeren Volks-
klasse des Regierungsbezirks Aachen, sowie durch Erleichterung der
Beschaffung der Subsistenzmittel für dieselbe der Verarmung vorzu-
beugen und insbesondere die Bettelei zu beseitigen, die Kinder der
geringeren Volksklasse zur Arbeit anzuhalten, ihnen Liebe zu derselben
beizubringen und sie dadurch, sowie durch Förderung einer guten Er-
ziehung und Ausbilduug, geschickt und geneigt zu machen, sich ihr
Brot zu erwerben;
2) technische, gewerbliche und landwirtschaftliche Unterrichts-
anstalten im Regierungsbezirk Aachen zu gründen und Beiträge zu
deren Unterhaltung zu geben;
3) sowohl die ihm anvertrauten Ersparnisse der zur handarbeiten-
den Volksklasse des Aachener Regierungsbezirks gehörenden Personen,
als die ihm sonst übergebenen Gelder anzulegen und zu verwalten,
sowie den Sparern und Einlegern einen angemessenen Zinsgenuß zu
gewähren.
Damit ist der aus der mehr als 40-jährigen Praxis des Vereins
entwickelten Erweiterung seiner Tätigkeit auf gemeinnützige Veran-
staltungen im Interesse des Regierungsbezirks Aachen die satzungs-
gemäße Begründung und Begrenzung gegeben.
392 Miszellen.
Die Mittel des Vereins zur Durchführung seiner Aufgaben
flossen ihm zunächst zu aus der Ueberweisung seines Gewinnanteils
von der Aachen-Münchener F.V. Bis 1875 waren ihm aus dieser Quelle
3161181 M. zugeflossen, nachdem ihm durch die erste Ueberweisung
1834 die erhebliche Summe von 106158 M. als erste Ausstattung zu-
gewiesen war. Bis zum Jahre 1865 hat man diese Ueberweisungen
stets zurückgelegt; ihr Betrag belief sich bis dahin auf 1833636 M.
Von da an bis 1875 hat man sie nach Bedürfnis auch zu laufenden
Ausgaben mit verwendet. So hatte man einerseits eine Rücklage für
die Spareinrichtungen, andererseits in deren jährlichem Ertrag eine Quelle
für gemeinnützige Verwendungen.
Ueber diese Mittel hinaus kamen aber die aus der Vermögensver-
waltung sich ergebenden Ueberschüsse ebenfalls zur Rücklage. Seit
1893 hat man rechnungsmälig einen Teil derselben als Spezialrücklage
aus der Kapitalrücklage ausgeschieden. Die letztere wurde auf 4,5 Mill.M.
festgesetzt, der Spezialrücklage werden besondere Verwendungen ent-
nommen; ihre Höhe schwankte daher und belief sich 1908 auf 581 319 M.
So beläuft sich die Gesamtrücklage 1908 auf 5,08 Mill. M.
Neben seinem eigenen Kapital steht nun aber die Verwaltung der
ihm im Betrieb seiner Spareinrichtungen anvertrauten Kapitalien. Diese
wuchsen zuerst langsamer, später immer schneller. 1839 war die erste
Million erreicht, 1853 die zehnte, 1879 die fünfzigste, 1896 die hundertste
überschritten, 1908 die 150. beinahe erreicht. Die Verwaltung dieser
eigenartigen Vermögensmasse bildete die Hauptaufgabe des Vereins.
Die Grundsätze für die Anlage dieser Gelder mußten ausgehen von der
unbedingten Sicherheit der ganzen Summe und der steten Flüssigkeit
eines großen Teils der Gesamtsumme. Hohe Verzinsung war um des-
willen weniger nötig, weil sich bald herausstellte, daß die auf außer-
gewöhnliche Zinsen aufgebaute Prämienkasse nur den kleineren Teil
des gesamten Guthabens aufbrachte, und ferner der Aachener Verein
mit Rücksicht auf diese hohe Verzinsung der Prämieneinlagen immer
eine verhältnismäßig niedrige Verzinsung seiner anderen Spareinlagen
ohne Schädigung des Spartriebes in der Bevölkerung beibehalten konnte.
Welchen Unterschied das bedingt, kann man aus den Zinsbeträgen des
Jahres 1875 sehen: beiden Kassen wurde damals der Betrag von über
900000 M. gutgeschrieben, der Prämienkasse für 18,4 Mill. M., der
Sparkasse für 28,4 Mill. M. Guthaben.
Im ganzen genommen ist zweifellos die Rentabilität der gewählten
Vermögensanlagen eine günstige und ihre Sicherheit eine große ge-
wesen; ob sie überdurchschnittlich war, läßt sich schwer feststellen.
Denn für die Beurteilung der Geschäftstätigkeit stehen nur die für den
Jahreschluß aufgestellten Vermögensübersichten zur Verfügung und
weder Durchschnittsberechnungen noch Gewinn- und Verlustrechnungen
mit Angabe der Abschreibungen auf die Vermögenswerte. Es ist be-
dauerlich, daß für die Geschichte eines so großen Kapitalvermögens die
Unterlagen aus dem zur Verfügung stehenden Material sich nicht oder
doch nur mit ganz unverhältnismäßigem Arbeitsaufwand beschaffen
Miszellen. 393
lassen. Wir sind daher nur auf einige sehr vorsichtig zu formulierende
Schlüsse beschränkt. Weder sind bei den von uns ausführlicher mit-
geteilten politischen Verwicklungen Schwierigkeiten bei der Rückzah-
lung entstanden, roch haben in jenen Jahren die Verwendungen eine
Einschränkung erfahren. Vielmehr sind damals sogar besondere Auf-
wendungen und Stiftungen zur Unterstützung der Familien von Re-
servisten und für Invaliden gemacht worden. Weiter ist auch bei den
mehrfach eingetretenen erheblichen Kursrückgängen festverzinslicher
Wertpapiere nie eine merkbare Verminderung der Kapitalrücklage
nötig geworden. Nur einmal hat der Verein bei einer Subhastation
ein Grundstück in Aachen übernehmen müssen. Alle diese Beobach-
tungen lassen den Rückschluß auf eine sachgemäse Kapitalanlage zu,
welche die verschiedenen Anlagenmöglichkeiten nach den wechselnden
Verhältnissen des Kapitalmarktes geschickt kombiniert hat.
Für die Wahl der Anlage war der Grundsatz maßgebend, daß, um
die schnelle Realisierbarkeit eines erheblichen Teiles der Gesamtanlage
zu sichern, die Anlage nicht in erheblichem Maße im Aachener Bezirk
selbst erfolgen dürfe. Denn sonst würde bei eintretender Beunruhigung
der Sparer die Flüssigmachung von Mitteln selbst die Schwierigkeiten
erhöhen. Auch die Inanspruchnahme ausländischer Märkte mußte in
solchen Fällen möglich sein. Ursprünglich war der Anteil an Wert-
papieren gering, dagegen nahm die Anlage in Wechseln und Hypo-
theken einen erheblichen Raum ein. Demgegenüber treten später die
Wertpapiere stark hervor, während die Hypotheken vernachlässigt
werden. In neuester Zeit regt der Hochstand des Diskonts um 1900
noch einmal zur Vermehrung des Wechselbestandes an. Dann aber
wird den Hypotheken mehr Aufmerksamkeit gewidmet.
Die 1834 festgestellten, 1842 verbesserten Bestimmungen sehen
als Anlagemöglichkeiten vor:
1) Guthaben bei Banken, zuerst bis 15000, jetzt 90000 M. bei
einem Bankhaus.
2) Hypotheken; bei Häusern soll das Unterpfand das Doppelte,
bei ländlichen Grundstücken das Anderthalbfache des Darlehns wert sein.
3) Lombard-Darlehen.
4) Seit 1859 Darlehen an Körperschaften und öffentliche Institute.
5) Wechsel mit mindestens zwei guten Unterschriften.
6) In- und ausländische Staats-, Provinzial- und Kommunal-Schuld-
dokumente, dazu seit 1842 garantierte Eisenbahnaktien und -Obliga-
tionen, seit 1900 von der Reichsbank lombardfähig erklärte Wert-
papiere. Ursprünglich soll in diesen Wertpapieren nur 1/,, seit 1842
IL, 1852 1/4, 1855 4, der Guthaben angelegt werden; 1898 wird
jede Grenze aufgehoben. Hierin spiegelt sich sehr gut die allmählich
wachsende Bedeutung der Wertpapiere für die Kapitalanlage über-
haupt.
Einen ungefähren Anhalt für die tatsächliche Zusammensetzung
der Anlage des Aachener Vereins bietet die folgende Tabelle:
394
Miszellen.
Tabelle 5.
Davon waren Prozent
Jah Gesamt- Lombard-| „ P
Kai betrag der Bank- |Wechsellundandere ZU- Hypo- Wert- Zu:
Aktiva guthaben Darlehen |$ammen) theken papiere |sammen
— 1 —
1 2 3 1—3 4 5 4—5
1839 1,3 Mill. M. 5 17 — 22 71 — 7I
1852 | 100 a »„ 7 14 12 33 34 27 61
1875 | 501 » » 4 11 9 24 37 34 71
1900 |1244 „ » I 22 8 31 15 52 67
1908 [155,8 » » I 6 9 16 34 47 81
Die Zusammensetzung des Wertpapierbestandes erhellt aus folgender
Tabelle, welche für einige Stichjahre die Gruppierung nach wichtigen
Kategorien wiedergibt.
Tabelle 6.
1839 1852 1875 1890 1908
M. M. M M. M.
I. a) Inländische Staatsanleihen — 105 998 | 1 695 144/39 038 133/40 671 653
b) Ausländische Staatsanleihen — — — 2982 735| 385 700
II. Inländische Kommunalpapiere 7386| 30000 14 820| 1048 975|13 052 781
III. a) Inländische Eisenbahnpapiere | — |2594 136 |13 771 845| 4 164 275| 2 192929
b) Ausländische Eisenbahnpapiere| — — I 508 572| 6 850 934| 5 074 824
IV. Inländische Hypoth. Pfandbriefe | —- — — — IT 097 514
Gesamtsumme |7 386| 2 730 134 |16 990 381|54 085 050|72 495 402
Bemerkenswert ist das erfolgreiche Bestreben zur Herabdrückung
der Barbestände. Während diese in älterer Zeit — zuletzt nach 1876
— häufiger über 4, selbst beinahe 6 Proz. der Gesamtaktiva ausmachen,
sind seit 1887 nie mehr als 2, seit 1901 sogar nie mehr als 1 Proz.
vorhanden: ein Beweis für die bessere Ausnützung unserer Zahlungs-
mittel in der Volkswirtschaft überhaupt.
IV. Die Verwendungen.
Wäre an sich die Durchführung und Sicherstellung der Spar-
einrichtungen und die dauernde Beibehaltung einer besonders hohen
Verzinsung der Einlagen aus der handarbeitenden Klasse schon eine
bemerkenswerte Wohlfahrtsförderung gewesen, so hat sich der Aachener
Verein doch nicht darauf beschränkt. Freilich ist auf diese seine erste
und eigentümlichste Wohlfahrtseinrichtung der größte Teil der Mittel
entfallen, die als „Verwendungen“ bezeichnet, und aus den Ueber-
schüssen seiner Vermögensverwaltung, von 1865—1875 wohl auch un-
mittelbar aus den Ueberweisungen der Aachen - Münchener Feuer-
versicherungs - Gesellschaft entnommen wurden. Aber daneben hat
Hansemann schon andere Einrichtungen mit betrieben, welche dem
Miszellen. 395
gleichen Zweck, der wirtschaftlichen Hebung der unteren Klassen, vor
allem der „Beförderung der Arbeitsamkeit“, dienen sollten, d. h. in
seinem Sinne der Hebung des Fleißes, der Erziehung zu regelmäßiger
Arbeit, der Weckung des wirtschaftlichen Verständnisses zur Besserung
der Hauswirtschaft. Daß er dabei vor allem immer wieder an die
Kinder gedacht hat, beweisen die ersten nicht ausgeführten Pläne für
die Hebung des Schulwesens, namentlich aber die zuerst und dann
ständig besonders gepflegten Kinderbewahranstalten.
Freilich sind Hansemanns Gedanken auf diesem Gebiete, so eigen-
artig sie waren, nicht zur vollen Ausführung gekommen. In ihrer
Eigenart hätten sie überhaupt nur von ihm selbst ausgeführt werden
können. Auch wenn sein Nachfolger selbständiger auf diesem Gebiet
verfahren wäre, den rastlosen Wechsel, das Drängen nach Fortschritt
mit einer dauernden Sicherung seiner Anregungen und Gründungen
konnte nur eine so überragende, andere mitreißende Persönlichkeit wie
Hansemann vereinigen. Er wollte ursprünglich ein Versuchsfeld für
Wohlfahrtseinrichtungen, vielleicht in letzter Linie sogar eine Art
Zentralstelle für alle möglichen Wohlfahrtseinrichtungen des Bezirks
aus seinem Aachener Verein machen (vgl. oben S. 380). Er dachte
sich das so, daß der Aachener Verein Neuerungen auf diesem Gebiet
ausprobieren, tiber die ersten finanziellen und sachlichen Schwierigkeiten
hinausbringen und dann besonderen Vereinen oder interessierten Per-
sonen zur Weiterentwicklung überlassen solle Man mag ganz im all-
gemeinen Zweifel darüber hegen, ob das überall möglich und wünschens-
wert ist. Immerhin sehen wir auf manchen Gebieten der Armen- und
Krankenpflege, auch neuerdings auf dem Gebiet eigentlicher sozial-
reformerischer Bestrebungen, wie die freie Vereinstätigkeit in die, zum
Teil gesetzlich geregelte, gemeinwirtschaftliche Fürsorgetätigkeit, ins-
besondere der Kommunalkorporationen übergeht; ich erinnere an die
neuzeitliche Regelung des Blinden-, Irren- und Krankenhauswesens, an
die neneste Entwicklung der unentgeltlichen Rechtsauskunftsstellen.
Aehnliche Vorgänge scheint Hansemann geplant zu haben.
Die tatsächliche Entwicklung hat eine andere Richtung genommen,
in einigen Punkten sicherlich gegen seine eigentlichen Absichten: so
wenn schließlich 1855 ein Fonds geschaffen wurde, der nichts anderes
als eine Ergänzung und damit im Grunde eine Entlastung der Armen-
pflege darstellt; wenn heut eine große Anzalıl von an sich nützlichen
Vereinen in Stadt und Land kleine Unterstützungen für ihre im Gebiet
der Armenpflege geübte Tätigkeit erhält. Die Grenzen sind schwer zu
ziehen: aber aus allen Aeußerungen Hansemanns geht hervor, daß ihm
die präventive Tätigkeit die Hauptsache war, er wollte „die Arbeit-
samkeit so fördern, daß diejenigen Menschen, die nicht hilfsbedürftig
sind, arbeitsam bleiben oder es noch mehr werden“. Aber wenn die
Grenze gegen die Armenpflege nicht immer streng inne gehalten ist,
so kann man die Vereinstätigkeit keineswegs einfach als eine besondere
Art oder Ergänzung der Armenpflege auffassen. Vielmehr zeigt sich
auch hier seine besondere Eigenart. Die Entwicklung des Regierungs-
bezirks Aachen hat zweifellos mit besonderen Schwierigkeiten zu
396 Miszellen.
kämpfen, welche gerade in der Zeit seit Begründung des Aachener
Vereins deutlicher sich bemerkbar machten: ein wirtschaftlicher Fort-
schritt ist zweifellos erfolgt, aber nicht in dem Verhältnisse, wie es der
wirtschaftlichen Stellung Aachens etwa vor 100 Jahren entsprochen
hätte. Natürlich hat sich auch hier der Wolilstand der Bevölkerung
gehoben. Aber in den gebirgigen südlichen Teilen, der Eifel, wie zum
Teil in den nördlichen ebeneren Gegenden und auch in den Stadtbezirken
haben sich mancherlei lokale Notstände oder doch Hemmungen des wirt-
schaftlichen Fortschrittes geltend gemacht und verhindert, daß die wirt-
schaftliche Entwicklung hier im gleichen Umfang und Zeitmaß sich voll-
zog wie sonst in den industriellen Gegenden von Rheinland und West-
falen. Eine Wirtschaftsgeschichte dieser Gebiete für das 19. Jahrhundert
ist noch nicht geschrieben, und so fehlt es an genauer Tatsachenfest-
stellung und ursächlicher Erklärung. Der Mangel einer natürlichen
leistungsfähigen Wasserstraße, wie sie das übrige Rheinland hat; die
Schwierigkeit, das Land mit Bahnen aufzuschließen; der Mangel eines
Hinterlandes nach Westen, wo die Landesgrenze den Verkehr abschneidet
und die Unterschiede in der Lebenshaltung besonders deutlich hervor-
treten läßt; die Bodenbeschaffenheit und der von alters her über-
kommene Stand der Grundbesitzverteilung und Landeskultur; die Ab-
wanderung der kleinen Industrie in die Städte und die Ausbreitung
der Hausindustrie im Gebirge und Flachland, sind einzelne Punkte aus
diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Regierungsbezirks. Das
sind alles Anlässe, aus denen allgemeine und lokale Schwierigkeiten
sich herausbilden können, für deren Abhilfe der Staat, die Kommunal-
korporationen, schließlich die Armenpflege mit öffentlichen Mitteln ein-
treten könnten. Aber für die Beteiligten ist es vielfach erwünschter,
wenn sich an Ort und Stelle, wo das Verständnis für Vorhandensein
und Abhilfe dieser Notstände aus unmittelbarer Anschauung gewonnen
ist, Mittel und Wege zu ihrer Beseitigung finden lassen. Und diese
Aufgabe hat allmählich der Aachener Verein in großem Umfang über-
nommen: er hat versucht, in gewisser Hinsicht und soweit seine
Mittel reichen, die an sich gegenüber anderen Gegenden ungünstigere
Lage des Regierungsbezirks und der Stadt Aachen auszugleichen.
Dabei hatte er sich durch die alte geschichtliche Verbindung vielfach
der Mitarbeit der Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft
zu erfreuen, die einen Teil ihrer gemeinnützigen Fonds in ähnlicher
Weise verwendet. Als ein besonderes in die Augen fallendes Beispiel
mag die Gründung der Technischen Hochschule in Aachen erwähnt
werden. Die ungünstige Lage der Grenzstadt würde schwerlich die
Staatsregierung zur Verlegung der für Rheinland und Westfalen in
Aussicht genommenen Technischen Hochschule nach Aachen bewogen
haben: Nur die Tatsache, daß — neben Leistungen der Stadt Aachen
— sowohl der Aachener Verein als auch die Aachen-Münchener Feuer-
versicherungs-Gesellschaft 1859 für die Herstellung und Ausstattung der
neuen Gebäude erhebliche Summen bereit stellten, ließ die Entscheidung
für Aachen fallen. Mag man sich heut über solche Erwägungen wundern,
damals spielten verhältnismäßig kleine Aufwendungen im Staatshaushalts-
Miszellen, 397
etat noch eine größere Rolle: dachte man doch noch 1870, daß es möglich
sei, eine Technische Hochschule auf die Dauer mit einem Staatszuschuß
von 30000 Taler jährlich zu unterhalten. Heute ist der ordentliche
Etat auf 650000 M. gestiegen, dem außerordentliche Aufwendungen
der Regierung in mehr als gleicher Höhe gegenüber zu stehen pflegen.
Die Aachen-Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft wie der Aachener
Verein hatten bis 1908 über 4 Mill.M. für die Technische Hochschule
aufgebracht. Wenn die Technische Hochschule solche Leistungen
dankbar empfängt, so ist es doch eine Folge ihrer ungünstigen Lage,
daß sie, abweichend von der sonst üblichen Fundierung der Tech-
nischen Hochschulen auf Staatsmittel, Kostgängerin dieser ihrer Gönner
bleiben muß.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß wir es bei den Verwendungen
des Aachener Vereins keineswegs mit einer Wohlfahrtspflege im gewöhn-
lichen Wortsinne zu tun haben, sondern mit einer vielseitigen Förde-
rung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Regierungsbezirks unter be-
sonderer Berücksichtigung der unteren Klassen der Bevölkerung, ohne
daß sich die Tätigkeit ganz auf diese beschränkt.
Im ganzen sind von 1834—1908 26,5 Mill. M. dafür aufgewandt;
1841 waren schon 18000 M., 1856 über 100000 M. dafür ausgeworfen.
Gelegentliche besonders hohe Aufwendungen für einzelne Zwecke über-
schreiten die regelmäßige Steigerung der Jahressumme, die seit 1864
über 200000 M., seit 1887 über 500000 M. stieg und seit 1888 zwischen
600000 M. und 1 Mill. M. schwankt.
Der älteste Verwendungszweck, für den im ganzen und dauernd
die meisten Mittel aufgewandt wurden, ist die Prämienkasse. Für
diese wurden nach zuletzt geänderten Grundsätzen der über den üblichen
Zins erforderliche Zuschuß zur Zahlung der Zinsprämie als Verwendung
gerechnet. Zeitweilig war dafür über !/, Mill. M. nötig, 1908 annähernd
297000 M. Im ganzen sind für diesen Zweck aufgewendet 15 Mill. M.
oder 56 Proz. aller Verwendungen.
Daneben stehen die für Erziehung und Unterricht gezahlten
Unterstützungen mit 9,2 Mill. M. oder 35 Proz. aller Verwendungen.
Alle möglichen Stufen sind dabei vertreten:
1) Kinderbewahranstalten seit 1839, seit 1882 zum Teil in Kinder-
gärten verwandelt, seit 1906 mit einem Fröbelseminar zur Ausbildung
von Kindergärtnerinnen: Gesamtaufwand 3,65 Mill. M.
2) Handarbeitsunterricht in den Volksschulen: 1849; 1,1 Mill. M.
3) Fortbildungsschulen: 1856; 1,2 Mill. M.; Industrieschulen 0,25
Mill. M.
4) Die durch die Kinderschutzbestimmungen der Gewerbeordnung
zeitweilig notwendig gewordenen Fabrikschulen: 1862.
5) Fachschulen: a) Gewerbeschulen der Stadt Aachen 0,5 Mill. M.;
b) Fachschule für Textilindustrie 0,8 Mill. M.
6) Technische Hochschule (1859, 1898—1908 Handelshochschule,
seit 1908 Studienstiftung für wirtschaftliche Ingenieurbildung) 1,7 Mill. M.
Weitere erhebliche Aufwendungen erfolgten für die Hebung der
Gesundheit und die Pflege von Personen mit besonderen körperlichen
398 Miszellen.
Gebrechen: Anstalten für Taubstumme (1858), Irre (1864), Blinde, für
Wöchnerinnen (1863), Genesende (1905), die Augenheilanstalt (1877)
und mehrere Krankenhäuser erhielten Beihilfen im Gesamtbetrag von
0,7 Mill. M.
Notstandsarbeiten, die Hebung der Kultur in der Eifel (1856) und
andere ländliche Wohlfahrtszweige wurden mit 350000 M. bedacht.
Die Fürsorge für Familien eingezogener Wehrmänner und andere
Wohlfahrtsbestrebungen in Kriegsfällen erforderten 118000 M.
Seit 1856 wurden für die Pensions- und Witwenversorgung der
eigenen Angestellten Rücklagen und Aufwendungen von 309 000 M. ge-
macht. Der Fonds, zu dem auch die Beamten Beiträge im Gesamtbetrage
von 78000 M. leisteten, ist auf 721000 M. angewachsen.
Der eigentlichen Arbeiterwohlfahrtspflege diente 1851 die Errich-
tung einer Arbeiterpensionskasse, die aber nicht zur Blüte kommen
konnte. Die Zuschüsse beliefen sich daher nur auf 9000 M. 1908
lebten von den 244 aufgenommenen Einzahlern noch 129, der Jahres-
betrag der Einzahlungen belief sich auf 4200 M., der gezahlten Pen-
sionen auf 10300 M., der Bestand der Kasse auf 81000 M.
Für jene mannigfaltigen Unterstützungszwecke, die die Grenze der
Armenpflege streifen oder überschreiten, wurden 804000 M. aufgewendet.
Für die Durchführung dieser Wohlfahrtspflege hat der Verein im
allgemeinen keine eigenen Veranstaltungen getroffen. Vielmehr hat er
bestehenden oder neugegründeten Organisationen zur Erreichung der
Zwecke die von ihm aufgebrachten Mittel zur „Verwendung“ überlassen.
Die verschiedensten Behörden, Stiftungen und Vereine sind so zu voll-
streckenden Organen des Vereins geworden und sind zum Teil auf
seine regelmäßigen Ueberweisungen angewiesen. Mit eigenen Beamten
verwaltet der Verein lediglich seine Spareinrichtungen und eine Anzahl
der Kindergärten. Alles andere geht durch andere Hände.
Literatur. 399
Literatur.
II.
Zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus.
Von Prof. Dr. Otto Warschauer, Berlin.
Die Entwicklung des Sozialismus weist zwei eigenartige Erschei-
nungen auf. Erstens ist bis zur Gegenwart eine einheitliche, wissen-
schaftlich allseitig angenommene Begriffsbestimmung desselben nicht
gefunden. Die Ansichten hierüber schwanken. Die Kernpunkte, die
der Sozialismus enthält, werden verschieden gedeutet, er wird mit mehr
oder weniger verwandten, aber doch durchaus nicht gleichartigen Be-
wegungen identifiziert, und Unklarheit herrscht auf der ganzen Linie.
Dies ist sebr bedauerlich, nicht nur für die volkswirtschaftliche Theorie,
sondern auch für die politische Praxis, denn die genaue Fassung des
Begriffes führt zur richtigen Erkenntnis der Voraussetzungen, von denen
der Sozialismus sich leiten läßt, der Ziele, die er verfolgt, und der
Wirkungen, die er hervorgerufen hat.
Die sozialrevolutionären Bestrebungen, die nicht nur in der jüngeren
Zeit, sondern, wie allgemein bekannt, seit Jahrhunderten auftreten,
scheiden sich innerlich in mannigfachen Beziehungen voneinander.
Gewiß ist hierbei der Grundgedanke festzuhalten, daß die Ursachen,
aus denen sie hervorgehen, eine bestimmte intellektuelle Gemeinsamkeit
aufweisen, aber andererseits ist doch nicht zu übersehen, daß die Ziele,
denen sie nachgehen, höchst verschiedenartig sind, daß sie sich nicht
zur häufig nicht decken, sondern vielfach diametral gegenüberstehen,
und daß diejenigen Persönlichkeiten, die im Einzelfalle für sie einge-
treten sind, nicht nur keine politischen Beziehungen miteinander hatten,
sondern sich häufig gegenseitig bekämpften. Es sei hier nur auf das
Verhältnis von Marx zu Proudhon hingewiesen. Die volkswirtschaft-
liche Logik zwingt, die sozialrevolutionären Bewegungen, die insgesamt
in der Form des Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus auf-
treten, als solche kritisch zu scheiden, und hiernach ihre jeweiligen
Vertreter scharf voneinander zu trennen.
Der Sozialismus greift das individuelle Privateigentum als gesell-
schaftliche Einrichtung nicht an, er sucht das Recht der Persönlichkeit
zu wahren, er gesteht die Möglichkeit zur Herstellung wirtschaftlicher
400 Literatur.
Güter jedem zu, verlangt vom Staat die unentgeltliche Ueberlassung
der hierfür erforderlichen Produktionsmittel und sucht jedem das Recht
auf den vollen Ertrag seiner Arbeit zu sichern.
Ganz andere Ziele verfolgt der Kommunismus. Er will nicht nur
eine Gemeinsamkeit der Produktionsmittel, sondern gleichzeitig hiermit
auch eine Gemeinschaft der Genußmittel. Er leugnet grundsätzlich die
Existenzberechtigung des individuellen Privateigentums, betrachtet im
Gegensatz zum Sozialismus alle Menschen als gleich veranlagte und
gleichberechtigte Wesen, will daher jeden individuellen gesellschaft-
lichen und politischen Unterschied beseitigt und die unbedingte Gleich-
heit aller durchgeführt sehen. Die Kommunisten stellen den Staat als
allein berechtigt zur Erzeugung und Verteilung der Güter hin und
fordern von ihm die gleichmäßige Erziehung und Ernährung aller; sie
beanspruchen für jeden das Recht des Lebensgenusses, legen aber auch
jedem die volle Verpflichtung der Arbeitsleistung auf. So tritt der
Kommunismus für Staatsproduktion, Aufhebung des individuellen Privat-
eigentums und Einführung der Gütergemeinschaft ein, und seine Ideen-
peripherie scheidet sich daher vollständig von derjenigen des Sozialis-
mus. In gleichem Gegensatz aber steht er auch zum Anarchismus und
dieser letztere wiederum zum Sozialismus.
Während der Kommunismus kollektivistische Ziele verfolgt und
die Staatsomnipotenz erstrebt, vertritt der Anarchismus hyperindivi-
dualistische Tendenzen, verteidigt das tatsächliche und unbedingte Ich-
tum, verneint die Existenzberechtigung der Staatsidee, stellt als die
Quelle des individuellen Glückes, seinem sprachlichen Ursprung gemäß,
die Gesetzeslosigkeit hin und bekämpft in der Verfolgung seiner Ziele
nicht nur die gegenwärtige Gesellschaftsordnung und ihre offiziellen
Vertreter, sondern mindestens gleichmälig stark auch alle diejenigen,
die von Staats- oder sonstigen Obrigkeitswegen die Gemeinsamkeit der
Produktions- oder Genußmittel fordern.
Auch geschichtlich sind jene drei Strömungen wahrheitsgetreu zu
scheiden. Der Kommunismus ist uralt. Plato, die Wiedertäufer, die
Staatsromantiker, sie alle sind Vertreter der unbedingten Gütergemein-
schaft, und sie als Sozialisten zu bezeichnen, ist ein Unding. Der
Sozialismus aber tritt erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts auf;
in jener Zeit bildet sich seine eigentliche Namensbezeichnung, und mit
dem Anarchismus, trotz Montaigne und Helvetius, ist ernstlich erst seit
Bakunin zu rechnen. So können Sozialismus und Anarchismus nach
keiner Richtung unter einen Generalnenner gebracht werden, und eine
derartige Kategorisierung ist nicht nur geschichtlich unbegründet,
psychologisch falsch und sachlich irrig, sie erzeugt auch herbe Unge-
rechtigkeiten. Saint-Simon und Fourier können unmöglich mit Owen
und Cabet oder mit Krapotkin in einen Topf geworfen werden; sie
würden, wenn sie hiervon Kenntnis erhielten, sich im Grabe herum-
drehen. Marx hat mit Recht sein eigentliches Arbeitsprogramm, das
die Unterlage aller seiner Gedankenreihen bildet, als „kommunistisches“
und nicht als „sozialistisches“ Manifest bezeichnet, und wollte damit
scharf die Ziele skizzieren, die er verfolgte. Blanc, der in der jüngeren
Literatur. 401
Zeit mit besonderer Vorliebe, wie dies z. B. wieder bei Muckle und
Biermann der Fall ist, zu den Kommunisten gezählt wird, kann geradezu
als ihr Gegner bezeichnet werden, denn über die natürliche Ungleich-
heit der Menschen hegte er nicht den leisesten Zweifel!), und das Eigen-
tumsrecht aufheben zu wollen, lag ihm vollständig fern. Bakunin und
Lassalle hätten sich nie verständigt, wenn sie auch einen gemeinsamen
Urahn in Hegel haben, und bei wissenschaftlichen Untersuchungen, die .
den Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus, sowie ihre theoretischen
oder politischen Parteigänger betreffen, sollte daher den tatsächlichen
Verhältnissen in höherem Maße Rechnung getragen werden, als dies
bisher leider vielfach der Fall gewesen ist.
Die zweite Erscheinung, die sich in der Entwicklungsgeschichte
des Sozialismus eigenartig bemerkbar macht, und die gleichfalls Be-
fremden erregen mul, ist die Tatsache, daß diejenigen Schriftsteller,
die die sozialistische Bewegung zeitlich eingeleitet haben, in der Gegen-
wart vielfach als Utopisten bezeichnet werden oder ihren Ansichten
aktuelle Bedeutung nicht mehr zugesprochen wird. Die Initiative hier-
zu hat Karl Marx ergriffen, Engels hat ihn auch hierbei assistiert, und
die Epigonen spielen sich gern als intelektuell-souveräne Herren auf.
Es dürfte daher ganz zeitgemäß sein, einmal genau zu untersuchen, ob
jene hervorragenden Männer, die wie Saint-Simon, Fourier und Louis
Blanc als Pfadfinder aufgetreten sind, tatsächlich im Durchschnitt ihrer
Ziele Utopien nachgingen oder in der Quintessenz ihrer Ideen praktische
Bedeutung für die Gegenwart verloren haben.
War Saint-Simon Utopist? Es sei hier nur auf die Kernpunkte
seiner Lehre hingewiesen. Er meinte, daß das derzeitige Regierungs-
system und die damit verbundene Organisation der Gesellschaft ein
Produkt der Theokratie und des Feudalismus sei, das seinen Ursprung
im 3. und 4., seine Ausbildung im 11. und 12. Jahrhundert gefunden,
allmählich jedoch sich vollständig überlebt habe. Er glaubte, daß der
Wohlstand der Nationen und die Macht der Regierungen seit längerer
Zeit innerlich nur von dem materiellen Erwerb und der intellektuellen
Leistungsfähigkeit ihrer Angehörigen bedingt werde, und daß die geistige
Gewalt in den Köpfen der Gelehrten, die weltliche in denen der Kauf-
leute, Handwerker und Arbeiter liege. Diesem Umstande trägt nach
seiner Ansicht die zurzeit bestehende Gesellschaftsordnung nicht ge-
nügend Rechnung, denn in der Handhabung und Ausübung der Regie-
rungsgewalt und der damit subjektiv verbundenen Konsequenzen seien
Adel und Geistlichkeit nach wie vor gegenüber dem erwerbenden Bürger-
tum und der auf freier Forschung beruhenden Wissenschaft bevorzugt.
Klingt das gar so utopisch? Saint-Simon hielt ferner Reformen auf dem
Gebiete der inneren Staatsverwaltung für geboten; er wünschte, daß
1) Vgl. z.B. La Formule du Socialisme in Questions d’aujourd’hui
et de demain, T. 5, S. 196: „Que tous les hommes ne naissent ni avec la même
intelligence ni avec les mêmes penchants, pas plus qwils ne naissent avec la même
laille ou le même visage, c’est ce dont les socialistes tombent parfaitement d’accord et
toin de contester ce fait, ils le considèrent comme tellement nécessaire que, sans cela,
la société n’existerait pas.“
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). 26
402 Literatur.
diese letztere so viel wie möglich von Praktikern gehandhabt werde
und demgemäß die autoritativen Stellungen nur denjenigen zu über-
tragen seien, die in der Praxis geschult wären und einen kaufmännischen
Scharfblick besäßen !). Saint-Simon ist endlich in religiöser Beziehung
als Neuerer aufgetreten; er suchte in der Pflege praktisch gehandhabter
Nächstenliebe die hauptsächlichste Aufgabe der christlichen Religion,
und verlangte, daß das Christentum in ein harmonisches Verhältnis zu
dem jeweiligen Stande der Kultur und Wissenschaft zu bringen sei.
War Fourier Utopist? Wer seine Schriften genau kennt, darf sich
der Auffassung nicht verschließen, daß er in vielfacher Beziehung nicht
nur Ideale, sondern auch Idole vertreten hat. Wenn aber der Saldo
seiner Erkenntnis gezogen und der eigentliche Feingehalt seiner Ideen
ermittelt wird, so darf auch er nicht als Utopist bezeichnet werden.
Zur Begründung dieser Behauptung seien hier gleichfalls nur die Um-
risse seiner Lehre gezogen. Fourier wollte der Begründer einer neuen
Gesellschaftswissenschaft werden, die sich aus der abgeschlossenen Er-
kenntnis der menschlichen Leidenschaften und Triebe zusammenzusetzen
habe. Nach seiner Meinung ballen sich tbergroße Reichtümer in den
Händen Weniger, andererseits führen Millionen von Menschen, die in
enge und verpestete Wohnstätten eingepfercht sind, ein finanziell be-
grenztes und beruflich stumpfes Dasein. Die Arbeit, meint er, ist für
die Mehrzahl aller eine Last, und doch fühlt sich das Individuum un-
glücklich, wenn es dauernd ohne Beschäftigung ist. Die Arbeit ist
daher für jeden ein unentbehrliches seelisches Bedürfnis, und sie wird
nur zur Quelle der Unfreiheit, wenn, wie dies durchschnittlich der Fall
ist, ihre Verrichtung abstößt oder zwangsweise erfolgt. Sie ist falsch
organisiert und deswegen die Ursache individueller Vergewaltigung und
Unzufriedenheit. Fourier bezeichnet das Privateigentum als die Vor-
bedingung jedes sozialen Fortschrittes und die Armut als die Ursache
aller Uebel. Er wollte das erstere weder abschaffen noch umbilden,
sondern nur den Unternehmergewinn anderweitig wie bisher verteilt
wissen. Zu diesem Zwecke stellte er der Isolierwirtschaft der Familie
die Kollektivwirtschaft der Gemeinde gegenüber, in der jedem ein
Existenzminimum gewährt sei, das natürliche Recht zustehe, seinem
Arbeitstriebe zu folgen und die hierfür erforderlichen Produktionsmittel
zu erhalten ?). Derartige Ansichten können anfechtbar erscheinen, aber
als Utopien dürfen sie nicht bezeichnet werden, und in dem eigenartigen
Spiele der Fourierschen Gedanken liegt vielfach ein physiologisch tief
begründeter Sinn und Reiz.
Wie steht es mit Louis Blanc, bei dem gleichfalls nur die Quin-
tessenz seiner Ansichten hervorgehoben sei. Er meinte, daß durch die
freie Konkurrenz und in dem ungezügelten Wettbewerb aller die Keime
des wirtschaftlichen Anarchismus gesät seien, daß aber, sowie in dem
entbrannten Kampf der Stärkere den Minderwohlhabenden vernichtet
1) Vgl. Du système industriel in Oeuvres de Saint-Simon et d’En-
fantin, Bd. 21, S. 106 ff.
2) Vgl. Th&orie de 1’Unit& universelle, in Oeuvres complètes,
Bd. 2, 8. 179.
Literatur. 403
habe, sich Monopole herausbilden, die eine Konzentration der kapita-
listischen Produktionsmittel in den Händen einzelner herbeiführen und
die dauernde Regelung der Preise zugunsten der Konsumenten ver-
hindern!), Nach seiner Ansicht wird durch die freie Konkurrenz nicht
nur die gesamte Güterproduktion ungezügelt, es bildet sich auch in
diesem wirtschaftlichen Kampfe aller gegen alle eine gemeingefährliche
Finanzfeudalität aus, welche die mittleren und unteren Teile des Bürger-
tums, sowie alle wehrlosen Schwachen ausbeutet. Blanc bezeichnet die
Herrschaft des Individualismus als einen Fortschritt im Leben- der
Völker, der das Selbstbewußtsein der Menschen entfesselt, den Geist
der Kritik geschärft und dem Einzelnen die Möglichkeit gewährt habe,
für sich zu sorgen und das eigene Glück zu begründen. Er unter-
schätzt daher nicht die individualistische Gesellschaftsordnung, er be-
zeichnet sie sogar als eine Uebergangsperiode von zivilisatorischem
Werte, aber er wollte sie zeitlich begrenzt wissen, weil sie nach seiner
Meinung sich durch eine vollständige Preisgabe der Bedürftigen und
Schwachen charakterisiere.
Es wäre töricht, in Abrede stellen zu wollen, daß die Lehren Saint-
Simons, Fouriers und Louis Blancs vielfache und weitgehende Irrtümer
und Verschrobenheiten in sich bergen. Die Forderung des ersteren,
daß nur die Vertreter der Arbeit und Wissenschaft berufen sein sollen,
den Staat zu leiten, ist engherzig, die Meinung, daß hierdurch gleich-
zeitig der Grundgedanke des ursprünglichen Christentums verwirklicht
werde, irrig und der wirtschaftsphilosophische, sowie geschichtliche
Unterbau des Systems von Saint-Simon, namentlich bezüglich der Ent-
wicklung und Bedeutung der Bourgoisie, nicht fest genug gezimmert.
Fourier beseelt ein durchaus nicht begründeter Pessimismus, seine
Attraktionstheorie ist gut gemeint, aber logisch nicht scharf genug ge-
faßt, und die Angriffe, die er gegen die Philosophen richtet, sind um
so unberechtigter, als seine Lehre von den Trieben, die den eigent-
lichen Kern seiner Theorie bildet, auf philosophischer Unterlage ruht.
Auch die Meinung, daß die sofortige Befriedigung aller Neigungen die
Menschen dauernd glücklich machen könne, fußt auf irrigen Voraus-
setzungen. Fourier verlangte weniger das Recht auf Arbeit wie das
Recht auf Glück, weniger den Arbeitstrieb wie die Genußsucht der
Menschen wollte er zum Produktionsfaktor der Volkswirtschaft machen,
und diesen Forderungen entspringt selbstverständlich eine Reihe un-
berechtigter Konsequenzen. Auch Blanc gegenüber kann eine große
Anzahl von Irrtümern überzeugend nachgewiesen werden. Die von ihm
empfohlene Organisation der Arbeit hat zur Voraussetzung die Beseitigung
der freien Konkurrenz, deren Wirkungen er ungenau und einseitig schil-
derte. Die Ansicht, daß jeder nach seiner Fähigkeit zu produzieren und
nach Bedarf zu konsumieren habe, ist verfehlt. Der Arbeitslohn in einer
vernunftmäßig organisierten Gesellschaft wird immer abhängig gemacht
werden müssen nicht von dem Bedarf, sondern von der Leistung des
Konsumenten. Die Angriffe ferner gegen die individualistische Gesell-
1) Vgl. Organisation du travail, 5. Ausg., S. 77.
26*
404 Literatur.
schaftsordnung sind abzuwehren, denn diese letztere spiegelt in sich
nichts anderes ab als die unvermeidlichen Interessengegensätze aller,
und den Individualismus ausrotten zu wollen, heißt einen aussichtslosen
Kampf aufnehmen gegen die Eigenart der menschlichen Persönlichkeit.
Auch bezüglich des geforderten Rechts auf Arbeit ist Blanc nicht tief
genug in die Psychologie der Materie eingegangen, denn das eigentliche
Recht auf Arbeit besteht nicht nur in der Ueberweisung irgendeiner
beliebigen, den individuellen Lebensunterhalt sichernden Beschäftigung,
sondern in dem gesetzmäßig zu verbürgenden Zugeständnis, jedem im
Notfall diejenige Arbeit zu verschaffen, die seinem eigentlichen Beruf,
seiner Vorbildung und Schulung und seinen natürlichen Fähigkeiten
entspricht. Dieser Aufgabe dürfte keine Staatsverwaltung zu genügen
in der Lage sein.
Doch eine derartige unparteiische Stellungnahme gegenüber Saint-
Simon, Fourier und Louis Blanc stempelt sie weder zu Utopisten oder
Kommunisten und Anarchisten, noch kann die aktuelle Bedeu-
tung, die sie für Wissenschaft und Politik zu beanspruchen haben, in
Abrede gestellt werden. Viele ihrer Ansichten haben sich als zu-
treffend erwiesen, und gar manche ihrer Forderungen sind im Laufe
der Zeiten verwirklicht worden oder gehen der Verwirklichung ent-
gegen. Und auch hier sei nur auf die springenden Punkte hingewiesen.
Saint-Simon erkannte mit vielem Scharfblick, daß dem Zeitalter des
Feudalismus dasjenige der Industrie, in dem sich Arbeit und Wissen-
schaft paaren, folgen werde, und die Entwicklung des 19. Jahrhunderts
hat die Richtigkeit seiner Erkenntnis nicht nur für Frankreich voll er-
wiesen. Sind seine Ansichten bezüglich Adel und Klerus nicht ein an-
nähernder Spiegel der Verhältnisse, wie sie sich bei der jüngsten
Reichsfinanzreform in Deutschland abgespielt haben? Und der kauf-
männische Geist, von dem in der Gegenwart und wiederum in Deutsch-
land namentlich so vielfach gesprochen und von dem gewünscht wird,
daß er mit seinen Bazillen die Bureaukratie befruchte, war es nicht
Saint Simon, der zuerst bei seinen Reformen der inneren Verwaltung
darauf hingewiesen hat? Haben nicht auch seine Ansichten über
Wesen und Pflichten des Christentums einen nachhaltigen Widerklang
bis zur allerjüngsten Zeit gefunden? Die Forderung, daß das Christen-
tum in ein harmonisches Verhältnis zu dem jeweiligen Stande der
Kultur und Wissenschaft gebracht werden müsse, hat in der Gegen-
wart dogmatische Kraft erhalten, und Saint Simon war der erste
Christlich-Soziale der neueren Zeit, aus dessen Schule die Egidy und
Naumann hervorgegangen zu sein scheinen.
Fourier zuerst hat auf die Notwendigkeit der Gewähr des Existenz-
minimums im Notfall hingewiesen, und was ursprünglich utopisch klang,
ist gegenwärtig teilweise verwirklicht. Die deutsche Reichsgesetz-
gebung, wenn sie sich auch nicht direkt seinen Forderungen ange-
schlossen hat, ist doch tatsächlich durch die Organisation der Kranken-,
Unfall-, Alters-, Invaliditäts- usw. Versicherung für den gleichen Ge-
danken eingetreten und entzieht hierdurch den wirtschaftlich Schwachen
Literatur. 405
der Gefahr des physischen Untergangs. Die Wohnungsfrage, nament-
lich in bezug auf die minderbesitzenden Klassen, beschäftigt immer
weitere Kreise, und vor Fourier, der auf die engen und verpesteten
Wohnstätten, die Tausende und Abertausende von Menschen in sich
bergen, zuerst hinwies und dem in seinen Phalangen das Ideal der
Gartenstadt vorschwebte, war der Lösung dieses sozialen Problems
nemnd näher getreten. Und endlich der Genossenschaftsgedanke;j
Das ganze 19. Jahrhundert beweist einen dauernden Fortschritt dieser
ldo und schließlich den siegreichen Durchbruch derselben. Fourier
eröffnete den Reigen der Assoziationstheoretiker. Die richtigen Mittel
mr Durchführung jener grundlegenden Idee anzugeben, ist ihm versagt
geblieben, aber er spornte zur Tat, er war der intellektuelle Begründer
der ersten, weite Ziele verfolgenden und von Considerant geleiteten
Genossenschaftschule, und seiner Initiative folgte Godin, der Begründer
des bis zur Gegenwart glanzvoll bestehenden, auf der Idee der Pro-
dıkivassoziation ruhenden und tausende von Arbeitern beschäftigenden
„Fanilistere de Guise“. So haben die Lehren Fouriers, ganz abgesehen
von dem Umstande, daß er lange vor Karl Marx auf die großen Miß-
sände des Kapitalmagnatentums hingewiesen hat, doch trotz ihrer an-
schain enden Unverwendbarkeit bedingungsweise praktische Bedeutung
bis zar Gegenwart.
Das Gleiche ist noch in höherem Maße Louis Blanc gegenüber zu
bekunden. Seitdem Engels ihm gegenüber behauptet hat, daß er von
den hervorragenderen Sozialreformern der neueren Zeit der unbedeutendste
gewesen und daher keine fernere Beachtung verdiene, scheint er end-
gültig abgetan zu sein. Hier vollzieht sich aber, namentlich in sozia-
listischen Parteikreisen, ein dauernder Akt herber Ungerechtigkeit. In
der „Organisation du travail“ hat Blanc zuerst abschließend die Lösung
eines Problems erstrebt, das während der letzten 70 Jahre die Gemüter
beschäftigte. Das von Staats- oder Stadtwegen zu gewährende „Recht
auf Arbeit“, oder möge man hierfür die inhaltlich gleiche Bezeichnung
„Versicherung gegen Arbeitslosigkeit“ wählen, gehört zu jenen Forde-
rungen, die in der Gegenwart alltäglich erhoben werden. Blanc ferner
hat zuerst auf die Notwendigkeit einer Verstaatlichung der Verkehrs-
mittel hingewiesen, und dieser Gedanke, ursprünglich als undurchführbar
bezeichnet, hat sich allmählich mit elementarer Kraft Bahn gebrochen,
ist in vielen Ländern verwirklicht worden oder gilt mindestens in seiner
Durchführung als höchst erstrebenswert. Blancs „Histoire de dix ans“
und „Histoire de la Revolution française“ sind Meisterwerke, deren
Lektüre auch in der Gegenwart sehr lehrreich ist und deren leitende
wirtschaftsphilosophische Gesichtspunkte eigenartig und nachhaltig waren
und bleiben. Blanc machte die kapitalistische Produktionsweise zum
Mittelpunkte seiner Angriffe, und in dem Versuche, die ursächlichen
Verhältnisse der Dinge und Ereignisse auf ökonomische Bestimmungs-
gründe zurückzuführen, muß er als ein Vorläufer von Karl Marx be-
zeichnet werden, den er sicher durch seine historischen Schriften nicht
unbeeinflußt gelassen hat. Zu den Begründern der materialistischen
406 Literatur.
Geschichtsforschung ist nicht nur Marx, sondern unbedingt auch Louis
Blanc zu zählen, und an diesem Gedanken sollte in der Gegenwart mit
Dankbarkeit festgehalten werden. Auch Blancs Ansichten über die
freie Konkurrenz, mögen sie im einzelnen noch so irrig und bedenklich
sein, sind dauernd beachtenswert. Jedenfalls hat die Gesamtauffassung,
der er hierbei Ausdruck gegeben, sich in bei weitem höheren Male ver-
wirklicht, als dies bei Marx bezüglich der Abschaffung der kapita-
listischen Produktionsweise oder der Expropriation der Expropiateure
der Fall ist. Die freie Konkurrenz und die mit ihr verbundene Gewerbe-
freiheit, zu Beginn des 19. Jahrhunderts stürmisch begehrt, ist im
Laufe desselben von den verschiedensten Interessenten immer heftiger
angegriffen worden. Der Kampf gegen ihre fernere Gewähr ist auf der
gesamten Fluchtlinie der bürgerlichen Gesellschaft eröffnet und die
Notwendigkeit ihrer Begrenzung allseitig anerkannt. Diesem Zwecke
dienen nicht nur die in allen Kulturländern bestehenden und an Um-
fang und Bedeutung sich stetig steigernden Kartelle, Trusts, Fusionen,
Interessengemeinschaften usw., auch die Patentgesetzgebung läßt sich
von dem gleichen Gedanken leiten, und die Branntwein- und Bier-
besteuerung in Deutschland hat ihn in jüngerer Zeit aufgenommen.
Das Prinzip der Kontingentierung steht demjenigen des freien Wett-
bewerbs diametral gegenüber, und auch nach dieser Richtung haben
die Ansichten Blancs aktuelle Bedeutung. Bezüglich der Assoziationsidee
hat er sicher Fourier überholt. Ihm gebührt zwar nicht die Priorität
jener Idee, aber er förderte, wie dies die Verhältnisse der Schneider-
assoziation in Clichy, der 1848 von ihm in Paris errichteten Produk-
tionsassoziationen der Sattler, Spinner, Köche usw. beweisen, den Glauben
an sie; er hat sie volkstümlich gemacht. Mit der Forderung ferner
des „Recht auf Arbeit“, der „Organisation der Arbeit“, der mit Staats-
mitteln zu errichtenden Produktivassoziationen leitete er als Führer die
Truppen ins Gefecht und gab der sozialen Frage, indem er sie zu einer
Arbeiterfrage stempelte, jenen allerdings einseitigen Charakter, den sie
sich leider bis zur Gegenwart bewahrt hat. Dem radikalen Liberalis-
mus, der ihn beseelte, verlieh er eine sozialistische Prägung und der
Arbeiterbewegung, an deren Spitze er vorübergehend stand, hat er einen
politischen Beigeschmack zu geben vermocht, den sie vorher nicht gehabt
und seither nicht verloren hat. So ist seine Bedeutung, die namentlich
bisher in Deutschland vielfach nicht genügend anerkannt ist, auch für
die Strömungen der Gegenwart durchaus nicht zu unterschätzen.
Diese hier nur in Kürze skizzierten Gesichtspunkte — nämlich,
um dies abschließend nochmals hervorzuheben, daß Saint-Simon, Fourier
und Louis Blanc aktuellste Bedeutung beanspruchen können, daß sie
trotz mancher Irrungen, die sich in ihren Systemen und Forderungen
verknüpfen, doch durchaus nicht als Utopisten bezeichnet werden können,
und daß sie in der Verfolgung ihrer Ziele grundsätzlich von Kommu-
nisten und Anarchisten zu scheiden sind — bilden die geistige Unter-
lage meines jüngst unter dem Titel „Zur Entwicklungsgeschichte des
Sozialismus“ (Berlin, Franz Vahlen, 1909) veröffentlichten Werkes. Es
Literatur. 407
enthält die teilweise umgearbeitete Zusammenfassung der in früheren
Jahren einzeln veröffentlichten sozialgeschichtlichen Abhandlungen. Die
Theorien von Saint-Simon, Bazard, Enfantin, Fourier, Considerant,
Louis Blanc usw. werden darin geschildert und die das Christentum,
das Genossenschaftswesen, das Recht auf Arbeit, das Erbrecht, Er-
gelon e und Unterricht, die Stellung der Frau, die Entwicklung der
Bourgeoisie und des Proletariats, Individualismus und Sozialismus be-
treffenden Ansichten und Vorschläge jener Männer in allen Einzelheiten
vorgführt und kritisch erörtert. Hierbei ist auch ausführlich auf die
manigfachen praktischen Versuche, die zur Verwirklichung der ver-
shedenen Theorien eingeleitet worden sind, eingegangen. Das Werk
it keine Parteischrift, sondern soll ein auf wissenschafticher Unterlage
nieder Beitrag zur Kulturgeschichte sein. Möge es in diesem Sinne
von den Fachgenossen und allen denjenigen, die der sozialen Bewegung
Verständnis und Interesse entgegenbringen, aufgenommen werden.
408 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes.
L Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Bothe, Fr., Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der
Reichsstadt Frankfurt. Leipzig (Duncker & Humblot) 1906. X, 172 SS.
8%. 4,60 M.
Der nach dem Haupträdelsführer, dem Kuchenbäcker Vinzenz Fett-
milch, benannte Aufstand der zünftischen Bürgerschaft, der Handwerker-
gesellen und der Industriearbeiter Frankfurts gegen den patrizischen
Rat und die Judenschaft, der von 1612— 14 tobte und erst 1616 mit
der Hinrichtung und Verbannung der zumeist Beteiligten als beendigt
angesehen werden konnte, hat bereits bei G. L. Kriegk (Geschichte von
Frankfurt a. M. in ausgewählten Darstellungen, 1871, S. 237—417)
eine eingehende Schilderung gefunden. Kriegk bezeichnet den „Fett-
milch-Aufstand“, der das Frankfurter Gemeinwesen aufs tiefste er-
schütterte, ja fast um seine politische Freiheit brachte, die Zünfte als
politische Korporationen für immer beseitigte und den Patriziat aufs
neue in seiner Herrschaft befestigte, aber auch gewisse Reformen in
der Aemterverwaltung herbeiführte, als die interessanteste Epoche in
der Geschichte der alten Reichs- und Krönungsstadt am Main. Ueber
Ursachen und Charakter der Unruhen gingen die Meinungen aus-
einander. Die eine Ansicht erblickt in ihnen die Fortsetzung der mittel-
alterlichen Zunftkämpfe gegen den Patriziat um das Stadtregiment. Die
andere — von Kriegk selbst vertretene — betrachtete sie als den Aus-
druck der Erbitterung über den Mißbrauch der Regierungsgewalt seitens
des Rates und des Hasses gegen die Juden. Die Kontroverse auf
Grund eingehender archivalischer Forschungen zur Entscheidung zu
bringen, hat sich Bothe zur Aufgabe gesetzt. Das Quellenmaterial fließt
in überreicher Fülle: 95 Prozeßaktenbände, Bürgermeister-, Gesetz- und
Steuerbücher, die seit 1348 fast lückenlos vorhandenen Stadtrechnungen,
Handwerkerakten, das unter den Beilagen (No. 10, S. 119—143) ab-
gedruckte handelsgeschichtlich wertvolle „Pfortenbuch“ (d. i. Amtsbuch
der verordneten Ratsfreunde an der Fahrpforte) usw. Das Ergebnis
seiner Untersuchung hat Bothe in zwei Werken niedergelegt: über „Die
Entwicklung der direkten Besteuerung in der Reichsstadt Frankfurt bis
zur Revolution 1612—14“ (Leipzig 1907) und dem vorliegenden Buche.
Diese „Beiträge“ sind ebenso wertvoll durch die umfassende ein-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 409
dringliche Kenntnis wie durch die methodisch besonnene und umsichtige
Verwertung des zum größten Teil überaus spröden Quellenmaterials,
dem der Verf. in allen 3 Abschnitten (I. Aus Frankfurts alten Rechen-
büchern: a) Zur Charakteristik der Rechenbücher; b) Zur Entwicklung
der Stadtwirtschaft im 16. Jahrhundert; II. Zur wirtschaftlichen und
sozialen Lage der Frankfurter Bevölkerung im 16. und zu Beginn des
17. Jahrhunderts) wichtige Erkenntnisse abgerungen hat. Zunächst
(Ia) ergibt sich, daß die städtische Finanzverwaltung auch in Frankfurt
durch das Fehlen der Einheitlichkeit, Planmäßigkeit, Uebersichtlichkeit
und zahlenmäßigen Genauigkeit gekennzeichnet ist und vom 14.—17. Jahr-
hundert einen durchaus patrimonial-patriarchalischen Charakter trägt.
Gleichwohl läßt sich von 1376 ab ein gewisser Fortschritt in der Buch-
führungstechnik erkennen, und trotz aller Mängel und Unzuverlässigkeit
im einzelnen sind die Rechenbücher doch im großen überaus wichtige
Quellen für die Geschichte der politischen, sozialen, stadt- und privat-
wirtschaftlichen Zustände der Stadt, für die Preisgeschichte und Be-
völkerungsstatistik. Darüber bietet der 2. Abschnitt vielseitigen und
lehrreichen Aufschluß. Handel und Verkehr gebunden vornehmlich an
die beiden Messen, spielen in der Frankfurter Stadtwirtschaft des
16. Jahrhunderts natürlich die vornehmste Rolle, obwohl Frankfurt erst
gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine eigentliche Handelsstadt geworden
ist; für ihren Aufstieg ist bezeichnend die Verdoppelung und Verdrei-
fachung des Zoll-, Wege- und Krangeldes von 1515—1610, zum anderen
die wachsende Ergiebigkeit des Messstandgeldes, das um 1600 nominell
mehr einbrachte als 25 Jahre vorher die Gesamtgefälle (S. 36 ff.).
Volkswirtschaftlich bemerkenswert ist der Hinweis auf den starken
Konsum der Getränke und daher die Ergiebigkeit ihrer Besteuerung
(S. 29 f.) sowie auf die Beziehungen einerseits zwischen wirtschaftlichem
Tiefstand und Steigerung des Fisch- und Branntweinkonsums, anderer-
seits zwischen wirtschaftlichem Aufstieg, Steigerung des Fleisch- und
Weinkonsums und (mit Verschleuderung alten Familienhausrats ver-
bundenem) Aufschwung des Trödlerhandels (S. 30 ff.). Die großen Ge-
schäfte in den Messen wurden durch Stadtfremde gemacht, unter denen
als Makler am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts die
Italiener und Süddeutschen zugunsten der Niederländer und Nord-
deutschen zurücktraten. Die Zuwanderung der Niederländer führte
einen Umschwung im Sinne der Bildung eines Großkaufmannstandes,
einer Industrie und eines Exporthandels in Frankfurt herbei. Für die
neuerdings aufgeworfene Streitfrage (zwischen M. Weber und E. Troeltsch
einer-, F.. Rachfahl andererseits) nach der Bedeutung des Kalvinismus
für die Bildung des neuzeitlichen Kapitalismus vermögen Bothes Unter-
suchungen auch einen kleinen Beitrag beizusteuern: Die in Frankfurt
eingewanderten Niederländer waren zwar großenteils, aber nicht durch-
weg Kalvinisten (S. 28, 35 N. 1, 38 f., 43 f.) Neben der Tuch- und
Seidenbranche beherrscht namentlich Kupfer die Frankfurter Messen;
außerdem erlangen sie eine große Bedeutung für Wechselgeschäfte
(S. 39 f.) die gleich der Pfandleihe vornehmlich in den Händen der
Juden lagen (S. 97 f.) Hinter dieser durch fremde Elemente herbei-
410 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
geführten Entwicklung, mit der sich das durch Leichtsinn, Schlendrian
und Eigennutz charakterisierte patrizische Mißregiment verband, blieb
die zünftisch organisierte, in Handwerk und Landwirtschaft tätige ein-
heimische Bürgerbevölkerung weit zurück, wie der 2. Hauptabschnitt
zeigt, der sehr vorsichtige Untersuchungen über die Bevölkerung, Be-
rufs- und Konfessionsstatistik Frankfurts im 16. und zu Beginn des
17. Jahrhunderts anstellt. Daraus ergibt sich, daß Frankfurt bis zum
Auftreten der Niederländer nach Volksmenge und Wirtschaftsverfassung
nicht mehr als eine Mittelstadt war und nur während der Meßzeiten
einen lebhafteren Betrieb sich entwickeln sah, daß mit der großkapita-
listischen Periode bis dahin unbekannte wirtschaftliche Krisen eintraten,
daß die an sich geringe jüdische Bevölkerung eine unverhältnismäßige
Zunahme erfuhr und die wirtschaftliche und soziale Lage eines großen
Teiles der Frankfurter Bevölkerung zu Beginn des 17. Jahrhunderts
ungesund geworden war.
Und so beantwortet Bothe die erwähnte Kontroverse dahin, daß
das eigentliche Motiv des Fettmilch-Aufstandes ökonomischer Natur ge-
wesen ist: Die wirtschaftliche Not führte die Bürgerschaft zur Selbst-
hilfe. Das politische, ständische, religiöse usw. Moment haben daneben
„nur untergeordnete oder treibende Kraft besessen“ (S. IV).
Die der Arbeit angehängten 22 Beilagen bestehen teils aus Tabellen
zur städtischen Finanzwirtschaft (No. 2—9) und zur Bevölkerungs-,
Berufs- und Vermögensstatistik der Bürger und Juden (No. 12—19 a
und 22a/d), teils aus Abdrucken urkundlicher Quellen (No. 1, 10, 11,
20, 21), wie sie sich auch in den Anmerkungen, freilich ohne Berück-
sichtigung moderner Editionsgrundsätze, allerorts untergebracht finden.
In dem dem Privileg Karls IV. v. J. 1358 (S. 14 N. 1) vorgesetzten
Regest hätte außer dem Jahres- auch das Monatsdatum (Juni 2) auf-
gelöst werden sollen. Ueber das „Vidimus“ hat Bothe (S. 25) eine
ganz falsche Vorstellung; jedes Lehrbuch der Diplomatik kann ihm
darüber Aufschluß geben. Auch mit der deutschen Sprache steht er
gelegentlich auf gespanntem Fuße (S. 27 „gemäß der modifizierten
Steuergesetze und der veränderten Abgabenbestimmungen“; S. 34 die
Neubildung „Teuernis“). Und dann: warum dieser unbestimmte Titel
des ganzen Buches? Zum mindesten hätte eine Zeitangabe hinzu-
gefügt werden sollen. Jedenfalls wird niemand von vornherein wissen
können, ein wie reicher Inhalt ihn hinter diesen bescheidenen „Bei-
trägen“ erwartet.
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Hermann Levy, Monopole, Kartelle und Trusts in ihren Be-
ziehungen zur Organisation der kapitalistischen Industrie. Dargestellt
an der Entwicklung in Großbritannien. Jena, Gustav Fischer, 1909.
XIV u. 322 SS..
Das Buch ist eine Darstellung der monopolistischen Entwicklung
in der Industrie Englands und teilt diese Entwicklung in 3 Abschnitte.
Der erste behandelt „die Monopole der frühkapitalistischen
Industrie Englands“ (S. 1—88), der zweite „die Zeit des
freien Wettbewerbs und der ersten monopolistischen
Unternehmerverbände“ (S. 89—159), der dritte „die Neu-
organisation der britischen Großindustrie auf mono-
polistischer Grundlage“ (S. 160—260). Den Schluß bilden eine
Erörterung der heutigen Probleme, eine theoretische und kritische Zu-
sammenfassung der Ergebnisse und 3 Anlıänge mit Kartellstatuten und
-entwürfen.
Für die beiden ersten Abschnitte hat der Verf. selbst eingehende
Quellenstudien gemacht und ein sehr wertvolles Material zusammen-
gebracht. Alle Erscheinungen der Monopolbildung und staatlichen
Monopolpolitik in der englischen Volkswirtschaft des 16. und 17. Jahrh.
werden besprochen und die Gründe des Uebergangs zur Gewerbefreiheit
dargestellt. Es wird gezeigt, daß dieselbe für die englische Groß-
industrie schon Ende des 17. Jahrh. durchgeführt war. Von besonderem
Interesse ist hier auch ein Vergleich mit den älteren grußgewerblichen
Monopolen Deutschlands, die noch bis ins Ende des 18. Jahrh.
hineinreichen, als in England schon die freie Konkurrenz in der Groß-
industrie als etwas Selbstverständliches galt, weil die Gewerbefreiheit
dort schon seit 100 Jahren bestand. Das „Direktionsprinzip“ im Berg-
bau. das „Konzessionssystem“ in zahlreichen anderen deutschen Gewerben
wird der freien Entwicklung der englischen Industrie gegenübergestellt.
414 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
L. bringt auch hier auf Grund eifrigen Studiums der Arbeiten von
Gothein, Stieda, Troeltsch, Knapmann u. a. viel Material über die älteren
industriellen Monopole Deutschlands zusammen. Seine natürlich nur
ganz kurze Behandlung des Gegenstandes erweckt das Bedauern, daß
es bisher in der deutschen Literatur an einer zusammenfassenden Dar-
stellung dieser Entwicklung vollkommen fehlt. Vielleicht gelangt
Sombart in den weiteren Bänden seines „Modernen Kapitalismus“ einmal
dahin, diesen „wirklichen Kapitalismus“ der älteren Zeit eingehend zu
behandeln.
Der zweite Abschnitt zeigt, wie frühzeitig schon aus dem
freien Wettbewerb das freie vertragsmäßige Monopol in der
englischen Industrie sich entwickelt. Er behandelt die ersten Kartelle
im englischen Kohlen- und Kupferbergbau, die aus dem Ende des
17. und der Mitte des 18. Jahrh. datieren. Es sind Tatsachen, die
zwar größtenteils schon bekannt waren, z. B. durch einen Aufsatz von
Gustav Cohn, Ein Beitrag zur Geschichte der wirtschaftlichen
Kartelle, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, Bd. 8, und
einen solchen von Levy selbst, Englische Kartelle der Vergangenheit,
Schmollers Jahrbuch 1907, für die der Verf. aber auf Grund sorgfältigen
Studiums der Parlamentsakten mancherlei interessante Einzelheiten
mitteilt.
Das größte Interesse beanspruchen natürlich der dritte Ab-
schnitt des Buches und die daran sich anknüpfenden Schlußfolge-
rungen. Das Material beruht hier größtenteils auf dem Buche von
H. W. Macrosty, The Trust Movement in British Industry, das
K. Wiedenfeld im letzten Novemberheft dieser Zeitschrift eingehend
besprochen hat. An die Schilderung der 15 wichtigsten Kartelle und
Trusts Englands (S. 195—260) knüpft aber L. interessante allgemeine
Schlußfolgerungen. Er wendet sich vor allem, wie schon in
früheren Aufsätzen, gegen die insbesondere von mir seiner Zeit !) vertretene
Auffassung, daß „die Psychologie des britischen Unternehmertums der
Kartellierung und Vertrustung abhold sei“. Es ist zuzugeben, daß ich
diesem Faktor wohl seiner Zeit zu viel Bedeutung beigemessen habe, aber
andererseits wird, wie mir scheint, seine Wirkung durch die Anführung
einiger weniger Kartelle der älteren Zeit — sie sind Les Haupt-
argument — noch nicht widerlegt. Zutreffender dagegen sind die
späteren Hinweise des Verf. darauf, daß noch genug andere Momente
vorhanden sind, die die geringe Kartellentwicklung in Großbritannien
erklären. Ganz aber sollte man auch jenen Faktor nicht ausschalten.
Auch L. selbst sagt am Schlusse seines Buches: „Nichts ist in Groß-
britannien unpopulärer als das Monopol, welcher Art es auch
sei“, und „der Engländer glaubt an eine, man möchte sagen „natürliche“
Notwendigkeit des freien Wettbewerbs. In dieser Hinsicht sind ihm
die Lehren der klassischen Nationalökonomie seit einem Jahrhundert
in Fleisch und Blut übergegangen“ (S. 307). Auch Macrosty betont
übrigens den Selbständigkeitsdrang der englischen Unternehmer, und
1) Schutzzoll und Karteile, Jena 1903.
>
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 415.
ebenso weist Wiedenfeld (a. a. O.) darauf hin, daß der einzelne Unter-
nehmer allenfalls „sein Werk ganz und gar in einem großen Konzern
aufgehen läßt, auf dessen Gesamtleitung er dann wieder einen mitmal-
geblichen Einfluß ausübt, daß er aber sich dagegen wehrt, einen Teil
seiner Selbständigkeit abzugeben, ohne dafür an Einfluß auf die Leitung
der anderen Werke zu gewinnen“. Dieser Gesichtspunkt wird auch
von L. bei Besprechung der englischen Trustorganisationen hervor-
gehoben. Im allgemeinen scheint mir immer noch unbestreitbar, daß
neben anderen Ursachen auch die tiefeingewurzelten Ideen des Indivi-
dualismus die vergleichsweise geringe Entwicklung monopolistischer
Organisationen in England erklären.
Unter diesen anderen Ursachen erwähnt L. mit keinem Worte
die ebenfalls schon von mir für die Erklärung der verhältnismäßig
geringen Entwicklung der Kartelle herangezogene Tatsache, daß die
englische Gesetzgebung und Rechtsprechung ganz anders als
bei uns das Prinzip des freien Wettbewerbs verteidigt und „contracts
in restraint of trade“ für ungesetzlich erklärt. Gerade zur Erklärung
der Tendenz zur Unternehmungskonzentration und Fusio-
nierung, auf die L. ganz besonders nachdrücklich hinweist, ist diese
Tatsache von Wichtigkeit. Die Rechtslage hat doch sicher dabei mit-
gespielt, daß sich zunächst einmal durch Fusionierung die Zahl der
konkurrierenden Unternehmungen verminderte. Nachdem das geschehen
war, waren bloße „gentlemen agreements“ möglich, und bilden daher
auch den größten Teil der englischen Kartelle.
In den beiden letzten Kapiteln des Buches, welche die Schluß-
folgerungen aus den früheren Darlegungen ziehen, legt der Verf. das
Hauptgewicht auf diese Tatsache, daß sich Kartelle in England erst
entwickelt haben, wo wenige, ungefähr gleichstarke Unternehmungen
vorhanden waren, und daß daher in allen Erwerbszweigen der Mono-
polisierungstendenz erst die Konzentrationstendenz, die
Entwicklung von Riesenunternehmungen (Trusts) vorausgehen mußte,
Seine Untersuchungen scheinen mir auch für England die des öfteren
von mir aufgestellte Behauptung zu bestätigen, daß die „kapitalistische
Akkumulation“, um mit Marx zu reden, nicht, wie der Sozialismus
glaubt, bis zum Extrem gehen werde, nicht alle Unternehmungen eines
Erwerbszweiges sich in eine einzige verschmelzen werden, sondern
daß aus technischen und organisatorischen wie aus ökonomischen Grün-
den das Nebeneinanderbestehen weniger großer Unter-
nehmungen, die dann miteinander Kartelle schließen, am vorteil-
haftesten ist. Wo die Grenze ist, bis zu der einerseits die Unter-
nehmungskonzentration gehen und bei der andererseits die vertrags-
mäßige Monopolorganisation zwischen selbständigen Unternehmungen
anfangen könnte, darüber läßt sich allgemein nichts sagen. Sicher ist,
daß in England erstere, in Deutschland letztere weiter geht und größere
Bedeutung hat. Und deshalb bietet, wie L. eingehend schildert, in
England die Fusionierung schwierigere Organisationsprobleme als die
Kartellbildung, die sich dort nur zwischen einer kleinen Zahl von
Unternehmungen vollzieht.
416 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Die verschiedenen, von ihm berücksichtigten Momente, welche die
geringere Entwicklung von Monopolorganisationen in England erklären,
faßt L. folgendermaßen zusammen (S. 281): „Durch das Fehlen der
Schutzzölle, den unbedeutenden Einfluß des Frachtenschutzes und das
geringe Vorhandensein mineralischer Bodenproduktion mit nationalem
Monopolcharakter und leichter Monopolisierbarkeit ist innerhalb der
britischen Großindustrie die Möglichkeit der Monopolbildung, soweit die
ausländische Konkurrenz in Frage kommt, auf ein im Vergleich zu
Deutschland und den Ver. Staaten kleines Gebiet beschränkt. In diesem
'Gebiete freilich ist nun mehr oder minder große Immunität vor fremder
Konkurrenz gegeben. Gelingt es aber hier, den inländischen Wett-
bewerb auszuschalten oder zu beschränken, so ist dennoch die Möglich-
keit einer monopolistischen Preiserhöhung geringer, die Grenzen, welche
einer solchen gezogen sind, enger, und demnach der zu erwerbende
monopolistische Gewinn im allgemeinen kleiner als in Ländern, welche
Schutzzoll, Frachtenschutz und zahlreiche mineralische Bodenproduktion
mit monopolistischem Charakter aufzuweisen haben.“
Diese Sätze sind wohl unbestreitbar. Doch legt der Verf. der an
sich gewiß richtigen Tatsache, daß der mit monopolistischen Vereinigungen
in England zu erzielende Gewinn im allgemeinen geringer sein wird,
in den folgenden Ausführungen meines Erachtens eine zu große Be-
deutung bei für die Erklärung der geringeren Kartellentwicklung in
England. Unsere Kartelle werden nicht deswegen geschlossen, weil
man von ihnen eine bestimmte Steigerung des Gewinns mit Sicherheit
erwarten zu können glaubt, sondern sie sind bekanntlich in der Haupt-
sache „Kinder der Not“, sie sollen eine Ueberproduktion einschränken,
die gegenseitige Preisherabdrückung beseitigen. Wie hoch man später
einmal die Preise wird hinaufschrauben können, darüber zerbricht man
sich bei der Kartellgründung noch nicht die Köpfe.
Noch nach einer anderen Richtung hin scheint mir L. die Bedeutung
einer an sich richtig erkannten Tatsache zu überschätzen. Er betont
mit Recht, daß es „in Großbritannien hauptsächlich die Größe der
Unternehmung und ihrer Leistungsfähigkeit ist, welche eine mono-
polistische Tendenz in sich trägt“. Dies namentlich deswegen, weil
„Jede neue Unternehmung, welche mit den auf Grund des Konzentrations-
prozesses entstandenen Riesenunternehmungen Schritt halten will, ein
so großes Mehrangebot von Produkten repräsentiert, daß sie, um diese
abzusetzen, entweder nur bei einer enorm wachsenden Nachfrage mit
Nutzen verkaufen könnte oder aber sofort die Preise auf ein für sie
wie für die Monopolvereinigungen unrentables Niveau drücken würde“.
So richtig dieser Satz in vielen Fällen ist, so darf man ihn doch
nicht, wie es L. bei der dann folgenden ziffernmäßigen und theoretischen
Begründung tut, zu sehr verallgemeinern. Nicht immer ist der Riesen-
betrieb den anderen überlegen, nicht einmal in der Eisenindustrie, an
die Verf. offenbar vor allem denkt, s. Martinwerke. Das praktische
Leben zeigt sehr häufig, daß wenn große Betriebe die Preise erhöhen,
daneben kleine aufkommen, ohne daß die Produktionsvermehrung alsbald
zu einer Ueberproduktion und Preisdruck führt.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 417
Das ist das einzigste, was ich an dem Inhalt des Buches von Levy
vielleicht auszusetzen hätte. Man wird es ihm zu gute halten können,
daß in seiner Darstellung der längst bekannte Hauptpunkt für die
geringere Entwicklung des Kartellwesens in England, der Freihandel,
zurücktritt. Und darin glaube ich demgemäß die Hauptbedeutung des
Buches sehen zu sollen: Bisher hat man die Entwicklung der mono-
polistischen Vereinigungen mehr sozusagen abstrakt behandelt. Man
hat, wie das auch die erste Aufgabe der Wissenschaft auf diesem Ge-
biete sein mußte, die allgemeinen Gründe des Entstehens der
Kartelle dargelegt, und zwar auf Grund der Beobachtungen in Schutz-
zolländern, weil sie sich dort am intensivsten entwickelt hatten.
Hier wird nun, in diessm Umfange zum ersten Male, der Versuch
gemacht, die besonderen Entstehungsgründe der monopolistischen
Vereinigungen in einem Lande mit besonderen Verhältnissen zu unter-
suchen, vom allgemeinen Standpunkt aus also die sekundären, die
speziellen Entstehungsgründe derselben. Diese speziellen, nur für
England gültigen Momente der Entwicklung mußten sich bei einer
genaueren Untersuchung der englischen Verhältnisse, als sie bisher vor-
handen war, mit Notwendigkeit ergeben, und sie klar herausgearbeitet
zu haben, ist das Verdienst des Verf.
Dabei hätte ich nur nach einer Richtung am Schlusse seiner Aus-
führungen eine Ergänzung gewünscht, nämlich eine kurze Gegenüber-
stellung mit den deutschen Verhältnissen. Gerade weil der Verf.
für die ältere Zeit der staatlich organisierten Monopole Englands in so
dankenswerter Weise die deutschen Zustände zum Vergleich heranzieht,
wäre ein solcher auch für die heutige Entwicklung erwünscht gewesen.
Dann wäre nämlich die außerordentliche Verschiedenheit der Entwicklung
in beiden Ländern schärfer hervorgetreten, und sie ist es, die sich bei
der Lektüre des Levyschen Buches dem Kenner deutscher Verhältnisse
vor allem aufdrängt. Die amerikanischen Zustände sind, abgesehen von
Besonderheiten auf finanziellem Gebiete, den deutschen viel ähnlicher.
Und während ich in meiner Besprechung des früheren Buches des Verf.
über die Stahlindustrie der Ver. Staaten!) oft die Gleichheit der Ent-
wicklung mit der deutschen zu betonen Gelegenheit hatte, liegt hier
die ganze Aehnlichkeit nur in den allgemeinsten Begriffen: Konzen-
tration, Monopoltendenz. Sowie man aber diese Erscheinungen näher
spezialisiert, gehen die Tatsachen in Deutschland und in England voll-
kommen auseinander. Daß daran natürliche Verschiedenheiten:
insulare Lage und daher geringerer Frachtenschutz, technische:
andere Industriezweige, auf die sich die Entwicklungstendenzen beziehen,
und wirtschaftspolitische: Freihandel, in gleicher Weise beteiligt
sind, geht aus dem Buche deutlich hervor, und dasselbe kann daher
als eine sehr wertvolle Ergänzung der bisher hauptsächlich auf der
Beobachtung von Schutzzolländern beruhenden deutschen Kartelliteratur
bezeichnet werden. Robert Liefmann.
1) H. Levy, Die Stahlindustrie der Ver. Staaten von Amerika, Berlin 1905.
S. diese Jahrbücher, 3. Folge, Bd. 31.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 27
418 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Allmann, O., Geschichte der deutschen Bäcker- und Konditor-Bewegung. 2 Bde.
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9. Soziale Frage.
Brentano, Lujo, Die Arbeiterwohnungsfrage in den
Städten mit besonderer Berücksichtigung Münchens.
Ein Vortrag. Schriften des sozialwissenschaftlichen Vereins der Uni-
versität München. Heft 1. 21 SS. München (Krieger) 1909.
Es gehört zu den guten Gepflogenheiten der Lehrer der Volks-
wirtschaft, daß sie die gesicherten Ergebnisse volkswirtschaftlicher
Forschung auch außerhalb des Hörsaales zum Vortrag bringen, und auf
diese Weise weitere Kreise mit den Resultaten gelehrter Arbeit bekannt
machen. Ohne Zweifel ermöglicht gerade die moderne Volkswirtschaft
ein häufiges Begegnen der Lehre mit der Praxis, ein häufiges Hinaus-
treten vom Katheder auf die Rednerkanzel. Der Selbstzucht unserer
ökonomischen Lehrer gelingt es dabei, sich vom Streite der Parteien
und von der Parteipolitik fernzuhalten, und selbst aktuelle Fragen
volkswirtschaftlicher Praxis einer gewissen Klärung zuzuführen, wie es
Brentano mit einem Vortrage über die Arbeiterwohnungsfrage getan
hat. Die Wohnungsfrage gehört zu den zeitgemäßen Problemen prak-
tischer Volkswirtschaft. Und in München ist die Wohnungsfrage seit
den Tagen Pettenkofers nicht zur Ruhe gekommen. Einen gewissen
Schlußstein für die Aufgaben ihrer Lösung hat erst vor wenigen Jahren
die Wohnungserhebung in der Stadt München durch das Statistische
Amt der Stadt gelegt. Auf dieser Erhebung aus den Jahren 1904 bis
1907 baut Brentano eine gedrängte Schilderung der Mißstände im
Wohnungswesen und der Wohnungsbenutzung überhaupt auf, um dann
die allgemeinen volkswirtschaftlichen Unterlagen aller Wohnungs-
produktion und danach die wichtigsten Mittel zur Beseitigung der
Wohnungsnot kurz und treffend zu kennzeichnen.
Hellmuth Wolff.
Spann, Othmar, Die unehelichen Mündel des Vormundschafts-
gerichts in Frankfurt a. M. (5. Bd. der „Probleme der Fürsorge“, Ab-
handlungen der Zentrale für private Fürsorge in Frankfurt a. M.)
Dresden (O. V. Böhmert) 1909.
In seinen 1905 erschienenen Untersuchungen über die uneheliche
Bevölkerung in Frankfurt a. M. zeigte der Vert, daß man die große
Masse der unehelich Geborenen nicht als eine sozial durchaus gleich-
artige auffassen darf. Eine Vielzahl verschiedener Pflege- und Er-
ziehungsorgane hat sich im gesellschaftlichen Körper für diese Be-
völkerungsschicht gebildet; will man die Lage dieser heben, dann wird
man auf die verschiedenen Entwicklungsbedingungen, die jene Organe
darbieten, Bedacht nehmen müssen.
Verf. suchte schon seinerzeit die typischen Leistungswerte der
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 421
letzteren festzustellen, und bedeutsam waren unter seinen Ergebnissen
besonders folgende: daß durch die eventuelle Heirat der unehelichen
Mutter mit einem anderen Manne als dem Vater ihres unehelichen
Kindes dieses bei Aufnahme in die so gebildete Stieffamilie einen
Entwicklungsboden vorfindet, der durchschnittlich in körper-
licher, geistig-beruflicher und sittlicher Beziehung dem Entwicklungs-
boden für eheliche Kinder derselben sozialen Sphäre gleichkommt;
daß aber, falls die uneheliche Mutter nicht heiratet, deren Kind
durchschnittlich in jeder der genannten Beziehungen degeneriert. Der
Verf. gelangte damals zu dem Schlusse, daß eine eigentliche Unehelichen-
fürsorge nur für diese letztere, allerdings große Gruppe von Kindern
und die unehelichen Waisen anzustreben sei, daß aber den unehelichen
Stiefkindern im allgemeinen nicht mehr gesellschaftliche Fürsorge zu-
tel werden müßte, als den ehelichen Kindern der gleichen sozialen
Schichten.
Im wesentlichen kommt Verf. auch in seinen neuen Untersuchungen
zu dem gleichen Ergebnis; er ergänzt es aber vor allem durch eine
genauere Einsicht in die Bedeutung jener Pflege- und Erziehungsform,
die entsteht, wenn das uneheliche Kind allein oder mit der Mutter
bei deren Eltern oder sonstigen Verwandten Unterkommen findet. Und
ferner modifiziert er einigermaßen sein Urteil über die uneheliche Stief-
familie, in erster Linie die Stiefvaterfamilie.e Es kommt nämlich vor,
daß bei Kindern, die in einer solchen untergebracht sind, Verfalls-
erscheinungen auftreten, die sonst nur den Unehelichen der anderen
Gruppen eigen sind; das beruht aber in den betreffenden Fällen meist
darauf, daß das Kind verhältnismäßig lange Zeit, ehe es in die Stief-
familie kam, andere Formen der Verpflegung und Erziehung durch-
laufen hat, wo jene Erscheinungen entstanden, die dann in die Stief-
familie hinübergebracht oder vielleicht auch zum ersten Male dort
sichtbar wurden.
Diese Erwägung führt gleich zu der weiteren Frage, was der
Wechsel der Pflege- und Erziehungsstellen im Leben der unehelichen
Kinder überhaupt für Bedeutung erlangt. Die neue Spannsche Arbeit
sagt: eine ganz ungeheure. Von den im 1. Lebensjahre Stehenden war
noch reichlich die Hälfte in einer stabilen Pflege, von den im 14. Jahre
Stehenden nur noch etwa 10 Proz. Entsprechend stieg dann die Zahl
der Kinder, die mehrere Stellen durchlaufen hatten, z. B. hatten vier
und mehrere Pflegen durchgemacht von den im 1. Lebensjahre befind-
lichen 1 Proz., von den am Schlusse des 6. Jahres angelangten aber
schon 18 Proz.
Das dem Verf. zur Verfügung gestandene Material betraf Ver-
storbene und Ueberlebende, und unter den Ueberlebenden ließ sich eine
Masse unzweifelhaft Verwahrloster aussondern. Der Vergleich der Ver-
storbenen mit den Ueberlebenden in bezug auf den Pflegewechsel ergab,
daß erstere von diesem Wechsel in viel stärkerem Maße betroffen worden
waren als die Ueberlebenden, und bei dem Vergleich dieser letzteren als
Gesamtmasse mit der Verwahrlosungsgruppe zeigte diese einen viel inten-
siveren Wechsel, so daß schließlich anerkannt werden muß, daß dort,
422 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
wo stärkerer Wechsel unter sonst gleichen Umständen
vorliegt, auch größere Sterblichkeit und Verwahrlosung
zu vermuten ist.
In eingehender statistischer Untersuchung legt der Verf. auch die
Bedingungen des Pflegewechsels, als welche namentlich die Ali-
mentationsverhältnisse hervortreten, dar, und unternimmt ferner,
die Leistungswerte der einzelnen Pflege- und Erziehungsformen einmal
indirekt, durch Bezugnahme auf die Ziffern des Pflegewechsels und so-
dann direkt durch Bezugnahme auf die Ziffern der Sterblichkeit und
der Verwahrlosung zu ermitteln. Es sei noch erlaubt, auf den wichtigen
Teil der Untersuchungen hinzuweisen, welcher die Lebensverhältnisse
der unehelichen Mütter und Väter berührt.
Das Untersuchungsmaterial entstammt einer von der Zentrale für
private Fürsorge in Frankfurt a. M. angeordneten, im Laufe des Jahres
1906 durchgeführten Erhebung, deren Grundlage die beim Vormund-
schaftsgerichte von Frankfurt a. M. geführten Vormundschaftsakten
über uneheliche Kinder der Geburtsjahrgänge 1885/1905 waren. Jedoch
konnte nicht die gesamte Menge des Materials benutzt werden, sondern
nur jener Teil, bei welchem die interessierenden Verhältnisse der
Kinder bis zum Schlusse der Beobachtung lückenlos bekannt waren;
das traf in fast 5000 Fällen zu.
Für die Erkenntnis der Lage der Unehelichen und für die Er-
kenntnis der Hilfsmaßnahmen, zu deren Gunsten sind auch die neuen
Spannschen Untersuchungen von grundlegendem Wert.
Frankfurt a. M. Dr. Siegfried Kraus.
Am Born der Gemeinnützigkeit. Festgabe zum 80. Geburtstage des Herrn Geh.
Reg.-R. Prof. Dr. jur. Victor Böhmert. Herausgeg. von (Bibliothekar) Peter Schmidt.
Dresden, O. V. Böhmert, 1909. gr. 8. XIII—466 SS. mit 1 Bildnis. M.10.—. (In-
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von Wilh. Böhmert. — Die Aufgaben und Ziele der Gemeinnützigkeit und der prak-
tischen Nächstenliebe, von (Prof.) A. Emminghaus. — Die Stellung der Gemeinnützig-
keit in der Nationalökonomie, von (Prof.) Robert Wuttke. — Die leitenden Ideen der
modernen Armenpflege, von (Stadt-R.) Münsterberg. — Der Arzt als sozialer Helfer, von
(Dr. med.) Flachs. — Volksernährung und hauswirtschaftliche Ausbildung, von (Prof.)
Fritz Kalle. — Mäßigkeit und Enthaltsamkeit als Grundsatz der Lebensführung, von
Paul Scheven. — Ziele und Aussichten der Gartenstadtbewegung, von K. v. Mangoldt.
— Die Arbeiterwohlfahrtsbestrebungen in Deutschland seit Gründung des Reichs, von
Erdmann Graack. — Die Gewinnbeteiligung als ein Mittel zur Förderung des sozialen
Friedens, von Leopold Katscher. — Ueber Ziele und Wege der Säuglingsfürsorge, von
(Prof.) Arthur Schlossmann. — Neuere Bestrebungen in der Lehrlingsfürsorge, von
Paul Röthig. — etc.)
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Bulletin de statistique et de législation comparée. 33° année, Décembre 1909:
France: Production des vins et des cidres en 1909. — Les fabriques de sucre et leurs
procédés de fabrication. — Allemagne: Le projet de budget de Empire pour 1910. —
La réforme financière. (Suite) — Russie: Le projet de budget pour 1910. — États-
Unis: Le nouveau tarif douanier. (Suite et fin.) — etc.
Journal des Economistes. 69° année, janvier 1910: Le marché financier en 1909,
par A. Raffalovich. — Les comptes des exploitations industrielles de l'État, par G.
Schelle. — L’&tat actuel de la question des retraites ouvrières en France, par Maurice
Bellom. — La délimitation de la région du vin de Bordeaux, par Nicolai. — Le nouveau
tarif des douanes à la Chambre des Députés (suite et fin), par Cohen. — Le credit, par
Frédéric Passy. — etc.
Journal de la Société de Statistique de Paris. Liz année, N° 1, janvier 1910:
Notes sur la statistique en France au milieu du dix-huitième siècle, par G. Schelle. —
L’annuit& successorale en France et la population (1876—1906), par Paul Meuriot. —
etc. — N° 2, février 1910: Les élections communales du 12 mars 1909 à Copenhague,
par Cordt Trap. — La statistique de l’agrieulture en Suède, par E. Levasseur. — Le
‚canal de Suez (1869—1909), par Alfred Neymarck. — etc.
Réforme Sociale, La. 30° année, 1910, N° 97, 1% janvier: Société d’Économie
sociale: la criminalité juvénile, par Henri Robert. Observations de Henri Joly. — La
mutualité agricole, par Eugène Montet. — La lutte contre la désertion des montagnes,
par de Sailly. — etc. — N° 98, 16 janvier: Les nouvelles cités-jardins en Angleterre,
par Georges Risler. — L’action sociale des mutualités rurales, par V. de Clereq. —
L’exode rural en Bretagne, par Jean Choleau. — La criminalité juvénile, observations
de Julhiet, Albert et Louis Rivière, Joly, Hubert-Valleroux, Kleine, Cheysson. — ete.
Revue d’Economie Politique. 24° Année, N° 1, Janvier 1910: L’actionnariat
ouvrier, par Charles Gide. — Les valeurs mobilières et les projets de réforme fiscale
(suite et fin), par Henri Truchy. — Le libre-échange et le protectionnisme au Congrès
de Londres d’aoüt 1908, par Riccardo Dalla-Volta. — La situation de la propriété
rurale en France d’après une récente enquête officielle, par Michel Augé-Laribé. — ete.
Revue d’histoire des doctrines économiques et sociales. 2° année, 1909, N° 3:
La théorie de lépargne en matière de crises périodiques de surproduction générale et
sa critique, par Albert Aftalion. — La source des théories de List, par Maurice Bellom.
— d’Aguesseau économiste. Les considérations sur les monnaies, par William Oualid.
— ete.
B. England.
Century, The nineteenth, and after. No. 396, February 1910: The naval situa-
tion and party politics, by Sir William H. White. — The canal revival scheme, by
Edwin A. Pratt. — White labour in tropical agriculture; a great Australian experiment,
by (Prof.) J. W. Gregory. — ete.
Die periodische Presse des Auslandes. 427
Edinburgh Review, The. N° 431, January 1910: Industry and employment.
— The Referendum. — L’Empire Libéral. — The House of Lords and the Budget.
— ete.
Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XLIV, Part I, No. 239, January
1910: Assurance companies act, 1909. — American railway securities as investments
for insurance companies, by Hubert Ansell and a director of the London Scottish Ameri-
can trust. — etc.
Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXXI, Part II, February, 1910:
Bankers’ advances on stock exchange securities, by A. R. Butterworth. Lectures III
and IV. — ete.
Journal of the Royal Statistical Society. New Series. Vol. LXXIII, Part 1,
January, 1910: Notes on some difficulties met with in international statistical compari-
sons, by Augustus D. Webb. — On the distribution of deaths with age when the causes
of death act cumulatively, and similar frequency distributions, by G. Udny Yule. —
The statistics of wages in the United Kingdom during the nineteenth century. (Part XV.)
The cotton industry. Section I, by George Henry Wood. — ete.
Review, The Contemporary. No. 530, February, 1910: The relations between
the French Senate and Chamber of Deputies, by Yves Guyot. — Prison life as it affects
women, by O. M. B. — etc.
Review, The Economic. Published for the Oxford University Branch of the
Christian Social Union. Vol. XX, No. 1, January 1910: The landlord, by (Rev.)
F. W. Russell. — The conditions of distress, by E. V. Birchall. — India and the opium
traffic, by D. A. Barker. — Karl Marx’s theory of value, by H. W. B. Joseph. — ete.
Review, The Fortnightly. N° 518, February 1910: The strain of transition, by
Hilaire Belloc. — The coal problem, by Benjamin Taylor. — The labour party and
the future. An address to workmen, by Maurice Hewlett. — etc.
Review, The National. No. 324, February 1910: A project of Empire, by F. S.
Oliver. — Forestry and the State, by William Dawson. — The naval situation: the
measures required, by H. W. Wilson. — etc.
Review, The Quarterly. No. 422, January, 1910: The rise of the native, by
Sir H. H. Johnston. — What the poor want, by Stephen Reynolds. — The appeal to
the nation. — etc.
C. Oesterreich-Ungarn.
Handelsmuseum, Das. Herausgeg. von der Direktion des k. k. österr. Handels-
museums. Bd. 25, 1910, Nr. 1: Der Handelsverkehr mit und über Hamburg. — Wirt-
schaftsverhältnisse in Zanzibar. — ete. — Nr. 2: Der Veredelungsverkehr in Oesterreich-
Ungarn, von Siegmund Schilder. — Südserbische Geschäftsverhältnisse. — ete. — Nr. 3:
Wirtschaftliche Verhältnisse Brasiliens. — Geschäftsverhältnisse Russisch-Polens. — etc.
— Nr. 4: Brasilianische Zolltarifrevision. — Griechische Zolltarifrevision. — etc. —
Nr. 5: Der neue französische Zolltarif, I, von Siegmund Schilder. — etc.
Mitteilungen, Volkswirtschaftliche, aus Ungarn. Herausgeg. vom königl. ung.
Handelsministerium. Jahrg. IV, 1909, Heft XII, Dezember: Der Außenhandel Ungarns
im Jahre 1908. — Die Ernte Ungarns im Jahre 1909. — Die Durchführung der Arbeiter-
versicherung. — etc.
Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
Kommission. Neue Folge. Jahrg. 14, 1909, November-Heft: Zur Statistik der Privat-
anklage, von (Hof-R.) Hoegel. — Die Säuglingssterblichkeit in Oesterreich (Schluß),
von Siegfried Rosenfeld. — ete. — Dezember. Heft: Die Ergebnisse der österreichischen
Unfallstatistik der fünfjährigen Beobachtungsperiode 1902—1906, von Karl Mumelter.
— Die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, von Alfred Korompay. — Der aus-
wärtige Warenverkehr Bosniens und der Herzegowina im Jahre 1908 im Vergleiche zum
Jahre 1904, von v. Pausinger. — etc.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. von k. k. Arbeitsstatistischen Amt im Handels-
ministerium. Jahrg. XI, Jänner 1910: Handlungsgehilfengesetz (Oesterreich). — Ge-
werbliche Lohnämter (England). — Fabrikgesetz (Norwegen). — Wirtschaftsrechnungen
minderbemittelter Familien (Deutsches Reich). — etc.
F. Italien.
Rivista della Beneficenza pubblica. Anno XXXVII, N° 12, Dicembre 1909: La
pubblica assistenza ai poveri (continuazione e fine), di (avv.) Filippo Conconi. — Per
la riforma della legge sui monti di pietà. — ete.
428 Die periodische Presse des Auslandes.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. 59° jaarg., 1910, Januari:
Mr. N. G. Pierson, door (Prof.) C. A. Verrijn Stuart. — Artesisch drinkwater voor onze
Nederlandsche steden, I, door R. D. Verbeek. — etc.
H. Schweiz.
Bibliothèque universelle et revue suisse. N° 170, Février 1910: À travers le
parlement suisse, par F. Bonjour. — ete.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XVII, 1909,
Heft 18: Das Arbeitsamt der Stadt Bern in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit (1889—
1908), von Rachil Galina. — Leopold Sonnemann f, von Paul Gygax. — ete.
Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 32, Januar 1910: Ein
nationalökonomisches System auf katholischer Grundlage, von (Prof.) J. Beck. — Die
moderne Industriebevölkerung und ihre Entwicklung im Deutschen Reiche, von
F. Norikus. — ete.
Zeitschrift für Schweizerische Statistik. Jahrg. 46, 1910, Bd. I, Lieferung 1:
Protokoll der Jahresversammlung der Schweizerischen statistischen Gesellschaft und des
Verbandes schweizerischer amtlicher Statistiker, 27. IX. 1909: Die Ergebnisse der ärzt-
lichen Rekrutenprüfungen im Kanton Glarus, von Ad. Nabholz. — Die Organisation
der nächsten eidg. Volkszählung, von (Direktor) Guillaume. — Ehe, Geburt und Tod
in der glarnerischen Bevölkerung, von Felix Weber. — Das Lotteriewesen in der Schweiz,
von E. Naef. — Das Steuerwesen im Kanton Glarus, 1851—1907, von B. Trümpy. — etc.
I. Belgien.
Revue Économique internationale. 7° Année, Vol. I, N° I, Janvier 1910: Energe-
tique sociale et politique positive, par Ernest Solvay. — L’agriculture suédoise au com-
mencement du ZZ: siècle, par Emile Levasseur. — La navigation intérieure en France.
Aménagement et utilisation des voies navigables, par Maurice Bellecroix. — Le déve-
loppement de la prospérité dans les Pays-Bas, par C. A. Verryn Stuart. — Quelques
considérations relatives au papier-monnaie au Chili, par Guillermo Subercaseaux. — Les
syndicats ouvriers en Allemagne, par Laurent Dechesne. — etc.
-IM. Amerika.
American Economic Association Quarterly. Formerly published under
the title of Publications of the American Economic Association. 3rd Series, Vol. X,
No. 4, December 1909: Life insurance reform in New York, by William H. Price.
Annals, The, of the American Academy of Political and Social Science. Vol.
XXXV, No. 1, January, 1910: The New South: Cotton in southern agricultural economy,
by Harvie Jordan. — The negro and agricultural development, by Alfred Holt Stone.
— Financing the cotton crop, by Henry S. Reed. — The sugar cane industry, by
George T. Surface. — Agricultural revolution a necessity, by Clarence H. Poe. — New
farm crops for the South, by S. M. Tracy. — Forest resources and conservation, by
John H. Finney. — The power resources of the South, by Frank S. Wasburn. —
Southern railroads and industrial development, by W. W. Finley. — Good roads move-
ment in the South, by Joseph Hyde Pratt. — The negro’s part in southern develop-
ment, by Booker T. Washington. — Effects of industrialism upon political and social
ideas, by Holland Thompson. — Labor supply and labor problems, by Enoch Marvin
Banks. — Child labor in the South, by A. J. Mc Kelway. — Economic needs of the
South, by William H. Glasson. — etc.
Journal, The Quarterly, of Economies. Vol. XXIV, No. 1, November, 1909:
The tariff debate of 1909 and the new tariff act, by F. W. Taussig. — American shoe-
makers, 1648—1895, by J. R. Commons. — Insurance of bank deposits in the West,
I, Oklahoma, by Thornton Cooke. — Technical development in cotton manufacturing
since 1860, by Melvin T. Copeland. — The measurement of concentration of wealth,
by G. P Watkins and Warren M. Persons. — ete.
Journal, The, of Political Economy. (The University of Chicago Press.) Vol. 18,
1910, No. 1: The tariff of 1909, II, by H. Parker Willis. — Tabacco pools of Kentucky
and Tennessee, by Anna Youngman. — The world’s production of gold and silver from
1493 to 1905, by J. D. Magee. — etc.
Magazine, The Bankers. 64% year, January 1910: Fundamentals of banking
Die periodische Presse Deutschlands. 429
and currency reform. — British economic and political conditions: a retrospect and a
forecast, by W. R. Lawson. — The United States Treasury, by William Henry Smith.
— etc,
Publications, Quarterly, of the American Statistical Association. New Series,
No. 88, December, 1909: Industrial accidents and industrial diseases, by Frederick
L. Hoffman. — Proceedings of the quarterly meeting of the A. St. A., Washington,
September 21, 1909: Census methods, by E. Dana Durand. — A statistical pilgrimage,
by Cressy L. Wilbur. — A study of New England mortality, by Harry A. Richards.
— ete.
Die periodische Presse Deutschlands.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft. Jahrg. 43, 1910, Nr. 1: Die militärische Verpflegungswirtschaft im Frieden,
von (Hauptmann z. D.) Fritz Roeder. — Ein hamburgisches Verantwortlichkeitsgesetz,
von Max Westphal. — Die Kinematographenzensur, von (Gerichtsassessor) Albert Hell-
wig. — Staat- und Werkführerschulwesen in Bayern, von Roman Hieber. — Wirt-
schaftliche und rechtliche Fragen des Reichshypothekenbankgesetzes, von (Geh. Reg.-R.)
Seidel. — etc.
Arbeiterfreund, Der. Jahrg. XLVII, 1909, Vierteljahrsheft 4: „Am Born der
Gemeinnützigkeit‘, besprochen von (Prof) A. Emminghaus. — Die Lebenskosten im
deutschen Volkshaushalt, von Erdmann Graack. — Die Lehre vom Arbeitslohn und von
den Entlöhnungsmethoden, mit besonderer Beziehung auf die deutsche Eisen- und
Maschinenindustrie, von (Prof.) Viktor Böhmert. — Karl Hilty, von (Prof.) Viktor Böh-
mert. — Der 50-jährige Betrieb der großen sächsischen Textilfabrik der Firma C. A.
Preibisch in Reichenau, von (Prof.) Viktor Böhmert. — etc.
Archiv für Rassen- und Gesellschafte Biologie, Jahrg. 6, Heft 6, Nov. u. Dez.
1909: Der Einfluß der Mikroben auf die Entstehung der Menschenrassen, von Otto Jack-
mann. — Der Rückgang der Stilltätigkeit der Frauen und seine Ursachen auf Grund
der neuesten amtlichen Statistik, von Walter Claassen. — etc.
Archiv für Bürgerliches Recht. Bd. 34, 1910, Heft 2: Noch einmal die schwarzen
Listen des Zechenverbandes, von (Prof.) Paul Oertmann. — Ein Rechtssystem der Arbeit,
von (Rechtsanwalt) Hugo Sinzheimer. — etc.
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie. Bd. III, Heft 2, Januar 1910:
Zur Genealogie des Entwicklungsbegriffs der Sozial- und Rechtsphilosophie, II, von
Rudolf Wassermann. — Die Nationalökonomie und die philosophischen Systeme im
antiken Griechenland seit Aristoteles, II, von Wladislaw Francowie Zaleskiy. — Der
Maßstab der Personalwirtschaft (Der ökonomische Wert), von Franz Oppenheimer. — etc.
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. 30, Heft 1, Januar-Heft
1910: Karl Marx und Michael Bakunin, von Eduard Bernstein. — Die Soziallehren der
christlichen Kirchen. III. Hauptteil: Der Protestantismus, II, von (Prof.) Ernst Troeltsch.
— Haushaltungs-Budgets Petersburger Arbeiter, von Sergej Prokopowitsch. — Zur Lage
der Kontorlehrlinge in Baden, von Fritz Heinze. — Kritische Literatur-Uebersichten:
Ueber den internationalen Syndikalismus, von Christian Corn&lissen. — Antikritisches
zum „Geist“ des Kapitalismus, von Max Weber. — etc.
Archiv für Volkswohlfahrt. Jahrg. 3, Heft 4, Januar 1910: Schule und Biblio-
thek, von (Prof.) A. Wolfstieg. — Staatsbürgerliche Erziehung und soziale Frauenarbeit,
von Margarete Treuge. — Arbeiterbildung und Bergwerks-Katastrophen, von Ernst
Schultze (Großborstel). — Zur Chronik der Volkswohlfahrtspflege im Jahre 1908, von
Oscar Neve. (Forts.) — etc.
Bank, Die. 1910, Heft 2, Februar: Bankier und Aktienbank, von Alfred Lans-
burgh. — Zur Frage der Schiffahrts-Subventionen, von Ludwig Eschwege. — Der
extreme Kapitalismus, II, von A. L. — Die Ursachen der Geldverteuerung im Herbst
1909 (Schluß), von Eugen Kaufmann. — etc.
Blätter, Kommunalpolitische. Herausgeg. von einem Ausschuß rheinischer Stadt-
verordneten. Jahrg. 1, Nr. 1, Januar 1910: Eine Grundfrage der Kommunalpolitik,
von (Justiz-R.) Karl Trimborn. — Kommunale Steuerpolitik, von (Prof.) Martin Spahn.
— Kommunalpolitik und Arbeiterstand, von (Prof.) Hitze. — ete.
Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Jahrg. 5,
430 Die periodische Presse Deutschlands.
No. 7, Januar 1910: Neue Tendenzen in der Sozialpolitik. Vortrag, gehalten von
(Prof.) von Wiese und Kaiserswaldau. — etc.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. IX, 1910, Nr. 1: Soziale Fürsorge durch
Errichtung von Wanderarbeitsstätten, von G. Schmich. — Handelshochschulen, die es
sein sollen und die es sind, von Rudolf Heydner. — ete. — Nr. 2: Pritvatwirtschafts-
lehre oder Betriebswissenschaft? Von Rud. Dietrich. — Die Verwertung statistischen
Materials, von H. Potthoff. — Der wissenschaftliche Sozialismus im Lichte der neueren
Literatur, von Louis Leopold. — etc.
Export. Jahrg. 32, 1910, Nr. 3: Der neue französische Zolltarif. — Der aus-
wärtige Handel Rumäniens und die Bewegung in den rumänischen Häfen 1906. — etc.
— Nr. 4: Chinesisches Roheisen in Amerika. — Der auswärtige Handel Rumäniens
und die Bewegung in den rumänischen Häfen 1906. (Forts.) — ete. — Nr. 5: Die
russischen Finanzen als Problem der internationalen Politik. — ete. — Nr. 6: Wirt-
schaftliche Momente der ungarischen Krise. — ete. — Nr. 7: Die wirtschaftliche Be-
deutung der englischen Wahlen für uns. — etc.
Finanz-Archiv. Jahrg. 27, 1910, Bd. 1: Vermögenssteuer und Landwirtschaft
mit besonderer Berücksichtigung der württembergischen Verhältnisse, von (Ministerial-
direktor) Pistorius. — Ein Beitrag zur Lehre von den Verkehrssteuern (Umsatzsteuern),
von Robert Meyer. — Die Staatsschuldbücher und ihre Benutzung, von Georg Schanz.
— Die Bekämpfung der Erbschaftssteuerhinterziehungen in Frankreich, von Georg Schanz.
— Der Staatshaushalt des Herzogtums Braunschweig in den Jahren 1887/1906, von
(Finanzpräsident) F. W. R. Zimmermann. — Das erste konstitutionelle türkische Budget,
von Gustav Herlt. — Die Reichsfinanzreform von 1909, von Fritz Schumann. — ete.
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich.
Jahrg. 34, 1910, Heft 1: Ausblicke auf die künftige preußische Wahlreform, von R. Sieg-
fried. — Zur Theorie der Sozialwissenschaften, von Otto Neurath. — Ueber das Ver-
hältnis Steins zur französischen Revolution, von Georg Küntzel. — Die neue nord-
amerikanische Stahlstadt, von Ernst Schultze-Hamburg-Großborstel. — Die Kötner-,
Häusler- und Einliegerklassen in Schweden, II, von Nils Wohlin. — Die Reform der
Budgetierung in den österreichischen Landesfinanzwirtschaften, von Paul Kompert. —
Das Problem gesetzlicher Aufnahme der Barzahlungen in Oesterreich-Ungarn, von Walther
Federn. — Die Listsche Idee einer deutsch-englischen Allianz in ihrem Ergebnis für
Deutschland, von Ludwig Sevin. — Das Persönliche im modernen Unternehmertum, von
Kurt Wiedenfeld. — Der Haushalt des kleinen Mittelstandes und der Arbeiter, von
Ernst Günther. — Die Neger und die europäische Zivilisation, von Karl Rathgen. —
Einiges zur Statistik der landschaftlichen Pfandbriefe, von Bernhard Brockhage. — Das
Hamburger Volkseinkommen im Jahre 1907, von R. E May. — Zur Psychologie des
englischen Geistes, von Ernst Bernhard. — etc.
Jahrbücher, Landwirtschaftliche. Bd. XXXIX, 1910, Heft 2: Der landwirt-
schaftliche Arbeitsvertrag nach bürgerlichem und nach Gesinderecht, von W. Asmis.
— ete. — Ergänzungsbd. I: Statistische Nachweisungen aus dem Gebiete der landwirt-
schaftlichen Verwaltung von Preußen. Bearb. im Königlich Preußischen Ministerium
für Landwirtschaft, Domänen und Forsten. Jahrg. 1908.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 139, Heft II, Februar 1910: Der Arbeitsnach-
weis des Zechenverbandes im Ruhrkohlenrevier, von (Prof.) C. Franke. — Zur elsässischen
Kulturfrage, von (Lic.) W. Kapp. — Die Geistesfesseln des modernen Rußlands, von
Karl Noetzel. — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. 29, 1910, Nr. 4: Kaligesetz, von O. Baller-
stedt. — ete. —Nr. 5, 6: Deutschlands Außenhandel im Jahre 1909, I, I. — etc. —
Nr. 7: Das Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von
O. Ballerstedt. — Deutschlands Außenhandel im Jahre 1909. (Forts.) — ete. — Nr. 8:
Die Entwicklung der Eisenindustrie in Deutschland, von (Prof.) Mathesius. — etc.
Kartell-Rundschau. Jahrg. 8, Heft 1, Januar 1910: Ueber die Einkommen-
steuerpflicht der als Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung
organisierten Kartellgeschäftsstellen nach dem Preuß. Einkommensteuergesetz vom 24. Juni
1891/19. Juni 1906, von Silberberg. — Der amerikanische Zuckertrust, von F. E. Junge.
— Die Zwangskartellierung der Kaliindustrie, von Ernst Schmid. — ete. — Heft 2,
Februar 1910: Die Besteuerung von Kartellen in Preußen, von Leo Vossen. — Die
deutsche Braunkohlenindustrie und ihre Kartellorganisation, von R. Dohm. — Eine Bank
für Kartelle, von Ludwig Silberberg. — ete.
Kultur, Soziale. Jahrg. 30, Februar 1910: Klassenwert und Kastengeist, von
Die periodische Presse Deutschlands. 431
M. R. — Der Deutsche Bauernbund, von H. Mankowski. — Ludwig Freiherr v. Vincke,
von Franz Schmidt. — etc.
Medizin, Soziale, und Hygiene. Bd. V, 1910, Nr. 1: Sport oder körperliche
Arbeit, von Grass. — Zur Frage der Regelung des gemeinärztlichen Dienstes, von
(Stadt-R.) Hans Samter. — Dazu ein Schlußwort, von Wilhelm Feilchenfeld. — ete. —
Nr. 2: Die Nickelkrätze, von (Gewerbe-R.) Klocke. — Grundzüge für die Tuberkulose-
fürsorge der Vaterländischen Frauenvereine der Provinz Ostpreußen, von (Kreisarzt)
Romeick. — Das erste Dezennium der schweizerischen Aerztekrankenkassen, von M.
Haeberlin. — etc.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins.. 1910, Nr. 2: Eingabe des Handels-
vertragsvereins an den Reichstag betr. den Handelsvertrag mit Portugal. — Eine ge-
meinsame europäische Aktion gegen die Vereinigten Staaten? — Die englische Baum-
wollindustrie und die Tarifreform, von Fr. Glaser. — ete. — Nr. 3: Die neue Verein-
barung mit den Vereinigten Staaten. — ete.
Monatshefte, Sozialistische. 1910, Heft 2: Das Königtum und die Wahl-
reformation, von Karl Leuthner. — Arbeitslosigkeit, Gewerkschaftswesen und Freihandel,
von Etienne Buisson. — Das Problem der Strafzumessung, von Otto Lang. — etc. —
Heft 3: Die Wahlrechtsvorlage der preußischen Regierung, von Leo Arons. — Die ge-
setzliche Regelung der Tarifverträge, von Karl Severing. — Freihandel in der Land-
wirtschaft, von Arthur Schulz. — Der Gemeindesozialismus, von Edmund Fischer. — ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. 28, 1910, No. 1412: Wirtschaftliche Folgen
der englischen Parlamentswahlen. — Der preußische Staatshaushalts-Etat für 1910. —
ete. — No. 1413: Die Hypothekenbewegung in Preußen und der ländliche Grundbesitz.
— ete. — No. 1414: Eine neue Depressionstheorie. — ete. — No. 1415: Das Gesamtnetz der
deutschen Handelsverträge. — ete. — No. 1416: Die „Profitsucht“ des Kapitals. — etc.
Plutus. Jahr 7, 1910, Heft 4: Mannesmann. — ete. — Heft 5: Voigtländer,
von Bruno Buchwald. — Bucket shop und Prämiengeschäfte, von (Rechtsanwalt) Arthur
Nussbaum. — ete. — Heft 6: Richtige Buchführung (Forts.), von Hans Günther. —
ete. — Heft 7: Das neue Kaligesetz, von Bruno Buchwald. -— ete. — Heft 8: Richtige
Buchführung, von Hans Günther. — ete.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 15, Nr. 1, Januar 1910
> Generalklausel des neuen Wettbewerbgesetzes, von (Oberlandesgerichtsr.) Adolf
. — etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 35, Februar 1910: Die Wohnungsfrage, ein Kultur-
problem, von Graf v. Posadowsky. — Die Verzinsung des Rüstungsaufwandes. — Die
Idee des ewigen Friedens und die Friedensbewegung von (Prof.) v. Stengel. — Das
Lebenswerk König Leopolds II, von (Oberst z. D.) August Boshart. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VIII, No. 11, Februar 1910: Die alten
Völker Nord- und Osteuropas und die Anfänge der europäischen Metallurgie, II, von
Karl Penka. — Der Typus des Genies des 14.—17. Jahrhunderts, II, von Otto Hauser.
— Die natürliche Grundlage der sozialen Ethik, von Ludwig Müller. — ete.
Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. 10, 1910, Quartalsheft 1: Kollektive
Arbeitsverträge im Steinkohlenbergbau der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika und
Deutschlands, von Franz K. Thomas. — Die Lebenskraft deutscher Städte, von Hans
Rost. — Die Gestaltung der Ausgaben in deutschen Arbeiter- und Beamtenfamilien, von
Arnold. — Schiffahrtsabgaben, von Adam Brogsitter. — Aus der Gartenstadtbewegung,
von Fuchs. — Zur Einführung des Unterstützungswohnsitzgesetzes in Elsaß-Lothringen,
von J. Weydmann. — etc.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 5, Februar 1910: Die Bedeutung des
Professoren-Austausches, von (Prof.) Benj. Ide Wheeler. — etc.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1910, Heft 2, Februar: Deutschland und die
Kongoreformen. — Französisch -Guinea und Kamerun, von Külz. (Forts) — Der
Markt der Kolonial-Werte, von Otto Jöhlinger. — ete.
Rundschau, Masius. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XXII, 1910, Heft 1 u. 2: Reichsversicherungs-Ordnung und Jugendfürsorge.
Vortrag, von (Prof.) Alfred Manes. — Der versicherungswissenschaftliche Unterricht an
den deutschen Handelshochschulen. — Die Hagelversicherung des XVIII. Jahrhunderts
in Deutschland. — etc.
Sozial-Technik. Jahrg. IX, 1910, Heft 3: Wichtige Fragen der Unfallverhütung
(Schluß), von Konr. Hartmann. — ete. — Heft 4: Die Bedeutung der Alkoholfrage
für die Arbeiter, von (Gewerbeinspektor) A. Bender. — Wichtige Fragen der Unfall-
432 Die periodische Presse Deutschlands.
verhütung (Nachtrag), von (Prof.) C. Hartmann. — Entwendung technischer und Be-
triebsgeheimnisse, von Th. Wolff. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. 6, 1910, Nr. 2: Die deutsch-ameri-
kanischen Handelsbeziehungen, von Franz Erich Junge. — Deutschlands wirtschaftliche
Interessen in Marokko, von Benndorff. — Ein sonderbares Kartellgesetz, II, von (M. d. R.)
Georg Gothein. — Die Forschritte der Technik im Jahre 1909, von J. Kollmann. —
etc. — Nr. 3: Gewerbsmäßige und gemeinnützige Arbeitsvermittlung, von (Prof.)
v. Wittschewsky. — Zu dem neuen Kaligesetz, von (Bergassessor) Leopold. — Zur Re-
form der wirtschaftlichen Interessenvertretung, von Alfred Kubatz. — etc. — Nr. 4:
Zur Kritik der Reichsversicherungsordnung. — Zu dem neuen Kaligesetz, von (Berg-
assessor) B. Leopold. — Die deutsche Sozialpolitik im Jahre 1909, von (Privatdozent)
Waldemar Zimmermann. — etc.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 17: Die Lage in Marokko, von Karl
Radek. — Wie können wir den Gefahren der ungelernten Frauenarbeit entgegenwirken?
Von Gustav Hoch. — ete. — Nr. 18: Die Bauernbewegung in Rumänien, von Christian
Rakowski. — ete. — Nr. 19: Die Firma Karl Zeiss in Jena im Lichte der Kritik, von
O. Günther (Jena). — ete. — Nr. 20: Klassenkämpfe in Ungarn, von Eugen Varga. —
Eindrücke aus den englischen Wahlen, von J. B. Askew. — ete. — Nr. 21: August
Bebel. — Die Wandlung des Tarifvertrags, eine Gefahr für die Gewerkschaften? Von
Wilhelm Kremser. — etc.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 2, Heft 11, Februar
1910: Wirtschaftliche und mathematische Begründnng der Zweikontentheorie, von (Prof.)
Joh. Friedr. Schär. — Das schwedische Bankwesen, von Sven Helander. — ete.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Herausgeg.
von der Deutschen Kolonialgesellschaft. Jahrg. XII, 1910, Heft 1: Baumwollbau in
deutschen Kolonien, von Moritz Schantz. — Die Diamantvorkommen in Deutsch-Süd-
westafrika und ihre Bedeutung für das Schutzgebiet (Schluß), von Gallus. — Zur kole-
nialen Finanzverwaltung und Finanzpolitik, von Sassen. — Landpreise im westlichen
Kanada, von Ernst Schultze (Großborstel).
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Neue Folge. Jahrg. 1, 1910, Heft 2: Politik
und Nationalökonomie, I, von L. Pohle. — Beiträge zur Theorie des Kapitalzinses, II,
von H. Oswalt. — Sklaverei und Leibeigenschaft bei Naturvölkern, II (Schluß), von
H. Berkusky. — etc.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 66, 1910, Heft 1: Wirt-
schaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik, von Gustav Cohn. — Die persönlichen Dienst-
leistungen im Rahmen der wirtschaftlichen Güter, von Paul Kirschner. — Das fran-
zösische Hypothekenbankwesen, von Fritz Schmidt. — Die rechtlichen Grundlagen der
Anleihepolitik der deutschen Städte, von Willy Berthold. — Menschenschmuggel und
gelbe Gefahr in den Vereinigten Staaten, von Ernst Schultze. — Zur Einführung der
„Steuer nach dem gemeinen Wert“ in Oldenburg, von Hugo Ephraim. — Ursprung
und Lage der Landarbeiter in Livland, I, von Alexander Tobien. — ete. — Ergänzungs-
heft 33: Bormann, Kurt, Die deutsche Zigarettenindustrie.
Zeitschrift des k. bayerischen statistischen Landesamts. Jahrg. 42, 1910, Nr. 1:
Der fideikommissarisch gebundene Grundbesitz in Bayern 1909. — Anbau, Ernte und
Ernteschäden im Jahre 1909. — Die Gemeinden des Bezirksamts Starnberg im 19. Jahr-
hundert. — Ergebnisse der Reichserbschaftssteuer in Bayern in den Rechnungsjahrer
1907 und 1908. — Die Säuglingsverhältnisse in Bayern. — ete.
Zeitschrift des K. Sächischen Statistischen Landesamtes. Jahrg. 55, 1909: Die
Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. — Hagelfälle und Blitzschläge auf
Gebäude während der Jahre 1886—1905, von E. Grohmann. — Beiträge zur Statistik
der Eheschließungen, Geburten und Sterbefälle in Dresden, Leipzig und Chemnitz in
den Jahren 1901—1905, von Georg Lommatzsch. — Die Einschätzungen zur Einkommen-
steuer und zur Ergänzungssteuer auf das Jahr 1908. — ere,
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. 30, Heft 5, 1910: Der
Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch von 1909 und die Wünsche eines
Psychiaters, von M. H. Göring. — ete.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
RR
Franz Gehrke, Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 433
V
Die Finanznot des en und Mittel
zu ihrer Hebung
von
Dr. Franz Gehrke.
Inhaltsübersicht: A. Notwendigkeit derErschließung neuerEin-
nahmequellen. I. Einleitung, Monopole. II. Beschränkung der Verstaatlichung
auf einen engen Warenkreis. B. Petroleummonopol: I. Allgemeines. II. Mög-
lichkeit des Monopols. III. Notwendigkeit des Monopols. IV. Rentabilitätsberechnung.
V. Organisation der Monopolverwaltung. VI. Die Entschädigungsfrage. C. Kali-
monopol: I. Geschichtliche Entwicklung. II. Notwendigkeit des Monopols. III. Be-
sitz- oder Handelsmonopol? IV. Rentabilitätsberechnung. V. Kaliverbrauch der ein-
zelnen Länder. D. Steinkohlenmonopol: I. Wert- und Rentabilitätsberechnung.
II. Die bisherige, ein Reichsmonopol vorbereitende Entwicklung. III. Möglichkeit und
Zweckmäßigkeit des Monopols. IV. Braunkohle. E. Zusammenfassung: l. Finan-
zielles Gesamtergebnis. II. Ein Organisationsvorschlag.
A. Notwendigkeit der Erschließung neuer Einnahmeguellen.
I
Wie im Zeitalter der allmählichen Ausprägung der Lehren des
Altmerkantilismus infolge der wesentlichen Umformung der altüber-
kommenen Staatengebilde mit schwacher Zentralgewalt zu „Terri-
torialstaaten“, nach außen abgeschlossener und selbstbewußter auf-
tretenden und auch in ihrer inneren Struktur einheitlicher gestalteten
Staatswesen, ein gegen früher erheblich gesteigerter Geldbedarf sich
fühlbar machte, so stehen wir auch jetzt wieder vor der unan-
genehmen, aber unabwendbaren Tatsache, daß die Ausgabeseite des
Budgets dauernd in einer ganz bedrohlichen Weise in die Höhe
schnellt. Diese Erscheinung ist nicht auf einzelne Nationen be-
schränkt, sondern ist ganz allgemein trotz der Verschiedenheit der
Wirtschaftsstufen und der Regierungsformen. Hatte es sich aber
früher um das Steigen solcher Ausgaben gehandelt, die in der
Hauptsache im Wechsel der Verwaltungsformen, also in inner-
staatlichen Umständen begründet lagen, so ist es jetzt in erster
Linie die Rücksichtnahme auf fremde Nationen, die die ungeheure
Steigerung veranlaßt. Das si vis pacem, para bellum hat eine
eiserne, waffenstarrende Zeit heraufbeschworen. Die Unterhaltung
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 28
434 Franz Gehrke,
und viel häufiger als früher notwendig werdende Neubewafinung der
Landheere, der Ausbau der Kriegsmarine hat den einzelnen Ländern
eine schwere Schuldenlast aufgebürdet. Besonders Deutschland muß
für seine Rüstungen enorme Ausgaben machen, liegt es doch im
Herzen Europas mit Grenzen, die nach drei Himmelsrichtungen hin
offen sind, zwischen Nachbarn, die ihre Feindschaft z. T. nur müh-
sam verhehlen.
Dazu kommt eine den Etat sehr belastende vermehrte und um-
fassendere Tätigkeit der inneren Verwaltung. Mit der Ausbildung
der Rechtspflege und des Verwaltungsdienstes hat sich das Beamten-
personal vervielfacht. Neue, weite Gebiete erschlossen sich der Tätig-
keit des Staates oder seiner Unterverbände. Die Ausgaben für Unter-
richtszwecke und für andere Kulturbedürfnisse, für Krankenhäuser,
Armenpflege, Hygiene usw. usw. — an sich ein erfreuliches Zeichen
für den kulturellen Fortschritt der Menschheit — verschlingen jähr-
lich allein in Deutschland Hunderte von Millionen. Die vorhan-
denen Einnahmequellen reichten zur Deckung der gewaltig ge-
steigerten Ansprüche nicht aus, und ein allgemeines Jagen und
Suchen nach neuen Quellen begann.
Die bisherige Entwicklung ist bekannt. Auf der einen Seite
wird das Vermögen, das Einkommen und der Konsum stärker
herangezogen (Steuern). Die zweite melkende Kuh ist der Handel
(und Erwerb), der in seinen verschiedenen Formen und bei ver-
schiedenen geeignet scheinenden Gelegenheiten gefaßt wird (Zoll-
gefälle, Verkehrsabgaben).. Manche Zölle, die früher als Schutz-
zölle zur Hebung der Inlandsindustrie erhoben wurden, sind nach
und nach vielfach zu reinen Finanzzöllen geworden; andere Finanz-
zölle sind mit Absicht als solche neu eingeführt. Der inländische
Verkehr jeder Art ist mit oft recht drückenden, vielfach auch auf
falschen Schultern ruhenden Abgaben belastet. Und trotz aller
dieser verzweifelten Anstrengungen ist es nicht möglich den Etat
zu balanzieren. Im Hintergrunde steht drohend das Gespenst des
finanziellen Bankerotts.
Auch die euphemistisch sog. Finanzreform von 1909 hat uns
der Lösung dieser brennenden Frage keinen Schritt näher gebracht.
Schon nach zwei, spätestens nach drei Jahren wird man dem Reichs-
tage abermals ein Steuernbukett präsentieren müssen. Abermals
wird dann die Lebenshaltung der Mittel- und Unterklassen der Be-
völkerung verteuert und schwieriger. Ohne neue den Verkehr
hemmende Abgaben und eine Erhöhung der Zölle auf Lebensmittel
wird es nicht abgehen. Eine fundamentale Aenderung der Steuer-
politik im Sinne stärkerer Heranziehung der besitzenden Klassen
ist bei der Zusammensetzung des Reichstags einstweilen leider
nicht zu erwarten. Im Hinblick auf die weitere starke Steigerung
der Ausgaben ist es aber dringend notwendig, kein Mittel und
keinen Weg unversucht zu lassen, um aus dieser ewigen Finanz-
misere herauszukommen und zu geordneten, weniger drückenden
Verhältnissen zurückzukehren. Als ein solches Mittel, und zwar
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 435
nach Lage der Sache als das beste, sehe ich die Errichtung einiger
ertragreicher Reichsmonopole an.
Einige der von mir gemachten Vorschläge sind schon von
anderer Seite gemacht worden. Es fehlte aber das System zu ihrer
organischen Einordnung und besten Nutzbarmachung. Die vor-
liegende Abhandlung ist ein Versuch dazu. Sie stellt die ange-
schnittenen Fragen, unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zu-
sammengefaßt, zur Debatte. Die Kritik wird jetzt nachprüfen
können, ob und inwieweit meine Folgerungen richtig sind, die
Vorschläge Beachtung verdienen und in die Praxis übergeführt
werden können. Jedenfalls ist es dringend wünschenswert, das
Flickwerk durch Material aus einem Guß zu beseitigen und neue
den freien Verkehr einengende Steuern zu vermeiden, wie auch die
eine oder andere bestehende verkehrsfeindliche Steuer auf Grund
der Erträgnisse der neuen großen Reichsmonopole aufzuheben.
Daß der Staat ein Recht hat, sich, wenn er es ausirgend einem
Grunde für angebracht hält, die Ausbeutung eines bestimmten Er-
werbsgebietes vorzubehalten, steht außer jedem Zweifel. Denn ob
man nun der Ansicht ist, der einzelne sei für den Staat da, oder
ob man den Satz umkehrt und sagt, der Staat sei für die Individuen
da — jedenfalls muß man ihm die Berechtigung zuerkennen, in
allen Sachen, die sein Budget, also überhaupt seine Existenzmög-
lichkeit, angehen, zugunsten der Allgemeinheit in den Wirkungs-
kreis kleinerer Gruppen mit souveräner Gewalt einzugreifen. Das
liegt eben in der Idee des Staates, daß er zum Wohle des Ganzen
vielleicht einzelne Teile beschneiden muß. Ein Monopol aber ist
ein solcher unter Umständen durchaus berechtigter Eingriff. Der
Staat schneidet die gefährdeten oder ihm am geeignetsten schei-
nenden Gebiete gewissermaßen aus der Privatbewirtschaftungszone,
an die er sie einstweilen ausgeliehen hatte, wieder heraus und be-
hält sich für sie das Recht des Alleinhandels, der Alleinproduktion,
der Alleinleistung vor.
In früheren Zeiten gab es weit mehr Regalien und fiskalische
Reservate als jetzt, u. a. weil die Steuerpolitik noch zu unaus-
gebildet war, um auf die Dauer genügend Erträge zu liefern. Da-
mals, besonders zur Zeit des im 17. und 18. Jahrhundert blühenden
Altmerkantilismus, war die Einwirkung des Staates auf die Be-
tätigung seiner Bürger eine weitgehendere als jetzt. Aber auch
heute liegt, um dies hier einzufügen, die Gefahr vor, daß, vielleicht
unbewußt beeinflußt durch die Wiederauflebung und Propagan-
dierung merkantilistischer Ideen, der Staat, der notgedrungen wieder
mehr in das Getriebe des Verkehrs und in die Dispositionen seiner
Angehörigen tätig eingreift und eingreifen muß, die Grenzen seines
natürlichen Wirkungsfeldes verkennt und darüber hinaus in die In-
teressensphäre der Privathaushaltungen sich eindrängt. Solche Ein-
wirkungsversuche sind naturgemäß um so zahlreicher und inten-
siver, je straffer und kräftiger der Staat selbst ist, sind aber trotz-
dem unbedingt zu verwerfen. Die Einwirkung darf sich nur auf
28*
436 Franz Gehrke,
solche Gebiete des äußeren, praktischen Wirtschafts- und Erwerbs-
lebens erstrecken, die einer Regelung nach höheren, allgemeinen
Gesichtspunkten bedürfen, und sich nicht zu einer geistigen und
geistlichen Bevormundung in rein persönlichen Sachen und von
Kunst, Wissenschaft und Religion auswachsen. Denn wie man
darin steht, geht das soziale, praktische Leben nichts an, rüttelt
nicht an dem Bestande des Staates und darf ihn deshalb nicht in-
teressieren. Eine Obrigkeit, die uns z. B. alle privaten Sorgen ab-
nähme und uns die Segnungen des Konzessionszeitalters wieder
brächte, wäre unter keinen Umständen zu wünschen.
II.
Ein Staatsmonopol kann verschiedenen Gründen seine Ent-
stehung verdanken. Es kann erstens ein mehr „staatswirtschaft-
liches“ sein. Dann ist seine Zweckbestimmung die, auf gewissen
Gebieten des Wirtschaftslebens eine den Interessen der Allgemein-
heit mehr entsprechende Regelung herbeizuführen. Die Gewinn-
absicht tritt vorläufig in den Hintergrund. Hierher gehört z. B. das
Monopol der Regierung für Post, Telephonie und Telegraphie. Auch
die Verstaatlichung der Eisenbahnen ist unter diesem Gesichtspunkte
zu betrachten. Kein Mensch, am wenigsten der preußische Finanz-
minister, dachte auch nur im entferntesten an solche Ueberschüsse,
wie sie jetzt tatsächlich erzielt werden. Damals erklärte die Denk-
schrift, man müsse schon froh sein, wenn man überhaupt ohne jähr-
liche Zubuße davonkäme.
Zweitens kann ein Monopol lediglich für fiskalische und finan-
zielle Zwecke (Tabak-, Zündhölzchenmonopole u. ä.) errichtet werden.
In diesem Falle ist es nicht ein Ausfluß sozialer oder ethischer Er-
wägungen, sondern eine Folge sehr realer Notwendigkeit, sc. Geld-
klemme. Es stellt dann nichts anderes dar als eine besondere, ver-
deckte Art der Verbrauchsbesteuerung, Verkehrssteuern oder Ver-
zollung von Auslandsgütern. Ein gewisser Prozentsatz des Wertes
wird dem Staatssäckel zugeführt; nicht in der rohen Form höheren
Zolles oder höherer Abgaben, sondern in der Art, daß in dem durch
einen höheren Zuschlag erzielten Vertriebsgewinn für den
Staat ein sicherer, im voraus berechenbarer, belangreicher finan-
zieller Nutzen liegt, der meist höher ist, als wenn der Artikel nur
mit einem oft anders als gewollt wirkenden Zollsatze belastet wird.
Die Schaffung von Monopolen schon aus diesem finanziellen
Grunde ist auch von der Wissenschaft längst als unter Umständen
notwendig anerkannt worden. Conrad sagt in seinem Grundriß der
Finanzwissenschaft, 3. Aufi., Jena 1903, auf S. 7 darüber: „Durch
die Monopolisierung eines Betriebes wird die Möglichkeit geboten,
aus demselben höhere Einnahmen leichter zu beziehen, als es durch
eine einfache Besteuerung möglich ist, und dieses wird um so mehr
der Fall sein, je mehr das Publikum auf die betreffenden Leistungen
angewiesen ist (Salzmonopol). Wo deshalb erkanntist, daß
bei den vorliegenden Verhältnissen aus einem be-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 437
stimmten Gegenstande ..... eine besonders hohe
Summe herausgezogen werden muß, weil die anderen
Einnahmequellen bereits versagen, kann der Ueber-
gangzumMonopolsichalsdaskleinere Uebel erweisen.“
In dieser Zwangslage befindet sich das Deutsche Reich.
Welche Monopole kämen nun in Frage?
Postulate sind:
1) Das Monopol muß geeignete Artikel treffen ;
2) es muß genügend ertragreich sein ;
3) es darf nicht unbillig wirken ; endlich
4) es darf nicht finanziell ausgebeutet, sondern muß auch staats-
wirtschaftlich verwaltet werden.
Nach diesen Forderungen ist der Kreis von Waren, die sich für ein
Staats-(Reichs-)Monopol eignen, nur eng. Er muß sich zunächst auf
Massenartikel beschränken, also auf Güter, die in solcher Menge
gebraucht werden, daß sich der starke Eingriff überhaupt verlohnt.
Ferner muß die Ware einnotwendiges Gebrauchs- oder Verbrauchs-
gut sein, da sonst die Gefahr vorliegt, daß der Staat nach Schaffung
des Monopols und nach Festlegung hoher Kapitalien in ihm durch
Aenderungen des Geschmacks oder Einflüsse anderer Art um den
Erfolg gebracht wird und „auf dem Trocknen“ sitzt. Sodann ist zu
fordern, daß ein Monopol nicht Waren trifft, die qualitativ zu große
Verschiedenheiten aufweisen, die also vor ihrem Verkauf eine Fabri-
kation, Veredelung oder Umarbeitung nötig machen oder deren
Beurteilung eine tiefere und umfassendere Sach- und Handels-
kenntnis erfordert, als sie dem schematisierenden Bureaubeamten zu
Gebote steht. Hierher gehört die gesamte Fabrikindustrie, hierher
gehört u. a. auch der Tabak- und Zigarrenhandel. Ein Reichs-
monopol hierfür wäre, wie das Beispiel Oesterreichs und noch mehr
dasjenige Frankreichs zeigt, von größtem Schaden. Produktion und
Handel derartiger Güter sind unbedingt der schmiegsameren und
anpassungsfähigeren Privatinitiative zu überlassen.
Speziell beim Tabak handelt es sich um eine Ware, die
individuell behandelt werden muß. Eine Reichsgesellschaft kann
dies einfach nicht, und die Folge würde sein, daß nur wenige Durch-
schnittsmarken gefertigt werden, die der Raucherwelt wenig Spiel-
raum zur Befriedigung ihrer persönlichen Neigungen lassen, daß der
Konsum infolgedessen zurückgeht und daß, wieder als logische Folge
davon, die finanziellen Erträgnisse der Verstaatlichung, um deret-
willen sie doch überhaupt nur vorgenommen wurde, den Erwar-
tungen nicht entsprechen. Dazu kommt, daß gerade die Tabak-
bearbeitung bei uns in großem Maße der Heimindustrie überlassen
und das wichtigste, oft einzige Erwerbsmittel breiter Massen des
unteren Mittelstandes ist. Die Vernichtung der finanziellen Selb-
ständigkeit Hunderttausender, die Elimination weiter Bevölkerungs-
schichten aus ihrem bisherigen Erwerbskreise ohne Schaffung eines
genügenden Ersatzes würde dem Reiche wirtschaftlich und steuerlich
schwere Nachteile bringen.
438 Franz Gehrke,
Endlich muß die Forderung aufgestellt werden, daß das Monopol
nicht nur ein Instrument sei, um den Beutel der Volksgenossen zu
erleichtern, sondern daß es so verwaltet werde, daß letztere trotz
der finanziellen Haupttriebfeder mittelbar doch einen größeren Nutzen
haben als vor Errichtung des Reichsmonopols unter der Herrschaft
stets egoistisch geleiteter Privatunternehmungen. Der moderne
Staat soll alle erreichbaren Vorteile allen seinen Bürgern gleich-
mäßig zugute kommen lassen und nicht dem einen auf Kosten des
anderen Erleichterungen verschaffen.
Gerade in dieser Beziehung ist ein wichtiger Unterschied gegen
das altmerkantilistische Zeitalter festzustellen.
Der alte Polizeistaat sucht den Produzenten zu helfen. Er
ist bestrebt, das Handwerk durch „Schließung“ der Zünfte und
Gebot von Mindestpreisen zu heben; er ist darauf bedacht, daß
jeder Gewerbetreibende seine „Nahrung“ habe. Der moderne Staat
dagegen hat seine Fürsorge geteilt. Einesteils sucht er dem Produ-
zenten in Industrie und Landwirtschaft günstige Absatz- und Pro-
duktionsbedingungen zu schaffen. Die Schutzzollpolitik der letzten
Jahrzehnte, das in Deutschland seit 1879 eingeführte Solidaritäts-
schutzsystem sind Ausflüsse dieser Bestrebungen. Anderenteils aber
sieht er sich gezwungen, einen immer größeren Teil seiner Sorge
den Konsumenten zuzuwenden, um sie vor Uebervorteilung zu
bewahren. Denn die Machtfaktoren der Güterverteilung sind andere
geworden. Neue, starke Kräfte wurden wirksam. Die wirtschaft-
liche Konzentration, der Zusammenschluß einer Vielzahl zersplitterter,
einzeln ohnmächtiger Unternehmungen zur straffen Einheit von
Riesenbetrieben hat die Macht der Unternehmer vervielfacht. Große,
der älteren Volkswirtschaft unbekannte Unternehmerverbände ent-
stehen, mehr oder weniger fest zusammengeschweißt, in den Syndi-
katen, Kartellen und Trusts. Die Macht dieser Korporationen reicht
oft über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Sie vermag, ge-
stützt auf tatsächliche Uebermacht oder gar Alleinherrschaft, den
Verbrauchern die Preise selbst in fremden Ländern einfach zu
diktieren und zugunsten einiger weniger Privatkapitalisten eine
folgenschwere Ausbeutepolitik zu treiben. Oder aber sie befolgt,
wie z. B. das Steinkohlensyndikat, eine das Ausland begünstigende
Preis- und Verkaufspolitik, die schon aus nationalen Gründen nicht
gutgeheißen werden kann. Hier muß der Staat wachen. Er darf
nicht dulden, daß eine größere Zahl seiner Untertanen und dadurch
mittelbar er selbst durch solche Maßnahmen geschädigt wird. Er
muß eingreifen, wenn es gilt, sie vor ausländischer (Petroleum) oder
inländischer (Steinkohle) Ausbeutung zu schützen oder eine Ver-
schleuderung hochwichtiger ausschließlicher nationaler Güter, eines
wahren „Nationalschatzes“ (Kali), an das Ausland zu verhüten.
Daß das Reich die Wahrung der nationalen Interessen nach
innen (Verkaufspreis) und außen (Handelspolitik gegenüber den
kohlen- und kaliarmen Nachbarländern) mit einer erfreulichen Stär-
kung seiner Finanzen gerade bei einem Kohlen- und Kalimonopol
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 439
so ausgezeichnet verbinden kann, ist ein Grund mehr, diese bald
einzuführen.
Ueber die Berechtigung des Staates, die mineralischen Boden-
schätze dem Verfügungsrecht des Grundeigentümers zu entziehen
und ihre Ausbeutung sich selbst vorzubehalten, resp. sie Privaten
gegen bestimmte Abgaben zu überlassen, soll hier nicht gestritten
werden. Auch darüber nicht, ob da, wo Bergbaufreiheit herrscht,
der Grundeigentümer über den lokalen Umfang seines Eigentums
oder ob ein vom Staate konzessionierter Privatunternehmer über den
Umfang seiner Mutung hinaus sich überhaupt Eingriffe in Nach-
bargerechtsame erlauben darf, wenngleich sie vielleicht unbeab-
sichtigt sind. Ich denke hier z. B. an Erdölquellen. Meist ist
dieses in Höhlungen, Spalten oder tropfenweise im Erdreich (poröse
Sandsteinschichten) enthalten, und, an einer tieferen Stelle abgezapft
und gehoben, sickert es von weither dem durch die Bohrlochförderung
geschaffenen Hohlraume wieder zu. Dadurch wird ohne Zweifel die
Gerechtsame, aus der es abströmt, entwertet. All dies ganz außer
acht gelassen — ich sage nur: hat einmal der Staat irgend jemandem
ein solehe Konzession verliehen, sie also zu seinen Gunsten aus
dem Allgemeinheitskomplex ausgeschaltet, so hat er dies getan in
der Erwartung, daß die Allgemeinheit dadurch mittelbar wieder
Vorteile, jedenfalls aber keine Nachteile haben solle. Wenn aber
Verhältnisse eintreten, die bei der ursprünglichen Beleihung nicht
vorausgesehen werden konnten, wenn diese Beleihung für die All-
gemeinheit schädliche Folgen gehabt hat, so kann und muß
die Gesetzgebung den früheren Fehler wieder gut machen.
Wenn wir den Handelsverkehr unter den eben berührten Ge-
sichtspunkten betrachten, so schmilzt die unendliche Mannigfaltigkeit
der Waren zu nur wenigen zusammen, die für ein Staatsmonopol
geeignet erscheinen. Es sind dies Petroleum, Steinkohle
und Kali.
Natürlich setzt man in interessierten Kreisen der Errichtung
von Monopolen den lebhaftesten Widerstand entgegen. Die Gründe,
die man dagegen ins Feld führt, sind fast stets die gleichen: einer
freien Industrie dürfe keinerlei Hemmschuh angelegt werden, die
leitenden Persönlichkeiten würden sich unter staatlichem Zwang
nicht wohl fühlen und ihre Kräfte nicht frei entfalten (können); der
Fiskus sei viel zu schwerfällig für den Handel; die Beseitigung der
Konkurrenz führe erfahrungsgemäß zur Erschlaffung und zum
Schlendrian (bei privaten Unternehmungen nicht?). Mir scheint,
daß all diese Gründe nicht stichhaltig sind. Die glänzende Entwick-
lung der Eisenbahnen, deren stolze Betriebsziffern und Ueberschüsse
sich weit über die der Privatbahnsysteme sämtlicher Länder er-
heben, die guten Gewinn lassende Beteiligung einiger deutscher
Staaten an der Kaliindustrie, der große Anteil Preußens an der
Steinkohlenförderung scheinen mir — die eingehendere Widerlegung
siehe bei den einzelnen Kapiteln — diese Behauptungen zu ent-
kräften. Und über dem Widerstreit dieser Meinungen steht noch
440 Franz Gehrke,
das Allgemeininteresse! Der Geschäftsführung des Kalisyndikates,
in dem allerdings die Leitung zum Teil schon jetzt in den Händen
des Fiskus ruht, ist zwar kaum ein Vorwurf zu machen. Aber man
denke an den Petroleumtrust und an die Preispolitik des Steinkohlen-
syndikates, um zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß dort eine
Aenderung dringend notwendig, die Uebernahme der Betriebe in
Reichsregie wirklich das kleinere Uebel ist!
Im folgenden soll nun versucht werden, Berechnungen des un-
gefähren Ertrages dieser Monopole zu geben.
B. Petroleummonopol.
L
Der Gedanke, das Petroleum stärker zu belasten, dadurch die
Finanzkalamität des Reiches zu vermindern und gleichzeitig das
große Deutsche Reich von einer entwürdigenden Abhängigkeit von
einer privaten ausländischen Kapitalistengruppe zu befreien und vor
ihren teils wirklichen, teils vermeintlichen Uebergriffen zu schützen,
ist schon wiederholt, speziell bei Beratung und Besprechung der
letzten Steuerreform, aufgetaucht.
Der eine, nur die Besserung der Reichsfinanzen ins Auge
fassende Vorschlag geht dahin, das Leuchtöl einfach einer in-
ländischen Verbrauchsabgabe oder einem höheren Einfuhrzolll zu
unterwerfen. Von der Verwirklichung eines solchen Planes ist aber
dringend abzuraten. Die neue Abgabe würde nicht von denen ge-
tragen werden, denen sie zugedacht ist, nämlich den Produzenten
und Importeuren, sondern die großen Importgesellschaften würden
sie kraft ihrer durch eine lokal begrenzte Produktionsmöglichkeit
geschaffenen und durch großzügige Preis- und Absatzabmachungen
unterstützte Machtstellung ohne weiteres auf die Verbraucher ab-
wälzen. Damit fällt der Vorschlag aber in sich zusammen. Eine
gerade dem kleinen Mann unentbehrliche Ware darf man nicht noch
verteuern, und außerdem hätte das Reich einen indirekten Schaden
dadurch, daß der Zollertrag zurückgehen würde, weil infolge Ver-
teuerung des Petroleums andere Beleuchtungsstoffe (Gas z. B.)
konkurrenzfähiger werden und die Einfuhr von Petroleum infolge-
dessen zurückgehen würde.
Eine andere Meinung geht dahin, den Verschleiß des Leucht-
öles ausschließlich dem Reiche vorzubehalten. Ins einzelne gehende,
auf Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse beruhende Vorschläge
sind meines Wissens noch nicht gemacht worden. Man hat sich
damit begnügt, die Möglichkeit oder Notwendigkeit der Schaffung
eines Reichsmonopols für den Petroleumhandel ganz allgemein ge-
legentlich in die Debatte zu ziehen. Es sei daher gestattet, die
Frage etwas eingehender zu behandeln.
Die Schwierigkeiten bezw. Gefahren der Verwirklichung des
Gedankens werden vielfach unterschätzt. Wichtige Interessen wirken
ihr entgegen, und deren Vertreter sind dafür bekannt, daß sie vor
keinem Mittel zur Durchsetzung ihrer Pläne zurückschrecken.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 441
Am meisten ins Gewicht fällt wohl, daß man es nicht mit einer
Vielheit von einzelnen Unternehmungen zu tun hat, in deren Reihen
man leicht Zersplitterung tragen könnte, sondern mit einigen wenigen
Riesenbetrieben, die die ganze Weltproduktion beherrschen und die
unter sich wieder zum Teil schon jetzt durch Kartellierung, sämtlich
aber durch die Gemeinsamkeit vitaler Interessen, trotz der Gegen-
sätze im einzelnen, eng verbunden sind. Schon aus Selbsterhaltungs-
trieb werden diese Gruppen noch engere Fühlung miteinander zu
gewinnen suchen.
Ein zweiter Punkt, der von Bedeutung werden kann, ist die
Art der Organisation und Leitung der zu schaffenden staatlichen
Vertriebsgesellschaft. Ohne weiteres ist anzunehmen, daß ein Staats-
betrieb in 90 von 100 Fällen einem Privatbetriebe an Beweglichkeit
und Anpassungwille und -fähigkeit an Wünsche und Bedürfnisse
des Publikums nachsteht. Gerade Petroleum aber ist ein Massen-
verbrauchsgut, das in allergrößter Dezentralisation konsumiert wird
und dessen Disponierungsstellen von Bureaukratismus und eng-
herziger Schematisierung frei sein müssen.
Der zweite Einwand ist durch eine zweckentsprechende Or-
ganisation — ich verweise auf meine späteren Ausführungen —
— verhältnismäßig leicht zu beheben. Schwerer wiegt meines Er-
achtens das erste Bedenken. Ich muß sagen, daß ich im Hinblick
darauf früher (vgl. mein Buch: „Die neuere Entwicklung des
Petroleumhandels in Deutschland“, H. Lauppsche Verlagsbuch-
handlung in Leipzig und Tübingen) selbst der Ansicht war, daß
eine Verstaatlichung des Petroleumhandels weder statthaben könne
noch dürfe. Mir drängte sich die Befürchtung auf, daß man
dem Staate die Preise diktieren und ihm, wenn er sich weigern
sollte, sie anzulegen, einfach die Bezugsquellen sperren würde.
Theoretisch wäre dies leicht durchführbar. Die Produktionsstätten
des Erdöles liegen bekanntlich hauptsächlich im Ausland. Die ge-
ringe deutsche Produktion vermag nur einen ganz minimalen Teil
des deutschen Verbrauchs zu decken: 1907 106379 tons Rohöl,
gleich ungefähr 35000 tons Leuchtöl, also noch nicht einmal
1/ Proz. des deutschen Bedarfs. Erhielten wir also keine Aus-
landszufuhren, so säßen wir bald „im Dunkeln“. Nachdem ich in-
dessen die ganze Sachlage auf das eingehendste untersucht habe,
bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß eine solche radikale
Maßregel der Auslandsproduzenten wohl ausgeschlossen und damit
die Basis zur Schaffung einer jeden Privatbetrieb ausschließenden
Reichspetroleumgesellschaft vorhanden ist.
II.
Im Jahresdurchschnitt beträgt der deutsche Verbrauch an Leucht-
petroleum fast genau 1 Mill. tons. Gesamteinfuhr: 1906 965940,
1907 944414, 1908 1016331 tons. An dieser Einfuhr waren be-
teiligt (vgl. mein oben zitiertes Buch S. 89/90 und die Statistik des
Deutschen Reiches):
442 Franz Gehrke,
Amerika 1901 mit 781399 tons, d. s. 85°/, Proz. der Leuchtölgesamteinfuhr
1902 » 752155 nm nm a 81'/, HI DI ”
1903 n 763 164 nm nm nm 78°); HI » Di
1904 » 777140 ,„ n» 80 n n DI
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Rußland 1901 HI 116 752 » non» 12°/, DI D D
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1903 » 141993 D n» (AL » DI HI
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1907 HI 72149 ,„ mm 7h » » nm
1908 Hi 47 369 H n»n» Al, mm DI DI
Oesterreich-Ungarn 1901 HI 4413 HI n» vi n Hi n
1902 ” 16 838 DI nm nm Wi nm » HI
1903 „ 35 652 » an Ain » Hi D
1904 „ 42 810 HI nm nu 4a DI Hi HI
1905 „ 50892 „ an 5h » » D
1906 „ 5973 n nn Ch n » D
1907 „ 81 905 » np» NA DI n DI
1908 » 131033 DI nm nm 12*/5 H D nm
Rumänien 1901 nm 4 247 HI nm a if » HI DI
1902 31 8 078 UI nn» 2 H) 31 HI
1903 „ 11 666 DI n» WR nm nm DI
1904 MI 7 021 » UI u D HI ”
1905 H I 904 DI pn n Hi HI n n
1906 HI 11960 D n» 1!/; HI Hi DI
1907 » 25 696 DI n» Sit D DI HI
1908 ,„ 8 750 „ nm nm Je Hi DI »
Die anderen Länder (Hinterindien) sind an der Leuchtöleinfuhr
insgesamt nur mit ungefähr 1 Proz. beteiligt, fallen also absolut
nicht ins Gewicht.
Wie aus dieser Statistik ersichtlich ist, ist die Hauptmenge des
eingeführten Leuchtpetroleums amerikanischer Provenienz, und
wiederum der Hauptteil dieser amerikanischen Einfuhr liegt in den
Händen einer einzigen Privatgesellschaft, der Standard Oil Company.
Dieselbe wäre also schon von sich aus wohl in der Lage, bei dem Ver-
such sie auszuschalten — wo ihr also der Gewinn des direkten Ver-
schleißes an die Kundschaft abgeht — bei Ablehnung eines von ihr
dem Reiche abverlangten entsprechend hohen Preises durch Sperrung
der Einfuhr eine Pression auf das Reich auszuüben, die dieses,
wenigstens in der ersten Zeit, in große Unannehmlichkeiten ver-
setzen würde. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber, wie gesagt, dafür,
daß di solche rigorose und unkluge Maßregel nicht getroffen werden
würde.
Nach The United States Geological Survey: Mineral Resources
of the United States of America betrug der Petroleumexport
Amerikas, in Gallonen ausgedrückt, an ungereinigtem Oel, Naphtha,
Brennöl und Schmieröl nach den Hauptverbrauchsländern:
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 443
Export für die Jahre (endend am 30. Juni) 1903—1906
in Gallons.
Ungereinigtes Oel 1903 1904 1905 1906
Europa
Frankreich 82 192 041 66 212 481 47 015 325 55 103 511
Deutschland 6 338 191 3 990 063 5 669 934 6 543 989
Britisches Reich 17 769 325 12 021 692 14 075 577 19 131 352
Total Europa 117 403 239 91557 224 79 358 206 94 270 179
Nord- und Südamerika 17 488 931 23 016 790 43 700 804 45 411436
Total ungereinigtes Oel 134 892 170 114 576 920 123 059 010 139 688 615
Naphtha
Europa
Frankreich 5550675 7 147 327 8 980 020 8 417 101
Deutschland 1 866 357 — 3 258 042 3 782 176
Britisches Reich 2 376 877 5942 545 11 806 289 12 888 828
Total Europa 10.089 622 13 380 996 26 705 956 27 232 694
Amerika 1958 166 2 531 682 2 180 852 3 156 651
Total Naphtha 13 139 228 16 910 121 30 816 655 32 756 694
Brennöl
Europa
Belgien 44 141 816 38 569 610 39526415 43 478 987
Frankreich 5 326 633 3 843 527 9 875 589 22 739 414
Deutschland 111 336 427 113 069 001 126 577 304 110 336 514
Niederlande 116 817 141 111 328 359 110 037 453 123 208 276
Britisches Reich 149 281 493 165 248 727 174 057 928 190 383 239
Total Europa 499 488 543 498 430 827 520 939 821 572 463 662
Nordamerika 26 122 750 27 910 344 22 667 482 21 528 028
Südamerika 43 782 466 45 598 915 50 724 250 54 934 746
Total Amerika 69 905 216 73 509 259 73 391 732 76 462 774
Asien 90 359 174 134 313 296 174 941 348 164 893 450
Total Brennöl 699 807 201 741 567 086 822 881 953 864 361 210
Schmieröl
Europa
Belgien 5 431.086 — -= 12 719017
Frankreich 8 622 352 = 19 007 626
Deutschland 11 670 529 — — 19 229 818
Niederlande 6 161 447 — — 9 485 260
Britisches Reich 34 854 074 — 46 245 278
Total Europa 72 405 029 — — 117 398 470
Andere Länder 20 913 228 — 28 712 232
Total Schmieröl 93 318 257 — 146 110 702
Fassen wir nun die Zahlen von 1906 ins Auge (spätere ge-
naue Angaben waren mir noch nicht erhältlich). Schon der
direkte Import Deutschlands an Leuchtöl stellt sich (1 Faß
= 42 Gallonen gerechnet) auf 2627060 Faß gegen 205830029 Faß
Totalverschiffung, also auf ungefähr 1 des gesamten zum Export
gelangten Quantums. Berücksichtigt man jedoch, daß sehr erheb-
liche Mengen amerikanischen Leuchtöles auf dem Umwege über
Belgien, die Niederlande und England in Deutschland eingeführt
werden, so ergibt sich nach der Reichsstatistik für 1907 eine Ge-
samteinfuhr amerikanischen Oeles, 1 Tonne zu 6,8 Faß gerechnet,
von rund 5535000 Faß, im Werte von ca. 66 Mill. M. unverzollt,
d. h. mehr als dem vierten Teil des ganzen Leuchtölexportes
444 Franz Gehrke,
Amerikas!). Deutschlands Fehlen würde also eine gewaltige Lücke
reißen, und die Vorräte, die infolgedessen von der Standard Oil
Co. aufgestapelt werden müßten, würden nicht nur die Festlegung
riesiger Kapitalien und einen enormen Zinsverlust zur Folge haben,
sondern auch den Weltmarktpreis ganz erheblich drücken und den
amerikanischen Wareneignern einen entsprechend verringerten Ge-
winn lassen.
Um welche Gewinnsummen es sich handelt, wird ersichtlich,
wenn man die Gewinnziffern der größten deutschen Tochtergesell-
schaft der Standard Oil Company, der Deutsch- Amerikanischen
Petroleumgesellschaft, ansieht. Laut der in meinem Buche auf
S. 76 gegebenen Zusammenstellung betrug ihr jährlicher Rein-
gewinn im Durchschnitt der 10 Jahre 1896—1905 über 2!/ Mill.
M., trotz ganz außerordentlich hoher Abschreibungen
(meist über 1!/, Millionen). Aehnlich lukrativ arbeiten die anderen
deutschen Tochtergesellschaften der Standard Oil Company. Die
Petroleumraffinerie vorm. Aug. Korff z. B. und die Mannheim-
Bremer-Petroleum-Aktiengesellschaft schütteten seit 1896 gleichfalls
durchschnittlich eine Dividende von 40 bezw. 30 Proz. aus. Aber
diese Summen, die in den Dividendenzahlen ihrer deutschen Gesell-
schaften erscheinen, stellen noch immer nicht den ganzen Gewinn
der Standard Oil Company — also noch weniger den der gesamten
nordamerikanischen Oelexporteure — dar, den sie aus dem deutschen
Geschäft zieht. Ein noch weit größerer Gewinn (genaue Zahlen
lassen sich mit Sicherheit nicht angeben) erscheint in den Gewinn-
zahlen des Trusts selbst. Dieser stellt den deutschen Gesellschaften
den „Grundpreis“, den sie bei ihren Verkäufen zugrunde zu legen
haben, so hoch, daß das Geschäft in den Augen der unbequemen
deutschen Kritik einen nicht gar zu hohen Prozentsatz Gewinn
zu lassen scheint. Der „Grundpreis“ seiner deutschen Gesellschaften
übersteigt jedoch den wirklichen Einstandspreis, so daß der tat-
sächliche Gewinn des Trusts am deutschen Geschäft der Ueberschuß
der in Deutschland unter verschiedenen Namen für ihn arbeitenden
Gesellschaften plus der Differenz zwischen Selbstkostenpreis und
dem für Deutschland jeweils angesetzten Grundpreis ist. — Der
Trust hatte 1899 110 Mill. $ Kapital; ob es seitdem wieder erhöht
ist, ist mir nicht bekannt. Auf dieses Kapital verteilte er (S. 10/11
meines Buches) seit 1896 einmal 30 Proz., sonst stets mehr (bis
mehrmals 48 Proz.) Dividende. Da gut ein Viertel des Exports
nach Deutschland geht, zieht er demnach allein aus diesem Lande
einen Reingewinn von 40—45 Mill. M. jährlich heraus!
Es liegt also klar auf der Hand, welchen ungeheuren Schaden
die Unterbindung der Ausfuhr nach Deutschland für Amerika und
1) Hierzu kommt noch, daß nach Deutschland in der Hauptsache ein Leuchtöl
verschickt wird, welches weit minderwertiger ist als das z. B. nach England
gehende. Dies ist eine Folge der verschiedenen gesetzlichen Vorschriften über die
Höhe des „Testpunktes“ und der dadurch von vornherein eingetretenen Gewöhnung
des deutschen Verbrauchers an eine mindergut raffinierte Ware.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 445
speziell für den Oeltrust bedeuten würde. Gerade deshalb aber
werden auch die amerikanischen Produzenten nach wie vor nach
Deutschland, wenn auch an das Reich selbst, liefern, um den für
sie wichtigsten Auslandsmarkt nicht zu verlieren. Denn unter dem
Druck der Verhältnisse würde man in Deutschand der Raffınation
der außeramerikanischen Oelsorten erhöhten Eifer widmen. Jede
Verbesserung aber erhöht deren Verwendungsmöglichkeit auch für
Leuchtzwecke, und wenn die Lampenindustrie sich mit ihren Zylindern
und Brennern erst einmal darauf eingerichtet hat, so ist damit der
dauernde Verbrauch der russischen oder österreichischen Leuchtöle
eo ipso gesichert. Ist doch ein Hauptgrund, daß das amerikanische
Oel vom Publikum jetzt noch bevorzugt wird, der, daß besondere
Brenner dafür konstruiert wurden, auf denen schwere Oele (also
österreichisches und russisches z. B.) nicht gut brennen. Die Folge
ist, daß man dem Oel selbst zur Last legt, was in der Hauptsache
der Konstruktion des Brenners zuzuschreiben ist.
Ein zweiter Grund, weshalb der Trust sich eine Sperrung der
Zufuhr nach Deutschland dreimal überlegen würde, ist die Kon-
kurrenz, die ihm die Beleuchtungstechnik durch Gas, Spiritusglüh-
licht und Elektrizität macht, Eine Petroleumteuerung wäre das
Signal, mit der Beleuchtungsart zu wechseln, um derartigen Unan-
nehmlichkeiten nicht mehr zu begegnen und gleichzeitig, um auch
den „kleinen“ Haushalt den „Anforderungen der Moderne“ anzu-
passen.
Ist aber einmal Petroleum durch eine andere Leuchtquelle er-
setzt, so ist eine Wiedereinführung ausgeschlossen.
III.
Ist die Verstaatlichung des Petroleumhandels also möglich
und durchführbar, so erscheint sie darüber hinaus nach Lage der
Umstände sogar notwendig. Die Sachlage ist jetzt einfach die,
daß es einer ausländischen privaten Kapitalistengruppe gelungen ist,
sich auf dem deutschen Petroleummarkt eine beherrschende, von
Konkurrenzgesellschaften unangreifbare Stellung zu sichern, mit
anderen Worten, sich ein Privatmonopol zu schaffen !).
Das Vorhandensein eines Monopols schließt eo ipso die Gefahr
eines Mißbrauches der Macht durch die Machthaber in sich. Ganz
speziell ist dies bei dem amerikanischen Oeltrust und ihren deutschen
Vertreterinnen der Fall. Gilt es irgendwo einen noch unabhängigen
Zwischenhändler zu beseitigen oder will man irgendein Gebiet, in
1) In meinem mehrfach zitierten Buche habe ich das Vorhandensein eines Monopols
der Standard Oil Company noch vor einigen Jahren bestritten. Inzwischen haben sich
aber die Verhältnisse von Grund aus verschoben, was unter anderem in dem auffälligen
Sinken der russischen Einfuhr zum Ausdruck kommt. Da der Standard Trust auch in
Oesterreich seitdem an Boden erheblich gewonnen hat und nach verschiedenen Berichten
auch mit dem asiatischen Produzentenkonzern zu einer Aufteilung des Absatzgebietes
gekommen ist, darf, richtiger muß man ein tatsächliches Monopol des Trusts in Deutsch-
land jetzt leider als vorhanden annehmen.
446 Franz Gehrke,
dem man noch weniger eingeführt ist, den außeramerikanischen
Gesellschaften entreißen, so werden dort die Preise so lange und
so weit herabgesetzt, bis der Gegner, ermüdet und oft durch die
großen Verluste ruiniert, das Feld räumt. Die Verluste, die diese
Preiskämpfe in einigen Gebieten mit sich bringen, werden dadurch
wett gemacht, daß der Trust einfach in ruhigeren, d. h. von ihm
bereits bezwungenen Gebieten die Preise willkürlich heraufsetzt.
Dadurch hat er einen ungeheuren Vorteil vor den Außenseitern.
Da letztere ein erheblich kleineres Verkaufsgebiet besitzen, so trifft
sie eine Preisherabsetzung, der sie natürlich zu folgen gezwungen sind,
um so schwerer, einen je größeren räumlichen Umfang sie annimmt.
Dem Trust dagegen sind ganze große Reiche nur einzelne Provinzen
seines Beackerungsfeldes.. Auch in den umstrittenen Gebieten wird
der Preis natürlich sofort nach Beendigung des Kampfes wieder
entsprechend hinaufgesetzt, und der unterlegene Gegner oder das
Publikum hat die Rechnung für die früheren Kämpfe zu bezahlen.
Diese brutale Politik des Trusts ist allgemein bekannt und kann
durch Dutzende von Beispielen belegt werden. Sie hat es bewirkt,
daß esin Deutschland m. W. keinen einzigen unabhängigen Petroleum-
großhändler mehr gibt. Sie alle haben in größere oder geringere Ab-
hängigkeit zu der Standard oder einer anderen großen Import-
gesellschaft treten müssen. Nach außen hin wird selbstredend
der Schein der Selbständigkeit noch möglichst lange aufrecht er-
halten. So kann und kommt es noch sehr vielfach vor, daß der
Kaufmann X als geschworener Feind der „Amerikaner“ keinen
Tropfen Oel von diesen beziehen will, vielmehr seinem alten Liefe-
ranten Y treu bleibt, ohne zu wissen, daß dessen Geschäft schon
lange unter falscher Flagge segelt und auch nur für Rechnung der
„Amerikaner“ betrieben wird — so lange, bis die Standard den
Zeitpunkt für gekommen erachtet, aus technischen oder finanziellen
Gründen ihre Karten aufzudecken.
Eine solche privatkapitalistische Ausbeutung ist eines großen
Staates wie des Deutschen Reiches nicht würdig. Noch dazu wurzelt
sie in einer Abhängigkeit vom Auslande, die das Reich schon
um dieser Tatsache willen aus der Welt schaffen muß.
IV.
Was nun die Errichtung einer unter staatlicher Kontrolle
stehenden Petroleumgesellschaft anbelangt, so denke ich mir am
zweckmäßigsten entweder eine Institution wie die Reichsbank, d. h.
einen Betrieb, der aus Privatmitteln errichtet ist, dessen Aufsicht
dem Staate zusteht, dessen Beamte Staatsbeamte sind, dessen tech-
nische Leitung aber nach rein kaufmännischen Gesichtspunkten er-
folgt, oder aber eine auf ähnlichen Prinzipien beruhende Gesellschaft,
nur daß auch der Staat als solcher einen Teil ihrer Anteilscheine
übernimmt. Letzterer Weg scheint mir der zweckmälßigste zu sein
und auf ihn sind deshalb die nachstehenden Ausführungen zuge-
schnitten.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 447
Das Reich übernimmt von dem werbenden Kapitale der „Reichs-
petroleumgesellschaft“, wie ich sie der Einfachheit halber nennen
will, einen festen Anteil von vielleicht Ai, und stellt ihn durch die
Reichsbank oder durch die Seehandlung zur Verfügung. Die rest-
lichen °/,; werden freihändig in größeren Stücken begeben. Das
Reich übernimmt eine Zinsgarantie von 4 Proz. Uebersteigt der
Reingewinn nach Abzug der erforderlichen Unkosten, Abschreibungen
und Rückstellungen 4 Proz. des Gesamtkapitals, so erhält das Reich
vorweg den Ueberschuß bis zur Höhe von 10 Mill. M. Von dem
etwa noch verbleibenden Rest erhalten die privaten Anteilseigner
bis zu höchstens noch 2, insgesamt also höchstens 6 Proz., während
der Rest unverkürzt dem Reiche zugute kommt. Die Anteilscheine
der Privatkapitalisten stellen also sozusagen Schuldscheine mit nach
beiden Seiten hin limitierter Zinsberechtigung vor. Die Beamten
der Gesellschaft sind Reichsbeamte und pensionsberechtigt. Die
alleinige Leitung steht dem Staate zu, die Anteilseigner haben nur
beratende Stimme. Das Nähere könnte analog dem über die Reichs-
bank erlassenen Gesetze bestimmt werden, unter besonderer Berück-
sichtigung der SS 12, 21, 23, 24, 31, 40 und 41 des Bankgesetzes
vom 14. März 1875 und des $ 3 des Bankstatuts vom 21. Mai 1875.
An Kapital dürften für das Leuchtölgeschäft vorläufig 40 Mill. M.
genügen; das Kapital der weitaus größten deutschen Gesellschaft,
der Deutsch-Amerikanischen-Petroleumgesellschaft, beträgt 30 Mill. M.
Hiervon würde das Reich also nur Ap Mill. M. zu übernehmen haben.
Angenommen, das Oel würde im Durchschnitt 2 Pf. pro Liter über
Selbstkostenpreis (unter Berücksichtigung der Gehälter, der Ver-
teilungskosten, der Zinsgarantie von 4 Proz. etc.) verkauft, so ergibt
sich folgendes Bild: Die Gesamteinfuhr Deutschland beträgt rund
1 Mill. Tons gleich rund 1000000000 kg, das sind unter Berück-
sichtigung des spezifischen Gewichts ungefähr 1200 Mill. Liter,
a2 Pf. gleich 24 Mill. M. Das Reich erhält also:
1) ®/, von 1,6 Mill. M. Zinsen = 0, Mill. M.
2) vom Ueberschuß zunächst = 10,0 ,
3) Restüberschuß (14 Mill. M. JL 2 Proz.
Superdividende für H. = 25 Mill. M.
Privatkapital = !/, Mill. M.) =135 ` we
rond 24,0 Mill. M.
Diese Berechnung macht selbstverständlich keinen Anspruch auf
Genauigkeit. Es kommt mir nur darauf an zu zeigen, daß schon
bei einem leicht zu erzielenden Aufschlag von 2 Pf. für das Liter
dem Reiche ein angemessener Nutzen entstehen würde, der um so
schwerer wiegt, als er eine nicht mit Unlust, in kleinsten Beträgen
und unmerklich eingezogene Verbrauchsabgabe bedeutet. Auch die
privaten Anteilseigner würden sich gut stehen, da sie eine 6-proz.
Verzinsung bei sicheren Anlagen anderwärts nur dann erhalten
können, wenn sie ein hohes Aufgeld zahlen. Die direkten, dem
Reiche zufließenden Zollgefälle würden bei gleichbleibendem Bedarf
dieselben bleiben; es wäre vielleicht jedoch angezeigt der Erhebungs-
448 Franz Gehrke,
kosten halber den Zoll fallen zu lassen und dafür einen um den
Zollbetrag (7,50 M. per 100 kg netto) höheren Preis zu nehmen.
Die Einstandskosen pro Liter des Leuchtöls lassen sich nach
nachstehendem Generalschema leicht ausrechnen:
E wu! 3. 4. 5. 6. l; 8.
Wasser- (a) und A » | Verwalt A ag
i Landfracht (b EI £ erwaltungs- KER
e TE bis zum a Zusammen| CG 5 3 |kosten in Pf. | Fuhr- | S e
r 100 k teilungort |per 100kg! „ E „ |inkl. 4 Proz. | kosten | 2 -5 5
pe g M. CA A Verzinsung aaz
M. a | b M. Pf. | Pf. Pt. BR’ Le
(Angenommen) | ER
6 +7,50 =13,50| — 38 | — 97| 14,85 | 14,85 | 11,90 | 2 (—1 1D) 14"
Im einzelnen sei bemerkt zu:
Spalte 1: In ihr wird der Einstandswert der Ware, den sie nach
Einlagerung in den großen Grenzreservoirs besitzt, ein-
gesetzt (also z. B. Einkaufspreis in Amerika plus Kosten bis Ham-
burg plus Spesen für Einlagerung in die Lagertanks im Hamburger
Petroleumhafen; oder: Einkaufspreis loco der galizischen Gruben
plus Bahnfracht nach der deutschen Einlagerungsstation plus
dortige Einlagerungskosten).
Spalte 2: Bei Verladungen nach dem Inlande wird zweckmäßig,
soweit möglich, der Wasserweg:zu Hilfe genommen, nach Leipzig
z. B. von Hamburg bis Roßlau-Wallwitzhaven, und erst von dem
Binnenlandsumschlagplatze aus wird das Oel mit der Bahn spediert.
Spalte 5: Das amerikanische Petroleum hat ein spezifisches Ge-
wicht von ungefähr 0,800. Um also aus dem Kilopreis den Liter-
preis zu errechnen, muß man ersteren mit 0,8 multiplizieren.
Russische und rumänische Oele werden je nach ihrer spezifischen
Dichte zwischen 0,805—0,830 schwanken.
Spalte 6: Die vierprozentige Verzinsung des Aktienkapitals er-
giebt, für den Liter ausgerechnet, so wenig, daß die Zahl bei der
Einstandsberechnung füglich fehlen kann:
Jahresverbrauch rund 1 Million Tonnen gleich rund 1200 Millionen
Liter. 4 Proz. Grunddividende für ein angenommenes Gesellschafts-
kapital von 40 Mill. M. erfordern einen Betrag von M. 1600000.
Also kommt auf 1 Liter !8/,,, gleich 0,133, rund !/,. Pf.
Für die Verwaltungskosten wird man vorläufig einen Betrag
von rund 2 Pf. pro Liter einzusetzen haben, um sich keine Illusions-
rechnung zu machen. Tatsächlich jedoch wird man, da z. B. die
hohen Kosten für Reisende ganz fortfallen (die Deutsch-Ameri-
kanische Petroleumgesellschaft hat noch ungefähr 150 Reisende, die
jährliche Kosten von mindestens einer halben Million erfordern),
sicher mit 1! Pf., höchstwahrscheinlich sogar mit 1 Pf. pro Liter
rechnen dürfen.
Unter der Voraussetzung, daß eine Organisation nach meinem
unten folgenden Vorschlage durchgeführt, also ein ähnliches Filial-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 449
netz über Deutschland ausgespannt wird, wie es beispielsweise die
Reichsbank besitzt, wird man auch mit analogen Ausgaben rechnen
müssen. Die Verwaltungskosten der Reichsbank betrugen im
letzten Jahre (nach dem Verwaltungsbericht für 1908) etwas über
20 Mill. M. Wenn im vorliegenden Falle 2 Pf. pro Liter
angenommen werden, so ergibt das schon 24 Mill. M., also
20 Proz. mehr. Daß dieser Betrag aber erreicht wird, dürfte voll-
kommen ausgeschlossen sein. Nach meiner Berechnung werden für
Geschäftsunkosten allerhöchstens 5 Millionen Mark ausgegeben:
1) Oberbeamte 6—8 M. 100.000
2) ev. Tantiemen, Verwaltungsrat etc. „ 200000
3) 25 Beamte (Filialvorsteher) à höchstens M. 8000 » 200 000
4) höchstens je 20 Kontoristen in den Hauptstellen
25 X 20 X 2500 m 1250000
M. 1 750 000
5) Geschäftsunkosten, Zinsen, zur Abrundung » 3 250 000
M. 5 000 000
Den letzten Posten habe ich aus dem Grunde sehr hoch ange-
nommen, weil er gleichzeitig als Zinsreservoir für etwaige Aufnahme
von Anleihen zwecks Beschaffung von Oelanlagen verschiedenster
Art dienen soll.
Richtet man die Verwaltung in engerem Anschluß an die
herrschende bureaukratische Verfassung ein, so hat man für die
Posten 1) und 2) mit ganz erheblich geringeren Ausgaben zu rechnen.
Das Reich würde also einen weiteren Gewinn von 12 (bei 1 anstatt
der angenommenen 2 Pf. Verwaltungskosten) bis 19 (24 °/. 5 Mill.)
Mill. M. haben, wenn es nicht vorzöge, den Verkaufspreis ent-
sprechend herabzusetzen.
Spalte 7: Das Ausfahren des Oels in den größeren Städten ge-
schieht am besten durch eigenes Fuhrwerk, auf dem Lande und in
kleineren Städten durch Privatunternehmer. Der angegebene Satz
von 3/, Pf. in der Stadt und 1'!/, Pf. auf dem Lande entspricht den
tatsächlichen Verhältnissen. Für die Kalkulation braucht man den
Umstand, daß den Fuhrleuten für Fuhren nach den Dörfern des Be-
zirks !/, Pf. pro Liter mehr vergütet werden muß, nicht zu berück-
sichtigen, da in der Regel der auf dem „Lande“ d. h. in der Um-
gebung eines größeren Ortes erzielte Preis den in der Stadt selbst
erzielten um !/, Pf. pro Liter übersteigt.
Kë
Die Reichspetroleumgesellschaft könnte den von den Privat-
gesellschaften eingeschlagenen Wegen ohne weiteres folgen und
hätte dadurch die Sicherheit, keine neuen, kostspieligen Experimente
machen zu müssen. Ferner ist das Publikum an diese von den be-
stehenden Privatunternehmungen geschaffenen Einrichtungen ge-
wöhnt. Es müßte also in Berlin oder einem der Haupteinfuhrhäfen
(Hamburg) eine Zentrale errichtet werden, von der aus 20—25
Hauptvertriebskontore in den größeren Städten geleitet werden.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 29
450 Franz Gehrke,
Als Sitz solcher Hauptstellen kämen vielleicht folgende Städte in
Betracht:
Königsberg, Danzig, Stettin, Berlin, Hamburg, Bremen, Han-
nover, Düsseldorf, Köln, Mainz, Straßburg, Mannheim, Nürnberg.
München, Erfurt, Leipzig, Magdeburg, Dresden, Chemnitz, Breslau,
Kattowitz. Zu bemerken ist, daß fast sämtliche der soeben aufge-
führten Plätze schon jetzt Sitze von „Verkaufsabteilungen“ der
Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft sind.
Diesen Hauptvertriebskontoren unterstehen je nach der Größe
ihres Bezirks je 40—50 Nebenvertriebskontore, die die einzelnen
Verbrauchsstellen versorgen und das Oel teils durch eigenes, teils
durch gemietetes Fuhrwerk verteilen. Diese Nebenvertriebskontore
brauchen nur wenig und untergeordnetes Personal (in der Ein-
standsberechnung unter den je 20 Kontoristen der Hauptvertriebs-
kontore mitverrechnet, die erfahrungsgemäß allerhöchstens nur je
ca. 15 Kontoristen gebrauchen). Die Hauptarbeit und die Kontrolle
im einzelnen wird in den Hauptvertriebskontoren geleistet. Der
Zentralstelle bleibt die Oberleitung, der Einkauf, daneben aber auch
die sehr wichtige Statistik und die Preisbestimmung vorbehalten.
Zu erwähnen ist allerdings, daß die Verkaufsorganisation der
großen Privatgesellschaften bis jetzt nur bis an den Detailhandel
heran ausgebaut ist, wenngleich das Bestreben zu erkennen ist,
überall unmittelbar an die Verbraucher heranzugehen. Den Konsu-
menten direkt, also unter gänzlicher Umgehung des Detailhandels,
wird das Oel nur hier und da durch (wenigstens nach außen hin)
selbständige sog. „Kannengeschäfte“ geliefert. Der Reichspetroleum-
gesellschaft ständen nun zwei Möglichkeiten offen: entweder den
Detailhandel überhaupt zu umgehen und überall direkt an die
Verbraucher zu verkaufen, oder aber den direkten Verschleiß an
die Verbraucher ganz zu unterlassen und sich zum Ueberführen des
Oeles in die letzten Kanäle, sozusagen die Arterien, ausschließ-
lich der Vermittlung des selbständigen Detailhandels zu bedienen.
Für praktischer und vor allen Dingen volkswirtschaftlich richtiger
halte ich es, bei den Detaillisten Halt zu machen zwecks Erhaltung
eines guten Mittelstandes. Ebensogut wie das Publikum andere
Waren vom Detailhändler holt oder sie sich von ihm ins Haus
bringen läßt, kann dies auch beim Petroleum so bleiben. Der bei
freier Konkurrenz für die Einrichtung von Kannengeschäften
mit ausschlaggebende Grund, dem Konsumenten die kleine Unbe-
quemlichkeit des Holens abzunehmen und ihn dadurch zum Be-
zuge des eigenen Oeles zu ermuntern, fällt ja mit dem Ausscheiden
jeglicher Zwischenkonkurrenz fort. Durch Kannengeschäfte wird
bislang auch nur ein ganz geringer Bruchteil verschleißt, so daß von
der Wiederaufrichtung einer kleinen Unbequemlichkeit für weite
Kreise nicht geredet werden kann.
Auf Grund einer vorbeschriebenen Organisation könnte die
Reichspetroleumgesellschaft auch den Handel der anderen Petroleum-
destillate, insbesondere den mit Schmiermaterial, in zweiter Linie
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 451
den mit Benzin in die Hand nehmen. Abgesehen davon, daß die
Verwaltungskosten sich dann prozentual sehr verringern würden,
wäre eine solche Erweiterung des Wirkungskreises der Gesellschaft
auch aus anderen Gründen außerordentlich wünschenswert.
Zunächst käme sie der eigenen deutschen Industrie zugute.
Nach den „Berichten über die Ergebnisse des Betriebes der
vereinigten preußischen und hessischen Staatseisenbahnen“ beträgt
deren Verbrauch an Mineralschmieröl jährlich jetzt ungefähr
16 Mill. kg. Für die übrigen Verwaltungsbezirke waren Zahlen
nicht erhältlich. Wenn man aber vom Petroleumverbrauch
der gesamten deutschen Bahnen auf den Schmierölverbrauch
schließen darf, so ergibt sich (1903: 21,081 Tons des preußisch-
hessischen Bahnnetzes gegen 27422 Tons aller deutschen Bahnen
nach S. 100 meines Buches) ein Gesamtverbrauch von ungefähr
21000 Tons Mineralschmieröl.
Wenn bei Deckung dieses Bedarfes schon jetzt auch die deutsehe
Industrie beteiligt ist, so würde sie aus naheliegenden Gründen
durch das Monopol doch mehr berücksichtigt werden können. Giebt
doch speziell das deutsche Rohöl gemäß seiner chemischen Zusammen-
setzung einen verhältnismäßig hohen Prozentsatz von Schmieröl
ab. Die Ausbeute des zweiten Wietzer Oelhorizontes ergibt bei
der Raffination
3—4 Proz. Benzin (0,700)
28—35 „ Naphtha und Petroleum
40—77 „ Schmieröle
17 „ Rückstände
4—5 » Verlust
Da nun die Gesamtrohölproduktion Deutschlands ca. 100000 Tons
(1907: 106379 Tons) beträgt, so ergibt sich, daß die deutsche
Schmierölindustrie schon jetzt weit mehr produziert als der Gesamt-
bedarf der Eisenbahnen ist.
Wenn nun auch nicht alle Schmieröle für Eisenbahnzwecke
tauglich sind, so sind sie es doch für andere Industriezwecke, also
nicht verloren. Jedenfalls ergibt sich speziell für diesen Zweig des
Petroleumgeschäftes eine ziemliche Unabhängigkeit von ausländischen
Bezugsquellen, und dieses würde dem Monopol auch für das Leuchtöl-
geschäft den Rücken stärken.
Bei Einbeziehung aller Petroleumderivate in den Geschäfts-
bereich des Monopols würde man sich eo ipso den ausländischen
Privatgesellschaften gegenüber eine festere Stellung schaffen. Man
kann die einzelnen Destillate je nach Bedarf kaufen (ist also nicht
allein auf Amerika angewiesen, was z. B. für Benzin wichtig ist),
oder man kann Rohöl aufkaufen und raffiniert es in Deutschland.
Auf Grund der bekannten Verbrauchszahlen für die einzelnen
Destillate kann man die Rohölaufkäufe nach Maßgabe der gleich-
falls bekannten chemischen Zusammensetzungen und praktischen
Ergebnisse der einzelnen Rohölsorten einrichten. Man ist bei den
Käufen also nicht auf nur ein einziges Land angewiesen. Um das ganze
29*
452 Franz Gehrke,
Geschäft möglichst stabil zu gestalten und Fluktuationen vorzu-
beugen, gleichzeitig auch aus Gründen der Erzielung eines billigeren
Preises, sind möglichst langfristige Abschlüsse mit den einzelnen
Produktionsgesellschaften zu machen. Es kann dann für längere
Zeit ein fester, für die einzelnen Reichsgebiete natürlich verschieden
hoher, weil von der Eisenbahnfracht abhängender Verkaufspreis, der
noch angemessenen Gewinn läßt, aber immerhin noch niedriger sein
wird als der jetzige, sehr schwankende Preis, angesetzt werden.
Abgesehen von dem direkten Nutzen, den das Reich als solches
hätte, ergeben sich bei der vorgeschlagenen Regelung noch folgende
Vorteile:
Das Vermögen der Gesellschaft kann von einer feindlichen
Macht nicht mit Beschlag belegt werden; die kaufmännische Leitung
sichert dem Betrieb und Vertrieb die unbedingt notwendige Beweg-
lichkeit und Anpassung an die Wünsche des Konsums; die Klagen,
einer ausländischen privaten Kapitalistengruppe tributär zu sein,
werden aufhören, wie überhaupt die Abhängigkeit des Deutschen
Reiches von einer einzigen Auslandsmacht in einem so wichtigen
Artikel aufhört oder wenigstens sehr gemildert wird, ohne daß eine
politische Spannung dadurch eintreten kann; endlich: die für den
Staat sich ergebenden Gewinne stellen eine Steuer vor, die aber
als solche gar nicht empfunden wird, weil sie mit keiner Mehr-
belastung des Konsums verbunden ist und gewissermaßen nur eine
stillschweigend erfolgte Uebertragung bisher ins Ausland fließender
Betriebsüberschüsse auf das Reich darstellt.
Der staatliche Alleinverkauf wird am besten so eingeführt, daß
man der Leitung freie Hand läßt entweder im ganzen Reiche zu-
gleich oder nach und nach mit der Uebernahme resp. Ausschaltung
der Privatbetriebe vorzugehen.
Die Uebernahme der Anlagen der Privatgesellschaften (Tanks,
Leichter, Eisenbahnkesselwagen, Straßentankwagen, Füllbehälter etc.)
muß fakultativ sein und könnte so geschehen, daß sie höchstens zum
offiziellen Taxpreise, vielleicht gegen Gewährung von Anteilscheinen
in entsprechender Höhe, übernommen werden. Neuanschaffungen
vorzunehmen wird kaum nötig sein, da die Privatgesellschaften froh
sein werden, ihren Bestand zu angemessenen Preisen abzustoßen, da
er sonst für sie nur Alteisenwert haben würde.
yI.
Nur kurz will ich die Frage der Entschädigung berühren.
Es entspricht den ungeschriebenen Gesetzen der Billigkeit, ab-
gesehen vom geltenden formalen Recht, daß derjenige, der durch
selbständige widerrechtliche Handlungen das Vermögen eines anderen
absichtlich schädigt, diesem den erlittenen Schaden zu ersetzen hat.
Die Widerrechtlichkeit nun scheidet bei Einführung eines
Reichsmonopols von vornherein aus. Es fragt sich, ob das Reich
den durch die Monopolisierung in ihrem Erwerb Geschmälerten
nicht doch aus Billigkeitsgründen Schadensersatz, resp. Ersatz für
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 453
entgehenden Gewinn leisten muß. Hat man doch z. B. die Inhaber
von Privatposten entschädigt.
Man muß nun eine Trennung machen; auf der einen Seite steht
der Importeur, auf der anderen stehen der Zwischenhandel als Groß-
handel („Grossist“) und Kleinhandel („Detaillist“). Sie stehen einem
Monopol durchaus verschieden gegenüber. Der Detaillist führt
Petroleum nur nebenbei, weil er es haben muß; wegen seines un-
angenehmen Geruches. seiner Feuergefährlichkeit und der unaus-
bleiblichen Schmiererei verkauft er es nur notgedrungen. Sein Ge-
winn setzt sich aus dem Verkaufe des Inhalts seines ganzen, aus
Hunderten von einzelnen Artikeln bestehenden Kramladens zusammen.
Er käme für eine Entschädigung also selbst dann nicht in Frage,
wenn die Monopolverwaltung unter Ausschaltung des ganzen Handels
den Verbrauchern unmittelbar lieferte; noch viel weniger, wenn ihm
der Kleinverschleiß gelassen wird. Auch der Grossist nicht. Unab-
hängige Grossisten, die nur Petroleum vertreiben, gibt es m. W. in
Deutschland seit längerer Zeit überhaupt nicht mehr. Sie alle haben ihr
Haupt den großen Importgesellschaften beugen müssen. Die wenigen
noch halbwegs selbständigen Firmen gehen wegen der dauernden
Verluste infolge des Konkurrenzkampfes gleichfalls sicherer Auf-
lösung (wenigstens ihres Petroleumgeschäftes) entgegen. Demnach
wäre auch hier keine Entschädigung nötig. Und die Importeure
selbst? Diese werden, wie anzunehmen ist, jedenfalls exorbitante
Forderungen geltend zu machen versuchen. Nach meiner Meinung
mit Unrecht. Denn sie haben kein verbrieftes Recht, ihren
Handel noch so und so viel Jahre frei auszuüben. Jeden Augen-
blick kann der Staat ihr Gebiet für sich reservieren zugunsten
der Allgemeinheit. Direkten Schaden erleiden sie auch nicht,
denn ihre sämtlichen Anlagen sollen zu angemessenen Preisen über-
nommen werden. Bei der Bezahlung durch Anteilscheine erhalten
sie außerdem, trotz Anrechnung zum Pariwerte, höhere Zinsen, als
sie sonst bei guten Obligationen würden erhalten können.
Aehnlich liegen, um dies gleich vorwegzunehmen, die Verhält-
nisse beim Kali- und Kohlenhandel. Kalidetaillisten und -grossisten
existieren meines Wissens nicht. In der Kohlenbranche aber ist
das rigorose Vorgehen der Zechen bekannt, das in ihren Folgen
jedenfalls weittragender und für viele bis dahin selbständige Exi-
stenzen verderblicher war, als es die Schaffung eines Reichsmonopols
sein würde. Muß doch auch die Reichsmonopolverwaltung für den
Kleinverschleiß sich der privaten Verteilungsstellen be-
dienen, tritt doch also gegen den bestehenden Zustand kein Wechsel
mehr ein.
Die Entschädigungsfrage der Gruben- und Bergwerksbesitzer
muß natürlich, weil es sich dort um vorhandene, greifbare Werte
handelt, nach genauem Plan und gleichmäßig geregelt werden. Eine
Entschädigung für entgehenden Gewinn dürfte aber auch ihnen
nicht gezahlt werden, weil sie ja für das, was sie in das Monopol
einbringen, den vollen Gegenwert in bar oder in jederzeit leicht
454 Franz Gehrke,
verkäuflichen verhältnismäßig hoch verzinslichen „Anteilscheinen“
erhalten. Die Verhältnisse sind übrigens im einzelnen so ver-
schieden, daß schon deshalb an dieser Stelle nicht näher darauf
eingegangen werden kann. Nur so viel: wo ein Wille ist, da ist
auch ein Weg, und wenn die Entschädigungsfrage bei der Verstaat-
lichung der Eisenbahnen, der Privatposten usw. befriedigend gelöst
werden konnte, so kann sie es auch hier.
C. Kalimonopol.
I;
Jedes pflanzliche Wesen gebraucht zur Zellenbildung, zu seinem
Wachstum, Stoffe wie Phosphor, Kali usw., die es naturgemäß zum
größten Teil dem Boden entzieht. Werden die Pflanzen nicht von
ihrem Standorte entfernt, bleiben und verwesen sie vielmehr auf
diesem, so kehren die von ihnen aufgenommenen mineralischen
Nährstoffe zusammen mit dem aus der Luft angezogenen und ge-
bundenen, gleichfalls für die Zellenbildung unentbehrlichen Stickstoff
in den Boden zurück. Es findet also keine Kräfteentziehung,
sondern eine Kräftevermehrung statt. Im Laufe der Zeit bildet sich
so ein Humusboden, der, vom Menschen für landwirtschaftliche
Zwecke nutzbar gemacht, Jahre und Jahrzehnte hindurch tausend-
fältige Frucht trägt. Die fast märchenhaften Erträgnisse der auf
Urwaldboden angelegten Kulturen, die dem Getreideanbau dienstbar
gemachten jungfräulichen Fluren der mittleren Staaten der nörd-
lichen Union und des südlichen Kanada geben Zeugnis davon.
Wird aber die Pflanze von ihrem Standorte entfernt, kehrt also
ihre Substanz nicht in den Mutterschoß zurück, so ist es natürlich,
daß der Boden an pflanzenbildenden Säften und Kräften langsam
zwar, aber sicher, immer ärmer wird. Denn der steten Kräfteaus-
gabe steht keine Kräfteinnahme mehr gegenüber. Will man daher
die Fruchtbarkeit des Bodens erhalten, so ist es notwendig, ihm die
Nährstoffe, die man ihm entzog, auf irgendeine Art künstlich wieder
zuzuführen, d. h. man muß ihn „düngen“. Hier war es nun Justus
von Liebig, der gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts den
Nachweis erbrachte, daß für die Pflanzen neben Stickstoff und
Phosphorsäure das Kali ein unbedingt notwendiger Nährstoff ist.
Hierbei ist aber zu beachten, daß es die phosphorsauren Verbin-
dungen als Dungmittel vollständig natürlich nicht zu ersetzen
vermag. Erst seit dieser Zeit datiert die Verwendung des Kalis
auch für Düngezwecke — bis dahin war es auf den wenig steigerungs-
fähigen Absatz an industrielle Betriebe beschränkt gewesen.
Wie wichtig eine rechtzeitige Düngung ist und wie schwer sich
Versäumnisse in dieser Beziehung rächen, kann man deutlich bei
den älteren amerikanischen Getreidefeldern sehen. Die Natur gab
die Quittung für den jahrzehntelangen Raubbau, wie man die un-
rationelle Abwechslungslosigkeit im Pflanzenbau nennen muß, da-
durch, daß der Ertrag pro Anbauflächeneinheit ganz allgemein, oft
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 455
bis zur Hälfte und darüber, zurückging. Erst neuerdings hat man
es verstanden, durch zweckmäßige Kalidüngung die Erträgnisse wieder
zu steigern.
Aehnlich steht es mit solchem Boden, der aus sich allein wenig
oder gar nicht zur Hervorbringung von Pflanzen geeignet ist, weil
er, wie Sand-, Moorboden und Sumpfland, zu arm an zellenbilden-
den mineralischen Pflanzennährstoffen ist. Auch hier ist die An-
reicherung des Bodens durch Kalisalze von den besten Folgen be-
gleitet, und weite Strecken bisher fast unbenutzten Bodens — in
Deutschland nenne ich nur die sandige Mark und die nordwest- und
ostdeutschen Hochmoore, — sind durch sie intensiver Kultur er-
schlossen und wertvolle Teile des Volksvermögens geworden.
Als Düngemittel benutzte man zuerst ganz allgemein animalische
Exkremente (im Stallmist z. B. sind 5—7,5 Proz. Kali enthalten).
Aber auf die Dauer, besonders bei großen Anbauflächen, genügen
diese quantitativ bei weitem nicht. Auch die mächtigen Lager von
Vogelmist, die man an verschiedenen Stellen besonders der Süd-
halbkugel entdeckte und ausbeutete, sind größtenteils schon jetzt
erschöpft. Man mußte sich nach Ersatz umsehen und fand ihn im
Salpeter, im Thomasphosphatmehl, in der Holzasche und in den
natürlichen Kalisalzen. Aber der Chilisalpeter, die wichtigste ältere
Quelle künstlichen Düngers, wird wegen Erschöpfung der Läger
schon in 30—40 Jahren versiegen, ein Ereignis, das schon lange
vorher durch eine entsprechende Steigerung der Preise seine Schatten
vorauswerfen wird. Zwar soll auch die Sahara größere Salpeter-
lager besitzen. Wegen der erschwerten Lebenshaltung und des
Mangels jeglicher Transportwege ist aber an eine Ausbeutung dieser
Lager — selbst ihr Vorhandensein und ihre Reichhaltigkeit an-
genommen — in absehbarer Zeit nicht zu denken. Die Produktion
von Holzasche in nur einigermaßen dem Bedarf genügender Menge
verbietet sich von selbst. Auch das Thomasphosphatmehl hat eine
nur beschränkte Absatz- und Produktionsmöglichkeit, da es an die
Eisengewinnung nach dem Thomasverfahren gebunden ist. Es bleibt
also als das weitaus wichtigste Düngemittel das Kali, das denn
auch seit den Dier Jahren des vorigen Jahrhunderts in immer
steigendem Maße, insbesondere in den (Carnallit und) Kainit ge-
nannten Verbindungen, zur Verwendung gelangt. Wenn man be-
denkt, wie ungeheure landwirtschaftlich noch nicht benutzte, aber
klimatisch günstig gelegene Gebiete noch der Aufschließung harren
und bei der schnellen Bevölkerungsverdichtung notwendig über kurz
oder lang in Anbau genommen werden müssen, und ferner in
Betracht zieht, daß auch der beste Boden eine mit der Intensivität
des Betriebes steigende Düngung verlangt, so liegt auf der Hand,
daß dem Kali bei zweckmäßiger wissenschaftlicher und prak-
tischer Propaganda ein weltweites und nie versiegendes Absatzgebiet
offen steht.
Für die Förderung dieser Salze hat Deutschland ein Natur-
monopol, und sind wir bezüglich Erdöl und dessen Derivate leider
456 Franz Gehrke,
zu weitaus größtem Teil auf das Ausland angewiesen, gegen dessen
Produktion diejenige Deutschlands noch verschwindend gering
ist, so ist das Verhältnis bei dem mineralischen Düngesalz in seinen
verschiedenen Formen genau das umgekehrte: in den Kalisalzen hat
uns die Natur durch die Eigenart der geologischen und klimatischen
Bedingungen, die in Urzeiten die heutige norddeutsche Tiefebene
schufen und sie aus den Tiefen des Zechsteinmeeres heraufsteigen
ließen, ein kostbares Mineral gegeben, das ganz ausschließlich —
und noch dazu in überreicher Fülle — innerhalb der Grenzen unseres
Vaterlandes gefördert wird. Heute ist die Kaliindustrie ein Stolz
Deutschlands.
Vom Staßfurter Becken aus, wo die ersten Funde gemacht
wurden, griff die Bohrtätigkeit bald über den Egelner Sattel nach
Thüringen hinüber. Aber auch dort machte sie nicht Halt, sondern
dem Laufe der Elbe, der Aller und Weser folgend und auch nach
Mecklenburg sich ausbreitend, drang sie beständig weiter vor und
hat es zur Wahrscheinlichkeit gemacht, daß die ganze nordwest-
deutsche Tiefebene ein allerdings in verschiedener Teufe ruhendes,
überaus mächtiges zusammenhängendes Kalisalzlager in ihrem Schoße
birgt. Vorderhand scheint die Förderung im Flußgebiet der Aller
die günstigsten Aussichten zu haben, wie sich denn auch das Schwer-
gewicht der Fördertätigkeit aus dem Staßfurt-Schönebecker Revier
dorthin gezogen hat. In der Zukunft erlangen wahrscheinlich die
für den Export am günstigsten gelegenen Aufschlüsse im Unter-
wesergebiet erhöhte Bedeutung.
Länger als ein Jahrzehnt beschränkte sich der Abbau der Salze
auf die ersten, bei Staßfurt erbohrten Gewinnungsstätten. Die un-
geheure Ausdehnung der Lagerstätten konnte man damals noch
nicht ahnen. Wegen der Beschränktheit der Salzausbeute auf ein
verhältnismäßig kleines Gebiet und eine nur sehr geringe Zahl von
Werken konnte es nicht ausbleiben, daß sich von vornherein eine
ausgeprägt kartellistische Tendenz zeigte. Schon die beiden ersten
fördernden Werke, die Staßfurter Gruben des preußischen Fiskus
und die Herzoglich Anhaltischen Salzbergwerke in Leopoldhall-
Friedrichshall, richteten ihre Verkaufspolitik in stillschweigender
Uebereinkunft so ein, daß ein möglichst geringer Interessengegen-
satz zwischen ihnen bestand. Als dann immer mehr Werke die
Fördertätigkeit aufnahmen, kam es unter Führung des preußischen
Fiskus bald zu bindenden Abmachungen. 1879 wurde zwischen dem
preußischen und dem anhaltischen Fiskus und den Privatwerken
Douglashall und Neu-Staßfurt die erste Konvention dieser Art ge-
troffen, „um die Preise der zur fabrikatorischen Weiterverarbeitung
geförderten Karnallite (nur um diese handelt es sich vorläufig)
zu regeln“ (Generaldirektor Graessner auf S. 21 in seinem Bei-
trag über „Verfassung und Politik des Kalisyndikats“ im Jahres-
bericht für 1906 der Gebrüder Stern, Dortmund, über den Rheinisch-
westfälischen Kuxenmarkt.) Eine neue Konvention folgte 1883;
1884 wurde dann der erste Kainitvertrag geschlossen. Im gleichen
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 457
Jahre wurde ein Vertrag mit der Deutschen Landwirtschaftsgesell-
schaft perfekt, und von diesem Zeitpunkte an datiert der Aufschwung
der Kalisalzförderung speziell zu landwirtschaftlichen Zwecken.
Die so hergestellte Verbindung wurde unter dem Zwange der
Verhältnisse immer enger. 1888 wird das erste eigentliche Syndikat
auf 10 Jahre geschlossen, 1898 auf 3 Jahre verlängert; endlich ent-
steht im Jahre 1904 ein Syndikat m. b. H., die direkte Vorläuferin
des noch jetzt bestehenden Syndikats. In ihm schlossen sich sämt-
liche bedeutenderen Werke zu einem festen Schutz- und Trutzbündnis
zusammen. Ein solcher Zusammenschluß war durchaus notwendig,
schon der örtlichen geologischen Bedingungen halber, der Förderung
auf nur eng begrenztem Raume. Dazu kam die Gefahr der Ueber-
produktion und Preisunterbietung. Denn wenn ein Kalivorkommen
erst einmal aufgeschlossen ist, gestattet seine Mächtigkeit und die
sehr leichte Abbaumöglichkeit eine ganz erheblich größere und
schnellere, dem Bedarf weit vorauseilende Förderung, als sie bei
anderen Mineralien, selbst bei Steinkohle, möglich ist. Eine schwere
Krisis der jungen Industrie wäre die Folge gewesen und hätte auf
ganz Deutschland schädigend eingewirkt. Das ausländische Kapital
hätte leichter Gelegenheit gefunden, sich ausschlaggebenden Einfluß
zu verschaffen und nicht nur hohen Gewinn aus Deutschland heraus-
zuziehen, sondern durch seine geschäftlichen Maßnahmen die deutsche
Landwirtschaft und Industrie, der das Syndikat billigere Preise als
dem Ausland stellt, auch direkt schwer zu schädigen. Diese Vor-
stöße fremden Kapitals, die besonders hartnäckig von Amerika aus-
gingen, konnte nur ein fester Ring der Produzenten aufhalten. Zu
unserem Glücke war der Bau des Syndikats damals fest genug,
so daß es alle Angriffe zurückzuschlagen vermochte. Jetzt hat sich
dies geändert.
Die Hauptbedeutung des Syndikats beruht darin, daß für eine
bestimmte Zeit genau festgelegt wird, mit wieviel Tausendsteln jedes
Werk am Gesamtabsatz beteiligt sein soll (vgl. die betreffenden
Artikel des Syndikatsvertrages, abgedruckt in Krische, Die Ver-
wertung des Kalis in Industrie und Landwirtschaft, Halle 1908,
auf S. 100, 102ff.), und daß auch die Verkaufspreise einer Regelung
unterworfen sind. Diese Maßnahmen sind sehr segensreich, weil sie
Stabilität in die Produktion bringen. Man muß überhaupt durchaus
anerkennen, daß die Preispolitik des Kalisyndikats im Gegensatz zu
derjenigen anderer Preisvereinigungen (Steinkohle z. B.!) eine an-
gemessene und den berechtigten Forderungen des deutschen Kon-
sumenten entsprechende ist. Und doch darf die Entwicklung hier
nicht stehen bleiben. Die Privatinitiative muß mehr als bisher aus-
geschaltet werden, und staatliche Leitung muß an ihre Stelle treten.
II.
In der Erkenntnis, daß vor allen Dingen für die rapide steigende
Ausbeute nicht nur der älteren, sondern auch der in schneller Folge
förderungsfähig werdenden jüngeren Werke eine genügende Absatz-
458 Franz Gehrke,
möglichkeit vorhanden sein müsse, hat das Syndikat eine umfassende,
zielbewußte Propagandatätigkeit entfaltet. Wie die Statistik zeigt,
haben seine Bestrebungen auch Erfolg gehabt. Der Verbrauch im
In- und Auslande ist ganz enorm gestiegen. Aber trotzdem eilt
die Produktionsmöglichkeit dem Verbrauche einstweilen noch weit
voraus. Hat sich doch die Gewinnung weit über die ursprünglich
allein bekannten Lagerstätten des Staßfurt-Schönebecker Beckens
ausgedehnt und sich so ziemlich über die ganze nordwestdeutsche
Tiefebene verbreitet. Das ganze Allergebiet liefert jetzt Salze, und
neuerdings ist durch verschiedene Bohrungen das Vorhandensein der
Salzlager sogar am Unterlaufe der Weser (und Elbe) festgestellt
worden — eine unendliche Perspektive.
Das Syndikat hat die Preise bislang dadurch hochzuhalten ver-
standen, daß es seinen Werken Förderungsbeschränkungen aufer-
legt und ihnen nur die Lieferung einer vorher vertraglich genau
bestimmten Quote des Gesamtabsatzes gestattet. Aber gerade diese
einschränkende Bestimmung ist von jeher der schwache Punkt ge-
wesen, an dem der Fortbestand des Syndikats zu scheitern drohte.
Immer neue Werke nahmen die Förderung auf, die jährliche Mehr-
produktion überschritt den jährlichen Mehrbedarf, und so mußten sich
die einzelnen Werke immer geringere Anteils- und Förderungsquoten
gefallen lassen. Mehr als einmal haben Werke, denen die ihnen
zuerkannte Quote nicht genügend hoch erschien, den Vertrag ge-
kündigt. Jedesmal, wenn ein neues Werk „syndikatsreif“ geworden
ist, beginnt der alte Kampf von neuem, daß der Anwärter dem
Syndikat mit einer Beteiligungsquote beitreten will, wie er sie, von
seinem Standpunkte aus, für sich in Anspruch nehmen zu können,
wie sie ihm das Syndikat aber nicht zugestehen zu dürfen glaubt.
Die Krisen, die das Bestehen des Syndikats dadurch so häufig er-
schüttern, sind bekannt. Noch aus allerneuester Zeit datiert der
langwierige und gefährliche Aschersleben - Sollstedtsche Konflikt.
Gerade er zeigt in voller Deutlichkeit die große Gefahr, die dem
gesamten deutschen Kalibergbau droht, wenn auch nur ein einziges
größeres Werk sich Bedingungen, durch die es sich beengt glaubt.
nicht fügen will. Wie richtig erscheint die bewegliche, allerdings
in etwas sonderbarem Deutsch abgefaßte Klage (S. XVI des ausführ-
lichen Jahresberichtes des Bankhauses Hermann Schüler in Bochum
über den Rheinisch-westfälischen Kuxenmarkt im Jahre 1908): „Ist
es nicht kläglich anzusehen, daß gegenüber einer Organisation von
solch wirtschaftlicher Bedeutung wie das Kalisyndikat, dessen Absatz-
wert heute ca. 100 Mill. M. beträgt, sich der kleinste und minder-
wertigste Produzent erdreisten kann, ihm den Fehdehandschuh hin-
zuwerfen und dasselbe durch außersyndikatliche Verkäufe seinem
Willen gefügig zu machen ?*
Schon ist es ausländischem Kapital gelungen, in der deutschen
Kaliindustrie festen Fuß zu fassen: der bedeutendste Abnehmer des
Syndikats, der amerikanische Nord(dünger)trust, soll hinter Aschers-
leben stehen, der Südtrust hat sich die Kontrolle über „Einigkeit“
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 459
verschafft und sämtliche Kuxe von „Sollstedt“ befinden sich im Be-
sitze der International Agricultural Corporation. Da gerade diese
drei Werke in letzter Zeit die Störenfriede sind, liegt der Schluß
nahe, daß die amerikanischen Interessenten mit voller Absicht das
Syndikat zu sprengen suchen.
Ohne den Rückhalt, den das Syndikat an der Beteiligung des
preußischen Fiskus hat, wäre es höchstwahrscheinlich in den letzten
Stürmen schon fortgefegt. Daß es sich ohne festen Schutz der Regie-
rung, ohne (übrigens schon zur Beratung stehende) gesetzgeberische
Maßnahmen nicht lange mehr halten kann, ist sicher.
Da ist die Beobachtung zu machen, daß immer mehr Werke,
um den Stürmen einer syndikatsfreien Zeit besser standhalten zu
können, ihren Betrieb auf eine breitere Grundlage zu stellen streben.
Außer der Beteiligung der oben genannten Werke an einem Dünger-
trust wäre darauf hinzuweisen, daß sich verschiedene Werke, wie
Neu-Staßfurt. Westeregeln usw. durch Herstellung eigener elektro-
lytischer Anlagen eine gewisse Rückversicherung schufen, während
andere, wie die Alkaliwerke Sigmundshall, sich aus demselben Grunde
der Sicherung des Absatzes ihrer Produkte an selbständigen Firmen
maßgebend beteiligten.
Freilich, bisher gelang es in letzter Stunde noch stets, eine
Einigung zu erzielen, trotzdem allein im Jahre 1909 nicht weniger
als 9 neue Werke dem Syndikat beigetreten sind, dessen Mitglieder-
zahl sich dadurch auf über 50 erhöht hat. Aber schon sind weitere
12 Werke syndikatsreif. Die älteren Werke werden sich wohl oder
übel in eine weitere Quoten- und, da der Absatz mit der vermehrten
Produktion nicht gleichen Schritt zu halten vermochte, Förderungs-
reduktion finden müssen‘). Und schon droht im Hintergrunde die
weitere Aufschließung der günstig gelegenen Fundstätten im Gebiet
der unteren Aller und Weser. Wird man auch dann noch das
Syndikat, das schon jetzt nur mühsam provisorisch erneuert werden
konnte, zusammenleimen können? Das muß bezweifelt werden oder
richtiger als ausgeschlossen gelten.
Diese räumliche Erweiterung des Kalibergbaues stellt ein Ele-
ment dauernder Beunruhigung dar, das nicht ausgeschaltet werden
kann. Es ist ein Damoklesschwert, das drohend über der Industrie
hängt und dessen Herabfallen von unabsehbaren Folgen begleitet
sein würde. Ein privater Zusammenschluß einzelner Werke, und
sei er noch so fest, kann die Entwicklung nicht aufhalten, da die
Macht der Tatsachen stärker ist und jeden Widerstand hinwegfegen
kann. Etwas muß aber geschehen, und zwar bald, bevor es zu
spät ist. Und dies Etwas kann nur der Staat leisten.
Die Regierung wie die Kaliinteressenten selbst haben denn
1) Der Etat der Berg-, Hütten- und Salinenverwaltung Preußens für das Etatsjahr
1909 motiviert die zu erwartende Mindereinnahme beim Titel „Salzwerke‘“ bezeichnender-
weise wie folgt: „Durch Hinzutritt neuer Werke zum Kalisyndikat ist der Anteil der
staatlichen Kalisalzwerke an dem Gesamtabsatz geringer geworden. Infolgedessen ist
eine Mindereinnahme zu erwarten.“
460 Franz Gehrke,
auch die Notwendigkeit staatlichen Eingriffs erkannt, und der
dem Reichstage im Februar zugegangene neue Kaligesetzentwurf
sieht eine vorläufig für zwanzig Jahre in Aussicht genommene
Zwangskartellierung der Kaliindustrie vor. Der Absatz der Pro-
dukte soll unter behördlicher Aufsicht durch eine Art Vertriebs-
gemeinschaft erfolgen.
Daß eine solche Regelung nur eine halbe Maßregel ist, kann
nicht bestritten werden. Wohl kann man dadurch das weitere Ein-
dringen ausländischen Einflusses durch Aufkauf von Werken —
vielleicht! — verhindern, auch wohl die Preise in einer ange-
messenen, die Werkbesitzer wie die deutschen Konsumenten be-
friedigenden Höhe halten. Aber wie jeder Halbheit, so haften auch
dem neuen Gesetzentwurfe schwere Fehler an. Besonders ist die
Achillesferse des alten Privatsyndikates geblieben. Das ist die
Frage, was bei der zu erwartenden raschen weiteren Ausdehnung
des Kalibergbaues geschehen soll — eine Frage, die auf dem
Boden, auf den man sich jetzt zu stellen versucht, kaum zu lösen
sein wird. Es muß also ein radikaler Schnitt gemacht, ein wirk-
liches Reichsmonopol muß errichtet werden, um eine tatsächliche
Gesundung der Verhältnisse herbeizuführen. Ich komme weiter
unten noch eingehender hierauf zurück.
Ein zweites Argument für die Verstaatlichung!
Durch das schnelle industrielle Emporblühen der Vereinigten
Staaten von Nordamerika und Japans ist das Gebiet, auf dem der
deutsche Exporthandel sich betätigen kann, sehr viel beengter und
Deutschlands internationale Stellung dadurch sehr viel schwieriger
gewordeu. Vom Export nach Ost- und Südasien sind wir schon
fast ganz verdrängt; die konsequent durchgeführte Hochschutzzoll-
politik der Union emanzipiert auch dieses Land mehr und mehr von
unseren Fabrikaten. Auch auf anderen Absatzgebieten haben wir
uns unsrer Haut ernstlich zu wehren. Unsere Volksvermehrung
und der Verlust Ostasiens als Absatzfeld erheischt gebieterisch,
daß wir nicht nur die noch vorhandenen Handelsbeziehungen pflegen
und mindestens in jetziger Intensität erhalten müssen, sondern daß
wir unserer Industrie neue Gebiete erobern, wollen wir ihr und
damit dem wichtigsten Gliede unseres Staatswesens nicht selbst den
Lebensfaden abschneiden. In diesem größtenteils zollpolitisch zu
führenden Kampfe stellt unser Naturmonopol in Düngesalzen eine
wichtige Waffe dar. Ist der Kalibergbau in Privatbesitz, so hat die
Regierung bei ihren Maßnahmen häufig mit offener oder versteckter
Opposition der Interessenten zu rechnen, für die das Wohlergehen
ihres eigenen Geldbeutels natürlich die Hauptsache ist; jedenfalls
ist sie unfrei. Hat sie dagegen die ausschließliche Verfügungs-
macht, so kann sie viel schneller entschlossen auftreten und ihre
Pläne zugunsten des Staatsganzen viel energischer durchführen.
III.
Begreiflicherweise steht man in den Kreisen der größeren Pro-
duzenten einer Verstaatlichung des Kalibergbaues ablehnend gegen-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 461
über. In „Deutschlands Kalibergbau“, der Festschrift zum 10. all-
gemeinen Bergmannstage in Eisenach (Berlin 1907) schreibt Pax-
mann (IV, S. 12) kurzerhand: „Ein Reichsbesitzmonopol
wird .... aus dem Kreise der Betrachtung für absehbare Zeit aus-
zuschalten sein.“ Etwas günstiger sieht er ein staatliches Handels-
monopol an: „mit dem Handelsmonopol werden die für die Staats-
hoheit erstrebten Ziele für den Notfall zu erreichen sein, unbe-
streitbar werden sich aber damit schwerwiegende Nachteile
für die Industrie selbst verbinden.“ Paxmann war Königl.
Preußischer Oberbergrat in Halle a. S., er ist jetzt an die Leitung
des Syndikats berufen und eine bekannte Autorität im Kalibergbau.
Man darf ihn daher wohl als Vertreter der Kaliindustrie ansehen.
Sehen wir uns deshalb die Gründe, die er ins Feld führt, etwas
näher an.
Er behauptet (a. gl. O.): „Eine behördliche Kontrolle des
Absatzes, verbunden, wie es nicht anders zu denken ist, mit ein-
heitlicher Festsetzung der Verkaufspreise kann der Entwicklung
einer Industrie unmöglich förderlich sein, mag es sich dabei um
Roherzeugnisse, Halb- oder Fertigfabrikate handeln.“ Eine bis ins
einzelne durchgeführte Kontrolle über den Absatz der Salze hat
man schon jetzt. Sogar die im eigenen Betrieb verbrauchten
Mengen sind dem Syndikatsvorstande periodisch genau aufzugeben.
Warum soll gerade eine „behördliche“ Kontrolle der „Entwicklung“
hindernd im Wege stehen? Auch die Verkaufspreise sind schon
jetzt vorgeschrieben. Allerdings werden sie in der Versammlung
der Syndikatsmitglieder beraten und festgestellt. Aber — It. dem
Syndikatsvertrage müssen die Stimmen des preußischen Fiskus schon
jetzt bei gewissen Preisfestsetzungen zur Mehrheit gehören,
m. a. W., der preußische Staat übt schon jetzt ein ziemlich weit-
gehendes Bestimmungsrecht aus.
Bei einer Industrie, die für den persönlichen Geschmack der
Abnehmer arbeiten muß, wäre eine Verstaatlichung von Uebel.
Hier hat das individuelle Interesse, die Anschmiegungsfähigkeit
und -notwendigkeit die Oberhand, und dies Feld muß unter allen
Umständen der Privatbetätigung zum Beackern vorbehalten bleiben.
Aber etwas anderes ist es, wenn es sich um einen Artikel wie Kali
handelt, wo von persönlicher Bevorzugung einzelner Marken, der
Erzeugnisse bestimmter Gruben, keine Rede sein kann. Man kauft
die Kalisalze für bestimmte Zwecke nach ganz bestimmten Bezeich-
nungen und unter der Garantie, daß die Ware eine bestimmte
chemische Zusammensetzung zeigt, einen bestimmten Prozentsatz
reines Kali enthält. Eine weitere Differenzierung findet nicht statt.
Die fabrikatorische Weiterverarbeitung, die Herstellung von Er-
zeugnissen aus Kali zu anderen als Düngezwecken, greift über den
Rahmen eines Reichsmonopols hinaus; hier hat der Private freie
Fe, NUR kann den Betrieb einrichten und die Preise stellen wie
er will.
Ferner (Paxmann, a. a. O. S. 12/13): „Einem organischen Ge-
bilde, wie einer großen, ausdehnungsfähigen Industrie, heißt es Luft
462 Franz Gehrke,
und Atem benehmen, wenn man seinen Trägern die Selbständigkeit
auf dem wichtigsten Gebiete ihrer Betätigung, in der Absatz- und
Preisbestimmung, entzieht. Mag die Handhabung durch die staat-
lichen Organe auch die weitgehendst umsichtige und unbureau-
kratische sein, die zwangsweise Einschnürung eines rein geschäft-
lichen Betriebes in einen staatlichen Verwaltungskörper wird einer
wahrhaft kaufmännischen Entwicklung immer hemmend entgegen-
wirken müssen.“ Daß die Fabrikindustrie, soweit sie sich auf
die Verwendung des Kalis stützt, ausscheiden soll und muß, ist
schon oben gesagt, und die von Paxmann daran geknüpften Folge-
rungen entfallen von selbst. Was er weiter sagt, die Bevormundung
oder Beamtenstellung der leitenden Persönlichkeiten werde diese
unlustig machen, ihr Bestes herzugeben usw., ist eine Begründung,
die regelmäßig ins Feld geführt zu werden pflegt, entbehrt aber
trotzdem des inneren Haltes und ist eine Phrase. Der Beweis für
die Richtigkeit dieser Behauptung ist noch zu erbringen.
Warum soll der Staatsbeamte nicht ebenso geschäftsgewandt
sein und Direktiven zu geben verstehen wie der Privatangestellte’
Werden die fiskalischen Kohlengruben im Saargebiet und in Ober-
schlesien, ja werden die Kaligruben des preußischen und anhaltischen
Fiskus im Staßfurter Becken schlechter verwaltet und geleitet als
die in Privatbesitz befindlichen Werke? Hat nicht der Staat — ich
kann Beweise anführen — häufig so „gerissen“ und brutal egoistisch
gehandelt wie nur irgend ein Privater — z. B. bei der Aufgabe von
Kalimutungen und sofortiger Neumutung mit Umlegung des Mu-
tungsfeldes über eine Erfolg versprechende Bohrungsstelle Privater
zu deren erheblichem finanziellen Schaden? Bilden nicht die Ein-
nahmen der verstaatlichten Eisenbahnen das unentbehrliche Rück-
grat, den größten Aktivposten des preußischen Budgets im Gegen-
satz zu den Privatbahnsystemen Frankreichs usw.? Sind die Ar-
beiter beim Staat schlechter gestellt als in der Privatindustrie? Der
große vor einigen Jahren im Ruhrkohlenrevier stattgehabte Streik
ist ja noch in frischer Erinnerung! Wird die volks- und verkehrs-
wirtschaftlich eminent wichtige Reichsbank kaufmännisch schlecht
verwaltet? Und dann: „ein rein geschäftlicher Betrieb“ ist die Ver-
teilung der Produkte des Kalibergbaues keineswegs. Noch weit
mehr, als es bisher geschehen konnte, werden sie durch eine staat-
liche Verwaltung allgemeinen, wirtschaftlichen Zwecken nutzbar ge-
macht werden können. Ausgedehnte, noch ertraglose Landstrecken
unseres eigenen Vaterlandes harren noch der Erschließung und
Fruchtbarmachung. Unendlichen Segen könnte der Staat hier
schaffen, wenn er ähnlich vorgeht, wie es landwirtschaftliche Dar-
lehnskassen mit Kreditgewährung tun. Kurz, ein weites und
lohnendes Feld der Betätigung bietet sich hier — für den Staat wie
geschaffen, für den Privaten zu groß.
Nun ist die Frage: reines Handelsmonopol oder Be-
sitz — d. h. Förderungs- und Handelsmonopol? Mir
scheint das letztere vorzuziehen zu sein.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 463
Paxmann ist ja absoluter Gegner eines Besitzmonopols, während
er ein staatliches Handelsmonopol schon eher für diskutierbar hält.
Mit Recht?
Schafft sich der Staat nur ein Handelsmonopol, so stellt er sich
sozusagen zwischen zwei Feuer. Auf der einen Seite werden sich
die Produzenten kaum noch Förderungsbeschränkungen auferlegen
in der Gewißheit oder mindestens in der Hoffnung, ihre Ware an
den Staat loszuwerden. Auf der anderen Seite hat der Staat für
den Verkauf zu sorgen. Da das Angebot die Nachfrage erheblich
übersteigt, werden seine Lagerbestände bald sehr anschwellen. Selbst
wenn er von den Produzenten nur so viel abnehmen wollte, wie er
selbst gebraucht und verkaufen kann, würde dies ein schwerer Nach-
teil für die Industrie sein, da niemand weiß, wie groß der Bedarf
sein und wo der Staat ihn decken wird. Anzunehmen wäre jeden-
falls, daß er die ihm selbst gehörigen Gruben bei der Deckung des
Bedarfs mehr oder minder offen in erster Linie berücksichtigen
würde. Würde er sich zu submissionsweisem Ankaufe entschließen,
so besteht die Gefahr der Preisdrückerei. Hierbei wären auch die
älteren Werke entschieden im Vorteil, weil sie infolge großer Ab-
schreibungen auf Schachtanlagen und sonstige Betriebseinrichtungen
billiger produzieren als Unternehmungen, denen die kostspieligen
Betriebsanlagen noch hoch zu Buche stehen. Eine allgemeine Ent-
wertung, ein vollständiger Zusammenbruch der neueren Unter-
nehmungen und mancher älterer, die auch jetzt schon nur mit Mühe
ein kümmerliches Dasein, gestützt auf ihre Mitgliedschaft beim Syn-
dikat fristen, wäre die Folge.
Der Tatsache, daß im Kalibergbau schon in kurzer Zeit eine
schrankenlose Ueberproduktion droht, ist bereits mehrfach kurz Er-
wähnung getan. Auch Paxmann meint in seiner oben zitierten Ab-
handlung (S. 8): „Die Natur dieser (Kali)Vorkommen gestattet...
ein verhältnismäßig leichtes Hinwegräumen. Leichter, als es unter
sonst vergleichbaren Umständen bei der Steinkohle oder anderen
Mineralien der Fall ist. Damit ist die Möglichkeit gegeben,
daß dereinzelne Mengen zutage fördert, welche schon
einen erheblichen Teil des gesamten Bedarfs decken.
Wenn ein Sechstel oder auch nur ein Drittel der
Summe derEinzelwerke imstande ist, dieLeistungder
Gesamtheit allein zu bestreiten, dann bedeutet dies
unbestreitbar ein ungesundes Größenverhältnis der
Glieder zum ganzen Körper.“ Logischerweise muß man also
danach streben, das richtige Verhältnis herzustellen und damit das
Ganze gesunder und rentabler zu gestalten!
Auch das mächtigste und festgefügteste Syndikat ist außerstande,
die Produktionsverhältnisse in der wünschenswerten Weise zu regeln.
Weder kann es, weil immerhin, wenn auch unter besonderer Aegide
der Regierung stehend, eine Privatgesellschaft, unproduktive, den
Syndikatsmitgliedern gehörige Einzelwerke durch einseitigen Macht-
spruch stillegen, noch kann es das Entstehen neuer Werke und das
464 Franz Gehrke,
Aufkommen von Außenseitern hindern, die seinem Bestande gefähr-
lich werden können. Aber auch die bereits bestehenden Werke
können die Förderungsmöglichkeit nicht voll ausnutzen, sondern sind
zwingenden Restriktivbestimmungen unterworfen. Weil sie sich nicht
voll entfalten können, ist eine wirklich rationelle Ausbeutung un-
möglich; ein Teil ihrer Kräfte liegt brach und ist für die Volkswirt-
schaft verloren.
Anders, wenn sich der Staat das alleinige Förderungsrecht vor-
behält. Er wird nicht die unendliche Vielzahl von Unternehmungen
(Paxmann zählt deren über 600 auf), die jetzt ein mehr oder minder
frohes Dasein führen, weiter betreiben, sondern sich auf einige
wenige günstig gelegene Werke beschränken, diese aber bis zur
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausnutzen müssen. Dadurch wird
an Verwaltungskosten ganz außerordentlich gespart. Das markanteste
Beispiel kann der Standard Oil Trust geben, der, sobald er die
Macht in Händen hatte, Dutzende von Raffinerien einfach stillegte
und die ungeheuren, zur Verschiffung gelangenden Oelmengen nun-
mehr in zwei allerdings riesigen Exportraffinerien bearbeiten ließ.
— Die stillgelegten Werke, die nur vor Verfall und ganz besonders
sorgfältig vor Wassereinbruch zu schützen sind, bilden jederzeit zu-
gängliche und nach menschlichem Ermessen unversiegbare Reserven.
Eine weitere, vorerst nur wissenschaftliches Interesse besitzende
genauere Feststellung der Lage und Mächtigkeit der Salzlagerstätten
durch Bohrungen in verschiedenen Gebieten des norddeutschen Tief-
landes, besonders an der deutschen Nordseeküste, kann und muß
damit Hand in Hand gehen.
Wenn es bei der Betriebsaufnahme so vieler neuer Werke und
infolge der Ueberproduktion zum Zusammenbruch des Syndikats
kommt, wird eine allgemeine Deroute die Folge sein. Dann muß
der Staat sowieso einschneidend eingreifen. Sich dann aber nur ein
Handelsmonopol zu schaffen, wäre das Verkehrteste, was er tun
könnte. Die Werksbesitzer zwar würden wahrscheinlich mit Freuden
zufassen: Die guten Zeiten und den Gewinn haben sie hinter sich,
die neuen Sorgen werden sie auf gute Art und Weise los und bürden
sie dem Staate auf, während sie selbst die weitere Entwicklung in
Ruhe abwarten können. Das Richtige würde vielmehr ein umfassendes
Besitzmonopol sein. Aber der Staat darf es gar nicht so weit kommen
lassen, sondern muß schon vorher eingreifen, um sich selbst und
seine Bürger vor Schaden zu schützen.
Selbst wenn man die eben skizzierte mögliche Gestaltung der
Dinge als zu pessimistisch dargestellt ansieht, so sprechen doch
zwei andere Gründe für die möglichst baldige Schaffung eines Staats-
monopols.
Der erste Grund ist, daß man, je länger man mit der Ver-
staatlichung wartet, je mehr (vielleicht sogar überhaupt erst im Hin-
blick auf das zu erwartende Monopol gegründete!) Werke nutzlos
aufkaufen muß.
Der zweite Grund ist die schon erwähnte Finanzkalamität des
Reiches.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 465
IV.
Ueber die Gesamtsumme der jetzigen Beteiligung des Privat-
kapitals an der Kalisalzförderung sind authentische Nachrichten
nicht zu erhalten. Um nun eine annähernd genaue Grundlage für
meine Berechnungen zu erhalten, ging ich in der Art vor, daß ich
an Hand der Fachzeitschrift „Industrie“ (Berlin), des „Jahrbuchs
der deutschen Braunkohlen-, Steinkohlen- und Kaliindustrie* für
1909 (Halle) und einer Anzahl Kurs- und Jahresberichte von Banken
und Maklergeschäften die Zubußen der einzelnen Gewerkschaften
resp. die Nominalkapitalien (und Anleihen) der Aktiengesellschaften
zusammenstellte und den durchschnittlichen Kurswert zum Vergleich
heranzog. Als Betrag des insgesamt im Kalibergbau (ausschließlich
der chemischen Fabriken!) nutzbringend angelegten Privatkapitals
habe ich 550—575 Mill. M. gefunden.
Die größeren älteren Unternehmungen der Kaliindustrie haben
fast durchweg gute finanzielle Ergebnisse. Die deutschen Solvay-
Werke in Bernburg, die Kaliwerke in Aschersleben, Westeregeln
usw., die fiskalischen Bergwerke in Staßfurt, Schönebeck, Leopold-
hall-Friedrichshall stehen glänzend da. Andere Werke dagegen, be-
sonders Aktiengesellschaften (Heldburg z. B.) werden weit unter
Pari notiert. Im allgemeinen gleichen sich die Differenzen ziemlich
aus, und ich wage zu behaupten, daß bei den Kaliwerten die Ge-
samtsumme des in ihnen angelegten Kapitals derjenigen Summe, die
der Staat für käufliche Uebernahme zu zahlen haben würde, an-
nähernd entspricht.
Aehnlich wie für Petroleum vorgeschlagen, könnte auch der
Erwerb der Kaliwerke vor sich gehen, insofern, als den bisherigen
Inhabern derselben für den Kaufpreis Anteilspapiere mit garan-
tiertem Zinsminimum und eventuell gesetzlich festgelegtem Zins-
maximum gegeben würden. Bei der Wertfestsetzung wäre natürlich
zu berücksichtigen, ob die Zahlung des Preises in 4-proz. Obli-
gationen oder in Anteilscheinen, die nach meinem Vorschlage viel-
leicht bis zu 6 Proz. verzinslich wären, erfolg. Die Differenz
zwischen dem wirklichen Reingewinn, den die Gesamtheit der Werke
abwirft, und dem zur Verzinsung (und Amortisation) der Anteil-
scheine nötigen Betrage stellt einen reinen, dem Staatssäckel zu-
fließenden Ueberschuß dar.
Wie groß dieser sein wird, entzieht sich einstweilen einer ge-
nauen Schätzung, da die Werke eben bislang noch nicht voll aus-
genutzt werden konnten. Jedenfalls wird er sehr bedeutend sein.
Der preußische Staat bezieht aus seinen Salzwerken eine jähr-
liche Rente von 3!/,—4 Mill. M. In den Etat für 1909 ist ein Be-
trag von 3738000 M. (ausschließlich des Gewinnes aus den Ge-
meinschaftswerken) eingesetzt.
Nach der „Kaliindustrie“, a. a. O. S. 40ff. betrugen die im
anhaltischen Etat verrechneten Reinüberschüsse der beiden anhal-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 30
466 Franz Gehrke,
tischen Werke (Leopoldshall und Friedrichshall: Arbeiterzahl 1250)
in den Jahren:
1897/1898 3515355 M.
1898/1899 3868700 „
1899/1900 3539700 „
Bei der Stabilität der Preise wird man für die folgenden Jahre
mit denselben Summen rechnen dürfen.
Von Beginn der Förderung bis zum Juli 1899 hatte Anhalt
aus dem Salzbergbau einen Gewinn von 108 Mill. M. erzielt.
Der Anteil von Leopoldshall am Gesamtabsatz beträgt nach der
Beteiligungstabelle des Kalisyndikats ca. 3*/,ooo (für 1909 genau
34,57 %/,0)., Das Werk fördert also nur ungefähr den 30. Teil
der Gesamtproduktion.
Hiernach wird man, wenngleich zwischen den einzelnen Werken
insofern Unterschiede vorhanden sind, als die in manchen in größerer
Menge gefundenen Edelsalze, z. B. Sylvinit, erheblich wertvoller
sind als die gewöhnlichen, einen geringeren Prozentsatz von Chlor-
kalium enthaltenden Rohsalze, und wenngleich die örtliche Lage,
die Mächtigkeit der Fundstätten und die Leichtigkeit des Abbaues
von Einfluß sind, doch unter Berücksichtigung, daß diese Unter-
schiede beim Einheitsbetriebe durch entsprechende Wahl der Gruben
aufgehoben werden, weil man sich ja die besten Lagerstätten und
Aufschlüsse schon nach den bisherigen Betriebsergebnissen heraus-
suchen kann, schon bei dem jetzigen (noch sehr steigerungs-
fähigen) Absatz auf einen Reingewinn der Kaliindustrie von jähr-
lich über 100 Mill. M. bestimmt rechnen dürfen. Ungefähr dieselbe
Summe ergibt sich auch, wenn man die Betriebsüberschüsse der
einzelnen Werke zusammenstellt. Eine Verringerung des Gewinnes
darf wohl als ausgeschlossen gelten, da eine Preisreduktion nicht
zu erfolgen braucht. Die Konsumenten sind an die Unveränderlich-
keit der Preise vom Syndikat mit Absicht gewöhnt worden, um für
ihre Kalkulation mit einem festen Faktor rechnen zu können. Der
Grundpreis eines der wichtigsten Salze, des Carnallit, betrug nach
Paxmann, a. a. O. S. 183, von 1892 an unverändert M. —,90 pro
100 kg, der von 80-proz. Chlorkalium von 1896 an M. 14,25 pro
100 kg, nachdem es vorher längere Jahre auf M. 13,88 gestanden
hatte. Im Gegenteil: die Zusammenlegung der bisher getrennten
Vielzahl von Verwaltungen, der Fortfall der Vergütungen an Auf-
sichtsrat und Repräsentanten, die Stillegung mancher Werke wird
eine bedeutende Unkostenersparnis nach sich ziehen, die rationellere,
weil intensivere Ausnutzung der weiter betriebenen Gruben wird
einen erhöhten Ueberschuß abwerfen.
Die Reingewinnquote des Bergbaues ist nach Ausweis der
Statistik mit 9 Proz. nicht zu hoch angenommen. Berücksichtigt
man aber die vorhin erwähnten bedeutenden Ersparnisse — allge-
meine Verwaltung; geringere Gehälter (ein preußischer Direktions-
vorsitzender erhält nur M. 10000 p. a. gegenüber dem Mehrfachen,
das den leitenden Persönlichkeiten der Privatunternehmungen ge-
zahlt wird), vor allen Dingen aber den rationelleren, intensiven Be-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 467
trieb, so wird man die Durchschnittsgewinnquote unbedenklich um
T Proz. erhöhen dürfen, so daß insgesamt also 16 Proz. netto heraus-
gewirtschaftet werden. Angenommen nun, das Uebernahmekapital
von 550 Mill. werde voll mit 6 Proz. verzinst, so bleiben für das
Reich 10 Proz. = 55 Mill. M. übrig.
Da jedoch in Wirklichkeit der Höchstzinssatz von 6 Proz. nicht
für alle übernommenen Werke in Frage kommt (Heldburg z. B.),
da ferner das Reich einen Teil bar bezahlt und diesen auf dem
Wege einer Anleihe aufgebrachten Betrag nur mit 4 Proz. zu ver-
zinsen braucht, so ist mit einem weiteren Reinüberschuß voh
10 Mill. M. zu rechnen. Nach allmählich erfolgender vollständiger
Ersetzung der 6-proz. Anteilscheine durch 4-proz. Obligationen und
bei weiterer Steigerung des Absatzes wird sich der Ueberschuß ent-
sprechend erheblich erhöhen.
V.
Naċh der Syndikatsstatistik verteilte sich der Gesamtabsatz von
reinem Kali im Jahre 1905 folgendermaßen:
Es bezog die Landwirtschaft des Inlandes 2 021 094 dz
Auslandes 2050514 „
zusammen 4071608 dz meist Kainit
Es bezog die Industrie des Inlandes 471173 dz
» D D e „ Auslandes 289 900 „,
761073 ,„ meist Carnallit
zusammen 4832 681 dz
im Nettowerte von 81642749 M. Vom Gesamtabsatz entfielen auf
die Landwirtschaft also 84,3 Proz., auf die Industrie 15,7 Proz.
Der Gesamtverbrauch an Kali (K,O) in der Landwirtschaft be-
trug, in Doppelzentnern ausgedrückt, im gleichen Jahre in den
einzelnen Ländern:
nm H ” Hi Hi
Deutschland 2021094
Vereinigte Staaten von Nordamerika I 090 926
Belgien 93 408
Holland 173 292
Frankreich 112037
England 8745 1)
Schottland 56 304p 160017
Irland 16 262
Oesterreich-Ungarn 62 473
Schweiz 13 272
Italien 23 079
Rußland 25 390
Spanien 31 854
Portugal . 2593
Schweden 143 910
Norwegen 9753
Dänemark 38 808
Finnland A 285
Sonstige Länder (Japan !) 65 417
zusammen 4071 608
Wie aus dieser Statistik hervorgeht, ist die Ausfuhr nach den
meisten Auslandsländern noch bedeutend erweiterungsfähig. Selbst
30*
468 Franz Gehrke,
diejenigen Staaten, die jetzt pro landwirtschaftliche Anbauflächen-
einheit am meisten gebrauchen, können den Bezug bei zweckmälßiger
Aufklärung noch ganz erheblich steigern.
Unter den Kalisalze landwirtschaftlich verwendenden Auslands-
staaten steht Holland obenan. Die hochentwickelte Gartenkultur
des Landes, die Zunahme des Rübenbaues, die ausgedehnte Wiesen-
wirtschaft, der an Intensität und räumlicher Ausdehnung steigende
Roggen- und Weizenbau verlangen gebieterisch eine rationelle
künstliche Düngung.
Nächst Holland verbraucht Belgien verhältnismäßig am meisten
Kali. In Belgien nimmt nämlich trotz der hochentwickelten In-
dustrie auch die Landwirtschaft einen erfreulichen Aufschwung.
Zuckerrüben, Hopfen, Tabak werden angepflanzt, die sehr kali-
bedürftige Wiesen- und Weidewirtschaft wird gepflegt, weil sie
infolge der hohen Fleischpreise dort rentabler erscheint als Getreide-
bau. — Nächstdem kommen Schweden und Schottland, wo auf den
weiten Moorflächen ausgedehnte Neukulturen angelegt sind, be-
sonders Wiesen und Weiden. In Schottland sind die Bedingungen
am günstigsten, da nicht weniger als SL der gesamten landwirt-
schaftlich nutzbar zu machenden Fläche auf Wiesen, Weiden und
Klee kommen.
Länder mit mittlerem Kaliverbrauch sind Norwegen, Dänemark
und England. In den beiden ersteren Ländern nimmt der Zucker-
rübenbau neuerdings zu; weite Heiden und Moore (Nordjütland)
sind noch in fruchtbare Wiesen umzuwandeln. Schon gehen die
landwirtschaftlichen Vereine, von den Vorzügen der Kalidüngung
endlich überzeugt, tatkräftig vor, und eine Steigerung des Absatzes
steht deshalb in sicherer Aussicht. Aehnlich liegen die Verhältnisse
in England. Während in Deutschland das Ackerland dreimal so
groß ist als Wiese und Weide, übersteigt in England die Gesamt-
fläche der letzteren das Ackerland (wegen der Industrie geht der
Ackerbau ständig zurück) um das Doppelte. Auch hier findet die
Kalidüngung immer mehr Eingang.
Sämtliche anderen Länder haben einen relativ nur erst sehr
geringen Kaliverbrauch. Auch die Vereinigten Staaten, obgleich
diese absolut das weitaus größte Quantum, mehr als die übrigen
Auslandstaaten zusammen, beziehen. Aber das Prognostikon darf
dank der aufklärenden Tätigkeit der Propagandaabteilung des
Syndikates und der eigenen landwirtschaftlichen Verbände ein glänzen-
des genannt werden: immer mehr weicht die extensive und Raub-
wirtschaft der intensiven, und bei der allgemeinen Steigerung der
Bodenwerte wendet man sich immer energischer der Nutzbarmachung
von Sumpfland, Prärie und Wüste zu. — In Spanien (20 Mill. ha
Steppen) und Italien, die beide noch sehr rückständig sind, machen
die Regierungen jetzt tatkräftige Anstrengungen zur Herbeiführung
rationellerer Kultur. Japan ist in steigendem Maße Abnehmer.
Nur Oesterreich und Frankreich stehen der Kunstdüngerfrage noch
skeptisch gegenüber. Aber auch dort wird entsprechende Auf-
klärungstätigkeit von Erfolg begleitet sein.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 469
Nachstehend gebe ich nach der Syndikatsstatistik eine Tabelle
über den Kaliverbrauch zu Landwirtschaftszwecken im Jahre 1905
in den Bundesstaaten des Deutschen Reiches und den einzelnen
Provinzen Preußens in Doppelzentnern reinen Kalis.
d. s. pro qkm
Provinzen Doppelzentner | landwirtschaftl.
Anbaufläche in kg
Ostpreußen 66 393 245
Westpreußen 62 501 358
Brandenburg 239 745 1020
Pommern 161 278 748
Posen 211507 983
Schlesien 181 217 683
Sachsen 167 987 928
Schleswig-Holstein 103 969 689
Hannover 220 486 1026
Westfalen 97 013 789
Hessen- Nassau 20 494 236
Rheinprovinz 67 201 413
Hohenzollern 340 48
Preußen 1 600 131 695
Bayern 90 659 196
Sachsen 55 892 544
Württemberg 17 698 142
Baden 28 841 338
Hessen-Darmstadt 28 238 575
Sachsen-Weimar 6843 284
Mecklenburg-Schwerin 76 587 819
Mecklenburg-Strelitz 8 212 488
Oldenburg 43 963 1 221
Braunschweig 10 269 443
Sachsen-Meiningen 3654 276
Sachsen-Altenburg 4 998 559
Sachsen-Koburg-Gotha 2 269 177
Anhalt 18 872 I 196
Fürstentümer u. freie Städte 13 939 340
Elsaß-Lothringen 10 029 107
Zusammen | 2021094 | 577
Die vorstehenden Zusammenstellungen gab ich im Hinblick auf
die einzurichtende Monopolverwaltung. Im allgemeinen können die
vom Kalisyndikat geschaffenen Einrichtungen gutgeheißen und über-
nommen werden. Insbesondere ist das Propagandabureau beizu-
behalten und noch auszubauen, denn selbst in unserem Vaterlande
sind noch gar manche Landesteile bezüglich landwirtschaftlicher
Betriebsintensität sehr rückständig. Eine Absatzverteilung wäre
zweckmäßig in der Weise vorzunehmen, daß die mitteldeutschen
Gruben (Staßfurt usw.) für die Deckung des Bedarfs Ostdeutsch-
lands und Süd-, Mittel- und Osteuropas herangezogen werden, so-
weit Fluß- oder reine Eisenbahnfracht in Frage kommt, während
die für billige Wasserverfrachtung günstiger gelegenen Werke im
Gebiete von Aller und Weser Nordwesteuropa und den überseeischen
Konsum zu versorgen hätten. Im übrigen muß der Kostenersparnis
und Einfachheit halber die ganze Verwaltung dem System angepaßt
470 Franz Gehrke,
werden, wie ich es für Petroleum vorschlug und nach dem sich
auch die Führung der Geschäfte des weiter unten zu besprechenden
Kohlenmonopols zu richten hat.
D. Steinkohlenmonopol.
I
Die Summe des im Steinkohlenbergbau angelegten Kapitals
auch nur einigermaßen genau anzugeben, ist unmöglich, da sich eine
Berechnung nur zum geringen Teil auf tatsächliche, der Oeffentlich-
keit zugängliche Feststellungen stützen kann. Eine Anzahl gerade
der bedeutendsten Gruben ist in Privatbesitz (Pleß, Ballestrem, Tiele-
Winkler, Giesches Erben, Donnersmarck; Thyssen, Stinnes, Haniel,
Krupp usw.) und lehnt Angaben über die Höhe ihres Betriebs-
kapitals und der gemachten Aufwendungen ab. Auch eine Schätzung
vermag die Kluft nicht zu überbrücken. Denn „im Berge ist es
dunkel“; in unmittelbar benachbarten Gruben können ganz ver-
schiedene Gesteins-, Wasser- und Förderungsverhältnisse herrschen,
und während das eine Unternehmen nach leichten, billigen Schacht-
bauten Kohlenflötze von erstaunlicher Mächtigkeit trifft und dem
Besitzer über Nacht Millionen in den Schoß schüttet, hat das andere
unter unruhigem, losen Gestein zu leiden, Wassereinbrüche er:
säufen“ die Schächte, der Flötz wird unglücklicherweise gerade an
einer Einschnürung angeschlagen, und Millionen auf Millionen
müssen verbaut werden, ehe an eine Förderung auch nur gedacht
werden kann.
Wohl aber läßt sich der Wert der Kohlengruben und ihrer
Betriebsanlagen schätzen. Freilich ist man auch hier vielfach auf
Wahrscheinlichkeitsrechnungen angewiesen.
Ich ging in der Weise vor, daß ich an Hand der Fachzeit-
schriften und der ausführlichen Jahresberichte einiger Bankhäuser
(Hermann Schüler, Bochum) und Makler eine möglichst vollständige
Zusammenstellung der Zubußen, die die einzelnen Gewerkschaften
im Laufe der letzten 15—20 Jahre eingezogen hatten, vornahm und
die Ausbeuten und den Durchschnittskurs der an der Börse notierten
Kuxen damit verglich. Bei den Aktiengesellschaften dienten mir
deren Verwaltungsberichte — indem ich bei den gemischten Werken
eine möglichst sorgfältige Absonderung der speziell im Kohlen-
geschäft tätigen Kapitalien vornahm — als Grundlagen. Wo, wie
bei den oben genannten Privatzechen, diese Hilfsmittel mich im Stich
ließen, suchte ich die Werte dadurch zu ermitteln, daß ich die
Förderungsziffern und Arbeiterzahlen dieser Werke mit denjenigen
Verhältnissen, die ich für eine Anzahl der größeren Gruben als Durch-
schnittsverhältnis gefunden hatte, verglich. Als Gegenprobe rechnete
ich dann die Zahl aus, die sich ergab, wenn man die Zahl, die im
Durchschnitt der größeren Werke als Betriebskapital für je 2000
Arbeiter anzusetzen war, so oft multiplizierte wie 2000 in der Gesamt-
belegschaft von ungefähr 550000 Mann abzüglich der Arbeiterzahl
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 471
der Staatsbetriebe enthalten war. Dabei kam ich fast genau zu
den gleichen Resultaten.
So fand ich, daß der Wert sämtlicher in Privatbesitz
befindlicher Werke Ende 1908 sich auf rund 2400 (bis 2500)
Mill. M. beziffert. Die „Mutungen“ sind hierbei nicht berücksichtigt.
Diese Summe wird, wenn sie als erster Versuch vielleicht nicht
genau stimmt, doch Anspruch darauf machen dürfen, den tatsäch-
lichen Verhältnissen wenigstens annähernd zu entsprechen und
soll daher als Grundlage der folgenden Berechnungen dienen.
Die Bergwerke des preußischen und des bayrischen Fiskus
schied ich absichtlich aus, um den Ueberblick nicht zu trüben, und
beschränkte mich auf die Privatindustrie. Das Gesamtbild wird
dadurch nicht geändert; was das Reich für Uebernahme der fiskalischen
Gruben mehr zahlen muß, wird durch entsprechend höhere Ein-
nahmen mehr als ausgeglichen. In dem Reichsmonopol müssen ja
beide Arten Unternehmungen aufgehen, diejenigen im Besitz der
Einzelstaaten und diejenigen im Besitz von Privatpersonen. Wenn
ich im folgenden eine Scheidung trotzdem vornehme und von „staat-
lichen* im Gegensatz zu Privatzechen rede, so geschieht dies,
weil erstere bei der Schaffung eines Reichsmonopols durch und
infolge ZustimmungihrerInhaberzudiesem Monopole
eine besondere Stellung einnehmen und als Regulator der Preis-
forderungen der Privatindustrie dienen können.
Was Preußen insgesamt für seine Steinkohlenbergwerke aus-
gegeben hat, ist mir nicht bekannt. Ueber die Rentabilität gibt
aber der Etat für 1909 genügenden Aufschluß.
Er stellt folgende Zahlen ein:
Ueberschuß aus d. Steinkohlenbergwerken d. Oberbergamtsbez. Breslau 9 016 100 M.
e nm nm A pA bé Clausthal 477 000 „
HI HOT » DI an Bonn (Saar-
brücken) 12 932 090 ,
22 425 190 M.
Zuschuß zu e sg Pr së Dortmund
(noch in Ausbau) 5 058c 050 .,
17 367 140 M.
Die gesamten Verwaltungskosten betragen:
Ministerialabteilung f. d. Berg-, Hütten- u. Salinenwesen 754470 M.
Oberbergämter 2875030 „
Bergtechnische Lehranstalten 540 570 „
Geologische Landesanstalt 696 550 ,„
4 866 620 M.
Rechnen wir hiervon für Steinkohlenwerke allein ®/,, so sind das 3 649 965 M.
Demnach Gesamtreinüberschuß 13 717 175 M.
Da von der Gesamtsteinkohlenförderung des Deutschen Reiches
auf Preußen fast genau der siebente Teil fällt, so läßt diese Zahl
(unter Berücksichtigung, daß die Verwaltungskosten [Lehranstalten etc.]
viel zu hoch in Ansatz gebracht sind und daß der Gewinn aus den
„Gemeinschaftswerken“ überhaupt nicht in Berechnung gezogen ist)
einen Schluß auf die Richtigkeit der weiter unten angestellten
472 Franz Gehrke,
Rechnung über die Rentabilität der Monopolisierung der Privat-
betriebe zu.
Es fragt sich nun: Zu welchem Preise kann das Reich den
Besitz der privaten Steinkohlenbergwerke und der noch nicht in
Förderung befindlichen von Privaten gemuteten Grubenfelder er-
werben ?
Bei einer Verstaatlichung des Kalibergbaues steht das Reich
unstreitig günstiger da. Dort ist es von den Privatunternehmungen
unabhängig. Wollen diese den von ihm für freihändige Uebernahme
gebotenen Preis nicht akzeptieren, so kann es schon mit den jetzigen
fiskalischen Gruben und den betriebsfertig daliegenden Reserve-
schächten den dringendsten Bedarf notfalls allein befriedigen, denn
wegen der hemmenden Bestimmungen des Kalisyndikatsvertrages
kann der Fiskus seine Werke bei weitem nicht bis zur Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit ausnutzen, sondern muß sich in der Förderung
weitgehendste Beschränkungen auferlegen. Anders liegen die Ver-
hältnisse beim Kohlenbergbau. Zwar ist der Staat auch dort Groß-
unternehmer; im Jahre 1907 kommen von einer Gesamtförde-
rungsmenge von 143186000 Tons mehr als 13 Proz., nämlich
19259000 Tons, auf staatliche Betriebe. Allein die Förderung kann
nicht annähernd so erhöht werden wie beim Kalibergbau. Die
Natur der Kohlenvorkommen macht dies unmöglich. Es ist klar,
daß die Privatunternehmer auf ihre günstige Stellung pochen und
„entsprechend angemessene“ Preise fordern werden. Eine frei-
händige Uebernahme wird deshalb in den meisten Fällen an der
Höhe der Forderungen scheitern. Man denke an die horrenden
Preise, die der Staat anlegen mußte, als er durch Vermittlung der
Dresdner Bank die Aktienmehrheit der Hibernia an sich bringen
wollte. Solche Fancy-Preise dürfen nicht bezahlt werden, und man
wird zur Enteignung schreiten müssen. Um der Spekulation auf
höhere Uebernahmepreise vorzubeugen, sind zweckmäßig gesetzliche
Bestimmungen darüber zu treffen, daß nach einem bestimmten Zeit-
punkt erfolgende nicht unbedingt notwendige Anschaffungen und
Neuanlagen bei der Uebernahme unberücksichtigt bleiben, des-
gleichen sämtliche Kapitalinvestitionen, die offensichtlich nur im
Hinblick auf die Verstaatlichung gemacht wurden. Insbesondere
sind Bestimmungen über die Uebernahme der verliehenen Kohlen-
mutungen zu treffen — vielleicht, daß hier, wo ja noch keine För-
derung stattfindet, nur die aufgewendeten Kosten mit einem ge-
wissen Zuschlage ersetzt werden.
Nach der „Arbeitsmarkt-Korrespondenz“ betrug die Dividenden-
höhe im Bergbau- und Hüttenbetrieb im Jahre 1907 : 9,8 und im Jahre
1908:8,3 Proz. Das ungünstigere Ergebnis des letzten Jahres ist
auf die Nachwirkungen der Krise zurückzuführen, die sich im Berg-
bau wegen der noch laufenden Abschlüsse zu den alten, hohen
Preisen erst später fühlbar machten. Im allgemeinen wird man
schon jetzt mit einer Verzinsung von durchschnittlich mindestens
9 Proz. rechnen dürfen. Außerdem wird beim Reichsmonopol in-
folge einheitlicher Verwaltung und geringerer Gehälter für die lei-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 473
tenden Persönlichkeiten ganz außerordentlich an Kosten gespart.
Würden doch z. B. die jetzt an die Hunderte von Aufsichts- und
Verwaltungsräten ausgekehrten Beträge ganz fortfallen. Nach meiner
Schätzung werden so wenigstens 2 Proz. gespart, so daß
sich eine Durchschnittsverzinsung von 11 Proz. ergeben würde.
Nehmen wir aber auch nur eine solche von 10 Proz. an, so ergibt
sich bei einem Uebernahmewerte von 2500 Mill. M., unter Berück-
sichtigung, daß die Anteilscheine mit 4, höchstens (analog der
eventuell beim Petroleummonopol anzuwendenden Praxis) in den ersten
Jahren mit 6 Proz. verzinst werden müssen, ungünstigsten
Falles ein jährlicher Reinüberschuß von 100 Mill. M.!
Höchstwahrscheinlich aber wird sich ein weiteres Mehr
von 25 Mill. M. ergeben!
Hingewiesen sei noch darauf, daß bei einer Zinsgarantie für die
Privatanteilscheine von 4 Proz. und einer Verzinsungswahrschein-
lichkeit von 6 Proz. der Uebernahmewert ein entsprechend nied-
rigerer sein muß, als wenn die Verzinsung gesetzlich über 4 Proz.
nicht hinausgeht.
Gibt das Reich nicht für den vollen Uebernahmebetrag Anteil-
scheine aus, sondern übernimmt es einen Teil selbst, so hat es für
diesen seinen Baranteil nur mit einer Verzinsung von 4 Proz., für
welchen Satz es das Geld jederzeit bekommen kann, anstatt mit
einer solchen von 6 Proz. zu rechnen, was einem weiteren Gewinn
von 2 Proz. auf das von ihm eingebrachte Kapital entsprechen
würde. Aehnlich liegt die Sache, wenn nach einigen Jahren die
höherverzinslichen „Anteilscheine* durch 4-proz. Reichsanleihen
ersetzt werden (durch Auslosung, freihändigen Kauf oder Gesetz).
Ich rekapituliere:
1) Bei einem Uebernahmepreis von 2!/, Milliarden M. und
einer Verzinsung sämtlicher — in diesem Falle ausschließlich pri-
vater — Anteilscheine mit 6 Proz. beziffert sich der jährliche Rein-
gewinn, den das Reich neben den Einkünften aus den fiskalischen
Werken nach Verstaatlichung der Privatbetriebe im Kohlenberg-
bau erzielen würde, auf mindestens 100 Mill. M.
2) Wegen des Sinkens der Verwaltungs- und Repräsentations-
kosten und des in mancher Hinsicht rationelleren Betriebes ist aber
ein jährlicher Mehrüberschuß von 25 Mill. M. wahrscheinlich.
3) Angenommen, das Reich bezahlt, um nicht mit einer zu
großen Anleihe herauszukommen, den Uebernahmepreis zu */, in
Anteilscheinen, zu !/, in bar, zahlt den Privatunternehmern also
eine Summe von 500 Mill. M. bar aus, so braucht es diesen Be-
trag nicht mit 6 Proz., sondern weil es ihn auf dem üblichen Wege
einer Reichsanleihe erhält, nur mit 4 Proz. zu verzinsen. Es spart
dadurch 2 Proz. von 500 Mill. M. gleich jährlich 10 Mill. M.
4) Werden im Laufe der Zeit die mit 6 Proz. verzinslichen An-
teilscheine sämtlich durch 4-prozentige Reichsanleihen ersetzt, so
macht dies auf den Rest von 2 Milliarden eine weitere jährliche Er-
sparnis von 40 Mill. M.
474 Franz Gehrke,
II.
Ueber die Hauptzahlen der Kohlenproduktion und des Kohlen-
handels gebe ich nach den Vierteljahrsheften zur Statistik des
Deutschen Reiches folgende Zusammenstellung:
Anzahl | Förde- Mittlere | _. Inlands-
der erg Wert Beleg- Einfuhr | Ausfuhr | brauch
Werke | (1000 Get (1000 M.) schaft (1000 tona)| (1000 tons) (1000 tons)
1881/90 456 59 366 329 145 | 218614 E e .
1891 424 73716 | 589518 | 283 227 5 033 9536 | 69213
1892 423 71372 | 526979 | 289415 4437 8971 | 66838
1893 415 73852 | 498395 | 290632 4 664 9677 | 68839
1894 346 76741 | 509100 | 299627 4 806 9739 ` 71808
1895 329 79169 | 538895 | 303 937 517 10361 | 73925
1896 332 85690 | 592976 | 316513 5477 11599 | 79568
1897 333 91055 | 648939 | 336 174 6 072 12390 | 84737
1898 331 96 310 710233 | 357 695 5 820 13 989 88 141
1899 331 101640 | 789449 | 378 575 6 220 13 943 93 917
1900 338 109 290 966 065 | 413 693 7 384 15 276 101 398
1901 336 108 539 |1015 254 | 448 000 6 297 15 266 99 570
1902 326 107 474 950517 | 451 187 6 426 16 tor 97 799
1903 330 116638 |1005 153 | 470305 6767 17390 | 106015
1904 324 120816 |1033861 | 490 604 7 299 17 997 110 118
1905 331 121 299 |10490980 | 493 308 9 400 18 157 112 542
1906 322 137 118 |1 224 58ı | 511 108 9 254 19551 | 126821
1907 313 143 186 |1394 271 | 545 330 13 722 20 057 136 851
Darunter vom Staat betriebene Werke:
Förderungs-
anteil an der
Anzahl Förderungs- Mittlere Gesamt-
der Werke menge et, Belegschaft | förderung des
Deutschen
Beichesi.Proz.
1881/90 25 10 143 68 760 40410 17,09
1891 25 11559 104 471 48 360 15,68
1892 25 11089 96 107 49 723 15,54
1893 25 10 889 87 462 46 761 14,74
1894 22 11654 90 952 49 585 15,19
1895 22 11 988 93 878 49 907 15,14
1896 22 13 379 105 590 52 806 15,61
1897 22 14 140 115 319 55 527 15,58
1898 2I 15 048 125 916 57 910 15,62
1899 22 15 497 138 840 60 894 15,25
1900 21I 16 296 167 655 63 762 14,91
1901 21 16 177 181.008 66 035 14,88
1902 2I 16 090 168 701 66415 14,97
1903 25 17 020 174 565 71046 14,59
1904 25 17 781 183 687 73 985 14,72
1905 25 18 348 189 584 75 674 15,13
1906 25 19 469 206 178 79 406 14,20
1907 25 19 259 218 114 83 307 13,45
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 475
An der Zusammenstellung fällt zunächst die verhältnismäßig
geringe Zahl der fördernden Werke auf. Daß Kleinbetriebe bei den
enormen Kosten, die die Anlage der Maschinenschächte erfordert,
von vornherein ausgeschlossen sind, braucht kaum besonders betont
zu werden. Aber auch die „Großbetriebe* müssen mehr und mehr
den „Riesenbetrieben“ weichen. Die Statistik beweist dies klar und
deutlich. Es betrug im Jahre 1908 die Arbeiterzahl auf den sämt-
lich im Oberbergamtsbezirk Dortmund gelegenen Bergwerken:
Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft (14 Zechen) 34520 Mann (nur für die
Kohlenwerke!)
Harpener Bergbau A.-G. (17 Zechen) 29817 „
Hibernia (6 Zechen) 20142 ,
Deutsch-Luxemburg (10 Zechen) 135355 »
Deutscher Kaiser 12490 „
Gutehoffnungshütte (2 Zechen) 11670 „
Rheinpreußen (Haniel) j 10045 »
Krupp (3 Zechen) 9455 »
Stinnessche Zechen (5 Zechen) 9339 »
Fiskalische Zechen des Oberbergamtsbezirks Dort-
mund (4 Zechen) 7773
Gesamtbelegschaft 1 58 786 Köpfe
Allein diese 10 Werke des wichtigsten deutschen Kohlenbezirkes
beschäftigen also mehr als den vierten Teil der im deutschen Kohlen-
bergbau tätigen Arbeiterschaft! Im oberschlesischen Kohlenbezirke
ist das Verhältnis ähnlich. Auch die prozentuale Vermehrung der
Arbeiterzahl dieser Riesenbetriebe gegen das Vorjahr war absolut
und relativ stärker als diejenige des ganzen Oberbergamtsbezirks
(12,8 gegen 10 Proz.). Stellen wir ferner die Anzahl der Werke,
die Förderungsmengen und die mittlere Belegschaft der Anfangs-
und Endjahre der obigen Tabelle — also für eine Spanne von rund
25 Jahren — zusammen, so finden wir:
die Anzahl der fördernden Werke ging um 143, d.h.
um 31,35 Proz. zurück;
dieFörderungsmenge stieg um 83 820 000 tons, d.h.
um 241,36 Proz:
die mittlere Belegschaft stieg um 326716 Köpfe,
d.h. um 249,45 Proz.;
die Durchschnittszahl der Belegschaft der ein-
Ben Werke stieg von 479 auf 1742, d. h. um 363,67
roz.
. Diese rapide Steigerung, besonders der Durchschnittsbelegschaft,
ist überaus charakteristisch für die Entwicklungstendenz im Stein-
kohlenbergbau. Je größer der Betrieb, desto leichter kann er Nacken-
schläge und ungünstige Konjunkturen ertragen, desto lebensfähiger
ist er. Daher der Wettstreit um die Erhöhung der Leistungsfähig-
keit, der zielbewußte Ausbau zu vielgestaltigen, riesenhaften . Be-
trieben. Die Folge dieser (wirtschaftlich übrigens richtigen!) Kristalli-
sation, der Zentralisierung starker, weitreichender Kräfte in den
Händen weniger Unternehmungen ist, daß diese ganz von selbst zu
476 Franz Gehrke,
Führern der kleineren Werke werden, daß sie immer mehr Einfluß
auf Organisation und Preispolitik des deutschen Kohlenbergbaues
gewinnen und es vielfach schon jetzt in der Hand haben, wider-
strebende Elemente durch Zwang ihren Wünschen gefügig zu machen.
Die ganze Entwicklung drängt auf Zusammenschluß hin. Wie im
politischen, so hat auch im wirtschaftlichen Leben nur der Starke
die Macht, seinen Willen durchzusetzen und sich Luft und Licht,
Bewegungsfreiheit und finanzielle Vorteile zu erringen. Der Kleine
und wirtschaftlich Schwache wird an die Wand gedrückt und lebt
von der Gnade der Mächtigen. Die großen Verkaufsvereinigungen
vermögen schon jetzt den Verbrauchern die Preise zu diktieren.
Beispiel: Der letzte große Abschluß der Preußischen Eisenbahnver-
waltung mit dem Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat im Jahre
1907, kurz vor Ausbruch der Krise. — Das Syndikat hat das ganze
Reich mit eigenen Verkaufsfilialen überzogen und den selbständigen
Kohlenhandel vernichtet. Die Fesseln, die dem Konsum angelegt
werden, werden in dem Maße, wie sich die produzierenden Kräfte
konzentrieren, immer schwerer. Daß die Entwicklung auf dem
Standpunkte, auf dem sie jetzt angelangt ist, nicht stehen bleiben
wird, ist außer Frage. Jetzt haben wir nur erst ein Syndikat.
Videant consules, daß nicht ein tatsächliches, privates Monopol
daraus wird! Die Betriebsverschmelzungen größten Stiles, die sich
vollziehen, und die über kurz oder lang das Syndikat ablösen werden,
scheinen darauf hinzuweisen.
Wie groß die Macht des (rheinisch-westfälischen) Syndikats ist,
geht aus der Tatsache hervor, daß es ungefähr 97 Proz. der Ge-
samtförderung des Ruhrkohlengebietes umfaßt. Im Jahre 1905
kamen von einer Gesamtförderung von 66,9 Mill. Tonnen allein
65,4 Mill. Tonnen auf Syndikatszechen und nur der kleine Rest von
1!/, Mill. Tonnen = 2,3 Proz. auf Außenseiter.
Diese Tendenz wird durch die Natur der Kohlenvorkommen in
Deutschland begünstigt. Aus geologischen Gründen ist der Kohlen-
bergbau nicht so ausdehnungsfähig wie der Kalibergbau. Die Kali-
salze scheinen ganz Nord- und einen großen Teil Mitteldeutschlands
zu unterlagern, die Kohlenlagerstätten jedoch sind nicht so lokal
ausgedehnt. Nur in drei eng begrenzten Gebieten unseres Vater-
landes ist eine Ausbeutung in größerem Maße möglich.
Die wichtigsten Lagerstätten birgt die rheinisch-westfälische oder
Ruhrmulde. Der Vorrat wird auf 129 Milliarden Tonnen geschätzt.
Die Lagerungsverhältnisse sind gut, auch die Qualität, die der eng-
lischen für gleichwertig oder gar für besser angesehen wird. Im
Jahre 1907 lieferte das Ruhrkohlenbecken 57,41 Proz. der Gesamt-
förderung Deutschlands.
Das nächstwichtigste Revier ist der oberschlesische Kohlen-
bezirk, der an der Gesamtförderung mit 22,50 Proz. beteiligt war.
Insgesamt sollen etwas über 100 Milliarden Tonnen bis 1500 m
Teufe um Beuthen, Gleiwitz, Königshütte lagern. Lager und Qualität
der Kohlen sind gut.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 477
Das dritte große Vorkommen befindet sich an der Saar, am
Südhang des Hunsrück. Auch diese Kohle ist gut, doch Verwerfungen
und schlagende Wetter stören den Abbau. Den Vorrat schätzt man
auf 14 Milliarden Tonnen. Der Anteil an der Gesamtförderung be-
trug im Jahre 1907: 9,58 Proz. (einschließlich der Pfalz, Lothringens
und Badens). Neuerdings wendet sich das Interesse der großen
Kohlenmagnaten diesem Komplex entschiedener zu, und ein Auf-
schwung steht zu erwarten.
Zwischen dem oberschlesischen und dem Ruhrrevier besteht
wegen der weiten Landentfernung wenig Zusammenhang und Kon-
kurrenz. Die Absatzgebiete sind zu verschieden. Jedenfalls ist
letzteres bei weitem das wichtigste, hat es doch ganz Norddeutsch-
land, einen großen Teil Mitteldeutschlands und die nordeuropäischen
kohlenarmen Staaten zu versorgen. Darum ist es erklärlich, daß
die Zentralisierung und Syndizierung gerade in diesem eng be-
grenzten Gebiete die größten Fortschritte gemacht hat. Die Pro-
duktionsverhältnisse sind hier im allgemeinen gleich, die Verkaufs-
interessen dieselben. Kraft seiner Stellung als Hauptproduzent und
als alleiniger Verlader via mare kommt dem das ganze Ruhrgebiet
beherrschenden Syndikat also eine Bedeutung zu, die weit über den
privatwirtschaftlichen Rahmen hinausgeht und ein so gewichtiger
Faktor ist, daß ihre Anwendung dem Staate nicht gleichgültig sein
kann und darf. Da die Konzentration immer weiter fortschreiten
muß, weil eine Rückbildung von den verhängnisvollsten Folgen be-
gleitet sein würde, und da der Besitz der Macht faszinierend wirkt
und zur Erringung noch größerer Macht und zu gefährlichen Kraft-
ne reizt, müssen rechtzeitig vorbeugende Maßregeln getroffen
werden.
III.
Die Verstaatlichung der Kohlenbergwerke hat man schon ver-
schiedentlich gefordert. Besonders nachdrücklich verlangte man sie
aus Anlaß des letzten großen Ausstandes und der dadurch hervor-
gerufenen oder besser gesagt damit „motivierten“ Steigerung der
Kohlenpreise. Als Gründe für eine Verstaatlichung führte man da-
mals ins Feld:
1) die Lage der Bergarbeiter muß verbessert werden;
2) die Regelmäßigkeit des Bergwerksbetriebes muß gesichert
werden;
3) Raubbau muß zum Schutze der Interessen künftiger Ge-
schlechter verhindert werden;
4) der Verbraucher muß vor Ausbeutung durch private Machen-
schaften (Preiskoalitionen) geschützt werden.
Bei näherer Prüfung kann man sich nicht verhehlen, zuzu-
gestehen, daß die ersten drei Gründe rein akademischer Natur sind
und des Haltes entbehren.
Die „Besserung der Lage der Bergarbeiter“ ist ja ein ständiges
Argument. Tatsächlich muß auf diesem Gebiete noch manches ge-
478 Franz Gehrke,
schehen. Mit der Arbeiterfürsorge und der Betriebssicherheit liegt
es hier und da noch sehr im Argen. Man kann aber nicht sagen,
daß die Sicherungs- und Wohlfahrtseinrichtungen der Privatzechen
hinter denen der staatlichen Zechen zurückstehen. Die Gewerbe-
ordnung, die gesetzlichen Vorschriften und behördlichen Verord-
nungen über den bergbaulichen Betrieb und über Kranken- und
Unterstützungskassen gelten gleichermaßen für Staats- wie für Privat-
gruben. Dem Staate liegt die Verpflichtung ob, die Ausführung
dieser Bestimmungen zu überwachen. Wenn seinen damit beauf-
tragten Organen manchmal vielleicht Umgehungen und Außeracht-
lassungen solcher Vorschriften verborgen bleiben, so darf man dies
doch nicht verallgemeinern und gleich über das ganze System den
Stab brechen. Auch in staatlichen Betrieben kommen derlei Un-
regelmäßigkeiten vor und werden sich nie vermeiden lassen, solange
der Mensch ein unvollkommenes Wesen bleibt. Auch die von den
Privatunternehmern gezahlten Löhne sind im allgemeinen den fis-
kalischen gleich. Geringe, auf dem Wechsel von Angebot und Nach-
frage beruhende Schwankungen fallen nicht ins Gewicht, und wenn
unter dem Druck der Verhältnisse in Krisenzeiten eventuell einmal
eine Arbeitsverkürzung oder eine vorübergehende Lohnreduktion
vorgenommen werden mul, so sind auch hierfür in Staatsbetrieben
und in jedem anderen Erwerbszweige tausendfache Analogien vor-
handen.
Auch für die regelmäßige Fortführung des Bergwerksbetriebes
bietet ein staatliches Monopol keine Sicherheit. Staatsbeamte können
die Bergarbeiter niemals werden. Ihr Arbeitsvertrag wird stets auf
freiwilliger Vereinbarung mit gegenseitiger jederzeitiger Kündbarkeit
beruhen müssen. Eine persönliche Dienstleistung kann nicht er-
zwungen werden. Welche Macht der Erde kann da den Arbeiter
hindern aus irgendeinem Grunde nach rechtzeitiger Kündigung oder
gar ohne diese die Arbeit niederzulegen und dadurch den Betrieb
des Werkes zum Stillstand zu bringen?
Zu der oben unter 3) angeführten Forderung schreibt Arndt
(Art. Bergbau im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, S. 556)
bei Gelegenheit der Besprechung der Verstaatlichung der Kohlen-
gruben: „Die starke Konkurrenz, welche die deutschen Kohlenberg-
werke sich untereinander bereiten, und welche ihnen auch vom Aus-
lande bereitet wird, hat nach Aufhebung der staatlichen Direktion
zur unausbleiblichen Folge, daß die Gruben, um konkurrenzfähig
zu bleiben, oft — namentlich bei niedrigen Kohlenpreisen — nur
die mächtigeren Flötze ausbeuten, die schwächeren dagegen zu Bruche
bauen und volkswirtschaftlich dadurch für immer zerstören.“ — Das
wäre selbstredend Raubbau. Aber die Beweisführung scheint mir
nicht richtig. Nur in den äußersten Notfällen wird ein Werk in
dieser Weise verfahren. Das Abbauen einer Kohlenschicht ist nur
dann rentabel, wenn sie eine gewisse Mächtigkeit besitzt. Solange
sie diese aber besitzt, macht es verhältnismäßig wenig aus, sei sie
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 479
nur 30 oder 70 m stark. Rentiert sich aber der Abbau eines schwachen
Flötzes für ein Privatunternehmen nicht, dann muß er auch für den
Staat außer Betracht bleiben. Die Kohlengruben sollen eine Ein-
nahmequelle für ihn sein, und in einfach nicht abbauwürdige
Flötze Gelder hineinzustecken nur, weil der bis jetzt bekannte Stein-
kohlenvorrat Deutschlands (nach Schätzung Nasses) in ungefähr
750 Jahren erschöpft sein soll, durch die Ausbeute aus diesen
schwachen Schichten die „Erschöpfung“ vielleicht um einige
wenige Jahre hinausgezögert werden könnte, wäre eine Benach-
teiligung der lebenden Generation zugunsten einer sehr späten Zu-
kunft, in der die Kohle ihre Rolle als Hauptantriebsmittel und
Kraftquelle wahrscheinlich schon ausgespielt haben wird, und eine
im Hinblick auf den ungünstigen Stand unserer Staatsfinanzen nicht
gutzuheißende Verschwendung. Mit der „starken Konkurrenz der
Gruben untereinander“ ist es auch nicht weit her. Gewiß, selbst
innerhalb des Syndikats bestehen die denkbar schärfsten Gegensätze.
Aber der Kampf wird auf einem anderen (Gebiete ausgefochten. Es
ist ein solcher der reinen Kohlenzechen gegen die gemischten Be-
triebe einerseits und der letzteren unter sich um die Machtfrage
andererseits (Kirdorf contra Thyssen). Mit der Preisfrage haben
diese Reibereien nichts zu tun. Darin herrscht Einigkeit. Die zur
Verteilung gelangende hohe Durchschnittsdividende beweist zur Ge-
nüge, daß man an Preisschleuderei nicht denkt. Deshalb und wegen
der Kontingentierung würde ein Raubbau zwecklos sein. — Endlich
scheint unverständlich, was Arndt mit „Aufhebung der staatlichen
Direktion“ meint. Er kann doch nicht wohl annehmen, der Staat
würde dem privaten Bergbau jemals volle Freiheit lassen, alle An-
ordnungen nach eigenem Gutdünken zu treffen.
Bleibt der letzte der obengenannten Gründe, der finanzielle
Schutz des Verbrauchers. Er allerdings ist sehr gewichtig, und
die scharfe Kritik, die sich an die Preispolitik des Syndikats knüpft,
ist durchaus berechtigt. Es ist ein Unding, daß der Inlandsver-
braucher für die Kohle höhere Preise anlegen muß als das Ausland.
Sehen wir auch ganz von der Verwendung der Kohle im Haus-
brand ab, so darf doch der deutschen Industrie, die ohnehin
schon schwer um ihre Existenz ringen muß, der Kampf nicht noch
dadurch erschwert werden, daß das Ausland den wichtigen Brenn-
stoff billiger erhält als sie, also um die Differenz billiger produziert.
Ist doch für manche Industrien ein billiger Kohlenpreis geradezu
eine Lebensfrage, so für die Holzmehlfabriken und Holzstoftabriken,
denen neuerdings Schweden immer mehr Konkurrenz macht und
sie wahrscheinlich bald aus dem Felde geschlagen haben wird, so
für die Papierfabrikation, die Textilindustrie usw. Das Syndikat
sucht seine Maßnahmen dadurch zu rechtfertigen, daß es behauptet,
nur dadurch, daß große Mengen nach dem Auslande abgestoßen
werden könnten, könne der Inlandspreis überhaupt so niedrig sein,
wie er jetzt sei; falle das Ausland als Abnehmer fort, so müsse die
480 Franz Gehrke,
Produktion noch mehr eingeschränkt und der Inlandspreis ent-
sprechend erhöht werden.
Diese Argumentation ist nicht ganz unrichtig — vom Stand-
punkte der Produzenten aus. Der Absatz nach dem Auslande
ist sozusagen ein Sicherheitsventil und mag auch wohl eine größere
Stabilität des Betriebes zu garantieren. Aber nichtsdestoweniger
läßt sich vom Standpunkt der Allgemeinheit aus, der doch
wohl in erster Linie maßgebend ist, mit mehr Recht das Gegenteil
behaupten. Warum, wenn wir mehr Kohlen fördern als unser ge-
samter eigener Bedarf ausmacht, bezahlen wir in einem einzigen
Jahre (1907) die ungeheure Summe von 242 Mill. M. für Kohlen-
lieferungen an das Ausland, an England, unseren schärfsten Gegner
in politischer und industrieller Hinsicht? Warum wird der Inlands-
preis nicht wenigstens so weit ermäßigt wie die englische Kohle in
Deutschland konkurrenzfähig ist, d. h. in Nordwestdeutschland ?
Warum wird nicht nach dem Vorgange des Braunkohlensyndikats
für diese „umstrittenen Gebiete“ (nach der Terminologie des Braun-
kohlensyndikats) ein ermäßigter Preis gestellt? Dann ist der Absatz da
— dem Syndikat kann es ja gleichgültig sein, ob er im In- oder
im Auslande ist, für Deutschland aber ist es keineswegs gleich-
gültig, ob Hunderte von Millionen jährlich in das Ausland gehen,
wenn sie im Inland bleiben könnten.
In den „Vierteljahrsheften“ für 1907 (Bd. 4, S. 136) findet sich die
folgende bemerkenswerte amtliche Feststellung: „Auch im Jahre
1907 herrschte auf dem inländischen Kohlenmarkte eine sehr lebhafte
Nachfrage, der zu genügen die einheimische Kohlenindustrie nicht in der
Lage war!). Der Bedarf mußte vielmehr in ganz bedeutenden Mengen
aus dem Auslande bezogen werden. Diese Auslandskohlen
stellten sich im Preise zum Teil wesentlich höher und
eigneten sich außerdem viel weniger für die Betriebe
als die einheimischen. Nichtsdestoweniger wurden die fremden
Erzeugnisse glatt aufgekauft, da nur auf diese Weise Betriebsstörungen
vermieden werden konnten.“ 1907 war bekanntlich das Jahr der
höchsten Konjunktur, und daß die Werke ihre Förderungskapazität
voll ausnutzen mußten, um den Anforderungen gerecht zu werden,
ist klar. Aber trotzdem überstieg die Ausfuhr die Einfuhr im
Werte um ungefähr 40 Mill. M. schon bei Steinkohle selbst; dazu
kommt noch ein Ausfuhrüberschuß bei Steinkohlenkoks von 78 Mill. M.,
bei Preßkohlen usw. Die deutschen Gruben wären also sehr wohl
in der Lage gewesen, den ganzen deutschen Bedarf zu decken —
zu billigeren Preisen und mit besserem Material! — Die „Viertel-
1) Es ist überhaupt eine der Schwächen dieses wie jedes anderen Syndikats, daß
es einer Ueberproduktion durch seine Maßnahmen wohl schnell begegnen kann, nicht
aber einer Unterproduktion. Steigen die Lieferungsanforderungen plötzlich stark, so
versagt es, weil seine Organisation dazu nicht geeignet ist — hat es doch sogar ab-
sichtlich als Hemmschuh für die freie Entfaltung vieler Zechen gewirkt (ähnlich im
Kalibergbau !).
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 481
jahrshefte“ schreiben a. a. O. weiter: „Zwar haben die Werke bei
der Verteilung ihrer Kohlenmengen auf die Befriedigung der in-
ländischen Kundschaft die größtmöglichste Rücksicht genommen,
doch konnten andererseits auch die erhöhten Anforderungen des
Auslandes im Hinblick auf die Verbindung in späterer stiller Zeit
nicht unbeachtet gelassen werden.“ Die Begründung läßt sich hören.
Ist sie aber stichhaltig, wenn der Fall eintritt, daß die ausländische
Industrie dadurch bevorzugt wird, während unsere eigene sich
teurere ausländische Kohlen beschaffen und mit minder gutem
Material herumschlagen muß? So wichtig auch der Absatz im Aus-
lande ist — in erster Linie kommt doch wohl Deutschland selbst!
Durch zeitweise Einschränkung der Ausfuhr verlieren wir die aus-
ländische Kundschaft nicht gleich. Im eigenen Interesse wird sie
zu uns zurückkehren, sobald wir ihr wieder vorteilhafte Offerten
machen. Sie kauft stets da, wo es für ihren Geldbeutel am vor-
teilhaftesten scheint; von anderen Erwägungen läßt sie sich nicht
leiten. Freilich, laufende Abschlüsse mußten unter allen Um-
ständen erfüllt werden. Es handelte sich aber sehr vielfach um
Lokogeschäfte.
Diese Politik des Kohlensyndikats ist nicht neu. Schon bei der
letzten Krise, zu Anfang dieses Jahrhunderts, machte sie unliebsam
von sich reden. Ich verweise auf Morgenstern, Die Exportpolitik
der Kartelle, Leipzig 1907, der auf S. 41 schreibt: „Ferner haben
die Kartelle auch darauf nicht immer Rücksicht genommen, daß
eine billige. für die gesamte Volkswirtschaft verlustbringende Aus-
fuhr erst dann zu rechtfertigen ist, wenn die vorhandene Ueber-
produktion (NB. 1907 war sogar eher eine Unterproduktion zu kon-
statieren!) durch keine anderen Mittel, insbesondere nicht durch
Preisherabsetzungen, doch im Inlande untergebracht werden kann...
Z. B. hat das Kohlensyndikat dadurch, daß es noch lange in die
Krisis hinein (bis zum 1. April 1902) die äußerst hohen Preise aus
der Zeit des Aufschwungs beibehielt, während es mit Betriebsein-
schränkungen und mit billigen Auslandsverkäufen sofort begann, in
verantwortungsloser Weise gegen das Interesse der Allgemeinheit
gehandelt.“
Auch bei einer Preiserhöhung würde der Absatz im Auslande
nicht stocken. Seit April 1901 ist der englische Kohlenexport mit
einem Ausfuhrzoll von 1 sh pro ton (= 1016 kg) belegt, ohne daß
er darunter zu leiden gehabt hätte. Für den Deutschen darf das-
selbe gelten.
England, das schon jetzt ungefähr !/, seiner Produktion aus-
führt, und dessen Steinkohlenausfuhr im Werte von 819!/, Mill. M.
(im Jahre 1907) überhaupt keine Einfuhr gegenüber steht (!), allein
kann nicht ganz Nordeuropa versorgen. Die deutsche Kohle ist
der englischen mindestens ebenbürtig. Da soll man doch Propaganda-
bureaus einrichten, wie sie das Kalisyndikat mit so glänzendem Er-
folge geschaffen hat!
Dritte Folge Bd, XXXIX (XCIV). EN
482 Franz Gehrke,
Hier ist der Punkt, wo die Macht des Syndikats zu gering ist,
wo ein Mächtigerer eingreifen muß, der Staat. Dieser hat ein
vitales Interesse daran, seinen merkantilen und industriellen Einfiuß
in Nord- und Osteuropa zu verstärken, und die Steinkohlenschätze,
die wir vor unseren kohlenarmen Nachbarn voraushaben, sind eine
der wichtigsten Vorbedingungen dafür. Es muß eins der vornehmsten
Ziele unserer Handelspolitik sein, dort erobernd vorzudringen und
uns dadurch für große, unwiederbringlich verlorene Absatzgebiete
schadlos zu halten. Wie können wir allein unsern Kohlenexport
nach manchen Ländern steigern! Nach dem Artikel „Steinkohle“
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften beträgt der Verbrauch
pro Jahr und Kopf in England ungefähr 4124 kg, in Deutschland
1837 kg (im Jahre 1907 nach den „Vierteljahrsheften“ 2196 kg —
der bis jetzt höchste Verbrauch), in Frankreich 954 kg, in Oester-
reich-Ungarn 591 kg, in Rußland 80 kg Steinkohle. Die Nieder-
lande, Dänemark und Schweden werden zwischen Frankreich und
Oesterreich rangieren. Rußland, das nur kleinere eigene Kohlenlager
hat und stets auf Einfuhr angewiesen sein wird, bezieht bedeutende
Mengen Kohlen aus England, trotzdem Deutschland sein unmittel-
barer Nachbar ist und von Oberschlesien billiger, vom Rheinland
aus mindestens ebenso billig nach dort verfrachten kann. Das ist
eine Anomalie. Wohl wird in Rußland die Masutfeuerung (Oelrück-
stände) in großem Umfange angewendet, aber trotzdem, welchen
enormen Verbrauch auch an Kohlen wird das Riesenreich haben,
wenn es sich „auch nur in bescheidenstem Umfange zu einem
Industriestaate entwickelt“. Anzeichen, daß es, wenn auch langsam,
auf dem Wege dazu ist, sind vorhanden. Das ganze westliche
(Polen, Lodz) und mittlere Rußland (Moskau) muß von Oberschlesien
aus versorgt werden. Wenn die Privatproduzenten das nicht in ge-
nügendem Maße zustande bringen können, dann muß eben der
Staat die Sache in die Hand nehmen. Der Staat kann auch die
Regelung der Auslandspreise besser in die Hand nehmen als ein
Privatsyndikat, da ihm andere Mittel und Wege zur Geltendmachung
größeren Einflusses zur Verfügung stehen. Für ein Privatsyndikat,
das es nicht für unter seiner Würde hält, ausländische Verbraucher
vor den einheimischen im Preise zu bevorzugen, darf er diese Mittel
nicht anwenden. Um es hier nur kurz anzudeuten: die Steinkohle
ist eine unserer wichtigsten Waffen im Kampf um Erlangung günstiger
Handelsverträge und kann dazu dienen, auf Grund einer internatio-
nalen Zollunion England von bestimmten Märkten auszuschließen
und dadurch in eben diesen Märkten einen größeren, sicheren Markt
für uns selbst — also die vom Syndikat so stark betonte Erleichte-
rung der Inlandsmarktes — zu finden.
Neben diese Gründe tritt noch ein anderer. Er hat nichts zu
tun mit den Verhältnissen im Kohlenhandel und -bergbau an sich,
sondern ist rein finanzpolitischer Natur.
Das Reich muß neue ausgiebige Einnahmequellen haben. Das
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 483
ist eine von niemandem bestrittene Tatsache. Die bisherigen Ein-
nahmen genügen nicht entfernt zur Deckung der Ausgaben. Das
Defizit ist dauernd, wird von Jahr zu Jahr größer und hat nach-
gerade ungeheuerliche Formen angenommen, ohne daß eine Besserung
in Aussicht steht. Auch die letzte sogenannte Finanzreform ver-
mochte keine Abhilfe zu schaffen. Abgesehen davon, daß die neuen
Steuern zum größten Teil von den unrechten Schultern getragen
werden und in mancher Beziehung direkt verkehrsfeindlich
wirken, wo doch alle Ursache bestände, den Verkehr und damit
seine indirekten Erträgnisse zu heben, ist sie in ihrer Ergiebigkeit
beschränkt und vermag wohl ein vorhandenes Loch mühsam zu
stopfen, ist aber außerstande, die leere Kasse aufzufüllen und sie
gegen den Ansturm der zu erwartenden neuen großen Ausgaben zu
wappnen. Soll man dann die schwachen Schultern noch mehr steuer-
lich belasten, den Verkehr noch mehr knebeln und dadurch anderen
Nationen gegenüber immer mehr ins Hintertreffen geraten, das zu
einem vollsändigen Zusammenbruch führen muß?
Da muß man bei Zeiten auf die Erschließung neuer wirklich
ergiebiger Einnahmequellen sinnen, und eine solche ist eben ein
Reichskohlenmonopol. Es ist ein Industriezweig zur Verstaatlichung
wie geschaffen. Wenn andere Länder, wie Oesterreich und Frank-
reich, sich aus rein finanzpolitischen Gründen zur Uebernahme des
Tabakhandels, der sich erheblich weniger dazu eignet, in Reichsregie
entschlossen haben, wenn Deutschland selbst die Eisenbahnen, das
Post- und Telegraphenwesen, den Salzhandel verstaatlicht hat, warum
soll es nicht auch im Drange der Not den Kohlenbergbau verstaat-
lichen!? Daß der Kohlenhandel sich mit allen Kräften dagegen
sträubt, ist erklärlich. Aber das Privatinteresse muß dem allge-
meinen weichen. Einmal muß und wird es doch zur Verstaatlichung
kommen, man mag wollen oder nicht. Darum ist es besser, den
entscheidenden Schritt bald zu tun und schon jetzt mit den Vor-
arbeiten zu beginnen, damit nachher alles klar ist und in der Ueber-
stürzung schwere Fehler vermieden werden.
Die Gründe, die gegen eine Verstaatlichung angeführt werden,
brauchen eigentlich kaum noch aufgezählt und widerlegt zu werden.
„Keine Einmischung vom grünen Tisch!“ ist auch hier das Schlag-
wort — hohl, wie Schlagwörter es meistens sind. „Die Einrichtung
einer zentralen staatlichen Verwaltnng ist sehr schwierig!“ Wirklich ?
Etwas mehr sollte man dem Staate, der in den Eisenbahnen doch
einen viel größeren Betriebskomplex verwaltet, wohl zutrauen.
Nach meinem Dafürhalten ist die Sache sogar sehr einfach: man
errichtet für das rheinisch-westfälische Revier zusammen mit dem
Saarkohlenbecken und den angrenzenden kleineren Mulden in
Bayern usw. (West-, Mittel-, Süd- und Norddeutschland und Ver-
Verschiffung rheinabwärts und via mare), sowie für Oberschlesien
und Sachsen (Mittel- und Ostdeutschland und Verfrachtung nach
Ost- und Zentraleuropa) je eine besondere Direktion, die beide
31*
484 Franz Gehrke,
einer Generaldirektion unterstellt sind. Das Verkaufsgebiet jeder
der beiden Direktionen ist leicht durch die Transportsätze fest-
zustellen.
Der Umfang des Betriebes der Staatseisenbahnen ist ein er-
heblich größerer. Nach dem Eisenbahnetat stellte sich Ende 1901,
der Anteil der Eisenbahnverwaltung an der 8168,7 Mill. M. be-
tragenden gesamten Staatschuld auf 6402,4 Mill. M., d. h. auf
78,37 Proz. Die durch Uebernahme des Kohlenhandels in Reichs-
regie entstehende Schuldenlast würde diesen Betrag nicht zur
Hälfte erreichen. Was im übrigen an Gründen meist sozialer Natur
gegen ein Reichskohlenmonopol vorgebracht wird, habe ich schon
im Abschnitt über Kali besprochen.
IV.
Es entsteht die Frage, ob zugleich mit dem Steinkohlen- auch
der Braunkohlenbergbau zu verstaatlichen ist. Dafür spricht, daß
die Braunkohle gleichfalls ein notwendiges und in Deutschland
(und Oesterreich) lokalisiertes Brennmaterial ist, daß sie die Stein-
kohle in vielen Betrieben als Kraftquelle ersetzt und daß man in
vielen Fällen überhaupt zweifelhaft sein kann, ob eine Kohle als
magere Steinkohle oder als fette Lignitflammkohle anzusprechen
ist. Dagegen spricht, daß erfahrungsgemäß zum Braunkohlen-
bergbau (meist Tagebau!) weniger Kapital gehört und infolge-
dessen sehr viele Kleinbetriebe zur Förderung zum eigenen Ge-
brauch (Ziegelei, Brennerei) existieren. Vielleicht, daß Betriebe, die
nur für eigenen Bedarf des Unternehmers fördern oder die eine
Belegschaft von weniger als 20 Köpfen haben, von der Verstaat-
lichung befreit sind.
Jedenfalls will ich bemerken, daß ich den Wert sämtlicher
Braunkohlengruben Deutschlands nach meinen analog den im Stein-
kohlenhandel erfolgten Feststellungen auf ungefähr 340 Mill.M. schätze,
unter Außerachtlassung der Kleinbetriebe auf ungefähr 325 Mill. M.
Wenn man unter Berücksichtigung einer 6-proz. Verzinsung des
Uebernahmekapitals einen Reingewinn von 4 Proz. als dem Staate
zufließend annehmen würde, würde sich also ein Betrag von 13 Mill.
M. jährlich ergeben.
E. Zusammenfassung.
I
Bei der Beratung über Schaffung der Monopole wird man auch
wieder mit den alten allgemeinen „sozialen“ Gründen kommen.
Die Lebensbedingungen eines guten selbständigen Mittelstandes
dürften nicht erschwert werden, und schon wegen Erhaltung der
Steuerkraft dieser Bevölkerungsklasse dürfe der Staat vom Baum
des Erwerbslebens nicht ganze Aeste absägen und deren Lebens-
nerv unterbinden bezw. deren Lebenskräfte für sich ausbeuten.
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 485
Demgegenüber ist aber zu bemerken: 1) daß es einem An-
gestellten schließlich gleich sein kann, von wem er bezahlt wird,
wenn er nur sein gutes und sicheres Brot findet; 2) daß es sich
doch immer nur um einige wenige Artikel handelt, die dem Staate
reserviert werden; 3) daß der Staat auf diesen Gebieten — man
denke nur an den Aufschwung des Eisenbahnwesens und der Post,
und an die Millionen von Menschen, die dadurch Unterhalt und
Verdienst haben — in ganz eminenter Weise verkehrsfördernd,
preisregulierend, neue Werte schaffend, kurz in vorbildlicher Weise
volkswirtschaftlich und sozial wirken kann; 4) daß gerade bei
Massenkonsumartikeln, die keine subtile Bearbeitnng und keine zu
große Differenzierung erfordern, schon jetzt die ganze Entwicklung
auf Zusammenschluß auch der Privatindustrie hindrängt, sich teil-
weise sogar schon in die Tatsache umgesetzt hat, und daß es besser
ist, daß der Staat das Heft in die Hände nimmt, als daß die Macht
eines Ringes privater, oft sogar ausländischer Interessenten die
Steuerzahler unter dem Drucke der Notwendigkeit lediglich zu-
gunsten ihres Privatsäckels ausbeutet; endlich daß 5) in unserer
Zeit der mit Fortschreiten und der Notwendigkeit der Weiter-
verbreitung der Kultur, der Hygiene, der Wohlfahrtseinrichtungen,
der Aesthetik und der Landesverteidigung ungeheuer gestiegenen,
und noch weiter steigenden Ausgaben des Staates zugunsten der
Gesamtheit der Steuerzahler dem Staate eben immer neue Quellen
erschlossen werden müssen, soll er den an ihn gestellten An-
forderungen gerecht werden. Da aber dürfte eine Verstaatlichung
einzelner Industriezweige der gangbarste Weg sein. Auch die un-
mittelbar Betroffenen können, objektiv betrachtet, wenig gegen ihn
einwvenden. Durch die Verstaatlichung ihrer Betriebe erleiden sie
keinen Schaden, da sie für die gesamten, von ihnen in die Reichs-
gesellschaft eingebrachten Werte den Gegenwert in bar oder in
Anteilscheinen erhalten. Diese können sie jeden Augenblick ver-
kaufen und das Kapital in anderen Unternehmungen (z. B. der
Kaliverarbeitungsindustrie) nutzbringend anlegen. In unserer Zeit,
wo sich stets neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten industrieller
Betätigung eröffnen und ungeheure Perspektiven auftun, ist Raum
genug vorhanden für das Hundertfache des Kapitals, welches durch
die neuen Reichsindustriegesellschaften der Privatausbeutung ent-
zogen werden würde.
Ohne Zweifel den größten Nutzen von der Verstaatlichung hätte
natürlich das Reich. Es braucht, je nach dem Wege, den es ein-
schlägt, vorläufig wenig oder gar keine Mittel festzulegen, sondern
spannt das Privatkapital vor und kann nur eventuell nach einer
Reihe von Jahren in eigenem Interesse wegen Zinsenersparnis die
Privatanteilscheine freihändig aufkaufen oder auslosen und durch
niedriger verzinste Obligationen ersetzen. Die Differenz zwischen
dem tatsächlichen Gewinn der Gesellschaften und den für Verzinsung
und Amortisation der Anteilscheine nötigen Summen stellt einen
Reinüberschuß für das Reich dar.
486 Franz Gehrke,
Aber abgesehen von der zu erwartenden und lebhaft zu be-
grüßenden Verminderung der Steuerlast wird das Reich bei Ueber-
nahme dieser Betriebe weit über ihre Grenzen hinaus Gelegenheit
haben, energisch in das tausendfältige Getriebe der gesamten Er-
werbstätigkeit der Nation einzugreifen und dadurch einen neuen
mächtigen, volkswirtschaftlich wohltuend wirkenden Faktor und
Preisregulator zu schaffen. Und das ist in unserer gärenden, revo-
lutionären, immer Neues gebärenden und zwischen zwei Entwicklungs-
perioden stehenden Zeit ein Ziel, das es wert ist, erkämpft und er-
rungen zu werden.
Wenn man die voraussichtlichen finanziellen Ergebnisse der
Verstaatlichungen von Petroleum-, Kali- und Kohlenhandel zusammen-
stellt, so ergibt das
Petroleummonopol (S. 447) die Summe von rund 24 Mill. M.
Kalimonopol (S. 467) „ A a D BR » »
Kohlenmonopol (S. 473) „ e D „ IOO „
zusammen rund 180 Mill. M.
Zieht man aber nicht diese Minimalwerte, sondern die wahr-
scheinlichen Mittelwerte in Berechnung, so würde sich das Gesant-
ergebnis um 15 (S. 449) plus 10 (S. 467) plus 35 (S. 473) plus 13
(Braunkohle, S. 484) Mill. M. auf 255 Mill. M. erhöhen.
Dieser ungeheure Betrag wird nicht durch neue Steuern, nicht
durch Mehrbelastung des Konsums aufgebracht. Eher kann der
Verkaufspreis der Waren gegen jetzt für den Inlandsverbraucher
noch ermäßigt werden. Eine Anomalie wie die, daß das Kohlen-
syndikat dem Auslande billigere Kohlen liefert als dem Inlande,
und es dadurch konkurrenzfähiger macht, wird jedenfalls aufhören.
Auch die Stabilität des Etats wird eine größere. Dieses Bündel
verstaatlichter Großindustrien ist berufen den Finanzen des Reiches
eine vorher ziemlich genau bestimmbare sichere, große und dauernd
steigende Einnahmequelle, einen eben so festen Pfeiler zu geben,
wie ihn Preußen an den Ueberschüssen seiner Eisenbahnen besitzt.
Die Monopolisierung muß aber bald erfolgen, da sonst die
Gefahr vorhanden ist, daß im Hinblik auf die zu erwartenden oder
möglichen Maßnahmen eine umfangreiche Gründertätigkeit einsetzt,
die die Konjunktur schnell noch ausnutzen will, und daß auch sonst
infolge anderer geschäftlicher Praktiken der Privatunternehmer der
Staat gezwungen wäre, erheblich höhere Summen für den Erwerb
anzulegen als er jetzt noch anzulegen braucht. Jedenfalls muß tun-
lichst bald Klarheit auch aus dem Grunde geschaffen werden, weil
eine neue Steuererhöhung so bald nicht eintreten darf. Wünschens-
wert und bei den guten Ergebnissen der Monopole möglich wäre
vielmehr die Aufhebung einiger kleinerer verkehrs- und handels-
feindlicher Steuern. Denn der Handel muß in erster Linie volle,
leichte Bewegungsfreiheit haben. Die Landwirtschaft ist bei
uns so wie so schon besser gestellt. Bei der dauernd starken Be-
Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung. 487
völkerungsverdichtung Deutschlands und bei den zollpolitischen
Maßnahmen, die schon ergriffen sind oder über kurz oder lang
gegen die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte einiger Staaten
noch ergriffen werden müssen, findet sie von selbst genug Absatz
und gute Preise. Um ihr aber noch mehr entgegenzukommen,
könnten ihr ja die Düngesalze noch etwas billiger als bisher über-
lassen werden.
I.
Wenn der Staat derart wichtige Gebiete aus dem Erwerbsleben
der Privatwirtschaften herausgreift und für sich reserviert, so muß
er sich der Verantwortung, die er dabei übernimmt, voll bewußt
sein. Er muß alles daran setzen die Monopole für sich und die All-
gemeinheit von möglichst großem Nutzen werden zu lassen. Dieses
Postulat bedingt aber zwei Voraussetzungen.
Erstens dürfen der Betrieb und die Verwaltung nicht von eng-
herzigen und schematisierenden, bureaukratischen Gesichtspunkten
aus erfolgen. Das würde ein völliges finanzielles Fiasko bedeuten.
Vielmehr müssen die Angestellten der Monopole nach Art der
Reichsbankangestellten weniger Beamte als Kaufleute sein.
Zweitens müssen die Monopolverwaltungen möglichst selbständig
sein. Damit wachsen ihr Verantwortlichkeitsgefühl und ihre Arbeits-
lust, damit ist überhaupt erst die Möglichkeit freier Entfaltung und
rascher Entschlüsse gegeben, die nicht erst auf das placet von
tausend Instanzen warten dürfen. Wie man die Eisenbahnver-
waltung verselbständigt hat, muß dies auch bei den Industriemono-
polen geschehen.
Ich denke mir die Sache ungefähr so, daß ein sogenanntes
„Reichsindustrieamt“, wie ich es nennen will, geschaffen wird,
welches selbständig neben die anderen Ministerien tritt und zu
dessen Ressort die verschiedenen staatlichen Vertriebsgesellschaften
gehören, die nach und nach geschaffen werden. Oder aber das
Reichsindustrieamt müßte dem Schatzamte als oberster Behörde
unterstehen. Jedenfalls muß es, um eine ersprießliche Tätigkeit
entfalten zu können, zu selbständigem, raschem Handeln befugt sein.
Diesem zweckmäßig in Berlin zu errichtenden Reichsindustrie-
amte sind die einzelnen verstaatlichten Handels- und Industrie-
zweige, also z. B. die Reichskaligesellschaft, Reichskohlengesellschaft,
Reichspetroleumgesellschaft, die Salzregie usw. zu unterstellen, die
ihrerseits wieder selbständig, der Art der Branche entsprechend,
geleitet werden und nur ihre obersten, allgemeinen Direktiven vom
Reichsindustrieamte zur Befolgung vorgeschrieben erhalten.
Diese einzelnen Gesellschaften sind dann in ähnlicher Weise
wie von mir in dem Abschnitt „Petroleum“ vorgeschlagen, orga-
nisiert, d. h. je einer Zentrale (Kohlenhandelszentrale, General-
direktion für den Kohlenhandel, Kohlenhandelshauptkontor oder
488 Franz Gehrke, Die Finanznot des Staates und Mittel zu ihrer Hebung.
welchen Namen man dem Kinde geben will) unterstehen verschie-
dene Direktionen (Nebenämter, Filialen, Verkaufskontore) in den
verschiedenen für den betreffenden Industriezweig wichtigen Plätzen,
die ihrerseits wieder Unterämter (Hilfskontore u. a.) überall, wo es
nötig scheint, einzurichten haben. Das ganze Reich würde so von
einem engmaschigen Netz kleiner und größerer Verwaltungsstationen
überzogen, die, im Einvernehmen der einzelnen Vertriebsgesell-
schaften miteinander, selbstverständlich so gewählt und errichtet
werden müßten, daß, seien es die Anlagen und Gebäude, seien es
die Arbeitskräfte der einen Gesellschaft gleichzeitig auch für die
anderen Reichsgesellschaften nutzbar gemacht werden könnten. Auch
wenn man mit den Verstaatlichungen langsam vorgehen und bei-
spielsweise erst einmal nur den Petroleumhandel monopolisieren
würde, müßte man bei der Herstellung der Basis und dem ganzen
Ausbau der Organisation Rücksicht auf die spätere notwendige Ent-
wicklung nehmen.
Miszellen. 489
Miszellen.
XV.
Die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse und die Bestimmungs-
gründe der Frachtkurse.
Von H. Meyer, Bankbeamter.
Unter den Börsen Deutschlands repräsentiert die im Jahre 1899
in Duisburg gegründete Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse einen neuen
Typus, der bisher noch nicht zum Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung gemacht worden ist. In den bekannten Büchern von Saling,
Obst u. a. findet man überhaupt nichts hierüber. Im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften wird der Ausdruck Frachtbörse zwar gebraucht,
aber nicht näher verfolgt. Das einzige Werk, welches näher auf unser
Thema eingeht, ist das vor kurzem erschienene von Stillich über: Die
Börse und ihre Geschäfte!). Aber auch dieses Werk behandelt die
sehr interessanten Kursbestimmungsmotive der Frachtbörse nicht ein-
gehender.
Diese Lücke wollen wir in folgendem ausfüllen.
Die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse befaßt sich weder mit dem
Handel von Wertpapieren, noch mit dem von Waren, sondern mit dem
Handel von Kohlenfrachten. Die Mitglieder, die sich täglich von
11—12 Uhr im Börsengebäude einfinden, sind einerseits Schiffer, die
einen Verlader für ihren Schiffsraum suchen, andererseits große kohlen-
verfrachtende Firmen, die auf der Suche nach geeignetem Kahnraum
zur Kohlenverfrachtung sich hier mit den Schiffern direkt oder durch
Makler in Verbindung setzen. Angebot und Nachfrage des ganzen
Kohlenverfrachtungsmarktes im Ruhrgebiet konzentrieren sich täglich
hier an der Börse, und welche Bedeutung diese Konzentration hat,
ergibt sich aus dem letzten Bericht der Duisburger Handelskammer,
wonach die Menge der aus ihrem Bezirk im Jahre 1908 zu Schiff ab-
gefahrenen Kohlen 10347869 t betrug.
Ehe wir diesen neuen Börsentypus näher untersuchen, müssen wir
zunächst die Frage beantworten, ob die genannte Frachtenbörse eine
wirkliche Börse im ökonomischen Sinne ist, oder ob sie vielleicht in
die von Stillich als „Pseudobörsen“ bezeichnete Kategorie gehört. Gibt
1) Berlin 1909, Verlag v. Curtius.
490 Miszellen.
es doch in Deutschland eine ganze Anzahl Institute, die sich Börsen
nennen, in Wirklichkeit aber keine Börsen sind. Denken wir nur
an die Bremer Baumwollenbörse.
Nach der Definition von Stillich ist die Börse ein organisierter
Markt, von fungiblen (vertretbaren) Werten, dessen Preise regelmälig
offiziell festgestellt und durch einen Kurszettel veröffentlicht werden.
In diesen wenigen Worten ist knapp und kurz das Wesen der Börse
ausgesprochen worden.
Die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse ist zunächst ein Markt, denn
es kommen hier zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Orte
Leute zusammen, um Geschäfte zu machen. Dieser Markt weist ferner
eine Organisation auf. Die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse hat ganz
wie die Berliner Börse eine Börsenordnung, einen Börsenvorstand, eine
Maklerkammer, ein Ehren- und ein Schiedsgericht.
Schwieriger schon, aber auch interessanter wird es, zu untersuchen,
wie die Schifferbörse es gemacht hat, ihre Frachten in fungible Werte
umzuwandeln, um auch in diesem Punkte allen an die Börse gestellten
Anforderungen zu genügen. Von vornherein ist natürlich die Fracht
kein fungibler Wert. Eine Schienenfracht ist z. B. etwas anderes
als eine Kohlen- oder Getreidefracht. Um die hierbei auftretenden
Schwierigkeiten zu beseitigen, beschränkte man den Börsenhandel zu-
nächst auf Kohlen. Sodann schuf man bestimmte Wegeinheiten,
denen der jeweilige Frachtenkurs zugrunde gelegt wurde. Dies geschah
in der Weise, daß man für die Kohlenfrachten vom Ruhrgebiet aus
nach allen größeren Kohlenabsatzplätzen des Rheines und der mit ihm
zusammenhängenden Wasserwege den täglichen Preis oder Kurs pro
Tonne festsetzte. Wie es nun an der Berliner Börse Papiere gibt, die
infolge ihrer Bedeutung täglich gehandelt werden, und die daher in
Börsenkreisen stets im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit
stehen, so hat die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse ihre besonderen
Absatzpunkte, nach denen täglich Frachtgeschäfte abgeschlossen werden.
Diese wichtigsten Kohlenabsatzplätze sind, den Rhein hinauf: Mannheim,
Straßburg, Frankfurt a. M., den Rhein hinab: Amsterdam, Rotterdam,
Brüssel, Antwerpen. In den Frachtkursen nach diesen Plätzen spiegelt
sich die jeweilige Lage des ganzen Kohlenverfrachtungsmarktes wieder,
sie sind daher auch stets der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit
für die Schiffer und Kohlenverfrachter.
Aber nicht nur der Bestimmungsort, sondern auch die Größe
des befördernden Rhbeinkahnes mußte fixiert werden. Man
war gezwungen, um eine vollständige Fungibilität der Kohlenfrachten
zu erzielen, auch hier gewisse Einheitsnormen zu schaffen. Es wurden
daher drei Schiffsgrößenklassen aufgestellt, nämlich:
1) kleine Schiffe mit einem Laderaum von 100—150 t
2) mittlere , a a ep „ 150—300 „,
3) große fi PS We Se „ 400—500 ,„ und mehr.
Frachten für Schiffə von über 1000 t werden auf der Schifferbörse
nicht notiert.
Auf die eben beschriebene Weise hat man es trotz mancher sich
Miszellen. 491
entgegenstellender Schwierigkeit erreicht, die Schiffsfrachten zu fungiblen,
börsenfähigen Werten zu machen, und der Kurszettel, der von dem
Börsenvorstand der Schifferbörse mit Hilfe der Makler täglich fest-
gestellt wird, unterrichtet die Interessenten jeweils über die Lage des
Kohlenverfrachtungsmarktes im Ruhrgebiet.
Nachdem im Vorhergehenden gezeigt wurde, daß die Duisburg-
Ruhrorter Schifferbörse eine Börse im Sinne der wissenschaftlichen
Definition ist, wollen wir jetzt noch, um die wirtschaftliche Bedeutung
dieses Institutes richtig würdigen zu können, die Gründe in Augen-
schein nehmen, die zur Schaffung dieser Schifferbörse führten.
Die Duisburg-Ruhrorter Frachtbörse wurde ins Leben gerufen,
um einem Uebelstande abzuhelfen, unter welchem die großen kohlen-
verladenden Firmen, ebensosehr aber auch die einzelnen Rheinschiffer,
die sich mit der Beförderung von Kohlen befaßten, schwer zu leiden
hatten. Dieser Uebelstand lag in der Dezentralisation der nieder-
rheinischen Hafenentwicklung. Dem einzelnen Schiffer, der einen Ver-
frachter für sein Fahrzeug suchte, wurde der Ueberblick über die Nach-
frage, die in den einzelnen Häfen von Duisburg, Ruhrort, Duisburg-
Hochfelderhafen, Alsum, Walsum usw. nach Schiffsräumen vorlag, sehr
erschwert. Er konnte diesen Ueberblick dagegen gewinnen, wenn es
einen Ort gab, wo die Nachfrage aller kohlenverfrachtenden Firmen
des Ruhrgebietes sich konzentrierte. Ebenso ging es den Kohlenver-
ladern. Die prompte Beschaffung des nötigen Schiffsraumes für ihre
Kohlenverfrachtungen den Rhein hinauf und hinab war durch die
Dezentralisation in der niederrheinischen Hafenentwicklung nicht un-
wesentlich erschwert. Wenn dagegen eine Stelle vorhanden war, wo
das verfügbare Angebot sich täglich sammelte, so war diese Einrich-
tung im Interesse einer schnellen, vorteilhaften Abwickelung der
Kohlenverfrachtungsgeschäfte für die Verlader höchst wünschenswert.
So ist denn im Jahre 1899 die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse ent-
standen, weil die Verhältnisse des Kohlenverfrachtungsmarktes im
Ruhrdistrikt es forderten, und daß diese Börse heute einem Bedürfnis
der Beteiligten entspricht, das zeigt der zahlreiche Börsenbesuch. Nach-
dem in den ersten Jahren dieser Besuch allerdings ein spärlicher war,
begann im Jahre 1905, als man den Wirkungsbereich der Börse auf
die gesamten Ruhrhäfen erweiterte, eine Wendung zum Besseren einzu-
treten. Die Zahl der Mitglieder wuchs schnell, und man zählte im
Jahre 1908 bereits 64 verladende Firmen und 1125 Einzelschiffer, die
ihre Verfrachtungsgeschäfte regelmäßig auf der Schifferbörse ab-
schlossen, ungeachtet der täglich sich durch Tageskarten Eintritt ver-
schaffenden Schiffer, deren Zahl im Jahre 1908 4300 betrug.
Es bleibt noch übrig, zu untersuchen, welche Momente vorwiegend
auf das Kursniveau des Kohlenverfrachtungsmarktes im Ruhrgebiet
von bestimmendem Einfluß sind, die typischen Ursachen festzustellen,
welche die hin- und wieder auftretenden gewaltigen Kursschwankungen
an der Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse hervorrufen.
Da hat man zunächst mit der Tätigkeit des Kohlensyndikates zu
rechnen. Dieses erweitert oder beschränkt je nach den günstigen oder
492 Miszellen,
ungünstigen Absatzverhältnissen die Kohlenproduktion und Kohlenab-
gabe, was natürlich die Kurse der Frachten unmittelbar preissteigernd
bezw. preissenkend beeinflußt.
Doch ein weit wichtigeres kursbestimmendes Moment liegt in dem
jeweiligen Wasserstand des Rheines. Die elementaren Ereignisse, die
sich hieran knüpfen, Hochwasser, Eisgang, insbesondere aber niedriger
Wasserstand, sind es auch meistens, die größere Kursschwankungen
auf dem Verfrachtungsmarkt hervorrufen. Und der Wasserspiegel des
Rheines steigt und fällt bekanntlich ziemlich oft. Am gefürchtesten
sind bei den Kohlenverfrachtern die unvorhergesehenen niedrigen
Wasserstände, die, besonders, wenn sie andauern, unerhörte kurs-
steigernde Wirkungen ausüben. Infolge eines niederen Wasserstandes
wird nämlich die Ladefähigkeit der Kohlenkähne außerordentlich ver-
mindert, denn sie müssen, um einen bestimmten Tiefgang nicht zu
überschreiten, die Ladungen eventuell auf 3/, des Laderaumes und mehr
beschränken. Trotzdem kann leicht der Fall eintreten, daß infolge des
flachen Wassers größere Boote sich festfahren und dann bis zu ihrer
Flottmachung nicht selten den Schiffahrtsverkehr wesentlich hemmen.
Alle diese Momente bewirken natürlich ein Emporschnellen der Fracht-
kurse, So herrschte z. B. in den Herbsttagen des Jahres 1906 infolge
anhaltenden niederen Wasserstandes eine besonders stürmische Hausse-
bewegung auf dem Kohlenverfrachtungsmarkt, die den auf der freien
Frachtsuche befindlichen Schiffern ganz erhebliche Vorteile brachte,
während dagegen den durch Jahresverträge gebundenen Reedereien er-
hebliche Verluste aus dieser Kursbewegung entstanden,
Um ein Beispiel zu geben, welche Kursdifferenzen ein Nieder-
wasserstand mit sich bringen kann, sei gesagt, daß im Jahre 1907 in-
folge flachen Wassers der höchste Frachtkurs pro Kohlentonne nach
Mannheim M. 3,55 betrug, während nach einem vorliegenden Kurs-
zettel der Schifferbörse, der normale Kursnotizen zeigt, der Mannheimer
Frachtenkurs sich auf M. 0,60 pro Tonne stellt.
Hochwasser hat bei weitem nicht den Einfluß auf das Kursniveau
des Kohlenverfrachtungsmarktes wie das Niederwasser, und auf den im
Winter eventuell eintretenden Eisgang hat man sich in der Regel einge-
richtet, die großen Kohlenläger sind vorher geräumt, die Nachfrage
nach Schiffsraum sinkt, es tritt meistens Baissebewegung ein.
Mit den eben beschriebenen elementaren Ereignissen ist jedoch
die Zahl der kursbeeinflussenden Momente keineswegs erschöpft. Es
kommen noch weitere Bestimmungsgründe der Frachtenkurse hinzu,
vor allem die Größe des zu belastenden Schiffes. Auch sie
wirkt kursbestimmend, denn spezieli von der Länge und Breite des
Schiffes hängt es ab, ob das Fahrzeug für bestimmte Häfen und Ka-
näle geeignet ist oder nicht. So befördern größere Schiffe, wie uns
ein Blick in den Kurszettel zeigt, durchschnittlich billiger als mittlere,
und diese wieder billiger als kleine Fahrzeuge. Bei der Fungibilisierung
der Frachten hat man ja auch, wie bereits erwähnt, diesem Umstand
durch Aufstellung dreier Schiffsgrößenklassen Rechnung getragen. Mai:
gebend für den Frachtenkurs ist auch die Löschzeit, speziell ob die
Miszellen. 493
Löschung auf dem Strom, in den Docks oder auf den Saaten, d. h. auf
den bei der Ebbe trocken liegenden Löschplätzen stattfindet, ferner die
Frag, ob Rückladung zu erwarten ist, ob es sich um Teilladung
handelt und schließlich, ob der Schiffer durch seine persönlichen Ver-
hältnisse gezwungen ist, Fracht anzunehmen.
Doch noch andere Ereignisse, die zwar nicht regelmäßig, dafür
aber oft umso unerwarteter einzutreten pflegen, wirken alljährlich auf
den Kursstand an der Frachtenbörse ein. So brach z. B. im Juni des
Jahres 1907 auf den Rheinschleppbooten ein Heizer- und Maschinisten-
streik aus, der zunächst die Kurse der Schlepplöhne, dann aber auch
die Frachtenkurse in die Höhe trieb. In demselben Jahre kam auch
in Rotterdam ein großer Hafenarbeiterstreik zum Ausbruch, der bis
zum Oktober währte und die Lage der Dinge noch verschärfte. Denn
ein großer Teil der Rheinkohlenboote lag ungelöscht im Hafen von
Rotterdam und wurde infolgedessen dem Verkehr entzogen. Dazu kam
noch, daß zu gleicher Zeit große Mengen englischer Kohlen in Rotter-
dam für den Oberrhein verfrachtet wurden, alles Momente, die das
Angebot an Kohlenkähnen außerordentlich verringerten und die
Frachtenkurse steigerten. In gewöhnlichen Zeiten genügt sonst die
Menge des Schiffsraumes in jeder Hinsicht der Nachfrage.
Die eben beschriebenen kursbeeinflussenden elementaren und nicht
elementaren Ereignisse zeigen uns auch vor allen Dingen die Not-
wendigkeit einer schnellen und sicheren Orientierung über die Vor-
gänge auf dem Kohlenverfrachtungsmarkt. Und diese Orientierung
bietet heute die Duisburg-Ruhrorter Schifferbörse.
494 Miszellen.
XVI.
Die Rentabilität der russischen Aktiengesellschaften,
Von Dr. Claus- Berlin.
Bereits seit langer Zeit besitzt Rußland eihe amtliche Statistik
der Aktiengesellschaften. Die Gesellschaften werden dort einzeln
namentlich aufgeführt; manche Bedenken, die man sonst gegen rus-
sische Statistiken haben mag, denen oft größere Schwierigkeiten im
Wege stehen als Statistiken in anderen Ländern — es sei hier nur
auf den Mangel an Bildung in weiten Volksschichten erinnert —
können hier wegfallen, denn diese einzelne Aufführung ermöglicht eine
leichte Kontrolle. Auch über die älteren Aktiengesellschaften kann
man sich leicht orientieren, da in der „Vollständigen Sammlung der
Gesetze des Russischen Reiches“ alle Ukase, die sich auf Gründungen
beziehen und die auch die Satzungen der Gesellschaften enthalten, zu
finden sind; ein übersichtliches Sachregister erleichtert das Arbeiten
mit diesem wertvollen Riesenwerk 1).
Die amtliche Statistik, die im Jahrbuch des Finanzministeriums
veröffentlicht wird, ist keine Gründungsstatistik, sondern eine Renta-
bilitätsstatistik; ihr dienen die Bilanzen der Gesellschaften als Unter-
1) Um so mehr muß es wundern, daß trotz dieser leicht zugängigen Hilfsmittel
falsche Angaben über die russischen Aktiengesellschaften verbreitet bleiben. Selbst im
Handwörterbuch der Staatswissenschaften findet sich noch in der 3. Auflage, die eben im
Erscheinen begriffen ist, in dem Artikel über die Aktiengesellschaften in Rußland fol-
gender Satz: „1762 wird in Rußland eine Zettelbank, 1799 die russisch-amerikanische
Gesellschaft gegründet, die Vesselowsky in seinem nicht vollständigen Verzeichnis der
Aktiengesellschaften aus dem Jahre 1870 als die älteste anführt.“
Aber die hier erwähnte Zettelbank war 1) nicht die erste Aktiengesellschaft, so
wenig wie die russisch-amerikanische Gesellschaft, sondern die „Russische in Konstan-
tinopel handeltreibende Kompagnie“ war die erste russische Aktiengesellschaft. In dem
betreffenden Ukas, der am 24. Februar 1757 veröffentlicht wurde (Vollständige Sammlung
der Gesetze I Nr. 10694), findet sich das Wort „Aktie“ selbst an mehreren Stellen,
2) war sie keine Aktienbank, sondern eine Staatsbank und 3) bestand sie überhaupt
nicht; es war nur ein großzügiger Entwurf Peters III.; der Ukas, der vom 25. Mai 1762
gezeichnet ist (Vollständige Sammlung der Gesetze I Nr. 11550), blieb infolge der Er-
mordung des Zaren unausgeführt. Katharina II. nahm den Plan Peters 6 Jahre später
wieder auf, indem sie die Errichtung zweier Assignatenbanken befahl, die aber eben-
falls staatlich waren.
Auch in der deutschen Literatur ist bereits darauf hingewiesen, daß die russisch-
amerikanische Gesellschaft nicht, wie vielfach selbst in Rußland angenommen wurde,
die erste russische Aktiengesellschaft gewesen ist; so von Sodoffsky in seinem Auf-
satz über die Entwicklung der Aktiengesellschaften in Rußland und die Bestimmungen
vom 21. Dezember 1901. (Jahrbücher für Nationalökonomie u. Statistik, 3. Folge Bd. 26.
Jena 1903.)
Miszellen. 495
lagen. Die russischen Gesellschaften sind mit wenigen Ausnahmen
verpflichtet, ihre Bilanzen dem Finanzministerium einzureichen, die in
der Beilage zum „Boten für Finanzen, Industrie und Handel“ (also
ähnlich wie in den Beilagen zum deutschen „Reichsanzeiger“) abge-
druckt werden. Die Statistik teilt die namentlich aufgeführten Gesell-
schaften nach dem Gegenstand des Unternehmens in 14 Haupt- und 77
Untergruppen ein, so daß sich einzelne Branchen leicht herausgreifen
lassen. Von der Aktivseite der Bilanzen sind die Posten Grund-
besitz, Waren und Materialien, Debitoren, von der Passivseite Ak-
tienkapital, Reservefonds, Amortisationsfonds, Anleihen, Kreditoren für
jede einzelne Gesellschaft angegeben. Ferner ist außer dem Rohgewinn
und Verlust der Reingewinn bezw. Verlust und der Dividendenbetrag
aufgeführt; die Dividende ist auch in Proz. des Aktienkapitals wieder-
gegeben. Weiter ist das Geschäftsjahr genannt, auf das sich die An-
gaben beziehen und zugleich das wievielte es ist, so daß sich das
Gründungsjahr leicht erkennen läßt. Gesellschaften, die sich in Liqui-
dation, in Konkurs befinden, oder die aus irgendeinem Grund keine
Bilanz geliefert haben, sind mitaufgeführt und besonders kenntlich ge-
macht. Die Handels- und Hypothekenbanken und Versicherungsgesell-
schaften sind in dieser allgemeinen Statistik freilich nicht enthalten.
Die Bilanzen der Aktienbanken sowie die der staatlichen, kommunalen
und genossenschaftlichen Kreditanstalten sind im Jahrbuch des Finanz-
ministeriums an anderer Stelle zusammengestellt. Eine Uebersicht
bringt hier die Zahlen für die 14 Hauptgruppen der Aktiengesell-
schaften für die 10 letzten Jahre, so daß die allgemeine Aktiengesell-
schaftsstatistik hierdurch eine weitere Ergänzung erfährt.
Eine neben der amtlichen Statistik einhergehende besondere Sta-
tistik über die Rentabilität der Aktiengesellschaften hat eine vor einigen
Jahren gegründete Vereinigung von Handels- und Gewerbetreibenden,
welche die etwas lange Firma „Ausschuß des Kongresses der Vertreter
von Industrie und Handel“ führt, aufgemacht. Die Vereinigung, die
ihren Sitz in Petersburg hat, bestrebt die Förderung von Industrie
und Handel, ähnlich dem Deutschen Handelstag. Sie gibt eine Halb-
monatschrift „Industrie und Handel“ heraus, in der sie auch ihre Sta-
tistik veröffentlicht. Diese weitere Rentabilitätstatistik beruht ebenfalls
auf den Bilanzen, die im russischen „Boten“, wie er kurz genannt sei,
abgedruckt sind. Es sind dabei aber nur die Aktiengesellschaften be-
rücksichtigt, die während des ganzen Jahrfünfts 1901/05 bestanden und
Bilanzen veröffentlicht haben; es sind also alle Gesellschaften aus-
geschieden, die nach 1901 gegründet wurden oder während dieser Zeit
eingegangen sind.
Im ganzen bestanden nach der amtlichen Statistik 1901 in Ruß-
land 1393, 1905: 1411 Gesellschaften, deren Kapital 1,89 bezw. 2,15
Milliarden Rubel betrug, hierzu sind noch 66 Banken und Versiche-
rungsgesellschaften mit 0,3 Milliarden Rubel Kapital zu zählen, da die
private Rentabilitätstatistik diese mitumfaßt, während die amtliche dies
nicht tut. Die Statistik des Verbandes hat die Bilanzen von 1106
Gesellschaften mit einem Kapital von 1,93 in 1901 und 2,03 Milliarden
496 Miszellen.
in 1905 bearbeitet. Die Zahl uud das Kapital der ausgeschiedenen
Gesellschaften ist ja verhältnismäßig gering, es ist auch in gewisser
Weise berechtigt, daß neue Unternehmungen zunächst unberücksichtigt
bleiben, da ihre Rentabilität naturgemäß niedriger zutage treten muß,
weil neue Gesellschaften erst ins Geschäft kommen müssen. Wenn aber
Gesellschaften in Konkurs geraten oder liquidieren, so wird das doch
in den meisten Fällen für die Rentabilität eines Gewerbes kein gutes
Zeichen sein.
Eingeteilt sind in der Statistik des Verbandes die Gesellschaften
in 3 Gruppen: 1) in solche, die während des Jahrfünfts ständig Dividende
zahlten, 2) in solche, die teils Dividende zahlten, teils Verluste auf-
wiesen und 3) in solche, die nur Verluste erlitten. Für jede dieser
3 Gruppen ist das Aktienkapital angegeben, für die beiden ersten ferner
der Betrag der Dividende in absoluten Zahlen und in Prozenten vom
Aktienkapital, für die beiden letzten Gruppen der Betrag des Jahres-
verlustes nur in absoluten Zahlen für jedes der fünf Jahre. Alle diese
Zahlen sind für 25 Gewerbegruppen gegeben, in welche die Gesell-
schaften eingeteilt sind; einzeln aufgeführt sind die Gesellschaften in
dieser Statistik nicht.
Dem Jahresverlust entspricht der Reingewinn, nicht die Dividende.
Die Rentabilität eines Unternehmens ergibt sich aus dem Reingewinn
(allerdings läßt sich auch durch die Bilanzierung, besonders durch Ab-
schreibung und höhere Bewertungen von Beständen ein Reingewinn er-
rechnen, welcher der Rentabilität nicht entspricht). Wieweit der Rein-
gewinn verteilt wird, wieweit er zu Reservestellungen, außerordent-
lichen Abschreibungen oder zu Vorträgen auf das nächste Jahr über-
nommen wird, hängt von den Generalversammlungsbeschlüssen ab. Die
Rentabilität der Gesellschaft kann größer sein als es nach der für die
Aktionäre bestimmten Dividende scheint, wenn große Summen vom
Reingewinn auf das nächste Jahr übertragen werden, sie kann auch
kleiner sein, denn es können Reserven zur Dividendenauszahlung
herangezogen werden. Erinnert sei hier noch an das Bestreben vieler
Gesellschaften, eine möglichst gleichmäßige Dividende jedes Jahr aus-
zuschütten, in guten Jahren also etwas weniger, in schlechten dafür
etwas mehr als eigentlich verdient ist; sie schaffen sich dann einen
sogenannten Dividendenausgleichungsfonds an. Die Dividenden geben
also nicht immer ein genaues Bild der Rentabilität der Gesellschaft
selbst. Da die Vorträge aus dem Vorjahr bei der Gewinnverteilung
berücksichtigt werden, Entnahme aus dem Reservefonds zu vorsichtigerer
Bilanzierung zwingen, die Statistik auch für fünf Jahre aufgemacht ist,
so dürfte sich dieser Unterschied in der Hauptsache ausgleichen; die
Ergebnisse der einzelnen Jahre werden nur etwas verschoben.
Auf die Rentabilität hat nicht nur das Aktienkapital, sondern auch
die Reserven, Anleihen und Bankschulden, sowie die Zinsen für die beiden
letzten Einfluß. Man vergleicht deshalb vielfach den Reingewinn mit dem
Aktienkapital zuzüglich der Reserven, um die Rentabilität des gesamten
werbenden Kapitals zu ermitteln. Zum werbenden Kapital rechnet man
in manchen Statistiken auch noch die Anleihen und die Bankschulden
Miszellen. 497
hinzu; wenn man mit dieser Summe den Reingewinn vergleichen will,
muß man zu letzterem noch die Schuldenzinsen hinzuzäblen. Solche
weiteren Berechnungen stellt die hier besprochene Statistik nicht an.
Insofern ist auch diese russische Statistik noch nicht so weit aus-
gebaut, wie ähnliche Statistiken anderer Staaten. Die Reserven wären
wohl leicht zu berücksichtigen gewesen. Anleihen und Bankschulden
und besonders deren Zinsen lassen sich aber nicht immer aus den
Bilanzen der russischen Gesellschaften erkennen. Trotz dieser Ein-
schränkungen dürfte die Statistik ihren Zweck im allgemeinen erfüllt
haben, nämlich die Wirtschaftlichkeit der Kapitalanlagen in Aktien
in den einzelnen Gewerben während des Jahrfünfts 1901/05 zu zeigen.
Ein Bild von der Verteilung der 1106 Gesellschaften auf die drei
Gruppen gibt nachstehende Uebersicht.
Betrag des Kapitals 1905
Zahl der Gesellschaften
| Proz. |in 1000 Rub.| in Proz.
I. Ständig ertragreich 530 47,9 I 111 874,7 54,7
U. Nicht ständig ertragreich 392 35,4 637 688,1 31,4
II. Ständig verlustbringend 184 | 16% 281 591.8 13,9
Da die Prozentzahl des Kapitals in der I. Gruppe größer ist als die
der Gesellschaften, so läßt sich erkennen, daß die großen Gesellschaften
gewinnbringender arbeiten als die kleinen. Die Zahl und das Kapital
der ständig mit Verlust abschließenden Gesellschaften sind recht be-
trächtlich, dennoch aber zu niedrig, weil ein Teil der liquidierenden
und die meisten der in Konkurs verfallenen Gesellschaften noch hierher
gehören.
Hiernach betrachtet stellt sich die Rentabilität für die einzelnen
Gewerbe recht verschieden. Am stärksten in der I. Gruppe, an den
stetig ertragreichen Unternehmungen, waren beteiligt: Kreditanstalten
(87,7 Proz), Handelsunternehmungen (84,9 Proz.), Leinenindustrie
(75,0 Proz.), Seidenindustrie (68,9 Proz.); am wenigsten beteiligt waren:
Gold- und Platinbergwerke (14,3 Proz.), Naphthaindustrie (22,9 Proz.),
Transportgewerbe (28,2 Proz.), Steinkohlenbergwerke (34,4 Proz.). Ver-
bältnismäßig die meisten zur III. Gruppe zu den Gesellschaften, die im
Jahrfünft nur Verlust brachten, stellten: Gold- und Platinbergwerke
(42,8 Proz.), Naphthaindustrie (28,6 Proz.), Metallindustrie (27,6 Proz.).
Am geringsten waren in dieser Gruppe vertreten: Seidenindustrie (O Proz.),
Handelsunternehmungen (1,9 Proz.), Kreditanstalten (2,5 Proz.), Zucker-
(7,6 Proz.) und Papierindustrie (7,7 Proz.).
Hiernach schnitten Kreditgesellschaften, Handel-, Seiden- nnd Leinen-
industrie am besten, Gold- und Platinbergwerke, Naphtha-, Transport-
und Metallindustrie am schlechtesten ab.
Setzt man das gesamte Aktienkapital der Gesellschaft der Gruppe I
in Beziehung zur Summe der von ihnen gezahlten Dividende, so erhält
man für das Jahrfünft eine durchschnittliche Verzinsung von 9 Proz.
Die einzelnen Jahre weichen hier nur wenig voneinander ab, die Ver-
zinsung betrug 1901: 8,9 Proz., 1902: 9 Proz., 1903 und 1904: 9,2 Proz.,
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 32
498 Miszellen.
1905: 8,7 Proz. Für die einzelnen Gewerbe sind die Dividenden und
Erträgnisse wiederum sehr verschieden. Sie waren im Durchschnitt
am höchsten bei den Versicherungsgesellschaften (14,6 Proz.), Zucker-
industrie (14,0 Proz.), Chemische Industrie (13,5 Proz.), Naphthaindustrie
(12,7 Proz.), Baumwollindustrie (11,0 Proz.), Kreditanstalten (10,4 Proz.).
Hier weist die Naphthaindustrie zwar hohe Dividende nach, es sind
aber in dieser Gruppe I nur !/, aller Naphthaunternehmungen, während
Al, auf die nicht ständig ertragreichen und die verlustbringenden Ge-
sellschaften entfallen. Die geringsten Erträge zeigen im Durchschnitt
des Jahrfünfts in der Gruppe I die Seidenindustrie (2,8 Proz.), Woll-
industrie (5,0 Proz.), Transportgewerbe (5,2 Proz.).
Die 392 Gesellschaften der II. Gruppe, die teils Dividenden zahlten,
teils Verlust während des Jahrfünfts aufwiesen, haben Dividenden-
summen gezahlt, die eine durchnittliche Verzinsung des Aktienkapitals
von 2,2 Proz. darstellen. Die Summe der während 1900—1905 erlittenen
Verluste macht 1,2 Proz. aus, so daß sich eine Rentabilität dieser Ge-
sellschaften von durchschnittlich 1 Proz. ergibt. Am besten schneiden
hier die Handelsunternehmungen ab, die allerdings in dieser Gruppe nur
schwach vertreten sind, und die Zuckerfabriken, von denen 44,3 Proz.
hier gezählt sind. Die Summe der Verluste überwiegt die der Dividenden
bei den Steinkohlenwerken, metallurgischen Werken und Eisengruben.
Gruppe III, die 184 Gesellschaften mit 281,59 Mill. Rubel Aktien-
kapital, die ihren Aktionären Jahr für Jahr Enttäuschungen bereiteten,
weisen zusammen in den 5 Jahren 56,39 Mill. Rubel Verlust nach; auf
das durchschnittliche Aktienkapital berechnet ergibt das einen jähr-
lichen Verlust von 4 Proz. Mit den größten Verlusten ist hier Metall-
verarbeitung und Maschinenbau vertreten mit 5,2 Proz. Verluste, der
Gold- und Platinbergbau mit 5 Proz. und die metallurgischen Werke
mit 4,7 Proz. Verlust.
Faßt man, was die Statistik allerdings nicht tut, die 3 Gruppen
zusammen und setzt das gesamte Aktienkapital ins Verhältnis zur ge-
samten ausgeschütteten Dividende, so erhält man die Rentabilität vom
Standpunkte des Aktionärs; sie beträgt durchschnittlich für das Jahr-
fünft 5,59 Proz. Nach derselben Methode berechnet, ergibt sich für
die einzelnen Industrien folgendes durchschnittliche Erträgnis während
des Jahrfünfts: Baumwollindustrie 5,89 Proz., Banken 9,52 Proz,
Metallindustrie 3,6 Proz., Zuckerindustrie 8,8 Proz., Kohlenbergwerke
3,61 Proz., Metallurgische Werke 4,1 Proz., Naphthaindustrie 4,41 Proz.
(hier brachte gerade 1905 einen sehr starken Rückgang des Erträg-
nisses), Gold- und Platinwerke 1,24 Proz.; hier tberstiegen die Ver-
luste die Dividenden; diese Industrie schneidet am schlechtesten ab.
Mit wenig mehr Aufwand von Mühe und Zeit hätte der Verband
seine Statistik erweitern und die Rentabilität auch vom Standpunkte
der Gesellschaften darstellen können, wenn er die Einteilung nach Er-
trägnisgruppen fortgelassen und statt der Dividenden den Jahresrein-
gewinn abzüglich des Jahresreinverlustes ins Verhältnis zum Aktien-
kapital zuzüglich Reserven gesetzt hätte. Es ist zu hoffen, daß der
Verband seine Statistik in dieser erweiterten Form fortsetzt.
Miszellen, 499
XVII.
Reichskommission und Statistik über Wohnungsreform
und Stadterweiterung.
Von Dr. Strehlo w - Oberhausen.
Im Reichstag haben die Nationalliberalen mit Unterstützung eines
Teiles der Freisinnigen zur Frage der Wohnungsreform folgenden An-
trag eingebracht: Der Reichstag wolle beschließen: In Erwägung, daß
das Vorgehen einzelner deutscher Staaten auf dem Gebiete der Woh-
nungsreform dringend zusammenfassender allgemeiner Zielpunkte bedarf,
durch welche dieses Vorgehen geklärt, gekräftigt und einheitlicher wird,
den Herrn Reichskanzler zu ersuchen: 1) eine Kommission einzuberufen,
die aus amtlichen Vertretern des Reiches und einzelner Bundesstaaten,
aus Mitgliedern des Reichstages und anderen in der Wissenschaft und
Praxis der Wohnungsfrage erfahrenen Männern bestehen, ein einheit-
liches Programm für die Lösung der Wohnungsfrage schaffen, besonders
auch folgende Punkte klären soll: a) ob die Heranziehung fremder,
privater, besonders aber auch staatlicher und kommunaler Mittel für
den Kleinwohnungsbau allgemeiner und weitgehender als bisher ins
Werk zu setzen sei, teils durch Vermittelung der Invalidenversiche-
rungsanstalten, teils durch Einrichtungen, welche für diesen Zweck be-
sonders geschaffen seien; b) welche Maßregeln in bezug auf die bau-
und wohnungspolizeilichen Vorschriften sowie für die Behandlung der
Bodenfrage vorzuschlagen seien, damit die Wohnungen der minder-
bemittelten Klassen einerseits gemäß den Ansprüchen der Gesundheit
und Sittlichkeit, andererseits auch zu wirtschaftlich erschwingbaren
Mietpreisen hergestellt werden können. 2) Das Kaiserliche Statistische
Amt, insbesondere die Abteilung für Arbeiterstatistik, ist zu beauftragen,
baldmöglichst in einigen ausgewählten typischen Orten verschiedener
Größe und Charakters wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und
zu veröffentlichen: a) über die Art, wie dort die Stadterweiterung, be-
sonders die private Aufschließungstätigkeit, vor sich geht, über die
Schwächen dieses Systems und über die Frage, ob sich die vielfach
hervorgetretenen Uebelstände der übermäßigen Bodenpreise, des Bau-
schwindels usw. nicht zum guten Teil aus diesen Schwächen erklären;
b) über die Organisation, die Leistungsfähigkeit und die tatsächlichen
32*
500 Miszellen.
Leistungen der privaten Bautätigkeit gegenüber den auf diese Bautätig-
keit angewiesenen Wohnungsbedürfnissen.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Durchführung dieses An-
trages geeignet ist, auf die Klarstellung dieser so wichtigen Materie
befruchtend einzuwirken und zu Maßnahmen von großer wirtschaftlicher
Bedeutung zu führen. Wenn auch die Gemeinden vor wie nach die
berufenen Träger der Boden- und Wohnungspolitik bleiben werden und
bleiben müssen, so ergeben sich doch auch hier eine ganze Anzahl
Aufgaben höherer Natur, die sich nur im größeren Rahmen des Reiches
und der Einzelstaaten lösen lassen. Gerade auf diesem Gebiete stehen
sich außerdem die Ansichten vielfach schroff gegenüber. Die Viel-
seitigkeit des Stoffes, der Volkswirtschaft, Rechtswissenschaft und
Technik gleichmäßig umfaßt, das Naheliegen von Ursache und Wirkung
und die Verschiedenheit der örtlichen Verhältnisse wirken hier zu-
sammen, und haben es zu einem klaren Bilde trotz der umfangreichen
Literatur noch nicht kommen lassen. Die bestehende Literatur ist dazu
vielfach in einer gewissen Einseitigkeit befangen, bietet mehr Theorie
als Praxis und ist zu leicht geneigt, Einzelbeobachtungen ohne Unter-
suchung der besonderen Verhältnisse zu verallgemeinern. Es fehlt an
eingehenden, wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen. Diesem Bedürf-
nisse sucht der nationalliberale Antrag in dankenswerter Weise gerecht
zu werden. Es ist hier vielleicht der Ort, auf einzelne große Gesichts-
punkte kurz einzugehen.
Die Wohnungsfrage ist in erster Linie eine Bodenfrage. Die ex-
treme Gruppe der Bodenreformer glaubt an eine durchgreifende Lösung
dieser Frage nur unter dem Zwange eines Einteignungsgesetzes, durch
die Verstadtlichung des Grund und Bodens im sogenannten schmalen
Rande. Hiergegen ist nun einzuwenden, daß die städtische wie die
ländliche Grundrente in durchaus natürlicher Weise entsteht durch
Gunst der Lage im Einzelnen wie im Ganzen, und daß sie deshalb auch
nicht durch die Verstadtlichung beseitigt werden kann. Ein Eckgrund-
stück in guter geschäftlicher Lage oder nahe am Zentrum wird stets
mehr wert sein, nach der Bebauung stets höhere Mieten bringen als
ein Grundstück in einer abgelegenen Gasse oder am Rande der Stadt.
Wie will die Bodenreform diesen Unterschieden gerecht werden, ohne
auf den alten Zustand, wenn auch in veränderter Form, zurückzugreifen ?
Der Vorschlag derselben teilt durchaus die Mängel des Zukunftsstaates
und ist ebensowenig praktisch durchführbar wie dieser. Es kann
nicht auf eine Beseitigung der Grundrente ankommen, die der Natur
der Dinge entspricht, sondern nur auf eine Milderung der bestehenden
Verhältnisse, auf ein Zurückschrauben der Grundrente auf das natür-
liche Maß, und hier entsteht die Frage, ob dies nicht auch mit den vor-
handenen Mitteln möglich ist.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese beschränkte Aufgabe schon
dann gelöst werden kann, wenn nur ein Teil des städtischen Bodens
im Dienste der Bodenreform steht, wobei vorausgesetzt ist, daß dieser
Teil so groß ist, daß er geeignet erscheint, durch sein Eintreten in den
Miszellen. 501
Grundstücksmarkt die Preise zu beeinflussen. Der Erwerb einer solchen
Fläche, die im Einzelnen weder der Lage noch der Größe nach ge-
bunden ist, wie dies bei Enteignungsunternehmen der Fall ist, läßt sich
stets ohne besondere Schwierigkeit freihändig durchführen. Schreiber
dieses bearbeitet zurzeit die Boden- und Wohnungsfrage des rheinisch-
westfälischen Industriebezirkes und stellte dabei fest, daß der Groß-
industrielle Thyssen im Kreise Dinslaken durch seine Gewerkschaft
„Deutscher Kaiser“ etwa 2000 ha freihändig angekauft hat und hiermit
noch fortfährt. Es ist dies meines Wissens das erste Beispiel einer
zielbewußten Bodenpolitik der Industrie in derartigem Umfange, denn
Thyssen besitzt zurzeit schon weit mehr als die Hälfte der Gesamtfläche
in größerem Umkreise. Obwohl er für seine bergbaulichen Unternehmen
vielleicht nur ein Zehntel der erworbenen Fläche nötig hat und obwohl
ihm hierfür das Enteignungsrecht zur Seite steht, hat er es doch vor-
gezogen, diese große Fläche freihändig zu erwerben, um sich die durch
seine Anlagen zweifellos eintretende Wertsteigerung in der einen oder
anderen Weise zunutze zu machen. Er hat damit zugleich den Beweis
erbracht, daß auch ohne Enteignungsrecht auszukommen ist.
Bereits seit einer Reihe von Jahren stellt man den Gemeinden die
Aufgabe, zielbewußte Bodenpolitik zu treiben und sich einen größeren
Grundbesitz zu sichern. Wie die Statistik lehrt, sind bereits viele Städte
diesem Rufe gefolgt, aber sie haben sich meist nur auf den Erwerb der
Flächen zur eigenen Verwendung beschränkt, oder sie halten auch da,
wo sie über diesen Eigenbedarf hinausgingen, die Flächen zurück, um
später höhere Preise erzielen zu können. Durch dieses Verfahren ent-
ziehen die Gemeinden dem Grundstücksmarkt erhebliche Flächen und
tragen dadurch zur Versteifung desselben und zur Verschärfung der
Monopolstellung des Grundbesitzes bei. Soweit sie sich auf den Eigen-
bedarf beschränken, dessen zeitiger Erwerb aus vielen Gründen durch-
aus notwendig ist, wird man dies als ein notwendiges Uebel betrachten
müssen; mit der langen Zurückhaltung einer etwaigen Mehrfläche
stellen sich aber die Gemeinden in die Reihen der Bodenspekulation
und es ist sehr fraglich, ob eine spätere gute Preispolitik diese Nach-
teile ausgleichen kann.
Wollen die Gemeinden bodenpolitisch wirksam vorgehen, so müssen
sie weit über ihren eigenen Bedarf hinaus Grundbesitz erwerben und
diesen nach Aufteilung der Bebauung zugänglich machen durch Verkauf
mit Bauverpflichtung oder durch Verpachtung in Erbbaupacht. Sie
müssen durch ein gesundes, eigenes Terraingeschäft mit reichlichem
Angebot den Grundstücksmarkt flüssiger zu gestalten und ihn durch
eine gesunde, gemeinnützige Preispolitik zu beherrschen suchen. Nur
wenig Städte — und meist nur im einzelnen Falle — sind in dieser
Weise durchgreifend vorgegangen und haben damit durchweg die besten
Erfahrungen gemacht. Wenn die Forderung der extremen Bodenreform
als zu weitgehend abgelehnt werden muß, so ist dies zur durchgreifenden
Lösung der Bodenfrage der nächstliegende gangbare Weg. Das Be-
denken, die Gemeinden mit einer solch umfangreichen wirtschaftlichen
502 Miszellen.
Aufgabe zu betrauen, ist rein formaler Natur und auch schon durch
die Praxis überholt.
Die Durchführung dieses Verfahrens, das naturgemäß mit der
Stadterweiterung Hand in Hand zu gehen hätte, hat einen umfang-
reichen Gemeindebezirk zur Voraussetzung, denn solche Flächen können
nur in den Außenbezirken, in der sogenannten Feldmark, erworben
werden und die Gemeinde muß der ihr gestellten Aufgabe auf eigenem
Gebiete gerecht werden können. Die Eingemeindungen der letzten
Jahre haben nach dieser Richtung in günstigster Weise vorgearbeitet,
und es bleibt nur zu hoffen, daß hierin kein Stillstad eintritt, denn es
steckt in diesen Eingemeindungen auch ohnedem ein gutes Stück Boden-
politik.
Ein solches Terraingeschäft erfordert aber starke Initiative und
erhebliche Mittel. Die Organisation und die finanzielle Lage der Ge-
meinden läßt beides meist vermissen, und es wird ohne Zwang kaum
eine allgemeinere Durchführung zu erreichen sein. Zunächst wie sollen
die Mittel aufgebracht werden? Die Höhe der Erträgnisse der Wert-
zuwachssteuer ist, gleiche Erhebungsgrundlagen vorausgesetzt, der beste
Maßstab für die Dringlichkeit der Bodenfrage in den einzelnen Ge-
meinden. Sie können deshalb kaum eine naturgemäßere Verwendung
finden als zu diesem Zwecke. Ein Teil der Grundrente wird in Grund
und Boden angelegt und erzeugt wieder Grundrente. Die Einnahmen
aus der Wertzuwachssteuer kommen so in doppelter Weise der All-
gemeinheit zugute, einmal durch die Einwirkung des städtischen Terrain-
geschäftes auf den privaten Grundbesitz, die in den Mieten zum Aus-
druck kommt, dann durch die Einnahme aus dem gemäligten Wert-
zuwachs des städtischen Besitzes, der außerdem vortrefflich geeignet
erscheint, die Kreditbasis der Gemeinden zu verstärken. Diese Art der
Verwendung der Einnahmen aus der Wertzuwachssteuer erscheint mir
so naturgemäß, ihre Wirkung bodenpolitisch so durchgreifend, daß ich
empfehlen möchte, sie zum Gesetz zu erheben.
Bedeutsam wäre hier die Erörterung der Frage, ob die Bereit-
stellung der Erträgnisse der angekündigten Reichswertzuwachssteuer
zu gleichem oder ähnlichem Zwecke angebracht ist. Ich muß diese
Frage hier offen lassen, möchte aber doch bemerken, daß auch diese
Erwägung zu dem Schlusse führen muß, daß es zweckmäßiger erscheint,
die Wertzuwachssteuer den Gemeinden zu überlassen.
Das städtische Terraingeschäft bietet außerdem das beste Gegen-
gewicht gegen vorhandene ungesunde private Terraingesellschaften.
Ich muß gestehen, daß ich diese Gesellschaften lange nicht so schlimm
einschätze als dies gewöhnlich zu geschehen pflegt. Der landläufige
Bodenwucher ist meines Erachtens weiter nichts als ein politisches
Schlagwort, das durch die Verallgemeinerung einiger außergewöhnlicher
Auswüchse entstanden ist. Die von der nationalliberalen Partei bean-
tragte Enquete dürfte geeignet sein, hier Klarheit zu schaffen.
Und nun der Kleinwohnungsbau. Zu diesem Thema findet man in
PAY)
Miszellen. 503
der Broschüre von Cesar Strauss (Die praktische Lösung der Wohnungs-
frage mit Hilfe des Erwerbskapitals, 1905, Frankfurt a. M.) sehr be-
achtenswerte Ausführungen. Strauss sucht der bekannten Tatsache, daß
gerade der Kleinwohnungsbau mit 2 und 3 Zimmern trotz seiner be-
wiesenen und sichereren Rentabilität vernachlässigt wird, auf den Grund
zu gehen und kommt zu folgendem Schluß: „Die Spalte zwischen Haus-
besitzer und Mieter ist zu groß geworden durch die veränderten Lebens-
anschauungen der Parteien, als daß sich Bauunternehmer und Kapitalist
noch mit dem persönlichen Verkehr mit einer großen Anzahl Parteien
in einem Hause, mit der Vermietung der Wohnungen, der Besorgung
der kleinen Reparaturen, der Einziehung der Miete, der Erledigung be-
hördlicher Vorschriften, Schlichtung von Mietsstreitigkeiten usw., mit
anderen Worten der vollständigen Verwaltung der Häuser mit kleinen
Wohnungen befassen wollten.“ Darum will er ein Bindeglied schaffen
zwischen dem Mieter und dem Besitzer des Hauses mit kleinen Woh-
nungen. Zu dem Zwecke hat er eine Aktiengesellschaft gegründet,
welche dem Besitzer die Verwertung und Verwaltung solcher Häuser,
den ganzen Verkehr mit den Einzelparteien gegen eine geringe Gebühr
abnimmt, auch die kleinen Reparaturen für ihn besorgt. Diese Gesell-
schaft gedeiht seit 10 Jahren. Die Tatsache des Mangels an Klein-
wohnungen, die sich in Industriebezirken besonders fühlbar macht, ist
nicht zu bestreiten, und die von Strauss gegebene Erklärung dieser
Tatsache ist zweifellos die richtige. Sein Versuch zur Lösung dieser
Frage durch eine Verwaltungsgesellschaft nach englischem Muster ist
höchst beachtenswert, und es wäre zu wünschen, daß solche Gesell-
schaften sich in Deutschland allgemeiner einführten. Es dürfte eine
dankenswerte Aufgabe für die Haus- und Grundbesitzervereine sein,
derartige Gesellschaften ins Leben zu rufen und dieselben vielleicht
noch mit einer Versicherung gegen Mietausfall zu verbinden, wodurch
auch ein altes Problem seine Lösung finden würde.
Die Frage des Kleinwohnungsbaues ist besonders dringlich in den
Industriebezirken, da hier die wirtschaftlich schwache Arbeiterbevölke-
rung vorherrscht, die schon ohnehin einen verhältnismäßig größeren Teil
ihres Einkommens für ihr Wohnbedürfnis anlegen muß als die wohl-
habendere Klasse. Wir haben hier das Bild einer rasch fortschreitenden
Entwicklung auf großer Fläche, eine Anzahl städtischer Zentren in naher
Folge. Die Zeit liegt bei dem raschen Anwachsen der Bevölkerung
nicht fern, in der die Industriebezirke eine geschlossene städtische Ent-
wicklung mit allen ihren Schattenseiten zeigen wird. Die Lösung der
Boden- und Wohnungsfrage ist deshalb hier besonders schwierig, aber
auch besonders dringlich. Neben der Allgemeinheit hat hier die In-
dustrie das meiste Interesse an dieser Lösung. Gemeinde und Industrie
müssen deshalb zusammenwirken, letztere durch die wohnungspolitische
Ausnutzung ihres teilweise sehr erheblichen Nebenbesitzes. Hier scheinen
zurzeit, da die Bodenpreise noch verhältnismäßig mälig sind, stellenweise
noch die notwendigen Vorbedingungen für das Ein- und Zweifamilien-
haus und damit für das Bauen in Erbbaupacht gegeben zu sein. Wenn
504 Miszellen.
überhaupt das Erbbaurecht in Deutschland lebensfähig ist, so muß es
hier sein, wo es sich um kleine, leicht amortisierbare Häuser handelt,
und die Industrie ist wohl gerne bereit, ihren brachliegenden Besitz auf
absehbare Zeit gegen eine mäßige Entschädigung zum Bau von Arbeiter-
wohnungen zur Verfügung zu stellen. Es käme nur darauf an, dieser
Entwicklung die finanzielle Grundlage zu bieten, vielleicht durch Ein-
richtung von Rentenbanken.
Ich kann auf die nähere Erörterung dieser Materie wie so vieler
anderer in diesem Rahmen nicht eingehen. Man sieht aber, daß der
Stoff, zu dem die Reichswohnungskommission Stellung zu nehmen hätte,
recht umfangreich ist, und es ist vorauszusehen, daß derselbe ihr unter
den Händen wachsen wird, wenn erst die Erhebungen abgeschlossen
sind. Die Arbeit der Kommission wäre schon dann reichlich gelohnt,
wenn es ihr gelänge, auf diesem vielseitigen und wichtigen Gebiete
Klarheit und Anregungen für die Praxis zu schaffen. Man kann des-
halb nur hoffen, daß der Antrag zur Annahme gelangt.
Miszellen. 505
XVIII.
Die Brotpreise in Berlin im Jahre 1909.
Von Dr. Hans Guradze.
Mit einer graphischen Darstellung.
Die Brot-, Mehl- und Getreidepreise in Berlin gestalteten sich im
Jahre 1909 pro 100 kg in Mark oder 1 kg in Pfennigen folgender-
malen
Roggen von Weizenmehl | Weizen von
guter Durch- | Weizen- | No. 00 (nach | guter Durch-
schnitts- brot der Reichs- schnitts-
beschaffenheit statistik) \beschaffenheit
16,74 51,67 27,25 20,97
16,83 51,73 27,75 21,96
17,17 52,07 29,00 23,08
17,71 52,22 32.50 24,25
18,70 53,15 34,50 25,98
19,55 56,47 35,50 26,80
19,40 56,49 36,00 26,08
17,89 56,46 35,00 24,19
17,36 55,22 29,50 21,38
17,07 54,64 29,25 22,08
16,70 55,15 29,25 21,78
16,62 55,12 29,25 22,27
Jahr 1909 | 30,21 | 22,25 | 17,65 | 5420 | 31,23 | 23,39
Für die Jahre 1899—1908 sind die entsprechenden Zahlen im
6. Hefte (Juni 1909) 3. Folge 37. Bd. dieser Jahrbücher S. 807 ff.
veröffentlicht.
Die für das Jahr 1908 beobachtete Verminderung des Roggenbrot-
preises hält bis Februar 1909 an, von da hebt sich der Stand zunächst
langsam, dann ziemlich stark, jedoch weit unter der Höhe von 1908
bleibend bis Juli, um bis zum Jahresschluß ständig zu fallen, wo der
Preis fast genau dem Dezemberpreis von 1908 gleich ist.
Der Weizenbrotpreis, der in den beiden letzten Monaten von 1908
gesunken war, stieg 1909, zuerst langsam, dann besonders vom Mai zu
Juni rapide, ununterbrochen bis Juli, wo er das Maximum der letzten
Jahre erreichte; von da an nimmt er ab. Jedoch steht der Weizen-
brotpreis im Dezember 1909 immer noch um 7,59 Proz. höher, als im
gleichen Monat des Vorjahres.
Das Gewicht des Fünfzigpfennigbrotes hatte 1908 mit 1,57 kg den
tiefsten Stand seit 1886. Die seit 1905 zu bemerkende Gewichts-
abnahme ist 1909 in das Gegenteil umgeschlagen.
506 Miszellen.
Die Tabelle der Jahresdurchschnittssätze bietet folgendes Bild:
Roggenbrot- Gewicht des Roggenmehl- Roggenpreis
Jahr preis Fünfzig- preis Dro,
pro 100 kg pfennigbrotes pro 100 kg 100 kg
M. kg M. M.
1886 20,80 2,40 17,91 13,06
1887 20,65 2,42 17,06 12,09
1888 21,22 2,36 18,90 13,45
1889 24,69 2,02 21,77 15,55
1890 27,18 1,84 23,45 17,00
1891 31,66 1,58 29,05 21,12
1892 29,52 1,70 23,97 17,60
1893 21,89 2,28 17,69 13,37
1394 20,43 2,45 15,47 11,77
1895 20,63 2,42 16,50 11,98
1896 20,93 2,39 16,30 11,88
1897 22,30 2,24 17,44 13,01
1598 25,15 1,99 20,12 14,63
1899 24,21 2,07 19,37 14,60
1900 23,96 2,09 19,31 14,26
1901 24,23 2,02 18,86 14,07
1902 24,21 2,07 19,61 14,42
1903 23,83 2,09 17,97 13,23
1904 23,50 2,12 17,55 13,51
1905 24,30 2,06 19,07 15,19
1906 27,06 1,85 21,00 16,06
1907 30,82 1,62 25,35 19,32
1908 31,78 1,57 23,77 18,65
1909 30,21 1,66 22,25 17,65
Die Durchschnittspreise der bezeichneten Jahre sind in Prozent
gestiegen (+) oder gefallen (—):
Roggenbrot Roggen Weizenbrot Weizen
1886 auf 1887 — 0,72 — 7,43 í A
1887 „ 1888 + 2,76 + 11,25 P a
1888 „ 1889 + 16,35 + 15,61 . À
1889 „ 1890 + 10,09 + 9,32 e >
1890 „ 1891 + 16,48 + 24,24 ` .
1891 „ 1892 — 6,76 — 19,67 — 7,08 — 21,32
1892 „ 1893 — 25,85 — 24,03 — 13,1 — 14,12
1893 „ 1894 — 6,67 — 11,95 — 6,69 — 10,17
1894 „ 1895 + 0,98 + 1,78 — 1,82 + 4,70
1895 „ 1896 + 145 — 0,88 + 2,78 + 9,61
1896 „ 1897 + 6,55 + 9,51 + 6,40 + 11,20
1897 „ 1898 + 12,78 + 12,45 + 13,67 + 6,79
1898 „ 1899 — 3,74 — 0,21 — 2,80 — 16,28
1899 „ 1900 — 1,03 — 2,33 — 0,89 — 2,25
1900 „ 1901 + 1,13 — 1,33 + 0,24 + 7,77
1901 ,„ 1902 — 0,08 + 2,49 + 0,60 — 0,31
1902 „ 1903 — 1,57 — 8,25 — 0,29 — 1,283
1903 ,„ 1904 — 1,38 + 2,07 + 0,53 + 8,26
1904 ,„ 1905 + 3,40 + 12,46 + 2,15 + 0,22
1905 „ 1906 + 11,36 + 5,73 + 5,30 + 2,75
1906 „ 1907 + 13,390 + 20,30 + 9,86 + 14,87
1907 ,„ 1908 + 311 — 3,47 + 7,82 + 2,38
1908 „ 1909 — 4,94 — 5,36 + 1,84 + 10,75
Schließlich sei noch eine Uebersicht über die Maxima nach
Kalendermonaten für die Jahre 1899—1909 mitgeteilt:
Miszellen. 507
Roggen von Wei Weizen von
eizenmehl
Jahr | Boggenbrot Roggenmehl | guter Durch- Weizenbrot |No. 00 (nach der) 8° ter Durch-
No. 0/1 schnitts- Reichsstatistik) schnitts-
beschaffenheit beschaffenheit
1899 |Februar 24,71|Januar 20,17|Oktober 14,98|Januar 42,60|Januar 23,50 Januar 16,29
1900 Wuli 24,40 Juni 20,45 Mai 15,12]Juli 42,01|Juni, Juli 21,50|Juni 15,68
ml uli, August 24,50 Dt 19,20 April 14,41[August 41,93|Dezember 24,00 Mai 17,43
1902 [September 24,77/August 21,45,Juli 15,08[Dezember 42,10|Mai, Juni 24,00 Januar 17,15
i Januar
el Februar 24,15|Januar 18,73\Juni 13,58 SE } 41,92|August \ 22,00, Juli 16,91
| 3 Dezember Í
1% Juli 23,715| August 18,20|Dezember 14,25ļ|August 42,55 Februar 24,50] August 17,89
1905 |Dezember 26,35/Dezember 21.93 Dezember 17,05|November 43,88|Oktober 24,25Dezember 18,31
1506 |Dezember 27,3s|Januar 22,41|Januar 16,93|Februar 45,93/Dezember 24,50|Mai 18,48
1607 [Dezember 33,98|November 28,08|November 21,11|Dezember 54,60|Oktober 32,00\Oktober 22,84
1208 Wanuar 33,89|Januar 27,18 Januar 20,35jFebruar 54,77|Januar 31,00/Juli 22,13
1909 Yuli 31,57|Juni 24,64|Juni IER GD 56,49|Juli 36,00|Juni 26,80
Danach weist in den einzelnen Monaten der 11 Berichtsjahre den
jeweils höchsten Preis auf: bei Roggenbrot der Dezember 1907 mit
33,98, bei Roggenmehl der November 1907 mit 28,08, bei Roggen der-
selbe Monat mit 21,11, bei Weizenbrot der Juli 1909 mit 56,49, bei
Weizenmehl der Juli 1909 mit 36,00, endlich bei Weizen der Juni
1909 mit 26,80.
Durchschnittspreise für Roggenbrot, Roggenmehl
und Roggen in den Jahren 1886—1909.
1886 1887 aan 1889 1890 1891 1892 1383 1494 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 19041905 1906 1907 1908 199
508 Miszellen.
Verfolgt man an der Hand der beigefügten graphischen Darstellung
die Jahresdurchschnittspreise für Roggenbrot, Roggenmehl und Roggen
in den Jahren von 1886—1909, so bemerkt man im Ganzen einen deut-
lichen Parallelismus. Von 1886—1887 gehen die Preise der drei Waren
ein wenig zurück; dann steigen sie ununterbrochen sehr stark bis 1891,
und zwar die Getreide- und Mehlpreise zu einer seitdem nicht wieder
erreichten Höhe. Darauf folgt ein sehr bedeutender Preissturz bis 1894,
an den sich bis 1898 eine allmähliche, beim Roggen und Roggenmell
mit einem zeitweisen Rückgange verbundene Preiserhöhung anschließt.
In den nächsten Jahren bis 1904 bezw. 1903 unterliegen die Preise
nur verhältnismäßig geringen Schwankungen, gehen aber etwas zurück.
Dann steigen die Preise wieder; der Höhepunkt liegt für Getreide und
Mehl im Jahre 1907, während der Brotpreis auch noch bis zum Jahre 1908
steigt. Im letzten Jahre 1909 endlich sind alle Drei zurückgegangen.
Im ganzen schließt sich, wie wir bereits im Juniheft 1909 konstatieren
konnten, der Preis für Roggenmehl dem für Roggen enger an, als der
Preis für Roggenbrot dem für Roggenmehl und für Roggen.
Literatur. 509
Literatur.
III.
Der gegenwärtige Stand der Alkoholfrage.
Ein Sammelreferat.
Von Dr. Alexander Elster (Jena).
Das Referat erstreckt sich auf einen Zeitraum von etwa 7 Jahren;
es beginnt mit der Literatur des Jahres 1903, da gerade seit diesem
Jahre eine Reihe wichtiger moderner Veröffentlichungen erschienen ist.
Die früheren bemerkenswerten Schriften — insbesondere die grundlegenden
Arbeiten von Baer (Alkoholismus), v. Bunge (Alkoholfrage), Hoppe (Tat-
sachen über den Alkohol), Kraepelin (Alkohol und Geistestätigkeit) — sind
in der späteren Literatur so eingehend berücksichtigt, daß sie als Gemein-
gut und als bekannt gelten dürfen. Zeitschriftenaufsätze sind aus prak-
tischen Gründen von dem Referat ausgeschlossen geblieben, ebenso die
— zum Teil ganz wertvollen — Flugschriften und Broschüren der
Vereine t). Es handelt sich also um folgende Erscheinungen, die kurz
zusammengestellt seien.
I. Zusammenfassende Darstellungen.
1) Helenius, Matti, Dr. rer. polit, Die Alkoholfrage,
Eine soziologisch-statistische Untersuchung. Jena (Gustav Fischer) 1903.
(M. 6.—.)
2) Baer, A. Dr., Geh. Med.-Rat, und Laquer, B., Dr., Arzt,
Die Trunksucht und ihre Abwehr. 2. umgearb. Aufl. Berlin
und Wien (Urban & Schwarzenberg) 1907. (M. 6.—.)
3) Grotjahn, A. Dr, Arzt, Der Alkoholismus. Jena
(Gustav Fischer) 1904. (M. —.50.)
II. Kongresse, Vortragssammlungen.
4) Bericht über den IX. Internationalen Kongreß gegen
den Alkoholismus, Bremen 14.—19. April 1903, herausgeg. von
Franziskus Hähnel. Jena (Gustav Fischer) 1904. (M. 5.—.)
5) Kème Congrès international contre l’Alcoolisme,
1) Denn trotz des Versuches, den gegenwärtigen Stand der Alkoholfrage auch
in gewisser sachlicher Abrundung zu geben, durfte ich doch von der Basis eines Sammel-
referates der Bucherscheinungen nicht abgehen, um nicbt ins Uferlose zu geraten.
510 Literatur.
Budapest 11.—16. September 1905, publié par Dr. Philipp Stein.
Budapest (Fréderic Kilián Successeur) 1906. (M. 7.—.)
6) Bericht über den XI. Internationalen Kongreß
gegen den Alkoholismus, Stockholm 28. Juli bis 3. August 1907,
herausgeg. von Prof. Curt Wallis. Stockholm (Oskar Eklunds
Boktryckeri) 1908.
7) Der Alkoholismus, herausgeg. vom Zentralverband zur
Bekämpfung des Alkoholismus. Drei Teile. Aus Natur und Geistes-
welt, Bd. 103, 104, 145). Leipzig (B. G. Teubner) 1906. (M. 3.—.)
8) Der Alkoholismus. do. IV. und V. Teil. Berlin 1907 und
und 1908. Deutscher Verlag für Volkswohlfahrt. (M. 2.60.)
III. Monographische Arbeiten.
9) Bergman, Joh, Dr, Geschichte der Anti-Alkohol-
bestrebungen. Deutsch von Dr. R. Kraut. Hamburg 1907. Deutsch-
lands Großloge, II. I. O. G. T. (M. 4.—.)
10) Gruber, Georg B., Dr. med., Geschichtliches über den
Alkoholismus. München (Ernst Reinhardt) 1910. (M. 1.—.)
11) Blocher, H., Dr., und Landmann, J., Dr, Die Belastung
des Arbeiterbudgets durch den Alkoholgenuß. Eine sozial-
statistische Studie. Basel (Friedrich Reinhardt) 1903. (M. 1.—.)
12) Stehr, Alfr. H., Dr. med. und rer. pol, Alkoholgenuß
und wirtschaftliche Arbeit. Jena (Gustav Fischer) 1904. (M. 4.80.)
13) Hoppe, Hugo, Dr., Nervenarzt, Alkohol und Krimi-
nalität. Wiesbaden (J. F. Bergmann) 1906. (M. 4.—.)
14) Hirschfeld, Magnus, Dr. med., Die Gurgelvon Berlin.
Großstadtdokumente, Bd. 41. Berlin und Leipzig (Herm. Seemann Nchf.).
(M. 1.—.)
15) Kraepelin, E., Dr., Prof, Vocke, Friedr., Dr., Direktor,
Lichtenberg, H. Dr. Der Alkoholismus in München.
München (J. F. Lehmanns Verlag). (M. —.60.)
16) Popert, Herm. M., Dr., Landrichter, Hamburg und der
Alkohol. Hamburg (Lucas Gräfe) 1903. (M. 2.—.)
17) Pütter, Geh. Reg.-Rat, Trunksucht und städtische
Steuern. Halle 1902. (M. —.20.)
18) Kapitza, Joh., Pfarrer, Alkoholismus und soziale
Frage. Trier (Katholischer Mäßigkeitsbund) 1909. (M. —.10.)
19) Bunge, G. v., Dr. med. und phil., Prof, Alkoholvergiftung
und Degeneration. Leipzig (Joh. Ambr. Barth) 1904. (M. —.40.)
20) Hirt, Eduard, Dr., Der Einfluß des Alkohols auf
das Nerven- und Seelenleben. Wiesbaden (J. F. Bergmann)
1904. (M. 1.60.)
21) Kassowitz, Max, Dr., Prof, Der theoretische Nähr-
wert des Alkohols. Berlin (Julius Springer) 1908. (M. 1.—.)
22) Bresler, Joh., Dr., Oberarzt, Alkohol auch in geringen
Mengen Gift. Halle a. S. (Carl Marhold) 1902. (M. 1.—.)
23) Guttstadt, A. Dr., weil. Prof, Geh. Med.-Rat, Sterblich-
Literatur. 511
keitsverhältnisse der Gastwirte und anderer männlicher
Personen in Preußen, welche mit der Erzeugung, dem
Vertriebe und dem Verkaufe alkoholhaltiger Getränke
gewerbsmäßig beschäftigt sind, im Vergleiche zu anderen
wichtigen Berufsklassen. Jena (Gustav Fischer) 1904. (M. 1.20.)
24) Blocher, E, Dr, Lebensdauer und Alkohol. Nach
der Statistik von Isambard Owen. Basel (Friedr. Reinhardt) 1906.
25) Böckel, Fritz, Dr., Rechtsanwalt, Alkoholismus und
Recht. Jena (Herm. Costenoble) 1908. (M. 2.—.)
26) Balser, Dr., Kreisarzt, Medizinalrat, Aull, Assessor, Wald-
schmidt, Dr, Der Alkoholismus. Seine strafrechtlichen und
sozialen Beziehungen; seine Bekämpfung. Halle (Carl Marhold) 1908.
M. 2.—.)
27) Hähnel, Franziskus, Die Notwendigkeitder Unter-
stützung des Kampfes gegen den Alkoholismus durch die
Erziehung in Schule und Haus. Jena (Gustav Fischer) 1906.
(M. —.50.)
28) Popert, Herm. M., Dr., Landrichter, Was willunsere Zeit
von der deutschen Studentenschaft? Jena (Gustav Fischer)
1908. (M. —.50.)
29) Popert, Hermann, Dr. jur., Amtsrichter in Hamburg, Mit-
glied der Hamburgischen Bürgerschaft, Ein Schritt auf dem Wege
zur Macht. Ein Wort an die deutschen Anhängerinnen und An-
hänger des Frauenstimmrechts. Vortrag, gehalten auf dem V. Deutschen
Abstinententage zu Flensburg am 27. Juli 1907. Jena (Gustav Fischer)
1907. (M. —.50.)
30) Vandervelde, Emil, ehem. Professor a. d. Neuen Universität
Brüssel, Mitglied der belgischen Abgeordnetenkammer, Alkohol,
Religion, Kunst. Drei sozialistische Untersuchungen. Berechtigte
Uebersetzung aus dem Französischen von Engelbert Pernerstorfer,
Mitglied des österr. Reichsrates. Jena (Gustav Fischer) 1907. (M. 2.)
31) Laquer, B., Dr., Alkoholismus und Temperenz in
den Vereinigten Staaten. Studien und Eindrücke. Wiesbaden
(J. F. Bergmann) 1905. (M. 1.50.)
32) Helenius-Seppälä, Matti, Dr, Ueber das Alkohol-
verbot in den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Jena (Gustav Fischer) 1910. (M. 2.50.)
33) Laquer, B, Dr., Arzt, Gotenburger System und
Alkoholismus. Wiesbaden (J. F. Bergmann) 1907. (M. 2.40.)
34) Petersson, Osk, Die schwedische Alkoholgesetz-
gebung und das Gotenburger System. Deutsch von R. Kraut.
Hamburg 1908. Deutschlands Großloge II des I. O. G. T. (M. 1.—.)
I. Geschichte der Antialkoholbewegung.
An einem Versuch, wirklich die Geschichte der Antialkohol-
bewegung zu geben, hat es bis vor kurzem noch völlig gefehlt. Die
Bücher von Stearns (1889), Burns (1890), Nydahl (1896) behandelten
512 Literatur.
fast nur englische und amerikanische, das letzte auch norwegische Ver-
hältnisse. Als umfassendes Werk besitzen wir jetzt das in schwedischer
Sprache geschriebene Buch von Johan Bergman, das als erstes in
deutscher Sprache — in der Uebersetzung von Dr. R. Kraut — seit
1907 vorliegt. Kraut hat — im Einverständnis mit dem schwedischen
Verfasser — manches geändert und berichtigt. Auf mehr als 400 Seiten
führt der Verf. uns von den Urzeiten der menschlichen Gesittung durch
die Nationen und die Jahrhunderte bis zu den modernen Bestrebungen.
Was wir als eine Errungenschaft der letzten Neuzeit zu betrachten
uns gewöhnt hatten, ergibt sich hier als eine Jahrtausende alte Er-
kenntnis, der es nur wegen der mangelnden Allgemeinbildung an Wirkung
und Gesamtüberzeugung gebrach. Denn wenn Buddha als die „fünf-
fache Gerechtigkeit“ neben die Verbote des Mordes, des Diebstahls,
des Ehebruchs, der Lüge als fünftes „Du sollst keine berauschenden
Getränke trinken“ stellt, so zeugt das von einer Schärfe der Gefahr-
erkenntnis, die uns heute Bewunderung abringt. Dann finden wir,
während Aegypten, das die Heimat des Bieres (die Stadt Pelusium)
sein soll, und manches andere Volk in Trunksucht schwelgt, als erste
Ansätze einer Abstinenzpraxis in der klassischen Welt die des Pythagoras
und seiner Schule. Diese Abschnitte sind reichlich hypothetisch und
wir erfahren nicht viel Positives 1). Die Stellung des ältesten Christen-
tums zu der Alkoholfrage wird näher beleuchtet, und es ergibt sich, daß
lediglich vom mystisch-asketischen Standpunkt aus mancherlei einfluß-
reiche Einzelpersonen und Sekten sich dem Genuß geistiger Getränke
abwandten. In die der Alkoholfrage im allgemeinen gleichgültig
gegenüberstehende, in Alkoholmißbrauch gewaltig schwelgende mittel-
alterliche Welt trat die islamitische Macht mit dem Alkoholverbot des
Korans. Der Kampf des Abendlandes gegen das Morgenland konnte für
diese Frage nicht bedeutungslos sein. Der norwegische König Sverrir
(1184—1202) steht aber als Einziger, dem man bewußte Bekämpfung
des Alkohols nachsagen kann, in einsamer Größe in jener mittelalter-
lichen Zeit, da die Branntweinherstellung aufkam. Dann blieb es von
Antialkoholbestrebungen lange Zeit still, die Trunksucht nahm bis zum
17. Jahrhundert erheblich zu.
Erst das Aufklärungszeitalter — 18. Jahrhundert — brachte einen
Umschwung. Von religiösen Bestrebungen ging dieser Umschwung aus.
Derbe Prediger, wie Gottlieb Cobern (sein „Aufrichtiger Cabinet-Prediger“
1) In einem Vortrag auf dem XI. Internationalen Antialkoholkongreß sprach
derselbe Prof. Dr. Bergman über „Die Lehren der Geschichte in der Alkoholfrage‘“ und
gab da (s. die Verhandlungen dieses Kongresses S. 324 fg.) in einem kurzen Ueberblick
über die älteren geschichtlichen Tatsachen seiner Meinung Ausdruck, daß der Unter-
gang von Kulturvölkern im engen Zusammenhang mit Alkoholmißbrauch stehe. Mit
seinen dortigen Ausführungen hat er aber nichts anderes gezeigt, als daß man eben die
Geschichte auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten kann. Zeingende Gründe und
irgendwelche Belege zu seiner Auffassung brachte er nicht bei, wozu wohl auch alle
Vorarbeiten fehlen. Es ist deshalb richtig, was Direktor Milliet in der Diskussion
(S. 338) bei aller Anerkennung der historischen Untersuchungen Bergmans sagte: „Seine
Darstellung zeigt uns zugleich, wie geistreich man historisches Geschehen ganz einseitig
von einem Punkte aus zu betrachten vermag. Ich meinerseits hätte nicht den Mut,
aus dem relativ so dürftigen Material bereits Gesetze abzuleiten.“
Literatur. 513
aus dem Jahre 1715), die Methodisten traten gegen die Trinksitten auf,
dann weltliche Philosophen, wie Rousseau. Karl XII. von Schweden,
der 18 Jahre lang abstinent gewesen sein soll, erließ ein Branntwein-
verbot, das, nach seinem Tode aufgeboben, später des öfteren wieder
auf Jahre eingeführt wurde. Auch der schwedische König Friedrich
(1733), in Deutschland Georg II. August von Hannover (und zugleich
König von England), Friedrich Wilhelm I. von Preußen sind als Be-
kämpfer der Trunksucht zu nennen.
Als Vorläufer der modernen Antialkoholbewegung nennt das Werk
dann die überzeugten Alkoholgegner: Benjamin Franklin, Thomas Jef-
ferson, den deutschen Arzt C. W. Hufeland, der das Branntweinedikt
Friedrich Wilhelms III. vom 30. Mai 1803 veranlaßt hat.
Einige andere Alkoholbekämpfer früherer Zeit nennt uns G.B. Gruber
in seiner Schrift: „Geschichtliches über den Alkoholismus“. Schon von
Karl dem Großen wird ja eine Verordnung gegen das Trinken berichtet;
dann waren es Kaiser Friedrich III. von Habsburg, Maximilian I., auch
Karl V. und Rudolph II, die sich dagegen wendeten, weiter sollen
Kurfürst Richard von Trier und Pfalzgraf Ludwig (1524) schon einen
Orden, eine Brüderschaft der Enthaltsamkeit gegründet haben. Indessen,
wir erfahren auch, daß es fast immer bei dem Buchstaben blieb und daß
nicht mit dem Beispiel vorangegangen wurde, ebenso daß der Begriff von
der Mäßigkeit oder Enthaltsamkeit noch ungeheuer dehnbar war, so daß
wirklich Handgreifliches garnicht damit anzufangen war und esim wesent-
lichen nur ohnmächtige Bekämpfungsversuche gewesen zu sein scheinen.
Erst Mitte des 18. Jahrhunderts traten einsichtigere Aerzte, wie — außer
den schon oben genannten — Albrecht v. Haller u. a. auf, die mit etwas
moderneren Ansichten den Alkoholgenuß betrachteten. — Der haupt-
sächliche Inhalt der Gruberschen Schrift ist aber nicht die geschicht-
liche Darstellung antialkoholischer Bestrebungen, sondern vielmehr ein
geschichtlicher Beitrag zum Alkoholbrauch und Alkoholmißbrauch. Mit
großem Fleiß trägt der Verf. eine Fülle von kulturgeschichtlichen Daten
zusammen, erst für das Altertum, noch viel mehr aber für das deutsche
Mittelalter. Aus seinen Mitteilungen ersteht uns ein schauerliches Bild
von der Trunkenheit früherer Zeiten, und es mutet uns fast an, als sei
das Ergebnis der Ausführungen, für den Alkoholgenuß zu sprechen.
Denn es drängt sich uns die Folgerung auf, daß die gegenwärtigen
degenerativen Folgen eines solchen jahrhundertelangen Alkoholabusus
viel größere, viel verheerendere sein müßten, wenn das, was man dem
Alkohol heute zur Last legt, richtig ist. Der Vert, der als Dr. med.
diese Fragen kennt, versucht es auch, sich mit ihnen auseinanderzusetzen,
aber das Material ist doch noch nicht groß, sicher und einwandfrei
genug — besonders nach der Seite der Folgen hin —, um diese Probleme
schon lösen können. Einmal sagt der Verf., daß dem durch den 30-jährigen
Krieg hervorgerufenen Elend viel rascher hätte ein Ende gemacht werden
können, wenn „der Deutsche nicht in jahrhundertelangen Gelagen seine
Energie vertrunken“ hätte. Aber das ist nicht mehr als ein Bonmot.
An einer kritischen Stellungnahme zu solchen uns am allermeisten inter-
essierenden Fragen fehlt es in dieser, sonst recht hübsch lesbaren, Schrift
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 33
514 Literatur.
durchaus. Ein Anlauf wird noch dadurch gemacht, daß der Verf. die
Nüchternheit des Bauernstandes und Kleinbürgertums hervorhebt, während
Hof, Klerus, Adel und Bürgertum sich vertrinken. Aber es fehlt wieder
an jeglichem Versuch, diesen Gedanken der Regeneration Deutschlands
durch den Bauernstand irgendwie näher zu erweisen. Die antialkoho-
listischen Aeußerungen der Schrift sind also mehr aufgesetzte Lichter als
notwendige Folgerungen aus den Darlegungen. Die Schrift bietet nar
Material, allerdings zum Teil recht interessantes — auch z. B. für die
Ehrenrettung der Trinkansichten Luthers —, die wissenschaftlichen Fragen
für die Geschichte des Alkoholismus aber wirft der Verf. nur auf.
Kehren wir für die Ueberleitung zur Gegenwart zu dem Werk von
Bergman zurück. Bergman geht des weiteren auf die Organisation der
Antialkoholbewegung in Amerika ein (Benjamin Rush, Amerikanische
Temperenzgesellschaft), den Beginn einer organisierten Bewegung in Eng-
land (Schottische Temperenzvereine, British and Foreign Temperance
Society) und die Entwicklung einer Organisation der Antialkoholbewegung
auf dem europäischen Festlande, die unmittelbar auf amerikanischen und
englischen Einfluß zurückzuführen waren. Im Gegensatz zu den früheren
Einzelversuchen war es jetzt nicht etwa sogleich die größere Erkenntnis
der Schädigungen, sondern die bessere organisatorische Propaganda,
die die ältere deutsche Bewegung lebendig machte. Das bezeichnendste
Ereignis dieser Periode war der Hamburger Tumult (1841), der aber
gerade wegen der Roheit der Gegner die Bewegung bedeutend empor-
schwellte. Viele Hunderttausende scharten sich um die antialkoho-
listischen Fahnen, aber unter den Stürmen und andersgearteten Inter-
essen der 48er Revolution fiel die Bewegung rasch in sich zusammen.
Nebenher laufen einige wichtige Fortschritte der Bewegung in den
skandinavischen Ländern.
Aber nach dieser Zeit erst setzt die moderne Antialkoholbewegung
ein. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Brannt-
weinbekämpfung in eine allgemeine Bekämpfung berauschender Getränke,
und zwar auf Grund der modernen physiologischen Erforschung der
Schädigungen (Huss, Richardson, Virchow, Baer u. a.) Wieder nimmt
die Totalenthaltsamkeitsbewegung in Amerika ihren Anfang, wo der
Staat Maine mit seinem Verbotsgesetz voranging (1851). Auf die Ent-
wicklung der amerikanischen Prohibitionsbewegung, die Bergmans Buch
eingehend darstellt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Von
Amerika geht ja auch der für die Bewegung so bedeutungsvolle Gut-
templerorden (Independent Order of Good Templars) aus. Auch eine
Darstellung der Geschichte dieses Ordens in den verschiedenen Ländern
sowie anderer ähnlicher Orden (Rechabiten usw.) gibt das recht wert-
volle Buch.
Inzwischen hatten sich auch die Frauen der Antialkoholbewegung
angenommen und mit großem Erfolg die aus dem sogenannten „Frauen-
kreuzzug“ hervorgegangenen World’s Woman’s Christian Temperance
Union, deren Heimat auch Amerika ist, gegründet. Die Blaubandbe-
wegung, die „National Temperance Society“ ergänzten die Organisationen,
die von Amerika aus ihren Lauf nach der alten Welt nahmen. Nennens-
vm u Pe
Literatur. 515
werte Erfolge hatten dann die Totalenthaltsamkeitsbestrebungen in
Großbritannien und Irland; hier nahmen sich auch die Aerzte und
ebenso die religiösen Gesellschaften der Bewegung an und es wird von
nennenswerten Erfolgen dieser Bekämpfungsversuche berichtet. Auch
die Heilsarmee gehört zu diesen Vereinigungen, und so sind wir bei
den modernen Abstinenz- und Temperenzvereinen angelangt, die in dem
Buche eine kurze Darstellung erfahren. Eine Erörterung der modernen
Bewegung in den skandinavischen Staaten, in Rußland und Finland
schließt sich an. In der Schweiz entstand das „Blaue Kreuz“. Hier
strebte man auch bewußt nach internationalem Zusammenschluß, indessen
ohne große Erfolge, indem man nur mit Deutschland sich im „Alkohol-
gegnerbund“ zusammenschloß. In Deutschland enstand 1883 der
„Deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“, bald zog
das „Blaue Kreuz“ in Deutschland ein, der Guttemplerorden wirkte
hier nachhaltig, der Alkoholgegnerbund zeigte Fortschritte und andere
Fach-, Frauen- und Jugendvereine sind von Wichtigkeit.
Eine Zentralstelle für die verschiedenen Spielarten der Bewegung
und für alle Länder sind die internationalen Antialkoholkongresse.
II. Die internationalen Kongresse.
Einen Brennpunkt der Bestrebungen und eine Heerschau bieten
die internationalen Antialkoholkongresse, deren erster 1885 in Antwerpen
tagte. Es folgte 1887 ein solcher in Zürich, 1890 in Christiania, 1893
im Haag, 1895 in Basel, 1897 in Brüssel, 1899 in Paris, 1901 in Wien,
1903 in Bremen, 1905 in Budapest, 1907 in Stockholm, 1909 in London.
Forel chrakterisierte die ersten Kongresse einmal wie folgt (zitiert
nach Bergman):
I. Erster Versuch und Gedankenzusammenstoß der abstinenten
Anglo-Sachsen mit den Mäßigen des europäischen Kontinents: Ant-
werpen.
II. Die Bewegung setzt sich auf dem Kontinent fest unter starker
Mithilfe der Anglo-Sachsen und intensivem Kampf zwischen europäischen
Abstinenten und Mäßigen, bei wissenschaftlicher Vertiefung: Zürich
und Haag.
III. Dazwischen wird eine Studien- und Belehrungsreise ins Land
der Skandinavier gemacht: Christiania.
IV. Die Abstinenz erhält definitiv die Oberhand; gewaltiger Auf-
schwung und wissenschaftliche Vertiefung der Kongresse. Das anglo-
sächsische Element nimmt im Verhältnis bedeutend ab. Die Kongresse
werden kontinental-europäisch: Basel, Brüssel, Paris.
V. Der Kongreß wird sozial-politisch bedeutsam und nimmt das
Interesse der Regierung und des ganzen Landes hochgradig in Anspruch:
Wien.
Ich möchte in der Charakterisierung fortfahren:
Der nächste (IX.) Kongreß in Bremen brachte eine bedeutsame
wissenschaftliche Wendung, indem endgültig die ältere Betrachtung des
Alkoholismus als Trunksuchtfrage in die moderne der Alkoholfrage
33*
516 Literatur.
übergeführt wurde. Nicht mehr „Trinkerrettung“ in erster Linie, sondern
vorbeugende Bekämpfung des Alkoholismus in jeder Form. Dazu kommt
ein zweites, was von nun an die wissenschaftliche Qualität der Kon-
gresse bestimmt und hebt: die Festsetzung von Diskussionsthemen, die
— planvoll ausgewählt, von Referenten behandelt, zur Diskussion ge-
stellt — die bewegenden Fragen systematisch erörtern. Abgesehen
von einigen Einseitigkeiten, die den Bogen zu straff spannen, ist den
Verhandlungen auch immer mehr das Bestreben zur Objektivität und
das Gelingen objektiv-wissenschaftlicher Betrachtungsweise zuzusprechen.
So war es in Bremen, Budapest, Stockholm.
Die Kongreßberichte dieser drei Tagungen liegen uns zur Be-
sprechung vor. Es sind stattliche Bände, die eine Fülle des Inter-
essanten und geradezu Kompendien der Alkoholfrage enthalten. In
ihnen dürfte das wertvollste Material zusammengetragen sein, welches
gegenwärtig für die Beurteilung der Alkoholfrage existiert. Kein
Forscher kann an diesen Kongrelberichten vorübergehen, sie sind die
Grundlage für die Erkenutnis des gegenwärtigen Standes der Alkohol-
frage. Zur Skizzierung des reichen Inhaltes seien nur ein paar Vor-
träge genannt. Auf den Inhalt einzelner davon wird weiter unten bei
den sachlichen Kapiteln unseres Sammelreferates Bezug genommen
werden. So findet sich in der Bremer Tagung unter anderem: „Körper-
übungen und Alkoholismus“ (Hueppe), „Alkoholismus und Tuberkulose“
(Legrain), „Der Alkohol im Lebensprozeß der Rasse“ (Ploetz und
Rüdin), „Die Rolle des Alkohols im Staatshaushalt“ (Helenius), „Die
Entmündigung wegen Trunksucht“ (Cramer und Endemann), „Aufgaben
der Frau im Kampfe gegen den Alkoholismus“ (Math. Lammers).
In der Budapester Tagung unter anderem: „Ueber den Einfluß des
Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit des menschlichen und tierischen
Organismus mit besonderer Berücksichtigung der Vererbung“ (Laitinen
und Weygandt), „Alkohol und Geschlechtsleben“ (Forel), „Alkohol und
Strafrecht“ (Bleuler und Vämbery), „Die Schule im Kampfe gegen den
Alkoholismus“ (Hähnel, Eötvös, Yorke, Fischer), „Alkohol und physische
Arbeitsfähigkeit“ (Mitander), „Alkoholkapital“ (Eggers), „Stand der
Trinkerfürsorge in Deutschland“ (Waldschmidt), „Therapie des Alkoho-
lismus“ (Bezzola).
In der Stockholmer Tagung unter anderem: „Alkohol und Medizin“
(Vogt, Delbrück, Medin, Karlsson), „Alkohol und Geisteskrankheit*
(Gadelius), „Alkohol und Zurechnungsfähigkeit“ (Aschaffenburg), „Alkohol
als Nahrungsmittel“ (Landouzy, Labbé, Tigerstedt, Larsen, Backman),
„Erfahrungen der Lebensversicherung“ (Holitscher, Ekholm), „Alkohol
und Krankenkassen“ (Kiss, Stein), „Industrie und Alkohol“ (Frestadius),
„Belastung der Kommunen durch den Alkohol“ (Kappelmann), „Schule
und Alkoholfrage“ (v. Scheeb, Sohlberg, Hartmann), „Alkohol und De-
generation“ (Legrain, Laitinen), „Alkohol und Verbrechen“ (Almquist,
Scharffenberg), „Alkohol und Militär“ (v. Toegel, Liljedahl), „Alkohol
und Verkehrswesen“ (de Terra), „Gothenburger System“ (Rubenson,
Ljunggren, Eggers).
Vom Londoner Kongreß liegt der Bericht zurzeit noch nicht ge-
druckt vor.
Literatur. 517
III. Alkohol und Gesundheit.
Von der Frage der gesundheitlichen Würdigung des Alkohol-
genusses hängen alle anderen Fragen — der Einfluß des Alkohols auf
die Arbeit, auf das Budget usw. — ab.
Ein ganz kurzer, aber recht geschickter, gut lesbarer und zu-
verlässiger Abriß ist die kleine Schrift von Dr. med. A. Grotjahn, „Der
Alkoholismus“. Grotjahn spricht nicht für unbedingte Abstinenz aller,
wohl aber gegen jeden, auch den geringen gewohnheitsmäßigen
Genuß; er steht auf dem Standpunkt der Mäßigkeitsvereine, insbesondere
des „Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“. Die
Schrift handelt in klarer Form über den akuten und chronischen Al-
koholismus, belegt die Sterblichkeit der in Alkoholberufen tätigen Be-
völkerung mit Zahlen, erkennt insonderheit die sozialen Grundlagen des
Alkoholismus und bespricht dann kurz vergleichend den Stand der
Alkoholfrage in den einzelnen Ländern.
Wichtiger als größere Einführung in die Frage ist das im Jahre
1890 erstmalig erschienene Buch von Baer, „Die Trunksucht und ihre
Abwehr“, das in zweiter, umgearbeiteter Auflage in Gemeinschaft mit
Dr. B. Laquer herausgegeben ist. Es will, wie der Titel sagt, nur die
„Trunksucht“ (also nicht die Alkoholfrage in extenso) behandeln. Frei-
lich verschließt es sich dadurch selbst ein großes Gebiet von Problemen,
das man gern von diesen beiden ausgezeichneten Sachkennern dargestellt
gesehen hätte. Und es wirkt auf diese Weise etwas unmodern. Sorg-
fältig registriert es eine Fülle von Daten, die sich oft auf den ganzen
Umkreis der Probleme beziehen — es fehlt aber das eigentlich Kritische.
Bei einer ganzen Anzahl der gegebenen Statistiken fehlt die Berech-
nung auf die Bevölkerungszahl oder bei Ausgaben (Steueraufkommen)
der Vergleich zum Einkommen und anderes mehr, also die Relativität
und die zeitliche Vergleichung, die geeignet wären, tieferen Einblick
in den Wert (oder Unwert?) der Zahlen zu verschaffen. Bei dem
vielen zusammengetragenen Material wird zwar die Quelle immer an-
gegeben, aber das Material kann oft genug auf Grund dieser Quelle
nicht nachgeprüft werden, was übrigens auch hie und da von anderen
ähnlichen Werken gilt. So ist es ein Buch nach alter Schule geworden,
das möglichst viel interessantes Material zusammenbringt, den Stoff
ordnet, aber an kritischer Sichtung und formender Gestaltung Lücken
läßt. Leider wird auch kein Versuch zusammenfassender Betrachtung
der Ergebnisse gemacht, die Länder verglichen, die Frage geprüft, ob der
Alkoholismus oder wo er ab- oder zugenommen hat. Die Abwehrmaß-
regeln werden in guter Rubrizierung aufgezählt und von manchen Erfolgen
im einzelnen berichtet. Im allgemeinen läßt das Buch auch die soziale
Betrachtung sehr vermissen. Es spricht wohl von den Aufgaben der
Gesellschaft gegenüber dem Alkoholismus, auch von den Einwirkungen
des Alkoholismus auf das Gesellschaftsleben, nennt auch eine Reihe
sozialer Gründe für die Trunksucht, — aber eine wirklich kritische
Einstellung auf den sozialen Gesichtspunkt — und das sollte der rote
Faden in einem solchen Werke sein — wird nicht gegeben. Ein
einziges Mal wird ein Anlauf zu solcher Betrachtungsweise genommen,
518 Literatur.
nämlich S. 91, wo Verf. sagt: „Rassenhygienisch muß somit vor allem
eine Beseitigung des mittelmäßigen Trinkens erstrebt werden, in zweiter
Linie dann auch die des unmäßigen.“ Aber dies ist die Wiedergabe
einer Ansicht von Ploetz, die sonst in dem Buche nicht wieder hervor-
tritt. Dies hätte nun wohl der Anlaß sein müssen, zu der Frage der
„Mäßigkeit oder Abstinenz“ — der sozial wichtigsten der ganzen
Alkoholfrage! — Stellung zu nehmen; aber die Verfasser wollten zu
dieser Frage nicht Stellung nehmen, was immerhin bedauerlich ist.
Der Eindruck des Buches ist der, daß Verf. nur „Mäßigkeit* verlangen,
— so reden sie ja im wesentlichen nur von der „Trunksucht“, und
auch die — übrigens trefflichen — Kapitel über die physiologischen
und pathologischen Wirkungen des Alkohols deuten auf den Mäligkeits-
standpunkt.
Das umfassende Buch von Helenius über die Alkoholfrage
(1903, jetzt völlig vergriffen) ist kritisch und berücksichtigt das Soziale
sehr sorgfältig, spricht sich klar über die Kernfrage (Abstinenz oder
Mäßigkeit) aus und zeigt Kenntnis der medizinischen Seite der
Frage trotz aller Betonung des — für uns wichtigeren — sozial-
hygienischen und sozialwirtschaftlichen Standpunktes. Allerdings kann
man auch Helenius entgegenhalten, daß er gewiß mancherlei Statistik
übernommen hat, deren Zuverlässigkeit nachzuprüfen er nicht in der
Lage war. Sein Buch dürfte aber zurzeit noch das neueste Grund-
legende der Alkoholfrage sein, denn es ist die letzte und und modernste
zusammenfassende Darstellung und enthält die Ergebnisse der For-
schung bis zum Jahre 1902 in erschöpfender Weise und sehr über-
sichtlicher Form. Er steht auf dem Standpunkt der Abstinenz, bringt
diesen Standpunkt klar zur Geltung. Vor Einseitigkeiten sucht er
sich dabei durchaus zu wahren; der entschiedene Standpunkt aber ver-
leiht dem Buch Frische und Lebendigkeit.
Im einzelnen sind zum Kapitel „Alkohol und Gesundheit“ folgende
Fragen gesondert zu besprechen:
1) Ist Alkohol Nahrungsmittel oder „Gift“?
Baer-Laquer äußern sich dahin, daß Alkohol weder Nahrungs-
mittel noch Gift sei, und zwar weil er eiweiß- und fettsparende und
insofern nährende Wirkungen habe, aber weil seine toxischen Wir-
kungen die nährenden wieder aufheben. Ist die Alkoholzufuhr klein,
so ist die Eiweißersparnis zu gering, ist sie stärker, so daß jene nennens-
wert wird, so schädigen die Giftwirkungen zu sehr. Das ist bislang
wohl noch die herrschende Meinung !). Ihr ist aber mit Energie und
guter Begründung neuerdings Max Kassowitz?) entgegengetreten,
der in seiner gründlichen Studie über den „theoretischen Nährwert des
1) Aehnlicher Meinung ist auch Prof. R. O. Neumann-Heidelberg in seinem Vor-
trag „Der Alkohol als Nahrungsmittel“ (wissenschaftliche Kurse zum Studium des Al-
koholismus, 1906, B. G. Teubner „Der Alkoholismus“).
2) Vergl. auch seinen Vortrag auf dem X. Internationalen Kongreß, Bericht
S. 771g.
Literatur. 519
Alkohols“ unter Berufung auf zahlreiche Physiologen (namentlich -
Chauveau) jeden Nährwert des Alkohols bestreitet. Seine Auffassung
ist die, „daß der in den Körper eingeführte Alkohol nutzlos verbrennt
und außerdem durch seine narkotische Wirkung ein Minus von Muskel-
arbeit und einen entsprechenden Ausfall der Kohlensäureproduktion her-
beiführt“. Die Leistungen des Körpers nehmen bei Alkoholkonsum
ab, der Alkohol ist Gift. Diese Meinung vertrat früher schon — aber
weniger stark und gut begründet als Kassowitz — Johannes Bresler
in seiner 1902 erschienenen Schrift „Alkohol auch in geringen Mengen
Gift“.
Die Streitfrage dürfte aber durch die neuesten Ergebnisse der
langjährigen Studien Laitinens entschieden sein, der in mühsamen
Experimenten den Einfluß des Alkohols auf die Widerstandsfähigkeit
des meuschlichen und tierischen Organismus gegen Infektionsstoffe
untersucht hat. Nachdem er früher schon seine Tierversuche in einem
Buche niedergelegt hat!), hat er auf dem Budapester, dem Stockholmer
uud dem Londoner internationalen Kongreß über seine Ergebnisse be-
richtet, die nunmehr als abschließende gelten dürfen. Auf dem Stock-
holmer Kongreß konnte er nachweisen, daß schon verhältnismäßig sehr
kleine Alkoholgaben die normale Widerstandsfähigkeit des tierischen
Organismus gegen Infektionsstoffe herabsetzen (s. Verhandlungen S. 47).
In Stockholm konnte er von den bestätigenden Versuchen berichten
und die Art der Wirkung kleinster Alkoholmengen näher nachweisen
(s. Verhandlungen Appendix S. 81 fg.) In London war er in der Lage,
das, was er früher nur an Tieren nachgewiesen, nun auch aus Beobach-
tungen an Menschen als experimentell erwiesen mitteilen zu können ?).
Eine Uebersicht über die früheren Untersuchungen Kraepelins und
seiner Schüler, von Smith, Fürer, Kürz, Aschaffenburg, Demme, Gaule,
Destrée u. a, die alle auch die Schädlichkeit kleiner Alkoholmengen
behandeln, findet sich bei Helenius, S. 81fg. Wie weit diese phy-
siologische Erkenntnis sozial von Wert ist, werden wir in den fol-
genden Abschnitten (Alkohol und Lebensdauer, Alkohol und Degene-
ration usw.) sehen.
Zuvor ist aber noch eines im wesentlichen medizinischen Buches
zu gedenken, das die Frage des Einflusses des Alkohols auf die Ge-
sundheit in einer auch vom sozialen Standpunkt trefflichen Weise und
in einer für jedermann verständlichen und leicht lesbaren Form be-
handelt. Es ist die Schrift von Dr. Hirt über „den Einfluß des
Alkohols auf das Nerven- und Seelenleben“. Aus den Ausführungen
des Verf. ist die unbedingte Antwort zu entnehmen, daß Alkohol
durchaus als Gift anzusehen ist. Das äußert sich nach seinen klaren
Darlegungen, noch ehe pathologische Veränderungen nachweisbar sind,
ganz naturgemäß zuerst in funktionellen Störungen, und diese Störungen
1) Jena, 1900.
2) Da die Londoner Verhandlungen zurzeit noch nicht im Druck erschienen
sind, berufe ich mich auf ein Referat Dr. A. Holitschers (Prag. Med. Woch. 1909,
No. 48), das mir Herr Dr. Holitscher in liebenswürdiger Weise zur Verfügung
stellte.
520 Literatur.
- sind bei der akuten Alkoholvergiftung sehr ähnlich denen der Er-
müdung, bei der chronischen Alkoholvergiftung denen der chronischen
nervösen Erschöpfung, sowie der Altersveränderungen, also der physio-
logischen und pathologischen Abnutzung. „Nichts hilft so sehr, den
unvermeidlichen Grad der Abnutzung bis auf ein sicherlich krankhaftes
Maß zu steigern, als der Alkohol.“ Dieses Ergebnis der Ausführungen
des Verf. zeigt mit großer Deutlichkeit, daß von der physiologischen
Erkenntnis her der Alkoholgenuß als Gift, als lebenverkürzend, als
sozial schädlich anzusprechen ist. Welche Menge eines geistigen Ge-
tränkes nun individuell als giftig anzusehen ist, diese Frage für den
Einzelnen, läßt sich nach des Verf. Aeußerung „nur so beantworten,
daß man jenes Quantum aufweist, welches überhaupt noch deutlich
nachteilige Spuren entfaltet“. Sehr richtig spricht der Verf. solcher
Einzeluntersuchung und Spezialantwort aber jede soziale Bedeutung ab
und verweist sie lediglich in die ärztliche Sprechstunde. Und dabei
seien die Schädigungen zumeist größer, als man bei mäßigem Genuß im
allgemeinen annehme. „Darum kann man in der völligen Enthaltsamkeit
auch vom rein ärztlichen Standpunkt aus nichts als die folgerichtige
Handlungsweise eines gewissenhaften Menschen erblicken.“
2) Alkohol und Lebensdauer.
Seit Jahren besteht die Kontroverse über die Beweiskraft der
Zahlen einer Londoner Versicherungsgesellschaft, nach denen die Ab-
stinenten eine größere Lebenserwartung haben als die Nichtabstinenten.
Helenius hat noch eine imponierende Menge weiterer statistischer An-
gaben zusammengebracht, die zum Teil mit Exaktheit, zum Teil
aber auch nur konkludent die höhere Sterblichkeit und geringere Le-
bensdauer der Nichtabstinenten und der Trinker darlegen. Namentlich
aus der Nähe des Berufes zum Alkoholkonsum werden die Schlüsse
gezogen, die für die Alkoholgewerbe sehr ungünstig sind. Ueber diese
Frage wird unten noch gelegentlich der Guttstadt’schen Schrift zu
sprechen sein. Des weiteren aber hat Helenius in einem besonderen
Abschnitt seines Buches (Abschnitt V) schon die ganze Frage der Be-
weiskraft jener englischen Zahlen geprüft, hat nicht nur die auf mehr
als 60jährige Erfahrungen zurückgehenden der United Kingdom Tem-
perance and General Provident Association, sondern auch die ebenfalls
wichtigen und wohl einwandfreien Zahlen der Sceptre Life Association
wiedergegeben. Er gelangt zu einer wesentlich günstigeren Lebens-
erwartung für die Abstinenten als für die Nichtabstinenten, und zwar
durchschnittlich in einer Höhe von 24—30 Proz. (für die einzelnen
Lebensalter natürlich schwankend). Die Entgegnungen von Emminghaus
bekämpft er. Er gibt auch Zahlen für die Lebenserwartung der Ab-
stinenten gegenüber den Mäßigen (nicht nur gegenüber der un-
günstigeren Gesamtpruppe der „Nichtabstinenten“) und findet auch da
günstigere Lebenserwartungen für die Enthaltsamen. Seine Zahlen
haben Aufsehen erregt, von Alkoholinteressenten ist ein 3000 M.-Preis
auf die Widerlegung seiner Zahlen ausgesetzt worden, den aber bis
jetzt — nach 6 Jahren — noch niemand gewonnen hat.
Literatur. 521
Die Frage wurde aufs neue erörtert auf dem XI. Internat. Kongreß
(Stockholm). Dr. Holitscher besprach prüfend die englischen Er-
gebnisse, schloß sich der Behauptung der günstigeren Lebenserwartung
der Abstinenten um etwa 24 Proz. an (im einzelnen vgl. seine
Ausführungen, Verhandlungen Appendix S. 63/64), und Dr. Ph. N.
Ekholm fügte in seinem Korreferat die Erfahrungen der Svenska Lif
hinzu, die das Ergebnis bestätigten. Der Unterschied zugunsten der
Abstinenten nimmt hiernach mit dem Alter und der Versicherungsdauer
zu. Beide Referenten gingen mit sorgfältiger Kritik zu Werke und
betrachteten auch die Einwendungen, die gegen die Beweiskraft jener
Zahlen erhoben worden sind.
Der wichtigste dieser Einwände ist der, daß den Abstinenten die
„Nichtabstinenten“ entgegengestellt sind, die ja auch die unmäßigen
Trinker umfassen, also dadurch ungünstiger dastehen. Dieser Einwand
ist richtig. Da die Grenze zwischen Mäßigkeit und Unmäligkeit sehr
schwer zu ziehen ist, wird es auch kaum möglich sein, eine befriedigende
Lösung dieses Einwandes zu geben. Man kann nur Meinungen darüber
aussprechen, ob die Mitwirkung der „Trinker“ bei diesen Zahlen so
stark ist, daß die „Mäßigen“ durch sie ungerechterweise diskreditiert
werden. Diese Frage wird also durch jene Zahlen nicht gelöst.
Jene anderen Versuche aber, auf Grund der Zahlen von
Isambard Owen, wie es vielfach geschehen ist, für die Abstinenten
eine ungünstigere Lebenserwartung als für die Mäßigen heraus-
zurechnen, beruhen auf statistischen Fehlern (Annahme eines mittleren
Lebensalters, wobei die abstinenten Kinder dieses „mittlere“ Lebens-
alter gewaltig herunterdrücken!) und irreführender Fragestellung, die
von Helenius, Holitscher, Ekholm und außerdem in der besonderen
Schrift von Dr. Eugen Blocher ad absurdum geführt worden sind.
Sind auch hiernach noch nicht einwandfreie statistische Angaben für
das Verhältnis der „Mäßigen“ zu den Enthaltsamen gegeben, so scheitert
dies ja, wie ich schon betonte, naturgemäß an der statistischen Un-
definierbarkeit des „Mäßigen“. Demgemäß kann also auch hier nur die
Frage wissenschaftlich so gestellt werden: Alkoholgenuß oder nicht? Ob der
Alkoholgenuß, als eindeutige Gesamttatsache genommen, lebenverkürzend
wirkt, für diese Frage liefert besonders wichtiges Material die Betrachtung
der Sterblichkeitsverhältnisse in den Alkoholgewerben.
(Auch hier sind nicht alle Berufsangehörigen „Trinker“.) Helenius
gibt dazu schon einiges Material (S. 131fg.). Er stützt sich namentlich
auf das von Tatham bearbeitete Supplement to the Fifty-Fifth Annual
Report of the Registral-General (London 1897). Nach dessen Zahlen über-
steigt vom 25. Lebensjahre an die Sterblichkeit der Brauer bis zu 50
Proz. den Durchschnitt. Sorgfältig untersucht die Frage der (inzwischen
leider verstorbene) Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Guttstadt. Er benutzt
neben der allgemeinen Todesursachenstatistik das Material der Gothaer
Lebensversicherungsbank. Schon die Verteilung der Unfälle ist eine so
ungleiche, daß relativ gefährlichere Gewerbe mit geringeren Zahlen ver-
treten sind als die Alkoholgewerbe. Bei einer durchschnittlichen Pro-
millezahl der Verletzten bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften
522 Literatur.
(1901) von 8,07, kommen auf die Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossen-
schaft 13,46; auf 1000 Versicherte entfallen im allgemeinen Durchschnitt
46,42, in der Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossenschaft 118,61. Mögen
wirklich mancherlei andere Ursachen noch mit in Rechnung zu setzen
sein, so bleibt der dem Alkohol zuzuschreibende Anteil noch groß genug,
da der so gefährliche Bergbau z. B. nur mit Promillezahlen von 90
figuriert. Im einzelnen zeigt sich aus den interessanten und lehrreichen
Zahlen Guttstadts, daß das Alter um die 40 herum, wo andere Menschen
in der Fülle ihrer Kraft stehen, im Alkoholgewerbe eine besonders hohe
Sterblichkeit aufweist, während andererseits als besonders augenfällige
Tatsache die Sterblichkeit der Kellner an Tuberkulose vor dem 40. Lebens-
jahre, mit ca. 650 Prom. gegenüber einer allgemeinen Sterblichkeit an
Tuberkulose (!) von 376 Prom. figuriert.
Wir kommen damit auf das Sonderproblem des Zusammenhanges
zwischen Alkoholismus und Tuberkulose, das hier anhangs-
weise kurz gestreift werden mag, da gerade die Tuberkulose als leben-
verkürzende Erscheinung besonders stark ins Gewicht fällt. Mäßige
Alkoholmengen verstärken die Atmungstätigkeit, die indessen ohne
Nutzen für den Menschen ist, größere Mengen verlangsamen sie (s.
Baer-Laquer, S. 5). Dr. Legrain-Paris hat auf dem IX. Inter-
nationalen Kongreß über „Alkoholismus und Tuberkulose“ gesprochen
und in der Hauptsache folgende Ergebnisse zur Diskussion gestellt:
Der Alkoholismus prädisponiert das Individuum zur Tuberkulose und
verschlimmert die bereits eingetretene, weil er die Verteidigungsmittel
des Organismus schwächt (s. Laitinen). Sozial prädisponiert er zur
Tuberkulose, weil er immer die wirtschaftliche und moralische Haltung
des Menschen schwächt und die vorbeugende Tätigkeit und Fürsorge
lähmt. Zu einseitig aber wurde der Redner in dem Leitsatz: über den
Alkoholismus triumphieren heißt über die Tuberkulose triumphieren,
und es war nur zu berechtigt, daß sich bei der Diskussion Stimmen
erhoben, wie z. B. Dr. med. Strube-Bremen und Dr. med. Fröhlich-
Wien, die jene Uebertreibung, die von einigen Fanatikern auch unter-
stützt wurde, auf das rechte Maß zurückführten und betonten, daß der
Alkoholismus eben nur eine der Ursachen der Tuberkulose und nur
eine der Ursachen des sozialen Elends und manchmal auch die Folge
davon sei.
3) Alkohol und Degeneration.
Es ist seit längerer Zeit schon Gemeingut der Wissenschaft, daß
der Alkohol ein Keimplasmagift ist, das auf die Nachkommenschaft
degenerierend wirkt. Daß er die Totgeburten vermehrt, die Säuglings-
sterblichkeit erhöht, die Geburtenziffer erniedrigt, nimmt man seit
einiger Zeit ebenso sicher an, wie daß er zu Geistes- und Nerven-
krankheiten (Epilepsie, Neurosen, Psychosen usw.) disponiert, zu Tuber-
kulose, Alkoholismus und Verbrechen zwingt. Eine ausführliche Dar-
stellung der bis 1903 bekannten Beobachtungen und Zahlen gibt
Helenius S. 243—264. Diese Beobachtungen sind durch neuere Unter-
suchungen durchaus bestätigt worden.
Literatur. 523
Laitinens Untersuchungen und Experimente, von denen schon
oben in anderem Zusammenhange die Rede war, erstrecken sich auf
die degenerative Wirkung des Alkohols (s. Stockholmer Kongreß,
Appendix S. 97fg.). Er behandelte Kaninchen und Meerschweinchen
mit Alkohol und andere mit Wasser, und fand: die mit Alkohol be-
handelten Kaninchen warfen 93 Junge, von denen totgeboren oder
kurz nach der Geburt gestorben 57 = 61,29 Proz. und nur 36 = 38,71
Proz. am Leben blieben; bei den mit Wasser behandelten Tieren war
der Prozentsatz 54,17:45,83 Proz. Die mit Alkohol behandelten Meer-
schweinchen warfen 69 Junge, von denen 25 = 36,76 Proz. totgeboren
bezw. kurz nach der Geburt gestorben, 43 = 63,24 Proz. am Leben
blieben; bei den mit Wasser behandelten Tieren, die 69 Junge warfen,
war die Ziffer: tot 15 = 21,74 Proz., am Leben 54 — 78,26 Proz. Das
Mittelgewicht der Jungen der alkoholisierten Kaninchen war 79 g, der
mit Wasser behandelten 88 g (bei den totgeborenen 44:46), bei den
Meerschweinchen wogen die von alkoholisierten Tieren stammenden im
Mittel 73, von den mit Wasser behandelten 77 g (bei den totgeborenen
67:77). Die tägliche Wachstumszunahme der mit Alkohol behandelten
Meerschweinchen war in den ersten 40 Tagen 4,86, die der mit Wasser
behandelten 5,30 (in den ersten 110 Tagen 4,30:5,50). Das sind aller-
dings sehr wertvolle und eindrückliche Ergebnisse. Freilich mag auch
betont werden, daß Tiere bei weitem nicht dem Alkohol so angepaßt
sind wie der Mensch.
Laitinen hat seine Forschungen dann auch auf Menschen aus-
gedehnt und darüber auf dem Londoner Kongreß berichtet!). Auf dem
Wege der Umfrage erhielt er Auskunft von 5845 Familien mit 20008
Kindern, vorwiegend aus einer ihm gut bekannten kleinen Landstadt.
Die Ergebnisse waren: Bei den Abstinenten (a) waren am Ende des
8. Lebensmonates 86,55, bei den Mäßigen (b) 76,83, bei den Unmäßigen
(c) 67,98 Proz. der Kinder noch am Leben. Fehl- und Totgeburten
a) 1,07; b) 5,26; c) 7,11 Proz. Am Ende des 8. Monats ohne Zähne:
a) 21,5; b) 33,9; c) 42,3 Proz. Durchschnittszahl der Zähne am gleichen
Zeitpunkt: a) 2,5; b) 2,1: c) 1,5 Proz. Gewicht der Knaben nach der
Geburt: a) 3600; b) 3570; c) 3470 g; nach 8 Monaten: a) 9090;
b) 8910; ei 8880 g; bei den Mädchen in gleicher Reihenfolge: a) 3870;
b) 3780; ei 3700 g; — a) 9880; b) 9810; c) 9150 g. Eine Frage
bleibt die, wieviel von diesen Prozentsätzen auf die direkte physiologische
Wirkung des Alkohols entfällt und wieviel auf die sozialen Faktoren
(schlechtere Kost, Wohnung, Pflege), die allerdings zum Teil auf dem
Umwege vom Alkoholismus beeinflußt werden.
G. v. Bunge hat vorher schon ein großes und wertvolles statistisches
Material zusammengebracht, das den eben genannten Ergebnissen parallel
geht. Wir finden es übersichtlich niedergelegt in seiner sehr flott ge-
schriebenen flammenden Anklage „Alkoholvergiftung und De-
1) Ich zitiere wieder nach Holitschers Referat (s. oben). Wie groß die einzelnen
Vergleichsgruppen waren, insonderheit ob die Gruppe a) groß genug war, um weit-
reichende Schlüsse zuzulassen, ersehe ich aus dem Referat nicht.
524 Literatur.
generation“. Diesen Vortrag sollte jeder gelesen haben. Er ist das
auf knappem Raume Eindrucksvollste, was je zur Alkoholnot beigebracht
worden ist. Bekannt sind Bunges Untersuchungen über die abnehmende
Stillfähigkeit der Mütter. Seine mit Zahlen belegten Ergebnisse sind
diese: Alkoholismus des Vaters ist der wesentliche Grund der Still-
unfähigkeit der Töchter; die Stillfäbigkeit einmal verloren, ist unwieder-
bringlich verloren; Kuhmilch kann Menschenmilch nicht ersetzen wegen
des Mangels an Leeithingehalt, der zum Aufbau des Gehirns nötig ist;
korrespondierend damit ist die Zunahme der Zahnkaries bei Alkoholisten
gegenüber Abstinenten (Untersuchungen an Mohammedanern); starke
Begünstigung der tuberkulosen Anlage der Kinder von Alkoholisten;
also Fäulnisprozesse bei der Nachkommenschaft Alkoholisierter. Rassen-
hygienisch ein großes Memento mori: nach uns stehen keine Rasse-
völker mehr, die die Erbschaft der Kultur antreten könnten. Das alles,
weil wir das giftige Exkret des Hefepilzes auf Flaschen ziehen. Nicht
die Trinksitten sind der schlimmste Feind, sondern das Alkoholkapital.
Das einzige Ziel kann die Totalabstinenz und Prohibition sein 1).
Etwas einzuwenden ist von der Kritik gegen die Behauptung, daß
die Stillfähigkeit unwiederbringlich verloren ist. Das mag sein, aber
erwiesen ist die Unwiederbringlichkeit noch nicht, weil dazu die
Generationsreilien, die Bunge betrachten kann, noch zu klein sind. Es
nimmt auch wunder, daß diese schädliche Folge jetzt so rapid um sich
greifen soll, während die Trunksucht doch schon in früheren Zeiten
fleißig geübt wurde. (Vgl. oben das aus der Schrift von Georg
B. Gruber Mitgeteilte) Auch fehlt bei einer Anzahl der Bungeschen
Tabellen die dritte Prozentzahl, die angibt: Mutter nicht befähigt,
Tochter befähigt. Soll aus dem Fehlen dieser Angaben geschlossen
werden, daß sie in allen beobachteten Fällen = O war?
v. Bunge berührte damit also neben individuellen Vererbungsfragen
schon Rassefragen. Zu diesem Thema sind noch zwei wichtige Aeube-
rungen von Ploetz und Rüdin?) zu verzeichnen.
Alfred Ploetz kommt in seinem Referat über „den Alkohol im
Lebensprozeß der Rasse“ zu folgendem Resultat: Erhaltung der Zahl
und Leistungen der Individuen erhält das Leben einer Rasse. Alkohol-
konsum hat die Tendenz, die Geburtenziffer in geringem Maße herab-
zusetzen, die Sterbezilfer in einem höheren Maße zu steigern. Ganz
mäßiger Genuß beeinflußt nicht nachweisbar die Qualität der Nach-
kommen, Jeder andere hat nachteilige Folgen. Er scheidet einen ver-
hältnismäßig kleinen Teil der Individuen aus ohne Rücksicht auf die
Qualität ihrer Anlagen, eine wahllose Elimination, die stets eine un-
nötige Belastung des Rassenprozesses bedeutet. Er eliminiert einen
1) Zu gleichem Endergebnis wie Bunge kommt Legrain, der schon früher in
einem wichtigen Werke statistisch-physiologische Beiträge zur Vererbungsfrage bei
Alkoholismus beigebracht hat, in seinem Referat auf dem Stockholmer Kongreß
(S. 161fg.) Er berichtet namentlich von der Vererblichkeit der Trunksucht selbst
und von der gesteigerten Vehemenz ihrer Aeußerungen, die zu verbrecherischen Ge-
walttaten verleitet.
2) IX. Internationaler Kongreß 8. 95 fg.
Literatur. 525
bei weitem größeren Teil auf Grund von Anlagen, die verschieden sind
von den Anlagen der verschonten Individuen: selektorische Elimination.
Aber dieser ausleseude Einfluß, der hie und da nützlich sein kann,
wird ganz wesentlich überwogen durch den degenerierenden Einfluß.
Da jene selektorische Elimination sich mehr beim unmäligen Ge-
nuß bemerkbar macht, die degenerierende daher langsamer, länger
und gemeinschädlicher wirkt beim mittelmäßigen, so ist Beseitigung
des mittelmäßigen Trinkens vom rassehygienischen Standpunkt die
allerwichtigste Forderung, der gegenüber die Beseitigung der unmäßigen
erst in zweiter Linie kommt.
Ein sehr wichtiges Ergebnis, und ein neues Moment. Es zeigt wieder
etwas Aehnliches, wie wir es oben schon bei der Frage der Giftigkeit
des Alkohols konstatieren mußten: die allenfalls herauszusuchenden
guten Wirkungen werden durch die zugleich wirksamen schlechten
mehr als gedeckt!
Rüdin kommt zu ähnlichen Sätzen: Alkohol schafft Auslese, aber
so langsam, daß er nicht mehr Gutes schafft, sondern die Regeneration
nur erschwert. „Wir bezahlen also die an und für sich nützliche Ausmerze
eines kleinen Teiles süchtig Untauglicher mit der teils reparablen, teils
aber irreparablen Schädigung eines großen Teiles durchaus Tüchtiger,
ja mit der Produktion eines beträchtlichen Kontingents neuer Minder-
wertiger, wobei für die Rasse ein erheblicher Fehlbetrag sich heraus-
stellen muß 1).“
Es ist das Sozialprinzip, das hier spricht, und das, selbst wenn
nach dem Individualprinzip die Schädlichkeit mäßigen Alkoholgenusses
nicht erwiesen ist, die ganze Frage auf eine breitere Basis stellt.
Es ist natürlich, daß beide Prinzipien auch hier im Widerstreit
miteinander stehen. Aber es ist schon ein sozialer Gewinn, wenn der
gegenwärtige Stand der Alkoholfrage jedem über den Alkoholismus über-
haupt Nachdenkenden diese Alternative klar zum Bewußtsein bringt:
er mag individuell die kleinen Mengen Alkohol sich und anderen ge-
statten, sozial betrachtet sieht das ganz anders aus, einmal wegen des
Mangels eines brauchbaren „Mäßigkeits“begriffs, weiter aber wegen der
Aktionsfähigkeit. Die weitere Vertiefung des sozialen Standpunktes
bringen die folgenden Abschnitte.
IV. Alkohol und Wirtschaft.
I. Den Einfluß des Alkoholismus auf die Volkswirt-
schaft irgendwie erschöpfend zu untersuchen, ist, soweit ich sehe,
bisher noch niemandem gelungen. Dennoch müssen die für dieses
Problem in Betracht kommenden Punkte kurz erwähnt werden, weil
die Abstinenten vielfach mit ihnen spielen und imponierende Zahlen
dabei aufführen. Es handelt sich dabei um die — heute freilich noch
1) Die Fragen der Fortbildung der Rasse unter dem Einfluß des Alkohols werden
auch in der zu Agitationszwecken benutzten Schrift von Prof. Dr. M. v. Gruber „Die
Alkoholfrage in ihrer Bedeutung für Deutschlands Gegenwart und Zukunft‘ interessant
und übersichtlich behandelt. (Berlin 1909, Mäßigkeits- Verlag.)
526 Literatur.
ganz utopische — Frage, wie sich die Volkswirtschaft nach Beseitigung
des Alkoholgenusses gestaltet: großes Mehrangebot von Getreide, Be-
schränkung der Einfuhr, Frage der Beschäftigung der freiwerdenden
Arbeitskräfte, Ersatz der Getränkesteuern, andersartige Gestaltung der
Ausgaben usw. Das ganze Problem verdient einmal eine zahlenmälige
Berechnung, die auf Zuverlässigkeit Anspruch erheben müßte. Wohl die
bisher reichhaltigste Datensammlung befindet sich in Helenius’ Buch
S. 264 f. Ein paar Hauptsätze seien deshalb referiert; 1) Der Alkohol-
betrieb übt einen nachteiligen Einfluß auf den Arbeitsmarkt aus (Helenius
bringt Statistiken dafür bei, daß in den Brennerei- und Brauereibetrieben
auf die Entlohnung der Arbeiter relativ sehr geringe, auf den Kapital-
gewinn um so höhere Sätze entfallen). 2) Der Alkoholbetrieb ist die
vornehmste Ursache von Pauperismus, Verbrechen usw. (Die Kosten
für Gefängnisse, Irrenanstalten, Armenfürsorge würden ganz wesentlich
gemindert, wenn der Alkoholismus beseitigt würde!).) 3) Der Alkohol-
betrieb zerstört zu viel Getreide. 4) Durch den Alkoholgenuß schadet
der Arbeiter seiner körperlichen und geistigen Elastizität und belastet
das Haushaltungsbudget zu sehr. (In Deutschland werden nach Hele-
nius 3 Milliarden M. für alkoholische Getränke, 870 Mill. M. (1,—/,
davon) für Heer und Flotte ausgegeben, England für alkoholische Ge-
tränke 136 Mill. £, für Brot 70 Mill. £, für Schulen 11 Mill. £. Ueber
das Privatbudget und über den Einfluß des Alkohols auf die wirtschaft-
liche Leistungsfähigkeit des Einzelnen handeln wir weiter unten noch.)
5) Die Steuern aus geistigen Getränken werden leicht durch andere
Aufwandsteuern zu ersetzen sein, da dann begreiflicherweise anderer
Aufwand gemacht wird (auch die in Alkoholbetrieben bisher Beschäftigten
müßten in anderen Betrieben beschäftigt werden).
Es liegt gewiß viel Richtiges in diesen Ausführungen, indessen
fehlt es noch an exakten Nachweisen über diese interessanten Ver-
hältnis- und Entwicklungszahlen.
Ebenso wie der Staat wird natürlich die Gemeinde vom Alkohol-
budget der Volkswirtschaft stark in Mitleidenschaft gezogen. In
welchem Maße der Alkoholismus auf Kriminalität, Irrenwesen usw. wirkt,
wodurch wesentlich erhöhte Ausgaben für Krankenhäuser, Irrenhäuser,
Gefängnisse, Rechtspflege, Polizei erwachsen, wird unten sub V noch
zu beleuchten sein. Hier sei auf das Referat von Stadtrat Kappel-
mann (Erfurt) hingewiesen, über „die Belastung der Kom-
munen durch den Alkohol“ (XI. Internationaler Kongreß, S. 98 f.),
wo die Gründe und Abwehrmittel kurz zusammengefaßt werden. Im
Anschluß daran gibt Landesversicherungsrat Hansen interessante Tat-
sachen aus schleswig-holsteinischen Gemeinden an, wonach unter dem
Einfluß der Sozialversicherung ein erstaunlich großer Rückgang der Be-
lebung der Armenhäuser eingetreten ist. Das Verhältnis zwischen Trunk-
sucht und städtischen Steuern untersucht für die Stadt Halle Geh. Reg.-
Rat Pütter. Diese kleine Schrift ist um so wertvoller, als derlei
Statistiken bisher nur in sehr geringem Maße zur Verfügung stehen.
1) Näheres hierüber unten sub V.
Literatur. 527°
Die Grundlage zu solchen Untersuchungen ist dann für wesentliche
Stücke das Einzelbudget.
II. Der Einfluß des Alkoholismus auf die Einzelwirt-
schaft.
a) auf das Ausgabebudget.
Eine überaus gründliche Untersuchung, die aber leider expansiv nur
gering ist, liegt in der kleinen Schrift von Blocher und Landmann
vor. Verf. untersuchten — mit vollendeter statistischer Technik und
Anwendung aller Vorsichtsmaßnahmen — Budgets von 8544 Arbeiter-
familien, von welchen 6809 auf die Vereinigten Staaten und 1735 auf
Europa entfallen. Die amerikanischen verdanken sie vorwiegend einem
Material des Arbeitsamtes der Union.
Die Verf. fanden in allen ihren Untersuchungen den Satz, daß die
Ausgaben für Alkohol mit steigendem Einkommen nicht nur absolut,
sondern auch relativ wachsen und daß sie prozentual rascher wachsen
als das Einkommen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß der besser
gestellte Arbeiter mehr Alkohol, sondern, daß er ihn vermutlich in
feinerer Form zu sich nimmt, vom Branntwein abkommt. Für die Frage
der Wirtschaftlichkeit, die uns hier beschäftigt, bleibt das aber gleich-
gültig. Der Prozentsatz vom Einkommen, der für Alkohol ausgegeben
wurde, ist im Durchschnitt aller Sozialklassen 4,77 Proz. des Ein-
kommens, 5,09 Proz. der Ausgaben; das heißt: etwa !/, von den Aus-
gaben für Keidung, etwa !/, von den Ausgaben für Wohnung, mehr als
die Ausgaben für Geistespflege und Gesundheitspflege zusammen, mehr
als die Ausgaben für Vor- und Fürsorge, etwa gleich den Ausgaben
für Heizung und Beleuchtung. Das sind hohe Zahlen. Um so höher,
wenn man bedenkt, daß wir es mit amerikanischen Ziffern zu tun
haben, die unter einem viel stärkeren Einfluß der Antialkoholbewegung
stehen als die alte Welt. Die Verf. gruppieren ihre mühsam gewonnenen
Ergebnisse noch weiter nach Nationalität, Berufen usw. und vergleichen
sie auch mit europäischen Ländern. Danach bliebe Deutschland unter
der amerikanischen Ziffer, England geht ein wenig darüber, Belgien
und Frankreich noch mehr. Indessen erstrecken sich die europäischen
Ergebnisse auf eine zu kleine Anzahl von Familien, als daß sie ganz
mit den amerikanischen vergleichbar wären.
Nach einer bekannten Statistik im Reichsarbeitsblatt, die in der
antialkoholistischen Literatur in reichlichstem Maße repoduziert wird,
soll der deutsche Arbeiter 10 Proz. der Gesamtausgaben für alko-
holische Getränke ausgeben, Wenn das richtig ist, so wäre es ein
ungeheuerlicher Prozentsatz, der sehr viele soziale Schädigungen er-
klären könnte.
An exakten Untersuchungen fehlt es noch sehr. Gewöhn-
lich treten Schätzungen an Stelle der Statistik, und diese Zahlen,
1) Nach Strümpell soll der als solid geltende bayrische Arbeiter etwa 16 Proz.
seines Lohnes für Bier ausgeben, in Bremen gelte die Ausgabe von 20 Proz. des Ver-
dienstes für Branntwein nicht als unmäßig, bei den Zieglern im Unter-ElsaßB — aller-
dings eine sehr nasse, kalte, ungesunde Tätigkeit -— 37 Proz. — Diese Angaben sind
aus Stehr, Alkoholgenuß und wirtschaftliche Arbeit, S. 65.
528 Literatur.
ob von der Seite der Alkoholinteressenten oder derjenigen der Alkohol-
gegner, sind daher mit großer Vorsicht aufzunehmen. Der Grund für
diese Unsicherheit liegt ja nahe: Die Ausgaben für Alkohol werden so
gern verschwiegen, daß die Enqueten wenig Aussicht auf Zuverlässig-
keit haben. Die Berechnungen, wieviel von den mehr als 3 Milliarden,
die Deutschland jährlich dafür ausgeben soll, nun im Durchschnitt auf
jeden männlichen Erwachsenen kommen, haben für die Erkenntnis des
Problems gar keinen Wert.
Ganz interessant und geschickt ist die Zusammenstellung
Dr. Magnus Hirschfelds für Berlin!), da man sich wegen der
lokalen Beschränkung schon ein etwas deutlicheres Bild machen kann.
Im wesentlichen stützt er sich auf die Zahlen im Statistischen Jahr-
buch der Stadt Berlin; seine Gruppierungen, Folgerungen, Ergebnisse
sind aber eine dankenswerte Arbeit. Kurz sei erwähnt, daß danach
im Jahre 1905 in Berlin eine Gastwirtschaft auf 4170 Einwohner ent-
fällt, eine Branntweinschenke auf 610, ein Weinlokal auf 6789, ein
Bierlokal auf 219 (!) Einwohner, zusammengenommen Wirtschaften, die
Spirituosen verschenken: 13018, d. h. eine für 157 Einwohner, und zwar
in allen Gruppen mit gewaltigen prozentualen Steigerungen in den
letzten 20 Jahren (100—200 Proz). Berlin gibt jährlich für Bier
1531/, Mill. M., für Wein 251/, Mill. M., für Schnaps 27 Mill. M. aus,
zusammen mit Trinkgeldern rund 225 Mill. M. Ueber Produktion und
Absatz der verschiedenen Berliner Aktienbrauereien macht Hirschfeld
ebenfalls zahlenmäßige Angaben. Ganz besonders interessant aber sind
einige Beispiele (vergl. S. 39), die die Abhängigkeit der Wirte wie der
Konsumenten vom Alkoholkapital in ein grelles Licht rücken und
zeigen, wie aus diesem Grunde die alkoholfreien Getränke mutwillig
verteuert werden.
Spezielle Arbeiten liegen auch für Hamburg und für München
vor. Für Hamburg muß die eindrucksvolle Schrift von Popert
„Hamburg und der Alkohol“ genannt werden. Der Verf. gibt den
ersten Versuch einer Hamburger Alkoholstatistik, in der er zu einer
Belastung des Hamburgischen Staates durch Alkoholschäden (Armen-
pflege, Strafen, Erkrankungen) von rund 1 Mill. M. gelangt. Weitere
darausfolgende Schäden deutet er ziffermäßig an. Nach Erörterungen
über Branntweinausschank, Bedürfnisfrage und Konzessionswesen (viel
zu viele Konzessionen!) kommt er auf die Bierfrage und zum Schluß
auf die Mittel der Abwehr zu sprechen. Auch die Bier- und Wein-
lokale waren von 1891—1901 an Zahl so gestiegen, daß das Verhältnis
von 1 Lokal auf 1491 Einwohner auf 1: 563 gewachsen ist.
Ueber den Alkoholismus in München bringen die ersten brauch-
baren Mitteilungen die Aufsätze von Kraepelin, Vocke und
Lichtenberg in ihrer Schrift „Der Alkoholismus in München“. Sie
schöpfen allerdings lediglich aus dem Material der Münchener psychi-
atrischen Klinik und der Anstalt Eglfing, also aus einem relativ be-
1) Die Schrift enthält einen sozial-medizinischen Ueberblick über Trinken und
Trinksitten in Berlin, ist mit großer Sachkenntnis und sehr unterhaltend geschrieben.
Literatur. 529
schränkten Kreise. Dennoch sind die Daten sehr wertvoll. 1/, aller
zur Beobachtung gelangenden Geistesstörungen sind nach Kraepelin
direkt auf den Alkohol zurückzuführen, bei einer großen Anzahl wei-
terer ist es eine der allerwichtigsten Ursachen. Auch die wirtschaft-
liche Seite dieses Ergebnisses berechnen die Verfasser.
In Halle kam nach der schon oben genannten Schrift von
Pütter im Jahre 1903 auf 50 Männer eine Wirtschaft mit Bier oder
Branntwein und auf 86 Männer ein Branntweinausschank.
b) auf das Einnahmebudget. (Herabsetzung der Leistungs-
fähigkeit).
Dem großen Ausgabeposten für alkoholische Getränke steht aber
nach den neueren Untersuchungen noch ein Faktor gegenüber, der die
bedenklichen Wirkungen jenes wirtschaftlichen Schadens noch erheb-
lich vergrößert: die Verminderung der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit durch den Alkoholgenuß, mithin die
Verringerung der Einnahmen. Vergessen darf bei der Beurteilung
dieses Momentes nicht werden, daß zum Alkoholgenuß in der üblichen
Kneipenumgebung Zeit gehört, die, wenn sie auch gewöhnlich „nach
Feierabend“ vergeudet wird, doch für jede wirtschaftliche Tätigkeit
verloren ist. Das fällt namentlich dort in die Wagschale, wo — wie
in den höheren Klassen — eine gegenüber der Tagesarbeit abwechs-
lungbringende Tätigkeit trotzdem Nebeneinnahmen oder doch irgend-
welchen wirtschaftlichen Nutzen bringen kann, und dort, wo selbst der
Arbeiter die Möglichkeit dazu hat (Schrebergärten-Bestellung oder dgl.).
Des weiteren aber handelt es sich um die physiologischen
Wirkungen des während oder nach der Arbeit genossenen
Alkohols auf die Leistungsfähigkeit, und zu diesem wichtigen
Problem liegt uns in dem Buch von Dr. Alfred H. Stehr über
„Alkoholgenuß und wirtschaftliche Arbeit“ eine wertvolle Publikation
vor. Der grundlegende Teil seines Buches zeigt, daß der Alkohol als
Peitsche wirkt, der auf kurze Zeit die Leistungsfähigkeit erhöhen kann,
um sie dann um so schneller hinter derjenigen nicht alkoholisierter
Konkurrenten sinken zu lassen. Das gilt für Muskel- wie für
geistige Arbeit). Bei geistiger Arbeit wird das Motorische angeregt,
das Rbythmische, Sensorische, nicht aber das rein Intellektuelle, sodaß,
je höher qualifiziert die geistigen Assoziationen sind, sie um so stärker
unter dem Alkoholgenuß leiden. Verf. zeigt, daß die Merkfähigkeit
leidet und das Gefühl erhöhter Leistung nicht der Wirklichkeit ent-
spricht. Es folgen dann in dem Werk die Mitteilungen des Verfassers
über seine Ermittelungen in 35 ganz verschiedenen industriellen An-
wesen. Dabei muß er konstatieren, daß die Unternehmer — ganz ent-
gegengesetzt ihren amerikanischen Kollegen — so gut wie nie einen
schädlichen Einfluß mäßigen Alkoholgenusses auf die Leistungsfähigkeit
ihrer Arbeiter entdeckt haben wollen. Nur im Westen Deutschlands
findet man zahlreicher ein gänzliches Alkoholverbot in industriellen
1) Vergl. auch die Untersuchungen Aschaffenburgs über Schriftsetzerarbeit.
Psych. Arb. von Kraepelin 1896. Ba. I.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 34
530 Literatur.
Unternehmungen. In Amerika (vgl. Stehr, S. 43) verbieten Unter-
nehmer ihren Angestellten auch schon den Alkoholgenuß außerhalb der
Arbeitszeit und Arbeitsstätte Verf. untersucht dann die Be-
ziehungen des Alkoholgenusses zu den Eigenheiten bestimmter Arbeits-
gebiete. Die zunehmende Arbeitsteilung mit Maschinenbetrieb will er
nicht so sehr dafür verantwortlich machen (entgegen Adolph Wagner
und Marx, s. S. 53fg.), wohl aber die Unterernährung und die soziale
Prahlsucht, die — während bei der Arbeiterin im Putz — beim männ-
lichen Arbeiter geradezu in der Stärke des Alkoholkonsums liegt. Die
Einwirkungen auf die Unfallhäufigkeit läßt Verf. Revue passieren,
betont aber mit Recht, daß sie sich bisher exakt nur auf die unzwei-
deutige Trunkenheit beziehen konnten [die Zahlen für die Brauerei-
betriebe haben konkludenten Wert]. Weiter beleuchtet er die Beein-
flussung der Arbeitsversäumnis und namentlich der Montagsarbeit (auch
für Unfallhäufigkeit). Die Meinung des Verf., daß er für die natio-
nalökonomische Betrachtung einen brauchbaren Maßstab der Mate,
keit gefunden habe (der Punkt, wo die volle wirtschaftliche Leistungs-
fähigkeit gemindert wird!), ist meines Erachtens eine Ueberschätzung;
denn praktisch kommen wir auch mit diesem Mäfßigkeitsbegriff nicht
weiter. Vieles bringt der Verf. auch zur „Therapie des Alko-
holismus“ bei (vgl. weiter unten sub VI).
Die Frage der Beeinflussung der Leistungsfähigkeit durch den
Alkoholismus erfährt eine markante Beleuchtung noch durch die Er-
fahrungen beim Militärdienst und eventuell im Kriege, — und des-
halb sei hier kurz darauf aufmerksam gemacht.
Es handelt sich dabei namentlich um die Frage außerordent
licher Leistungen und um mäßigen Alkoholgenuß. Auf dem
X. Internat. Kongreß (Budapest) hat der inzwischen verstorbene schwe-
dische Arzt Dr. Mitander über den „Einfluß des Alkohols auf die
physische Arbeitsfähigkeit mit besonderer Rücksicht des militärischen
Trainings“ gesprochen (Bericht S. 193 fg.) Nachdem er auf die Unter-
suchungen und Versuche von Chauveau, Schumburg, Scheffer, Frey,
Destrée, Kraepelin und anderen Bezug genommen, gibt er ein reiches
Material eigener Ermittelungen und Beobachtungen und zahlreiche,
durchaus einwandfreie neue Daten, aus welchen hervor-
geht, daßmäßigerAlkoholgenußaufqualifizierteLeistungen
schädigend wirkt. Das Ergebnis von Stehr bestätigt er so, ohne
es zu kennen. Er exemplifiziert auf den Sport, für welchen wichtige
Angaben über die Vorteile der Abstinenz für Siegerleistungen vorliegen,
repoduziert des weiteren die Schießversuche des schwedischen Leut-
nants Bengt Böy. (Hier bedürfte es allerdings noch detaillierterer Er-
klärung der Zahlen). Dr. Ignaz Kemény (Budapest) unterstützt
die Ergebnisse durch eigene Beobachtungen.
Der Vortrag von Major von Toegel auf dem XI. Kongreß
über Alkohol und Militär bringt hingegen nichts Neues. Pastor
Dr. Stubbe (S. 255) erinnerte an die Versuche von 1843, die in.
Manöver mit branntweintrinkenden und nichttrinkenden Truppen ge-
macht wurden und mit deutlichem Zeugnis für die nichttrinkenden
Literatur. 531
(1 Kranker auf 90 Mann, bei den anderen 1 Kranker auf 40 Mann)
endeten, woraus aber nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen
worden seien.
Ueber die sonst bekannt gewordenen Marschversuche, namentlich
die der englisch-indischen Armee, vgl. z. B. Helenius S. 109.
V. Alkohol und soziale Gemeinschaft.
Die bisher betrachteten Probleme des Alkoholismus entbehrten
nicht des sozialen Einschlags, waren indessen vorwiegend vom Stand-
punkt des Einzelindividuums gesehen. Immerhin war auch da nicht
zu umgehen, daß von den Einzelinteressen auf die Interessen der Ge-
samtheit (Rassehygiene, Volkswirtschaftsbudget, industrielle und mili-
tärische Leistungsfähigkeit) übergegriffen werden mußte. Dies erfordert
jedoch noch Ergänzungen nach verschiedenen Richtungen hin: Irren-
wesen, Armenpflege, Justiz u, dgl. mehr werden durch den Alkoholismus
empfindlich berührt; und diese Fragen haben eine Reihe literarischer
Sondererörterungen veranlaßt. Hier aber liegen die stärksten Waffen
der Alkoholgegner. Denn während hinsichtlich der Gesundheit und der
privaten Wirtschaft immer in gewissem Grade der Einzelne seine
Schädigung mit sich selber abzumachen hat, liegen hier sehr wichtige
Staatsinteressen und soziale Fragen zutage, die die öffentliche Remedur
verlangen.
Einen recht hübschen Ueberblick über die soziale Frage des
Alkoholismus gibt die Rede des Pfarrers Johannes Kapitza, die
vom katholischen Mäßigkeitsbunde als Agitationsschrift für 10 Pf. ver-
breitet wird. So unscheinbar also ihr äußeres Gewand ist, zeichnet
sich diese Rede durch ihr soziales Verständnis, ihre geschickte
Gruppierung, ihre wirkungsvolle Diktion und die Beibringung inter-
essanter volkstümlicher Rechenexempel aus. Sie zeigt überzeugend,
wie der Alkohol eine menschenunwürdige Bedürfnislosigkeit schafft,
spielt also hier den Individualismus zugunsten der sozialen Reform-
arbeit aus.
1) Irrenwesen. Ueber den ursächlichen Zusammenhang des
Alkoholismus mit den Geisteskrankheiten geben eine Reihe von Daten
an: Helenius S. 182 fg, Hirschfeld S. 75, Laehr, H. d. St., Bd. 5,
S. 705 fg, Meyer, Ursachen der Geisteskrankheiten, S. 120fg. (Ver-
ursachung 10—380 und mehr Proz.), Juliusburger, in: „Der Alkoholis-
mus“, aus Natur und Geisteswelt, Bd. 104, S. 38fg. (20—40 Proz.).
Prof. Bror Gadelius auf dem XI. Internationalen Kongreß,. App.
S. 148fg. Zum Teil geben sie medizinische Dinge, die uns hier wenig
angehen; sozialstatistisch aber wiederholen sie nur die gang und gäben
Prozentzahlen um 30 herum, nach welchen also die Irrenhäuser um !/,
vermindert werden könnten, wenn der Alkoholismus abgeschafft würde. Die
Zahlen für die Schuld des Alkohols an der Füllung der Irrenanstalten sind
mit größter Vorsicht aufzunehmen. Dies um so mehr, als es neuerdings
mehr und mehr anerkannt wird, daß der Alkoholismus zur Entstehung
von Psychosen in sehr vielen Fällen nur eine helfende, höchstens
34*
532 Literatur.
eine auslösende Rolle spielt, insonderheit ein Symptom ist, während
eine psychopathische Anlage vorlag, die erst ihrerseits den Alkohol-
abusus hervorrief. Die Lehre hat neuerdings Dr. Wilh. Stöcker,
Assistenzarzt der psych. Klinik zu Erlangen („Klinischer Beitrag zur
Frage der Alkoholpsychosen“, Jena 1910), durch 90 sorgfältige kasuistische
Untersuchungen glaubhaft gemacht. Man kann also den individuellen
Alkoholabusus nicht als den alleinigen Verursacher der betreffenden
Psychose ansehen, er ist oft nicht Ursache, sondern (im juristischen Sinne)
Bedingung. Das schließt natürlich nicht aus, daß diese psychopathische
Grundanlage die hereditäre Folge elterlichen Alkoholismus ist. (Dies
betont Stöcker allerdings nicht sehr stark.) Es bedurfte dies aber der
Hervorhebung, um kritisch und objektiv zu sein. Weitere medizinische
Literatur, auf die hier begreiflicherweise nicht näher eingegangen werden
kann, ist bei Stöcker genannt. Für das soziale Ergebnis aber ist die
Tatsache, daß der Alkoholismus oft „nur Bedingung“ ist, von geringer
Bedeutung.
2) Armenwesen. Popert gibt in „Hamburg und der Alkohol“
den Prozentsatz der auf Trunk zurückzuführenden Armutsfälle auf 50 Proz.
an, Pütter („Trunksucht und städtische Steuern“) sogar auf 90 Proz.
Weitere Zahlen finden sich in dem Kapitel „Alkohol und Verarmung“,
in Baer-Laquers Buche, wo für Deutschlands Städte als durch
Alkoholismus verursachte Armenausgaben 20—25 Mill. M., für das Reich
50 Mill. M. herausgerechnet sind (vgl. S. 140 daselbst). Einen eigenen
Aufsatz über „Alkoholismus und Armenpflege“ hat der bekannte Leiter
des Berliner Armenwesens, Stadtrat Dr. E. Muensterberg in: „Der
Alkoholismus“ (aus Natur und Geisteswelt), I. Teil, S. 111 fg., ver-
öffentlicht, der das Problem in kurzem Ueberblick erörtert.
3) Kriminalität. Besser als über den Einfluß auf Geistes-
erkrankung und wirtschaftliche Schäden sind wir über den Einfluß des
Alkohols auf die Kriminalität unterrichtet, und zwar sowohl psychiatrisch
wie sozialstatistisch.h Wir besitzen über den Gegenstand eine Mono-
graphie aus dem Jahre 1906, die alle früheren Behandlungen
des Problems überholt hat. Es ist die Schrift des bekannten
Forschers Dr. H. Hoppe über „Alkohol und Kriminalität“. Ein grund-
legendes und vorzügliches Werk. Es erstreckt die Erörterung auf alle
wichtigen Kulturländer und beginnt mit einer kritischen Betrachtung
des allgemeinen Wachtums der Kriminalität. Erschöpfend und sehr an-
sprechend entwickelt der Verf. den inneren Zusammenhang des Alkoholis-
mus mit der Straftat, die Entstehung der Tat auf dem Boden des (akuten)
Rausches oder der (chronischen) Trunksucht und ihrer Folgen. Er schließt
sich dabei der Kraepelinschen Schule an. Dann folgt von S. 30 an eine
ungemein reichhaltige Darstellung der betreffenden Sozialstatistik, die
den Hauptteil des Buches ausmacht und auf die wegen aller Einzel-
heiten hier verwiesen werden muß. Es sind, wie auch hieraus hervor-
gebt, die Roheitsdelikte, die Sittlichkeitsdelikte, die Auflehnungsdelikte,
die Fahrlässigkeitsdelikte, welche vorwiegend dem Rausch, dann eine
ganze Reihe anderer, die dem chronischen Alkoholismus ihre Enstehung
verdanken. Für diese Verbrechen kommt man bei der Durchsicht
Literatur. 533
der Zahlen Hoppes, die von ihm kritisch geprüft werden, im ganzen
doch zu einem Schuldkonto des Alkohols von 70—80 Proz., während
für sämtliche Delikte die Ziffer etwa auf 30—40 Proz. lauten wird.
Das sind fürwahr Zahlen, die für die Diskussion über die Alkohol-
frage geradezu abschließenden, entscheidenden Wert haben müssen.
In einem dankenswerten Kapitel über die Kriminalität der Jugendlichen
und ihre Beziehungen zum Alkohol berücksichtigt der Verf. auch die
Vererbungsfragen. Der interessante Abschnitt über die geographische
Verbreitung der Delikte (Städte, Seehäfen, Wein- und Biergegenden)
bestätigt die vorher gefundenen Ergebnisse durchaus.
Hoppe äußert sich des weiteren naturgemäß auch eingehend zu
der Frage der forensischen Behandlung der in trunkenem oder ange-
trunkenem Zustande begangenen Delikte ($ 51 RStrGB.). Er ist für
die Erklärung der Unzurechnungsfähigkeit und wünscht statt Bestrafung
Entziehungsbehandlung für den Täter, um so die Grundlage des Uebels
zu beseitigen Das Nähere mag in dem Buche S. 172fg. nachgelesen
werden.
Anderer Ansicht ist Medizinalrat Kreisarzt Dr. Balser in seinem
Referat „Zur forensischen Bedeutung des Alkoholismus“ 1). Er unter-
scheidet streng den pathologischen Rauschzustand, dem natürlich der
§ 51 RStr@GB. zur Seite steht, von dem leichteren des Angetrunkenseins,
bei dem die strafrechtliche Verantwortung noch vorhanden ist, und fordert,
daß der begutachtende Arzt hier die Bestrafung nicht vereitele. Die
Erziehung soll außerdem hinzutreten, aber nicht die Strafe ersetzen.
Besonders wertvoll ist Dr. Balsers Referat durch die zahlreichen inter-
essanten Kriminalkrankengeschichten, die er aus eigener Erfahrung gibt
und die zu der richtigen Beurteilung der Streitfrage beizutragen ge-
eignet sind 2).
Die Frage hier des näheren zu erörtern, ist kein Anlaß; sie gehört
ins Strafrecht. Es sei nur notiert, daß an folgenden Stellen mehr dar-
über zu finden ist: Stabsarzt Dr. E. Stier, „Die akute Trunkenheit
und ihre strafrechtliche Begutachtung mit besonderer Berücksichtigung
der militärischen Verhältnisse“ (Jena 1907), Rechtsanwalt Dr. F. Böckel,
„Alkoholismus und Recht“ (Jena 1908), Prof. G. Aschaffenburg,
„Alkohol und Zurechnungsfähigkeit“ (XI. internationaler Kongreß gegen
den Alkoholismus, S. 27f.), Prof. Bleuler, „Behandlung der Alkohol-
verbrechen“ (X. internationaler Kongreß gegen den Alkoholismus, S. 101 fg.),
Dr. Vämbery, „Alkohol und Strafrecht“ (ebenda, S. 110f.), Prof.
Dr. Puppe, „Alkohol und Zurechnungsfähigkeit“ (Der Alkoholismus,
Berlin 1907, S. 152f.).
Bei der Schrift von Böckel muß jedoch noch einen Augenblick
verweilt werden, weil sie außer der Erörterung dieser dogmatischen
1) Zu gleichen Ergebnissen kommt auch Böckel in „Alkoholismus und Recht“
(s. unten).
2) Das zweite Referat in demselben Buch, von Assessor Aull, über „Alkohol und
Verbrechen“ ist ein geschickter Ueberblick über die bekannt gewordenen Tatsachen, und
das Gleiche ist von dem Aufsatz „Kriminalität und Alkohol“, von J. Gonser, in der
Sammlung „Der Alkoholismus“, Teil V, Berlin 1908, S. 135fg. zu sagen.
534 Literatur.
Frage einen geschickten Ueberblick über die Wechselbeziehungen
zwischen Alkoholismus und Recht überhaupt gibt. Aus einem populären
Vortrag entstanden, eignet sie sich gut zur Einführung für Nichtjuristen.
Verf. behandelt auch die Beziehungen zum Privat- und zum Gewerbe-
recht (Konzessionsfragen, Entmündigung usw.). Das wertvollste Kapitel
des Buches aber — weil diese Dinge m. W. in keiner anderen Schrift zu
finden sind — ist der Ueberblick über alle Petitionen, Anträge, Vorlagen
und Gesetzentwürfe, die über die Bekämpfung der Trunkenheit und die
Abänderung des $ 51 RStGB. im Deutschen Reichstage vorgelegen
haben. Hier ist eine Fülle von Material zu praktischer Reformarbeit,
an das immer wieder angeknüpft werden kann.
Einige neuere schwedische Zahlen, die sich auch im allgemeinen
bis zu 70 und 80 Proz. versteigen, bringt Almquist in seinem Referat
auf dem XI. internationalen Kongreß (S. 205 fg.) bei, und Dr. med.
Scharffenberg (ebenda, S. 211fg.) erörtert die theoretischen Be-
ziehungen kurz und fordert: alkoholfreie Gefängniskost, Alkoholunter-
richt (besonders der jugendlichen (Gefangenen), Spezialbehandlung
chronischer Alkoholisten, Abstinenz der Beamten während der Dienstzeit,
Internierung der Gewohnheitsverbrecher und Vagabunden auf unbe-
stimmte Zeit.
Für Berlin gibt Hirschfeld in dem obengenannten Buch
(S. 81fg.) zum Teil neues Material, auf das verwiesen sei, und er spricht
die auf Sachkenntnis beruhenden Worte: „Wir könnten die Ge-
fängnisse und Zuchthäuser um die Hälfte verkleinern,
ebenso die Irrenanstalten und Krankenhäuser um gut
ein Drittel verringern, wenn es keinen Alkohol gäbe“
Dieses Ergebnis ist nach allen vorliegenden Quellen richtig und ist
in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Wenn auch v. Strauß
und Torney in einem Artikel der Deutschen Juristenzeitung (1909,
No. 1) und ebenso Böckel der Ansicht sind, es gebe noch keine zu-
verlässigen Zahlen über die Beziehungen zwischen Alkohol und Krimi-
nalität, so verdient diese Skepsis angesichts des Buches von Hoppe
eine wesentliche Einschränkung. Die Fülle dieser Zahlen, mögen selbst
einige davon unzuverlässig sein, spricht zweifellos Wahrheiten; ja man
darf eher meinen, die Prozentzahlen seien zu niedrig, weil die unmerk-
licheren Trunkenheitszustände verheimlicht werden. Kurzum : Armenpflege,
Gefängniswesen und Irrenwesen liefern die unerschütterlichen Beweise
für die ungeheueren sozialen Schädigungen des Alkoholismus.
4) Aber noch andere Beziehungen des Alkoholismus zum Sozial-
leben müssen der Vollständigkeit halber kurz gestreift werden. Daß
der Gesundheitgeschädigte, daß der untüchtige Mensch, auch ohne der
Armenpflege oder der Kriminalität anheimzufallen, ein sozialer Schade
ist, sei nur nebenbei erwähnt. Auf den behaupteten Einfluß auf Schüler-
selbstmorde will ich mangels zuverlässiger Nachweise nicht eingehen.
Wenn so viel Schädigung infolge des Alkoholmißbrauchs aber auf die
zur Führung des Volkes bestimmten Klassen sich ausdehnt,
so ist das fürwahr nicht mehr zu verantworten. Die „Trinksitten“ werden
in allen uns vorliegenden Schriften mit Recht gebrandmarkt. Ein be-
Literatur. 535
sonderes Kapitel der Trinksitten sind die studentischen. Eine neue
fammende Anklage gegen diese liegt in der sehr beherzigenswerten
Schrift von Amtsrichter Dr. H. M. Popert (Hamburg) vor: „Was
will unsere Zeit von der deutschen Studentenschaft?“ Aus einem Vor-
trag in der Aula der Kieler Universität hervorgegangen, zeigt diese
Schrift mit starkem sittlichen Ernst und oft beißendem Spott, daß das
studentische Leben der Gegenwart eine Erziehung zum Führer unmög-
lich macht und daß die Aenderung in der Alkoholfrage der Prüfstein
dafür sei, ob sich diese Erziehung wieder wandeln könne.
Wir streifen hiermit schon die Wege zur Therapie des Alkoholismus,
die auch im vorhergehenden oft schon implicite gezeichnet waren,
und kommen damit zum letzten Abschnitt des Referates.
VI. Bekämpfung des Alkoholismus.
Der Mittel zur Bekämpfung des Alkoholismus sind sehr viele. Sie
alle kritisch zu erörtern, würde hier viel zu weit führen und uns kaum
nennenswerte Förderung bringen. Denn kaum irgendwo gilt so sehr
wie hier das Wort: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg! Wenn
erst in allen Kreisen der Wille da ist, der aus der Ueberzeugung von
der Notwendigkeit entspringt, dann finden sich hier die Wege, die zum
Teil übrigens schon alle begangen sind, leicht. Und jeder hilft dann
an seinem Teile etwas. Deshalb seien nur kurz die literarischen Stellen
zusammengestellt, an denen man Näheres über die zu beschreitenden
Wege findet, während nur bei einigen Veröffentlichungen zu besonderen
Maßnahmen etwas länger verweilt werden mul.
A. Ueberblick über alle Bekämpfungsmittel bei Hele-
nius, S. 294 fg., bei Baer-Laquer, S. 153fg., Stehr, S. 110fg. und
17788.
B. Einzelne Gruppen.
1) Aufklärung. a) Durch Abstinenz- und Mäligkeits-
vereine. Ueber deren Stand und Aufgabe gibt es, soviel ich sehe,
keine zusammenfassende Uebersicht. Vgl. indessen das Buch von Berg-
mann über die „Geschichte“.
b) Durch die Schule In einer hübschen und lehrreichen
Broschüre bespricht Franziskus Hähnel „Die Notwendigkeit der
Unterstützung des Kampfes gegen den Alkoholismus durch die Erziehung
in Schule und Haus.“ Der bekannte Verfasser bringt interessantes
kasuistisches Material aus der Schule, an dem er zeigen kann, wie der
Alkohol in das Schicksal der Knaben eingreift. Er kommt zu dem Er-
gebnis, daß der Alkoholgenuß der Jugend die Erziehung in Schule und
Haus in augenfälliger Weise hindert, daß die herrschenden Trink-
anschauungen nachweislich das Lebensglück vieler Kinder untergraben
und daß deshalb unbedingt die alkoholfreie Lebensweise der Kinder zu
fordern ist. Des weiteren vgl. über das Thema: Don, Wakeley,
Hunt in den Verhandlungen des IX. internationalen Kongresses, Häh-
nel, Fischer, Eötvös, Laczö in den Verhandlungen des X. inter-
536 Literatur.
nationalen Kongresses, v. Schéele, Sohlberg, Hartmann in den
Verhandlungen des XI. internationalen Kongresses.
ec) durch die Aufrüttelung bestimmter Volkskreise.
Zu diesen Fragen liegen zwei literarische Aufrufe vor. Der eine, von
dem bekannten belgischen Sozialisten Professor Emil Vandervelde,
wendet sich an die Arbeiterschaft. In dem ersten Teil seiner Schrift
„Alkohol, Religion und Kunst“, der sich mit der Alkoholfrage als
sozialistisches Problem beschäftigt, gibt er einen recht ansprechenden
Ueberblick über den gegenwärtigen Stand der Alkoholfrage, immer
aber iin Hinblick auf ihre Bedeutung für die arbeitenden Klassen und
ihre Aussichten für die Zukunft. Der physiologische, der soziale und
der politische Standpunkt werden besprochen, und in allen drei Richtungen
kommt der Verf. zu der Forderung strenger Alkoholbekämpfung seitens
der Arbeiterschaft als eines Mittels zu ihrer wirtschaftlichen Emanzi-
pation. Der Verf. schließt mit dem Ergebnis: „Der Kampf gegen den
Alkoholismus scheint uns daher (abgesehen von den physiologischen
Gründen, die wir erörtert haben) als notwendiger Helfer im Klassen-
kampfe.“
Der Hamburgische Richter Dr. Herm. M. Popert, von dem wir
schon andere Schriften in diesem Referat besprachen, ruft in der Bro-
schüre: „Ein Schritt auf dem Wege zur Macht“ die Frauen auf, die
Anhängerinnen des Frauenstimmrechts. Er kombiniert den Kampf gegen
den Alkoholismus mit dem Kampf für das Frauenstimmrecht durch die
Forderung des Gemeindeverbotsrechts gegen Alkoholausschank, wie es
bereits in 38 Staaten der nordamerikanischen Union, in Kanada, Neu-
seeland, mehreren Staaten Australiens, Schweden, Norwegen und Fin-
laud besteht. Es ist das Recht der Gemeinden, durch Abstimmung
sämtlicher volljährigen (männlichen und weiblichen) Mitglieder der Ge
meinde alkoholische Getränke (Bestellung, Verkauf, Einfuhr usw.) aus
der betreffenden Gemeinde auszuschließen. Popert begründet seinen
Vorschlag in seiner temperamentvollen Art des näheren und formuliert
die Gesetzesbestimmmung, die zu diesem Zweck als neuer § 33a in
die Gewerbeordnung des Deutschen Reiches aufgenommen werden müßte.
2) Soziale Reform. Wohnungswesen, Nahrungswesen, „Ersatz
durch Besseres“, Kaffeehallen usw., siehe die unter A. Genannten.
3) Spezielle Trinkerbehandlung. a) Fürsorge und
Therapie. Trinkerasyle Waldschmidt, „Die Behandlung
der Alkoholisten“ (in: Der Alkoholismus, juristisch-psychologische Grenz-
fragen, VI, 2/3, Halle 1908); eingehendes und zuverlässiges Referat.
Waldschmidt und Bezzola in den Verhandlungen des X. inter-
nationalen Kongresses.
b) Entmündigung wegen Trunksucht. Bestrafung.
Endemann und Cramer in den Verhandlungen des IX. inter-
nationalen Kongresses, Bockel, S. 84 fg.
4) Allgemeine staatliche Maßnahmen. Steuerfragen, Pro-
duktionseinschränkung, Förderung der antialkoholischen Bestrebungen
u. dgl. m., siehe die unter A. Genannten. Speziell gegen Kriminalität:
Hoppe, S. 188fg.
Literatur. 537
5) Gotenburger System. Gasthausreform u. dgl.
P. Fitger, J. Bentley, Eggers in den Verhandlungen des IX.
internationalen Kongresses, Rubenson, Ljunggren, Eggers in
den Verhandlungen des XI. internationalen Kongresses; besonders aber
zwei selbständige Broschüren über den Gegenstand; Dr. B. Laquer
gibt in seiner zuverlässigen Monographie „Gotenburger System und
Alkoholismus“ eine treffliche Uebersicht über die schwedischen Bolage
wie die norwegischen Samlags, mit eingehenden statistischen Nachweisen.
Daß die Bolage manches Gute gewirkt haben und nicht wieder abge-
schafft werden sollen, aber daß sie den Konsum des Alkohols und viele
schädliche Folgen nicht verringert haben, ist sein Ergebnis; die Samlags
seien wertvoller und daher berufen, das schwedische System zu ersetzen.
Eine Ueberpflanzung des Systems nach Deutschland sei kaum zu er-
warten; für unsere Verhältnisse kämen andere Mittel in Betracht.
Nicht günstig über das Gotenburger System urteilt im wesent-
lichen auch die Schrift „Die schwedische Alkoholgesetzgebung und das
Gotenburger System“ von Oskar Petersson. Er meint, daß das
System keineswegs das leiste, was man von einer solchen Reformarbeit
erwarten dürfe, und daß es nur vortäusche, als hätte man Nennens-
wertes getan, worin dann eine große Gefahr liege.
6) Alkoholverbotsgesetzgebung. Auf die Gemeindeverbots-
gesetzgebung wurde schon oben bei 1c gelegentlich der Schrift Poperts
hingewiesen. In der Schweiz, und namentlich in Amerika, hat sie ihr
Vorbild. Sie ist der Uebergang, vielleicht die notwendige Vorstufe
zur staatlichen Gesetzgebung. Es liegt nahe, daß Alkoholgegner sich
die Mühe genommen haben, namentlich die amerikanischen Verhältnisse
und die dortige Verbotsgesetzgebung an Ort und Stelle zu studieren.
Zwei wissenschaftliche Reiseberichte dieser Art liegen vor, von Laquer
und Helenius.
Laquer veröffentlichte 1905 seine Studien und Eindrücke („Trunk-
sucht und Temperenz in den Vereinigten Staaten“). Er gibt einen kurzen
Abriß der Geschichte der amerikanischen Temperenz, schildert die Er-
folge und den Stand des Kampfes nach zuverlässigen amerikanischen
Quellen und eigenen Beobachtungen und stellt endlich die Nutzanwendung
für deutsche Verhältnisse zur Erörterung. Es ist dies der erste Versuch
gewesen, ein soziologisches Gesamtbild der nordamerikanischen Temperenz
zu geben. Eine Reihe instruktiver Tabellen unterrichtet über die Be-
steuerung der Wirtschaften und die Folgen der Besteuerungspolitik,
über den Alkoholkonsum in Nordamerika und im Vergleich damit den
Kaffee-, Kakao- und Teeverbrauch. Hier werden auch die Tabellen von
Blocher und Landmannn (s. oben sub IV, Ila) mit herangezogen, um
ein möglichst vollständiges Bild des amerikanischen Individuallebens zu
geben, das einen Reiz wie den alkoholistischen überflüssig macht, bessere
Ernährung pflegt und Sport übt. Auch die Haltung der Gewerkschaften
zur Alkoholfrage erfährt seitens des Verf. eine instruktive Beleuchtung.
Besonders nachzurühmen ist dem Buch Laquers die angenehme gefällige
Art, die — wissenschaftlichen Werken sonst oft genug fremd — das
Verständnis amerikanischer Lebenshaltung in interessanten Zügen ver-
538 Literatur.
mittelt. Der Verf. tritt nicht für Staatsverbot, sondern für Lokaloption
ein, die wegen ihres Selbstbestimmungsrechts ernstere Handhabung und
bessere Erfolge verspreche.
Eine mehr staatsrechtlich gehaltene grundlegende Studie über
die amerikanische Verbotsgesetzgebung hat jüngst Helenius ver-
öffentlicht, der mit Staatsunterstützung Finlands eine Studienreise
nach den Vereinigten Staaten unternommen und dort an Ort und
Stelle die Verbotsgesetzgebung und ihre Ergebnisse studiert hat. Bei
der Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Verbotsgesetze
tritt er dem Vorurteil entgegen, das auf Grund mißverstandener Vor-
gänge eine Beseitigung dieser Gesetze prophezeien zu müssen glaubt.
Die noch vorhandenen und schon überwundenen Schwierigkeiten werden
besprochen; dann insbesondere auf den am meisten fortgeschrittenen,
auf diesem Gebiete berühmten Staat Maine eingegangen und die Schick-
sale des Maine-Gesetzes eingehend dargestell. Von durchaus guten
Folgen dieser Gesetzgebung kann der Verfasser aus eigener Wahr-
nehmung berichten; dafür bringt er Belege mannigfacher Art. Nach
Helenius ist es für Amerika — und so hofft er auch für Europa —
nur eine Frage der Zeit, daß die Verbotgesetz-Idee den Sieg davon-
tragen wird.
* i
+
Schlußwort.
Es ist nach einem Sammelreferate über eine siebenjährige Literatur
erklärlich, wenn man nach der Durchsicht dieser Fülle von Geschriebenem
auch seine eigene Ansicht in einem Endergebnis hinzusetzen möchte.
Ich betone dabei, daß ich ohne jede Voreingenommenheit an das Material
herantrat und nicht zu den Abstinenten gehöre, sondern sogar deren
Uebertreibungen, die mit ihrem „alles aus einem Punkte kurieren“ sich
mehr als einmal in den Schriften breit machen, mit Bedauern gegen-
überstehe. Trotzdem kann nach meinem Dafürhalten gar
kein anderes Ergebnis aus den Tatsachen gezogen
werden als die Forderung der Abstinenz, und zwar aus
folgenden kurz zusammenzufassenden Gründen:
Mag auch für den Standpunkt der Mäßigkeit die Tatsache ins Feld
zu führen sein, daß dem Einzelindividuum unter vielen Um-
ständen der wirklich mäßige Alkoholgenuß physiologisch nichts
schadet — ein Nachweis der Schädlichkeit kleiner Mengen ist zwar
festgestellt, aber ohne belangreiche Folgen — so ist damit doch
nichts anzufangen. Wir müssen immer wieder betonen: „wirklich
mäßig“ und „kleine Mengen“; und dabei kommen wir einmal auf etwas
Individuelles und das andere Mal auf etwas Soziales.
Schon individuell kann kein Mensch sagen, was für ihn wirklich
mäßig ist, zumal da er die Wirkungen eines Aufeinanderhäufens kleinster
Schädigungen nie zu kontrollieren vermag! Ein solcher Begriff ist also
für die Wohlfahrt des Einzelnen wissenschaftlich unbrauchbar.
Um wie viel mehr aber ist eine solche Begrifflosigkeit vom sozialen
Fr
Literatur. 539
Standpunkt aus ein Unding! — Die wenigen Beobachtungen, daß große
Männer „straflos“ getrunken haben und manche Individualitäten eine
gesteigerte künstlerische Produktion unter der Wirkung des Alkohols
zu verrichten glauben, ist nicht verallgemeinerungsfähig. Bestenfalls
sind diese Einzelnen in solchen Fällen als Märtyrer anzusehen; denn
sie fügen sich auf die Dauer doch einen Schaden zu, um vorderhand
ihrer ureigensten Künstlerschaft durch Hinwegschaffung der entgegen-
stehenden Hemmungen freien Lauf zu lassen; es bewahrheitet sich hier
das alte Wort „in vino veritas“ ebenso wie auf der ganz entgegen-
gesetzten Seite der Roheitsdelikte, die in so großem Maße durch den
Alkoholgenuß ausgelöst werden: Es setzt sich nämlich das innerste
Wesen des Menschen in Tat um, und die Folgerung daraus kann nur
die sein, daß nur die in der Kultur zu allerhöchst stehenden
Menschen sich diese „Auslösung“, die Hinwegschaffung der intellek-
tuellen Hemmungen des Gefühlslebens und damit den Alkoholgenuß ge-
statten dürften — wenn hier nicht dann wieder andere, insbesondere
praktische Momente entgegenstehen. Die physiologische Frage, ob
kleine und kleinste Mengen „schädlich“ sind, hat nach alledem mit der
sozialen Alkoholfrage herzlich wenig zu tun.
Sozial wiegt das grenzenlose Elend, das durch den unmäligen
Alkoholgenuß hervorgerufen wird, so unendlich schwer, daß die Auf-
gabe eines Genußmittels, dessen Nützlichkeit (außer in beschränkter
medizinischer, arzneimäßiger Anwendung) nirgends nachgewiesen
werden kann, auch von denen gefordert werden muß, die unter jenem
Elend nicht unmittelbar zu leiden haben. Das Sozialprinzip
fordert dies gebieterisch gegenüber dem Individualprinzip. Denn die
nachgewiesenen Tatsachen über den Einfluß des Alkoholgenusses auf
die geistige und körperliche Degeneration der Rasse (in seiner Folge
verminderte Wehrfähigkeit), auf die Kriminalität, die Verarmung
und die dadurch bedingte unproduktive Belastung der Volkswirtschaft
sind bei weitem hinreichende Gründe zu dieser Forderung, bei der also
der Nationalökonom noch viel gewichtiger als der Arzt zu sprechen
hat. Nimmt man noch hinzu, daß die Erniedrigung der wirt-
schaftlichen und geistigen Leistungsfähigkeit durch die
bisherigen Untersuchungen zum mindesten höchst glaubhaft gemacht ist,
30 gibt es auch keinen stichhaltigen Gegengrund gegen die Not-
wendigkeit staatlicher Abhilfe mehr. Schließlich kommt noch
eines hinzu, nämlich die begründete Aussicht, viele soziale Uebelstände
klarer zu erkennen und ihnen besser entgegentreten zu können, wenn
erst einmal durch die Ausschaltung dieses einen wichtigen Grundes die
Ergründung der anderen Ursachen wesentlich erleichtert wird.
540 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Haarmann, H. J., Die ökonomische Bedeutung der Technik in
der Seeschiffahrt. Leipzig (W. Klinkhardt) 1908. 107 SS.
Diese Schrift ist als Band II der von Ludwig Sinzheimer heraus-
gegebenen technisch - volkswirtschaftlichen Monographien erschienen,
welche sich bekanntlich die Aufgabe stellen, auf Grund von Einzel-
darstellungen der Gewerbezweige die gegenseitige Beeinflussung der
technischen Entwicklung und des wirtschaftlichen Lebens zu schildern.
Unter Benutzung der vorhandenen technischen und volkswirtschaftlichen
Fachliteratur gibt der Verfasser eine durch die Verwertung eigener
praktischer Anschauungen bereicherte übersichtliche Darstellung der
bezüglichen Verhältnisse in der Handelsmarine.
Nach einem Hinweis auf die Bedeutung der Seeschiffahrt für den
Außenhandel erörtert der Verfasser die Aufgaben des technischen Fort-
schritts: die Erzielung möglichst großer Ladefähigkeit, Geschwindigkeit,
Sicherheit und Stetigkeit. Erstere ist erreicht worden namentlich durch
den Ersatz des Holzes durch Eisen und Stahl beim Schiffbau, bei
gleichzeitiger Verdrängung des Segelschiffs durch den Dampfer, Ver-
ringerung des Kohlenverbrauchs infolge der Verbesserung der Maschinen
u. dgl, wodurch der Laderaum vergrößert werden konnte. Die
erhöhte Ladefähigkeit ist eine wesentliche Ursache des Sinkens der
Frachtraten gewesen. Diese technischen Fortschritte, sodann aber auch
die verbesserte Form des Schiffes, die Steigerung der Maschinenkraft,
die Anwendung der Schiffsschrauben statt der Schaufelräder, endlich
die Vervollkommnung der Lade- und Löschvorrichtungen haben die
Steigerung der Geschwindigkeit herbeigeführt. Die technischen Maß-
nahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Stetigkeit (Stärke aller Bau-
teile, wasserdichte Schotten, Doppelschrauben, Stabilität, Tieflade-
linie usw.) sind durch das Eintreten der Schiffsklassifikationsgesell-
schaften bezw. der Seeberufsgenossenschaft wesentlich gefördert worden.
Sie haben unter anderem eine beträchtliche Ermäßigung der Versiche-
rungsprämien herbeigeführt. Der Verfasser würdigt sodann den Ein-
fluß der technischen Fortschritte auf die Organisation der Reedereien,
den Gegensatz der Verhältnisse im Ostsee- und Nordseegebiet, den
Rückgang der freien Fahrten zugunsten der Linienreedereien, die Ent-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 541
wicklung der kapitalistischen Großreederei, die Organisationsbestrebungen
in der Reederei und die Rückwirkung dieser Verhältnisse auf die
Schiffbau- und die Stahlindustrie. Schließlich wird des Einflusses ge-
dacht, den die technische Entwicklung und die Arbeitsteilung auf die
Lage des in der Seeschiffahrt beschäftigten Personals ausgeübt haben.
Die kleine Schrift ist für einen orientierenden Ueberblick über
das fragliche Gebiet wohl geeignet. A. Wirminghaus.
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(De Hertogh, A.,) Notre colonie: le Congo belge. Bruxelles, A. De Boeck,
1910. 4. 143 pag. fr. 3,50.
Doan-Vinh-Thuan (avocat), La France d’Asie et son avenir. Étude historique
et économique. Paris, Augustin Challamel, 1909. 8. 76 pag. fr. 2,50.
Lenfant, La découverte des grandes sources du centre de l’Afrique. Rivières de
vie, rivières de mort: Nana, Otam, Penndé. Paris, Hachette et C", 1909. 8. XI—287
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Régime foncier du Congo belge. Bruxelles, Hayez, 1909. 8. 41 pag. fr. 1.—.
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Cadbury, William A., Labour in Portuguese West Africa. 2nd edition. Londom,
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Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 543
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Masterman, C. F. G., and Others, To colonise England. Cheap edition. London,
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De Luca, Paolo Emilio (avv.), Della emigrazione europea ed in particolare di
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1909. 8. 224, 351, 277 pp. 1. 30.—.
Fokkens, F., Bijdrage tot de kennis onzer koloniale politiek der laatste twintig
jaren. II. ’s-Gravenhage, M. M. Couvée, 1910. gr. 8. 148 blz. fl. 1,50.
4%. Bergbau. Land- und Forstwirtschaft. Fischereiwesen.
Goebel, Ernst, Der ländliche Grundbesitz und die Bodenzersplitterung in der
preußischen Rheinprovinz und ihre Reform durch die Agrargesetzgebung. Berlin, Paul
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Hibler, Ignaz Joh., Die bayerische Almwirtschaftsfrage mit besonderer Be-
ziehung auf Alm- und Weiderechtsgebiete. Garmisch, Jakob Hibler, 1910. gr. 8. [V—42
SS. M. 1.—.
Lassar-Cohn (Prof.), Die Sicherstellung der Ernährung der Menschheit durch
Erhaltung der Fruchtbarkeit von Aeckern und Wiesen mittels künstlicher Mittel. Vor-
trag. Hamburg, Leopold Voss, 1910. 8. 32 SS. M. 0,80.
Mehlis, C., Beiträge zur Geschichte der Markgenossenschaften und der Hain-
geraiden im Mittelrheingebiete. 1. Abteilung. Herausgeg. vom Altertums-Verein für
den Kanton Dürkheim. Strassburg i. E., J. H. Ed. Heitz, 1910. 8. VI—90 SS. mit
3 Abbildungen. M. 3,50. (Beiträge zur Landes- und Volkskunde von Elsaß-Lothringen.
Heft 37.)
_ Strakosch, Siegfried, Erwachende Agrarländer. Nationallandwirtschaft in
Agypten und Sudan unter englischem Einflusse. Mit 1 Karte. Berlin, Paul Parey,
1910. gr. 8. XII—-236 SS. M. 6.—.
Balch, T. Willing, La question des pêcheries de l'Atlantique; un différend
entre les États-Unis et Empire Britannique. (Philadelphia, Allen, Lane & Scott, 1910.)
8. 50 pp. $ 1,25.
Frotté, Louis, Du rôle des forêts dans l’économie politique et financière. Thèse.
Chaumont, impr. Cavaniol, 1909. 8. 207 pag.
Watteyne, V., et S. Stassart, Les mines et les explosifs au VI: Congrès
international de chimie appliquée à Londres en 1909. Bruxelles, impr. L. Narcisse,
1909. 8. 236 pag. fr. 3.—. (Extrait des Annales des mines de Belgique, tome XIV.)
5. Gewerbe und Industrie.
Deutsch, Helene, Die Entwicklung der Seidenindustrie in
Oesterreich 1660—1840. Wien (Karl Konegen) 1909. 210 SS. (Studien
zur Sozial-, Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte. Herausgegeben
von Karl Grünberg. 3. Heft.)
Hecht, Otto, Die k. k. Spiegelfabrik zu Neuhaus in Nieder-
österreich 1701—1844. Ein Beitrag zur Geschichte des Merkantilismus.
Wien 1909. 166 SS. (4. Heft derselben Sammlung.)
Den beiden neuen Bänden der Grünbergschen Sammlung ist ge-
meinsam, daß sie auf archivalischer Grundlage einen Ausschnitt aus der
merkantilistischen Politik Oesterreichs darstellen, und zwar handelt es
sich beide Male um Bemühungen der Regierung, Luxusindustrien, die
sich im Auslande bereits zu großer Blüte entwickelt hatten, auch in
Oesterreich einzuführen resp. zu möglichster Entwicklung zu bringen.
Beiden Arbeiten geht eine Einleitung über die wichtigsten merkan-
544 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
tilistischen Schriften in Oesterreich lebender und wirkender Autoren
voraus.
Die Arbeit von Deutsch gibt auf Grund der Akten der Zentral-
behörden eine sehr fleißig gearbeitete, gut disponierte Uebersicht über
die Maßnahmen der Regierung zur Förderung der Seidenzucht und der
Seidenverarbeitung in Oesterreich, die viel Interessantes enthält. Einige
wichtige Verordnungen sind im Wortlaut wiedergegeben worden. In
der Natur des verarbeiteten Materials liegt es, daß nicht eigentlich eine
Geschichte der Seidenindustrie, sondern in der Hauptsache nur eine
Geschichte der sie betreffenden Regierungsmaßnahmen, der allen oder
einzelnen Betrieben zu teil gewordenen Begünstigungen u. dgl. zustande
gekommen ist. Wenn man wissen möchte, wie die Industrie im
einzelnen aufgebaut ist, wie es sich mit dem Verlagssystem verhält,
wie die Fabrikationstechnik sich entwickelt hat, wie die einzelnen
Unternehmungen organisiert sind, wie ihre Kapitalinvestierungen, ihr
Rohstoffbezug, ihre Arbeiterzahl, ihr Umsatz sich entwickeln, wie die
Rentabilität sich gestaltet und welche Faktoren darauf einwirken,
so erfährt man darüber nur etwas, wenn und soweit zufällig infolge
von Anträgen, Berichten oder dgl. Angaben darüber in die Akten ge-
kommen sind. Selbst die praktische Bedeutung der geschilderten Re-
gierungsmaßregeln bleibt häufig unklar, denn in den Akten stehen wohl
viele Verordnungen, aber nicht darin steht, ob die unteren Verwaltungs-
behörden, die Industriellen usw. ihnen auch wirklich Folge geleistet
haben und welche Einwirkung das eventuell auf die Industrie gehabt
hat. Es wäre deshalb wohl richtiger gewesen, die Arbeit zu über-
schreiben: „Die Maßnahmen der österreichischen Staatsverwaltung zur
Förderung der Seidenindustrie.“
Die Neuhauser Spiegelfabrik, deren Geschichte Hecht darstellt,
wurde 1701 auf Anregung der Hofkammer von dieser gemeinsam mit vier
Privatleuten begründet und mit weitgehenden Vorrechten ausgestattet.
Schon 1705 wurden drei der Privatleute durch kaiserliche Entschließung
„exkludiert“ (über die Gründe dieses merkwürdigen Ausschlusses werden
keine Angaben gemacht; wenn die Akten nichts darüber ergeben, dann
hätte das ausdrücklich hervorgehoben werden sollen), und 1709 ging
die Fabrik infolge von finanziellen Nöten der Hofkammer in das alleinige
Eigentum des vierten an der Gründung beteiligten Privatmannes über;
der Kaiser sicherte sich jedoch bei diesem Uebergang für den Fall einer
späteren Weiterveräußerung ein Vorkaufsrecht und machte 1720 von
diesem Rechte Gebrauch. Von diesem Jahre ab wurde die Fabrik als
staatlicher Betrieb weitergeführt, wenn auch der Form nach zunächst
als Privatbetrieb. 1725 wurde die Verwaltung der Fabrik neu geregelt
und in feste Beziehungen zu dem sonstigen Behördenorganismus ge-
bracht. Dem Umstande, daß die obere Leitung auf mehrere Instanzen,
die räumlich voneinander getrennt waren, verteilt wurde, und daß sich
infolgedesen eın umfangreicher Schriftwechsel über alle möglichen Einzel-
fragen entwickelte, ist es zu verdanken, daß in diesem Falle die Akten
auch über die Organisation und den Betrieb der Fabrik, die Absatz-
gewinnung usw. genauer Auskunft geben. Der Verf. bringt die hierauf
bezüglichen Angaben in folgenden Kapiteln zur Darstellung: der Pro-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 545
duktionsprozeß; der Verwaltungsorganismus der Fabrik; die Fabriks-
arbeiterschaft; die Organisation des Spiegelverschleißes; das Rechnungs-
wesen der Fabrik. Gewiß lassen den Verf. auch hier die Akten sehr
häufig im Stich, aber das vorhandene Material reicht doch aus, um
einen interessanten Einblick in diesen Staatsbetrieb zu gewähren. In
den Jahren 1841—1844 wurde die Fabrik wegen dauernd schlechter
Erträgnisse aufgelöst. Hecht meint, dem Staat habe die Fähigkeit,
industrielle Betriebe mit Erfolg zu führen, gefehlt, da die Art der
Behördenorganisation und des Verkehrs der einzelnen Stellen miteinander
den Geschäftsgang noch bedeutend unübersichtlicher und schleppender
gestalteten als in der Gegenwart, da weiter der Beamtenkörper nicht die
nötige Zuverlässigkeit aufwies, und da die Fürsorge für die Arbeiter größere
Aufwendungen als bei privaten Industriellen erforderte. Immerhin sei
aber der Hauptzweck der Fabrikgründung, die Einführung der Spiegel-
fabrikation in Oesterreich, erreicht worden.
Aachen. Richard Passow.
Glowacki, Maryan, Die Ausfuhrunterstützungspolitik der Kar-
telle. Diss. Leipzig. Posen 1909. 88 SS. Preis 1,80 M.
Ueber den Gegenstand der vorliegenden Schrift gibt es schon eine
recht erhebliche Literatur, sowohl an selbständig erschienenen Arbeiten
als auch an Zeitschriftenaufsätzen (vor allem in der Kartellrund-
schau). Man kann nicht behaupten, daß Verf. dieser Literatur eine
wesentliche Ergänzung hinzugefügt oder sie um einen neuen Gedanken
bereichert habe. Das Tatsachenmaterial, die Geschichte und die Beur-
teilung von Ausfuhrvergütungen und Ausfuhrprämien der Kartelle ist
alles schon mehrfach behandelt worden. Die Darstellung der durch
die Ausfuhrpolitik der Kartelle geschaffenen Verhältnisse ist zwar im
allgemeinen objektiv, nimmt Schutzzölle und Kartelle als etwas einst-
weilen Unvermeidliches hin und hält sich von den bekannten, aber
ganz unrealen Angriffen auf diese Entwicklung vom Standpunkte eines
prinzipiellen Freihändlertums fern, aber sie wiederholt eben nur, was
schon oft und ausführlich erörtert worden ist. Vor allem aber ist die
Darstellung unvollständig und eigentlich bei Erscheinen schon veraltet.
Insbesondere gilt das für den letzten Abschnitt, der sich mit den
Mitteln zur Entkräftigung(?) der ungünstigen Wir-
kungen der Kartellunterstützungspolitik beschäftigt.
Auf 5 Seiten kann dieses heute so viel erörterte Problem in einer
Spezialschrift über die Ausfuhrpolitik der Kartelle nicht abgetan werden,
und bei Erörterung des zollfreien Veredlungsverkehrs auf nur einer
Seite sind mancherlei neuere Vorschläge zur Ausgestaltung dieser
wichtigsten Maßregel gegenüber den vom Verf. behandelten Erscheinungen
gar nicht berücksichtigt.
Eine Unmenge Druckfehler wirkt störend.
Robert Liefmann.
Abelsdorff, W., Die Mitwirkung von Aerzten im Dienste der englischen Ge-
werbeaufsicht. Berlin, Allgemeine medizinische Verlagsanstalt, 1910. gr. 8. 51 SS,
M. 1.—. (Bibliothek für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik und die Grenz-
gebiete von Volkswirtschaft, Medizin und Technik. Nr. 4.)
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 35
546 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Fecht, Ottmar, Die Gewerbe der Stadt Zürich im Mittelalter. Diss. Zürich,
Beer & Cie., 1909. gr. 8. VI—87 SS. M. 2.—.
Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich v. (Prof.), Der wirtschaftliche Charakter der
technischen Arbeit. Vortrag. Berlin, Julius Springer, 1910. 8. 38 SS. M. 1.—.
Kampf, Der, in Badisch-Rheinfelden. Eine Darstellung des Streiks in den Alu-
miniumwerken. Cöln, Generalsekretariat der christlichen Gewerkschaften, 1910. 8.
86 SS. M. 0,50.
Mathesius, W., Die Entwicklung der Eisenindustrie in Deutschland. Rektorats-
rede zum 26. Januar 1910. (Düsseldorf, gedruckt bei August Bagel, 1910.) 4. 24 8S.
Neubaur, Paul, Heinrich Lanz. 50 Jahre des Wirkens in Landwirtschaft und
Industrie 1859—1909. 2 Bde. Berlin, Paul Parey (1910). gr. 8. VII, 514 SS. u.
50 Taf. M. 100.—.
Wündrich, Arthur, Die deutsche Siebmacherei und Rosshaarweberei in ihrer
historischen Entwicklung und ihre gegenwärtige Lage, vornehmlich in Hainewalde.
Diss. Leipzig, Fritzsche und Schmidt, 1910. gr. 8. VIII—-64 SS. M. 1,50.
Du Castel, H., La perle des grèves. Tournai, Casterman, 1909. 232 pag.
fr. 2,20. (Collection Iris, 3° série.)
Lanzac de Laborie, L. de, Paris sous Napol&on. VI. Le monde des affaires
et du travail. Paris, Plon-Nourrit et C, 1910. 8. fr. &.—.
Recueil de documents relatifs à Phistoire de l’industrie drapidre en Flandre,
publié par Georges Espinas et Henri Pirenne. Partie 1: Des origines à l’époque bour-
guignonne. Tome 2. Bruxelles, P. Imbreghts, 1909. 4. X—714 pag. fr. 15.—.
Congres over huisindustrie op 8 en 9 September 1909 in het concertgebouw te
Amsterdam. Referaten en handelingen van het congres. II. (Handelingen.) (Amster-
dam, Ipenbuur & van Seldam, 1909.) gr. 8. compl. (2 din.) fl. 2,50.
6. Handel und Verkehr.
Heiman, Hanns, Die Neckarschiffer. 1. Teil: Beiträge zur Ge-
schichte des Neckarschiffergewerbes und der Neckarschiffahrt. 2. Teil:
Die Lage der Neckarschiffer seit Einführung der Schleppschiffahrt.
Heidelberg (Carl Winter) 1907. 2 Bände. 402 und 505 Seiten.
Wie das Verkehrswesen überhaupt, so ist besonders auch die
Binnenschiffahrt bisher in der wissenschaftlichen Literatur leider auf-
fallend stark vernachlässigt worden. Dies gilt sowohl von der ver-
kehrswirtschaftlichen wie von der sozialpolitischen Seite des Gegen-
standes. Es wäre deshalb sehr zu begrüßen, wenn sich das literarische
Interesse mehr diesen Fragen zuwenden wollte, und dabei zunächst
auf beschränktem Gebiete eine möglichst eingehende Tüurchforschung
erfolgte, zumal da die Binnenschiffahrtsfragen neuerdings an praktischer
Bedeutung erheblich gewonnen haben. Das obengenannte Werk, eines
der sehr wenigen seiner Art, verdankt seine Entstehung einem solchen
praktischen Vorgange, den Bestrebungen zugunsten der Kanalisierung des
Neckars, die im Zusammenhang mit der Frage der Einführung von
Schiffahrtsabgaben auf den deutschen Strömen neuerdings aussichtsvoll
geworden sind.
Der Verf. baut den geschichtlichen Teil seiner Arbeit speziell für
die ältere Zeit auf reichhaltigem archivalischen Material auf. Wir
erfahren Näheres über die frühere Gebundenheit der Schiffahrt, die
lehensherrliche und städtische Politik, dann später die landesfürstliche
Fürsorge gegenüber der Neckarschiffahrt, mit all ihrer Bevormundung
und zünftlerischen Regelung, bis dann die napoleonische Zeit auch auf
diesem Gebiete eine völlige Umwälzung und in weiterem Verlaufe die
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 547
wirtschaftliche Freiheit brachte. Diesen Entwicklungsgang, beeinflußt
durch die Umgestaltung der rechtlichen Verhältnisse auf dem Rhein-
strom, und die Schicksale der Neckarschiffahrt, die in der Folge
namentlich durch den Eisenbahnbau berührt wurden, verfolgt der Verf.
bis zu Anfang der siebziger Jahre, wo durch die Einführung der
Schleppschiffabrt die technischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der
Neckarschiffahrt und nicht minder die soziale Lage der Schiffer eine
wesentliche Aenderung erfuhren. Diesen Dingen ist der zweite Teil
der Arbeit gewidmet. Wir erhalten zunächst eine eingehende Dar-
stellung der Verkehrsentwicklung auf dem Neckar in der Zeit von
1871—1901, wobei auch der Wettbewerb der Eisenbahnen Berück-
sichtiguang findet, sowie von der Organisation der Schiffer und des
Schiffahrtsbetriebes und ihren günstigen Folgen für die wirtschaftliche
Lage der hauptsächlich dem Mittelstande angehörenden Schiffer. So-
dann werden in eingehendster Weise die technischen Verhältnisse der
Schiffahrt und ihre Organisation, der Schiffbau, die soziale Lage, die
Ausbildung, die Betriebs- und Arbeitsverhältnisse der Schiffer, die wirt-
schaftlichen Zustände und Lebensbedingungen in den einzelnen Schiffer-
orten unter Heranziehung eines umfassenden statistischen Materials ge-
schildert, so daß dieser zweite Teil der Arbeit, der wohl als der
wertvollste bezeichnet werden darf, ein anschauliches, bis in alle
Einzelheiten vervollständigtes Bild der Neckarschiffahrt und ihrer Be-
völkerung bietet. Den Schluß des Werkes bildet eine Erörterung der
oben erwähnten Frage der Schaffung eines Großschiffahrtsweges auf
dem Neckar.
Leider ist es bei der Vielseitigkeit der in Betracht kommenden
Tatsachen nicht möglich, an dieser Stelle auf die Ergebnisse der Unter-
suchung näher einzugehen. Erwähnt sei nur, daß der Verf. im An-
schluß an die Frage der schiffergewerblichen Ausbildung die Einführung
des Befähigungsnachweises für Schiffer, bezw. die Regelung eines kon-
zessionierten Steuermannsgewerbes auf dem Neckar im Anschluß an
die vorhandenen Schifferschulen empfiehlt, und bei der Untersuchung
der Betriebs- und Arbeitszeit der Schiffer zu dem Ergebnis kommt,
daß eine reichsgesetzliche Regelung der Ruhezeit für den Neckar weder
eine Notwendigkeit noch ein Bedürfnis sei, eine solche dagegen schwere,
hauptsächlich wirtschaftliche Schädigungen herbeiführen würde, ohne
daß wesentliche Vorteile in sozialer Hinsicht durch sie zu erreichen
seien.
Die äußerst fleißige Arbeit darf nicht nur nach der methodischen
Seite volle Anerkennung beanspruchen, sondern bildet auch in ihren
Einzelergebnissen eine wertvolle Bereicherung unserer verkehrswirt-
schaftlichen und sozialstatistischen Literatur. A. Wirminghaus.
Schramm, Aug., Dr. phil., Ober-Postpraktikant, Das Welteinheits-
porto. (Historische, kritische und finanzpolitische Untersuchungen über
die Briefpostgebührensätze des Weltpostvereins und ihre Grundlagen.)
Halle (S.), C. A. Kaemmerer & Co., 1910. 8. VII—104 SS. M. 1,50.
Der Verfasser will, wie er im Vorwort ausführt, keine Geschichte
35*
548 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
des Weltpostvereins geben, sondern die Entwicklungslinien aufdecken,
nach denen die Normierung der Briefpostgebührensätze im Vereins-
verkehr sich bisher vollzogen hat und die für deren weitere Fortbildung
voraussichtlich bestimmend sein werden. Nach einem einleitenden Hin-
weis auf die Ziele und die wesentlichen Merkmale der bisherigen Ent-
wicklung — Einheitlichkeit und Billigkeit der Taxen — erörtert er dem-
gemäß in den ersten 5 Paragraphen an der Hand der in weiteren
Kreisen wenig bekannten Sitzungsprotokolle aller bisherigen Weltpost-
vereinskongresse die für die Taxfestsetzung im internationalen Verkehr
überaus wichtige Frage der Transitvergütungen. Man versteht hierunter
die beim Durchgang der Briefpostsendungen durch fremde Postgebiete
früher für jede einzelne Sendung, jetzt für jedes Kilogramm der vermittelten
Briefposten an die fremde Verwaltung zu entrichtenden Vergütungen,
die für die Postverwaltung einzelner Länder, wie Belgien, Frankreich,
eine beträchtliche Einnahmequelle bilden und darum bisher nur er-
mäßigt, aber nie völlig beseitigt werden konnten. Das ideale Ziel der
Unentgeltlichkeit des Transits muß nach den Ausführungen des Ver-
fassers heute als aufgegeben gelten. Im Widerstreit zwischen dem
Streben nach möglichster Vereinheitlichung der Taxen auf der einen
Seite und möglichst gerechter Anwendung des die Leistungen ab-
wägenden Gegenseitigkeitsprinzips auf der anderen Seite hat das
letztere gesiegt. Durch Zurückführung der Transitvergütungen auf
die den Durchgangsstaaten tatsächlich erwachsenden Kosten ist der
Gefahr wirksam vorgebeugt worden, daß der Durchgangsverkehr ein-
zelner Staaten zum Schaden der darauf angewiesenen Länder fiskalisch
ausgebeutet wird. Ungeachtet der erneuten Differenzierung der Taxen
räumt man ferner den einzelnen Verwaltungen heute wieder das Recht
ein, innerhalb der Vereinsfestsetzungen mit anderen Ländern je nach
ihrer Wirtschaftslage billigere Sondertarife zu vereinbaren.
Da hiernach mit dem Gedanken eines generellen, d. h. allgemein-
gültigen Einheitsportos nicht zu rechnen ist, wie durch zahlreiche Bei-
spiele aus der Praxis belegt wird, so tritt der Verfasser der Frage
näher, ob die von England ausgehenden Bemühungen um die allge-
meine Durchführung des sog. Weltpennyportos geeignet sind, eine Aen-
derung des heute geltenden Taxsystems im Sinne gleichmäßiger Ver-
teilung des Gewinnes herbeizuführen. Auch dieser Vorschlag erweist
sich mit Rücksicht auf die verkehrsschwächeren Staaten nur da als
annehmbar, wo es sich um den Verkehr zwischen dem Mutterlande
und seinen Kolonien oder zwischen wirtschaftlich eng miteinander ver-
bundenen Ländergebieten handelt. So bleibt nach Ansicht des Ver-
fassers schon mit Rücksicht auf die herrschende Münzwertverschieden-
heit als erstrebenswertes Ziel nur die Durchführung des spe-
ziellen Einheitsportos bestehen, das den verkehrsschwächeren Staaten
die Freiheit der Taxfestsetzung innerhalb gewisser Grenzen und damit
die Möglichkeit wahrt, mit allmählichen Taxverbilligungen den voran-
eilenden finanzkräftigeren Vereinsmitgliedern zu folgen.
Dr. Günther.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 549
Brentano, Lujo (Prof.), Das Freihandelsargument. 2. neu durchgesehene Aufl.
Berlin-Schöneberg, Buchverlag der Hilfe, 1910. 8. 48 SS. M. 0,75.
Hirsch, Julius, Das Warenhaus in Westdeutschland; seine Organisation und
Wirkungen. Leipzig, A. Deichert Nacht, 1910. gr. 8. VIII—118—V SS. M. 2,50.
Lins, Wilhelm, Die thüringischen Eisenbahn-Verhältnisse in ihrer geschicht-
lichen Entwicklung und gegenwärtigen Lage. Mit Fr. Lists Diplom und einem Brief-
faksimile im Anhang. Jena, Gustav Fischer, 1910. gr. 8. VIII—119—IV SS. mit
2 Tabellen. M. 2,50. (Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena,
Bd. VIIL Heft 1.)
Lux, Käthe, Studien über die Entwicklung der Warenhäuser in Deutschland.
Jena, Gustav Fischer, 1910. gr. 8. VI—208 SS. M. 4.—.
Norden, Arthur, Die Berichterstattung über Welthandelsartikel (Getreide,
Zucker, Kaffee, Baumwolle, Wolle). Leipzig, G. A. Gloeckner, 1910. gr. 8. VIII—202
8S. M. 4,50. (Handelshochschul-Biblioıhek. Bd. 7.)
Huyard, Étienne, Le port de Bordeaux, sa situation actuelle, son avenir, son
Hinterland. Avec une préface par Ch. Chaumet. Paris, L. Mulo, 1909. 8. 432 pag.
fr. 5.—.
Sieben, Arthur, Le néerlandais commercial. 3'"®=® edition, complètement revue.
Bruxelles, A. Dewit, 1910. 8. 213 pag. fr. 2.—.
Phillips, J. B., Freight rates and manufactures in Colorado; a chapter in eco-
nomic history ` reprint from the University of Colorado studies, December, 1909. Boulder,
Col., J. B. Phillips, 1910. 8. 62 pp. $ 0,50.
Rees, J. Aubrey, The grocery trade. 2 vols. London, Duckworth, 1910. 8.
306, 438 pp. 21/.—.
Williams, Sydney C., The economics of railway transport. New York, The
Macmillan Company (1910). 8. X—308 pp. $ 1,25.
7. Finanzwesen.
Chlumecky, Leopold Freiherr v., Der Finanzplan. Eine Kritik der neuen
Steuervorlagen der österreichischen Regierung im Jahre 1909. Wien, Franz Deuticke,
1909. 8. 31 SS. M. 0,60.
Gemeindefinanzen. Im Auftrag des Vereins für Socialpolitik herausgegeben.
2. Ed. I. Teil. Einzelfragen der Finanzpolitik der Gemeinden. Mit Beiträgen von
Otto Landsberg, Ernst Mischler, Walter Boldt, Alexander Pohlmann und Theodor Kutzer.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. VIII—236 SS. M. 5,40. (Schriften des
Vereins für Socialpolitik. Bd. 127. Teil I.)
Göller, Emil, Die Einnahmen der apostolischen Kammer unter Johann XXII.
1. Teil: Darstellung. 2. Teil: Quellen. Paderborn, F. Schöningh, 1910. gr. 8. XVI
—134, 782 SS. M. 34.—. (Vatikanische Quellen zur Geschichte der päpstlichen Hof-
und Finanzverwaltung 1316—1378. Bd. 1.)
Hilgert, gt. Lenfert, Anton, Die Finanzen der Stadt Münster i. W. von
1816—1908. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1910. gr. 8. X—211 SS. M. 5,20. (Abhand-
lungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Münster i. W. Heft 9.)
Mensi, Franz Freiherr v. (Finanzlandesdir.-Vizepräs.), Geschichte der direkten
Steuern in Steiermark bis zum Regierungsantritte Maria Theresias. I. Bd. Graz, Styria,
1910. gr.8. XV—516SS. M. 6,80. (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte der Steiermark. Bd. VII.)
Neumann, Fr. J., Vermögenssteuern und Wertzuwachssteuern als Ergänzung der
Einkommensteuer, insbesondere in Württemberg. Tübingen, H. Laupp, 1910. 8. III—81
SS. M. 1,60.
Roche, Jules, L’impöt sur le revenu. Paris, E. Flammarion, 1909. 16. VI—420
pag. fr. 3,50.
Smith, H. B. Lees, India and the tariff problem. London, Constable, 1910.
Cr. 8. IX—120 pp. 3/.6.
Schutte, W. F. M., Raadscommissien en haar taak bij het besturen der Neder-
landsche gemeenten en der Engelsche steden. Haarlem, H. D. Tjeenk Willink & Zoon,
1910. gr. 8. VI—171 blz. fl. 1,90.
550 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen.
Jahrbücher des europäischen Bodenkredits, herausgeg.
von Felix Hecht. Bd. 1, erste Hälfte. Leipzig (Duncker & Humblot) 1909.
368 SS.
Diese Jahrbücher waren die letzte Schöpfung des kurz darauf, im
Sommer 1909 verstorbenen, verdienten Begründers der rheinischen
Hypothekenbank Dr. Felix Hecht, der seine Laufbahn 1869 als römisch-
rechtlicher Privatdozent in Heidelberg mit Forschungen über die
„Kalendarienbücher“ der römischen Bankiers begann, um bald darauf
selbst zur Praxis des Bank- und Bodenkreditwesens überzugehen. Aber
ihm blieb die Gewöhnung des echten Theoretikers, nicht in der Masse
des einzelnen sich zu verlieren, sondern von hoch oben her oder „in
der Wesen Tiefe“, mit Fernrohr oder mit Mikroskop, das Gemeinsame
und Verbindende zu erschauen und danach die verworrenen Einzel-
erscheinungen mit energisch klarem Denken zu ordnen und zu syste-
matisieren. So schuf er seine grundlegenden, leider unvollendet ge-
bliebenen Werke: die Organisation des Bodenkredits in Deutschland
(Abt. I vollständig: 2 Bände 1891; Abt. II nur Band 1: 1903; Abt. III
nur Band 1: 1908) und der europäische Bodenkredit (nur Band 1: 1900).
Und so begründete er als dauerndes, internationales Organ für Theorie
und Praxis des Bodenkredits diese Jahrbücher, in deren vorangedrucktem
„Arbeitsprogramm“ er schrieb: „Endlich mußte einmal an diese Arbeit
herangetreten werden, und da andere, jüngere Kräfte sich bisher nicht
dazu gefunden haben, so wollte ich nicht länger dieser seit Jahren von
mir erkannten Aufgabe mich entziehen, in der Erwartung und Hoffnung,
daß andere die begonnene Arbeit später fortsetzen.“
Diese Frage der Fortsetzung durch „andere“ erhebt sich nun leider
schon für das zweite Heft, und fast wie eine Vorahnung erscheint es,
wenn Hecht in diesem ersten schreibt: „Der Tod ist doch der strengste
Gläubiger des Menschen. Sein Eintritt ist ebenso unfehlbar, wie der
Moment unberechenbar.*“ — Nach freundlicher Auskunft des Verlages
beabsichtigt dieser die Fortführung der Jahrbücher, hat aber noch keinen
Herausgeber gewonnen. Möchte er sich finden und möchte er mit der
von Praktikern und Theoretikern gleichmäßig anerkannten reichen Er-
fahrung des Begründers der Jahrbücher auch dessen schöne Vorurteils-
freiheit besitzen, mit der er z. B. davor warnt, unsere Bodenkredit-
einrichtungen deshalb für vollkommen zu halten, weil sie Ausländern
vielfach als vorbildlich erscheinen. Vielmehr sollten die „Jahrbücher“
durch wissenschaftliche Kritik und vergleichende Erforschung aus-
ländischer Bodenrechts- und Bodenkreditverhältnisse die unserigen zu
verbessern und weiterzubilden suchen.
Hecht dachte sich die Jahrbücher als das Zentralorgan für die Prak-
tiker und Theoretiker des „organisierten Bodenkredits“, vor allem des
berufsmäßigen, der auf Grund von Hypotheken Schuldverschreibungen aus-
gibt, aber auch der Versicherungsgesellschaften, die nach Hecht Ende
1908 rund 4 Milliarden M. in Hypotheken besaßen und deren Beleihungs-
grundsätze von dem Aufsichtsamt für Privatversicherungen vorbildlich
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 551
gestaltet seien. Eine Bodenkreditfrage sei ferner die Geldbeschaffung
für Arbeiterwohnungen vermittelst der Hypothekarlebensversicherung.
Und allgemein müsse neben der Verschuldung auch die noch ganz im
Argen liegende Entschuldung methodisch gepflegt werden, um aller-
mindestens für den ländlichen Grundbesitz den Gedanken allmählich
zu verwirklichen, daß jede Generation die Schulden, die sie mache, auch
bezahle.
Endlich sei das Erbbaurecht und die von ihm zu erwartende
Weiterbildung des deutschen Bodenkreditwesens fortlaufend zu erörtern.
Diesem reichen Programm entspricht der Inhalt des ersten Heftes.
Dr. v. Grimm, von der Direktion der Reichsbank, schildert die
seit dem 1. April 1909 bei dieser eingerichtete Vermittelungsstelle für
die Hypothekenzahlung und -abrechnung, ein clearing house zur weiteren
Einschränkung unseres unwirtschaftlich-vorweltlichen Barverkehrs. Zu
dem gleichen Zweck hat die Reichsbank vorgeschlagen, die Kapital-
zahlungen im Hypothekenverkehr statt an den geldknappen Quartals-
ersten fortan auf die Quartalsmitte festzusetzen. Das horazische: redegit
omnem idibus pecuniam, würde damit für den deutschen Hypotheken-
verkehr wieder aktuell werden.
Der Geschichte des Bodenkredits dient die eingehende Darstellung
der Livländischen Gütersozietät (Landschaft) von Gustav Stryk (Dorpat)
und der Aufsatz Hechts über „die Katastrophen Berliner Hypotheken-
banken und die Krisis: die Einwirkung der Krisis auf die Gestaltung
des Hypothekengeldmarktes, auf das Baugewerbe und die städtischen
Immobiliarverhältnisse“. Es ist ein bisher unveröffentlichter Aufsatz aus
dem Jahre 1903, wo der Verf. in den Strafprozessen des Pommern-
bank- und Spielhagen -Konzerns monatelang als gerichtlicher Sach-
verständiger tätig war. Zur Klarstellung der Folgen der Katastrophe
richtete er damals an alle deutschen Baugewerks-Berufsgenossenschaften
die Frage: Hat die wirtschaftliche Krisis auf das Baugewerbe einen
nachteiligen Einfluß geübt? Die Antworten ergaben große örtliche Ver-
schiedenheiten, besonders zwischen industriellen und nichtindustriellen
Gegenden. Als allgemeine Tatsache nimmt Hecht aber an, daß dem
Hypothekenmarkt in kritischen Zeiten mehr Kapitalien, und zwar auch
in Gestalt von Baugeld zuströmen, als in den Zeiten der Hochkonjunktur;
Kapitalien, „die bis dahin sich ferngehalten hatten, weil sie in anders-
artigen Anlagen größeren Gewinn erhofften“.
Der Direktor der Landeskreditkasse in Cassel, v. Sachs, bespricht
die seit 1901 stattfindenden Zusammenkünfte der Leiter der westlichen
Provinzialkreditinstitute Preußens; die von ihnen erörterten, meist dem
Hypothekenrecht des BGB. entnommenen Zweifelsfragen und ihre haupt-
sächlichsten Beschlüsse, von denen erwähnt seien: der höchst gerecht-
fertigte Wunsch nach kommunalen, verantwortlichen Taxämtern für
den städtischen Grundbesitz!); ein praktischer Abänderungsvorschlag für
1) Vgl. Hecht in Holtzendorff-Kohlers Encyklopädie I (1906), S. 1096: „Die
Schätzungen sind gerade so viel wert, wie die Schätzer. Darum ist die Zusammen-
setzung der Schätzungsbehörden von der größten Wichtigkeit.“
552 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
die im BGB. festgestellte, direkt zweckwidrige Behandlung der ge-
tilgten Raten von Amortisationshypotheken, endlich Beschwerden über
den $ 1136 BGB. der das Versprechen des Eigentümers an den
Gläubiger, sein Grundstück nicht zu veräußern oder nicht weiter zu
belasten, für nichtig erklärt. In der Tat ist dieser Paragraph zwar
gerechtfertigt gegenüber Ausbeutungsgelüsten eigennütziger, privater
Gläubiger, aber ein schweres Hemmnis für alle gemeinnützigen Reform-
bestrebungen, so für die Förderung des Arbeiterwohnungswesens durch
die Landesversicherungsanstalten, und so nun auch, nach den Dar-
legungen dieses Aufsatzes, für die von den Provinzialkreditinstituten
gepflogenen Bestrebungen zur Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes.
Diese Entschuldungsfrage, unmittelbar angeregt durch einen Erlaß
des Landwirtschaftsministers vom 30. Mai 1902, betreffend Entschuldung
des ländlichen Grundbesitzes und die Nachhypotheken, nimmt, wie in
diesem Aufsatz, so auch in dem ganzen Heft 1 der Jahrbücher den
größten Raum ein. Sie lag offenbar Hecht am meisten am Herzen und
so sind ihr, direkt oder indirekt, die sämtlichen 6 übrigen Aufsätze
gewidmet.
So seine sehr eingehende Erörterung der Hessischen Landes-
Hypothekenbank in Darmstadt, die am 17. Januar 1903 errichtet wurde
zur Förderung des Realkredits und zur Entschuldung des Grundbesitzes
im Großherzogtum Hessen, durch Gewährung von unkündbaren Amorti-
sationsdarlehen gegen mäßigen Zinsfuß. Ihr Aktienkapital von jetzt
9 Mill. M. gehört zu 92 Proz. dem Staat, für den Rest Kommunal-
verbänden und Sparkassen mit kommunaler Garantie. Ihre Organisation
und ihre ausgedehnte, höchst erfolgreiche Tätigkeit wird eingehend
analysiert. Ein satzungsmäßiger Hauptzweck ist nun die Entschuldung
des Grundbesitzes und Biermer (Gießen) charakterisierte ihre Gründung
als eine „großzügige Entschuldungsaktion, zur systematischen Fürsorge
für kommende Generationen“. Aber: „Es ist an der Zeit darauf hin-
zuweisen, daß hier ein Ziel mit unzureichenden Mitteln verfolgt wird“,
bemerkt hierzu Hecht, unter Verweisung auf die folgenden, der Ent-
schuldungsfrage speziell gewidmeten Aufsätze. Deren sind drei: „die
Entschuldungsversuche in Ostpreußen“ von dem Landschaftssyndikus
Dr. Leweck, „die Frage der Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes
in der Spezialkommission des österreichischen Herrenhauses“ von Dr.
v. Altrock, Generalsekretär des preußischen Landesökonomiekollegiums,
und „die Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes durch Annuitäten
und Lebensversicherung“, von Hecht selber.
Er schildert hier eingehend die Amortisation durch Annuitäten, die
vom Darlehnsgeber fordert, daß er zum Vorteil des Schuldners jede
kleine Amortisationsrate sofort auf Zinseszins anlege. Dies ist natür-
lich nur größeren Instituten möglich: „das Annuitätendarlehenswesen
verlangt und ist eine Zentralisation kleinerer Kapitalien“. Sein Vorteil
für den Schuldner ist vor allem die grundsätzliche und regelmäßige
Unkündbarkeit des Annuitätendarlehens. Sodann, daß seine Tilgung
durch kleine und, was besonders für ungewandte, ländliche Kreise
wichtig ist, stets gleichbleibende Zahlungen erfolgt. Aber so greße
Vorzüge auch diese Tilgungsart habe, ein Weg zur Entschuldung sei
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 553
sie nicht, wenigstens nicht in ihrer durchgängig sich findenden Hand-
habung, wo einmal eine minimale Amortisation zugelassen und regel-
mäßig gewählt werde, und wo vor allem die Amortisation sehr bald
sistiert werden darf und ganz regelmäßig auch sistiert wird. „Das
Annuitätendarlehenswesen ist die richtige Form für die Verschuldung
des ländlichen Grundbesitzes, aber es ist eine nicht ausreichende Form
für die Entschuldung. Im 19. Jahrhundert hat man im Annuitäten-
system die richtige Form für die Verschuldung des ländlichen Grund-
besitzes gefunden, im 20. Jahrhundert haben wir die Form für die
Entschuldung zu finden. Verzichtet man in Agrarkreisen selbst auf
die Lösung des Problems, so bedeutet das eine schwere Benachteiligung
der deutschen Landwirtschaft. Gelingt es uns, die Bearbeitung des
Problems in die richtigen Wege zu leiten, so wird die Konkurrenz-
fähigkeit der deutschen Landwirtschaft außerordentlich gestärkt, die
Wohlfahrt der ländlichen Gemeinden in ungeahnter Weise gehoben.“
Als diesen Weg empfiehlt Hecht die Verbindung des Annuitäten-
darlehens mit der Lebensversicherung, und zwar in der zweckmälßigsten,
weil für den Schuldner billigsten Form, daß als versichertes Kapital
nicht eine feste Summe, sondern der im Todesmoment oder in dem etwa
angesetzten Schlußjahr noch nicht amortisierte, unbestimmte Betrag ein-
gesetzt wird. Diese „Hypothekentilgungsversicherung“ stellt sich nun
erfreulicherweise so billig, daß ein mit ihr verbundenes, unkündbares
Annuitätendarlehen nicht teurer wird, als ein kündbares, nicht amorti-
sables Darlehen in Verbindung mit der Lebensversicherung. „Wenn
aber ein Annuitätendarlehen nicht teurer ist, so hat der Schuldner
nicht das geringste Interesse mehr, ein kündbares Darlehen zu wählen,
und so ist durch die Hypothekentilgungsversicherung ein überaus
wichtiges, neues Mittel zur Einführung und Verbreitung der Annuitäts-
darlehen gefunden.“
Während nun das Annuitätsdarlehen mit seiner üblichen Amorti-
sationsfrist weit über die Durchschnittslebensdauer hinausreiche, also
stets eine Verschuldung auch der Erben darstelle. werde durch die
Hypothekentilgungsversicherung, und nur durch sie, der klare und große
Grundsatz verwirklicht, daß jede Generation die von ihr gemachten
Schulden auch selber tilgen muß.
Indes diese ländliche Hypothekentilgungsversicherung ist einstweilen
noch ein pium desiderium; auch die ostpreußische Entschuldungsaktion,
die Dr. Leweck in diesem Hefte beschreibt, arbeitet ohne die unseren
Bauern noch fremdartig und auch zu teuer erscheinende Lebensver-
sicherung! Dagegen zeigt diese in um so praktischerer und weitaus-
gedehnter Anwendung der letzte Aufsatz: die Lebensversicherung als
Mittel zur Lösung der Wohnungsfrage in Belgien, Beiträge zur Organi-
sation des Bodenkredits in Belgien, von Ludwig Altschüler. Von dieser
höchst interessanten Arbeit, der Frucht einer auf Hechts Anregung
unternommenen Studienreise, ist leider vorerst nur ein einleitendes
Kapitel: der Einfluß des Einfamilienhauses auf die belgische Wohnungs-
frage, erschienen. Aber hoffentlich findet mit den Jahrbüchern auch
dieser Artikel bald seine Fortsetzung.
Ausgehend von den auffällig, und unseren Verhältnissen gegenüber
554 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
beschämend niedrigen Behausungsziffern der belgischen Industrie- und
Großstädte, zeigt Altschüler zunächst, daß das belgische Wohnungs-
und Arbeiterwohnungswesen noch ganz überwiegend im Zeichen des
Einfamilienhauses steht. Er erklärt dies aus der am eigenen Heim
noch festhaltenden Volkssitte. Darum habe der Boden noch nicht
die deutsche Mietskasernenausnutzbarkeit und damit Teuerkeit erlangt.
Aber sollte es nicht zum guten Teil gerade umgekehrt liegen: weil der
Boden noch billig ist, kann er noch Einfamilienhäuser tragen, und
billig ist er, weil Belgien, wie Altschüler selbst sehr schön schildert,
für die Veräußerung und Belastung des Bodens die denkbar schwer-
fälligsten und unbeholfensten Einrichtungen hat! Es ist genau wie in
England. Und gerade wie in England wünscht man sich vielfach auch
in Belgien, wie Altschüler zeigt, unser raffiniert vollkommenes Boden-
handels- und Bodenkreditwesen, ohne sich klar zu machen, daß damit
zugleich auch die hohen Bodenpreise und die hohen Mietskasernen
ihren Einzug halten und die Einfamilienhäuser genau so verdrängen
würden wie sie es in der Rheinprovinz nachweisbar seit und infolge
der Einführung des preußischen Grundbuchsystems getan haben!
Jedenfalls erfolgte in Belgien die durch ein Gesetz von 1889 ein-
geleitete, mächtige Förderung des Arbeiterwohnungswesens ausschließ-
lich durch Herstellung von Einfamilienhäusern, und zwar zu eigenem
Erwerb. Deren sind in 20 Jahren 50000 geschaffen worden. Direkte
Staatsbeihilfe wurde abgelehnt, indes ein weitgehender Steuer- und Ge-
bührenerlaß bewilligt, was, wie Altschüler richtig sagt, einer Barsub-
vention sachlich gleichsteht. Sodann und vor allen Dingen trat damals
die staatlich garantierte und beaufsichtigte Spar- und Altersrentenkasse
als Kredit- und Geldquelle ein und brachte die seit Jahrzehnten in
Belgien erfolglos erörterte Arbeiterwohnungsfrage in raschen Fluß,
hierdurch einmal mehr bekräftigend, „daß die Arbeiterwohnungsfrage in
der Hauptsache eine Kreditfrage ist.“
Die Sparkasse gibt durch Vermittelung ihr angegliederter Kredit-
gesellschaften von der Art der englischen building societies Arbeitern
gegen Amortisationshypothek die Mittel zum Bau oder Erwerb eines
Eigenhauses. Diese Hypothek muß aber verstärkt und wirtschaftlich
erst wirklich tragfähig gemacht werden durch eine bei der Sparkasse
selbst kontrahierte Lebens- nnd Hypothekentilgungsversicherung.
Dies das „belgische System“, das neuerdings auch seitens des
rheinischen Kleinwohnungsvereins in Düsseldorf nicht ohne Erfolg nach-
geahmt worden ist. Altschüler schildert es in diesem ersten Kapitel
nur ganz im allgemeinen, gibt aber zugleich die unerfreuliche, indes
wohl erklärliche Feststellung, daß diese seinerzeit unter dem Ein-
druck des proletarischen Wohnungselends ins Leben gerufene, belgische
Arbeiterwohnungsaktion für die Wohnverhältnisse der Aermsten der
Armen ohne nachweisbare Wirkung geblieben ist. Jene 50000 Eigen-
häuser sind doch nur einer Elite der Arbeiterschaft zugute gekommen,
wie jede auf Selbsthilfe und eigene Sparleistungen gebaute Förderung.
Dem proletarischen Wohnungselend möchte man in Belgien jetzt durch
Errichtung von Arbeitermietskasernen entgegentreten, aber unter An-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 555
setzung niedriger Höchstmieten, um so dem Teuerwerden des „mehr-
stöckigen“ Bodens nach Möglichkeit vorzubeugen!
In enger Beziehung zu der Bodenver- und Entschuldungsfrage steht
endlich das von Hecht in dem Arbeitsprogramm nachdrücklich hervor-
gehobene Erbbaurecht, die in England übliche Form des „Bauens auf
unbezahltem — also wirtschaftlich nicht eigenem — Boden“. Der
Engländer mit seinem vorweltlich unvollkommenen Bodenkreditrecht
leiht sich eben den Boden selbst, wir den Preis des Bodes, indem wir
dank unserem Grundbuche diesen Boden selbst dafür zum Pfande setzen.
Dies der Ursprung und ein Hauptteil unserer schwindelerregenden Bau-
bodenverschuldung und damit — gegenüber England — unserer Boden-
und Wohnungsverteuerung. Beim Erbbaurecht fällt nun diese Boden-
erwerbshypothek ganz fort; aber auch für die gerade wie beim Bau auf
„eigenem“ Boden nötige Baugeldhypothek steht das Erbbaurecht volks-
wirtschaftlich besser da, als der bei uns übliche, sogenannte „Eigen“bau.
Denn es zwingt als zeitlich begrenztes Recht zur Amortisation der Bau-
geldhypothek, die getilgt und gelöscht sein muß, lange bevor das Haus
tatsächlich entwertet ist. Bei unseren Hypothekeneigenhäusern dagegen
ist Amortisation der Baugeldhypothek unbeliebt und selbst da, wo sie
platzgreift, bleibt der amortisierte Betrag als Eigentümergrundschuld,
also als grundbuchmäßig gewährleistete Anweisung auf jene Wertquote
bestehen, während das ihr einstmals entsprechende Haus vielleicht
schon längst entwertet ist. Dieses System unserer Mietskasernenproduk-
tion und unseres Hypothekenrechts selbst ist also nichts als das bequeme:
après nous le déluge, und genau gleich der von Hecht so energisch
bekämpften, ländlichen Borgwirtschaft. Seine Sätze: „Dem Recht des
Schuldenmachens entspricht die Pflicht der Schuldentilgung“ und:
„Jede Generation soll die Schulden tilgen, die von ihr aufgenommen
sind,“ passen auch auf die Baugeldhypothek, sobald und soweit das
ihren Gegenwert darstellende Haus durch Alt- oder Altmodischwerden
sich entwertet.
Und so hat das Erbbaurecht neben seiner Bedeutung für die
Wohnungsfrage: Ersparnis beim Bodenerwerb (Erbbauzins gegenüber
Zinsen der Kaufpreishypothek) und daher Erleichterung der Einfamilien-
häuser mit Gärten! — auch eine große Bedeutung für die Kredit- und
Entschuldungsfrage.e Und hieran dachte wohl Hecht, als er in das
Arbeitsprogramm der Jahrbücher: „die Förderung des Bodenkredits
durch das Erbbaurecht“ aufnahm.
In diesem Hefte gehört hierher ein sachkundiger und manches
Neue bringender Aufsatz des Direktors der Kreditanstalt für städtischen
Bodenbesitz von Posen und Westpreußen, Dr. Stübben über „Erbbau-
rechtshypotheken“. Daß von den Rechtszweifeln und Bedenken, die
dem fremdartigen Institut zunächst entgegentraten, ein großer Teil
schon durch theoretische Klärung oder durch praktische Auswege be-
seitigt ist, hebt er mit Recht hervor, wünscht aber nicht ohne Grund
die Klärung einiger Punkte durch ein wiederholt in Aussicht gestelltes
Reichs-Erbbaugesetz. Der Kapitalwert eines Erbbaurechtes und damit
die Sicherheit einer darauf ruhenden Amortisationshypothek wird
556 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
mathematisch dargelegt und die Förderung des Erbbaurechts durch
Beleihung den Realkreditanstalten warm empfohlen: „Die lebensvolle
Entwicklung des Erbbaurechts ist von der Beleihung durch die Hypo-
thekenbanken abhängig. Wer es nicht beleiht, weil es keinen Marktwert
hat, stolpert über die eigenen Füße. Wir spüren seit längerer Zeit
am eigenen Leibe, daß der Ausnutzung des Bodens die Grenze gezogen
ist durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl. Das Erbbaurecht soll in
der Wohnungsfrage einen Regulierungsfaktor bilden.“ H. Erman.
Zahnbrecher, Franz H. Dr. phil. et oec. publ., Zur Ein-
führung von Postsparkassen in Bayern unter besonderer Berücksichtigung
der ländlichen Spar- und Darlehenskassenvereine. München, M. Rieger-
sche Hofbuchhandlung.
Wir haben hier eine neue Schrift, die sich zugunsten der Ein-
führung der Postsparkasse ausspricht. Ihr Ausgang ist die Resolution
des XXIII. deutschen Genossenschaftstages, worin die Einführung des
Postscheckverkehrs und der Postsparkasse als eine das Genossenschafts-
wesen schädigende Maßregel verworfen wurde. Aus jener befürchtet
man die „Vernichtung der vielversprechenden Anfänge des genossen-
schaftlichen Scheckverkehrs“, aus dieser die Entziehung von Spareinlagen
und eine dem platten Lande, wie überhaupt dem Mittelstand nachteilige
Konzentration des Depositenwesen. Man wurde darin nicht dadurch be-
irrt, daß der erste internationale Bundestag der landwirtschaftlichen
Genossenschaften in Wien im Postscheck- und Clearingverkehr der
staatlichen Postsparkasse sogar eine Erleichterung und Förderung der
Tätigkeit der Provinzialverbandskassen und des Zentralgenossenschafts-
kreditinstitutes sah. Wie weit das deutsche Postscheckgesetz hier schon
eine Aenderung der Sachlage gebracht hat, berührt Autor nicht weiter,
obwohl das Buch im Herbste 1909 zum Abschluß kam, sondern er
wendet sich ausschließlich der Frage der Einführbarkeit der Postspar-
kasse zu, die als „Sparkasse“ für das Genossenschaftswesen doch ohne
weiteres Interesse sein dürfte. Daß die Genossenschaftskassen von der
Konkurrenz der Postsparkasse wenig zu leiden haben werden, ist bei
der hohen Einlageziusdifferenz, bei dem Interesse der Landwirtschaft
an ihren lokalen Genossenschaften und dem ländlichen Solidaritätsgefühl
zu erwarten. Es bedürfte hierzu nicht einmal eines abschreckend niederen
Zinsfußes bei der Postsparkasse, der mir, wenn diese schon einmal ge-
schaffen werden sollte, sozialpolitisch nicht gerechtfertigt werden zu
können scheint.
Die Behauptung einer unwesentlichen Beeiuträchtigung der anderen
Sparkassen durch die Postsparkasse kann nicht durch die absolute Zu-
nahme ihrer Einlagen eine Bejahung, sondern muß aus dem relativen
Rückgang des Jahreswachstums (s. Tabelle S. 91) eine Verneinung er-
fahren. Wenn der Autor hofft, daß die Postsparkasse die lokale Geld-
zirkulation des Privatsparkassenwesens ersetzen kann und das Genossen-
schaftswesen sogar besonders zu fördern vermag, so ist die bisherige
Praxis den Beweis dafür schuldig geblieben; die deutsche Postsparkasse
dürfte allen Anzeichen nach zu schließen nicht einmal die bescheidenen
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 557
Versuche anderer Länder hierin nachahmen, sondern sich vornehmlich
der Besserung des Staatskredits widmen. Die anderen dem Postspar-
kassenwesen nachgerühmten Vorteile habe ich in den Kritiken der
Bücher von Heber und Heidemann in diesen Jahrbüchern bereits be-
leuchtet, mir scheinen sie zu schwer erkauft, da ja der Hauptvorteil
der Erweiterung der Spargelegenheit auch durch die Dienstleistungen
derPosten für die bestehenden Privatsparkassen sich er-
füllen ließe.
Wertvoll ist der Einblick, den diese Schrift in das Sparkassen-
wesen der bayerischen und österreichischen Genossenschaften gewährt;
instruktive graphische Tabellen beleben dieses interessante Bild.
Jena. Robert Schachner.
Altherr, Hans, Das Münzwesen der Schweiz bis zum Jahre 1798 auf Grund-
lage der eidg. Verhandlungen und Vereinbarungen. Bern, Stämpfli & Cie., 1910. gr. 8.
XUI—432 SS. M. 10.—.
Jastrow, J. (Prof.), und (Dir.) W. Badtke, Kommunale Arbeitslosenversicherung.
Denkschrift und Materialsammlung, vorgelegt dem Magistrat Charlottenburg. Verm.
Buchausg. Berlin, Georg Reimer, 1910. gr. 8. VIII—228 SS. M. 2,80.
Passow, Richard (Prof.), Die Bilanzen der privaten Unternehmungen. Leipzig,
B. G. Teubner, 1910. gr. 8. XII—355 SS. M. 8,40. (B. G. Teubner’s Handbücher
für Handel und Gewerbe.)
Peter, Heinrich, Wert und Preis unbebauter Liegenschaften in der modernen
Großstadt. Dargestellt auf Grund der Verkäufe unbebauter Liegenschaften in Mannheim
1895—1906. Karlsruhe, G. Braun, 1910. Lex.-8. VII—169 SS. M. 5.—.
Prager, Heinrich, Eine staatliche Zwangsversicherung. Entwurf zur Schaffung
von Altersrenten für Jedermann. (Ein soziales Problem.) Wien, Manz, 1910. gr. 8.
IV-52 SS. M. 1.—.
Taeuber, Rud. (Bücherrevis.), Unsere Großbanken. Dresden, Gerhard Küht-
mann, 1910. gr. 8. VI—186 SS. M. 7.—.
Thomas, Willy (Referendar), Ist die Reichsbank eine Aktiengesellschaft? Diss.
Königsberg i. Pr., Ferd. Beyer, 1909. 8. XI—68 SS. M. 1.—.
Dallemagne, J., Le crédit et la petite bourgeoisie. Liège, impr. D. Cormaux,
1909. 8. 119 pag. fr. 1,50.
Malnoury, Louis, La mutualité agricole et l’assurance contre l’incendie. Chau-
mont, impr. Cavaniol, 1910. 18. 322 pag.
Ireton, Robert Emmett, A central bank. New York, Anthony Stumpf Publish-
ing Co., 1910. 12. 216 pp. $ 1,60.
Whittall (W. J. H.), An elementary lecture on the theory of life assurance.
Delivered at a meeting of the Birmingham Insurance Institute, January 11, 1889. 2nd
edition, revised. London, Layton, 1910. Cr. 8. 43 pp. 2/.—.
9. Soziale Frage.i
Harms, Bernhard, Professor der Staatswissenschaften an der
Universität Kiel, Ferdinand Lassalle und seine Bedeutung für die
deutsche Sozialdemokratie. Jena (Gustav Fischer) 1909. 128 SS.
In Lassalle paarten sich seltene Vorzüge des Geistes mit gefähr-
lichen Trieben; er war teils politischer Egoist, teils von deutsch-
nationaler Gesinnung getragen. Cäsaristisch veranlagt, sich bewußt an-
lehnend an das eherne Gestell des preußischen Staates, von dessen
Entwicklung er das Heil Deutschlands erwartete, war er weniger durch
die Eigenart der Ideen wie durch die kraftvolle Art seiner Agitation
der eigentliche Begründer der Arbeiterpartei in Deutschland. Die Per-
558 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
sönlichkeit, deren Leben, Kämpfe und Tod menschlich erschütternde
Momente in sich trägt, wird stets besonderes Interesse einflößen, und
so ist es denn verständlich, daß auch Harms sich mit ihr beschäftigt.
Ist er der Aufgabe, die er sich gestellt, gerecht geworden? Diese
Frage kaun nicht bejaht werden. Das vorliegende Buch hat zwar
manche Vorzüge. Harms führt treffend die Gründe vor, weswegen
eine vom Klassengeist getragene Arbeiterbewegung in Deutschland vor
Lassalle fehlte. Auf die ursprüngliche, das eigene Interesse so wesent-
lich schädigende Verständnislosigkeit der Fortschrittspartei gegenüber
den Arbeiterinteressen ist beredt hingewiesen, und die konfessionell-
psychologischen Verhältnisse, die Lassalle eutscheidend beeinflußten,
sind scharf erkannt. Doch die Schrift, die nicht frei von gekünsteltem
Pathos ist, hat mehr einen feuilletonistischen als wissen-
schaftlichen Charakter. Der äußere Lebensgang Lassalles und der
Inhalt seiner Reden und Agitationsschriften ist zwar zuverlässig
skizziert, aber das in Betracht zu ziehende Material ist von Brandes
bis Oncken so vielfach und allseitig behandelt, und so allgemein be-
kannt, daß die wiederholte Behandlung und Wiedergabe des Stoffes
fast zwecklos erscheint. Diese störenden Einzelheiten jedoch wären
immerhin von nur untergeordneter Bedeutung, wenn der eigentliche
Zweck des Buches als berechtigt zu bezeichnen wäre. Dies ist nicht
der Fall. Harms beschäftigt sich mit Lassalle nicht um dessen Lebens-
geschichte zu schreiben, sondern um dessen aktuelle Bedeutung für
Deutschland zu beweisen. Er meint (S. 81 ff.), daß ein großer Teil
der von Lassalle in dem „Offenen Antwortschreiben“ niedergelegten
Anschauungen für die Gegenwart verwertbar seien und daher von der
Arbeiterpartei programmatisch bald wieder aufgenommen werden
dürften. Hier hat die Sonde der Kritik einzusetzen, und von diesem
Gesichtswinkel aus ist der Feingehalt des Buches zu erkennen und zu
bemessen.
Lassalle hat namentlich die Beseitigung des ehernen Lohngesetzes
verlangt, er ist für die Errichtung von Produktivassoziationen einge-
treten, hat hierfür und für andere Wirtschaftsangelegenheiten die In-
tervention des Staates gefordert und war der eifrigste Vertreter des
allgemeinen Wahlrechtes. Das eherne Lohngesetz hat manchen Sturm
erlebt. Die Frage des Existenzminimums der Arbeiter ist bei deren
sich tatsächlich fortlaufend mindernden Armut eine äußerst strittige
geworden. In Deutschland bietet die Zunahme des Exports, die
dauernd wachsende Inlandsproduktion, der hohe Aufschwung der Tech-
nik usw. eine sich stetig steigende Arbeitsgelegenheit, die trotz stark
zunehmenden Bevölkerung zu einer fortlaufenden Erhöhung der Löhne
geführt hat und führt. Hierzu kommt aber der durchaus nicht zu
unterschätzende Umstand, daß mit einer bestimmten Mindestbegrenzung
des Einkommens nicht nur die Arbeiter, sondern dauernd auch die
Mehrzahl aller Individuen zu rechnen haben. Durchschnittlich ver-
dienen die Einzelnen im günstigsten Fall nur dasjenige, was sie ver-
brauchen, abgesehen von der unleugbaren Tatsache, daß sie meisten-
teils auch dasjenige verbrauchen, was sie verdienen. Oder finden
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 559
vielleicht Professoren, Offiziere, Oberlehrer, Volksschullehrer, Brief-
träger, alle sonstigen hohen und niederen Staats- oder Gemeinde-
beamten, die in der neueren Zeit erwerbsfähiger gewordenen Frauen,
ja selbst im entscheidenden Mehrheitsfalle die Privatbeamten und
selbständigen Handwerker, Kaufleute und Industriellen durch ihr Ein-
kommen die Möglichkeit einer größeren Kapitalansammlung? Gar
mancher von ihnen ist froh, wenn er im Kampf um das Dasein finan-
ziell nicht unterliegt. Es gab und gibt ein je individuell nach Bil-
dung, Lebensbedarf und Gewohnheit bedingtes Lohngesetz für fast
alle Zugehörigen der verschiedenen Bevölkerungsklassen, und die An-
nahme, daß ihm nur die Arbeiter unterliegen, war an sich schon ein
bedauernswerter Irrtum Ricardos und Lassalle. Je mehr aber die
volkswirtschaftliche Bildung Gemeingut wird, — und in diesem Zeit-
alter leben wir in Deutschland — desto schärfer tritt dieser Irrtum
hervor, desto mehr verblassen die Sterne Ricardos und desto gering-
fügiger wird die aktuelle Bedeutung Lassalles. Es berührt eigenartig,
daß Harms als wissenschaftlich geschulter Nationalökonom, der berufen
ist, die akademische Jugend zur richtigen Erkenntnis zu führen, sich
dieser Auffassung verschließt, und auch in der Gegenwart noch für das
eherne Loohngesetz eintritt, dessen Existenzberechtigung zu etwaigen
Ungunsten der Arbeiter bereits Liebknecht bestritten hat und dessen
Unrichtigkeit klar erwiesen ist.
S Harms behauptet „Die Lösung der sozialen Frage auf dem Wege
der Produktivgenossenschaft herbeiführen zu wollen, war ein Vorrecht
des vormärzlichen Sozialismus. Heut glaubt daran niemand mehr.“
(S. 88ff.). Dies ist vollständig richtig, Da dies aber der Fall, ergibt
sich mit zwingender Notwendigkeit die Erkenntnis, daß auch in dieser
Beziehung Lassalle mit seiner Forderung ernstlich in der Gegenwart
nicht mehr in Betracht gezogen werden kann. Und wenn die er-
wünschte Intervention des Staates zugunsten der Schwachen durch die
neuere Reichsgesetzgebung auch teilweise eingetreten ist, so beweist
dies bei weitem eher die sittliche Steigerung des Gemütsliberalismus,
gleichviel in welcher politischen Parteiform er äußerlich auftritt, oder
die endgiltige Loslösung von den Fesseln des Manchestertums als die
wirklich aktuelle Bedeutung des ursprünglichen Begründers der
deutschen Arbeiterpartei.
Lassalle ist auf das wärmste für die Einführung des allgemeinen
und freien Wahlrechts eingetreten und hoffte hierdurch die Arbeiter-
interessen indirekt und dauernd am schnellsten fördern zu können.
Seine Auffassung ist, wie vielleicht in der Gegenwart nicht allgemein
bekannt sein dürfte, anfänglich von den leitenden Männern der Sozial-
demokratie nicht geteilt worden. Engels gab in seiner 1865 erschie-
nenen Schrift über „Die preußische Militärfrage und die deutsche Ar-
beiterpartei“ der Befürchtung Ausdruck, daß in einem vorwiegend agra-
rischen Staate, wie in dem damaligen Preußen — der östliche Teil
der Monarchie hat sich auch bis zur Gegenwart den gleichen Charakter
gewahrt — und der intellektuellen Abhängigkeit der Arbeiter von den
Grundbesitzern das allgemeine Wahlrecht für die Arbeiter eher ein
560 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Fallstrick wie eine Waffe sein werde. In Uebereinstimmung mit
Engels warnte gieichzeitig Liebknecht von einer politischen Parole, die
das allgemeine Stimmrecht um jeden Preis fordere, da es, wie die Ver-
hältnisse unter Napoleon III. bewiesen, auch für reaktionäre Zwecke
leicht nutzbar und gemißbraucht werden könne. Diese durchaus be-
gründeten Bedenken der Standardmen der Sozialdemokratie sollten
auch von deren gegenwärtigen Führern oder allen sonstigen unbe-
dingten Anhängern des allgemeinen Wahlrechtes nicht vollständig über-
sehen werden. Harms aber meint, daß Lassalle in der Sache Recht
behalten habe (S. 98) und daß auch nach dieser Richtung seine aktuelle
Bedeutung zu suchen sei. Es liegt nun vollständig fern, hier die
Existenz des allgemeinen Wahlrechtes im Reich auch nur annähernd
antasten oder das Dreiklassenwahlrecht mit den vielen Ungerechtig-
keiten, die es dauernd hervorruft, verteidigen zu wollen. Aber hat sich
denn das erstere zugunsten der deutschen Arbeiter, wirklich so sehr
und dauernd bewährt? Weist nicht namentlich in der Gegenwart der
deutsche Reichstag in vielfacher Beziehung eine fast gleiche Phyio-
gnomie wie das preußische Abgeordnetenhaus auf? In beiden Körper-
schaften haben dauernd Konservative und Zentrum die Mehrheit, und
die jüngste Reichsfinanzreform, die schlechter auch mit dem Klassen-
wahlrecht nicht hätte gemacht werden können, mit ihrer direkten
Rückwirkung einer höheren Belastung der Minderbesitzenden liefert
den besten Beweis von der relativen Minderwertigkeit auch des allge-
meinen Wahlrechts. Bei Abschätzung der intellektuell-aktuellen Be-
deutung Lassalles dürfen diese Gesichtspunkte nicht unberücksichtigt
bleiben.
Harms gibt in der Vorbemerkung zu seinem Buche der Auffassung
Ausdruck, daß die politische Weiterentwicklung der deutschen Sozial-
demokratie nicht an Marx, sondern an Lassalle anknüpfen werde. Aber
auch darin dürfte er sich irren. Die Sozialdemokratie wird wahrschein-
lich aus Selbsterhaltungstrieb mit den Systemen beider sich nicht
zu eng in der Zukunft verbinden. Der Schwerpunkt der zu erwar-
tenden Entwicklung ruht in der Begründung einer radikal-liberalen Ar-
beiterpartei, die sich von der Verfolgung unerreichbarer Ziele, wie
z. B. der Expropriation der Expropriateure oder der Errichtung von
Produktivassoziationen mit Staatsmitteln grundsätzlich fernhält. Sonst
dürfte die Sozialdemokratie auf den politisch immer mehr ausreifenden
und volkswirtschaftlich sich immer mehr schulenden deutschen Arbeiter
eine dauernde Anziehungskraft nicht auszuüben vermögen. Qui vivra
verra! Otto Warschauer.
Biesalski, Conrad, Umfang und Art des jugendlichen Krüppel-
tums und der Krüppelfürsorge in Deutschland. Hamburg und Leipzig
(Leopold Voss) 1909.
Eine Reihe von Krüppelzählungen ohne und mit amtlicher Hilfe
hatte durch die Bemühungen einzelner, praktische Krüppelfürsorge
treibender Männer bereits in den Jahren seit 1896 stattgefunden. Alle
diese auf ein, umschriebenes Zweckgebiet beschränkten Zählungen
(Mittelfranken, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerin, Schlesien,
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 561
Rheinprovinz, Provinz Sachsen, Westfalen, Braunschweig) hatten für
ihre Veranstalter ihren Zweck erfüllt, aber sie hatten nicht die Auf-
merksamkeit der breiten Oeffentlichkeit, der Presse, der grußen Armen-
verwaltungen, der Regierungen erregt. Alle Kreise blieben ablehnend
oder abwartend, selbst die Aerzte, d. h. die orthopädischen Chirurgen,
standen in der Hauptsache noch abseits.
Da faßte Biesalski 1906 den heroischen Entschluß, eine das ganze
Deutsche Reich umfassende Krüppelstatistik mit Hilfe der Regierungen
in die Wege zu leiten, um so der Krüppelfürsorge die notwendigen
Fundamente für eine gesunde und aussichtsreiche Weiterentwicklung
zu gewährleisten. Diese Statistik sollte den Regierungen das Material
zu Entschließungen geben, die gesamte Oeffentlichkeit aufzurütteln, das
Interesse der Orthopäden erwecken und ihre Mitarbeit zur Folge haben.
Dank der Förderung und Hilfe des Geheimen Obermedizinalrats
Prof. Dr. Dietrich-Berlin und des Geheimen Medizinalrats Prof. Dr. Hoffa-
Berlin hat Biesalski seine große Arbeit begonnen und durchgeführt, ge-
stützt auf den Deutschen Centralverein für Jugendfürsorge.
Die Eingaben an den Kultusminister für Preußen und an den
Reichskanzler für die übrigen Bundesstaaten führten zu der Verwirk-
lichung des Planes. Man einigte sich schließlich auf eine Zählkarte,
die nach den Grundsätzen des in der statistischen Technik allgemein
angewandten Sortierverfahrens abgefaßt war. Es wurden gezählt alle
Krüppelkinder, die das 15. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten;
Bayern, Baden und Hessen zählten nur das schulpflichtige Alter.
Im Laufe des Frühjahrs 1907 liefen die Zählkarten bei dem Ber-
liner Bureau unter Biesalski ein und wurden dort aufs sorgsamste
gesichtet.
Die Gruppierung aller Fälle fand statt in Nichtheimbedürf-
tige, Heimbedürftige und Unheilbare. Diese Einteilung ist
von fundamentaler Bedeutung.
Als nichtheimbedürftig wurden alle Krüppel gezählt, deren
Erwerbsfähigkeit auch ohne ein Krüppelheim zu erreichen war, wenn
man unter Krüppelheim eine Anstalt versteht, in welcher eine ortho-
pädische Klinik, eine Volksschule und Handwerksunterricht gleichzeitig
so neben- und ineinander arbeiten, daß ihre Gesamtwirkung die schä-
digenden Folgen auf das geringste mögliche Maß beschränkt.
Die Heimbedürftigkeit wurde nicht nur auf Grund des Ge-
brechens festgestellt, sondern es wurde gegen das Gebrechen abge-
wogen, ob der Krüppel aus wohlhabenden oder armen Verhältnissen
stammte, ob überhaupt für ihn gesorgt wurde, und ob er noch durch
andere Krankheiten oder Fehler betroffen war: Schwachsinn, Schwer-
hörigkeit, Kurzsichtigkeit, Blutarmut usw.
Demgemäß kam Biesalski zu folgender Begriffsbestimmung: „Ein
heimbedürftiger Krüppel ist ein (infolge eines angeborenen Nerven- oder
Knochen- und Gelenkleidens) in dem Gebrauch seines Rumpfes oder
seiner Gliedmaßen behinderter Kranker, bei welchem die Wechselwirkung
zwischen dem Grad seines Gebrechens (einschließlich sonstiger Krank-
heiten und Fehler) und der Lebenshaltung seiner Umgebung eine so
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 36
562 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
ungünstige ist, daß die ihm verbliebenen körperlichen und geistigen
Kräfte zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbständigkeit nur in einer
Anstalt entwickelt werden können, welche über die eigens für diesen
Zweck notwendige Vielheit ärztlicher und pädagogischer Einwirkungen
gleichzeitig verfügt.“
Unheilbare Krüppel sind die, welche keiner Behandlung zu-
gängig, auch für den gewerblichen Unterricht untauglich sind, aber der
Pflege in einem Krüppelheim bedürfen.
Der umfangreichste Teil des Buches, das Tabellenwerk, ist auf
316 Seiten untergebracht. Diese Tabellen dienen zweierlei Zwecken:
sie sollen 1) die Frage nach dem Umfang der Krtüppelfürsorge klären
und Unterlagen für einen ausreichenden Ausbau liefern; 2) jeden ein-
zelnen Bundesstaat, bezüglich jede preußische Provinz in die Lage ver-
setzen, die für sie in Betracht kommenden Zahlen herauszuschreiben,
nachzusehen oder zusammenzustellen.
Nach den Tabellen betrug im Deutschen Reiche (ohne Bayern,
Baden, Hessen)
die Gesamtzahl der Krüppel 75 183
davon befanden sich im vorschulpflichtigen Alter 14 865
im schulpflichtigen Alter 60 318
Nach ärztlichem Urteil waren von ihnen der Behandlung oder
Erziehung in einem Krüppelheim bedürftig 42 249
davon befanden sich im vorschulpflichtigen Alter 9045
im schulpflichtigen Alter 33 204
Es haben selbst Aufnahme in ein Heim gewünscht 9 388
davon hefanden sich im vorschulpflichtigen Alter 2375
im schulpflichtigen Alter 7 031
Die Zahl der Betten in den deutschen Krüppelheimen (ohne
Bayern, Baden, Hessen) betrug aber (1908) nur 3 125
Es wurden ferner gezählt:
in Bayern von 6 bis unter 14 Jahren = 9673 Krüppelkinder,
in Baden „ 6 „ „ 14 » = 2756
in Hessen „ 6 „ „ 14 » = 1436
Somit betrug im ganzen Deutschen Reiche die Gesamtzahl
der Krüppel 98 263.
Nach ärztlichem Urteil davon heimbedürftig 56320
nicht heimbedürftig 41 943
Bei einem Reichsdurchschnitt von 14,8 Krüppeln auf 10000 Ein-
wohner sinkt diese Zahl im Regierungsbezirk Cassel auf nur 8,8, steigt
dagegen in Reuß ä. L. auf 27,8. Das Königreich Sachsen zählt 21,9,
so daß Biesalski zugleich aus den anderen Zahlen wohl mit Recht
folgert, daß die hochgespannte industrielle Tätigkeit die Höhe der
Krüppelkinderzahl wesentlich steigert.
Vergleicht man nach den Zählkarten die Krankheiten, welche zu
den Verkrüppelungen führen, so sind die häufigsten Krüppelleiden,
welche mebr als die Hälfte ausmachen:
Lähmung mit 16,4 Proz.
Knochen- und Gelenktuberkulose mit 15,0 „
Rückgratsverkrümmung mit 122 »
Englische Krankheit mit 95 »
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 563
Von den 75183 Krüppelkindern im Deutschen Reiche (ohne Bayern,
Baden, Hessen) sind gezählt:
als geistig gesund 68 198
als schwachsinnig, blödsinnig, stumpfsinnig 6481
als geneigt zu Böswilligkeit und Verbrechen 504
Außerordentlich bedeutsam ist die praktische Lehre, die Biesalski
aus den Resultaten der Tabellen zieht,
Von den 42249 heimbedürftigen Krüppeln haben Aufnahme in ein
Heim gewünscht 9388; doch stehen nur 3125 Betten zur Verfügung.
Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschland rund gerechnet
1500 Krüppel. Davon sind 800 heimbedürftig. Fordert man diese auf,
sich in ein Krüppelheim zu begeben, so kommt erfahrungsgemäß un-
gefähr der dritte Teil. Das würden gegen 300 sein. Es würde also,
was die tatsächliche Heimfrage anlangt, ausreichen, wenn für jede
Million der Bevölkerung ein Krüppelheim vorhanden wäre, mit zunächst
200 Betten. Das wären für Deutschland 60 Heme mit 12000 Betten.
Diese Forderung ist keine imaginäre. Zurzeit gibt es 39 Heime.
Weitere 8 sind in Vorbereitung, nämlich in Hamburg, Wiesbaden,
Halle, Leipzig, Nürnberg, Würzburg, Posen und Namslau. Das würden
schon 47 sein. Wenn das seit zwei Jahren einsetzende Tempo nur
noch wenige Jahre anhält, so ist die Zahl von 60 Heimen in abseh-
barer Zeit erreicht.
Es würde den Rahmen eines Referates überschreiten, auf weitere
Einzelheiten dieses groß angelegten nnd durchgeführten Werkes von
Biesalski einzugehen. Neben dem Angedeuteten bringt das Buch als
weitere Ergebnisse: die Heilaussichten, die Fälle der Prophylaxe, die
Komplikationen, Armenlasten, Unterhalt, die Bedeutung des vorschul-
pflichtigen Alters usw.; außerdem in zwei weiteren Kapiteln die Grund-
züge der praktischen Krüppelfürsorge, eine Uebersicht der bestehenden
Krüppelheime und ihre zweckmäßige Einrichtung und Ausgestaltung und
zam Schluß ein ausführliches Literaturverzeichnis.
Biesalski hat sich durch dieses Werk einen bleibenden Denkstein
in der Krüppelfürsorge gesetzt.
Balle a. S. H. Gocht.
Ergebnisse der Säuglingsfürsorge. Herausgeg. von Arthur Keller. 5. Heft.
Neumann, H. (Profi Aus der Berliner Säuglingsfürsorge. Nebst einem Anhang: Die
ärztliche Schweigepflicht bei Syphilis, von (Rechtsanwalt) Thiersch. Wien, Franz Deu-
ticke, 1910. Lex.-8. V—100 SS. M. 3,50.
Geyer, Karl (Domvik.) Die öffentliche Armenpflege im kaiserlichen Hochstift
Bamberg mit besonderer Berücksichtigung der Stadt Bamberg. Nach archivalischen
Quellen bearbeitet. Bamberg, Schmidt, 1909. Lex.-8. 227—XVI SS. M. 2,50.
Helenius-Seppälae, Matti, Ueber das Alkoholverbot in den Vereinigten
Staaten von Nord-Amerika. Ergebnisse einer mit Staatsunterstützung ausgeführten For-
schungsreise. Jena, Gustay Fischer, 1910. gr. 8. V—131 SS. M. 2,50.
Hüppy, Joh., Geschichte des schweizer. Gewerkschaftsbundes. Zürich, Schweize-
rischer Grütliverein, 1910. 8. VIII—198 SS. M. 2.—.
Jacobssohn, Alfred, Der Kampf gegen die Wohlfahrtseinrichtungen in Groß-
betrieben. Kritische Bemerkungen zu der Schrift von Dr. Adolf Günther über „Wohl-
fahrtseinrichtungen und Betriebseinrichtungen“. Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1910. gr. 8.
v—60 SS. M. 2.—.
Kraft, A. (Schularzt), Ferienheime. Bericht über eine Studienreise an den Vor-
36*
564 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
stand des Schulwesens der Stadt Zürich. Zürich, Orell Füssli, 1910. gr. 8. 73 8S.
M. 2.—. (Schweizer-Zeitfragen. Heft 38.)
Posadowsky, Graf, Die Wohnungsfrage als Kulturproblem. Vortrag. München,
Ernst Reinhardt, 1910. 8. 32 SS. M. 0,50.
Stiefkinder der Sozialpolitik. Bilder aus dem Berufsleben der Krankenpflege-
rinnen. München, Ernst Reinhardt, 1910. 8. 39 SS. M. 0,50.
Avenel, Georges d’, Découvertes d'histoire sociale, 1200—1910. Paris, Ernest
Flammarion, 1910. 18. fr. 3,50. (Bibliothèque de philosophie scientifique.)
Durieu, André, La petite propriété rurale accessible aux ouvriers. Thèse.
Poitiers, Société française d’imprimerie et de librairie, 1909. 8. VIII—178 pag.
Franck, Charles, Les Bourses du travail et la Confédération générale du travail.
Thèse. Paris, V. Giard & E. Brière, 1910. 8. 523 pag. fr. 10.—.
Gide, Charles, Les sociétés coopératives de consommation. 2° édition, refondue
et augmentée. Paris, Armand Colin, 1910. 16. XII—293 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque
du Musée social.)
Lallemand, Léon, Histoire de la charité. Tome IV. Les temps modernes (du
XVI’ au XIX” siècle). Partie 1. Paris, Alphonse Picard & fils, 1910. 8. IX—624
pag. fr. 7,50.
La Tour du Pin La Charce, Marquis de, Aphorismes de politique sociale.
Paris, Nouvelle Librairie nationale, 1909. 16. 104 pag. (Études sociales et politiques.)
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Traversa, Gaetano, Socialismo magistrale. Caltagirone, tip. G. Scuto, 1909.
16. 42 pp.
10. Gesetzgebung.
Collection des économistes et des réformateurs
sociaux de la France. Bd. 1—3. Herausgegeben von A. Dubois
(Professor für Nationalökonomie und Geschichte der volkswirtschaft-
lichen Ideen an der Rechtsfakultät der Universität Poitiers). Paris 1910.
Auch in Frankreich beginnt jetzt eine „Sammlung sozialwissen-
schaftlicher Meister“, die, nach Mitteilung des Verlegers Paul
Guenther in Paris, ungefähr 50 Bände enthalten soll und von der
zunächst drei physiokratische Schriften veröffentlicht werden. In
der Mitte des 19. Jahrhunderts war freilich bereits eine „Collection des
principaux économistes“ erschienen; sie ist jedoch, soviel mir gesagt
wurde, vergriffen. In den neunziger Jahren hat dann der Verleger
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslands. 565
Guillaumin eine petite bibliothèque économique française et étrangère
herausgegeben, die aber mehr populäre Zwecke verfolgt. Deshalb bietet
z. B. der in dieser Sammlung von Charles Gide herausgegebene Band
Fourier auch nur eine, übrigens sehr gute, Auswahl nebst einer recht
ausführlichen Einleitung von Gide selbst. Das neue Unternehmen soll
wissenschaftlichen, zunächst Unterrichtszwecken dienen, und deshalb ist
mit Recht an dem von Waentig in seiner Sammlung aufgestellten
Prinzip: keine Auswahl, sondern vollständige Darbietung genauer Texte
festgehalten. Ein weiterer Unterschied von der Guillauminschen Samm-
lung ist, daß nur Franzosen und zwar die „sozialen Reformatoren Frank-
reichs“ zum Wort kommen sollen. Genaue Textwiedergabe, auch mit
Facsimilenachbildung des Originaltitels und Angabe der Seitenziffern
der Originalausgabe, ist vor allem erstrebt. Die Einleitungen sollen
mehr in das Werk — weniger in das Leben des Autors einführen
und nicht durch ein zu ausführliches Resumé unwillkürlich den Leser
von der Lektüre selbst abhalten. Damit diese recht wertvoll wird, ist
von dem Herausgeber jedem Band ein Sachregister beigegeben, was
gleichfalls durchaus anzuerkennen ist.
Der Anschauung entsprechend, daß mit der Physiokratie die wissen-
schaftliche Nationalökonomie beginne — mit welcher nicht haltbaren An-
sicht ich mich hier nicht auseiandersetzen will — wird die Sammlung
eröffnet durch den Neudruck folgender drei Schriften: Dupont de
Nemours: „de l’origine et des progrès d'une science nouvelle“ (1768);
Nicolas Baudeau: „premiere introduction à la philosophie économique
ou analyse des états polic&s“ (1771 und nicht 1767, wie der Titel fälsch-
lich vermuten läßt); le Mercier de la Rivière: „l’ordre naturel et
essentiel des sociétés politiques“ (1767). Mit dem Herausgeber, Professor
A. Dubois, den wir zu seinem Unternehmen beglückwünschen, kann
man die Bedeutung dieser drei Werke — von denen übrigens in
Deutschland nur der ordre naturel näher bekannt ist — dahin charak-
terisieren, daß Dupont de Nemours einen elementaren Leitfaden zur Ein-
führung in das physiokratische System (größtenteils mit einer Analyse
der Riviöreschen Gedankengänge) gibt, daß dagegen Baudeaus Schrift
einen „cours moyen de Physiocratie“ für Vorgerücktere bietet, und
daß der ordre naturel „eine Art physiokratisches Lehrbuch für Fort-
geschrittene“ ist. Wenn die Aufeinanderfolge der Herausgabe demnach
didaktisch beabsichtigt zu sein scheint, so ist demgegenüber doch zu
fragen, ob nicht — gerade aus methodologischen Erwägungen — am
besten eine Einführung in die physiokratische Gedankenwelt von vorn-
herein durch ein fundamentales Werk, etwa von Quesnay oder
Turgot selbst, gegeben worden wäre. Jedenfalls müßten des letzteren
Reflexions oder die Maximes generales des Hauptes der Schule bald
nachfolgen! Ich meine, erst sollte man gerade dem jüngeren National-
ökonomen diese Großen, erst dann deren Interpreten zur Lektüre em-
pfehlen. Damit will ich natürlich nicht den drei Männern, deren
Hauptwerke uns hier zunächst geboten sind, selbständige Leistungen
überhaupt absprechen — auch Baudeau nicht, dem Gründer des
publizistischen Organs der Physiokraten, der „Ephémérides du citoyen“,
der erst später sich zu den Ansichten der Schule bekehrt hat. Da
566 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
über diesen Schüler des Marquis de Mirabeau — wie er sich selbst
anonym bezeichnete — übrigens auch in der Neuauflage unseres „Hand-
wörterbuchs der Staatswissenschaften“ nichts zu finden ist, ist die
kritische Bibliographie, die Dubois gleichzeitig mit einigen Notizen über
das Leben gewissenhaft beigegeben hat, sehr dankenswert. — Die
Neuherausgabe der ordre naturel ist von dem Professor an der Rechts-
fakultät in Lille, Edgard Depitre, besorgt worden; dieser hat seine
Einleitung ausführlicher gestaltet als der Herausgeber der ganzen
Sammlung, der den Text der beiden anderen Werke selbst revidierte.
Als Erscheinungsjahr der „Physiocratie ou constitution naturelle du
gouvernement le plus avantageux au genre humain“ wird dabei irrtüm-
lich lediglich 1767 angegeben. Recht wertvoll sind hier die literarischen
Hinweise in den Anmerkungen zur Einleitung Depitres.
Halle a. S. H. Gehrig.
Annuaire de la législation du travail. Publié par l’office
du travail de Belgique. Bruxelles 1909. — Annuaire de legis-
lation française. Publié par la société de législation com-
parée. Paris 1909.
Bereits im zwölften Jahrgang erscheint das Jahrbuch über die
sozialpolitische Gesetzgebung der Hauptkulturländer, welches das Arbeits-
amt des belgischen Ministeriums für Industrie und Arbeit in immer
sorgfältiger Zusammenstellung alljährlich bietet. Es ist auch durch das
„Bulletin des Internationalen Arbeitsamtes“ keineswegs überflüssig ge-
worden und wurde in gewisser Weise durch eine andere, gleichfalls amt-
liche Publikation wenigstens kurze Zeit!), ergänzt: durch eine sehr
genaue Uebersicht des deutschen Kaiserlichen Statistischen Amtes
über „die wichtigsten sozialpolitischen Gesetze, Entwürfe und Ver-
ordnungen im Deutschen Reiche und im Auslande im Jahre... .“,
welche ebenso wie eine zweite, sehr dankenswerte Zusammenstellung
über „die wichtigsten sozialpolitischen Veröffentlichungen der
arbeitsstatistischen Aemter des In- und Auslandes und sonstiger amt-
licher und halbamtlicher Stellen“ als Sonderbeilage zum „Reichs-Arbeits-
blatt“ zuerst für 1907 erschien D. Während aber die deutsche Veröffent-
lichung eine Aufzählung der Gesetzgebung und Verwaltungsakte —
leider ohne genaue Angabe der Quellen, wo der offizielle Text zu finden
ist — gab und eine möglichste Vollständigkeit der Zusammenstellung
erstrebte, bietet das belgische Jahrbuch den Text der hauptsächlichen
1) Während der Korrektur lese ich zu meinem Bedauern im Januarheft des
Reichsarbeitsblattes (8. Jahrgang, No. 1, S. 63), daß das deutsche Kaiserliche
Statistische Amt diese Veröffentlichungen wieder eingestellt hat! Als Begründung dafür
wird mitgeteilt, daß die Zeitschriften zweier vom Reich unterstützter Anstalten ihre
Publikationen in dieser Richtung erweitert hätten. Erstens ist dagegen zu bemerken:
gerade die vom Statistischen Amt angewendete Art der Darstellung ist in jenen Publi-
kationen nicht angewendet worden. Zweitens erscheint eine Verweisung auf eine so
teuere Zeitschrift (von einem jährlichen Abonnementspreis von 24 M.!) nicht angebracht
für Lesergruppen, für welche hauptsächlich das Reichsarbeitsblatt bestimmt ist: die
Arbeitnehmer selbst und deren Organisationen. Wenn Belgien Tausende von Mark für
eine regelmäßige Veröffentlichung großen Stils wie die oben erwähnte alljährlich aus-
gibt, so dürften auch bei uns genügend Mittel vorhanden sein für zwei „Beilagen“ von
— zusammen zwei bis höchstens drei Bogen! H. G.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 567
Gesetze und Verordnungen selbst, meistens in französischer Sprache;
für Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Großbritannien nebst Kolonien
und die Vereinigten Staaten von Amerika wird außerdem der Original-
wortlaut gegenübergestellt. Dabei kann naturgemäß — schon mit Rück-
sicht auf den Umfang und die recht erheblichen Kosten — nur eine
Auswahl aller ergangenen Bestimmungen geboten werden; doch dürfte
für 1908 — welches Jahr der vorliegende Band umfaßt — kein be-
deutender Gesetzgebungs- oder Verwaltungsakt der genannten Länder,
sowie von Dänemark, Spanien, Massachusetts, New York, Italien, Luxem-
burg, Norwegen, Holland, Rußland, Schweden, Schweiz und verschiedenen
Kantonen übergangen sein. Auf diese Weise — und darin liegt der
hohe Wert besonders für eine Erkenntnis der Entwicklung der amt-
lichen Sozialpolitik — wird ein Vergleich der Fortschritte der Arbeiter-
fürsorge und der Sozialpolitik überhaupt, wenn man will auch: des
„Staatssozialismus“ in der gesamten europäischen Kulturwelt möglich.
Ja man könnte schon aus dem Textumfang in gewisser Hinsicht Schlüsse
ziehen, ob das betreffende Jahr als ein solches sozialpolitischen Still-
standes oder der Sammlung — etwa für Deutschland — oder als ein
solches des Fortschrittes (z. B. für England) zu bezeichnen ist. Es
hat doch einen materiellen Grund, wenn von den 917 Textseiten nicht
weniger als über 550 auf Großbritannien mit seinen Kolonien entfallen.
Darunter sind beispielsweise dann das old age pensions-Gesetz vom
1. August 1908 und die neuseeländischen Gesetze bezw. Novellen über
das Einigungs- und Schiedsverfahren vom 4. August und 10. Oktober
1908. (Recht gute, wenn auch nicht vollständige deutsche Ueber-
setzungen dieser interessanten Versuche gibt übrigens Dr. Warnack
in seiner Bearbeitung des Siegfriedschen Werkes „New Seeland“, Berlin
1909.) Doch kann auf den Inhalt hier nicht eingegangen werden.
Beabsichtigt war nur ein Hinweis auf den Wert der Sammlung, der
wohl noch erhöht werden könnte, wenn durchweg auch die Quelle,
wo die offizielle Originalfassung zu finden ist, angegeben und das bei-
gegebene Sachregister noch ausführlicher gestaltet wird. Der niedrige
Preis (6 fres.) wäre ohne einen erheblichen Zuschuß des Belgischen
Staates wohl kaum möglich.
Im Gegensatz zur vorgenannten amtlichen Sammlung ist das —
jetzt bereits im 28. Jahrgang vorliegende — Jahrbuch der französi-
schen Gesetzgebung das Werk der Mitglieder einer wissenschaftlichen
Gesellschaft und nicht auf die soziale oder auch überhaupt wirtschaft-
liche Gesetzgebung beschränkt: es wird hier der Text aller wichtigen
Gesetze und Verwaltungsvorschriften geboten, die für Frankreich oder
seine Kolonien im Laufe eines Jahres erlassen sind. Ist schon die
Absicht zu loben und besonders in dieser Präzision und Billigkeit
(in den letzten Jahren je ein Textband von 250—300 Seiten zu 5 fres.)
gerade in Deutschland nachahmenswert, so auch die Methode: Als Ein-
leitung wird gegeben eine allgemeine Uebersicht über die tatsächlich
zustande gekommenen Gesetze, Verordnungen, Verfügungen der inneren
Gesetzgebung und die wichtigsten internationalen Verträge, aber auch
über die nicht verabschiedeten für die Entwicklungstendenzen be-
deutsamen Entwürfe, parlamentarischen Vorbereitungsarbeiten auf allen
568 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Gebieten des Verfassungsrechtes, der Kultur- und Wohlfahrtspflege,
der militärischen, der kolonialen Gesetzgebung usw. Dabei wird auch
eine fir den Ausländer besonders wertvolle ziffernmälige Uebersicht
über den französischen Etat geboten. Sodann geht jeder Textwieder-
gabe (die chronologisch geordnet ist) eine oft anregende Notiz über die
parlamentarische Geschichte, Absicht, juristische und meistens auch
wirtschaftliche Bedeutung des Gesetzes oder des Verwaltungsaktes
voraus. Hier sind die offiziellen Quellen, auch das parlamentarische
Urmaterial angegeben. Nur für Ausführungsverordnungen halte ich an
verschiedenen Stellen ausführlichere Hinweise auf die einzelnen amt-
lichen Verordnungsblätter (z. B. des Bulletin de l’Office du Travail)
für wünschenswert. Alles in allem: ein auf Arbeitsgemeinschaft von
Spezialisten beruhendes wertvolles, weil zuverlässiges Quellenwerk zur
Beurteilung der Entwicklung des französischen öffentlichen Lebens,
seiner inneren und kolonialen Politik (in des Wortes weitester Be-
deutung), das dem Ausländer eine Beurteilung sehr erleichtert und —
das für Deutschland in dieser Weise leider nicht besteht.
Halle a. S. H. Gehrig.
Bekker, Ernst Immanuel, Grundbegriffe des Rechts und Mißgriffe der Gesetz-
gebung. Berlin-Wilmersdorf, Walther Rothschild, 1910. gr. 8. XI—336 SS. M. 8.—.
Birkmeyer, Karl, Beiträge zur Kritik des Vorentwurfs zu einem deutschen
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Heim, Richard, Die Rechtsstellung des Emissionshauses bei der Einführung
von Aktien in den Verkehr. Marburg, N. G. Elwert, 1909. gr. 8. VIII—90 SS.
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Korn, Alfred (Rechtsanwalt), Wechselordnung nebst Wechselprozeß und Wechsel-
stempelgesetz sowie Ausführungsordnungen, erläutert. 2. Abdruck. Berlin, Franz Vahlen,
1910. 8. VIII—219 SS. M. 4.—.
Neukamp, Ernst (Reichsger.-R.), Die Novelle zur Gewerbeordnung vom 28. De-
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C. L. Hirschfeld, 1910. gr. 8. 32 SS. M. 0,50.
Senst, J. (Ob.-Landesger.-R.), Die Verwaltung von Konkursen nach der Reiehs-
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M. 6.—.
Stier-Somlo, Fritz (Prof.), Die neueste Entwicklung des deutschen Gewerbe-
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Brugeilles, Raoul, Le droit et la sociologie. Paris, Félix Alcan, 1910. 8.
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Freund, G. S. (Geh. Reg.-R.), Der Schutz der Gläubiger gegenüber auswärtigen
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1910. gr. 8. 55 SS. M. 1,50.
Gemeindebetriebe. Neuere Versuche und Erfahrungen über die Ausdehnung
der kommunalen Tätigkeit in Deutschland und im Ausland. Im Auftrag des Vereins
für Socialpolitik herausgeg. von Carl Johannes Fuchs. II. Bd. VIII. Teil. Die Ge-
meindebetriebe der Stadt Halle a. S. Mit Beiträgen von Georg Goldstein, (Gewerbe-
referendar) Hugo Wasmuht und (Gerichts-Referendar) Paul Ochse. — II. Bd. IX. Teil.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande. 569
Die Gemeindebetriebe der Stadt Königsberg i. Pr. Von (Direktor) Georg Neuhaus, —
U. Bd. X. Teil. Die Gemeindebetriebe in den Städten, Kreisen und Landgemeinden
des oberschlesischen Industriebezirks. Von Heinrich Lücker. — III. Bd. IV. Teil. Ge-
meindebetriebe in Frankreich und England. Von H. Berthelemy und Douglas Knoop.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. VII—66, VIII—142, VII—82, V—78 SS.
M. 2,20. M. 3,40. M. 2.—. M. 1,30. (Schriften des Vereins für Socialpolitik. Bd. 129.
Teil VIII. IX. X. Bd. 130. Teil IV.)
Kunze, R. (Prof.), Die Entwickelungsgeschichte des staatlichen Pensionswesens in
Sachsen. Ein Gedenkblatt zum 7. März 1910 nebst einem Ausblick auf die Zukunft.
Dresden, C. A. Koch, 1910. 8. 44 SS. M. 0,75.
Petersen, Richard, Zeichnerische Darstellung von Ertragsberechnungen für
wirtschaftliche Unternehmungen der Städte (Stadıbahnen, Straßenbahnen, Elektrizitäts-,
Gas-, Wasser-Werke usw.). Berlin, Wilhelm Ernst & Sohn, 1909. Lex.-8. 47 88.
M. 3.—. (Städtebauliche Vorträge. Vortragszyklus II. Bd. II. Heft 8.)
Quensel, Heinrich (Reg.-R.), Grundzüge des städtischen Etatwesens nach In-
halt, System und Technik bearbeitet. Berlin, Franz Vahlen, 1910. Lex.-8. VII—104 SS.
M. 5.—.
Des Cilleuls, Afred, L’administration parisienne sons la troisième République.
Paris, Picard fils et C", 1910. 8. 571 pag.
Lebé, Daniel, Assistance des vieillards, des infirmes et incurables privés de
ressources (loi du 14 juillet 1905). Thèse. Bordeaux, impr. Y. Cadoret, 1909. 8.
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Brand, R. H., The union of South Africa. New York, Oxford University Press
(American Branch), 1909. 8. 192 pp. $ 2.—.
Chance, Sir William, Poor law reform. Via tertia. The case for the guardians.
London, P. S. King, 1910. Cr. 8. 95 pp. 1/.6.
Morgan, J. H., The House of Lords and the Constitution. London, Methuen,
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1910. Cr. 8. 272 pp. 1/.—.
Webb, Sidney and Beatrice, English poor law poliey. London, Longmans,
Green, and Co., 1910. 8. 396 pp. 7/.6.
D’Amelio, Salvatore (avv.), La beneficenza nel diritto italiano. Vol. I. Napoli,
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Rossi, Giovanni, I nuovi principi regolatori del bilancio finanziario italiano:
lettura fatta il 29 novembre 1909 alla r. accademia dei ragionieri di Bologna. Macerata,
tip. fratelli Mancini, 1910. 8. 37 pp.
12. Statistik.
Allgemeines.
Kirchhoff, Robert, Ueber das Verhältnis der Geschlechter in
Indien. Bearbeitet nach amtlichem Material. Heft 4 der Statistischen
und Nationalökonomischen Abhandlungen, herausgeg. von G. v. Mayr.
München 1909.
Der letzte indische Zensus vom 1. März 1901 hat eine Einwohner-
zahl von 294 Millionen ermittelt, 1/, der vermuteten Erdbevölkerung.
Das Defizit an Frauen beträgt 51/, Millionen. Auf 1000 Männer kamen
1901 963 Frauen, gegen 958 und 954 bei der Zählung von 1891 und
1881. Der Verfasser untersucht auf Grund der umfangreichen Zäh-
lungsberichte, inwieweit dies Weiberdefizit auf tatsächliche Ursachen
zurückgeführt werden könne, und inwieweit nur Auslassungen daran
schuld seien. Unvollständigkeiten der Zählung sind jedenfalls von
großem Gewicht. Die Verschweigung der Frauen scheint vielfach ab-
sichtlich aus religiösen und sozialen Gründen zu geschehen; nament-
lich das bei den Muhamedanern übliche System der strengen Ab-
570 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
schließung der Frauen soll von Bedeutung sein. Unter den Ursachen
eines wırklichen Weiberdefizits spielt die Sterblichkeit der Frauen keine
Rolle, denn sie ist im allgemeinen niedriger als die der Männer;
Steigerungen in der gebärfähigen Altersgruppe sind zum Teil nur schein-
bar, veranlaßt durch die hier besonders zahlreichen Lücken im Lebend-
bestand der Frauen. Wie der Verfasser unter diesen Umständen dem
indischen Heiratssystem (Allgemeinheit und Frühzeitigkeit der Ehen,
Verbot der Witwenheirat), dem mangelhaften Medizinal- und Hebammen-
wesen und der beruflichen Ueberbürdung des weiblichen Geschlechts
eine wesentliche Bedeutung für diese Frage beimessen kann, ist nicht
recht klar. Die Wanderungen können nur für die Städte und einige
Distrikte als einiges erklärend gelten.
Der Verfasser schildert die in Betracht kommenden Einrichtungen
und Gebräuche anschaulich und sucht den statistischen Fragen durch
sorgfältige Verwertung geeigneten Materials auf den Grund zu kommen.
Karl Seutemann.
Julin, Armand, Précis du cours de statistique générale et appliquée. Zon
édition, avec une préface par A. de Foville. Bruxelles, Misch et Thron, 1910. 8.
XII—242 pag. fr. 4.—.
Deutsches Reich.
Borght, R. van der, Beruf, gesellschaftliche Gliederung und Betrieb im Deutschen
Reiche. Vortrag. Mit 9 Zahlentaf. u. 8 Zeichnungen. Leipzig, B. G. Teubner, 1910.
gr. 8. 138 SS. M. 2,80. (In: Vorträge der Gehe-Stiftung. Bd. II.)
Stätistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiserlichen Statistischen Amte,
208. Bd. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Berufsstatistik. Abt. VII.
Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern. Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1910.
Imp.-4. VII—5—623 8S. M. 6.—. — 209. Bd. Dasselbe. Abt. VIII. Kleinere Ver-
waltungsbezirke. Ebenda 1910. Imp.-4. V—10—801 SS. M. 6.—.
Viehstand, Der, nach der Stückzahl der Tiere auf Grund der außerordentlichen
Zäblung vom 1. Dezember 1908. Herausgeg. vom Königlich Preußischen Statistischen
Landesamt. Berlin, Königliches Statistisches Landesamt, 1910. Imp.-4. 67 SS. M.2.—.
(Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungsheft XXXI.)
Weber, Christoph Leopold, Die Anfänge der Statistik in der ehemaligen
Grafschaft Mark bis zum Jahre 1609. Witten, Märkische Druckerei, 1910. 8. 107 88.
M. 1,50.
England.
Blagg, Helen M., Statistical analysis of infant mortality and its causes in the
United Kingdom. London, P. S. King, 1910. Cr. 8. 42 pp. 1/.—.
New South Wales Statistical Register for 1907 and previous years.
Compiled from Official Returns by John B. Trivett. Sydney, W. A. Gallick, 1910.
folio. XV—917 pp.
Year Book, Official, of the Commonwealth of Australia. Published under the
authority of the Minister of Home Affairs, by G. H. Knibbs. No. 1. Containing
authoritative statistics for the period 1901—1907. No. 2. Containing authoritative
statistics for the period 1901—1908. (Commonwealth Bureau of Census and Statistics,
Melbourne.) Melbourne, Me Carron, Bird & Co., Printers, 1908. 1909. 8. XX—931,
XXIII—1159 pp. à 3/.6.
Oesterreich.
Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Königreichs Böhmen. Deutsche
Ausg. XIV. Bd. 2. Heft. Anbau- und Erntestatistik sowie Statistik der wichtigsten
Zweige der landwirtschaftlichen Industrie im Königreich Böhmen für die Betriebsperiode
1908/1909. 2. Teil: Haupttabellen. Prag, J. G. Calve, 1910. Lex.-8. 70 SS. M. 1,80.
BE
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 571
Holland.
Bijdragen tot de Statistiek van Nederland. Nieuwe volgreeks. Uitgegeven door
het Centraal Bureau voor de Statistiek. CXXVII. Overzicht betreffende de loonen en
den arbeidsduur bij Rijkswerken in 1908. ’s-Gravenhage, Gebr. Belinfante, 1910. 4.
XXVILI—70 blz. fl. 0,75. — CXXIX. Statistiek van het armwezen over het jaar 1907.
Ebenda 1909. 4. XVI—20 blz. fl. 0,25.
Schweiz.
Alpstatistik, Schweizerische. 18. Lieferung. Strüby, A. (Prof.), Die Alp-
wirtschaft im Kanton Graubünden. Herausgeg. vom schweizer. alpwirtschaftlichen Verein.
Solothurn, A. Lüthy, 1909. gr. 8. 383 SS. M. 5.—.
Mitteilungen des bernischen statistischen Bureaus. Jahrg. 1909, Lieferung 2:
Statistik der Gemeindesteuern im Kanton Bern pro 1908. Bern, A. Francke, 1910.
gr.8. III-71 SS. M. 1,20.
Belgien.
Denis, Hector (prof.), Atlas de statistique économique, financière et sociale de
la Belgique comparée aux autres pays. Bruxelles, chez l’auteur, 1908. 18 pl. in fol.
et 44 pag. in 8.
13. Verschiedenes.
Julin, Armand, Directeur à l’Office du Travail, Précis du cours
de Statistique generale et appliquée. 2e édition avec un préface par
M. A. de Foville. Brüssel, Paris 1910.
Vorliegender Grundriß verdankt seine Entstehungsgeschichte den
Vorträgen, welche der bekannte belgische Statistiker A. Julin im Institut
supérieur de Commerce zu Antwerpen über theoretische und praktische
Statistik hält. Diese Vorträge, durch die er die Studierenden, die später
vielfach in führende Stellungen von Industrie und Handel einrücken,
mit dem Wesen, Bedeutung und den einzelnen Zweigen der Statistik
bekannt macht, sind in gegenwärtiger Schrift sehr übersichtlich zu-
sammengefaßt. Der allgemeine Teil behandelt Begriffliches, sowie die
Technik von der Statistik. Der spezielle Teil erstreckt sich auf die
Produktionsstatistik, unter welcher die Gewerbe- und die Landwirt-
schaftsstatistik subsumiert sind, sowie auf die Handelsstatistik mit den
Unterabteilungen der Außenhandels-, Verkehrs- und Preisstatistik. Ver-
mißt wird das Gebiet der Bevölkerungsstatistik, andererseits das Ge-
biet der kulturellen und politischen Statistik; vermutlich fehlen sie mit
Rücksicht auf den eingangs erwähnten näheren Zweck des Buchs. In
allen seinen Ausführungen versteht Julin, das wirklich Wesentliche aus
der Fülle des in Betracht kommenden, von ihm meisterhaft beherrschten
Stoffs herauszuheben sowie knapp und anschaulich vorzuführen. Dem
trefflichen Schriftchen hat A. de Foville als Vorwort einen geistvollen
Exkurs über die praktische Bedeutung der Statistik beigegeben, der
dem Werk eine weitere Anziehungskraft verleiht.
München. Friedrich Zahn.
Estournelles de Constant, Baron d’, Frankreich und Deutschland. I. Die
französisch-deutsche Annäherung als Bedingung des Weltfriedens. Nebst einem Vorwort
von (Prof.) Philipp Zorn. Berlin, Georg Stilke, 1910. gr. 8. 74 SS. M. 1,50.
Franze, Paul C., Höherzüchtung des Menschen auf biologischer Grundlage.
Vortrag. Leipzig, Edmund Demme, 1910. gr. 8. 80 SS. M. 1,80.
Gasters (Kreisarzt), Volksgesundheit und Industrie. München, R. Oldenbourg,
1910. 8. 27 SS. M. 0,30. (Veröffentlichungen des Vereins für Volks-Hygiene. Heft 18.)
572 Die periodische Presse des Auslandes.
Giss, Aug. J., Die menschliche Geistestätigkeit in der Weltentwicklung. Eine
kritisch-philosophische Betrachtung des menschlichen Geistes; mit Anwendung der Prin-
zipien auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Bd. 1. Leipzig, A. Deichert
Nachf., 1910. gr. 8. XVII—278 Ss. M. 5.—.
Peez, Alexander v., England und der Kontinent. II. Berlin, Borussia, 1910.
gr. 8. 32 SS. M. 1.—.
Ribbert, Hugo (Geh. Med.-R.), Rassenhygiene. Eine gemeinverständliche Dar-
stellung. Bonn, Friedrich Cohen, 1910. 8. 65 SS. M. 0,80.
Schemann, Ludwig, Gobineaus Rassenwerk. Aktenstücke und Betrachtungen
zur Geschichte und Kritik des Essai sur inégalité des races humaines. Stuttgart
Fr. Frommann, 1910. gr. 8 XLI—544 SS. M. 10,50.
Bryce, Alexander, The laws of life and health. London, A. Melrose, 1910.
8 442 pp. 7/.6.
Health, Public. Second edition, revised by W. Robertson. London, Livingstone,
1910. Cr. 8. 4/.6.
Hutchinson, Woods, Preventable disease. London, Constable, 1910. 8.
450 pp. 6/.—.
Whetham, W. C. D., Eugenics and unemployment. A lecture. London, Mac-
millan and Co., 1910. 8. 1/.—.
Die periodische Presse des Auslandes.
A. Frankreich.
Bulletin de statistique et de législation comparée. 34° année, janvier 1910:
France: Les Ministres des finances depuis 1814. — L’exploitation du monopole des
allumettes en 1908. — L’exploitation du monopole des tabacs en 1908. — La Caisse
nationale d’&pargne en 1908. — Allemagne: Le timbre des effets de commerce. —
Japon: La dette publique. — ete.
Journal des Fconomistes. 69° année, février 1910: Du rôle politique des &cono-
mistes, par Yves Guyot. — Le monopole des assurances par PEtat, par Georges de
Nouvion. — L’&volution du régime financier en Australie, par Biard d’Aunet. — La
condition des ouvriers de l’industrie en Espagne, par Angel Marvaud. — L’&tat actuel
de la question des retraites ouvrières en France, par Maurice Bellom. — etc.
Journal de la Société de Statistique de Paris. 51° année, N° 3, mars 1910:
La statistique de l’agrieulture en Suède, par E. Levasseur. (Suite et fin.) — La petite
commune française, par Paul Meuriot. — ete.
Réforme Sociale, La. 30° année, N° 99, 1% février 1910: La „Barricade“, par
Henry Joly. — Les syndicats agricoles ct la vie locale, par Jules Mihura. — Les nou-
velles cités-jardins en Angleterre dernier article), par Georges Risler. — La désertion
des campagnes en Allemagne, par Georges Blondel. — ete. — N° 100, 16 février 1910:
Émile Cheysson, par Louis Rivière. — La crise sardinière, par Pérard. — Enquête sur
la désertion des campagnes. Commune de Blainville-Crevon, par Frédérie Lefebvre. —
Le devoir social envers les serviteurs, par Pierre Hans. — ete. — N° 101, 1” mars
1910: L’Étatisme, ses dangers, ses remèdes, par Louis Rivière. — Le régime forestier
et les inondations, par Alfred des Cilleuls. — La crise sardinière (fin), observations de
Ouizille, Lemy, Hémon, Pérard. — ete.
Revue générale d'administration, 32° année, décembre 1909, 33° année, janvier
1910: Le contrôle juridietionnel des règlements d'administration publique, par Henry
Nézard. — La ville et l’État, par Jules d'Auriac. — etc.
Revue d’Économie Politique. 24° Année, N° 2, Février 1910: La réforme des
contributions directes et des impositions locales, par Arthur Girault. — Le machinisme
et le chômage, par G. Olphe-Galliard. — Surproduction générale ou surproduction
généralisée? Par Jean Lescure. — etc.
Revue d'histoire des doctrines économiques et sociales. 2° année, 1909, N° 4:
L’origine des mots „socialisme“ et „socialiste“, par Carl Grünberg. — La naissance du
chartisme (1830—1837), par Édouard Dolléans. — Grand National Holiday and Con-
gress of the productive classes, by William Benbow. — ete.
Die periodische Presse des Auslandes. 573
Revue internationale de Sociologie. 18° Année, N° 1, Janvier 1910: Sur la
prévision en sociologie, par H. Denis. — Les commerçants français au XVII’ siècle et
les grandes ordonnances, par E. Levasseur. — Société de Sociologie de Paris, séance du
8 d&cembre 1909: Les types professionnels: le diplomate. Communication de M. d’Estour-
nelles de Constant. Observations de Mm Montouss&, ete. — ete.
B. England.
Century, The nineteenth, and after. No. 397, March 1910: The constitutional
experiment in India, by Syed Ameer Ali. — Belgium, Britain, and the Congo, by
E. D. Morel. — The possibilities of an income-tax, according to the scheme of Pitt, by
W. H. Mallock. — Alcohol in relation to life, by (Prof.) W. E. Dixon. — The home
workers of London, by Miss Sydney K. Phelps. — etc.
Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXXI, Part III, March, 1910:
More sidelights and reminiscences of banking history, by Maberly Phillips. — ete.
Journal of the Royal Statistical Society. New Series. Vol. LXXIII, Part II,
February, 1910: On the recent considerable increase in the number of reported accidents
in factories, by H. Verney. — The statistics of wages in the United Kingdom during
the nineteenth century. (Part XV.) The cotton industry. Section II, by George Henry
Wood. — Occupations in England and Wales, 1881 and 1901, by T. A. Welton. — etc.
Review, The Contemporary. No. 531, March, 1910: The elections — and
after, by E. T. Cook. — The future of the Ottoman Empire, by Ferdinand L. Leipnik.
— etc.
Review, The Fortnightly. N° 519, March, 1910: England’s Single-Chamber
experiment, by G. M. Godden. — Liberalism and the crisis, by Sydney Brooks. — etc.
Review, The National. No. 325, March 1910: Ireland and the Budget, by T. M.
Healy. — The emerging soul of England, by Sir Franeis Younghusband. — Some new
facts about German commercial tactics, by Watchman. — England and the Empire, by
(Prof.) Caldwell. — etc.
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Handelsmuseum, Das. Herausgeg. von der Direktion des k. k. österr. Handels-
museums. Bd. 25, 1910, Nr. 6: Die Gründungstätigkeit in Oesterreich im Jahre 1909.
— ete. — Nr. 7: Der neue französische Zolltarif, II. — Staatliche Lieferungen, Kon-
zessionen und volkswirtschaftliche Reformen in der Türkei, von Gustav Herlt. — etc.
— Nr. 8: Süd- und Mittelamerika als Absatzgebiete, von Siegmund Schilder. — Der
neue französische Zolltarif, III. — ete. — Nr. 9, 10: Serbische Zolltarifrevision, I. II.
— Oesterreichisch-brasilianische Handelsbeziehungen. — etc.
Mitteilungen des k. k. Finanzministeriums. Redigiert im Präsidialbureau des
k. k. Finanzministeriums. Jahrg. XV, Heft 2, ausgeg. im Dezember 1909: Realsteuer-
statistik für die Jahre 1907 und 1908. — Hauptsächliche Ergebnisse der allgemeinen
Erwerbsteuer in der Veranlagungsperiode 1906/1907. — Statistik über die auf die
direkten Steuern in den Jahren 1905 und 1906 für diese Jahre umgelegten Zuschläge.
— etc,
Monatschrift, Statistische. Neue Folge. Jahrg. XIV, 1909, Beilage: Die
Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Oesterreich während des Jahres 1908.
Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium. — Jahrg. XV,
1910, Jänner-Heft: Die Entwicklung der österreichischen Grundbesitzstatistik, von
Walter Schiff. — Die Ergebnisse der österreichischen Unfallstatistik der fünfjährigen
Beobachtungsperiode 1902—1906 (Schluß), von Karl Mumelter. — etc.
F. Italien.
Giornale degli Economisti. Vol. XXXIX, N. 5—6, Novembre-Dicembre 1909:
Ancora la legge dei piccoli numeri, di Ladislao Bortkiewicz. — Dilucidazioni sulla
teoria dell’ immiserimento, di Roberto Michels. — I principii distributivi delle imposte
moderne sul reddito e sugli acquisti ed incrementi di capitali, di Benvenuto Griziotti.
— I principii della teoria economica della moneta, di Gustavo Del Vecchio. — ete.
Riforma Sociale, La. Anno XVII, fase. 1, Gennaio-Febbraio 1910: Alle frontiere
della scienza economica, di Pasquale Jannaccone. — La vita industriale e finanziaria
italiana dal 1904 al 1908, di Giuseppe Fargion. — La marina mercantile e la politica
protettiva negli Stati Uniti, di Attilio Garino. — ete.
574 Die periodische Presse Deutschlands.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. 59° jaarg., 1910, februari :
Het Engelsche budget voor 1909—10, door G. M. Boissevain. — Artesisch drinkwater
voor onze Nederlandsche steden, II, door R. D. Verbeek. — ete.
H. Schweiz.
Bibliothèque universelle et revue suisse. N° 171, Mars 1910: L’initiative popu-
laire en matière de législation fédérale, par Virgile Rossel. — Les pares nationaux, par
Henry Correvon. — ete.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XVII, 1909,
Heft 19,20: Zur Frage der politischen und religiösen Neutralität der Gewerkschaften in
der Schweiz, von Johann Hüppy. — Das Arbeitsamt der Stadt Bern in seiner zwanzig-
jährigen Tätigkeit (1889—1908), von Rachil Galina. (Schluß.) — Die Geschichte des
türkischen Boykottes der österreichisch-ungarischen Waren in den Jahren 1908 bis 1909,
von Paul Kompert. — etc.
Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 32, Februar 1910: Die
Lage der Fabrikarbeiterinnen in Deutschland, von F. Imle. — Die moderne Industrie-
bevölkerung und ihre Entwicklung im Deutschen Reiche, von F. Norikus. — Die Um-
bildung der landwirtschaftlichen Betriebstechnik im 19. Jahrhundert, von Hans Wahl-
mannstetter. — etc.
L Belgien.
Revue économique internationale. 7° Année, Vol. I, N° 2, Février 1910: Les
conquêtes du froid artificiel, par André Lebon. — La politique en matière de chemins
de fer, par Chevalier Henri de Wittek. — La politique marocaine, par A. Le Chatelier.
— La valorisation du café, par A. Latière. — Le Canal de Suez, par René Puaux. —
La crise et les ententes internationales d’armateurs, par Ach. Grégoire. — ete.
M. Amerika.
Journal, The Quarterly, of Economics. Vol. XXIV, No. 2, February, 1910:
Proposals for strengthening the national banking system, I, by O. M. W. Sprague. —
The struggle over the Lloyd-George budget, by Edward Porritt. — The single tax in
the English budget, by H. J. Davenport. — Yeoman farming in Oxfordshire from the
sixteenth century to the nineteenth, by H. L. Gray. — Insurance of bank deposits in
the West, II, by Thornton Cooke. — Co-operative marketing of California fresh fruit,
by Fred Wilbur Powell. — etc.
Journal, The, of Political Economy. (The University of Chicago Press.) Vol. 18,
No. 2, February 1910: The rationality of economic activity, I, by Wesley C. Mitchell.
— Industry among the French in the Illinois country, by J. Lippincott. — Labor unions
and the anti-trust law: a review of decisions, by C. J. Primm. — etc.
Magazine, The Bankers. 64* Year, February 1910: The United States Treasury,
II, by William Henry Smith. — The progress of Great Britain. — Economic causes of
rising commodity prices, by William Gilman Low. — etc.
Yale Review, The. A quarterly journal for the scientific discussion of economic,
political, and social questions. Vol. XVIII, No. 4, February, 1910: The British budget
of 1909, by George L. Fox. — American budget-making, by Allen Johnson. — The
federal corporation tax and modern accounting practice, by A. M. Sakolski. — The
holding corporation, I, by Maurice H. Robinson. — ete.
Die periodische Presse Deutschlands.
Alkoholfrage, Die. Jahrg. VI, 1909, Heft 4: Die Anti-Alkoholbewegung in
England, von (Prof.) K. A. Martin Hartmann. — Steht Mäßigkeit sittlich höher als
Enthaltsamkeit, von (Pfarrer) Gerhard Burk. — ete.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft. Jahrg. 43, 1910, Nr. 2: Der fideikommissarisch gebundene Grundbesitz in
Die periodische Presse Deutschlands. 575
Bayern, von Schmelzle. — Die militärische Verpflegungswirtschaft im Frieden, I, von
Fritz Roeder. — ete.
Archiv für Eisenbahnwesen. Herausgeg. im Königlich Preußischen Ministerium
der öffentlichen Arbeiten. Jahrg. 1910, Heft 2, März und April: Brasilien und seine
Bahnen, von L. Jänecke. (Schluß.) — Die Krankbheits-, Sterbe- und Invalidisierungs-
fälle bei der preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft und den Reichseisenbahnen in
Elsaß-Lothringen im Kalenderjahr 1908, von (Geh.-Sanitätsr.) Schwechten. — ete.
Archiv für Volkswohlfahrt. Jahrg. 3, Heft 5, Februar 1910: Amerikanische
Volksbibliotheken, von Ernst Schultze (Hamburg-Großborstel). — Neuere Literatur zur
Jugendfürsorge-Gesetzgebung, von (Amtsgerichtsr.) J. F. Landsberg. — Zur Chronik der
Volkswohlfahrtspflege im Jahre 1908, von Oscar Neve. (Forts.) — ete.
Bank, Die. 1910, Heft 3, März: Die Divinationsgabe der Börse, von Alfred Lans-
burgh. — Die Versicherung im Dienst der Entschuldung, von A. L. — Der Feldzug
gegen die französischen Großbanken, von Wolf Bing. — ete.
Blätter, Kommunalpolitische. Jahrg. 1, Nr. 2, Februar 1910: Die Gemeinde als
Unternehmerin, von Ed. Hüsgen. — Kommunale Mittelstandsfürsorge, von Thomas
Esser. — Jugenderziehung und Volksbildung, von (Generaldir.) A. Pieper. — ete.
Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Jahrg. V,
No. 8, Februar 1910: Zur Reform des englischen Armenrechts. Vortrag, von Albert
Südekum. (Schluß.) — ete.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. IX, 1910, Nr. 3: Nochmals das volkswirt-
schaftliche Staatsexamen, von Heinrich Reiners. — Zur Handelshochschulfrage, von
Arno Schade. — ete. — Nr. 4: Steuerhinterziehungen des mobilen Kapitals? Von
Walter Claassen. — Kolonialpolitik als Wissenschaft, von Daudert. — Die deutsche
Arbeiterversicherung und ihre Reform durch die Reichsversicherungsordnung, von L. Ritter.
— etc,
Export. Jahrg. XXXII, 1910, Nr. 8: John Pierpont Morgan, der Trustkaiser.
— China im Jahre 1909. — etc. — Nr. 9: Brasilianische Zölle. — ete. — Nr. 10:
Die Zahlungsbilanz von China. — ete. — Nr. 11: Noch einmal Getreidezoll und Ein-
fuhrscheine. — ete.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 139, Heft III, März 1910: Die geheime Ab-
stimmung, von Hans Delbrück. — ete.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXIX, 1910, Nr. 9: Die Entwicklung der
Eisenindustrie in Deutschland, von (Prof.) W. Mathesius. (Schluß.) — ete. — Nr. 10: Die
Vertretung der industriellen Interessen, von H. A. Bueck. — Das Abkommen mit den
Vereinigten Staaten von Amerika über den gewerblichen Rechtsschutz, von C. A. Zakr-
zewski. — ete. — Nr. 11: Zur Arbeiterversicherung, von O. Ballerstedt. — ete.
Kartell-Rundschau. Jahrg. 8, Heft 3, März 1910: Die Bedeutung des Wett-
bewerbgesetzes für die Kartelle, von Fuld. — Die Besteuerung von Kartellen in Preußen,
II, von Leo Vossen. — Die grundsätzliche Bedeutung des Kaligesetzentwurfs, von L.
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Kultur, Soziale. Jahrg. 30, März 1910: Zur Reform der rheinischen Land-
gemeindeordnung, von Zitzen. — Ludwig Freiherr v. Vincke, von Franz Schmidt. — ete.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. 1910, Nr. 4: Der Sieg des Frei-
handels in England. — Die Beendigung des Zollkrieges mit Kanada. — ete. — Nr. 5:
Das neue Provisorium mit Kanada. — Die Zukunft des Freihandels in England, von
Fr. Glaser. — Handelskammern, Vereine und Deutscher Handelstag, von Borgius. — ete.
Monatshefte, Sozialistische. 1910, Heft 4: Arbeiter und Sozialreform, von
Wilhelm Schröder. — Die Arbeiterorganisationen Italiens, von Ivanoe Bonomi. — ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXVIII, 1910, No. 1417: Zum Entwurf
eines Reichs-Kaligesetzes. — ete. — No. 1418: Centralisierung des Kommunalkredits.
— ete. — No. 1419: Die wirtschaftliche Bedeutung der englischen Wahlen für uns.
— ete.
Plutus. Jahr 7, 1910, Heft 9: Lueger, von Walther Federn. — Kritische Gänge,
von G. B. — ete. — Heft 10: Schauspielerinnen. — Theorie des Staatsbankrotts, II,
von Leon Zeitlin. — ete. — Heft 11: Ausstellungsfieber. -— Neugründungen und
Kapitalserhöhungen, von Richard Calwer. — ete. — Heft 12: Die Städtebank, von
(Reg.-R.) Bastian. — ete.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 15, Nr. 2, Februar
576 Die periodische Presse Deutschlands.
1910: Zur Reform des Patenterteilungsverfahrens, von (Patentanwalt) B. Wassermann.
— etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 35, März 1910: England und Deutschland, von (Prof.)
Bernhard Harms. — Die Friedensbewegung, die Völkerrechtswissenschaft und die Haager
Friedenskonferenzen, von Hans Wehberg. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. VIII, No. 12, März 1910: Der Typus
der Genies des 14.—17. Jahrhunderts, III, von Otto Hauser. — Sitte, Gesetz und Recht
vom gesellschaftsbiologischen Standpunkte, von Otto Schmidt-Gibichenfels. — Beiträge
zur Rassenphysiologie und Rassenpathologie, von L. Sofer. — ete.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 6, März 1910: Die Gedankenwelt Leo
Tolstois, von Johannes Wendland. — etc.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1910, Heft 3, März: Dernburgs Diamantenpolitik,
die Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika und die Reichskommission zur
Prüfung der südwestafrikanischen Gesellschaften, von (Prof.) G. K. Anton. — Französisch-
Guinea und Kamerun, von (Reg.-Arzt) Külz. (Schluß.) — etc.
Sozial-Technik. Jahrg. IX, 1910, Heft 5: Die Stellung der technischen Auf-
sichtsbeamten zu dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung, von Trzeciok. — ete.
— Heft 6: Das Problem der Arbeit, von (Prof.) N. P. Gilman. — Die Behandlung
der Arbeiter als wichtiger Faktor industriellen Erfolges, von B. Esmarch. — etc.
Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reichs. Herausgeg. vom Kaiser-
lichen Statistischen Amte. Jahrg. 19, 1910, Heft 1: Anordnungen für die Reichs-
statistik bis zum Schlusse des Jahres 1909. — Krankenversicherung (1904 bis 1903).
— Erntestatistik für das Jahr 1909. — Die Neubauten auf deutschen Privatwerften und
auf ausländischen Werften für deutsche Rechnung 1898 bis 1909. — Reichserbschafts-
steuerstatistik 1908. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. VI, 1910, Nr. 5: Das neue Gesetz
gegen den unlauteren Wettbewerb in der Praxis, von J. Wernicke. — Gewerbsmäßige
und gemeinnützige Arbeitsvermittlung, von (Prof.) V. Wittschewsky. — Zur Kritik der
Beichsversicherungsordnung. — Die englischen Wahlen und die Schutzzollpropaganda.
— ete. — Nr. 6: Gewerbeförderung in Bayern, von (Geh. Ober-Reg.-R.) Oskar Simon,
— Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaften, von (Prof.) Rud. Eberstadt, — Fort-
schritte des Sozialrechts, von Alexander Elster. — Betrachtungen über die Entwicklung
des Genossenschaftswesens im Jahre 1909, von Hans Crüger. — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 22: Herrn Tugan-Baranowskys Marx-
Kritik, von Ant. Pannekoek. — Steuerprobleme, von J. Karski. — ete. — Nr. 23:
Nach den Wahlen in England, von Th. Rothstein. — Zur Arbeitsnachweisfrage, von
Richard Seidel. — ete. — Nr. 24: Die Ergebnisse der neuen deutschen Sterbetafel,
von Felix Linke. — ete. — Nr. 25: Industrie und Sozialismus in Japan, von S. Kata-
yama. — etc.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 2, Heft 12, März
1910: Die Warenbörse von Le Hävre, von Fritz Schmidt. — Die Chomage-Versicherung,
von Walther Niezky. — Das schwedische Bankwesen (Schluß), von Sven Helander. —
Mehr Kaufleute in die Verwaltung, von R. Beigel. — etc.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. XII,
Heft 2, Februar 1910: Marmorbergbau in Deutsch-Südwestafrika, von Gallus. — Mib-
stände im kolonialen Gründungswesen, von Otto Jöhlinger. — Zur südwestafrikanischen
Diamantenfrage. — Deutsche Bauernkolonien in Rußland, von Adolf Lane. — etc.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Neue Folge. Jahrg. 1, Heft 3, März 1910:
Die Wanderung ins Ausland als nationales Problem, von A. Sartorius von Walters-
hausen. — Beiträge zur Theorie des Kapitalzinses, III, von H. Oswalt. — Politik und
Nationalökonomie, II, von L. Pohle. — etc.
Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Ergänzungs-
heft XXXI. Der Viehstand nach der Stückzahl der Tiere auf Grund der außerordent-
lichen Zählung vom 1. Dezember 1908.
Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
Otto Gerlach, Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 577
VI
Landwirtschaftliche Kreditreform
und innere Kolonisation, unter besonderer
Berücksichtigung des Vorgehens der Ost-
preussischen Landschaft.
Von
Otto Gerlach.
Die Befreiung des Grund und Bodens in Preußen hat die
rechtliche Grundlage für den gewaltigen Aufschwung gebildet, den
die ostelbische Landwirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ge-
nommen hat. Die Freiheit des Erwerbs und der Veräußerung, des
Zusammenkaufens und Teilens von Landgütern, die Freiheit der
Verschuldung in Verbindung mit der Entwicklung der Landschaften,
die Gemeinheitsteilung und Verkoppelung sowie die Aufhebung des
Flurzwanges, welche dem Eigentümer Freiheit in der Bewirtschaftung
seiner Scholle gaben, haben der Landwirtschaft neues Blut sowie
bedeutende Kapitalien zugeführt und bewirkt, daß die Landwirte bis
in die Kreise der Bauernschaft hinein mit kapitalistischem Geiste
erfüllt werden; das Streben nach der Steigerung des Reinertrages
konnte sich, nachdem die Hemmnisse der alten Agrarverfassung
beseitigt waren, frei entfalten und in eine Verbesserung der land-
wirtschaftlichen Technik und Betriebsorganisation umsetzen. Diese
segensreichen Wirkungen der Befreiungsgesetzgebung, welche wir
auch in der gegenwärtigen Entwicklung allerorten beobachten, soll
man vor Augen behalten, wenn unerfreulichen Begleiterscheinungen
zu Reformen unserer Agrarverfassung Anregung geben.
Nicht alle Hoffnungen, welche an das große Reformwerk ge-
knüpft wurden, haben sich erfüllt. „Zuvörderst heben Wir — so
lautet der § 1 des Landeskulturedikts vom 14. September 1811 —
im allgemeinen alle Beschränkungen des Grundeigentums, die aus
der bisherigen Verfassung entspringen, hiermit gänzlich auf, und
setzen fest: daß jeder Grundbesitzer ohne Ausnahme befugt sein
soll, über seine Grundstücke insofern frei zu verfügen, als nicht
Rechte, welche Dritten darauf zustehen, und aus Fideikommissen,
Dritte Folge Bå. XXXIX (XCIV). 37
578 Otto Gerlach,
Majoraten, Lehnsverband, Schuldverpflichtungen, Servituten u. dgl.
herrühren, dadurch verletzt werden. — Demgemäß kann mit Aus-
nahme dieser Fälle, jeder Eigentümer sein Gut oder seinen Hof
durch Ankauf oder Verkauf oder sonst auf rechtliche Weise will-
kürlich vergrößeren oder verkleineren. Er kann die Zubehörungen
an einen oder mehrere Erben überlassen. Er kann sie vertauschen,
verschenken, oder sonst nach Willkür im rechtlichen Wege damit
schalten, ohne zu einer dieser Veränderungen einer besonderen
Genehmigung zu bedürfen. — Diese unbeschränkte Disposition hat
vielfachen und großen Nutzen. Sie ist das sicherste und beste Mittel,
die Grundbesitzer vor Verschuldungen zu bewahren, ihnen ein
dauerndes und lebendiges Interesse für Verbesserung ihrer Güter zu
geben, und die Kultur aller Grundstücke zu befördern. — Ersteres
geschieht dadurch, daß bei Erbteilungen oder sonst entstehenden
außerordentlichen Geldbedürfnissen des Annehmers oder Besitzers
eines Hofes so viele einzelne Grundstücke verkauft werden können,
daß derselbe schuldenfrei bleibt oder es wird. — Das Interesse
gibt die für Eltern so wünschenswerte und wohltätige Freiheit, ihr
Grundeigentum unter ihre Kinder nach Willkür zu verteilen, und
die Gewißheit, daß diesen eine jede Verbesserung zugute kommt. —
Die Kultur endlich wird eben hierdurch und zugleich dadurch ge-
sichert, daß die Grundstücke, welche in der Hand eines unver-
mögenden Besitzers eine Verschlechterung erlitten hätten, bei dem
Verkauf in bemittelte Hände geraten, die sie im Stande erhalten.
Ohne diesen einzelnen Verkauf wird der Besitzer sehr oft tiefer
verschuldet und der Acker entkräftet. — Durch die Veräußerung wird
er schulden- und sorgenfrei, und erhält Mittel, das ihm verbleibende
Land gut zu kultivieren. Es bleibt also alles Land bei diesem beweg-
lichen Besitzstande in guter Kultur, und deren einmal erreichter
Punkt kann durch Industrie und Anstrengung wohl noch höher
gebracht werden, ohne äußere störende Einflüsse aber ist ein Zurück-
sinken nicht leicht zu besorgen. — Aus der Vereinzelung entspringt
noch ein anderer sehr beachtenswerter Vorteil, der Unserm landes-
väterlichen Herzen besonders angenehm ist. Sie gibt nämlich den
sogenannten kleinen Leuten, den Kätnern, Gärtnern, Büdnern, Häus-
lern und Tagelöhnern Gelegenheit, ein Eigentum zu erwerben, und
solches nach und nach zu vermehren. Die Aussicht hierauf wird
diese zahlreiche und nützliche Klasse Unserer Untertanen fleißig,
ordentlich und sparsam machen, weil sie nur dadurch die Mittel
zum Landankauf erhalten können. — Viele von ihnen werden sich
emporarbeiten und dahin gelangen, sich durch ansehnlichen Land-
besitz und Industrie auszuzeichnen. Der Staat erhält also eine
neue schätzbare Klasse fleißiger Eigentümer, und durch das Streben,
solches zu werden, gewinnt der Ackerbau mehr Hände, und durch
die vorhandenen infolge der freiwilligen größeren Anstrengung
mehr Arbeit als bisher.“ Die Entwicklung der Verschuldungs-
verhältnisse und der Besitzverteilung während des 19. Jahr-
hunderts hat einen anderen Weg genommen, als im Landeskultur-
edikt erwartet worden war.
Landwirtschaftliehe Kreditreform und innere Kolonisation. 579
Die Verfügungsfreiheit der Eigentümer über ihr Land ist —
vornehmlich beim Großgrundbesitz — nicht dazu verwendet worden,
durch Landabverkäufe Schulden zu tilgen, sondern der Hypothekar-
kredit ist vielfach zur Vergrößerung des Grundbesitzes benutzt
und angespannt worden. Wie bereits Ende des 18. Jahrhunderts der
von den jungen Landschaften organisierte Kredit zum Zusammen-
kaufen mehrerer Güter benutzt wurde, so förderte er daneben im
19. Jahrhundert auch die Ausdehnung des Gutsbetriebes auf Kosten
des Bauernlandes: unmittelbar, indem er die zu Neuerwerbungen er-
forderlichen Kapitalien zur Verfügung stellte; mittelbar, indem er
den technischen Fortschritt der Großbetriebe unterstützte, hinter
denen die bäuerlichen Betriebe zurückblieben, und indem er den
Wert des landschaftlich beleihbaren Bodens über den des unbeleih-
baren Bauernlandes hob 1).
Im freien Verkehr haben 1816—1859 in den östlichen Provinzen
die Rittergüter rund 895000 Morgen Bauernland bei Teilungen,
ganz überwiegend aber durch Konsolidation gewonnen, wogegen sie
durch Teilungen nur 270000 Morgen an spannfähige Bauernstellen
verloren haben ?).
Auch bei den Bauern machten sich neben der Teilung Tendenzen
zum Zu- und Zusammenkaufen geltend 3).
Mit der Zeit häuften sich Nachhypotheken aus Erbabfindungen und
Restkaufgeldern an. Je geringer beim Besitzwechsel unter Lebenden
die Ansprüche an die Höhe der Anzahlung wurden, desto mehr er-
weiterte sich der Kreis der Kauflustigen, desto höher stiegen die
Güterpreise. Beim Erbgange aber fand die Naturalteilung, welche
der Gesetzgeber von 1811 erwartet hatte, in Ostelbien keine Ver-
breitung. So ist im Laufe des 19. Jahrhunderts die Schuldenlast
des ostelbischen Grundbesitzes dauernd gewachsen. Zu einem er-
heblichen Teile handelt es sich dabei gewiß um Kapitalien, welche
der Landwirtschaft zur Bodenverbesserung, zum Ausbau der Ge-
höfte und zur Vergrößerung und Verbesserung des Inventars zu-
geführt worden sind. Zum Teil aber sind die Schulden, wie
Sering sagt‘), „kapitalisierte Bodenrenten, die veräußert worden
sind an Miterben oder Vorbesitzer, ohne daß die übernommenen
Zinsverpflichtungen eine ökonomische Rechtfertigung fänden in einem
mit Hilfe der Schuldaufnahme gesteigerten Erträgnis“. Sering
vertritt die Auffassung 5), daß die zweite Art der Belastung über-
1) Vgl. Mauer, Das landwirtschaftliche Kreditwesen Preußens. Abhandlungen aus
dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Straßburg, Heft 22, Straßburg 1907.
2) Zeitschr. des Königl. Preußischen Statistischen Bureaus, Bd. 5, 1865, S. 8f. —
Vgl. Meitzen, Boden und landwirtschaftliche Verhältnisse des preußischen Staates,
Bd. 1, S. 504. — Sering, Die innere Kolonisation im östlichen Deutschland. Schriften
d. Vereins f. Sozialpolitik, Bd. 56, Leipzig 1893, S. 293 ff.
3) Siehe unten S. 583.
4) Die Agrarkonferenz vom 28. Mai bis 2. Juni 1894. Berlin 1894, S. 6.
5) A. a. O.
6) Ebenda S. 91ff.
37*
580 Otto Gerlach,
Gebieten der östlichen Provinzen die Kaufpreise der Güter im all-
gemeinen durch den Wert der Gebäude, des Inventars und des Ein-
schnittes absorbiert würden (1894).
Wir können diese Frage auf sich beruhen lassen ; allseitig wird an-
erkannt, daß in den östlichen Landesteilen eine Ueberschuldung
des Grundbesitzes vorhanden ist!); die feststehenden Schuldzinsen
haben eine solche Höhe erreicht, daß der dem Grundbesitzer ver-
bleibende Rest des Ertrages nicht das mit dem Betrieb verbundene
Risiko zu tragen vermag. Das „Arbeitsprogramm“ ?) der Agrar-
konferenz erblickte die Hauptursache der landwirtschaftlichen
Krisis in dem „Sinken der Reinerträge“ und der „zu starken Inan-
spruchnahme fremden Kredits“. „Zwar kann auch die Verminderung
der Erträge für sich allein zur Ueberschuldung führen. Gleichwohl
gehen beide Momente selbständig nebeneinander her. Nimmt man
an, die Reinerträge stiegen plötzlich auf das Doppelte, so würde bei
fortwirkenden Ursachen der Verschuldung (zu hohe Kauf- und Ueber-
nahmepreise) schon in der nächsten Generation der Zustand der
Ueberschuldung wieder der alte sein. Eine Reform muß also beiden
Ursachen entgegenzuwirken suchen.“ Die damaligen Verhandlungen
zeigten Uebereinstimmung in der Auffassung, daß als ein Mittel zur
Verringerung der Gefahr künftiger Ueberschuldung durch Erb-
abfindungen die Einführung des Anerbenrechts als Intestaterbrecht
in Erwägung zu nehmen sei. Hinsichtlich der Maßnahmen zur
Schuldentlastung und über die Einführung einer Verschuldungs-
grenze gingen dagegen die Anschauungen auf der Agrarkonferenz
noch weit auseinander.
In den folgenden Jahren fanden langwierige Beratungen der
Staatsregierung unter Zuziehung von sachverständigen Landwirten
und von Vertretern geeigneter Kreditanstalten über die Möglichkeit,
die Bedingungen und die Zweckmäßigkeit eines Entschuldungs-
verfahrens statt’). Dabei wurde Einverständis über folgende Ge-
sichtspunkte erzielt:
wll Ein festes Programm hinsichtlich etwa vorzunehmender
Entschuldungsmaßnahmen läßt sich zurzeit nicht aufstellen; es kann
vielmehr mangels jeglicher Erfahrungen auf diesem Gebiete vor-
läufig nur ein versuchsweises Vorgehen stattfinden.
2) Jede Entschuldungsmaßnahme, welcher Art sie auch sein
möge, hat nur dann eine innere Berechtigung und einen dauernden
Wert für die Beteiligten und für die Allgemeinheit, wenn sie eine
nachhaltige Abhilfe des zu beseitigenden Mißstandes erzielt, d. h.
1) Vgl. die Verschuldungsstatistik von 1902: Preußische Statistik, Bd. 191. — Material
betr. Entschuldung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes in der Provinz Sachsen.
Halle 1907.
2) Agrarkonferenz, S. IX ff.
3) Ueber den Gang der Verhandlungen vgl. Dr. V. G.-B., Uebersicht über die
Entwicklung der Frage der Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes in Preußen und
ihre Ueberführung in die Praxis, unter besonderer Berücksichtigung der ostpreußischen
Entschuldungsaktion, Halle 1908, S. 20 ff.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 581
wenn einer erneuten Ueberschuldung des Gutes zuverlässig und
dauernd vorgebeugt werden kann“ 11.
Auch die Kreditkommission der preußischen Landwirt-
schaftskammern hatte beschlossen, daß die Eintragung einer
Verschuldungsgrenze die Vorbedingung für die Ablösung von Nach-
hypotheken durch die Landschaften sei ?), und der Deutsche Land-
wirtschaftsrat hatte verlangt, daß für den zu entlastenden Grund-
besitz eine seiner Ertragsfähigkeit entsprechende Beschränkung der
Verschuldbarkeit auf längere Zeit Platz greifen sollte). Als nicht
gangbar erwies sich der Weg, die Verschuldungsgrenze im Darlehns-
vertrag zwischen dem Grundstückseigentümer und dem Gläubiger
zu vereinbaren, weil eine solche Vertragsbestimmung nach $ 1136
BGB. nichtig ist*). Dagegen eröffnete Art. 117 Abs. 1 des Einfüh-
rungsgesetzes zum BGB.°) die Möglichkeit, die Verschuldungsgrenze
durch die Landesgesetzgebung einzuführen.
Um Entschuldungsversuche, welche von nachhaltiger Wirkung
sein können, zu ermöglichen, wurde das preußische Gesetz vom
20. August 1906, betreffend die Zulassung einer Verschuldungs-
grenze für land- oder forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke, er-
lassen. Es gestattet die Eintragung der Verschuldungsgrenze auf An-
trag des Eigentümers. Sie fällt mit der Beleihungsgrenze derjenigen
Kreditanstalt zusammen, welche durch Königliche Verordnung für den
einzelnen Landesteil bestimmt wird; sie ist also nicht starr, sondern
ändert sich mit der Beleihungsgrenze. Die Eintragung der Ver-
schuldungsgrenze hat die Wirkung, daß jenseits derselben neue Be-
lastungen des Grundstücks mit Hypotheken, Grund- und Renten-
schulden oder mit beständigen oder zeitweisen Geldrenten — mit
einigen Ausnahmen — nicht stattfinden dürfen; das bezieht sich
auch auf Sicherungshypotheken, deren Eintragung im Wege der
Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen verlangt werden sollte.
Bestehende Rechte werden durch die Eintragung der Verschuldungs-
grenze nicht berührt. — Da man die Wirkungen, welche die Ver-
schuldungsgrenze ausüben wird, nicht mit Sicherheit voraussehen
konnte, wurde bestimmt, daß ein durch Königliche Verordnung be-
stellter Kommissar auf Antrag des Eigentümers nach Anhörung der
zuständigen Kreditanstalt die Ueberschreitung sowie die Aufhebung
der Verschuldungsgrenze gestatten darf. Die Ueberschreitung wird
nur für den Einzelfall aus besonderen Gründen, namentlich für die
Eintragung von Erbabfindungen der Pflichtteilsberechtigten zugelassen
und darf, außer bei Belastungen auf Grund des Landeskulturrenten-
bankgesetzes von 1879, nicht über ein Viertel des die Verschuldungs-
1) Herrenhaus 1905/06, Anlagen. Aktenstück 55, S. 210.
2) Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrats, Bd. 24, 1900, 8. 459.
3) Ebenda S. 458.
4) „Eine Vereinbarung, durch die sich der Eigentümer dem Gläubiger gegenüber
verpflichtet, das Grundstück nicht zu veräußern oder nicht weiter zu belasten, ist nichtig.“
5) „Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, welche die Belastung
eines Grundstücks über eine bestimmte Wertgrenze hinaus untersagen.‘
582 Otto Gerlach,
grenze bestimmenden Höchstbetrages hinausgehen. Bedingungen,
unter denen der Kommissar die Löschung der Verschuldungsgrenze
genehmigen soll oder darf, stellt das Gesetz nicht auf; nur für einen
einzelnen Fall ordnet es die Genehmigung an: wenn nämlich die
für die Zulassung der Verschuldungsgrenze aufgestellten Erforder-
nisse nicht mehr vorliegen, wenn also das Grundstück nicht mehr
land- oder forstwirtschaftlich genutzt wird, oder wenn es von der
zuständigen Kreditanstalt nicht mehr beliehen werden darf. — Der
Zeitpunkt, in welchem das Gesetz in den einzelnen Landesteilen in
Kraft tritt, wird durch Königliche Verordnung bestimmt.
Mit diesem Gesetz ist die Grundlage geschaffen, auf welcher in
den einzelnen Landesteilen an die Entschuldung des ländlichen
Grundeigentums herangegangen werden kann. Unermüdlich hat
Sering an der Verwirklichung seines auf der Agrarkonferenz von
1894 entwickelten Programmes gearbeitet: „Ich befürworte* — so
faßte er seine Ausführungen zusammen — „erstens Einführung des
Anerbenrechts da, wo es der Sitte noch entspricht, — damit wird
ein Hauptgrund für die Ueberschuldung beseitigt —, zweitens die
Ablösung der bestehenden Ueberschuldung und die Eröffnung eines
billigen Kredits, beides unter der Bedingung der Uebernahme von
Verschuldungsbeschränkungen. Diese Maßnahme ermöglicht den ge-
lindesten Uebergang des heutigen in den anzustrebenden Rechts-
zustand und beugt einer künftigen Ueberschuldung auch im frei-
händigen Besitzwechsel vor. Drittens fordere ich den Ausbau des
Meliorations-, des Mobiliar- und des Personalkreditwesens sowie der
Versicherungsorganisation; für Meliorationszwecke soll die Ueber-
schreitung der gesetzlichen Verschuldungsgrenze zugelassen sein.
Dadurch wird eine reichliche Versorgung mit produktivem Kredit
und Schutz gegen Notfälle gesichert“!). Das Ziel, welches er vor
Augen hatte, ist eine neue Besitzverfassung, mit Beschränkung
des hypothekarischen Besitzkredits, welcher die Grundrente in zu-
nehmendem Maße der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung
entfremdet, unter gleichzeitiger Förderung des Betriebs- und Meliora-
tionskredits. Die obligatorische Einführung der Verschuldungs-
grenze hielt Sering für unmöglich; zur freiwilligen Ueber-
nahme derselben könne aber dadurch angeregt werden, daß man den
Eigentümer — als Gegenleistnng — von den hochverzinslichen und
kündbaren, drückenden und gefährlichen Nachhypotheken durch Ge-
währung eines niedrig verzinslichen, unkündbaren Tilgungskredits
befreie.
Das Gesetz von 1906 bietet die Rechtsform dar, in welcher die
Verschuldungsgrenze eingeführt werden kann, wenn sich 1) Kredit-
institute finden, welche die Schuldabbürdung in die Hand nehmen,
und wenn sich 2) Eigentümer finden, welche sich dazu entschließen,
ihr Besitztum der Verschuldungsgrenze zu unterwerfen, um die Vor-
teile der Entschuldung zu erlangen. Das Gesetz entspricht den von
1) Agrarkonferenz, S. 18.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 583
Sering angestrebten Zielen; nur in einem Punkte grundsätzlicher
Bedeutung weicht es von seinen 1894 gemachten Vorschlägen ab:
Sering wollte die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz aus
Personalschulden, soweit sie nicht innerhalb der Verschuldungsgrenze
in Form einer Zwangshypothek Deckung finden, ausschließen 1).
Das Gesetz von 1906 gestattet dagegen die Zwangsvollstreckung
aus Personalschulden auch in solche Grundstücke, welche mit der
Verschuldungsgrenze belastet sind. Seine Wirkung besteht lediglich
darin, daß über die Verschuldungsgrenze hinaus kein Gläubiger
ein Vorrecht auf Befriedigung vor anderen Gläubigern erlangen kann.
* y *
Die Erwartung, daß die Befreiung des Grund und Bodens
von den Verfügungsbeschränkungen zu Grundstücksteilungen
beim Erbgange und zur Abveräußerung von Trenn-
stücken führen würde, hat sich in den östlichen Provinzen nicht
in dem Maße erfüllt, als bei den Reformen zu Beginn des 19. Jahr-
hunderts angenommen wurde. Wohl hat sich in der Zeit von
1816—1859 eine nicht unerhebliche Teilung des bäuerlichen Besitzes
vollzogen. Von 274704 im Jahre 1816 vorhandenen spannfähigen
bäuerlichen Nahrungen mit 27 Mill. Morgen sind durch Teilung
17530 mit 1480000 Morgen eingegangen und weitere 990000 Morgen
wurden von spannfähig gebliebenen Nahrungen abgezweigt. Von
diesen insgesamt 2470000 Morgen fielen 1130000 Morgen an spann-
fähige und 1200000 Morgen an nicht spannfähige Stellen. 35431
eingegangenen bäuerlichen spannfähigen Nahrungen stehen 28551 im
freien Verkehr neugebildete gegenüber; von diesen sind 3049 durch
Erweiterung nicht spannfähiger Stellen, 4389 auf Flächen, welche
vom Großgrundbesitz abgezweigt worden sind, 3399 durch Teilung im
Erbgange und 17714 durch sonstige Teilung spannfähiger Stellen
entstanden; die Durchschnittsgröße der eingegangenen Bauernstellen
war 88, die der neugebildeten 54 Morgen. In welchem Umfange
die Teilungen, im besonderen die 1130000 Morgen, welche an spann-
fähige Stellen gekommen sind, zur Vergrößerung bereits bestehender
Bauerngüter beigetragen haben, läßt sich nicht feststellen. Man
wird aber diese Zukäufe bäuerlicher Nachbarn nicht gering an-
schlagen dürfen, da sich die Neigung dazu auch aus anderen Er-
scheinungen ergibt: 1816—1859 sind 9036 spannfähige Nahrungen
mit rund 800000 Morgen durch Konsolidation mit anderen spann-
fähigen bäuerlichen Nahrungen eingegangen. Die imfreien Ver-
kehr vollzogenen Teilungen und Konsolidationen
bäuerlicher Grundstücke sind sonach begleitet von
einer Vergrößerung bäuerlicher Besitzeinheiten und
von erheblichen Landverlusten an die kleinen, nicht
spannfähigen Nahrungen sowie an die Rittergüter.
Diese haben, wie bereits erwähnt, im freien Verkehr 625000 Morgen
1) Agrarkonferenz, S. 16.
584 Otto Gerlach,
gewonnen, Fiskus, Städte und Stiftungen haben 205000 Morgen
eingebüßt, der bäuerliche Besitz hat also an den Großgrundbesitz
130000 ha verloren. Dazu kamen die Landabtretungen infolge
von Eigentums- oder Dienstregulierungen und von Ablösungen:
die spannfähigen Nahrungen haben 1 Mill. Morgen abgegeben und
210000 erhalten, also rund 200 000 ha eingebüßt!). Dem Zuwachs,
den die kleinen, nicht spannfähigen Nahrungen aus dem Bauern-
lande in einem Umfange von rund 400000 ha erhalten haben, steht
der Verlust der durch die Deklaration von 1816 von der Regulie-
rung ausgeschlossenen Stellen gegenüber, deren Anzahl Sering auf
100000 mit 400000 ha schätzt?); Zuwachs und Verlust der nicht
spannfähigen Stellen deckten sich also annähernd. Der Großgrund-
besitz hat rund 330000 + 400000 = 730000 ha auf Kosten des
bäuerlichen Besitzes gewonnen. Der Verlust an Bauernland wird zu
einem kleinen Teil durch die infolge der Separation gewonnenen
240000 ha ausgeglichen.
Durch Teilungen und Abverkäufe haben die großen, insbesondere
die Rittergüter, bis 1860 nur verhältnismäßig wenig Land an den
bäuerlichen Besitz abgetreten: im ganzen waren es 530000 Morgen ?);
davon entfallen 270000 auf die Rittergüter, 220000 auf den Fiskus
und 40000 auf Städte und Stiftungen.
Wenn auch andere Umstände diese Entwicklung der Besitzver-
teilung gefördert haben mögen, so ist sie doch letztlich darauf
zurückzuführen, daß in den östlichen, für den weiteren Markt produ-
zierenden Provinzen der Großbetrieb während der ersten zwei
Drittel des vorigen Jahrhunderts dem Kleinbetrieb wirtschaftlich
überlegen war, wo diesen nicht besondere örtliche Verhältnisse
begünstigten, und daß der Großbetrieb die Führung in den Fort-
schritten der landwirtschaftlichen Technik hatte 4).
Seit den sechziger Jahren macht sich eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit der Bauern bemerkbar. Es kommt
seltener vor, daß bäuerliche Besitzungen vom Großgrundbesitz auf-
gesogen werden. Doch läßt sich in den Provinzen Posen, Branden-
burg und Schlesien eine Verringerung des Areals der spannfähigen
Bauernbesitzungen und ein Anwachsen des nicht spannfähigen Be-
sitzes bis zum Ende der siebziger Jahre verfolgen). Schließlich
setzt in manchen Gegenden ein dem früheren Entwicklungsprozeß um-
gekehrter Vorgang ein: Bauern kaufen große Güter aus; sie können
1) Zeitschr. des Kgl. Preußischen Stat. Bureaus, Bd. 5, 1865, S. 4f. Meitzen,
Bd. 1, S. 504f. Vgl. Sering, Innere Kolonisation, S. 293 ff.
2) Die Verhandlungen der Konferenz zur Beratung über die Organisation der
inneren Kolonisation am 14. und 15. Juni 1909, Berlin 1909, S. 66. Ich zitiere die-
selben im folgenden: Kolonisationskonferenz.
3) Diese Verluste des Großgrundbesitzes sind oben bei der Berechnung seines Ge-
winnes bereits berücksichtigt.
4) Vgl. Sering, Innere Kolonisation, S. 64 ff. und die Ausführungen des Grafen
Vv. Zedlitz-Trützschler, Kolonisationskonferenz, 8. 51 f.
5) Meitzen, Bd. 6, S. 481 ff.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 585
für den Boden mehr bezahlen, als er als Bestandteil eines großen
Gutes wert ist. —
Manche Umstände aber, welche in früheren Zeiten den Abver-
kauf von Teilstücken und die Auflösung größerer Betriebseinheiten
erschwerten, wirken auch heute noch hemmend. Durch den Abver-
kauf eines größeren in eine Betriebseinheit eingegliederten Land-
stücks wird der Weiterbetrieb empfindlich gestört. Vor allem aber
ergeben sich aus der hypothekarischen Belastung der Güter große
Schwierigkeiten für Abveräußerungen und Teilungen; mit Recht
spricht Sering von dem „eisernen Ring der Hypotheken“, welche
ein Landgut umklammern und Abverkäufe erschweren !). Die Be-
stimmungen des Gesetzes betreffend den erleichterten Abverkauf
kleiner Grundstücke vom 3. März 1850 beziehen sich nur auf Trenn-
stücke, welche im Verhältnis zum Hauptgut von geringem Wert
und Umfang sind. Für eine umfassende Parzellierungstätigkeit der
Grundeigentümer kann jenes Gesetz die Grundlage nicht bilden:
bei ihr ist meistens eine vollkommene Neuregelung der Hypotheken-
verhältnisse erforderlich. Diese war aber besonders bei der Be-
gründung neuer oder bei der Veränderung bereits bestehender bäuer-
licher Stellen sehr schwierig, sofern sie nicht landschaftlich beleih-
bar waren oder sofern private Nachhypotheken abgelöst werden
mußten.
Eine wesentliche Erleichterung haben für das ganze Staatsgebiet
die Rentengutsgesetze von 1890 und 1891 gebracht. Nachdem
1890 die Begründung von Rentengütern ermöglicht war, stellte das
Gesetz von 1891 die Generalkommissionen und den Rentenbank-
kredit in den Dienst der Rentengutsbildung. Hiermit ist eine neue
Periode der inneren Kolonisation eingeleitet. Von der
Generalkommission können auf Antrag der Beteiligten die auf Renten-
gütern von mittlerem oder kleinerem Umfange haftenden Renten
durch Vermittlung der Rentenbanken abgelöst werden, soweit der
25-fache Betrag der Rentenbankrente innerhalb der ersten drei
Viertel des Wertes der Liegenschaften liegt. Außerdem können
sich die Beteiligten bereits bei der Begründung der Rentengüter
der Vermittlung der Generalkommission bedienen. In weitem
Maße wurde also der staatliche Rentenbankkredit bei der Bildung
von bäuerlichen und Arbeiterstellen zur Verfügung gestellt und da-
durch die Ablösung der Hypotheken auf der alten Besitzeinheit er-
leichtert. Während der Uebergangszeit zwischen dem Beginn der
Aufteilung eines Gutes und der Uebernahme der Renten auf die
Rentenbank bereitete freilich die Finanzierung auch weiterhin große
Schwierigkeiten; sie sind verringert, wenn auch zurzeit noch nicht
in befriedigender Weise überwunden, durch die Gewährung von
„Zwischenkredit“ aus den Reservefonds der Rentenbanken [G. v.
12. Juli 1900?)] und von „Ueberkredit*“ aus dem im Staatshaus-
1) Kolonisationskonferenz, S. 67.
2) Eine von der Regierung dem Landtage unterbreitete Novelle wird voraussicht-
lich demnächst verabschiedet werden.
586 Otto Gerlach,
halt für 1905 und für die folgenden Jahre‘ eingestellten Zwei-
millionenfonds zur Förderung der inneren Kolonisation in den
Provinzen Ostpreußen und Pommern !).
Die Generalkommissionen können, wenn ihre Mitwirkung
bei der Rentengutsbildung beantragt wird, dafür Sorge tragen, daß
die Kolonisten zu günstigen Bedingungen angesetzt, daß die öffentlich-
rechtlichen Verhältnisse (Gemeinde, Kirche, Schule) geordnet, und daß
die gemeinwirtschaftlichen Verhältnisse sowie die Anforderungen der
Landeskultur berücksichtigt werden; auch können sie darauf Bedacht
nehmen, daß ein ausreichendes Gemeinde-, Schul- und Kirchenvermögen
in Land, womöglich auch in Geld geschaffen wird. Die Generalkom-
missionen nehmen dem Kolonisator, wo sie die Rentengutsbildung
vermitteln, sehr schwierige und zeitraubende Arbeiten ab und führen
sie sachgemäß durch; bei ihrer Mitwirkung werden Ersparnisse an
Gerichts- und Notariats-, Stempel- und Vermessungskosten gemacht;
die Renten übernehmen sie in den vorerwähnten Grenzen auf die
Rentenbank und händigen dem Kolonisator als Abfindung Renten-
briefe aus, welche er durch Verkauf realisieren kann. Bei der Ein-
räumung dieser großen Vorteile können sie ihrerseits Bedingungen
für dieBesiedelung aufstellen, denen sich der Kolonisator unter-
werfen muß, wenn er jene Vorteile genießen will. Auf diesem Wege
haben die Generalkommissionen einen entscheidenden Einfluß auf
die Ausgestaltung der inneren Kolonisation gewonnen und darauf
hingewirkt, daß auch die private Güteraufteilung, soweit sie die Hilfe
der Generalkommissionen in Anspruch nimmt, sich in den Dienst
des öffentlichen Interesses an der Schaffung lebensfähiger Kolonien
stellen muß. Das große Verdienst, die Mitwirkung der General-
kommissionen mit solchem Geiste erfüllt und für die Durchführung
ein geeignetes Verfahren herausgebildet zu haben, gebührt dem
Oberlandeskulturgerichts-Präsidenten Metz, welcher Präsident der
Frankfurter Generalkommission war?). Er ging von dem Grund-
gedanken aus, daß der Kolonisator mit dem Werte, den das auf-
zuteilende Gut im Großbetrieb hat, zu entschädigen ist, daß der
Mehrwert aber, den die aufgeteilten Besitzstücke im Kleinbetrieb
haben, der neuen Kolonie nutzbar gemacht werden soll.
Die Tätigkeit der Generalkommissionen bei der Rentenguts-
gründung ist eine rein vermittelnde. Sie kaufen nicht — wie es
die Königliche Ansiedlungskommission tut — Güter zur Aufteilung
an. Die Kolonisation liegt vielmehr in der Hand des Grundeigen-
tümers oder eines Unternehmers; dieser teilt das Land auf, sucht
Käufer, vereinbart die Kaufbedingungen und trägt allein das Risiko;
die Generalkommission leistet nur gute Dienste bei diesen Ge-
schäften. Zur innern Kolonisation bedarf es also eines Trägers
der Kolonisationsunternehmung.
1) Vgl. Gerlach, Ansiedelungen von Landarbeitern in Norddeutschland. Berlin
1909, 8. 103 ff.
2) Vgl. H. Metz, Innere Kolonisation in den Provinzen Brandenburg und Pommern
1891—1901. Berlin 1902.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 587
Die Kolonisation ist ein so schwieriges Geschäft, daß trotz aller
Erleichterungen durch die Mitwirkung der Generalkommissionen Auf-
teilungen ganzer Güter durch die bisherigen Besitzer verhältnismäßig
selten vorkommen. Vor dem Eintreten der Generalkommissionen
lag, besonders in Hinterpommern, das Parzellierungsgeschäft in den
Händen von Agenten und Unternehmern. Seit 1896 betreibt die
kapitalkräftige Landbank einen ausgedehnten Güterhandel, bei welchem
sie auch in beträchtlichem Umfange kleinere Besitzungen schafft.
Mag die spekulative Parzellierung in vielen Fällen zufriedenstellende
Ergebnisse gezeitigt haben, so scheint sie doch häufig Anlaß zu be-
rechtigten Klagen gegeben zu haben. Durch die Einführung der
Rentengutsgründung und des „Frankfurter Verfahrens“ der
Generalkommission ist jedenfalls der Wert der privaten Kolonisation
außerordentlich gehoben worden. Es fehlte aber an einem gemein-
nützigen Unternehmer, welcher mit der Generalkommission Hand in
Hand arbeiten und die Güterschlächter zurückdrängen konnte. Des-
halb wurde 1899 die Deutsche Ansiedlungsgesellschaft zu
Berlin als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet; sie
mußte sich aber nach einigen Jahren vortrefflicher Wirksamkeit auf-
lösen, weil ihr nicht genügende Mittel zur Verfügung standen. Im
Januar 1903 folgte ihr die Pommersche Ansiedlungsgesell-
schaft (eingetr. Genossenschaft mit beschr. H.), welche eine um-
fangreiche kolonisatorische Tätigkeit in der Provinz Pommern ent-
faltet und teilweise auch auf Brandenburg und Westpreußen übergreift.
Für Ostpreußen wurde auf Initiative und unter Beteiligung des
Staates im Jahre 1905 die Ostpreußische Landgesellschaft
mit beschränkter Haftung errichtet.
* M *
Als im Juni 1906 Dr. Kapp aus seiner Stellung als Vortragender
Rat im Landwirtschaftsministerium ausschied und an die Spitze der
Ostpreußischen Landschaft trat, betrachtete er als wichtigste
Aufgaben der Agrarpolitik, an deren Lösung mitzuarbeiten die alten
genossenschaftlichen Kreditinstitute der Landschaften berufen und
befähigt sind: die Befestigung und Erhaltung des landschaftlich ver-
bundenen Grundbesitzes unter zeitgemäßer Umgestaltung der Be-
sitzverhältnisse. Um diese doppelte Aufgabe, deren Bedeutung und
Zusammengehörigkeit auch in den Verhandlungen des Landes-Oeko-
nomie-Kollegiums anerkannt worden war!), im Gebiete der Ost-
1) Vgl. die Ausführungen Wangenheims in den Verhandlungen des Landes-
Oekonomie-Kollegiums vom 5. bis 8. Februar 1908, Berlin 1908, S. 447: „Ich muß
noch einmal kurz rekapitulieren, welcher Grundgedanke diesen jetzt schon über 3 Jahre
sich erstreckenden Verhandlungen zugrunde liegt. Das erste Jahr war es in der Haupt-
sache die Frage: wo, wie und durch wen sollen wir kolonisieren, und die Grundtendenz
war dabei: planmäßige Mischung der verschiedenen Betriebsgrößen nur durch gemein-
nützige Anstalten und Schaffung einer großen Landeskulturbehörde zur Leitung des
ganzen Kolonisationswerkes. Das zweite Jabr beschäftigte uns hauptsächlich die Frage:
Befestigung und Erhaltung des Besitzes, also nicht nur die Schaffung neuer Ansied-
lungen, sondern vor allen Dingen auch die Erhaltung des alten Besitzes. Dieses Jahr
588 Otto Gerlach,
preußischen Landschaft praktisch in Angriff zu nehmen, unterbreitete
Kapp der General-Direktion und dem General-Landtage im Dezember
1906 die „Entschuldungsvorlage“ und die „Bankvorlage“,
im Januar 1908 die „Kolonisations- und Landarbeitervor-
lage“ und im Dezember 1909 die „Vorlage betreffend die Errichtung
einer Lebensversicherungsanstalt der Ostpreußischen
Landschaft als Mittel zur Entschuldung des ländlichen Grund-
besitzes“.
* *
*
Zum Verständnis der Kappschen Entschuldungsvorlage
und zu ihrer Würdigung ist es erforderlich, einen Blick auf den
Stand des Entschuldungsproblems Ende 1906 zu werfen.
Die Zentralkreditkommission der Preußischen Landwirt-
schaftskammern und die von ihr eingesetzte Unterkommission
(Spezial-Entschuldungskommission) hatten 1899 die Grundlagen eines
Planes zur Entschuldung entworfen und mit einer eingehenden Er-
läuterung und Begründung der Staatsregierung unterbreitet, welche ihn
1899 einer Versammlung sachverständiger Vertrauensmänner vorlegte.
Die Landschaften sollten die Nachhypotheken in Höhe bis zu
5/,, ausnahmsweise bis ĉ/% der landschaftlichen Taxe übernehmen
und für sie Pfandbriefe oder Obligationen ausgeben. Diese Nach-
hypotheken sollten schnell, unter Verwendung der Tilgungsquoten
der ganzen landschaftlichen Schuld, getilgt werden. Es sollte eine
Verschuldungsgrenze, etwa hinter den von der Landschaft über-
nommenen Hypotheken, eingetragen werden. Diejenigen Nach-
hypotheken, welche bei der Einleitung des Entschuldungsverfahrens
noch nicht abgelöst werden können, sollten schrittweise vorrücken
und in das Tilgungsverfahren einbezogen werden, falls ihre Gläubiger
in Unkündbarkeit bei pünktlicher Zinszahlung willigten!). Im
Einzelnen wurde vorgeschlagen: „Das Werk der Schuldentlastung ist
den Landschaften und verwandten öffentlich-rechtlichen Pfandbrief-
instituten zu übertragen; die Landschaften entsprechen dieser Auf-
gabe, indem sie die hinter ihrer normalen Beleihungsgrenze stehenden
Nachhypotheken, soweit diese als hinreichend sicher erscheinen, durch
Ausgabe von Obligationen erwerben. Die Landschaften sind ver-
möge ihrer unschätzbaren Erfahrung und des hohen Vertrauens,
das sie sich bei dem nach Kapitalanlage suchenden Publikum er-
worben haben, zweifellos zu der gedachten Operation viel besser
befähigt, als etwaige, besonders zum Zwecke der Schuldentlastung
tritt als dritter Punkt in der Hauptsache die Frage hinzu, die heute im Vordergrunde
des Interesses steht: Ansiedlung der Arbeiter auf dem Lande.“ Ferner in den Ver-
handlungen des Landes-Oekonomie-Kollegiums vom 10. bis 13. Februar 1909, S. 120:
„Wenn ich von einer planmäßigen innereren Kolonisation spreche, so ist nach meiner
Auffassung dabei in erster Linie zu berücksichtigen, daß es sich nicht darum handelt,
alles zu zerschlagen und Neues zu schaffen, sondern daß es eine der wesentlichsten
Aufgaben der inneren Kolonisation ist, das lebensfähige und lebenswürdige Alte zu er-
halten und nach Möglichkeit zu konsolidieren.“
1) Aus den Beschlüssen der Spezial-Entschuldungskommission 1899. Vgl. V. G.-B.
a. a. O. S. 241.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 589
erst zu gründenden Institute. — Die Mitwirkung der Landschaften
an den Reformmaßnahmen wird sich im wesentlichen auf Arbeits-
leistung beschränken müssen. .... Größere materielle Opfer aber werden
ihnen nicht zugemutet werden dürfen. Insbesondere werden
sie das finanzielle Risiko für die abzulösenden Nach-
hypotheken nicht übernehmen können. Zwar ist anzu-
nehmen, daß dies Risiko — namentlich bei Beobachtung gewisser
Kautelen — keineswegs groß ist; immerhin aber sind die von den
Landschaften zu übernehmenden Nachhypotheken natürlich nicht in
so hohem Grade sicher, wie die Hypotheken, die sich innerhalb der
gewöhnlichen landschaftlichen Beleihungsgrenze halten. Sollte den
Landschaften daher auch das Risiko für die ersteren zufallen, so
würde dies den Kursstand sämtlicher landschaftlichen Pfandbrief-
Emissionen ungünstig beeinflussen. . . . Zur Deckung der aus der
Uebernahme der Nachhypotheken sich etwa ergebenden Verluste
müssen daher andere Hilfsquellen bereit stehen, und zwar wird nach
der einstimmigen Ueberzeugung der Kreditkommission das Reform-
werk nur dann zustande kommen können, wenn in erster Linie
der Staat bis zu einer im voraus bestimmten Grenze
die Deckung der entstehenden Ausfälle übernimmt....
Dennoch aber erscheint es im Interesse der Sicherheit der Land-
schaften geboten, für den Fall, daß die Staatssubvention zur Deckung
der Ausfälle nicht genügt, die sekundäre Garantiepflicht zu
regeln. Diese soll von den Landwirtschaftskammern
übernommen werden“!)).
Erst 1902 nahm die Staatsregierung in der „Denkschrift
über die Durchführung von Maßnahmen zur Entlastung hoch-
verschuldeter landwirtschaftlicher Besitzungen“ vom 30. Mai Stellung
zu dem Entschuldungsprogramm: „Indes sei schon jetzt betont, daß
von einer Staatsgarantie für die auszugebenden In-
haberpapiere oder von einer Garantie des Staats für
den etwaigen Ausfall an Kapital und Zinsen keines-
falls dieRede sein könnte. Sollte eine finanzielle Beteiligung
des Staates überhaupt in Frage kommen, so müßte sie sich jeden-
falls in weit engeren Grenzen bewegen“ ?).
Zu dieser Denkschrift mußten auch die Landschaften
Stellung nehmen. In der General-Landschafts-Direktoren-Versammlung
am 20. September 1902 „sprachen sämtliche Vertreter ihr Bedauern
darüber aus, „„daß durch die wenig entgegenkommenden Erklärungen,
namentlich bezüglich der erwarteten Staatshilfe, eine Entschuldungs-
aktion in weite Ferne gerückt erscheine. Der Staat müsse
vielmehr vorangehen und nicht die Initiative den Landschaften
überlassen oder gar zuschieben; dieselben würden aber ihre Mit-
wirkung nicht versagen. Auch scheine der Entschuldungsplan
der Kammern sehr wohl durchführbar.““ Die Haltung sämtlicher
590 Otto Gerlach,
Landschaften war eine einmütige.. Vor allem wurde vermittelst
einer Resolution die Bereitwilligkeit konstatiert, das Ent-
schuldungswerk womöglich kostenlos zu übernehmen,
und dies einstimmig unter der Voraussetzung, daß das
Risiko vom Staate unter event. subsidiärer Garantie
Dritter übernommen werden würde“!). Die Ende 1902
und Anfang 1903 erstatteten Berichte der Landschafts-Direktionen
haben sich fast durchweg auf den gleichen Boden gestellt).
Auch die Kreditkommission der Landwirtschaftskammern nahm
eine vom Vertreter der sächsischen Kammer Dr. v. ustedt-
Berssel vorgeschlagene Resolution an, welche die Verpflichtung
des Staats, die für das Entschuldungswerk erforderlichen Mittel
bereitzustellen, behauptet und als subsidiäre Garanten a) die korpo-
riertte Landwirtschaft (Landwirtschaftskammern) und b) andere
provinzielle Korporationen in Betracht zieht). Der größere
Teil der Kammern hat aber 1903 eine solche Haftung
abgelehnt. Nur Schlesien und Brandenburg haben sich im
Prinzip dazu bereit erklärt 4).
Auf die 1904 in Aussicht genommene Versuchsaktion mit sehr
vorsichtiger staatlicher Garantie, von welcher aber aus politischen
Rücksichten der Großgrundbesitz ausgeschlossen sein sollte, einzu-
gehen, erübrigt sich, da es zu ihr nicht gekommen ist.
Ueber die im weiteren Verlaufe der Erwägungen innerhalb
der Staatsregierung herrschenden Auffassungen erfahren wir aus
dem Munde des Landwirtschaftsministers Podbielski: „daß der
Staat mit großen Mitteln eintrete, halte er für ausgeschlossen, wohl
aber könne er gewisse Risiken übernehmen. Der Finanzminister
sei der Meinung, daß man wohl für den kleinen Grundbesitz etwas
tun könne, den Großgrundbesitz habe er immer ausgenommen.
Nach seiner persönlichen Auffassung gehe der Staat kein großes
Risiko ein, wenn er den ritterschaftlichen und landschaftlichen
Kreditinstituten gegenüber bei größeren Gütern die Verpflichtung
übernehme, daß er sich bereit erkläre, im Notfalle für die land-
schaftliche Taxe das Gut zu übernehmen. Bei solchem Vorgehen
des Staates könnten die Kreditinstitute die Regulierung ohne Gefahr
übernehmen. . . . Die Entschuldung des kleineren und mittleren
Besitzes sei nicht durchführbar ohne eine gewisse Bereitstellung
staatlicher Mittel“ 5).
Auch die landwirtschaftlichen Genossenschaften
haben sich seit einer Reihe von Jahren um das Entschuldungsproblem,
unter besonderer Berücksichtigung des kleinen und mittleren Besitzes,
bemüht. Dabei sind zwei Arten des Vorgehens zu unterscheiden.
1) V. G.-B. a. a. O. S. 36.
2) Ebenda 8. 39.
3) Ebenda S. 38.
4) Ebenda S. 40.
5) Herrenhaus 1905/06. Anlagen No. 89, 8. 556.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 591
Entweder handelt es sich um Kreditgewährungen von seiten
derGenossenschaften selbst, oder um Entschuldungsdarlehen
anderer Kreditinstitute, bei denen die Genossenschaften Garan-
tie und sonstige Hilfe leisten.
Das zweite Verfahren ist zuerst in den Ansiedlungs-
provinzen entwickelt worden, wo die Deutsche Mittelstands-
kasse zu Posen, Ges. m. b. H., und die Deutsche Bauernbank
für Westpreußen, Ges. m. b. H. zu Danzig die Hypothekenver-
hältnisse der deutschen Bauern regeln und dabei den deutschen
Grundbesitz auch für die Zukunft der deutschen Hand sichern. —
Die Tätigkeit der Ansiedlungskommission bedurfte einer Ergänzung,
weil „die alteingesessenen deutschen Bauern durch die ungemessene
Steigerung der Grundstückspreise immer mehr in ihrem Besitzstande
gelockert wurden“ !) und die Gefahr erwuchs, daß alter, deutscher
Bauernbesitz in polnische Hand überging. Um dies zu verhüten,
wurde der Versuch unternommen, die Besitzer solcher Bauerngüter
zur Unterwerfung unter entsprechende Eigentumsbeschränkungen
zu veranlassen, wogegen man ihre Verschuldungsverhältnisse regu-
lierte und ihnen den billigen staatlichen Rentenkredit zuführte.
Die Mittelstandskasse wurde am 24. März 1904, die Bauernbank
am 26. März 1906 gegründet. Beide Banken sind Gesellschaften
mit beschränkter Haftung. An der Mittelstandskasse sind beteiligt:
der Preußische Staat, die dem Offenbacher Verbande angehörige
Provinzialgenossenschaftskasse, die Posensche Landgenossenschafts-
bank (Raiffeisen) mit je 400000 M. und die Landbank mit 300000 M.;
an der Bauernbank: der Staat, seit 1909 mit 500000 M., die West-
Bee Provinzialgenossenschaftsbank mit 400000 M. und die
ndschaftliche Darlehnskasse mit 100000 M.
Die Hypotheken werden in der Weise geordnet, daß an erster
Stelle, soweit als es möglich ist, ein Darlehn der Landschaft aufge-
nommen wird; darüber hinaus wird in den Grenzen der von den ört-
lichen Darlehnskassenvereinen und von der Besitzbefestigungsbank,
als Nachbürge, übernommenen Bürgschaft ein Darlehn aus dem An-
siedlungsfonds gegen eine Tilgungsrente von 4 Proz. gewährt. Der
Teil der Rente, welcher 21, Proz. des vom Staate gewährten „Renten-
gegenwerts“ übersteigt, wird zu einem Tilgungsfonds angesammelt;
ihm fließen auch die Jahreszinsen seines jeweiligen Bestandes zu,
welche um die anteilige Renteneinziehungsgebühr (s. unten S. 593)
gekürzt werden. Die Ansiedlungskommission sieht in der Regel von
einer besonderen Taxe ab und stützt sich auf die Taxe der örtlichen
Genossenschaft, welcher der Bauer angehört und welche für das
Darlehn Bürgschaft übernehmen muß. Diese genossenschaftliche
Schätzung hat sich bewährt ?).
Das Besitzbefestigungsverfahren besteht darin, daß der Bauer sein
1) Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit 1886—1906. Berlin 1907, S. 90ff. —
Hartmann, Die deutsche Mittelstandskasse zu Posen. Posen 1906.
2) Zwanzig Jahre, S. 91, Fußnote *.
592 Otto Gerlach,
Grundstück dem Staate (Ansiedlungskommission) aufläßt und von
ihm mit geregelten Besitz- und Hypothekenverhältnissen als An-
siedlungsrenten- und Anerbengut zurück aufgelassen erhält!). Das
Grundstück wird bei der Rückauflassung mit einem Wiederkaufs-
recht zugunsten des Staats (Ansiedlungskommission) belastet, welches
nur ausgeübt werden kann, wenn 1) das Eigentum, der Besitz oder
die Nutzung des Rentenguts ganz oder teilweise durch Vertrag,
Erbgang oder Zwangsversteigerung an eine Person kommt, die ge-
mäß dem einseitigen und freien Ermessen des Präsidenten der An-
siedlungskommission nach den Zielen des Ansiedlungsgesetzes von
1886 keine Anwartschaft auf Ansiedluug hat, insbesondere nicht in
Haus, Kirche und Verkehr deutsch spricht, oder wenn 2) der Eigen-
tümer die mitübernommene Versicherungs- oder Wohnsitzpflicht
verletzt. — Da ein dingliches Wiederkaufsrecht nur bei Rentengütern
zulässig ist, so wird von der Rententilgung der Betrag von 1 M.
jährlicher Rente ausgeschlossen, welcher nur mit Zustimmung beider
Teile abgelöst werden darf. Auch soll diese nicht tilgbare 1 M.-Rente
zugunsten des Staats eingetragen werden, wenn er kein Rentendar-
lehn gewährt hat. Es ist bestritten, ob hierdurch die für die Ein-
tragung des Wiederkaufsrechts erforderliche Rentengutsqualität be-
gründet werden kann ?).
Die Besitzbefestigungsbank besorgt die gesamten Geschäfte zur
Ordnung der Grundbuchverhältnisse und leistet die erforderlichen Vor-
schüsse. Sie haftet als Nachbürge und beaufsichtigt die Verwaltung
der für die bürgenden Genossenschaften zu bildenden „Bürgschafts-
sicherheiten“ (s. unten S. 593). Ausnahmsweise kann die Besitz-
befestigungsbank die Bürgschaft allein übernehmen; in diesem Falle
erhält sie eine Vergütung in Höhe von 0,3 Proz. des Rentengegen-
werts, welche als Zusatzrente erhoben wird. Zur Deckung ihrer
Unkosten erhebt sie einen einmaligen Verwaltungskostenbeitrag,
welcher dem Schuldkapital zugeschlagen wird.
Zur Sicherung aller Ansprüche, welche der Besitzbefestigungsbank
gegen den Grundstückseigentümer entstehen, wird auf dem Grund-
stück zu ihren Gunsten eine Sicherungshypothek eingetragen, deren
Höhe sie nach Bedarf festsetzt. Sie soll mindestens auf ein Viertel
des von dem Eigentümer anzugebenden Grundstückswertes bemessen
werden. Beim Abschluß des Besitzfestigungsverfahrens wird sie dem
bürgenden Verein dadurch mit zur Verfügung gestellt, daß im Grund-
buch eingetragen wird: „Die Sicherungshypothek dient, soweit sie
nicht von der..... (Besitzbefestigungsbank) in Anspruch genommen
wird, auch zur Sicherheit für alle Ansprüche, die dem bürgenden
Verein gegen den Eigentümer entstanden sind oder gegen ihn oder
den jeweiligen Eigentümer des Grundstücks noch entstehen werden.“
1) Bei der Erhöhung des Ansiedlungsfonds im Jahre 1908 (G. v. 20. März) um
200 Mill. M. wurden 75 Mill. M. zur Umwandlung bäuerlicher Güter in Ansiedlungs-
Tobengüter und zur Förderung der Seßhaftmachung von Arbeitern auf dem Lande
estimmt.
2) Entscheidung des Kammergerichts, I. Zivilsenat, v. 12. Juli 1906, I, Y 794/06.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 593
Diese Sicherungshypothek soll eine ähnliche Wirkung wie die Ver-
schuldungsgrenze ausüben und die Eintragung neuer Hypotheken
dadurch verhindern oder doch erschweren, daß sie den realisier-
baren Wert des Grundstücks belegt. Jedenfalls aber soll durch sie
ein hinreichender Teil des Grundstückswertes als reale Unterlage
für den Betriebskredit, welcher bei dem Darlehnskassenverein in
Anspruch genommen werden kann, gesichert und der weiteren Ent-
wicklung des Besitzkredits entzogen werden.
Die bürgende Genossenschaft verpflichtet sich, die Rentenbeträge
für den Staat einzuziehen und binnen zwei Wochen an die Kreis-
kasse abzuführen. Zahlt der Schuldner nicht rechtzeitig, so kann
die Genossenschaft verlangen, daß die Ansiedlungskommission die
Rente im Verwaltungszwangsverfahren beitreibt und an die Ge-
nossenschaft abführt; ihre Zahlung an die Ansiedlungskommission
gilt bis zur Beendigung des Zwangsverfahrens nur als Sicherheits-
leistung. Die bürgende Genossenschaft erhält jährlich eine Renten-
einziehungsgebühr von 0,2 Proz. des Rentenkapitals, d. h. 5 Proz.
der Tilgungsrente, und darf die an die Kreiskasse abzuführenden
Renten um diesen Betrag kürzen. Außerdem erhält sie für die
Uebernahme der Bürgschaft vom Staat die erste Jahresrente ohne
den Tilgungsbetrag, d. h. 3!/⁄ Proz. des Rentenkapitals, zur An-
legung einer Bürgschaftssicherheit; diese dient zur Deckung
von Ausfällen, welche der Bürge auf Grund der Bürgschaft erleidet,
und bildet gleichzeitig eine besondere Sicherheit der Ansiedlungs-
kommission für ihre Rentenforderungen. Die Bürgschaftssicherheit
wird unter Aufsicht der Besitzbefestigungsbank verwaltet und bei dieser
mit 3 Proz. jährlich verziuslich angelegt, soweit sie nicht mit Geneh-
migung der Besitzbefestigungsbank zum Erwerb von Grundeigentum
verwendet wird, welches durch Verpachten zu nutzen ist. Aus den
Zinsen und Landnutzungserträgen wird die „Bürgschaftssicherheit*
solange aufgefüllt, bis sie dem Jahresbetrag der verbürgten Renten
gleichkommt. Die Erträge der vollständig aufgefüllten Bürgschafts-
sicherheit stehen der bürgenden Genossenschaft auch nach Ablauf
der Bürgschaftsverpflichtungen zu und sind zum Nutzen derjenigen
Mitglieder der Genossenschaft, welche ein mit einer Ansiedlungsrente
beliehenes Grundstück besitzen, im Verhältnis des Grundsteuerrein-
ertrages zu verwenden.
Gelingt die Besitzbefestigung in einem ganzen Dorfe derart, daß
eine dauernde deutsche Mehrheit in der Gemeinde gesichert ist, so
kann der Gemeinde von der Besitzbefestigungsbank aus ihren Rein-
erträgen und aus staatlichen Mitteln, welche ihr für diesen Zweck
zur Verfügung gestellt werden, ein Allmendgut oder ein angemessenes
Kapital zum Erwerbe eines solchen überwiesen werden!). Von den
1) Die Mittelstandskasse hat bis zum 1. April 1909 3 Gemeinden mit Land- und
2 mit Geldallmenden im Werte von annähernd 75000 M. ausgestattet; in 5 weiteren
Gemeinden war eine Mehrheit der gefestigten Besitzer erzielt und die Allmendschaffung
eingeleitet, welche etwa 95000 M. beanspruchen wird. Hierdurch wird der bisher zur
Verfügung stehende Fonds erschöpft werden. Es wird der Wunsch geäußert, daß der
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 38
594 Otto Gerlach,
Erträgen sollen 2 zur Herabminderung der Realsteuern der Re-
gulierten dienen und das letzte Drittel als Unterstützung für unbe-
mittelte, alte deutsche Dorfbewohner verwendet werden.
Die Besitzbefestigungsbanken haben ihre Tätigkeit auch auf
größere Güter ausgedehnt !). Bei diesen wird eine Garantie durch Ge-
nossenschaften nicht gefordert, sondern nur die Bank leistet der An-
siedlungskommission Bürgschaft für die Rente und übernimmt ihre
Einziehung. Die Rente beträgt 5 Proz. des vom Staate gewährten
Rentengegenwertes; davon fließt 1 Proz. in den Tilgungsfonds und
1, Proz. an die Besitzbefestigungsbank als Gebühr für die über-
nommene Bürgschaft; diese ermäßigt sich um 0,3 Proz., falls und
solange auf dem Rentengut die Verschuldungsgrenze eingetragen ist.
Nach den neuen „Allgemeinen Bedingungen für die Besitz-
befestigung bäuerlicher Güter“ und „größerer Güter“ kann der Staat
im Einverständnis mit der Besitzbefestigungsbank bei Erbfällen dem
Uebernehmer den durch die Abtragung gedeckten Rententeil zur
Abfindung von Miterben zur Verfügung stellen. Auch kann das
Rentengut auf Antrag des Besitzers mit einer weiteren, zum Er-
werb einer Lebensversicherung für ihn bestimmten, nicht abtrag-
baren Zusatzrente belastet werden; die Versicherungssumme ist
für den Uebernehmer des Rentenguts auf den Erbfall sicherzustellen
und soll zur Abfindung von Miterben verwandt werden.
Die von nationalpolitischen Gesichtspunkten beherrschte Ent-
schuldung in den Ansiedlungsprovinzen beruht hiernach auf dem
Zusammenwirken des Staats (Ansiedlungskommission), der unter staat-
lichem Einfluß stehenden provinziellen Besitzbefestigungsbanken und,
bei der Regulierung von Bauerngütern, der Mitwirkung und Garantie-
leistung kleiner Darlehnsgenossenschaften. Der Weg zum großen
Kapitalmarkt führt durch die Landschaften und durch den Staatskredit.
In den wenigen Jahren ihres Bestehens haben die Besitzbe-
festigungsbanken bereits eine umfangreiche Tätigkeit entfaltet:
Bauernbank Mittelstandskasse
Durch die Besitzbefestigungsbank sind bis
Ende 1909 im Besitz gefestigt ?):
I. Bäuerliche Grundstücke 1347 1629
davon unter 2 ha 88 162
von 2 bis unter 5 ha 218 247
” 5 » D 10 nm 290 357
nm 10 mm DI 20 DI 272 430
UI 20 DI H 50 DI 267 323
HI 50 H D 100 D 145 60
„ 100 ha und mehr 67 50
Allmendfonds außer durch den Gewinnanteil des Fiskus wiederum durch eine größere
Zuwendung aus sonstigen staatlichen Mitteln ergänzt werde.
1) Die Novelle vom 20. März 1908 hat der Staatsregierung 50 Mill. M. zur Ver-
fügung gestellt, um größere Güter mit der Bestimmung zu erwerben, sie im ganzen
oder geteilt als Rentengüter gegen vollständige Schadloshaltung des Staates zu veräußern.
2) Denkschrift über die Ausführung des Gesetzes, betr. die Beförderung deutscher
Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen vom 26. April 1886 für das
Jahr 1909, Anlage XIIa und b. (Haus der Abg., 1910, Drucksache No. 160A.)
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 595
Bauernbank Mittelstandskasse
mit einer Gesamtfläche von ha 35 330 31907
Gesamtbetrag der Hypotheken und sonstigen
Schulden vor d. Besitzbefestigung in 1000 M. 35 854 25 235
Verschuldung der Grundstücke nach der Be-
sitzbefestigung in 1000 M. 36 351 25 023
Davon entfallen auf
Landschaftsdarlehen in 1000 M. 17144 11 997
Rentenkapital der Ansiedelungskommission
in 1000 M. 17 225 11 932
verblieben im Range zurückgetretene Pri-
vathypotheken in 1000 M. 1 982 1094
Durch die Besitzbefestigung haben sich
die Jahresleistungen verringert in 1000 M.
um 179 139
die Zinsen verringert in 1000 M. um 339 256
I. „Größere“ Güter!) 12 6
mit eine Gesamtfläche von ha 5031 3 769
Verschuldung vor der Besitzbefestigung in
1000 M. A 098 2971
Verschuldung nach der Besitzbefestigung in
1000 M. 4082 2 971
Durch die Besitzbefestigung haben sich ver-
ert
die Jahresleistungen um 1000 M. 4 4
die Zinsen um 1000 M. 18
18
(bis1.III.1909)?)
Die Besitzbefestigungsbank allein hat Bürg-
schaft übernommen bei Grundstücken 138
mit einer Gesamtfläche von ha 5 803
Bentenkapital in 1000 M. 2 393
jährliche Rente „ 1000 , 100
Bürgschaft übernommen haben Spar- und
Darlehnskassenvereine 120
bei Grundstücken 765
mit einem Rentenkapital von 1000 M. 9618
und einer jährlichen Rente von 1000 M. 405
Bürgschaftssicherheitsfonds der Spar- und
Darlehnskassenvereine in 1000 M. 330
Ihre jährliche Einziehungsgebühr in 1000 M. 19
In Ostpreußen hat die 1906 in Tätigkeit getretene Ostpreußi-
sche Landgesellschaft m.b.H. zu Königsberg i. Pr.,
auf deren Gründungsgeschichte und innere Organisation wir später,
bei der Kolonisationsfrage zurückkommen, die Entschuldung bäuer-
licher Besitzungen unter Mitwirkung der Raiffeisenvereine in die
Wege geleitet). Zu den ihr zugewiesenen Aufgaben gehörte die
„Befestigung des vorhandenen Bauernbesitzes in der Provinz Ost-
preußen ... durch den Versuch der Regelung der Schuldverhält-
nisse bäuerlicher Güter“. Des Deutschtums ist nicht ausdrücklich
Erwähnung geschehen: die nationalen Gegensätze sind in Ost-
1) Auf Grund der Novelle vom 20. März 1908.
2) Nachweisung II der durch Vermittlung der Deutschen Bauernbank für West-
preußen in Ansiedlungsrentengüter umgewandelten Grundstücke. Aufgestellt am
1. März 1909.
3) Vgl. Ostpreußische Landgesellschaft m. b. H. Bericht für die Zeit vom März
1906 bis Oktober 1908, Königsberg 1908.
38*
596 Otto Gerlach,
preußen zurzeit noch wenig zugespitzt. Es kann aber kein Zweifel
darüber bestehen, daß auch hier der Kampf gegen das vordringende
Slaventum bevorsteht, und daß die Befestigung des „vorhandenen“
Bauernbesitzes einen Wall aufbauen soll.
Die Ostpreußische Landgesellschaft gewährt den Bauern gegen
eine Tilgungshypothek Darlehen zur Ablösung der Nachhypotheken
und etwaiger Personalschulden sofern und soweit der Spar- und
Darlehnskassenverein (Raiffeisen), welchem der Bauer angehört,
selbstschuldnerische Bürgschaft übernimmt. Für die erststellige Be-
leihung wird der landschaftliche Kredit benutzt. Die Landgesell-
schaft lombardiert die für sie eingetragenen Tilgungshypotheken bei
der Ostpreußischen Provinzialhilfskasse, welche die erforderlichen
Mittel durch Ausgabe von Provinzialanleihescheinen bereitstellt.
Nach den Bestimmungen der Provinzialhilfskasse trägt der
Darlehnsnehmer die Kursdifferenz, soweit die Provinzialanleihen unter
100,25 stehen. Diesen Verlust muß der Bauer übernehmen; dabei
unterstützt ihn die Landgesellschaft durch ein Zusatzdarlehn von
3 Proz.!). Auch die einmalige Unkostenentschädigung, welche sie
in Höhe von 2 Proz. des Darlehns beansprucht, stundet sie und
läßt beide Zusatzdarlehen durch die für die Tilgungshypothek ausbe-
dungene Jahresleistung mit verzinsen und tilgen; dingliche Sicherheit
für den Kapitalbetrag der Zusatzdarlehen wird durch eine Sicherungs-
hypothek hinter der Tilgungshypothek bestellt.
An Jahresleistungen übernimmt der Bauer 6 Proz. des durch die
Tilgungshypothek sichergestellten Hauptdarlehns, deren Verwendung
aus der nachstehenden Zusammenstellung ersichtlich ist.
Provinzialhilfskasse: Zinsen 3,5 Proz.
Verwaltungskostenbeitrag ol D
Tilgung 1,5 » BL Proz.
Darlehnskassenverein: Einziehunsvergütung 0,2 Proz.
Betriebsrücklage 0,15 ,„ 0,35 Proz.
Landgesellschaft: Sicherungsrücklage oi Proz.
Verzinsung und Tilgung zweier Zusatz-
darlehen von 3 Proz. Kursverlustaus-
gleich und 2 Proz. Unkosten 0,45 , 0,55 Proz.
Die Betriebsrücklage des Vereins verwaltet die Landgesellschaft,
verzinst sie mit 3!/, Proz. und zahlt sie nach vollständiger Tilgung
des Darlehns an den Verein aus; mit Hilfe der Betriebsrücklagen
sollen die Vereine in einer freilich etwas fernen Zukunft Land
(Wald und Wiesen) erwerben.
Die Tilgung des Darlehns wird in etwa 35 Jahren durchgeführt.
Sie kann, wenn an erster Stelle ein landschaftliches Darlehn steht,
mit Hilfe des bei der Landschaft angesammelten Tilgungsfonds sowie
durch Erweiterung der landschaftlichen Beleihung auf Grund neuer
Taxen, welche den seit der letzten Taxe etwa gehobenen Kulturzu-
stand berücksichtigen, verkürzt werden. Der Schuldner ermächtigt
1) Ueber die 1910 vom Provinziallandtag beschlossene Gewährung eines Zusatz-
darlehns zum Ausgleich der Kursdifferenz, sofern sie 3 Proz. übersteigt, s. u. S. 600 f.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 597
die Landgesellschaft zur Abhebung des landschaftlichen Tilgungs-
guthabens, sobald er darüber verfügen kann. Auch verpflichtet er
sich, eine neue landschaftliche Taxe zu beantragen, wenn der
bürgende Verein es verlangt. Er darf jederzeit Teilbeträge auf das
Tilgungsdarlehn abzahlen, ist auch zur Kündigung desselben mit
sechsmonatiger Frist berechtigt. Er ist aber nicht befugt, über ge-
tilgte Teilbeträge zu verfügen und verzichtet auf Erteilung löschungs-
fähiger Teilquittungen.
Die Landgesellschaft darf — nach ihrer Druckschrift „Entschul-
dung bäuerlicher Güter“ — nicht kündigen; sie ist nur unter folgenden
Voraussetzungen berechtigt, die Hauptforderung jederzeit sofort und
ohne Kündigung zurückzufordern: wenn die geschuldeten Leistungen
nicht pünktlich entrichtet werden; wenn die Zwangsverwaltung oder
Zwangsversteigerung des belasteten Grundstücks angeordnet wird;
wenn die Rechtsgültigkeit oder der Rang der Tilgungs- oder der
Sicherungshypothek bestritten wird; wenn über das Vermögen des
Schuldners der Konkurs eröffnet wird oder wenn er seine Zahlungen
einstellt; wenn nicht auf Verlangen des bürgenden Vereins die
ordnungsmäßige' Versicherung der Gebäude gegen Feuer nachgewiesen
wird; wenn der Schuldner über den bei der Landschaft angesammelten
Tilgungsfonds ohne Einwilligung der Landgesellschaft verfügt oder
trotz des Verlangens des Vereins die landschaftliche Neutaxierung
nicht beantragt; wenn es der bürgende Verein mit Rücksicht auf
die Wirtschaftsführung des Schuldners verlangt; — wenn der
Schuldner aus dem bürgenden Verein ausscheidet; wenn der bürgende
Verein sich auflöst oder!) durch Austritt einer größeren Zahl seiner
Mitglieder die durch die Bürgschaftsleistung übernommene Sicher-
heit wesentlich geschmälert wird. Schließlich ist die Landgesellschaft
auch noch zur sofortigen Zurückforderung berechtigt, wenn das be-
lastete Grundstück ohne vorgängige schriftliche Genehmigung ver-
äußert oder verpachtet oder weiter belastet wird.
Außerdem unterwirft sich der Bauer einer Vertragstrafe für
den Fall, daß er das unter den vorgenannten Bedingungen zur so-
fortigen Rückzahlung fällig gewordene Entschuldungsdarlehn nicht
binnen 3 Tagen nach Zustellung der Zahlungsaufforderung einzahlt.
Zur Sicherung dieser Vertragstrafe und aller weiteren Ansprüche
der Landgesellschaft aus dem Vertragsverhältnis, insbesondere der
Zusatzdarlehen, wird hinter der Tilgungshypothek eine Sicherungs-
hypothek eingetragen. Sie soll gleichzeitig „verhindern, daß der Eigen-
tümer die Arbeit des Vereins und der Landgesellschaft durch Ein-
tragung neuer, hochverzinslicher Schulden wieder zunichte macht“.
Schließlich soll sie „aber auch die für weitere wirtschaftlich ge-
rechtfertigte Kreditgewährung des Vereins erforderliche Stelle im
Grundbuch offen halten. Der bürgende Spar- und Darlehnskassen-
verein wird mit der Landgesellschaft ein Abkommen dahin treffen
1) Diese Bestimmung, deren Mitteilung ich dem Vorstande der Landgesellschaft
verdanke, ist in der im Bericht für 1906—1908 abgedruckten Eintragungsbewilligung
noch nicht enthalten.
598 Otto Gerlach,
können, daß sie ihm die Sicherungshypothek im Falle der Not in
ausreichendem Umfange zur Verfügung stellt“ 1).
Ein Teil der Darlehnsbedingungen betrifft die Sicherheit der
Landgesellschaft und des bürgenden Vereins; dagegen sollen die
Beschränkungen der Veräußerung, Verpachtung und hypothekarischen
Belastung verhüten, daß die mit der Entschuldung von der Land-
gesellschaft verfolgten Zwecke gefährdet werden. Da es zur Ver-
äußerung und Verpachtung ihrer Genehmigung bedarf, kann sie den
Uebergang der bäuerlichen Besitzung nicht nur an zu kapital-
schwache Erwerber, welche eine zu geringe Anzahlung leisten, son-
dern auch an Polen verhindern. Während in den Ansiedlungs-
provinzen dies Ziel der Besitzbefestigung durch die Einführung des
staatlichen Wiederkaufsrechts gesichert wird, versucht man es in
Ostpreußen auf anderem Wege zu erreichen. Ein dingliches Wieder-
kaufsrecht ist nur bei Rentengütern zulässig. Da man bei der
Entschuldung durch die Landgesellschaft von der Umwandlung
der zu regulierenden Besitzungen in Rentengüter abgesehen hat,
will man denselben Erfolg durch vertragsmäßige Eigentumsbe-
schränkungen erzielen. Nach BGB. $ 1136 sind aber Verein-
barungen, durch die sich der Eigentümer dem Gläubiger gegenüber
verpflichtet, das Grundstück nicht zu veräußern oder nicht weiter
zu belasten, nichtig. Die Vereinbarung, das Grundsück nur mit
Genehmigung des Gläubigers veräußern oder belasten zu dürfen,
steht dem gleich. Mit der Nichtigkeit einer solchen Abrede fällt
auch die Vertragstrafe, welche sie nach den früher gültigen Be-
stimmungen der Landgesellschaft sichern sollte, Wohl kann nach
Art. 119 Z. 1 EG. die Landesgesetzgebung Vorschriften erlassen,
nach denen die Veräußerung eines Grundstücks beschränkt wird,
sie kann die Beschränkung auch von der Zustimmung dieser oder
jener Stelle abhängig machen ?), aber eine solche landesgesetzliche
Bestimmung besteht für Preußen nicht. Solange die Tilgungs-
hypothek in beträchtlicher Höhe besteht, mag die Besorgnis, daß sie
zurückgefordert wird, davon abhalten, das Grundstück ohne Ge-
nehmigung zu veräußern. Nach der neuen, oben mitgeteilten Be-
stimmung tritt außerdem eine Vertragsstrafe hinzu, wenn die Rück-
zahlung nicht binnen 3 Tagen stattfindet. Eine dauernde, von dem
Bestehen der Tilgungshypothek unabhängige Sicherung des Besitzes
in deutscher Hand wird aber nach dem geltenden Recht auf dem
von eg Besitzbefestigungsbanken eingeschlagenen Wege sicherer
erreicht.
Der dem Entschuldungsverfahren der Landgesellschaft zugrunde
liegende Gedanke verdient Zustimmung: die zum Teil recht verworrenen
1) Aus der Drucksache der Landgesellschaft „Entschuldung bäuerlicher Güter“
vom Dezember 1906, abgedruckt im „Bericht für die Zeit vom März 1906 bis Oktober
1908“.
2) Vgl. Planck, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 6, 8. 239. —
Arndt, Kann landesgesetzlich der Erwerb oder die Veräußerung von Grundeigentum
eingeschränkt werden? (Archiv für öffentliches Recht, Bd. 25, 1909), S. 473 f.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 599
bäuerlichen Schuldverhältnisse sollen geordnet, die kündbaren und
hoch verzinslichen Schulden durch niedrig verzinsliche Tilgungs-
schulden ersetzt werden; die landschaftliche Beleihung bleibt auch
in Zukunft für den Besitzkredit frei; die dahinter stehende Tilgungs-
hypothek und die ihr folgende Sicherungshypothek erschweren fürs
erste eine weitere Belastung mit Besitzkredit; die Sicherungshypothek
bietet eine reale Grundlage für den Betriebskredit; mit zunehmender
Tilgung werden auch Teile der Tilgungshypothek für diesen Zweck
frei. Soll aber diese Reform dauernde Erfolge zeitigen, so müßte
die Eintragung der Verschuldungsgrenze hinzukommen.
Die Darlehnskassenvereine eignen sich wegen der persönlichen
Fühlung ihrer Leiter mit dem Bauern zur Mitwirkung bei der Ent-
schuldung. Sie können am sachgemäßesten die Höhe der Gefahr
abwägen, welche sie durch ihre Bürgschaft übernehmen. Auch können
sie in Zukunft darüber wachen, daß die dem Bauern eingeräumten
Kredite zur Verstärkung der Betriebsmittel verwendet werden, daß
angemessene Rückzahlungen erfolgen, daß der eingeräumte Betriebs-
kredit beweglich erhalten wird und nicht zum Besitzkredit erstarrt.
Die Zusammenarbeit der Landgesellschaft und der Darlehns-
kassenvereine beruht auf gegenseitigem Vertrauen. Die Vereine über-
nehmen erhebliche Bürgschaften, während die dinglichen Sicherheiten
nur in der Hand der Landgesellschaft ruhen: die Zusammensetzung
und der Charakter der Landgesellschaft bieten ihnen aber Gewähr,
daß die Pfandrechte auch zu ihrer Sicherung gehandhabt werden.
Die Landgesellschaft muß sich — obwohl sie selbstverständlich auch
ihrerseits die Sicherheit der Tilgungsdarlehen prüft und fortdauernd
überwacht — auf die Mitarbeit der Vereine bei der Kreditgewährung
und bei der Einziehung der Jahresleistungen, sowie auf den ge-
sicherten Bestand der einzelnen bürgenden Vereine auch in der Zu-
kunft verlassen können. Die gesunde Entwicklung der Darlehns-
kassenvereine und ihre straffe Disziplinierung in der Raiffeisen-
organisation rechtfertigt ein weitreichendes Vertrauen. Man muß
aber bei der langen, etwa 35—40 Jahre währenden Abwicklung des
Geschäfts mit der Möglichkeit rechnen, daß ein Verein während
dieser Zeit durch Ausscheiden der wohlhabenden Mitglieder seine
wirtschaftliche Kraft einbüßt und die übernommene Bürgschaft nicht
mehr vertreten kann. Es ist daher berechtigt, daß die Landgesell-
schaft sich für solche Fälle das Kündigungsrecht vorbehält.
Die Verbindung mit dem Kapitalmarkte wird durch den Provinzial-
verband eröffnet, welcher die Entschuldungshypotheken beleiht und
zu diesem Zwecke Obligationen ausgibt. Die hohe Tilgung von
Li Proz., welche er fordert, macht es notwendig, daß die Jahres-
leistung des Schuldners auf 6 Proz. festgesetzt wird. Ist dies auch
ein sehr hoher Betrag, so muß doch der Bauer für private Hypo-
theken und für Privatschulden nicht erheblich weniger, oft noch
mehr zahlen, so daß sich die Regulierung zur Not auch auf der
Grundlage von 6 Proz. durchführen lassen wird. Aber der Kredit-
nehmer muß außerdem den Kursverlust tragen, welcher zurzeit etwa
600 Otto Gerlach,
9 Proz. beträgt. Dieser schlägt sich in der einen oder anderen
Form in einer gleich großen Erhöhung des Schuldkapitals nieder.
Dadurch wird das Entschuldungswerk außerordentlich gehemmt.
Die nach der Reorganisation der Landgesellschaft im Jahre 1909!)
erlassene Dienstanweisung für ihre Geschäftsführung ?) bestimmt, daß
für Zwecke der Regelung der Schuldverhältnisse nur die vom Aufsichts-
rat hierfür besonders ausgeworfenen Mittel, jedoch nicht mehr als
600000 M. verwendet werden; auch diese Mittel dürfen zur Ge-
währung von Realkredit nur vorübergehend in Anspruch genommen
werden. Die Direktoren sollen auf diesem Gebiete in steter Fühlung
mit der Provinzialhilfskasse arbeiten und, soweit die Beleihung unter
Mitwirkung der Provinzialhilfskasse erfolgt, die von ihr über die
Höchstgrenze der Beleihungssumme, sowie über die Größe der be-
leihungsfähigen Grundstücke aufgestellten Grundsätze beachten. Vor
der Einleitung des Entschuldungsverfahrens ist der Antragsteller auf
die Vorteile der landschaftlichen Beleihung und auf das landschaft-
liche Entschuldungsverfahren hinzuweisen. Die Regelung der Ver-
schuldungsverhältnisse bäuerlicher Güter ist nur dann in Angriff zu
nehmen, wenn eine leistungsfähige örtliche Genossenschaft m. u. H.
selbstschuldnerische Bürgschaft übernimmt, und wenn Aussicht vor-
handen ist, den Besitzer durch Minderung seiner Jahresschuldzinsen
dauernd in seinem Besitz zu halten oder ihn, wenn seine Schulden-
last zu groß ist, im Wege der Veräußerung des Grundstücks durch
einen anderen geeigneten deutschen Besitzer zu ersetzen. Durch
Eintragung einer Sicherungshypothek soll eine weitere Belastung
des Grundstücks nach Möglichkeit verhütet werden. Von einer Ent-
schuldung durch die Landgesellschaft ist Abstand zu nehmen, so-
bald die Landschaft das Entschuldungsverfahren durch Eintragung
der Verschuldungsgrenze durchgeführt hat. — Die Provinzialhilfs-
kasse hat die Beteiligung am Entschuldungsverfahren auf klein-
bäuerliche Grundstücke beschränkt, deren landschaftlicher Taxwert
18000 M. nicht überschreitet, und die Höchstgrenze für Entschuldungs-
darlehen auf 6000 M. festgesetzt 3).
Bis zum 30. September 1909 lagen 319 Anträge von 48 Spar-
und Darlehnskassenvereinen m. u. H. und 3 Hilfsvereinen m. b. H.
vor. Durch Eintragung erledigt waren 194 Anträge mit einer Dar-
lehnssumme von 1294280 M. und einer beliehenen Fläche von
2013 ha. Die Provinzialhilfskasse hat hiervon 827380 M. erstattet.
Das kleinste Darlehn belief sich (bis 1908) auf 300 M., das größte
auf 44400 M. Der ungünstige Kursstand der Provinzialanleihescheine
hat die Landgesellschaft gezwungen, eine Reihe von Anträgen ab-
zulehnen und den Mitgliedern der Raiffeisenvereine die äußerste
Einschränkung ihrer Kreditansprüche zu empfehlen $).
Neuerdings (1910) hat der Provinziallandtag beschlossen, daß
1) Vgl. unten 8. 644.
2) Bericht 1908—1909, Anlage B § 13.
3) Bericht 1908—1909, 8. 33.
4) Bericht 1906—1908, S. 30; Bericht 1908—1909, $. 34.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 601
die Provinzialhilfskasse den Kursverlust, soweit er 3 Proz. über-
steigt — bis zu 3 Proz. gewährt die Landgesellschaft ein Zusatz-
darlehn (s. oben S. 596) — auf Antrag des Darlehnsnehmers vor-
schießen und nebst 4 Proz. Zinsen aus den ersten Tilgungsraten
des Hauptdarlehns decken darf. Hiernach wird dem Darlehnsnehmer
der volle Nennwert ausgezahlt werden, die Jahresbelastung (6 Proz.)
erfährt keine Erhöhung, es wird nur die Tilgungsdauer verlängert:
bei 9 Proz. Kursverlust und 6 Proz. Kursdifferenz-Ausgleichsdarlehn
der Hilfskasse von 35 auf etwa 40 Jahre. Dieser Beschluß bedarf
noch der ministeriellen Genehmigung.
Obwohl inzwischen die Landschaft ihre Entschuldungstätigkeit
aufgenommen hat, welche sich auch auf den Kleingrundbesitz er-
streckt, glaubt die Landgesellschaft auch in Zukunft an der Lösung
der ihr auf diesem Gebiete gestellten Aufgaben arbeiten zu müssen;
denn sie ist der Ansicht, daß das Entschuldungsverfahren mit
Eintragung der Verschuldungsgrenze für den Kleinbesitz aus wirt-
schaftlichen Gründen nicht in Betracht komme; der Versuch der
Landschaft aber, eine Entschuldung des bäuerlichen Besitzes ohne
Eintragung der Verschuldungsgrenze einzuleiten, sei wegen der ver-
sagten Zustimmung der Zentralinstanz zu den gemachten Vor-
schlägen gescheitert!). Zur Erfüllung ihrer Aufgabe fordert die Land-
gesellschaft die „Gewährung eines billigen und ausreichenden Staats-
kredits und dessen Verwendung nach dem Muster der bestehenden
Regulierungsbanken in Posen und Westpreußen“ ?).
Die zweite Art, in welcher sich Genossenschaften an
der Entschuldung bäuerlicher Besitzer beteiligen können, besteht
darin, daß sie selbst die Entschuldungsdarlehen ge-
währen. Ende 1906, als die Ostpreußische Landschaft dem Ent-
schuldungsproblem näher trat, war diese Frage noch nicht geklärt.
Zwar haben die Genossenschaften auch schon früher bei der Re-
gulierung von Belastungsverhältnissen mitgewirkt, sie haben auch
häufig hypothekarische, kündbare Darlehen gegeben; vielfach wurden
Sicherheitshypotheken als Grundlage für Krediteinräumung verlangt
und bestellt; auch hatten im Schoße der Preußischen Zentral-
genossenschaftskasse Erwägungen darüber stattgefunden, wie man
die Genossenschaften in den Dienst der Entschuldung stellen konnte:
zu einer Klärung der Anschauungen und zur planmäßigen Arbeit
ist es erst in den letzten Jahren, 1907—1909 gekommen.
Der Präsident der Preußenkasse Heiligenstadt?) hat das
Verdienst, die Generalidee für die genossenschaftliche Entschuldung
entworfen und ihre Durchführung vorbereitet zu haben. Nach seiner
1) Siehe unten S. 628.
2) Bericht 1908—1909, 8. 341.
3) Vgl. zum folgenden die Auseinandersetzung zwischen Crüger und Heiligen-
stadt in den Mitteilungen über den 48. Allgemeinen Genossenschaftstag des All-
gemeinen Verbandes der auf Selbsthilfe beruhenden Deutschen Erwerbs- und Wirt-
schaftsgenossenschaften zu Leipzig, 1907.
602 Otto Gerlach,
Beobachtung nahmen mit der Entwicklung der Spar- und Darlehns-
kassenvereine die ländlichen Spareinlagen in einem solchen Um-
fange zu, daß sie im personellen Darlehnsgeschäft der Vereine nicht
mehr Verwendung finden konnten. Die berechtigte Auffassung, daß
die Sparkapitalien möglichst dort, wo sie gebildet werden, Anlage
suchen und nicht dem zentralen Kapitalmarkt zugeführt werden
sollen, führte zu der Erwägung, ob sich den ländlichen Sparkapitalien
auf dem Lande selbst Anlagegelegenheit bieten ließe: Dort haben
sich vielfach, bevor das ländliche genossenschaftliche Kreditwesen
entwickelt war, Betriebsschulden in Hypothekenschulden verwandelt
und sind dadurch unbeweglich geworden. Es gilt, diese fälschlich
inkorporierten Betriebskredite in reine Betriebskredite zurückzuver-
wandeln: darauf können leistungsfähige Darlehnskassenvereine ihre
Geschäfte ausdehnen und gleichzeitig die erststellige Hypothek auf
die Landschaften übertragen helfen. Selbsverständlich muß für
volle Liquidität der Genossenschaft Vorsorge getroffen werden. Zur
richtigen Organisation des Kredits bedarf es „der Ausbreitung des
gemeinwirtschaftlichen Anstaltskredits (Landschaften u. dgl.) unter
entsprechender Zurückdrängung des nicht organisierten Kredits —
der Verallgemeinerung und Ausgestaltung der Tilgungspflicht —
geeigneter Maßnahmen zur Verhütung der Neu- und Weiter-
verschuldung — des Aufbaues eines starken und gut organisierten
Personalkreditwesens, das in der Lage ist, dem vorhandenen, über
die Beleihungsgrenze der Landschaften usw. hinausgehenden und
bisher zu Unrecht in den Formen und nach den Grundsätzen des
Anlagekredits befriedigten Kreditbedürfnisse in Zukunft nach den
Geschäftsregeln des Personalkredits zu entsprechen — und schließ-
lich des einheitlichen Hand in Hand Arbeitens der gemeinwirtschaft-
lichen Real- und Personalkreditanstalten“ !).
Der schwerwiegendste Einwand gegen die Beteiligung der
Genossenschaften an der Entschuldung, den auch Crüger erhebt,
ist der, daß „Personalgenossenschaften, bei denen die Mitglieder in
kürzester Frist sich all ihren Mitgliedschaftspflichten entziehen
können“, sich nicht für Kreditgeschäfte eignen, deren Abwicklung
sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Bei der Besprechung der
Mitwirkung von Raiffeisenvereinen an der Entschuldung der Ost-
preußischen Landgesellschaft haben wir ihn bereits berührt. Eine
ausschlaggebende Bedeutung wird man ihm aber nicht beimessen
können. Die stetige und gesunde Entwicklung des ländlichen
Darlehnskassenwesens berechtigt zu dem Vertrauen, daß eine die
Geschäftsabwicklung gefährdende Mitgliederflucht nur ganz aus-
nahmsweise vorkommen wird. Immerhin mahnt der innere Wider-
streit zwischen dem Charakter des Personenvereins und langjährigen
Kreditgeschäften zu großer Vorsicht in jedem einzelnen Falle.
1) Aus der Begründung zum Entwurf eines Abänderungsgesetzes zu dem Gesetze,
betr. die Errichtung einer Zentralanstalt zur Förderung des genossenschaftlichen Personal-
kredits vom 31. Juli 1895. Beichsanzeiger, 2. Februar 1909.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 603
Beachtenswert ist auch die Ansicht Crügers, daß der Ersatz
von Hypothekenschulden, welche hinter der mündelsicheren Grenze
stehen, durch Personalschulden vielfach darauf hinauslaufen würde,
„billigeren und passenderen durch teueren und unpassenden Kredit
zu ersetzen“, wenn auch diser Einwand mehr Bedeutung für den
Großgrundbesitz als für den bäuerlichen Besitz hat. Wir kommen
auf diese Erwägung später zurück.
Weitere Bedenken richten sich dagegen, daß durch die unkünd-
baren Entschuldungsdarlehen die Liquidität der Genossenschaften
leiden kann: Da die Einlagen bei ihnen jederzeit fällig oder mit
verhältnismäßig kurzer Frist kündbar sind, dürften sie nicht ihrerseits
unkündbare Darlehen ausgeben. Auch habe die Anlage von Ge-
nossenschaftsmitteln bei Banken eine innere Berechtigung, weil durch
sie gerade die Liquidität erhöht werde.
Dies Bedenken muß zunächst auf das richtige Maß zurück-
geführt werden !): man muß bei den Einlagen Kontokorrentgelder,
Depositen und Spargelder unterscheiden. Während die beiden
ersten schnell umschlagen und deshalb nur zu einem sehr kleinen
Teil in langfristigen Krediten angelegt werden dürfen, sind die
Spargelder zur festen Anlage bestimmt und werden nur im Notfalle
zurückgefordert. Sie können daher in größerem Umfange in Hypo-
theken angelegt werden. Nur bedarf es geeigneter Maßnahmen zur
Aufrechterhaltung der Liquidität.
Auf diesen Standpunkt hat sich auch 1907 der 23. Deutsche
landwirtschaftliche Genossenschaftstag in Münster mit
folgendem Beschluß gestellt: „Die Entschuldung des ländlichen Grund-
besitzes ist nur unter der Mitwirkung der ländlichen Genossenschaften
möglich. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Umwandlung der Nach-
hypotheken in eine Personalschuld herbeizuführen. Inwieweit sich
die Genossenschaften bei dieser Aufgabe mit den öffentlichen Real-
kreditinstituten in Verbindung zu setzen haben, wird von den
örtlichen Verhältnissen abhängen. Zur Aufrechterhaltung der Liqui-
dität der Kreditgenossenschaften ist geboten, daß diesen die erforder-
liche Rückendeckung durch mit ausreichenden Mitteln ausgestattete
staatliche Institute gewährt wird. Es gehört zu den wichtigsten
Aufgaben, die Umwandlung der kündbaren Hypotheken in unkünd-
bare und amortisable mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu
betreiben.“
Diese Rückendeckung zu schaffen, hat sich die Zentral-
genossenschaftskasse angelegen sein lassen und sie ist durch
die Erhöhung ihres Grundkapitals um 25 Mill. M. (Ges. vom 13. Juli
1909) in die Lage versetzt worden, Einrichtungen im Interesse der
Liquidität derjenigen Genossenschaften, welche ihre Tätigkeit auf
die Entschuldung ausdehnen, zu schaffen.
Bereits 1906 hatte der Gesamtausschuß der Zentralgenossen-
schaftskasse durch einstimmigen Beschluß Grundsätze über „die
1) Heiligenstadt auf dem 48. Genossenschaftstage des Crügerschen Verbandes.
604 Otto Gerlach,
Mitwirkung der auf dem Gesetz vom 1. Mai 1889 beruhenden länd-
lichen Kreditgenossenschaften bei der weiteren Ausgestaltung des
landwirtschaftlichen Kredites und bei der Entschuldung des mittleren
und kleineren Grundbesitzes“ !) festgestellt. In denselben wird
eine erhöhte Fürsorge für die Liquidität des ländlichen Genossen-
schaftswesens als unerläßliche Voraussetzung für die Mitwirkung
der Genossenschaften bei der ländlichen Kreditreform bezeichnet.
Die Erörterung über die hierzu erforderlichen Maßnahmen hat zu
folgendem Beschluß geführt:
„Maßnahmen zur Erhaltung der Liquidität des länd-
lichen Genossenschaftswesens?).
(Vgl. No. IV Abs. 4 des Beschlusses des Gesamtausschusses
vom 10. Mai 1906).
„Zur Erhaltung der Liquidität des ländlichen Genossenschafts-
wesens erscheinen folgende Maßregeln erforderlich:
„A. bei den Einzelgenossenschaften (in der Hauptsache
Kreditgenossenschaften).
Sie müssen — je nach Lage ihrer sonstigen Verhältnisse, ins-
besondere der Höhe des eigenen Vermögens, der Art der Anlage im
Vereinsbezirke, der Kündigungsbedingungen für die Einlagen (siehe
unter Aa bis d) — mindestens 20 bis 30 Proz. ihrer Einlagen bei
ihrer Verbandskasse flüssig machen können. Es muß also
ihr offener Kredit zuzüglich ihres etwaigen Guthabens bei der Ver-
bandskasse 20 bis 30 Proz. ihrer Einlagen betragen.
Man wird sich mit 20 Proz. begnügen können, wenn alle nach-
folgend unter a bis d aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind,
dagegen 30 Proz. fordern müssen, wenn sie alle nicht erfüllt sind.
a) Mindestens 30 Proz. der Einlagen sind in Forderungen an-
zulegen, die innerhalb der nächsten Ernteperiode fällig werden.
b) Das eigene Kapital muß in ein angemessenes Verhältnis zu
den fremden Geldern gebracht werden. Zum Zwecke der schnelleren
Ansammlung von Reserven ist ferner bei den Spar- und Darlehns-
kassen, soweit sie überhaupt Dividende zahlen, deren statutenmäßige
Beschränkung auf 4 Proz. erwünscht.
c) Spar- und Depositengelder von größeren Beträgen sind nur
gegen längere, auch in gewöhnlichen Zeiten tatsächlich einzuhaltende
Kündigungsfrist und entsprechend höheren Zinssatz anzunehmen.
d) Die Genossenschaften müssen zu ihrer Verbandskasse im
Ausschließlichkeitsverhältnis stehen.
„B. Bei den Verbandskassen.
I. Den Verbandskassen liegt in erster Linie die Fürsorge für
die Aufrechterhaltung der Liquidität des Genossenschaftswesens ob.
Sie müssen jederzeit flüssig machen können:
1) Abgedruckt als Anlage 2* zur Begründung des Entwurfes eines Abänderungs-
gesetzes zu dem Gesetz betr. die Errichtung einer Zentralanstalt zur Förderung des
genossenschaftlichen Personalkredits. Reichsanzeiger, 2. Februar 1909.
2) Abgedruckt ebenda als Anlage 2.
Landwirtsehaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 605
1) die gemäß A seitens der angeschlossenen Genossenschaften
bei ihnen unterhaltenen Guthaben (Liquiditätsguthaben),
2) sonstige Genossenschaftsguthaben sowie unmittelbare, bei der
Verbandskasse von Einzelpersonen gemachte Einlagen,
3) die den Genossenschaften zugesagten, nicht abgehobenen
(offenen) Kredite.
Zu 1 und 3 wird die Verbandskasse mit der Notwendigkeit
rechnen müssen, im Ernstfalle die ganzen Beträge oder doch einen
sehr hohen Prozentsatz flüssig machen zu müssen, während zu 2
die Abhebungen nicht den gleichen Umfang annehmen und sich
vielleicht auf etwa 30 Proz. stellen dürften.
II. Dazu stehen der Verbandskasse zur Verfügung:
a) ihr offener Kredit bei ihrer Bankverbindung (Preußische
Zentralgenossenschaftskasse), zu dessen Flüssigmachung sie sich
zum Teil Wechsel ihrer kreditnehmenden Genossenschaften be-
sorgen muß,
b) solche Inhaberpapiere, insbesondere Schatzscheine, die zur
Lombardierung für den Fall der Krisis bei ihrer Bankverbindung
(Preußische Zentralgenossenschaftskasse) hinterlegt, in gewöhnlichen
Zeiten aber als Kreditunterlage nicht in Anspruch genommen werden.
Auf sonstige Kreditquellen können die Verbandskassen im Ernst-
falle nicht rechnen. Die offenen Kredite und die Inhaberpapiere
müssen also zur Deckung der Verpflichtungen unter I ausreichen.
Da man damit rechnen muß, daß die Inhaberpapiere in schwierigen
Zeiten nur zu ?/, ihres Normalkurses beliehen werden, wird man
hiernach formulieren können:
„„Die Verbandskassen müssen einen so großen, freien Bestand
an Inhaberpapieren zwecks Hinterlegung und Lombardierung im
Krisenfalle besitzen, daß ?/, ihres Kurswertes zuzüglich des ihnen
zugesagten, offenen (nicht ausgenutzten) Kredits ausreichen, um
a) mindestens 75 Proz. der sogenannten „Liquiditätsguthaben*
und der den Genossenschaften zugesagten offenen Kredite,
b) mindestens 30 Proz. der sonstigen fremden Gelder aus
Kundenkreisen flüssig zu machen.“ “
Die Erhöhung der Liquidität will die Zentralgenossenschaftskasse
dadurch fördern, daß sie denjenigen Verbandskassen und zugunsten
derjenigen Genossenschaften, die vorstehende Grundsätze für sich
durchgeführt und ihre Aufrechterhaltung sichergestellt haben, eine
Krediterhöhung zusagt. Dadurch werden zwei Vorteile erreicht:
1) die Verbesserung der Liquidität durch Erweiterung des jederzeit
und unter günstigen Bedingungen flüssig zu machenden Bankkredits;
2) die Verminderung des Betrags der Einlagen, welche in liquider,
also in der Regel minder ertragreicher Form anzulegen sind. Diese
erhöhten Kredite sollen 20—25 Proz. der bisherigen Haftsummen-
kredite betragen und nicht in laufender Rechnung, sondern als
Wechselkredite gegeben werden. Sie bedürfen außer der schon bei
der bisherigen Kreditgewährung berücksichtigten Haftsummenunter-
lage einer besonderen Deckung. Es wird beabsichtigt, diese be-
606 Otto Gerlach,
sondere Sicherheit in der Form solcher zweistelliger Hypotheken
anzunehmen, welche in bezug auf Zinsfuß, Tilgung und sonstige
Bedingungen den Anforderungen einer gesunden Kreditreform ent-
sprechen ; doch sollen dieselben nicht voll beliehen werden. Dadurch
sollen die Genossenschaften gleichzeitig auf eine sachgemäße Hand-
habung dieses Geschäftszweiges hingelenkt werden, den sie schon
jetzt zur Unterbringung ihrer wachsenden Einlagen in großem,
u. steigendem Umfange, aber in nicht immer einwandfreier Form
pflegen. ,
Durch die Erhöhung ihres Grundkapitals ist die Zentral-
genossenschaftskasse nunmehr in die Lage versetzt worden, solche
erhöhte Kredite zu bewilligen.
* *
*
Der 47. General-Landtag der Ostpreußischen Landschaft
hat im Februar 1907 die vom General-Landschafts-Direktor Dr. Kapp
entworfene Entschuldungsvorlage mit einigen Abänderungen !)
angenommen. Er stellte sich in bewußter und grundsätzlicher Ab-
weichung von der bisherigen Stellungnahme der Landschaften auf
den Standpunkt, daß die Entschuldung des ländlichen Grundeigen-
tums von der Landschaft aus eigener Kraft ohne Staatshilfe durch-
geführt werden kann, und daß jede Mitwirkung des Staates grund-
sätzlich abzulehnen ist, damit das wertvollste Gut der Landschaft,
ihre Selbständigkeit, nicht Schaden leidet.
Die Entschuldungsordnung hat folgenden Inhalt:
Vorbedingung für die Einleitung eines Entschuldungverfahrens
ist, daß das zu entschuldende Gut der Verschuldungsgrenze nach
dem Gesetz von 1906 unterworfen wird, und daß der Tilgungs-
zwang bis zur vollkommenen Durchführung der Entschuldung über-
nommen wird. Die Entschuldung soll sämtliche Hypothekenlasten
bis zur Hälfte der landschaftlichen Taxe abtragen.
Uebernimmt der Assoziierte diese beiden Verpflichtungen, so kann
der von der Landschaft gewährte Kredit zur Durchführung der Ent-
schuldung erweitert werden:
1) durch Anwendung günstigerer Abschätzungsgrundsätze;
2) durch die Beleihung des fünften Sechstels der landschaft-
lichen Taxe;
3) durch die Gewährung landschaftlichen Meliorationskredits, an
dessen Stelle auch ein weiterer Entschuldungskredit treten kann.
Die Landschaft stellt in diesem Rahmen ihre Mitwirkung bei
der Entschuldung in Aussicht, ohne sich hinsichtlich des Umfanges
derselben zu binden. Sie muß selbstverständlich von Fall zu Fall
prüfen, wie weit sie gehen kann. Die Entschuldungsordnung stellt
nur die Grenzen für die Kreditgewährung der Landschaft fest, ohne
daß hieraus dem einzelnen Assoziierten ein Rechtsanspruch erwächst,
daß bis zu diesen Grenzen auch bei ihm tatsächlich gegangen wird.
1) Dieselben werden in der folgenden Darstellung besonders erwähnt.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 607
1) Die Anwendung günstigerer Abschätzungsgrundsätze: Die
en Höchstgrenze des Taxzuschlages wird von 15 auf 25 Proz.
erhöht }).
Diese Bestimmung ist vielfach mißverstanden und so aufgefaßt
worden, als ob bei allen Gütern, welche der landschaftlichen Ent-
schuldung unterworfen werden, eine 10-proz. Taxerhöhung eintreten
soll. Das ist nicht der Fall.
Die Ostpreußischen Taxvorschriften unterscheiden ordentliche
Kapitalswerte und erhöhte Kapitalswerte. Die letzten werden bei
Gütern angewandt, welche besonders günstige und bleibende Ver-
hältnisse aufweisen, wie: sehr gute Bodenbeschaffenheit und Kultur,
gute Höhenlage, günstige Bodengestaltung, gute Absatz- und Ver-
kehrsverhältnisse, tadellose Entwässerung und planmäßige Drainage.
Die Taxvorschrift gestattet nun bei den besten Gütern zu dem Tax-
resultat Zuschläge bis zu 15 Proz. zu gewähren, wenn
a) bei den Gütern mit ordentlichen Kapitalssätzen dem Taxgut
ganz besonders hervortretende individuelle Verhältnisse zustatten
kommen, die eine dauernde Wertsteigerung bedingen und in den
Wertsätzen überhaupt nicht oder nicht voll zum Ausdruck kommen
können, und
b) bei den Gütern mit erhöhten Sätzen, wenn außer der Vor-
aussetzung zu a) alle Erfordernisse für die erhöhten Kapitalwerte
zutreffen.
Dabei müssen die den Taxzuschlag begründenden besonderen Ver-
hältnisse eingehend dargelegt und im einzelnen nachgewiesen werden.
Für diese Taxzuschläge, welche also nur unter ganz besonders
günstigen Verhältnissen gewährt werden dürfen, ist die Höchstgrenze
von 15 auf 25 Proz. erhöht worden. Aus dem Umstande, daß bei
der bisherigen Ordnung verhältnismäßig wenig Güter einen Tax-
zuschlag von 15 Proz. genossen haben ?), ergibt sich, daß nur aus-
nahmsweise ein höherer Taxzuschlag bewilligt werden wird.
2) Die Beleihungsgrenze der Landschaft wird auf 5/; des nach
den landschaftlichen Abschätzungsgrundsätzen ermittelten und durch
das Taxrevisionskollegium oder den Taxrevisionsausschuß festge-
setzten Gutswertes festgesetzt; eine Beleihung über 2 bis °/, des
Taxwerts ist jedoch nur zum Zwecke der Entschuldung zulässig).
1) Die Vorlage der General-Landschafts-Direktion hatte außerdem für Entschuldungs-
güter eine Erhöhung der Höchstsätze für Wiesen, Weiden, Wälder und Gewässer vor-
gesehen. Die Bestimmung ist abgelehnt worden. Die Vorschrift, daß die für das Tax-
gut veranlagte Grundsteuer in Zukunft nicht mehr in Abzug gebracht werden soll,
welche die Vorlage auf die Entschuldungsgüter beschränken wollte, ist in die all-
gemeinen Abschätzungsgrundsätze aufgenommen worden, gilt also nunmehr für alle Taxen.
2) 1906 und 1907 fanden 1296 Taxen statt; Zuschläge wurden nur in 145 Fällen
bewilligt, davon kamen 71 auf die Kreise Königsberg, Fischhausen und auf die beiden
Niederungskreise Niederung und Heydekrug. Die Zuschläge betrugen bei 14 Gütern
2—5 Proz., bei 80 7—10 Proz., bei 7 12 Proz. und nur bei 44 Gütern 15 Proz.
3) Der General-Landtag hat durch diese Fassung der Bestimmung schärfer, als es
in der Vorlage geschehen war, zum Ausdrucke gebracht, daß die Verschuldungsgrenze,
welche nach dem Gesetz von 1906 mit der Beleihungsgrenze zusammenfällt, hinter dem
fünften Sechstel des Taxwerts zu stehen kommt.
608 Otto Gerlach,
Die Besitzer von Gütern, für welche der erweiterte landschaftliche
Kredit zur Entschuldung in Anspruch genommen wird, sind ver-
pflichtet
a) !/, vom Hundert des ganzen innerhalb ?/, des Taxwerts ent-
nommenen Pfandbriefdarlehns und
b) 2 vom Hundert des über %, des Taxwerts bewilligten Pfand-
briefdarlehns als Tilgungsguthaben anzusammeln.
Sind 5 Proz. des Pfandbriefdarlehns im Tilgungsfonds vorhanden,
so kann die Direktion Krediterneuerung ausschließlich zu dem
Zwecke gestatten, etwa noch vorhandene Nachhypotheken zur Tilgung
und zur Löschung zu bringen. Sind sämtliche Nachhypotheken ge-
tilgt, so ist der Besitzer berechtigt, sobald 5 Proz. des Pfandbrief-
darlehns im Tilgungsfonds angesammelt sind, Löschung eines ent-
sprechenden Teiles zu fordern, wonach sich seine Jahresleistung um
die Zinsen und Tilgungsbeiträge des gelöschten Darlehnsteils er-
mäßigt. Ist im Tilgungsfonds der über die Hälfte des Taxwerts
aufgenommene Betrag des Pfandbriefdarlehns angesammelt und wird
nachgewiesen, daß Nachhypotheken nicht vorhanden sind, so kann
die Tilgung eingestellt werden. — Auch kann der zur Tilgung an-
gesammelte Betrag von Pfandbriefen unter gleichzeitiger Bewilligung
eines gleich hohen neuen Pfandbriefdarlehns zum Zwecke der Erb-
regulierung aus dem Tilgungsfonds entnommen und verwendet
werden !).
Nach dem Statut der Bank der Ostpreußischen Landschaft hat
diese das Recht, Darlehen in laufender Rechnung gegen Abtretung
der durch Tilgung freigewordenen Hypothekenstelle der landschaft-
lichen Beleihung zu gewähren. Die Vorlage der Direktion hatte
den Eigentümern von Gütern, welche der Verschuldungsgrenze
unterworfen sind, die Lombardierung des Tilgungsguthabens bei der
Bank schlechthin untersagen wollen. Auf Anregung der Direktion
hat aber der General-Landtag dies Verbot im Interesse des Betriebs-
kredits dahin eingeschränkt, daß die Lombardierung zulässig sein
soll, wenn das Grundstück nicht über 5/, des Taxwerts belastet ist.
3) Eigentümern von Gütern, welche der Verschuldungsgrenze
und dem Tilgungszwange unterworfen sind, darf die Landschaft in
bestimmten Grenzen tilgungspflichtige Darlehen für Meliorationen
geben, welche eine dauernde Wertserhöhung des Gutes gewähr-
leisten. Anstelle des Meliorationskredits kann auch in gleicher Höhe
ein Kredit zur Entschuldung durch Tilgung und Löschung der Nach-
hypotheken bewilligt werden. Von dem Meliorationskredit sollen
jährlich 6 Proz. an die Landschaft gezahlt werden, wovon je nach
der Höhe des Zinssatzes 3, 3V/, oder 4 Proz. auf Verzinsung und
2!/,, 2 oder 1'/, Proz. auf Tilgung verrechnet werden, während
1/ Proz. zur Bestreitung der Verwaltungskosten und Ansammlung
eines Reservefonds dient. Die Tilgung erfolgt hierbei, nötigenfalls
1) Die Bestimmung über die Verwendung des Tilgungsfonds nach Ablösung
aller Nachhypotheken zu Erbregulierungen ist vom General. Landtag eingefügt worden.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 609
unter Erhöhung der letzten Tilgungsraten, in höchstens 30 Jahren.
Für diesen „Meliorationskredit* war ursprünglich keine Kapitals-
hypothek vorgesehen, sondern die Jahresleistung für ihn sollte nur
durch Erhöhung der Zinsen und Nebenleistungen, welche für das inner-
halb der ?/;-Grenze gewährte Pfandbriefdarlehn zu entrichten sind,
auf 5 Proz. sichergestellt werden. („Spannungskredit“.) Diese Er-
höhung ist bekanntlich ohne Einwilligung der nacheingetragenen
Gläubiger gestattet. Auf diesem Wege wird erreicht, daß die Siche-
rung der Jahresleistungen für den Meliorationskredit denselben Rang
im Grundbuche wie das Pfandbriefdarlehn einnimmt. Die Rück-
zahlung des Pfandbriefdarlehns ist nur unter der Bedingung zu-
lässig, daß neben dem abzuzahlenden Pfandbriefdarlehnsbetrage
auch der Meliorationskredit nebst Zinsen und Nebenleistungen bis
zum Zahlungstage erstattet wird. Der Besitzer kann vor der Rück-
zahlung dieses Darlehns Löschungsbewilligung oder Abtretung des
Pfandbriefdarlehns nicht fordern. Nach den von der Direktion er-
lassenen Bestimmungen muß des weiteren das Recht des Gutseigen-
äerz auf Rückzahlung des Pfandbriefdarlehns auf die über-
haupt zulässige Dauer von 20 Jahren ausgeschlossen (Art. 32 $ 1,
Pr. AG.BGB.) und bestimmt werden, daß für den Fall der Rück-
zahlung des Pfandbriefdarlehns die für dieses bestellte Hypothek
sich in eine Hypothek für das noch nicht getilgte Meliorations- bezw.
Entschuldungsdarlehn umwandelt ($ 1180 BGB). Diese Bestimmung
hat für den Fall Bedeutung, daß nach Ablauf der Unkündbarkeit
das Pfandbriefdarlehn zurückgezahlt wird. Diese Verpflichtungen
werden im Grundbuche beim Pfandbriefdarlehn eingetragen und
zwar der Eintritt des Meliorationsdarlehns in die Hypothek des
Pfandbriefdarlehns als Vormerkung ($ 883 BGB). Schließlich wird
auch noch das landschaftliche Tilgungsguthaben für die Rückzahlung
des Meliorationsdarlehns verpfändet und auch diese Verpfändung im
Grundbuch eingetragen !). Außerdem hat der General-Landtag be-
schlossen, daß im Grundbuche an bereitester Stelle, vor Eintragung
der Verschuldungsgrenze, eine Sicherungshypothek für den Kapital-
betrag des Meliorationsdarlehns in mindestens gleicher Höhe ein-
zutragen ist.
Da die für das Meliorationsdarlehn übernommene Jahresleistung
dadurch sichergestellt wird, daß die Zinsen und Nebenleistungen
des innerhalb ?/ der Taxe stehenden Pfandbriefdarlehns bis auf
5 Proz. erhöht werden, so hängt die zulässige Höhe des Meliorations-
darlehns von der Höhe des in jener Grenze bewilligten Pfandbrief-
darlehns und von dem Zinssatze desselben ab. Hiernach darf der
Meliorationskredit bei einem 4-proz. Pfandbriefdarlehn nicht mehr
als 8 Proz., bei einem 3'/,-proz. nicht mehr als 16 Proz. und bei
einem 3-proz. nicht mehr als 25 Proz. der innerhalb ?/; des Tax-
wertes liegenden Pfandbriefschuld ausmachen.
1) Leweck, Gesetz betreffend die Zulassung einer Verschuldungsgrenze für
land- und forstwirtschaftlich genutzte Grundstücke. Guttentagsche Sammlung preußischer
Gesetze, No. 43, Berlin 1908, S. 113.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 39
610 Otto Gerlach,
Zur Beschaffung der Mittel für die Gewährung von Meliorations-
krediten gibt die Ostpreußische Landschaft durch Vermittlung ihrer
Bank bis zur Höhe der Darlehen verzinsliche, seitens der Gläubiger
unkündbare Inhaberschuldverschreibungen (Ostpreußische landschaft-
liche Schuldverschreibungen) aus, welche sowohl hinsichtlich des
Kapitals als auch der Verzinsung von der Landschaft gewährleistet
werden. Die Vorlage hatte vorgeschlagen, daß diese Schuldver-
schreibungen von der Bank der Landschaft unter Gewährleistung der
Landschaft ausgegeben werden sollten. Man hat die Ausgabe auf
die Landschaft selbst übertragen, um den Schuldverschreibungen
ohne weiteres für Preußen die Qualität eines mündelsicheren Papiers
zu verschaffen.
Solange der aus den Jahresleistungen für die Meliorations-
kredite gebildete Reservefonds noch nicht in einer Höhe von 1Mill.M.
angesammelt ist, wird er bis zu diesem Betrage aus dem eigentün-
lichen Fonds der Landschaft ergänzt.
Die vom General-Landtag beschlossenen Entschuldungsmal-
nahmen sollen zunächst den Charakter eines Versuchs tragen. Aus
diesem Grunde und um allen Befürchtungen, daß die Landschaft mit
dem Verfahren zu große Risiken übernehmen könnte, entgegen-
zutreten, hat sich der General-Landtag vorbehalten, die Gesamt-
summe der zur Gewährung von Entschuldungsdarlehen und Melio-
rationskrediten auszugebenden Pfandbriefe und Schuldverschreibungen
festzusetzen. Für die Etatsperiorde 1907—1910 ist dieser Betrag
auf 10 Mill. M. bemessen. Seine Erhöhung ist durch Kabinetsordre
vom 23. März 1908 von der Zustimmung des Justiz- und des Land-
schaftsministers abhängig gemacht worden. Durch eine Kabinets-
ordre von demselben Tage sind der Finanz-, der Justiz- und der
Landwirtschaftsminister ermächtigt, der Landschaft die Genehmigung
zur Ausgabe von Schuldverschreibungen zu dem von ihnen zu be
stimmenden Höchstbetrage zu erteilen. Diese Minister haben durch
Erlaß vom 4. Juni 1908 der Landschaft gestattet, für 5 Mill. M.
Schuldverschreibungen auszufertigen.
Die Wirkung, welche man vom Entschuldungsverfahren er-
wartet, wird am besten durch ein der Praxis entnommenes Beispiel
veranschaulicht, welches von der Landschaft aufgestellt wurde.
„Es handelt sich um ein Gut im Regierungsbezirk Königsberg von rund 2200 Morgen
- Größe mit einem reellen Wert von 600 000 M. oder rund 18000 M. die Hufe und rund
270 M. den Morgen. Darauf haften:
1. Landschaft 231 000 M. a 3'/, Proz. und '/, Proz. Amortisationsquote,
2. 120000 „ à t'h „
3 30000 „A5 e
4, _ 19000 „ a5 D
Zusammen 400 000 M.
„Letzte landschaftliche Taxe: 346500 M. (ältere Taxe). Es darf angenommen
werden, daß sich die Taxe unter Anwendung der günstigeren Abschätzungsgrundsätze
um 20 Proz. oder 69300 M. nuf 415 800 M. erhöhen wird. Danach würden auf Grund
der Entschuldungsvorlage landschaftlich beliehen werden können,
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation.
a) innerhalb ?/,
b) das 5. Sechstel mit
611
277 200 M.
69 300 „
Sa. 346 500 M.
gegen bisher 231 000 „
also landschaftlich mehr als bisher 115 500 M.
„Mit dieser Mehrbeleihung von 115500 M. würden sich abstoßen lassen
die Post No. 4 mit 19 000 M.
„ No. 3 mit 30 000 „
» No. 2 mit 66500 „
so daß von Post No. 2 noch 53 500 M. stehen bleiben würden.
„Hiernach würde sich im einzelnen stellen:
„I. Die Kapitalbelastung.
künftig
1. Landschaft
H 231 000 M. bisherige °/,-Beleihung
b) 46200 „ neu hinzutretende ?/,-Beleihung
c) 69300 „ #/g-Beleihung
Sa. 346 500 M.
2 53500 ,„ Best der 2. Post
3. fällt fort
4. fällt fort
Sa. 400 000 M.
davon 115 500 M. Landschaft mehr als bisher.
„Il. Die Jahresbelastung.
bisher
1. Landschaft 231 000 M.
2. Post von 120 000 M.
há n HI 30 000 DU)
E un 19000 „
Sa. 400 000 M.
bisher
231 000 M. (à 3'/, Proz. Zinsen :
8085 M., !/, Proz. Amortisa-
tionsquote 1155 M.) 9240 M.
120000 M. à ZIL Proz. 5400M.
30000 Man Proz. 1500 D
19000M.aA5 Proz. 950 D
Sa. 17090 M.
a) Im ganzen.
1. Landschaft.
künftig
wie bisher
Bei 69300 M. Mehrtaxe
Mehrbeleihung innerhalb
2/,:46200M.(A 21 Proz.
Zinsen: 1617 M., */ Proz.
Amortisationsquote : 231
M.) 1848,00 ,„
Ha Beleihung bei einer
Taxe von 415 800 M. er-
gibt 69 300 M. (à 3!/, Proz.
Zinsen: 2425,50 M., 2
Proz.Amortisationsquote:
1386 M.)
2. Post.
53500 m. a AL Proz.
3. Post.
fällt fort
4. Post.
fällt fort
9240,00 M.
3811,50 „ 14899,50 M.
2407,50 „
Sa. 17 307,00 M.
gegen früher 17 090,00 D
also 217,00 M.
Gesamtmehrbelastung an Zinsen und Amorti-
sationsquoten.
39*
612 Otto Gerlach,
b) an Zinsen:
bisher
1. Landschaft 3'/, Proz. von
231 000 M. 8085 M.
2. Post von 120000 M. à 4'h
Proz. 5400 „
3. Post von 30 000 M. à 5 Proz. 1500
4. Post von 19 000 M. à 5 Proz. 950 „
bisher Summa 15 935 M.
künftig „ 14535 „
mithin künftig weniger 1400 M.
Zinsenbelastung.
künftig
1. Landschaft 3'/, Proz. von
346 500 M. 12 127,50 M.
2. Post von 53 500 M. a 4!/,
Proz. 2407,50 „
3. fällt fort _
4. füllt fort —
Summa 14 535,— M.
c) an Amortisationsquote:
bisher
Landschaft '/, Proz. von 231 000 M. 1155 M.
künftig
Landschaft
a) '/, Proz. von 277200 M. 1386 M.
(231 000 + 46 200 M.)
b) 2 Proz. von 69300 M. 1386 „
(dem 5. Sechstel)
künftig Summa 2772 M.
bisher e 1155 n»
mithin künftig mehr 1617 M.
so daß die jährliche Gesamt- Mehrbe-
lastung von 217 M. (cf. littr. a) ausschließ-
lich aus Amortisationsquote besteht und
neben ihr gegen früher noch 1400 M. jähr-
lich an Amortisationsquote mehr aufge-
bracht werden, ohne daß dadurch die Ge-
samt-Jahresleistungen gegen früher eine
Erhöhung erfahren.
„ILL Der Betriebskredit.
bisher
1. Der persönliche Kredit, der sich
nicht in die Form des Realkredits kleidet.
2. Der nach Ablauf der 6-jährigen
Taxperiode innerhalb der ?/,-Beleihung in-
folge von Gutsverbesserungen etc. fallende
erhöhte landschaftliche Kredit.
3. Der durch Beleihung des letzten
Drittels des reellen Werts (400000 bis
600000 M.) ermöglichte Betriebskredit, der
wegen der hohen Stelle und des damit
verbundenen Risikos wohl durchschnittlich
als mit 6 Proz. verzinslich angenommen
werden darf, ohne daß in diesem Zinssatz
eine Amortisationsquote enthalten wäre,
mithin eine Rückzahlung dieses Betriebs-
kredits nur aus den erhofften Mehrerträgen
des Gutes zu erwarten ist.
künftig
1. Wie bisher, nur daß der reine Per-
sonalkredit naturgemäß ein größerer ist bei
einem Besitzer, der fortgesetzt seine Real-
schulden einer starken Tilgung unterwirft;
auch ist er wegen der stetigen Verbesse-
rung der wirtschaftlichen Verhältnisse und
wegen des dadurch bedingten geringeren
Risikos ein billigerer.
2. Wie bisher, da [nur] die wegen der
günstigeren Abschätzungsgrundsätze eintre-
tende Erhöhung der ?/,-Beleihung bestim-
mungsgemäß zur Abstoßung von Nachhypo-
theken verwendet werden muß.
3 und 4 fallen fort.
Es tritt jedoch an ihre Stelle:
a) Der Spannungskredit, der bei einer
?/;-Beleihung von 277200 M. zu 3'/, Proz.
verzinslich 16 Proz. des Pfandbriefdar-
lehns, also 44300 M. beträgt.
Dieser Betriebskredit ist mit 6 Proz.
zu verzinsen, wovon 3!/, Proz. auf Zinsen,
!,, Proz. auf Verwaltungskosten und Re-
servefondsbeitrag und 2 Proz. auf die
Tilgung entfallen, so daß er in längstens
30 Jahren getilgt ist.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation.
bisher
4. Die im Tilgungsfonds vorhandenen
5 Proz. des Pfandbriefdarlehns ($ 178, 7
Landschaftsordnung).
613
künftig
b) Der Spannungskredit der nach Ab-
lauf der 6-jährigen Taxperiode bei einer
Erhöhung des landschaftlichen ?/,-Darlehns
weiter aufgenommen werden darf.
c) Nach Maßgabe der fortschreitenden
Tilgung des zum Zwecke der Entschuldung
aufgenommenen fünften Sechstels die
schrittweise zunehmende Beleihungsfähig-
keit des für dieses Sechstel angesammelten
Tilgungsfonds bis zur Höhe von 69300 M.
im Wege des Personalkredits, wobei zu be-
rücksichtigen bleib, daß mit höheren
Taxen nach Ablauf der jemaligen 6-jährigen
Taxperioden auch das fünfte Sechstel ent-
sprechend steigt.
„IV. Die Wirkung der Amortisation.
bisher
Das Landschaftsdarlehn von 231 000 M.
würde, da das Amıortisationsguthaben
erst kürzlich abgehoben worden ist, bei
TL, Proz. Amortisationsquote in 60 Jahren
getilgt sein, vorausgesetzt, daß die Tilgung
nicht unterbrochen wird durch die Ab-
hebung des Amortisationsguthabens gemäß
$ 178 Abs. 7 der Landschaftsordnung.
Dieses ist erfahrungsgemäß die Regel, so
daß die Tilgung sich tatsächlich nur als
eine Scheintilgung darstellt zum Nachteil
des Kreditinstituts und des Pfandbriefkurses,
vor allem aber zum Nachteil des einzelnen
Besitzers, der wegen der wirtschaftlich
irrationellen Art der Befriedigung seines
Betriebskredits durch Abhebung der Amor-
tisationsguthaben zu einer eigentlichen
Schuldentilgung und Verbesserung seiner
wirtschaftlichen und finanziellen Verhält-
nisse nicht gelangt. Wer seine Schulden
ahlt, vermehrt sein Vermögen! Dessen
uneingedenk nimmt der Besitzer im Gegen-
immer von neuem fremdes Geld auf,
das er aus den erwarteten Mehrerträgen
des überlasteten Gutes zurückzahlen zu
können hofft,
künftig
Nach Aufnahme des erweiterten land-
schaftlichen Kredits zum Zwecke der Ab-
stoßung von Nachhypotheken verblieben
von den ursprünglich eingetragen gewesenen
169000 M. nur noch 53500 M. hinter der
Landschaft, mit 4'/, Proz. verzinslich. Da
angenommen werden darf, daß der Amorti-
sationsfonds sich mit 3'/, Proz. verzinst, so
würden, bei einem jährlichen Tilgungsbei-
trag von 2772 M. (ef. IL litt. C) oder rund
5,2 Proz. des Schuldkapitals, nach Be-
gleichung des Quittungsgroschens für die
46200 M. des höheren ?/,-Darlehns und
für das fünfte Sechstel (cf. II litt. a), diese
53500 M. nach Ablauf von 16 Jahren ab-
gestoßen sein. Demnächst würde das fünfte
Sechstel mit 4 Proz. ('/, Proz. von ?/, + 2
Proz. von °/, des Pfandbriefsdarlehns)
innerhalb 18 Jahren getilgt werden, so daß
nach im ganzen 34 Jahren das Gut nur
noch mit ?/, der landschaftlichen Taxe be-
liehen und das fünfte Sechstel zur Be-
friedigung von Betriebskredit wieder frei
sein würde. Dieser Abstoßungsprozeß be-
schleunigt sich aber noch recht beträcht-
lich, wenn im Laufe der Tilgungsperiode
die landschaftliche Beleihung sich auf
Grund erneuter Taxen nach Ablauf der
6-jährigen Taxperioden erhöht. Denn ein-
mal steigen damit auch die für die Tilgung
der Nachhypothek zur Verfügung stehenden
Amortisationsquoten. Sodann werden aber
infolge der erhöhten Taxe neue Kapital-
beträge zur Abstoßung der Nachhypothek
verfügbar und zwar insoweit, als die höhere
?/,-Beleihung auf die Anwendung der gün-
stigeren Abschätzungsgrundsätze zurückzu-
führen ist, und als auch das fünfte Sechstel
mit der Erhöhung der landschaftlichen
Taxe größer wird. Unter Berücksichtigung
dieser Umstände darf angenommen werden,
614 Otto Gerlach,
bisher künftig
daß die Nachbypothek von 53500 M. statt
nach 16 Jahren, wie sie sich im gewöhn-
lichen Amortisationsverfahren ergeben, be-
reits in 10—12 Jahren getilgt sein wird.
Es würde mithin nach Ablauf von 28 bis
30 Jahren nur noch das innerhalb der
?/,-Beleihung aufgenommene Pfandbrief-
darlehn auf dem Gute haften.“
Die innerhalb und außerhalb der Landschaft an der Ent-
schuldungsvorlage geübten Kritiken richten sich 1) gegen die Ver-
schuldungsgrenze und 2) gegen die Sicherheit der Entschuldungs-
kredite.
Viele Grundeigentümer wünschen eine Erhöhung der land-
schaftlichen Beleihung sowie eine vollkommnere Organisation und
leichtere Gewährung des Real- und des Personalkredits ohne
Verschuldungsbeschränkung. — Die Eintragung der Ver-
schuldungsgrenze, sagen sie, wird zur Folge haben, daß solche
Güter nur von Kauflustigen erworben werden können, welche eine
größere Anzahlung zu leisten vermögen. Dadurch wird der Kreis der
Nachfragenden beschränkt und der Preis der Güter herabgedrückt
werden. Wer die Verschuldungsgrenze übernimmt, entwertet sein
Grundeigentum und verringert sein Vermögen. Es sei nicht richtig,
daß die Güterpreise zu hoch seien: die Ursache der landwirtschaft-
lichen Krise sei nicht in einer Ueberzahlung des Bodens sondern in
der zunehmenden Konkurrenz des billiger produzierenden Auslandes
zu suchen. In den Preisen der Güter werde vielfach nur das
Kapital vergütet, welches in Meliorationen, Gebäude und Inventar
hineingesteckt ist, so daß für das Land überhaupt nichts bezahlt
werde. Eine Herabdrückung der Güterpreise sei daher nicht zu
billigen; sie solle man den Grundbesitzern nicht ansinnen.
An diesen Ausführungen ist richtig, daß sich die Landwirt-
schaft vor der Tarifreform in einer überaus gedrückten Lage befand,
und daß infolge der ungünstigen Reinertragsverhältnisse die Unter-
nehmungslust nicht nur im Großbetriebe, sondern auch in den bäuer-
lichen Wirtschaften sehr gering war, so daß selbst von dringend er-
forderlichen Verbesserungen des Betriebes abgesehen wurde. Nun hat
aber die Tarifreform bewirkt, daß der landwirtschaftliche Betrieb wieder
lebensfähig geworden ist. Allerorten werden zurückgestellte Kultur-
arbeiten aufgenommen. Die Steigerung der Reinerträge ermöglicht
eine nachhaltige Verringerung der Schuldenlast. An dieser Auf-
gabe muß nunmehr ernstlich gearbeitet werden, damit die Grund-
eigentümer eine größere Widerstandsfähigkeit als bisher gegen
Schwankungen und Verringerungen des Reinertrages gewinnen, mit
denen man für die Zukunft rechnen muß. „Zweifellos bringt, sagte
der Landwirtschaftsminister am 7. Februar 1907, die Zollgesetz-
gebung den jetzt lebenden Landwirten nicht unerhebliche Vorteile.
Sicher ist, daß diese Vorteile in gewisser Zeit, meist schon in einer
Generation, in Gestalt von höheren Schulden eskomptiert sein werden,
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 615
so daß dann die Landwirtschaft sich wieder auf demselben Stand-
punkt befinden wird, auf dem sie heute steht. Die Zollgesetzgebung
hätte dann also gar nichts genützt; sie hätte vielmehr geschadet;
denn fände je eine Verminderung oder Aufhebung der Zölle statt
— und wer wollte die Möglichkeit dafür leugnen? — dann werden
Katastrophen der allerschlimmsten Art eintreten. Unsere Zoll-
gesetzgebung ist nur dann zu rechtfertigen, wenn wir auch Maß-
regeln ergreifen, um die nicht gewollten ungünstigen Begleit-
erscheinungen zu bekämpfen. Ich sehe es aber gerade als eine
Hauptaufgabe unserer Zollgesetzgebung an, die Entschuldung des
ländlichen Grundbesitzes zu ermöglichen. Unsere Zollgesetzgebung
gleicht darum einem provisorischen Wall, hinter dem wir mit allen
Kräften und so schleunig wie möglich einen soliden, massiven Bau
aufrichten müssen, der imstande ist, der eindringenden Flut Wider-
stand zu leisten, falls je dieser Wall fortgerissen werden sollte“ 1).
Die Zurückdrängung des bei übermäßiger Anspannung verhängnis-
vollen Besitzkredits ist ein Ziel, welches für sich allein erstrebens-
wert ist. Will man aber durch die Umwandlung der Nachhypotheken
in unkündbare Tilgungshypotheken gesundere Kreditverhältnisse an-
bahnen, welche von Bestand sind, so bietet sich kein anderer Weg
als die Einführung der Verschuldungsgrenze.
Man erwartet von ihr auch, daß sie einen guten Einfluß auf
die Preisgestaltung der Landgüter ausüben und die übermäßige Preis-
steigerung, welche vielfach schon nach der Tarifreform beobachtet
werden kann, hemmen wird. — Eine solche Wirkung könnte die Ver-
schuldungsgrenze aber nur haben, wenn von ihr allgemein Gebrauch
gemacht würde. Dies ist, wenn ihre Einführung der freien Ent-
schließung der Eigentümer überlassen bleibt, nicht wahrscheinlich.
Manche Freunde der Verschuldungsgrenze bestreiten, daß sie
einen Preisdruck herbeiführen muß. Uebe eine Einschränkung der
Nachfrage einen Druck auf die Preise aus, so werde bei niedrigeren
Preisangeboten auch die Neigung zum Verkauf geringer werden,
wodurch ein Ausgleich herbeigeführt werde. — An übermäßig hohen
Güterpreisen hätten überdies nur solche Grundeigentümer ein
Interesse, welche nach Veräußerung ihres Besitztums als Rentner
leben wollen. Wer dagegen nach dem Verkauf seines Gutes ein
anderes erwerben will, würde als Käufer unter dem zu hohen
Preisstande ebenso leiden, wie er als Verkäufer von ihm Vorteile
gehabt hatte. — Auch diesen Erwägungen liegt die Vorstellung zu-
grunde, daß die Mehrzahl der Güter der Verschuldungsgrenze unter-
worfen wird. Da es sich aber für absehbare Zeit nur darum handeln
kann, daß von ihr vereinzelt Gebrauch gemacht wird, muß anerkannt
werden, daß der Marktpreis von Gütern, welche mit der Ver-
schuldungsgrenze belastet sind, niedriger stehen wird, als der frei
verschuldbarer Güter. Davon werden aber diejenigen Besitzer,
welche ihre Güter nicht veräußern, sondern bewirtschaften wollen,
1) Verhandlungen des Abg. H. 1907, S. 1691.
616 Otto Gerlach,
nicht getroffen, denn ihnen kommt es auf den Ertragswert und
nicht auf den Verkehrswert an. Wer freilich an Verkauf denkt,
muß mit einer Preisminderung rechnen. Aber auch diese ist nicht
unbedingt mit einem Vermögensverlust verbunden: Hat jemand
die Verschuldungsgrenze übernommen und ist bei ihm das Ent-
schuldungsverfahren eine längere Reihe von Jahren durchgeführt
worden, ohne daß er wesentlich höhere Jahresleistungen als bei
unreguliertem Schuldenbestande hat tragen müssen, so würde
eine Preisminderung, welche sich in den Grenzen der Schulden-
tilgung hält, keine Vermögensverringerung herbeigeführt haben.
Ueberdies würde er den Vorteil genießen, beim Verkauf ein
größeres Barkapital zu erhalten; die heute an letzter Stelle ein-
getragenen Kaufgeldresthypotheken haben dagegen häufig einen sehr
zweifelhaften Wert und lassen sich nur schwer realisieren.
Gegen die allgemeine Einführung der Verschuldungsgrenze
wird ferner geltend gemacht: Ein tüchtiger Landwirt kann heute,
auch wenn er über ein nur mäßiges Kapital verfügt, ein verhältnis-
mäßig großes Gut erwerben, auf welchem er seine persönlichen Fähig-
keiten verwenden und sich hoch arbeiten kann; wird der Realkredit
beschränkt, so wird er sich in Zukunft mit dem Erwerbe eines viel
kleineren Grundstücks begnügen oder zur Pachtung eines größeren
Gutes entschließen müssen. — Das mag im einzelnen Falle als
Härte empfunden werden, obwohl es den Grundsätzen richtiger
Wirtschaftsleitung mehr entspricht, wenn sich solch ein tüchtiger
Mann erst in einer kleineren Wirtschaft kräftigt, bevor er an ein
größeres Gut herangeht. Den Fällen, in welchen es strebsamen
Anfängern gelingt, sich trotz geringer eigener Mittel in einem Groß-
betriebe zu behaupten und in ihm Vermögen zu erwerben, stehen
andere gegenüber, welche mit einem Zusammenbruch und Ver-
mögensverlust endigen. Es ist nicht abzusehen, weshalb man gerade
in der Landwirtschaft mit ihren überaus großen Risiken bedeutende
Unternehmungen mit unzulänglichen Mitteln soll begründen können,
während in allen anderen Zweigen des Geschäftslebens der Grund-
satz anerkannt wird, daß das eigene Vermögen in einem ange-
messenen Verhältnis zur Größe der Unternehmung stehen muß.
Schwer zu übersehen sind die Einflüsse der Verschuldungs-
grenze auf die Erbregulierungen. Sind bereits die Nachhypotheken
getilgt und ist ein beträchtlicher Tilgungsfonds angesammelt, so
können Mittel zur Erbauseinandersetzung durch Krediterneuerung
flüssig gemacht werden. Wenn dagegen der Todesfall in einem
Zeitpunkte eintritt, in welchem die Entschuldung noch nicht weit
gediehen ist, so kann die Verschuldungsgrenze die Wirkung haben,
daß das Gut bei der Erbregulierung verkauft werden muß. Denn
auch in diesem Falle gestattet das Gesetz die Ueberschreitung
der Verschuldungsgrenze nur um 25 Proz. Während die Ver-
schuldungsgrenze und das Entschuldungsverfahren zu einer Be-
festigung des Grundbesitzes führen sollen, würde in der Uebergangszeit
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 617
ein Verkaufszwang beim Erbgang die Folge sein können. Mag man es
aus volkswirtschaftlichen Gründen billigen, daß ein mit Schulden über-
lastetes Gut beim Erbgang durch Verkauf in kapitalkräftigere Hände
übergeleitet wird; der einzelne Grundbesitzer, welcher sein Gut durch
die Unterwerfung unter die Verschuldungsgrenze der Familie erhalten
will, wird daran Anstoß nehmen. Bedenken dieser Art bestimmten den
General-Landtag zur Annahme der Resolution von Saucken: „Der
47. General-Landtag hat durch Annahme der Entschuldungsvorlage
den Weg zur Entschuldung des Grundbesitzes gewiesen und sich
bereit gezeigt, seinerseits an dieser hochwichtigen sozialpolitischen
Aufgabe mitzuarbeiten. Er gründet sein Vorgehen auf das Gesetz
betreffend die Zulassung einer Verschuldungsgrenze usw. vom
%. August 1906, erachtet aber dessen Bestimmungen in Ueber-
eintimmung mit den Ausführungen des Herrn Landwirtschafts-
ministers im Hause der Abgeordneten vom 4. Februar 1907 nicht
in allen Punkten zur wirksamen Durchführung der beschlossenen
Entschuldungsaktion für ausreichend. Insbesondere sind in dieser
Beziehung die Vorschriften in Ss 9 und 11 des Gesetzes über die
Ueberschreitung und Löschung der Verschuldungsgrenze hinderlich.
Es muß zwar nach der Begründung des Gesetzes angenommen
werden, daß bei der Entscheidung des Kommissars über die Zu-
lassung der Ueberschreitung oder Aufhebung der Verschuldungs-
grenze die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Be-
sitzers und dessen Familie Berücksichtigung finden, und Härten
möglichst vermieden werden sollen. Damit ist aber die Berück-
sichtigung des Bedürfnisses nach einer Ausdehnung oder Aufhebung
der Verschuldungsgrenze, namentlich im Erbfalle oder bei sonst
vorliegenden wichtigen Gründen nicht genügend gesichert. Dazu
ist notwendig, daß in derartigen Fällen, in denen die Nichterteilung
der Genehmigung eine unbillige Härte gegen den Besitzer oder
dessen Familie bedeutet oder die Existenz einer Familie in Frage
steht, dem Eigentümer ein Recht auf die Erteilung der Genehmigung
gegeben wird. Der General-Landtag beschließt daher: Eine König-
liche Staatsregierung wolle schleunigst eine Aenderung des Gesetzes
vom 20. August 1906 in der Weise in die Wege leiten, daß dem
Eigentümer ein Recht auf Ausdehnung oder Aufhebung der Ver-
schuldungsgrenze gegeben wird, wenn deren Einhaltung die Er-
haltung des Gutes in der Familie des Gutseigentümers verhindert
oder sonst für ihn oder seine Familie schwere wirtschaftliche Nach-
teile nach sich zieht.“
Das Herrenhaus hat in seiner Sitzung vom 4. Juni 1907 eine
dahingehende Petition der Landschaft durch Absetzung von der
Tagesordnung begraben.
Gegen das Entschuldungsverfahren der Landschaft
wurde das Bedenken erhoben, daß die Ausdehnung der landschaft-
lichen Beleihung auf das fünfte Sechstel, sowie die Heraufsetzung der
Taxzuschläge um 10 Proz. die Sicherheit der landschaft-
618 Otto Gerlach,
lichen Pfandbriefe verringere!). Es könne nicht zugegeben
werden, daß die Unterwerfung unter die Verschuldungsgrenze und
unter den Tilgungszwang einen Ausgleich bewirke. Da die Verschul-
dungsgrenze voraussichtlich einen Druck auf den Preis des Gutes
ausüben wird, stehe der Erhöhung der Beleihung ein verringerter
Wert des Pfandobjekts gegenüber. Ein unsicheres Darlehn werde
dadurch nicht sicherer, daß der Schuldner sich zur Tilgung durch
Jahresleistungen verpflichtet. Auch sei es für die Sicherheit der
ersten Hypothek nicht günstig, daß die Nachhypotheken abgelöst
werden. Ihr Bestehen leiste Gewähr dafür, daß im Subhastations-
falle die Landschaft herausgeboten wird; so beurteilten die Hypo-
thekenaktienbanken derartige Nachhypotheken günstig und legten
Wert darauf, daß ihnen die Gläubiger der Nachhypotheken eine
Ausbietungsgarantie leisten. Daß die Gefahr unwirtschaftlichen
Betriebes durch die Verschuldungsgrenze und den Tilgungszwang
verringert werde, könne man nicht zugeben; die Wirtschaftlichkeit
des Betriebes hänge von der Einsicht und Fähigkeit des Betriebs-
leiters, nicht aber von Verschuldungsgrenze und Tilgungspflicht ab.
Schließlich wird die Bedeutung der Generalgarantie für den Wert
der Pfandbriefe bestritten: Zwar bestehe bei der Ostpreußischen
Landschaft die Generalgarantie, welche sich auf sämtliche bepfand-
briefungsfähige Güter einschließlich der staatlichen Domänen und
Forsten erstreckt; für die Sicherheit der Pfandbriefe sei dieselbe
aber nicht hoch anzuschlagen ; in normalen Zeiten sei sie überflüssig,
in ungünstigen nicht realisierbar. Aus allen diesen Gründen, be-
haupten die Gegner des landschaftlichen Vorgehens, eigneten sich die
zur Entschuldung gewährten Kredite nicht als Unterlage für die
Ausgabe mündelsicherer Inhaberpapiere. : Auch auf die Meliorations-
kredite könnten mündelsichere Papiere nicht begründet werden,
weil die bei ihnen in Aussicht genommene dingliche Sicherung
nicht ausreiche.
Bei der Beurteilung der Sicherheit müssen wir unterscheiden
1) die Sicherheit der Landschaft,
2) die Sicherheit der Assoziierten und
3) die Sicherheit der Gläubiger der Landschaft, der Pfandbrief-
besitzer. Mit ihr hängt die Frage zusammen, ob sich die für Ent-
schuldungs- und Meliorationszwecke gewährten Landschaftsdarlehen
zur Ausgabe mündelsicherer Inhaberpapiere eignen, und ob eine
ungünstige Beeinflussung des Kursstandes der Pfandbriefe befürchtet
werden muß.
1. Eine jede Erweiterung der Beleihung ist mit einer erhöhten
Gefahr verbunden. Zu prüfen ist nur, ob die Erhöhung des Risikos
in den Grenzen bleibt, welche ein erstklassiges Realkreditinstitut,
wie die Landschaft, innehalten muß. Dafür ist bedeutsam, wie hoch
sich die bisherige Beleihung durch die Landschaft stellt. Diese
1) Vgl. hierzu: Mauer im Bank-Archiv, Bd. 7, 1907/08 und in Schmollers Jahr-
buch, Bd. 33, 1908; Leweck im Bank-Archiv, Bd. 7; R. Franz in Der Deutsche
Oekonomist 19. 10. 1907.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 619
hängt bei der ?/,-Beleihung von den in der Taxordnung festgesetzten
Höchstwerten sowie von dem Taxverfahren ab. Es ist allgemein
anerkannt und von keiner Seite bestritten, daß die Taxen der Ost-
preußischen Landschaft überaus vorsichtig aufgestellt werden und
in der Regel so niedrig sind, daß Privatkapitalisten eine Beleihung
der Güter bis zur vollen Höhe der landschaftlichen Taxe für unbe-
dingt sicher ansehen. Es liegt eine Zusammenstellung der Erwerbe-
werte aller landschaftlich beliehenen Güter vor, welche in der Zeit
vom 18. August 1905 bis zum 1. April 1907 den Eigentümer ge-
wechselt haben. Es waren 1505 Güter mit 161600 ha. Der Er-
werbepreis belief sich auf im ganzen 141 Mill. M., das sind
873 M. für 1 ha. Ihr landschaftlicher Taxwert betrug dagegen nur
78,6 Mill. M. oder 56 Proz. des Erwerbewerts. Die ?/,-Beleihung
reichte also im Durchschnitt bis zu 37 Proz. des Erwerbewerts. Um
die Wirkung neuerer Taxen festzustellen, wurden aus der Gesamtheit
der Güter diejenigen ausgewählt, für welche Taxen aus den letzten
6 Jahren vorlagen: 394 Güter mit 41515 ha wurden für 38,7 Mill. M.
erworben, d. s. 933 M. für 1 ha; ihr landschaftlicher Taxwert betrug
23,6 Mill. M. = 61 Proz. des Erwerbewerts; die ?/,-Beleihung deckte
also 41 Proz. des Erwerbewerts.
Bei diesem Verhältnis des Taxwerts zu den Kaufpreisen wird
man für den Durchschnitt aller Güter eine Ausdehnung der Be-
leihung auf das fünfte Sechstel der Taxe nicht für bedenklich halten
dürfen. Sie erscheint aber nicht in jedem einzelnen Falle sicher.
Es bestehen große Unterschiede in dem Verhältnis des Taxwerts
zu den Kaufpreisen und es ist deshalb die ablehnende Haltung der
Landschaft gegen eine allgemeine Erhöhung ihrer Taxen durchaus
berechtigt. Durch die Entschuldungsordnung erhalten, wie schon
betont, die Assoziierten keinen Rechtsanspruch auf Krediterhöhung,
sondern es wird der General-Landschafts-Direktion nur gestattet, in
denjenigen Fällen, in denen sie die Beleihung bis zum fünften
Sechstel des Taxwerts für sicher hält, eine Erweiterung der Beleihung
eintreten zu lassen, wenn der Schuldner sich der Verschuldungsgrenze
und dem Tilgungszwange unterwirft. Der Landschaftsrat muß über
die Sicherheit des Mehrkredits ein Gutachten erstatten, welchem in der
Regel eine eingehende Gutsbesichtigung vorausgeht. Unter Umständen
werden noch weitere Gutachten vom Departements-Landschafts-
Direktor oder von weiteren Sachverständigen eingeholt, bevor die
Direktion entscheidet. So wie bisher durch die Art der Taxfestsetzung,
welche nur in besonders günstigen Fällen die zulässigen Höchst-
sätze erreicht, eine die Sicherheit gefährdende Höhe der Beleihung
ausgeschlossen worden ist, steht zu erwarten, daß die Direktion
auch bei der Bewilligung der Entschuldungs- und Meliorationskredite
die größte Vorsicht beobachten wird. Bei den Meliorationskrediten
im besonderen muß nachgewiesen werden, daß eine dauernde Wert-
und Ertragsteigerung durch die Melioration stattfinden wird; die
sachgemäße Verwendung der Darlehne wird überwacht.
Eine andere Gefahr ist aber mit der Gewährung des Spannungs-
620 Otto Gerlach,
kredits verbunden. Seine Sicherung beruht auf der Erhöhung der
Jahresleistung für das Pfandbriefdarlehn bis auf 5 Proz. Diese
berührt zweifellos die Sicherheit der Nachhypotheken. Wenn ihre
Gläubiger auch nicht berechtigt sind, einer Erhöhung der Jahres-
leistungen für die voreingetragene Hypothek bis auf 5 Proz. zu
widersprechen, so können sie doch ihre Hypothek kündigen, soweit
dies nicht durch besondere Vertragsbestimmungen ausgeschlossen
ist. Hierdurch könnte aber die Durchführung der Entschuldung
gefährdet werden. Es wäre daher zu erwägen, ob nicht bei der Ein-
leitung des Entschuldungsverfahrens Vereinbarungen mit den Nach-
gläubigern getroffen werden müßten, nach denen sie auf die Künd-
barkeit ihrer Darlehen gegen die Zusicherung verzichten, daß ihre
Forderungen in das Entschuldungsverfahren einbezogen werden, so-
bald die erforderlichen Mittel im Tilgungsfonds angesammelt sind.
Für die Sicherheit der Landschaft ist die Höhe des Kaufpreises,
welcher möglicherweise durch die Eintragung der Verschuldungs-
grenze herabgedrückt werden könnte, nicht von ausschlaggebender
Bedeutung. Es kommt vielmehr auf die Ertragsfähigkeit des be-
liehenen Gutes an, da die Landschaft berechtigt ist, bei nicht
pünktlicher Erfüllung der Verbindlichkeiten von seiten des Schuldners
die Zwangsverwaltung einzuleiten.
Eine Rückendeckung durch Nachhypotheken mag bei städtischen
Beleihungen, welche die Hauptanlage der Hypothekenbanken bilden,
erwünscht sein. Bei land- und forstwirtschaftlich genutzten Gütern
hat sie für das zur ersten Stelle leihende Kreditinstitut wenig oder
gar keine Bedeutung. Ja, es können sogar die Interessen der
Landschaft durch das Bestehen einer Nachhypothek gefährdet werden,
wenn ihr Gläubiger das Gut, um sich vor Verlust zu schützen,
übernimmt, ohne die erforderlichen Fähigkeiten und Mittel zur
Bewirtschaftung zu besitzen. In solchen Fällen kommt es vor,
daß die Landschaft über kurz oder lang doch die Verwaltung des
Gutes übernehmen muß, nachdem es in der Zwischenzeit durch
mangelhafte Bewirtschaftung im Kulturzustande und im Bestande
des Inventars erheblich verschlechtert ist. Für die Landschaft wäre es
günstiger gewesen, wenn sie das Gut bereits bei der ersten Sub-
hastation hätte übernehmen können.
Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung kommen schließlich
nur ausnahmsweise, als letzte Hilfsmittel, in Frage. Sie sind aus-
geschlossen, wenn die Jahresleistungen des Schuldners regelmäßig
eingehen. Hierfür aber ist es von ausschlaggebender Bedeutung,
ob das Grundeigentum nur mit Landschaftsschulden belastet ist oder
ob hohe Nachhypotheken und sonstige Verbindlichkeiten die Leistungs-
fähigkeit des Schuldners mit in Anspruch nehmen. Auch wird der
hoch verschuldete Besitzer häufig durch Kapitalmangel gehindert,
seinen Grundbesitz so rationell zu bewirtschaften, wie er es nach
seiner Einsicht und Fähigkeit könnte. Treibt ein überschuldeter
Besitzer dem Zusammenbruch entgegen, so geht erfahrungsgemäß
der Subhastation eine Zeit des Raubbaus voran. Die Sicherheit der
Landwirtschaftliche Kreditreform uud innere Kolonisation. 621
landschaftlichen Beleihung gewinnt daher zweifelsohne durch die
Verringerung der Schuldenlast. Die Unterwerfung der Güter unter
die Verschuldungsgrenze und unter die Zwangstilgung erhöht daher,
alles in allem genommen, die Sicherheit der landschaftlichen Darlehen.
Im einzelnen Entschuldungsfalle freilich tritt zunächst eine Steigerung
des landschaftlichen Risikos ein, wenn dasselbe auch von der
Direktion in den Grenzen voller Sicherheit gehalten werden wird.
Dies Risiko verringert sich aber von Jahr zu Jahr mit der Ansamm-
lung des Tilgungsfonds.
2. Da die Assoziierten der Generalgarantie unterworfen sind,
tragen sie das von der Landschaft mit der Ausdehnung der Be-
leihung übernommene Risiko. Dasselbe wird freilich durch den
großen eigentümlichen Fonds der Landschaft gemindert, welcher über
10 Mill. M. beträgt und in erster Linie für die Tilgung der land-
schaftlichen Verpflichtungen in Anspruch genommen werden würde.
Von besonderer Bedeutung ist die Generalgarantie für diejenigen
Besitzungen, welche wenig oder gar nicht mit Hypothekenschulden
belastet sind, vor allem also für die fideikommissarisch gebundenen
Güter sowie für die staatlichen Domänen und Forsten. Jederzeit
hat die Berücksichtigung der Generalgarantie die Landschaft zu einer
überaus vorsichtigen Geschäftsgebahrung veranlaßt, und es steht zu
erwarten, daß sich dieser Einfluß auch bei Durchführung des Ent-
schuldungswerkes in vollem Maße geltend machen wird. So hat
denn auch der General-Landtag der Direktion nicht volle Freiheit in
der Ausdehnung dieses Geschäftszweiges gewährt, sondern bestimmt,
daß die Gesamtsumme der zur Gewährung von Entschuldungsdar-
lehen und Meliorationskrediten auszugebenden Pfandbriefe und
Schuldverschreibungen von ihm festgesetzt wird.
3. Da wir keine Besorgnisse hinsichtlich der Sicherheit der Land-
schaft und ihrer Assoziierten hegen können, so erscheint uns vollends
eine Gefährdung der Gläubiger der Landschaft ausgeschlossen. Für
sie kommt noch die Generalgarantie als Sicherung hinzu. Mag man
über ihre Bedeutung und Realisierbarkeit bei den landschaftlich be-
liehenen und mit Nachhypotheken überlasteten Gütern streiten
können !), so steht ihr Wert, wo sie den gar nicht oder nur wenig
belasteten Besitz ergreift, außer Frage. Mit Recht hat man darauf
hingewiesen, daß allein die staatlichen Domänen und Forsten, wenn
man ihren Wert nur mit 100 M. für 1 Morgen veranschlagt, die
Hälfte der ganzen Pfandbriefversur decken.
Die Bedenken, welche gegen die dingliche Sicherung der Schuld-
1) Thayssen, Die Generalgarantie der Ostpreußischen Landschaft (Beiträge zur
Erläuterung des deutschen Rechts, 53. Jahrg., Berlin 1909) faßt die Generalgarantie als
„gemeine Last‘ auf, welche auf dem ihr unterworfenen Grundeigentum ruht und allen
im Grundbuche eingetragenen privaten Belastungen vorgeht; da die Landschaft das
Recht hat, alle ihre durch die Landschaftsordnung begründeten Forderungen, also auch
eine etwaige Generalgarantie-Umlage, ohne gerichtliches Verfahren, insbesondere auch durch
Zwangsvollstreckung in das gesamte bewegliche Vermögen ihrer Schuldner beizutreiben, so
haften die Grundeigentümer nicht nur mit den garantiepflichtigen Gütern, sondern auch
mit ihrem anderweitigen Vermögen.
622 Otto Gerlach,
verschreibungen erhoben worden sind, dürften durch die Ausgestaltung
behoben worden sein, welche die Sicherung inzwischen erfahren hat
und welche oben!) skizziert worden ist.
Vollends kann bei der Kontingentierung des Gesamtbetrages
der Entschuldungs- und Meliorationsdarlehen auf 10 Mill. M. von
irgendeiner Gefährdung der Gläubiger der Ostreußischen Landschaft
nicht die Rede sein.
Bevor die Staatsregierung zu der Ostpreußischen Entschul-
dungsordnung Stellung nahm, berief der Landwirtschaftsminister die
General-Landschafts-Direktoren auf den 15. Oktober 1907
zu einer Konferenz, um ihre Kritik des ostpreußischen Verfahrens
entgegenzunehmen. „Es läßt sich nicht leugnen, daß tatsächlich mit
dem Austritt von Ostpreußen aus dem Konzern der Landschaften
das Pfeilbündel wesentlich gelockert und die Möglichkeit, die Pfeile
einzeln zu brechen, gestiegen ist, denn die Argumentation liegt nahe,
daß das, was für Ostpreußen möglich sei, in den anderen leistungs-
fähigeren Provinzen erst recht möglich sein müsse.“ Mit diesen
Worten charakterisiert der, wenn wir nicht irren, der Sächsischen
Landschaft nahestehende Dr. V. G.-B.?) die Stimmung, welche bei
den übrigen Landschaften dem ostpreußischen Vorgehen gegenüber
herrschte. Auf der Konferenz kam zum Ausdruck, daß die Land-
schaften die berufenen Träger für die Entschuldung des ländlichen
Grundbesitzes sind. Eine allgemeine Erhöhung der Taxen wurde
nicht befürwortet. Sie würde nur zu einer noch stärkeren Ver-
schuldung führen. Dagegen empfehle sich eine Revision der Tax-
vorschriften, um dem legitimen Kreditbedürfnis der Grundbesitzer
im Rahmen der regulären landschaftlichen Beleihung Genüge leisten
zu können. Die über diese Grenze hinausgehende Beleihung zum
Zwecke der Entschuldung dürfe nicht mit Hilfe landschaftlicher
Pfandbriefe stattfinden; für sie müßten besondere Entschuldungs-
papiere ausgegeben werden, welche vom Staate garantiert werden
müßten; den Landschaften dürfe ein erhöhtes Risiko über die vor-
gedachte Grenze hinaus nicht angesonnen werden. Die landschaft-
liche Beleihung bis zum fünften Sechstel der Taxe erregte Bedenken.
Es sei zu erwarten, daß die Besitzer bepfandbriefter Güter allgemein
auf eine solche Ausdehnung der Beleihung hindrängen würden, auch
ohne sich der Verschuldungsgrenze zu unterwerfen, zumal wenn die
Beleihung des fünften Sechstels als materiell mündelsicher anerkannt
würde. Auch wurde beanstandet, daß nach der Ostpreußischen Ent-
schuldungsordnung die Verschuldungsgrenze hinter dem fünften
Sechstel zu stehen kommt, während es wohl die Absicht des Gesetz-
gebers gewesen sei, sie hinter den normalen landschaftlichen Kredit
und vor den Entschuldungskredit, also hinter das vierte Sechstel zu
verweisen. Von einigen Seiten wurde es für erwünscht gehalten, dem
1) S. 609.
2) a. a. O. S. 100.
Landwirtschaftliche Kreditreform unh innere Kolonisation. 623
Eigentümer die Möglichkeit zu eröffnen, die Verschuldungsgrenze
tiefer festzusetzen (was nach dem Gesetz von 1906 nicht zulässig
ist), wobei dann freilich in weiterem Umfange Ausnahmen für die
Ueberschreitung bezw. Aufhebung der Verschuldungsgrenze zuge-
standen werden müßten.
Gegenüber dieser Kritik wurde vom Ostpreußischen General-Land-
schafts-Direktor darauf hingewiesen, daß das Verfahren, welches die
Ostpreußische Landschaft gewählt habe, den besonderen ostpreußi-
schen Verhältnissen angepaßt sei und nur von diesen aus beurteilt
werden dürfe. In Ostpreußen bestehen sehr niedrige landschaftliche
Taxen, während die Verschuldung des Grundbesitzes eine außer-
gewöhnlich hohe ist. Wenn es hier gelingt, die Verschuldungsgrenze
bei 5/, der landschaftlichen Taxe einzuführen, so würde dadurch eine
ganz erhebliche Verbesserung der Kreditverhältnisse in der Provinz
herbeigeführt werden. Ueberdies mußte die Verschuldungsgrenze
hinter das fünfte Sechstel gesetzt werden, damit die mündelsichere
Pfandbriefausgabe in den Dienst der Entschuldung gestellt werden
konnte. Im übrigen hatte auch die Kreditkommission der Landwirt-
schaftskammern 1899 vorgeschlagen, daß die Verschuldungsgrenze
hinter den von der Landschaft übernommenen Hypotheken stehen
sollte!) Die allmähliche Tilgung des Landschaftsdarlehns bis auf
1 der Taxe in Verbindung mit der Bestimmung, daß das Tilgungs-
guthaben bei der Bank der Landschaft lombardiert werden kann,
eröffne die Möglichkeit, das vierte und fünfte Sechstel des Taxwerts
dem Betriebskredit dienstbar zu machen. — Ein Anspruch der Land-
wirtschaft auf Staatshilfe bei der Entschuldung des ländlichen Grund-
besitzes lasse sich wohl begründen, es würde aber viel Zeit ver-
loren werden, bis man sie erreichen würde. Ueberdies werde der
Staat, wenn er sich bei der Entschuldung finanziell beteiligte, auch
einen Einfluß auf die Verwendung der Mittel in Anspruch nehmen.
Das aber wäre, wie es bei der Beratung der ostpreußischen Ent-
schuldungsvorlage zum Ausdruck gekommen ist, der Anfang vom
Ende der Selbständigkeit der Landschaft.
Die Behandlung der ostpreußischen Vorlage im Staatsmini-
sterium hat lange Zeit in Anspruch genommen. Ueber die Er-
wägungen in demselben sind keine sicheren Nachrichten in die Oeffent-
lichkeit gedrungen. Zeitweise hatte es den Anschein, als ob man
wegen der Generalgarantie, welche die Domänen und Forsten ergreift,
Bedenken trug, die landesherrliche Genehmigung der Vorlage zu
empfehlen. Hiergegen mußte geltend gemacht werden, daß sich der
Staat der Generalgarantie nicht als Träger von Hoheitsrechten unter-
worfen hat, sondern als Privateigentümer von Grundstücken, als er
in Zeiten finanzieller Not 1808 Pfandbriefdarlehen auf die Domänen
aufnahm. Bei der Ausübung des Aufsichtsrechts über die Land-
schaft darf er sich daher nicht von den Rechten und Pflichten leiten
lassen, welche ihn als Assoziierten betreffen. — Im Justizministerium
1) V. G.-B., a. a. O. 8. 27.
624 Otto Gerlach,
wurde erwogen, ob und wie weit durch den Nachtrag zur Landschafts-
ordnung die bereits bestehenden Rechte der Pfandbriefbesitzer eine
Veränderung erleiden könnten. Diesem Bedenken ist in der König-
lichen Verordnung vom 23. März 1908 Rechnung getragen,
welche die Entschuldungsvorlage mit der Maßnahme genehmigt, daß
1) die Vorrechte der Inhaber der vor dem Inkrafttreten der-
selben ausgegebenen Pfandbriefe unberührt bleiben und daß
2) bei der weiteren Ausgabe von Pfandbriefen in dem Muster
derselben eine Bezugnahme auf diesen Nachtrag zur Landschafts-
ordnung stattzufinden hat.
Gleichzeitig setzte eine Königliche Verordnung von demselben
Tage das Gesetz betreffend die Zulassung der Verschuldungsgrenze
für Ostpreußen in Kraft und bestimmte die Landschaft als zuständige
Kreditanstalt. Am 6. Juni und 31. Juli 1908 hat der Handels-
minister die Zulassung der bis zum 1. Juli 1910 auszugebenden 4-,
31/,- und 3-proz. Ostpreußischen Pfandbriefe sowie der genehmigten
5 Mill. M. Schuldverschreibungen zum Börsenhandel in Berlin und
in Königsberg unter Befreiung vom Prospektzwange verfügt.
Die geplante Kreditreform bezweckt — entsprechend
dem Ergebnis der seit mehr als einem Jahrzehnt über die landwirt-
schaftliche Kreditreform geführten Verhandlungen — zweierlei:
die Entschuldung des ländlichen Grundeigentums und
die Verhütung künftiger Ueberschuldung durch die
Unterwerfung unter die Verschuldungsgrenze.
In den Erörterungen, welche über die Zweckmäßigkeit und
Durchführbarkeit der auf beide Ziele gerichteten Maßnahmen statt-
finden, wird in der Regel nichtscharfunterschieden zwischen
Besitz-und Realkredit, zwischen Betriebs- und Personal-
kredit. Man spricht von einer übermäßigen Entwicklung des Real-
kredits und begründet diese Auffassung mit Einwendungen, welche
sich gegen eine Ueberspannung des Besitz- oder Anlagekredits
richten. Man übersieht, daß der Realkredit sich auch als Grundlage
des Betriebskredits eignet, und daß sich die Genossenschaften vielfach
für Betriebskredite, welche sie eröffnen, Sicherungshypotheken ein-
tragen lassen. Der Gesamtausschuß der Zentralgenossenschaftskasse
betont diese Bedeutung derselben und erkennt, daß sie als Sur-
rogat für die Verschuldungsgrenze dienen können: „Einen Ersatz für
die Verschuldungsgrenze stellt die Eintragung von ausgiebigen
Sicherungshypotheken zugunsten der Genossenschaften dar. Zwar
schützt sie nicht unbedingt gegen die Eintragung weiterer Hypo-
theken, bietet aber den Vorteil, daß sie der Genossenschaft eine
Vorzugsstellung vor anderen Gläubigern gibt und damit eine er-
weiterte Personalkreditgewährung“ (sollte heißen: Betriebskredit-
gewährung) „ermöglicht. — Unter Umständen wird sich eine Ver-
bindung beider Maßnahmen empfehlen“ !).
1) Reichsanzeiger vom 2. Februar 1909.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 625
Bei Erörterung der Frage, ob durch die Eintragung einer Ver-
schuldungsgrenze der Personalkredit gefördert oder gehemmt wird !),
hat man geltend gemacht, daß durch die Verschuldungsgrenze dritte
Personalgläubiger gehindert werden, durch hypothekarische Ein-
tragung ihrer Forderungen den durch die Vorhypotheken noch nicht
belasteten Grundstückswert für sich ausschließlich in Anspruch zu
nehmen: das soll ein Vorteil für die Genossenschaften sein, welche
Betriebskredit in Form von Personalkredit gewähren. Größer wäre
doch wohl die Sicherheit der Genossenschaft, wenn ihr durch eine
Sicherungshypothek ein Vorzugsrecht eingeräumt werden könnte.
Berechtigt ist der bereits erwähnte Einwand Crügers gegen
das Streben, das Grundbuch hinter der mündelsicheren Grenze zu
schließen und das darüber hinausgehende Kreditbedürfnis auf den
reinen Personalkredit zu verweisen, „d. h. billigeren und passenderen
durch teuren und unpassenden Kredit zu ersetzen", Nicht
der Realsicherung der Kreditgeschäfte, sondern der
Ueberlastung des Grundbesitzes mit Restkaufgeld-
und Erbabfindungshypotheken muß der Kampf gelten.
Danach erscheint es geboten, den Besitzkredit etwa auf die
landschaftliche Beleihung zu beschränken. Hinter ihm muß aber
in angemessener Ausdehnung eine reale Unterlage für den Be-
triebskredit, am besten in Gestalt einer Sicherungshypothek, ge-
schaffen werden ë). Wenn in dieser Weise vorgesorgt wird, so kann
die Eintragung der Verschuldungsgrenze, welche sich nur gegen
neue Hypothekenbelastungen jenseits der landschaftlichen Beleihungs-
grenze richtet, die Anhäufung neuen Besitzkredits verhindern, ohne
doch gleichzeitig den Betriebskredit auf realer Unterlage zu unter-
binden. Wird vollends durch die Zwangstilgung dafür Sorge getragen,
daß alle Nachhypotheken (mit Ausnahme der Sicherungshypothek)
mit der Zeit getilgt und zur Löschung gebracht werden, daß sie
also auch nicht durch Abtretung zur Erneuerung des Besitzkredits
1) Vgl. meine Ausführung in Bank-Archiv, VI. Jahrg., No. 9, wo ich dartue, daß
der Personalkredit durch die Verschuldungsgrenze eine Schmälerung erfährt. Der
Eigentümer eines Gutes, welches der Verschuldungsgrenze unterliegt, muß bei sonst
gleichen Verhältnissen weniger Personalkredit genießen, wie der Besitzer eines freien
Gutes. Dagegen wird selbstverständlich der Personalkredit des Besitzers eines hoch-
verschuldeten Gutes geringer sein als der Personalkredit desselben Besitzers, wenn er
die Verschuldungsgrenze übernommen und in einer Reihe von Jahrzehnten seine Schulden-
last abgetragen hat. Diesen letzten Vergleich hat man regelmäßig vor Augen, wenn
man behauptet, daß die Einführung der Verschuldungsgrenze den Personalkredit hebe.
2) Mitteilungen über den 48. Allgemeinen Genossenschaftstag des allgemeinen Ver-
bandes zu Leipzig 1907.
3) Auch der Landwirtschaftsminister v. Arnim denkt an eine Verschuldungsgrenze,
welche „nach Möglichkeit alles frei gibt“, was er als „nützliche und notwendige“ Ver-
schuldung bezeichnet, d. h. die Verschuldung infolge von Notlagen und die Ver-
schuldung zu Meliorationen; welche aber diejenige Verschuldung bekämpft, die mit
Kapitalentziehung verknüpft ist, welche also verhindert, daß zu hohe Restkaufgelder und
zu hohe Erbabfindungen eingetragen werden. (Verhandlungen des Hauses der Ab-
geordneten 1910, S. 926.) Dabei solle für die Eintragung von Pflichtteilen unter allen
Umständen eine Ueberschreitung der Verschuldungsgrenze gestattet werden. (Ebenda
8. 919.) À
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 40
626 Otto Gerlach,
verwandt werden können, wird ferner die Möglichkeit geboten, durch
planmäßige Tilgung des Landschaftsdarlehns bis auf die Hälfte des
Taxwertes hinunter im Tilgungsguthaben einen Fonds anzusammeln,
welcher gleichfalls als Unterlage für Betriebskredit dienen oder auch
für Erbregulierungen verwandt werden kann, so erscheint die Richt-
linie einer rationellen Kreditreform zweckmäßig ausgewiesen und
ihr Ziel angemessen begrenzt: diese Grundgedanken verfolgt
die ostpreußische Entschuldungsordnung. Wird vor der
Eintragung der Verschuldungsgrenze eine Sicherungshypothek für die
Landschaft (oder für eine Kreditgenossenschaft) in Höhe von min-
destens 25 Proz. der landschaftlichen Taxe bestellt, so ist nicht zu
besorgen, daß der Betriebskredit eine bedenkliche Einschnürung er-
fahren könnte; einen Mißbrauch dieser Sicherungshypothek aber zur
Erweiterung des Besitzkredites durch ihre Umwandlung in eine ge-
wöhnliche Hypothek wird die Geschäftsgebahrung der Kreditanstalt,
welche den Betriebskredit gewährt, verhüten können.
Die landschaftliche Entschuldungsordnung bietet den hoch-
verschuldeten ostpreußischen Landwirten eine überaus wirksame
Hilfe zur Abbürdung ihrer Schuldenlast. Die in der Regel hoch-
verzinslichen, kündbaren Nachhypotheken werden schrittweise in
unkündbare, mäßig verzinsliche Tilgungshypotheken umgewandelt
und abgetragen, ohne daß sich die Jahresleistungen des dem Ent-
schuldungsverfahren unterworfenen Grundbesitzers erheblich erhöhen;
dafür muß er sein Gut der Verschuldungsgrenze hinter A, des land-
schaftlichen Taxwertes unterwerfen.
Es muß nunmehr abgewartet werden. in welehem Umfange die
Grundeigentümer davon Gebrauch machen werden. Dabei wird sich
ergeben, ob man überhaupt mit Hilfe der fakultativen Ver-
schuldungsgrenze zu der erstrebten Kreditreform gelangen kann.
Noch größere Vorteile und eine noch höhere Beleihung, als die ost-
preußische Entschuldungsordnung bei der Uebernahme der Ver-
schuldungsgrenze bietet, können wohl von keinem Kreditinstitut zu-
gestanden werden. Auch die Entschuldungsmaßnahmen, welche mit
Staatshilfe nach dem 1910 in Aussicht genommenen!) Verfahren in
die Wege geleitet werden sollen, werden wahrscheinlich nicht mehr
leisten können. Sollte sich die große Masse der Grundeigentümer
der Entschuldung mit Verschuldungsgrenze gegenüber ablehnend ver-
halten, so wird man vor die Frage gestellt werden, ob man die
Entschuldung ohne Verschuldungsgrenze durchführen und sich auf
Verbesserungen des landwirtschaftlichen Kredits beschränken oder ob
man zu Zwangsmaßregeln, zur obligatorischen Verschuldungs-
grenze übergehen soll. Der Landwirtschaftsminister v. Arnim
scheint für das letzte zu sein?), wenn er sich auch dagegen ver-
1) Siehe unten S. 634 f.
2) „Sollte aber der Weg, den wir jetzt beschreiten, versagen, sollte die Verschuldung
im Laufe der Jahre zunehmen, so wird das vitale Interesse, welches der Staat daran
hat, daß der Grundbesitz nicht in Schuldknechtschaft gerät, geradezu dazu zwingen,
mittels der Gesetzgebung einzugreifen.“ (Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten
1910, S. 926.)
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 627
wahrt, daß man in seiner Aeußerung den Auftakt zu gesetzlichen
Zwangsmaßregeln erblicken könne: „dazu ist die Zeit nicht reif“.
Bis zum Ende des Jahres 1909 ist das Entschuldungsverfahren
der Ostpreußischen Landschaft auf 27 Gütern von 15—667 ha Größe
mit insgesamt 7566 ha durchgeführt worden; bei einem Drittel der
entschuldeten Besitzungen blieb die Größe unter 100 ha. Zur Be-
leihung des fünften Sechstels wurden 883000 M., als Spannungs-
kredit (für Entschuldungszwecke 496 700, für Meliorationszwecke
9300 M., zusammen) 506000 M. bewilligt. Bei einer gesamten land-
schaftlichen Beleihung von 5217 675 M. verblieben nach Eintragung der
Verschuldungsgrenze noch 1152306 M. Privathypotheken. Außerdem
haben in einigen Fällen die Eigentümer für Zwecke des Betriebs-
kredits, zur Bestreitung von Aussteuern, Erbauseinandersetzungen
u. dgl. m. in sehr verschiedener Höhe Eigentümergrundschulden
vor der Verschuldungsgrenze eintragen lassen. — Durch sie kann
der Uebergang erleichtert werden; infolge der Zwangstilgung müssen
sie schließlich auch einmal aus dem Grundbuch verschwinden; jeden-
falls sollte man bei ihrer Zulassung auf weise Mäßigung halten. —
Durch das Entschuldungsverfahren hat sich die Zinsenlast von
258186 auf 239551 M. verringert, die Tilgung ist von 17059 auf
47001 M., die Gesamtleistung von 275244 auf 286552 M. gestiegen.
— Die 4-proz. ostpreußischen Schuldverschreibungen sind durch die
Bank der Landschaft in den Verkehr gebracht und glatt aufgenommen
worden. Der erste Kurs war 98,50; er stieg dann und bewegte sich
im Abstande von !/,—1 Proz. vom Kurse der 4-proz. ostpreußischen
Pfandbriefe; der höchste Kurs war 101,50.
Da die Entschuldung unter Eintragung der Verschuldungsgrenze
nicht für alle Verhältnisse passend ist, so hat der 47. General-Landtag
im Jahre 1907 noch zwei andere Wege vorbereitet, auf denen eine
Entschuldung auch ohne Eintragung der Verschuldungs-
grenze durchgeführt werden kann:
1) die Heranziehung von Sparkapitalien an die Bank der
Landschaft, um dieselben der Entschuldung zu widmen;
2) der Ersatz der Tilgung der landschaftlichen Schuld durch
eine Lebensversicherung.
Ein 1907 beschlossener Nachtrag zum Statut der Bank der Land-
schaft dehnte die Passivgeschäfte auf den Spareinlageverkehr
aus, „dessen Wesen in der Zubilligung eines festen Zinssatzes be-
steht und bei dem damit und in den Auszahlungs- und Verzinsungs-
bedingungen den Interessen der Assoziierten und des allgemeinen
Publikums entgegengekommen wird“ '). Ein angemessener Teil der
Spareinlagen sollte?) innerhalb der landschaftlichen Taxe in sicheren
zweitstelligen Hypotheken, welche mit etwa 4 Proz. jährlich verzinst
1) Bericht und Vorschläge des Verwaltungsrats der Bank der Östpreußischen
Landschaft an den ordentlichen 47. General-Landtag, Königsberg 1907, 8. 5.
2) Vgl. ordentlicher 49. General-Landtag der Ostpreußischen Landschaft, Vorlage 11,
Errichtung einer Lebensversicherungsanstalt, 2. Aufl., Königsberg 1910, S. 10 ff.
40*
628 Otto Gerlach,
und mit 1—2 Proz. getilgt werden sollten, unter der Bedingung an-
gelegt werden, daß der Darlehnsnehmer außerdem sein Tilgungs-
guthaben der Pfandbriefschuld der Bank verpfändete und es ihr zur
Tilgung der Bankhypothek zur Verfügung stellte. Auf diesem Wege hätte
ein Darlehn in Höhe des letzten Drittels der landschaftlichen Taxe in
21—24 Jahren getilgt werden können. Wenn sich die Bank auch ein
Kündigungsrecht hätte ausbedingen müssen, so würde von demselben
doch nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht worden sein:
es wäre daher durch dieses Verfahren ebenfalls gelungen, die Nach-
hypotheken durch Tilgungshypotheken, deren Kündigung so gut wie
ausgeschlossen war, zu ersetzen, freilich zu einem etwas höheren
Zinssatze als beim Entschuldungsverfahren mit Hilfe von Pfand-
briefen. Diese große Wohltat sollte zunächst dem kleinsten und
kleinen Grundbesitz, demnächst nach Maßgabe des Anwachsens der
Spareinlagen dem mittleren und erst an letzter Stelle dem größeren
und Großgrundbesitz zugänglich gemacht werden.
Der Nachtrag zum Statut der Bank hat am 23. März 1908 die
landesherrliche Genehmigung erhalten. Die vom Landwirtschafts-
minister und vom Minister des Innern verlangte Erhöhung des
Grundkapitals der Bank aus dem eigentümlichen Fonds der Land-
schaft um 1 Mill. M. sowie die Schaffung eines besonderen, den
Sparern vorbehaltenen Reservefonds ist erfolgt und hiernach der
Sparbetrieb endgültig zugelassen worden. Der in Hypotheken an-
gelegte Betrag darf die Hälfte der Spareinlagen und Depositen nicht
überschreiten. Die Anlage darf aber nur innerhalb der landschaft-
lichen Beleihungsgrenze (°/, des Taxwerts) stattfinden. Das weitere
Verlangen der Minister, daß die Beleihung des fünften Sechstels
auch bei derartigen — teureren — Tilgungshypotheken nur bei Ein-
tragung der Verschuldungsgrenze erfolgen darf, hat aber die Durch-
führung des Planes bis auf weiteres unmöglich gemacht und die
Bank der Landschaft unter ungünstigere Bedingungen als die öffent-
lichen Sparkassen gestellt‘). Es ist nicht ersichtlich, welche Gründe
die Minister veranlaßt haben, der Bank nicht zu gestatten, zweit-
stellige Hypothekendarlehen, welche tatsächlich wie Tilgungshypo-
theken gewirkt hätten, an den kleinen Grundbesitz ohne Verschul-
dungsgrenze auszugeben. Wahrscheinlich haben dabei Rücksichten
auf die Sparkassen eine Rolle gespielt. Diese gewähren aber keine
unkündbaren Tilgungshypotheken. Es ist wohl unbestreitbar, daß
es gerade beim Kleinbesitz mannigfache Fälle gibt, für welche die
Verschuldungsgrenze sich nicht eignet. Das Bedürfnis nach Ent-
schuldungsmaßnahmen auch bei solchen Besitzungen besteht. Da
die Staatsregierung der Landschaft nicht gestattet, dies Bedürfnis
aus den Spareinlagen zu befriedigen, will die Ostpreußische Land-
gesellschaft diesen Geschäftszweig auch in Zukunft pflegen und ver-
langt für denselben die Bereitstellung von Staatsdarlehen 2). Der
1) Berichte und Anträge des Verwaltungsrats der Bank der Ostpreußischen Land-
schaft an den 49. General-Landtag, Königsberg 1910, S. 1 ff.
2) Oben 8. 601.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 629
ordentliche 49. General-Landtag (1910) hat nochmals den Versuch
unternommen, die Spargelder der Entschuldung ohne Verschuldungs-
grenze dienstbar zu machen, und beschlossen: „Der Bank der Ost-
preußischen Landschaft wird die Ermächtigung erteilt, verfügbare
Gelder als Tilgungshypothek auf landschaftlich assoziationsfähige
Grundstücke bis zu 50 ha bis zu Sie der landschaftlichen Taxe
auch ohne Eintragung der Verschuldungsgrenze unter der Bedingung
zu vergeben, daß die Tilgung mindestens 1!/, Proz. beträgt und der
Tilgungsfonds des vorstehenden Landschaftsdarlehns so lange ge-
sperrt bleibt, bis das Darlehn vollständig gedeckt ist. Der land-
schaftliche Tilgungsfonds muß zur Tilgung der Bankhypothek mit-
verwandt werden, wenn er nach den Bestimmungen der Landschafts-
ordnung abhebbar ist und von der General-Landschafts-Direktion nicht
in Anspruch genommen wird“!). Die Entscheidung der Minister
über diesen Beschluß steht noch aus.
In der Entschuldungsordnung von 1907 war die Lebensver-
sicherung an Stelle der Tilgung für den Fall zugelassen worden,
daß der Besitzer kein Entschuldungsdarlehn von der Landschaft
aufnimmt und sich der Verschuldungsgrenze nicht unterwirft; ferner
dann, wenn zwar die Verschuldungsgrenze eingetragen ist, die land-
schaftliche Beleihung aber nicht über ?/ der Taxe hinausgeht und
Nachhypotheken nicht vorhanden sind. Offen gelassen wurde, ob für
derartige Versicherungen besondere Einrichtungen bei der Land-
schaft geschaffen oder bestimmte Privatversicherungsgesellschaften
zugelassen werden sollten.
Die Benutzung der Lebensversicherung ?) als Entschuldungs-
mittel hat gegenüber der heute bei den Landschaften üblichen
Tilgung, bei welcher unter gewissen Voraussetzungen die Kredit-
erneuerung unter Inanspruchnahme des Tilgungsfonds gestattet wird,
den Vorzug, daß an Stelle einer Scheintilgung, welche sich im
wesentlichen als Ansammlung von Sparguthaben charakterisiert, eine
Zwangstilgung tritt, und daß der Tilgungszweck mit dem Eintritt des
Todesfalls der versicherten Person sicher erreicht wird. Anderseits
erfordert sie für den Fall, daß der Versicherer das normale Alter,
welches bei der Bemessung der Versicherungsprämien zugrunde ge-
legt wird, oder daß er bei Lebensversicherungen mit abgekürzter
Prämienzahlung ihr Ende erlebt oder überlebt, größere Aufwen-
dungen, als die Amortisation, weil der Versicherer die Verwaltungs-
kosten der Lebensversicherung sowie die mit dem früheren Ableben
von Versicherten verbundenen Risiken mittragen muß. Dieser Nach-
teil wird aber durch den vorerwähnten Vorteil reichlich aufgewogen,
daß bei frühzeitigem Ableben die Lebensversicherungssumme in
1) Verhandlungen des 49. ordentlichen General-Landtags der Ostpreußischen Land-
schaft, Königsberg 1910, S. 57 ff., 91.
2) Die nachstehenden Ausführungen über die Lebensversicherung der Landschaft
en, zuerst veröffentlicht in No. 9 der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung vom 7. Januar
630 Otto Gerlach,
voller Höhe zur Verfügung steht, und zur Schuldentilgung oder Erb-
regulierung verwandt werden kann, während in solchem Falle die
Schuldentilgung nur wenig leistet.
Vom Standpunkte der Landschaften hat man Gewicht darauf
gelegt, daß ihr Tilgungsfonds durch die Lebensversicherung keine
Schmälerung erfährt, weil er eine wichtige Kreditunterlage der Land-
schaften darstellt. Man hat deshalb die Lebensversicherung nur
neben der fortgeführten Amortisation zulassen wollen, sei es daß
beide unabhängig nebeneinander herlaufen oder daß nach den
Hechtschen Vorschlägen die Amortisation fortgezahlt und die neben
ihr eingegangene Lebensversicherung auf den jeweilig bestehenden
noch nicht getilgten Kapitalrest aufgenommen wird. In beiden Fällen
erfährt der Landwirt eine so starke Belastung, daß nur sehr gut
situierte Personen die Versicherung neben der Amortisation zu über-
nehmen vermögen. Im Gegensatz hierzu nahm die Ostpreußische
Landschaft 1907 den Standpunkt ein, daß die Lebensversicherung
die Amortisation ersetzen kann, wenn die Prämie zum mindesten
1/ Proz. des landschaftlichen Darlehns beträgt. Die neue Vorlage
verbesserte die rechtliche Konstruktion, indem sie die Tilgungspflicht
bestehen läßt, der Landschaft aber gestattet, die Tilgungsbeiträge
zum Erwerbe einer Lebensversicherung auf Antrag des Besitzers
zu verwenden; indem sie ferner den Anspruch auf die Versicherungs-
summe nicht der Landschaft verpfänden, sondern an dieselbe ab-
treten läßt. Da die Landschaft für den Fall, daß sie zur Verwen-
dung ihres Tilgungsfonds schreiten will, das Recht haben soll, die
Versicherungen, welche unter Benutzung von Tilgungsbeiträgen ab-
geschlossen sind, aufzuheben und die Rückkaufswerte zum Tilgungs-
fonds zu vereinnahmen, werden etwaige Bedenken wegen der
Schwächung des Tilgungsfonds hinfällig. Die Beschlußfassung über
eine solche Aufhebung von Versicherungen bleibt aber dem General-
Landtage vorbehalten und unterliegt der Königlichen Genehmigung).
Wir besitzen in Deutschland eine größere Anzahl gut fundierter
und vortrefflich geleiteter Lebensversicherungsgesellschaften; des-
halb lag es nahe, eine oder mehrere derselben heranzuziehen. Doch
bestehen -gewichtige Bedenken dagegen. Bereits im Jahre 1900
wies ein Gutachten der Kur- und Neumärkischen Haupt-Ritterschafts-
Direktion, welches v. Buch verfaßt hat, darauf hin, daß die Land-
schaften in ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis von Privatgesell-
schaften treten würden, wenn sie sich in eine organische Verbindung
mit bestehenden Versicherungsanstalten einlassen, für diese die Be-
zahlung und Einziehung der Prämien übernehmen und die Bildung
eigener Amortisationsfonds für diejenigen Darlehnsnehmer aufgeben
wollten, welche einen Lebensversicherungsvertrag mit einer von der
Landschaft gebilligten Anstalt geschlossen haben. Auch würde die
Auswahl privater Lebensversicherungsgesellschaften den Landschaften
eine Verantwortung von unberechenbarer Tragweite auferlegen, zumal
1) Nach den Beschlüssen des 49. Generallandtages. Vgl. Verhandlungen, S. 44 f., 78 f.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 631
sie außerstande sind, irgendwelchen Einfluß auf die Verwaltung
solcher Gesellschaften auszuüben. Ueberdies ist es der Landschaften
nicht recht würdig, durch die Empfehlung einzelner Gesellschaften,
durch die Vermittlung von Versicherungsabschlüssen und die Ein-
ziehung von Prämien Agenturgeschäfte zu übernehmen. Trotz dieser
grundsätzlichen Bedenken hat die Ostpreußische Landschaft Verhand-
lungen mit zahlreichen privaten Lebensversicherungsgesellschaften
angeknüpft, um festzustellen, ob sich mit ihnen Vereinbarungen er-
zielen lassen würden, welche den besonderen Interessen der Land-
schaft und ihrer Assoziierten gerecht werden. Zu einem befrie-
digenden Ergebnis haben die Verhandlungen nicht geführt. Die
Landschaft hat ein Interesse an der Höhe des Rückkaufswertes der
Versicherung im Falle der Aufhebung und wünschte eine Erhöhung
desselben. Ferner mußte sie verlangen, daß ein erheblicher Teil der
Prämienreserven für die von ihr vermittelten bezw. abgeschlossenen
Versicherungen in ihren Pfandbriefen angelegt wird, weil die Prämien-
zahlungen ihrem Tilgungsfonds, der aus Pfandbriefen besteht, ent-
zogen werden. Beiden Forderungen gegenüber verhielten sich die
Versicherungsanstalten ablehnend.
Unter diesen Umständen hat die Östpreußische General-Landschafts-
Direktion es für notwendig gehalten, an die Gründung einer eigenen
Lebensversicherungsanstalt heranzutreten 11. Dieselbe soll als eine
gemeinnützige Anstalt des öffentlichen Rechts und ein Tochter-
institut der Landschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit und eigener
Vermögensverwaltung begründet und von der Landschaft aus ihrem
eigentümlichen Fonds mit 1 Mill. M. in 31/,-proz. Ostpreußischen
Pfandbriefen ausgestattet werden. Dies Kapital ist in den ersten
5 Jahren unverzinslich und wird nach Ablauf dieser Frist mit
3! Proz. verzinst. Die Landschaft unterstützt des weiteren ihr
Tochterinstitut durch unentgeltliche Hergabe der erforderlichen Dienst-
räume und durch die Arbeitsleistung der landschaftlichen Beamten.
Gegenstand des Unternehmens ist der Betrieb aller Arten der Lebens-
versicherung, ohne Beschränkung auf die Assoziierten. Selbstver-
ständlich können auch die Assoziierten in beliebiger Höhe freie Ver-
sicherungen abschließen. Die Kapitalsanlage soll vorwiegend in
sicheren städtischen und in ländlichen Hypotheken innerhalb der
landschaftlichen Taxe sowie in Pfandbriefen der Ostpreußischen Land-
schaft erfolgen. Die Ausgestaltung des Geschäftsbetriebes im ein-
zelnen soll dem Bedürfnis der Landschaft nach einem ungeschmälerten
Bestande ihres Tilgungsfonds und den besonderen Interessen der ihr
Leben versichernden Landwirte sowie auch aller übrigen Versiche-
rungsnehmer angepaßt werden. Die hierfür erforderlichen Einrich-
tungen zu treffen ist Sache der späteren Ausführung.
Der Plan der Ostpreußischen Landschaft stellt in Deutschland
1) Ordentlicher 49. General-Landtag der Ostpreußischen Landschaft. Vorlage 11.
Errichtung einer Lebensversicherungsanstalt der Ostpreußischen Landschaft als Mittel
zur Entschuldung des ländlichen Grundbesitzes. 2. Auflage. Königsberg 1910.
632 Otto Gerlach,
den ersten Versuch dar, die Lebensversicherung auf öffentlich-recht-
licher Basis zu organisieren, wofür Ad. Wagner bereits vor drei
Jahrzehnten eingetreten ist. Grundsätzliche Bedenken dagegen können
nicht bestehen. Die Lebensversicherung ist ein Geschäft, welches auf
wissenschaftlichen Grundsätzen beruht, für welches daher der öffent-
lich-rechtliche Betrieb dem Privatbetriebe gegenüber keine Nachteile
aufweist. Es ist nicht abzusehen, weshalb hier der Beamtenkörper
einer öffentlich-rechtlichen Korporation weniger leistungsfähig sein
soll, als die Beamten einer Aktiengesellschaft oder einer Gesellschaft
auf Gegenseitigkeit. Dagegen kann die öffentlich-rechtliche Orga-
nisation Vollkommeneres leisten, wenn es ihr gelingt, die gemein-
nützigen Ziele, wie sie beispielsweise auch gerade bei der Volks-
versicherung in Frage kommen, unmittelbarer zu verfolgen, als es
Privatgesellschaften zu tun pflegen. Eine genügende finanzielle
Fundierung und Tragfähigkeit in sich selbst, welche auf dem Aus-
gleich der Risiken beruht, setzt einen hinreichenden Umfang der
Geschäftstätigkeit voraus. Bis dieser erreicht wird, sind Rückver-
sicherungen unentbehrlich. Im vollen Umfange werden alle er-
warteten Vorteile erst dann eintreten, wenn jene nicht mehr nötig
sind. Es liegt daher im Interesse der Assoziierten, daß der Ver-
sicherungsbestand möglichst bald die hierfür erforderliche Höhe er-
reicht. Deshalb ist es berechtigt, daß die Versicherung auch auf
Nichtassoziierte ausgedehnt wird und daß auch ihnen die Vorteile
der öffentlich-rechtlichen Versicherungsanstalt zugänglich gemacht
werden. Wenn das Vorgehen der Ostpreußischen Landschaft, woran
wir nicht zweifeln, erfolgreich durchgeführt wird, so steht zu er-
warten, daß die übrigen Landschaften dem hier gegebenen Beispiele
früher oder später folgen werden. Dann aber können sie sich in
der einen oder anderen Form zur gemeinsamen Tragung der Risiken
vereinigen und einen gesamten Geschäftsumfang erlangen, der hinter
unseren großen Privatanstalten nicht zurücksteht.
Naturgemäß wird sich die Haupttätigkeit der neuen Versicherungs-
anstalt auf das platte Land erstrecken. Es ist nicht zu erwarten,
daß den bestehenden Lebensversicherungsgesellschaften eine empfind-
liche Konkurrenz durch das Vorgehen der Landschaft bereitet wird,
denn erfahrungsgemäß kommen diese nur schwer an die Gutsbesitzer
und Bauern heran, während die Landschaft diese Kreise, gestützt
auf das Vertrauen, welches sie genießt, vor allem aber auch durch
die Verbindung der Prämienzahlung mit der Tilgung des landschaft-
lichen Darlehns leichter zu gewinnen in der Lage ist. Die Möglichkeit,
ohne Erhöhung der Jahresleistung unter alleiniger Verwendung der
Tilgungsbeiträge seine Hinterbliebenen durch eine Lebensversicherung
sicherzustellen, wird ein kräftiger Ansporn zur Benutzung dieser
Anstalt sein und ihre Entwickelung voraussichtlich günstig beein-
flussen. Es handelt sich also um die Eroberung von Neuland
für die Lebensversicherung, für welche sich die landschaftliche
Organisation besonders eignet. Ueberdies hat die Erfahrung im
Feuerversicherungswesen gezeigt, daß der Wettbewerb öffentlich-
rechtlicher Anstalten eine segensreiche Fortbildung und verfeinerte
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 633
Ausgestaltung des Versicherungswesens auch bei den konkurrierenden
Privatgesellschaften nach sich gezogen hat.
Die Lebensversicherungskapitalien sind von großer Bedeutung
für den Hypothekenmarkt. Sind von ihnen doch im Jahre 1907
nicht weniger als 3!/, Milliarden Mark in Hypotheken angelegt!
Auch in geldknapper Zeit versagen sie nicht. Den Lebensversiche-
rungen können Kapitalien nicht in dem Maße, wie es bei anderen
Anlagen der Fall ist, entzogen werden; vielmehr fließen ihnen
regelmäßig die Prämieneinnahmen neu zu und auch ein erheblicher
Teil der aufkommenden Zinsen steht zu Neuanlagen zur Verfügung.
Dieses gewaltige Kapital ist aber ganz überwiegend auf städtische,
und zwar vornehmlich auf großstädtische Grundstücke ausgeliehen.
Von den Deckungshypotheken lasteten 1907 3!/, Milliarden auf
städtischem Grundbesitz gegenüber nur 49 Millionen auf ländlichem.
Wenn durch die Einführung der Lebensversicherung als Ent-
schuldungsmaßnahme der Landschaft eine regere Beteiligung der
Landwirte an der Lebensversicherung herbeigeführt wird, so muß
gefordert werden, daß die von ihnen aufgebrachten Kapitalien auch
vorwiegend auf dem Lande Anlage finden. Dies zu erreichen ist
eine der wichtigsten Aufgaben des geplanten landschaftlichen Instituts.
Der 49. Generallandtag hat die Lebensversicherungs-
vorlage angenommen; sie bedarf noch der landesherrlichen Ge-
nehmigung ').
Die Versuche der Landschaft, Spargelder und Lebens-
versicherungskapitalien an sich heranzuziehen und der
Entschuldung des kleinen Grundbesitzes ohne Unterwerfung
unter die Verschuldungsgrenze zu widmen, ergänzen das
Entschuldungsverfahren mit Verschuldungsgrenze, wo diese nicht
am Platze ist. Mit ihnen stellt sich die Landschaft in den Dienst
von Aufgaben, an deren Lösung der Staat ein großes Interesse
hat, ohne dabei Staatshilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb darf
wohl erwartet werden, daß die Staatsregierung diese Bestrebungen
name fördern und die erforderlichen Genehmigungen er-
teilen wird.
Um das Bild der Kreditpolitik der Ostpreußischen Landschaft
zu vervollständigen, sei noch erwähnt, daß sie auch an der Ein-
beziehung des kleinen Grundbesitzes in die land-
schaftliche Beleihung mit Erfolg gearbeitet hat. Doch ist diese
noch nicht im wünschenswerten Umfange gelungen. Während von
den rd. 3300 vorhandenen Großbetrieben über 100 ha 90 Proz. land-
schaftlich beliehen sind, benutzen von 24000 Betrieben zwischen 20
und 100 ha erst 9690, von den 76000 Gütern zwischen 2 und 20 ha
2885 den landschaftlichen Kredit. Von den 100000 Betrieben von
2 bis 100 ha könnten etwa 50000 mit einem landschaftlich ermittelten
Wert von mindestens 1500 M. landschaftlich beliehen werden, während
nur '/, von ihnen bepfandbrieft ist.
1) Verhandlungen S. 44ff., 77 ff.
634 Otto Gerlach,
Um den bäuerlichen Kreisen den landschaftlichen Kredit näher-
zubringen, hat die Landschaft begonnen, ihren Bezirk mit einem Netz
ständiger landschaftlicher Auskunftsstellen zu überziehen, an
welchen den bäuerlichen Besitzern Belehrung und Auskunft erteilt
und das mit den Taxanträgen unvermeidliche Schreibwerk geleistet
werden soll; auch hat der 49. General-Landtag +) einige Abänderungen
in den Abschätzungsgrundsätzen angenommen, welche nicht
eine allgemeine Taxerhöhung, sondern nur eine angemessene
und bessere Bewertung kleiner Grundstücke, unter be-
wußter Ausschließung des Großgrundbesitzes, herbeiführen soll.
* ý *
In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 31. Januar 1910
hat der Landwirtschaftsminister v. Arnim ein Ent-
schuldungsprogramm skizziert, in welchem er die Berechtigung
der Forderung anerkennt, daß bei der Entschuldung nicht nur des
Klein-, sondern auch des Großgrundbesitzes Staatshilfe gewährt
wird ?). Jede Generation soll die Schulden, welche sie macht,
tilgen; dazu gehöre, wenn man die Generation zu 30 Jahren rechnet,
eine Tilgung von 2 Proz. jährlich. Damit die Entschuldung bei
einem möglichst niedrigen Zinssatz durchgeführt werden kann, sollen
die Landschaften und die Kreditgenossenschaften mitwirken. Die
Sicherheit der Entschuldungsdarlehen soll durch Taxen, welche
modernen Verhältnissen angepaßt sind, und für welche Grundsätze
zurzeit ausgearbeitet werden, geprüft und durch scharfe Beauf-
sichtigung der beliehenen Güter gewährleistet werden. Beim Groß-
grundbesitz wird die Ueberwachung durch Buchkontrollen und Be-
sichtigungen stattfinden und mit Ratschlägen bezüglich der Wirtschafts-
führung verbunden werden können; im Notfalle kann man bei ihnen
zur Kündigung des Darlehns oder zur Zwangsverwaltung schreiten.
Beim Kleingrundbesitz dagegen würden die Kosten der Wirtschafts-
kontrolle und einer etwaigen Zwangsverwaltung zu groß werden:
hier müßten die Genossenschaften mitwirken, wie es in den An-
siedlungsprovinzen und in Ostpreußen geschieht. Die erste Hypothek
soll auch hier die Landschaft gewähren; dagegen soll sie die Ent-
schuldung des Kleinbesitzes nur dort in die Hand nehmen, wo ein
1) Vorlage 12, Aenderung der Abschätzungsgrundsätze zur Förderung der Be-
leihung des Kleingrundbesitzes. Verhandlungen S. 66ff.
2) „Stets aber ist von den beteiligten Instituten betont worden, daß ihre Kraft
zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe nicht ausreiche, daß vielmehr die Hilfe des
Staates unentbehrlich dazu sei. Ich kann die Bereehtigung dieser Stellung-
nahme nicht verkennen. Daran ändert auch das Vorgehen der Ostpreußischen
Landschaft nichts, die bekanntlich ohne Staatshilfe die Entschuldungsaktion in Angriff
genommen hat. — Die Staatsregierung hat sich deshalb in Anerkennung der
großen Wichtigkeit, die eine wirtschaftlich gesunde landwirtschaftliche Bevölkerung für
das ganze Staatswesen hat, entschlossen, den Versuch zu machen, Kredit-
organisationen, die die Entschuldung in die Hand nehmen wollen,
ihre schwierige Aufgabe durch Staatshilfe zu erleichtern.“ (Verhand-
lungen des Hauses der Abg. 1910, S. 922 f.)
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 635
genossenschaftliches Vorgehen nicht stattfindet; „aber da, wo die
Genossenschaften bereit sind, in die Entschuldungsaktion einzutreten,
sollen die Landschaften ihre Kreise nicht stören“. Zur Sicherung
der Entschuldungsstelle und im Interesse ihres Passivkredits müssen
Sicherheitsfonds gebildet werden: dabei soll Staatshilfe eintreten,
wenn auch gehofft werden könne, daß die betreffenden Kreditinstitute
wegen ihres gemeinnützigen Charakters bereit sein werden, aus
eigenem Vermögen Opfer zu bringen. Der Staat soll der Ent-
schuldungsstelle ein zinsfreies Darlehn in Höhe von 3!/, Proz. des
Entschuldungsdarlehns zur Bildung eines Sicherheitsfonds für die
Dauer von 30 Jahren leihen !). Der Schuldner soll die Verpflichtung
übernehmen, nach vollständiger Tilgung seiner Schuld noch ein Jahr
lang die Zinsen (3!/, Proz.) weiterzubezahlen und auf diesem
Wege das an den Staat zurückzuzahlende Darlehn aufbringen,
während das der Entschuldungsstelle vom Staat geliehene Kapital
in ihrem Sicherheitsfonds verbleibt und diesen stärkt, sofern es nicht
zur Deckung von Ausfällen hat Verwendung finden müssen. Außer-
dem will der Staat den Entschuldungstellen Zuschüsse zur Organi-
sation ihrer Verwaltung und der in Aussicht genommenen strengen
Beaufsichtigung der Kreditnehmer geben. — Für das Etatsjahr 1910
sind zunächst 50000 M. in den Etat eingestellt, um Versuche vor-
zubereiten.
Eine Beurteilung der skizzierten Pläne ist zurzeit nicht möglich,
weil der Minister sich über die Art der Durchführung im einzelnen
nicht geäußert hat; er konnte es wohl auch noch nicht tun, da es
vorerst der Verhandlungen mit den Landschaften und Genossen-
schaften bedürfen wird. Immerhin dürfte eins bereits sicher sein:
sollen die Genossenschaften zur Mitwirkung bei der Entschuldung
des bäuerlichen Besitzes herangezogen werden, und zwar nicht
unter Verwendung ihrer eignen Spargelder?), sondern
nur unter ihrer Garantieleistung?°), so werden die Ent-
schuldungsdarlehne hierfür, wenn nicht ein erhebliches Fallen des
realen Zinssatzes eintritt, im Wege der Staatsanleihen aufge-
bracht werden müssen: so geschieht es heute in den Ansiedlungs-
provinzen! so fordert es in Ostpreußen die Landgesellschaft, weil die
unter Inanspruchnahme der Kredithilfe des Provinzialverbandes nach
kaufmännischen Grundsätzen ausgebaute Verbindung mit dem großen
Kapitalmarkt bei dem dermaligen niedrigen Kursstande der Obli-
gationen für das Entschuldungswerk zu teuer ist!
Der vom Landwirtschaftsminister vorgeschlagene genossen-
schaftliche Weg ist daher auch beim Kleingrundbesitz, sofern es
sich nicht um Anlage von Spargeldern in Entschuldungshypotheken
handelt, weniger empfehlenswert, als das landschaftliche Ent-
schuldungsverfahren.. Wo die Landschaften bereit sind, die Ent-
1) Es handelt sich bei diesem Vorschlage offenbar um eine Nachahmung des
Verfahrens in den Ansiedlungsprovinzen. S. o. S. 593.
2) Oben S. 601 ff.
3) Oben 8. 591 ff.
636 Otto Gerlach,
schuldung des bäuerlichen Besitzes mitzuübernehmen, sollte von
dem Entschuldungsverfahren unter Garantie der Genossen-
schaften Abstand genommen werden.
* S *
Die innere Kolonisation gewann außerhalb der Ansied-
lungsprovinzen zuerst in Pommern größere Bedeutung. Hier ent-
wickelte sich bereits seit den siebziger Jahren unter dem Einfluß
der ungünstigen landwirtschaftlichen Konjunktur ein stärkeres An-
gebot größerer ländlicher Grundstücke, welches von einer lebhaften
Nachfrage nach kleineren und mittleren Besitzungen begleitet wurde.
Man unterscheidet vor dem Auftreten der gemeinnützigen Ansied-
lungsgesellschaften 4 Perioden der Entwicklung !): „In der 1. Periode
wurden in verhältnismäßig geringem Umfange ganze Güter oder
Teile davon durch die bisherigen Besitzer selbst parzelliert. In der
2. bemächtigten sich die gewerbsmäßigen Güterschlächter des Ge-
schäftes (Kolberg-Körlin: Lehment und Heinrichsdorff). Die 3. Periode
beginnt mit dem Eingreifen der Generalkommission, die 4. mit dem
Auftreten der Landbank, die, mit großen Kapitalien ausgerüstet, bald
in größtem Maßstabe vorging.“ Während in der 1. Periode solide
gearbeitet wurde, schufen die Güterschlächter zahlreiche Gebilde,
„die schon bei ihrer Gründung den Todeskeim in sich trugen“.
Die Generalkommission, deren Tätigkeit nach dem Gesetz zur Förde-
rung der Rentengutsbildung von 1891 begann, hatte in der ersten
Zeit viel mit Sanierungen zu tun. Daneben bemühte sie sich, bei
neuen Sachen die Interessen der Ansiedler und der neugebildeten
Kolonien wirksam zu vertreten. Doch war sie nicht in der Lage,
die verderbliche Privatparzellierung gründlich zu bekämpfen und
zurückzudrängen, weil sie nur als vermittelnde Instanz auftritt,
während die Parzellierer den Grundstücksverkäufern den Kaufpreis
bar auszahlen. Mit der Berliner Landbank erschien ein sehr kapital-
kräftiger Käufer, Güterhändler und Kolonisator auf dem Plane, doch
erregte ihr Geschäftsbetrieb in landwirtschaftlichen Kreisen Be-
denken. Deshalb faßte der Ausschuß der Landwirtschaftskammer
für volkswirtschaftliche Fragen am 11. Februar 1898 folgenden Be-
schluß: „Die gewerbs- und planmäßige Parzellierung ländlicher Be-
siedelungen berührt so wesentliche wirtschaftliche, soziale und
öffentlich-rechtliche Interessen, daß von seiten des Staates die weit-
gehendsten Garantien für die volle Berücksichtigung aller ein-
schlägigen Fragen gefordert werden müssen. Zu diesem Zwecke hält
der Ausschuß für notwendig: ..... 4. Errichtung einer mit aus-
reichenden Mitteln ausgestatteten Stelle, welche, in enger Verbindung
mit der Generalkommission, da, wo ein Bedürfnis zur Parzellierung
1) Aus der Denkschrift: Die Pommersche Ansiedlungs-Gesellschaft vom Jahre
1903 bis Dezember 1908, Stettin 1909. — Vgl. ferner W. Asmis, Umfang und Entwick-
lung der inneren Kolonisation in Pommern, Greifswald 1903. — M. Belgard, Parzel-
lierung und innere Kolonisation in den 6 östlichen Provinzen Preußens 1875—1906.
Leipzig 1907.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 637
größerer Besitzungen hervortritt, die Uebernahme und planmäßige
Aufteilung solcher Güter in die Hand nimmt.“
Nach einer kurzen Tätigkeit der Deutschen Ansiedlungs-
Gesellschaft, welche sich aus Mangel an Mitteln auflösen mußte,
wurde auf persönliche Anregung des Generalkommissions-Präsidenten
Dr. Metz im Januar 1903 von 22 pommerschen Landwirten die
Pommersche Ansiedlungs-Gesellschaft gegründet. Ihre
Rechtsform ist die Genossenschaft m. b. H. Der Geschäftsanteil betrug
anfangs 100, seit 1905 1000 M., die Haftsumme 1000 M. Die Zahl der
Mitglieder stieg im ersten Jahre (1903) auf 48 mit 75 Geschäftsanteilen ;
Ende 1908 betrug sie 201 mit 434 Geschäftsanteilen. Ihre Geschäftstätig-
keit erstreckt sich vornehmlich auf die Provinz Pommern und greift
nur nebenher auf Brandenburg und Westpreußen über. In Pommern
hat sie ihre größte Tätigkeit im Regierungsbezirk Köslin entfaltet.
Bis Ende 1908 hat sie 23560 ha zur Besiedlung übernommen und
über 1000 Kolonisten angesetzt. Ihre Arbeit verdient volle An-
erkennung, obwohl man gegen einzelne ihrer Ansiedlungssachen das
eine oder andere Bedenken erhoben hat. Sie verfährt jedenfalls
bei ihrer Kolonisation gemeinnützig, sie prüft die Bedürfnisfrage
sowie die Qualifikation der angebotenen Güter zur Aufteilung
und verfolgt das Ziel, die Kolonisten zu günstigen Bedingungen
anzusetzen. Daß sie dabei trotz des Ausschlusses eines selb-
ständigen Erwerbsinteresses nach kaufmännischen Grundsätzen
arbeitet, ihre Verwaltungskosten decken und Reserve- und Aus-
gleichsfonds bilden muß, ist selbstverständlich. Obwohl sich ein
Teil der Großgrundbesitzer der Provinz ihr gegenüber noch ab-
lehnend verhält, genießt sie im Kreise der Landwirte großes Ver-
trauen und erfreut sich der Mitwirkung und des Rates derselben.
Dieses günstige Verhältnis ist in erster Linie der genossenschaft-
lichen Organisationsform zuzuschreiben. „Von Wichtigkeit war von
vornherein, — sagt die Denkschrift!) — daß die Gründung aus den
Kreisen der Großgrundbesitzer heraus entstanden war. Dadurch
wurde von Anfang an jenes Vertrauen zu dem neuen Kolonisations-
institut hergestellt, ohne das eine ersprießliche Arbeit auf diesem
Gebiete überhaupt nicht möglich ist.“ Andererseits barg die ge-
nossenschaftliche Organisation den Nachteil in sich, daß die finan-
zielle Grundlage durchaus ungenügend war. Es gehörte wahrlich
Mut dazu, mit 22 Geschäftsanteilen von je 100 M. und mit 22000 M.
Haftsumme an die Ansiedlungsaufgabe heranzutreten und im ersten
Jahre bereits über 1100 ha Land zu kaufen, aufzuteilen und zu be-
bauen. Es bedurfte der angespanntesten Tätigkeit, persönlicher
Opfer mit Uebernahme umfangreicher persönlicher Garantien, sowie
andererseits weitreichender staatlicher finanzieller Beteiligung, um
trotz so schmaler Basis das Unternehmen durchzuführen. Für
Pommern mochte dieser Weg gangbar erscheinen, da die sachlichen
Bedingungen für die innere Kolonisation außergewöhnlich günstig
1) 8.4,
638 Otto Gerlach,
sind; eine Uebertragung einer finanziell so schwachen Organisations-
form auf andere Provinzen und Kreise wäre dagegen bedenklich !).
Neben dem Mangel an genügendem eigenen Betriebskapital haben
sich im Laufe der Zeit die Ansammlung bedeutender Restrenten,
welche die Gesellschaft jenseits der 75-proz. Beleihung durch die
Rentenbank stehen lassen muß, sowie die mit dem sinkenden Kurs
der Rentenbriefe verbundenen Kursverluste als Hemmnisse erwiesen.
Als 1%5 der sogenannte 2 Millionenfonds für Ansiedlungs-
zwecke in den Provinzen Pommern und Ostpreußen in den Etat
eingestellt wurde, beschloß der Vorstand der Ostpreußischen Land-
wirtschaftskammer eine Kommission einzusetzen, welche darüber be-
raten sollte, in welcher Weise in Ostpreußen in der Ansiedlungs-
frage vorzugehen sei. Diese Kommission ist niemals einberufen,
dagegen ist von Berlin aus die Gründung der Ostpreußischen
Landgesellschaft m. b. H. betrieben worden", Als Gesell-
schafter traten ihr der preußische Fiskus, vertreten durch die
Seehandlung, die Ostpreußische Provinzial-Genossenschafts-Kasse
(Raiffeisensche Organisation) und die Aktien-Gesellschaft Landbank
in Berlin mit Stammeinlagen von je 600000 M. bei. Man hat
offenbar diese Organisationsform gewählt, um ein kapitalkräftigeres
Kolonisationsinstitut mit genügenden eigenen Mitteln zu schaffen,
welches auch fähig ist, das mit seiner Geschäftsführung verbundene
große Risiko zu tragen. Die Aufgaben der Gesellschaft erstreckten
sich auf die Vermehrung der Bauern- und Arbeiterstellen sowie auf
die Befestigung des vorhandenen bäuerlichen Besitzes durch Rege-
lung der Schuldverhältnisse ë). Ihre Tätigkeit begann im März 1906.
Die Aufnahme, welche die Landgesellschaft in der Provinz, vor-
nehmlich in den landwirtschaftlichen Kreisen, fand, war in der
ersten Zeit keine günstige. Das hing damit zusammen, daß die
Gründung der Gesellschaft sowie die Einleitung ihrer Tätigkeit
ohne Mitwirkung der ostpreußischen Landwirtschaft stattgefunden
hatte. Man faßte sie als fremden Eindringling auf, dem man Miß-
trauen entgegenbrachte. Dasselbe wurde verstärkt durch den Um-
stand, daß die Landbank Mitglied der Gesellschaft war und Güter
zur kommissionsweisen Besiedelung überwiesen erhielt. Schließlich
befand sich die Raiffeisensche Provinzial-Genossenschafts-Kasse gerade
1) Vgl. hierzu meine Ausführungen im Landes-Oekonomie-Kollegium. Ver-
handlungen vom 5.—8. Februar, Berlin 1908, S. 437ff. — Denkschrift der
Pommerschen Ansiedlungsgesellschaft 1909, S. 10 ff.
2) Die wiederholt aufgestellte Behauptung, daß die Regierung mit der Gründung
der Landgesellschaft vorgehen mußte, weil eine Organisation aus der Provinz heraus
nicht möglich gewesen wäre, stützt sich auf Meinungsäußerungen einer Versammlung
ostpreußischer Notabeln, welche im Frühjahr 1905 nach Berlin einberufen worden war.
Der oben erwähnte Beschluß des Vorstandes der Landwirtschaftskammer sollte aber
dem Landwirtschaftsminister mitgeteilt werden. Die Kommission ist, wie mir der in-
zwischen verstorbene damalige Generalsekretär der Landwirtschaftskammer mitteilte,
nicht einberufen worden, weil man in Berlin einen anderen Organisationsplan verfolgte.
Vgl. meine und v. Sehwerins Ausführungen im Landes-Oekonomie-Kollegium,
Februar 1908, Verhandlungen, S. 436ff., 474 ff., 499 ff.
3) Vgl. oben 8. 595 ff.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 639
in einer beunruhigenden Krisis: Während die Raiffeisenschen Spar-
und Darlehnskassen-Vereine in der Provinz Ostpreußen Ausgezeich-
netes leisteten, waren bei der Finanzierung einiger Produktiv-Ge-
nossenschaften Fehler gemacht worden, welche zu Verlusten führten
und bei vielen Landwirten die Raiffeisen-Organisation leider zeitweise
diskreditierten. An den ersten Aufteilungen der Landgesellschaft
wurde nach verschiedenen Richtungen hin Kritik geübt. Man warf
ihr vor, daß sie nicht genügend für die Erhaltung der Waldbestände
gesorgt habe, daß sie die Güter zwar billig einzukaufen verstehe,
die Ansiedler aber zu teuer ansetze und ein zu großes Gewicht auf
die Ansammlung von Reserven lege. Es kann hier nicht unsere
Aufgabe sein, die Berechtigung derartiger Anschuldigungen zu prüfen.
Auch dürften erst die Erfahrungen, welche in späteren Jahren mit
der Rentenzahlung gemacht werden, den Beweis erbringen, ob die
Ansiedlungsbedingungen angemessen oder zu ungünstig gewesen
sind. Es kam an dieser Stelle nur darauf an, die landläufige Auf-
fassung zu skizzieren, welche man Ende 1907 vielfach innerhalb der
Provinz antreffen konnte.
In diese Situation griff die Ostpreußische Landschaft
mit ihrer Kolonisations- und Landarbeitervorlage vom
Januar 1908!) ein. Leitender Gesichtspunkt derselben war, daß die
innere Kolonisation zwar eine zeitgemäße Umgestaltung der Besitz-
verhältnisse und eine Ausdehnung des mittleren und kleineren Be-
triebes herbeiführen soll, daß durch sie aber der Grundbesitz nicht
mobilisiert werden darf, daß vielmehr die Befestigung der Besitz-
verhältnisse wie bei Entschuldungsmaßnahmen so auch bei der inneren
Kolonisation zu erstreben ist.
Deshalb legte die Vorlage der Ostpreußischen Landschaft be-
sonderes Gewicht darauf, daß die neuere, in den Ansiedlungsprovinzen
sowie in Pommern und einigen anderen Gebieten entwickelte Koloni-
sationstechnik, bei welcher ganze Güter aufgeteilt und zu neuen
Landgemeinden zerschlagen werden, nur ausnahmsweise Anwendung
finden darf, wo sich Großbetriebe aus diesen oder jenen Gründen
nicht zu halten vermögen. Im übrigen müsse die Vermehrung der
Bauernstellen zwar auch auf Kosten des Gutslandes, aber nicht
unter Vernichtung der Großbetriebe stattfinden. Das kann durch
Aufteilung von Außenschlägen erreicht werden, sei es daß
diese für sich allein zur Bildung einer Landgemeinde ausreichen, sei
es daß sie zu schon bestehenden Landgemeinden zugezogen werden,
oder daß man die Außenschläge mehrerer Güter zu einer Land-
gemeinde vereinigt. Wenn man in dieser Weise kolonisiert, wird die
1) Außerordentlicher 48. General-Landtag der Ostpreußischen Landschaft. Vor-
lage 2. Kolonisations- und Landarbeitervorlage. Königsberg, im Januar
1908. — Nachtrag zu Vorlage 2. Kolonisations- und Landarbeitervorlage. (Zugleich
Entgegnung auf die Erwiderung der Ostpreußischen Landgesellschaft
zu Königsberg i. Pr. vom 23. Februar 1908.) Königsberg, im März 1908. — Ost-
preußische Landschaft. Innere Kolonisation und Selbstverwaltung. 2. Auf-
lage. Königsberg, im Januar 1909.
640 Otto Gerlach,
Nachfrage nach ganzen Gütern für Kolonisationszwecke ausgeschaltet,
welche die Preise hoch treibt und die Besitzverhältnisse dadurch
lockert, daß sie zu Verkaufsangeboten reizt. Auch wird durch das vor-
geschlagene Verfahren der Großgrundbesitz nicht geschwächt: Vielmehr
steht eine wirtschaftliche Kräftigung durch die Abstoßung der Außen-
schläge und Intensivierung der verkleinerten Betriebe zu erwarten.
Vermieden wird dabei auch die Vernichtung bedeutender volkswirt-
schaftlicher Werte, welche häufig bei der Zertrümmerung von Gütern
stattfindet, wie z. B. die Vernichtung der Wälder, die Vernichtung
von Stammherden und die unvollkommene Verwertung der vor-
handenen Gutsgebäude. Neben der bäuerlichen Kolonisation auf
Außenschlägen von Gutsbezirken soll die Arbeiteransiedlung
in Dörfern mit Nachdruck betrieben werden; mit ihr würde die
Ausbildung einer freieren Arbeitsverfassung Hand in Hand gehen.
Durch diese beiden Zweige der inneren Kolonisation, verbunden mit
Maßnahmen zur Förderung des Landarbeiterwohnungsbaues und der
ländlichen Wohlfahrtspflege, soll zwar die Besitzverteilung verändert,
die Besitzverhältnisse sollen aber gefestigt und die Bevölkerung
bodenständiger gemacht werden. Dadurch würden auch die Arbeiter-
verhältnisse, welche in ihrer heutigen Entwicklung die Aufrecht-
erhaltung eines ordnungsmäßigen Landwirtschaftsbetriebes bedrohen,
günstig beeinflußt werden. Da „die Verbesserung und Erhaltung
eines dauerhaften Kredits der ostpreußischen Gutsbesitzer“ der Zweck
der Landschaft ist, so liege die innere Kolonisation, wie sie von der
Landschaft aufgefaßt wird, im Rahmen ihrer Aufgaben.
Zur Lösung dieses Problems erscheint es „unbedingt notwendig,
daß auf breitester finanzieller Grundlage leistungsfähige Organisa-
tionen ins Leben gerufen werden, in denen sich die Landwirte einer
Provinz von unten herauf zum Zwecke des Ankaufs und der
Aufteilung geeigneter ländlicher Grundstücke zusammenschließen,
und so für jede Provinz eine Zentrale geschaffen wird, in der alle
Bestrebungen der inneren Kolonisation, der Seßhaftmachung land-
wirtschaftlicher Arbeiter, der Verbesserung des Arbeiterwohnungs-
wesens auf dem platten Lande, kurz der gesamten Wohlfahrtspflege,
für den kleinsten, kleinen und mittleren Grundbesitz zwecks ihrer
wahrhaft uneigennützigen und tatkräftigen Unterstützung und Förde-
rung einheitlich zusammengefaßt werden. Solche Organisationen
können, wenn sie gedeihen und ihre Aufgabe wirklich erfüllen sollen,
nur auf Grundlage freier Selbstverwaltung aufgebaut werden .
Alle Voraussetzungen für die praktische Ausführung eines umfassen-
den Ansiedlungswerks sind gegeben. Es fehlt nur an der ziel-
bewußten staatlichen Initiative, die alle diese Kräfte und Bestrebungen
sammelt und zur gemeinsamen Arbeit vereinigt, die die Gesamtheit
der Landwirtschaft und mit ihr die Kreis- und Provinzialverwaltungen.
die Landesversicherungsanstalten und die öffentlichen Kreditinstitute
in den einheitlichen Dienst der praktischen Verwirklichung dieser
Bestrebungen stellt“ 1).
1) Kolonisations- und Landarbeitervorlage. Königsberg 1908, 8. 15 ff.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 641
Wenn der Großgrundbesitz die Ueberzeugung gewinnt, daß es
mit der inneren Kolonisation nicht auf seine Vernichtung abgesehen
ist, werde er für die Mitwirkung gewonnen werden können. Es bedarf
einer gemeinnützigen Organisation, welche mit hinreichendem Kapital
ausgestattet wird, welche zwar nach kaufmännischen Grundsätzen
verfahren muß, bei welcher aber das Erwerbsinteresse vollkommen
ausgeschaltet wird, und bei der es auch möglich ist, im Interesse
des Ansiedlungswerks und des öffentlichen Wohls finanzielle Opfer
zu bringen. Deshalb eignen sich hierfür nicht private Erwerbs-
unternehmungen, mögen sie in der Form der Genossenschaft oder
der Gesellschaft m. b. H. auftreten. Die Vorlage schlug vor, eine
Ansiedlungsbank als Tochterinstitut der Landschaft
mit eigener Rechtspersönlichkeit zu bilden, welches mit einem
Grundkapital von 7 Mill. M. ausgestattet und von der Landschaft
durch Hergabe der erforderlichen Räumlichkeiten sowie durch Arbeits-
hilfe der landschaftlichen Beamten unterstützt werden sollte. Das
Grundkapital sollte zu je 1 Mill. M. von seiten der Landschaft, der
Kreiskommunalverbände, der Provinz Ostpreußen und zu 4 Mill. M.
vom preußischen Staat zins- und dividendenfrei hergegeben werden.
Mit der Angliederung der Ansiedlungsbank an die Landschaft würde
die freieste Selbstverwaltung verbürgt und die Tätigkeit des Staates
auf die in Wahrnehmung staatlicher Hoheitsrechte auszuübende Staats-
aufsicht beschränkt werden. Erwartet wurde die Gefolgschaft der
Ostpreußischen Landwirtschaft, welche die Landschaft als ihre Ver-
treterin ansehen könne, insbesondere auch des Großgrundbesitzes.
Ein solches Institut würde an dem allgemeinen Vertrauen und der
Achtung teilnehmen, welches sich das Mutterinstitut, die Landschaft
erworben hat. Da ihm die Selbstverwaltungsorgane der Landschaft
zur Verfügung gestellt werden, würde es nicht, wie die privaten
Gesellschaften, darauf angewiesen sein, mit der Ankaufs- und Be-
siedlungstätigkeit, selbst unter ungünstigen Verhältnissen, nur des-
halb fortzufahren, weil die laufenden Verwaltungsunkosten Deckung
erfordern.
Ebenso wie mit der Entschuldungsvorlage stieß die Landschaft
mit ihrer Kolonisations- und Landarbeitervorlage auf die vom Staate
gegründete und unter seinem Einfluß geleitete Landgesellschaft. Es
war daher unvermeidlich, daß sich ihre Vorlage teilweise, wenn auch
vorsichtig und unter Zurückhaltung, gegen die Landgesellschaft, ihre
Organisation, ihre Aufgaben sowie ihre bisherige Tätigkeit wandte.
Die Großzügigkeit des Planentwurfes verdient Anerkennung:
Statt einer mit 1,8 Mill. M. ausgestatteten Erwerbsgesellschaft
ein öffentlich-rechtliches Tochterinstitut der Landschaft, welches über
7 Mill. M. Stammkapital verfügen und des weiteren von der Land-
schaft durch sachliche und persönliche Hilfe im Werte von jährlich
35000 M. unterstützt werden soll. — Die bisher allein von der
inneren Kolonisation betriebene Güterzertrümmerung soll in die
zweite Reihe zurücktreten, während der Nachdruck auf die Koloni-
sation auf Außenschlägen sowie auf die Landarbeiteransiedlung ge-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 41
642 Otto Gerlach,
legt wird. Eine neue Kolonisationstechnik soll für die Lösung dieser
Aufgabe herausgebildet werden. Die Preissteigerung der Güter und
die Lockerung der Besitzverhältnisse hoffte man auf diesem Wege
zu vermeiden, das Interesse und die Hilfe des Großgrundbesitzes
zu gewinnen. — Die Kommunalkörperschaften in der Provinz sollen
zu dieser wichtigen Kulturaufgabe herangezogen werden, ihr Interesse
durch Dotierung des Instituts bekunden, und als Lokalinstanzen das
öffentlich-rechtliche Kolonisationsinstitut bei organischer Angliede-
rung an dasselbe unterstützen. — Die durch keine Dividendenverteilung
geschmälerten Ueberschüsse sollen ausschließlich der ländlichen Wohl-
fahrtspflege und dadurch der Befestigung der Landbevölkerung
dienen. — Der entscheidende Einfluß auf den Gang der inneren
Kolonisation soll vom Staate bezw. von Beamten der Landgesell-
schaft, welche unter entscheidendem Einfluß des Staates stehen, auf
Organe übertragen werden, welche aus der Landwirtschaft hervor-
gegangen sind, welche die Geschäfte nach den Grundsätzen freier
Selbstverwaltung führen und nicht unter staatlicher Leitung, sondern
nur unter staatlicher Aufsicht stehen.
Der Kappschen Vorlage und ihrer Begründung gelang es, die
ostpreußischen Landwirte lebhaft für die innere Kolonisation zu
interessieren. Bisher hatte man derselben, soweit man sich über-
haupt mit ihr beschäftigte, das Mißtrauen entgegengebracht, daß es
bei ihr auf die Schwächung des Großgrundbesitzes sowie der kon-
servativen Partei abgesehen sei. Dieses Mißtrauen schwand sichtbar
unter dem Einflusse der Kappschen Denkschrift, in welcher die
Aussicht eröffnet worden war, innere Kolonisation ohne Güterzer-
trämmerung zu treiben, die Landarbeiteransiedlung in den Vorder-
grund zu rücken, eine Verbesserung der Landarbeiterverhältnisse
und eine Befestigung des Großgrundbesitzes herbeizuführen. Man
vertraute darauf und hoffte, daß sich Mittel und Wege finden lassen
würden, diese Ziele zu erreichen).
Die Staatsregierung hatte am 17. März 1908 im Abgeord-
netenhause durch den Landwirtschaftsminister erklären lassen, daß
sie die für die landschaftliche Ansiedlungsbank nachgesuchte Staats-
unterstützung nicht gewähren werde, dagegen bereit sei, mit den
bei der inneren Kolonisation interessierten Stellen der Provinz und
auch mit der Ostpreußischen Landschaft in Unterhandlung über die
Umgestaltung der vom Staat 1905 ins Leben gerufenen und vom
Minister als reformbedürftig anerkannten Ostpreußischen Landgesell-
schaft einzutreten. Auch die Budgetkommission des Abgeordneten-
hauses hatte anläßlich des Antrages von Bieberstein?) beschlossen,
1) In jüngster Zeit wird das Mißtrauen wieder durch liberale Politiker geweckt,
welche die innere Kolonisation aus parteipolitischen Gründen empfehlen.
2) Antrag von Bieberstein, „die Kgl. Staatsregierung zu ersuchen, um das Zu-
standekommen der durch den Beschluß des Preußischen Landes-Oekonomie-Kollegiums vom
8. Februar 1908 befürworteten Ansiedlungsbank für Ostpreußen zu fördern, unter der
Voraussetzung, daß Provinz, Kreise und General-Landschaft zusammen Leistungen in
gleicher Höhe rechtsverbindlich beschließen, in 3 Raten vom 1. April ab beginnend,
4 Mill. M. als zinsfreien Staatsbeitrag aus dem 2 Millionenfonds, der vom Etat 1909
ab entsprechend zu erhöhen ist, zu bewilligen.‘“
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 643
diesen Antrag abzulehnen, die Staatsregierung aber aufzufordern, die
Ostpreußische Landgesellschaft in der Richtung auszugestalten, daß
öffentliche Verbände, wie Provinz, Kreise, Landwirtschaftskammer
und Landschaft sowie die Genossenschaften in angemessener Weise
beteiligt werden. Trotz dieser Vorgänge nahm der 48. General-
Landtag die Kolonisationsvorlage mit 44 gegen 8 Stimmen an, er-
mächtigte aber auf Antrag v. Oldenburgs die General-Land-
schafts-Direktion, sich zuvor an den vom Landwirtschaftsminister in
Aussicht gestellten Verhandlungen zu beteiligen !).
Die Staatsregierung verfolgte ihren Plan, die Landgesellschaft auf
privatrechtlicher Grundlage zu reformieren, weiter, ohne sich
auf grundsätzliche Erörterungen darüber einzulassen, ob diese Organi-
sationsform den Vorzug verdiente, während die Landschaft ver-
langte, daß die reorganisierte Gesellschaft auf öffentlich-recht-
licher Basis aufgebaut würde. Ihren ursprünglichen Plan, die
Ansiedlungsbank als Tochterinstitut der Landschaft zu gründen und
von ihren Organen mitverwalten zu lassen, ließ sie fallen, um die
Einwendungen zu entkräften, daß es ihr auf eine Ausdehnung
ihres Arbeits- und Einflußgebietes ankäme, daß die landschaft-
lichen Beamten andere Qualitäten besäßen, als für die Leiter eines
Kolonisationsinstituts erforderlich sind, und daß Interessenkollisionen
zwischen der Landschaft und ihrer Ansiedlungsbank möglich wären,
„weil jene hohe Güterpreise wünscht, diese aber billig einzukaufen
versuchen müßte“. Ihr zweiter Vorschlag?) ging dahin: Der
Provinzialverband, die Gesamtheit der Kreise und die Landschaft
errichten auf Grund Königlicher Genehmigung eine Körperschaft
des öffentlichen Rechts mit behördlicher Verfassung, welche unter
Staatsaufsicht nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung geleitet
wird. Das Stammkapital beträgt 7 Mill. M. und wird in Höhe von
je 1 Mill. M. von den drei Gruppen der provinziellen Selbst-
verwaltungskörper als Träger des Unternehmens zinsfrei gewährt,
während der Staat die Gesellschaft mit einer Dotation von 4 Mill. M.
ausstattet. Bei der Geschäftsführung ist der Grundsatz der Wirt-
schaftlichkeit zu befolgen. Von einer Verteilung des erzielten Ge-
winnes wird abgesehen. Die Verwaltung erfolgt unter der Leitung
und Aufsicht eines kollegial zusammengesetzten Verwaltungsrats,
welcher von je 5 bezw. 3 Vertretern des Provinzialverbandes, der
Kreise und der Landschaft, dem Landeshauptmann, dem General-
Landschafts-Direktor, dem Vorsitzenden der Landwirtschaftskammer
und den Vorsitzenden der 3 landwirtschaftlichen Zentralvereine ge-
1) „Dabei wird die Erwartung ausgesprochen, daß auch in eine Untersuchung dar-
über eingetreten wird, ob mit der zu reformierenden Landgesellschaft das gleiche er-
reicht werden wird, wie mit der landschaftlichen Ansiedlungsbank. Bejahendenfalls
wird die General-Landschafts-Direktion ermächtigt, eine Beteiligung der Landschaft unter
Uebernahme von Verpflichtungen bis zu dem in der Vorlage vorgesehenen Umfange zu
übernehmen.“
2) Innere Kolonisation und Selbstverwaltung. Denkschrift über die Organisation
ur Kolonisation in der Provinz Ostpreußen, 2. Aufl., Königsberg, Januar 1909,
8. e
41*
644 Otto Gerlach,
bildet wird. Der Vorstand, welcher die Geschäfte führt und das
Vermögen verwaltet, besteht aus 2 Beamten, welche vom Ver-
waltungsrat zu wählen sind. Zur Wahrung des allgemeinen Staats-
interesses wurden weitgehende Aufsichtsrechte der Regierung vor-
gesehen, welche durch den Oberpräsidenten, in höherer Instanz
durch den Landwirtschaftsminister ausgeübt werden sollten.
Der Staatsregierung gelang es, den Provinzialverband, die
Landwirtschaftskammer sowie die Kreise für ihren Plan zu ge-
winnen, nachdem die Landbank aus der Landgesellschaft ausge-
schieden war!). Mitglieder der im März 1909 reorganisierten Land-
gesellschaft sind: Der preußische Fiskus, vertreten durch den
Oberpräsidenten, mit 3500000 M. Einlage, der Provinzialverband
mit 2000000 M., die Landkreise mit 1050000 M., die Landwirt-
schaftskammer mit 150000 M., die Ostpreußische Provinzial-
Genossenschaftskasse in Königsberg (e. G. m. b. H.), die Ländliche
Zentralkasse in Wormditt (e. G. m. b. H.) sowie die Landwirtschaft-
liche Zentraldarlehnskasse für Deutschland in Neuwied (Aktiengesell-
schaft), mit je 150000 M. und eine Privatperson mit 1000 M.
Geschäftsführer, welche vom Aufsichtsrat unter Zustimmung des Ober-
präsidenten gewählt werden, leiten die Geschäfte nach Maßgabe einer
vom Aufsichtsrat unter Genehmigung des Oberpräsidenten erlassenen
Dienstanweisung. Ihnen ist große Bewegungsfreiheit eingeräumt. Der
Aufsichtsrat ist vorwiegend auf Aufsichtsfunktionen beschränkt, doch
hat er, wie erwähnt, die Dienstanweisung zu erlassen und ferner
die Besiedlungs- und Verwertungspläne nach Anhörung des Kreis-
ausschusses der beteiligten Kreise zu genehmigen. Der Staat hat
den Einfluß, welcher ihm infolge seiner überragenden finanziellen
Beteiligung an der Gesellschaft m. b. H. zustehen würde, dadurch
beschränken lassen, daß er in der Gesellschafterversammlung niemals
mehr als je aller in der Gesellschaft vorhandenen Stimmen führen
und nur 2 Vertreter im Aufsichtsrat haben darf. Jeder Gesell-
schafter, dessen Geschäftsanteil 150000 M. beträgt, hat das Recht,
einen Vertreter in den Aufsichtsrat zu senden. Wer mit 900000 M.
oder mehr beteiligt ist, darf 2 Vertreter bestellen. Der Gesamtheit
der beteiligten Landkreise stehen 2 Vertreter zu. Um den Einfluß
der Landwirte im Aufsichtsrat zu sichern, ist bestimmt, daß die
Vertreter derjenigen Gesellschafter, welche nur 1 Mitglied in den
Aufsichtsrat entsenden, mit Grundbesitz in der Provinz angesessen
oder als Landwirte praktisch tätig oder tätig gewesen sein müssen;
ist ein Gesellschafter, mit Ausnahme des Staates, durch 2 Mitglieder
im Aufsichtsrat vertreten, so muß mindestens eines derselben in
dieser Weise qualifiziert sein.
Die Ansiedlung von Landarbeitern durch die Ost-
preußische Landgesellschaft für ihre eigene Rechnung findet nur im
Rahmen der „gemischten (bäuerlichen) Besiedlung“ statt. Bei der
1) Ostpreußische Landgesellschaft m. b. H., Königsberg i. Pr. Bericht für die
Zeit vom 1. Oktober 1908 bis 30. September 1909.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 645
reinen Arbeiteransiedlung dagegen soll sie lediglich gute Dienste
leisten. Soweit nicht Privatpersonen, sondern die Kreise oder kreis-
weis gebildete Ansiedlungsgesellschaften als Unternehmer bei der
Arbeiteransiedlung auftreten, gewährt der Staat nach folgenden
Grundsätzen !) Beihilfen:
„1) Der anzusiedelnde Landarbeiter darf nicht in ein derartiges
Abhängigkeitsverhältnis zu einzelnen Arbeitgebern gebracht werden,
daß er sich persönlich oder wirtschaftlich unfrei fühlt, vielmehr darf
die freie Verwertung der Arbeitskraft des Ansiedlers auf dem Arbeits-
markte nicht beschränkt werden.
Als Ansiedlungsunternehmer sind nur Kreiskommunalverbände
zuzulassen und alle auf die Begründung der Stelle bezüglichen Ver-
träge nur zwischen dem Kreise und dem Ansiedler abzuschließen.
Für eine Resthypothek oder Restrente darf als Gläubiger nur der
Kreis oder ein gemeinnütziges Kreditinstitut (Versicherungsanstalt,
Kreissparkasse, Spar- und Darlehnskasse u. dgl.) eingetragen werden.
Es wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß
a) der Kreis mit Arbeitgebern oder anderen Personen (Ge-
nossenschaften) besondere Vereinbarungen, z. B. wegen Vorstreckung
der Valuta für eine Resthypothek oder Restrente, Uebernahme von
Bürgschaften für Aufwendungen des Kreises, billiger Gewährung von
Land, Leistung von Baufuhren u. dgl. trifft, und
b) Arbeitgeber die Arbeitskraft von Ansiedlern unabhängig
von der Begründung der Arbeiterstelle durch einen Nebenvertrag
(Gewährung wirtschaftlicher Vorteile, z. B. freier Weide, Wiesen-
BU ARE, Uebernahme von Zinszahlungen u. dgl.) sich zu sichern
suchen.
Die Ausführung von Arbeiteransiedlungen, die gelegentlich der
bäuerlichen Kolonisation bei Aufteilung von Gütern durch die Land-
gesellschaft erfolgt, wird durch diese Bestimmungen nicht berührt;
u sie bleiben ausschließlich die bisher geltenden Grundsätze maß-
gebend.
„2) Die Belastung des Ansiedlers durch den Erwerb der Arbeiter-
stelle soll (ausschließlich der Amortisation) nicht wesentlich größer
sein als derart, daß sie durch den landwirtschaftlichen Ertrag der
Stelle einschließlich des anzurechnenden Mietswertes der Wohnung
gedeckt wird. — Der Ansiedler hat eine angemessene Anzahlung
zu leisten.
„3) Als Arbeiterstellen im Sinne dieser Grundsätze gelten Stellen
von höchstens 1,5 ha.
„4) Voraussetzung jeder Arbeiteransiedlung ist das Vorhandensein
dauernder Arbeitsgelegenheit, und zwar nicht bloß bei einem einzigen
Arbeitgeber.
»5) In der Regel ist der Landarbeiter in Gemeinden anzusiedeln,
1) Grundsätze für die Gewährung von Staatsbeihilfen bei der Ansiedlung von
Landarbeitern in Ostpreußen. Vgl. Ostpreußische Landgesellschaft. Bericht für die Zeit
vom 1. Oktober 1908 bis 30. September 1909, Anlage 4.
646 Otto Gerlach,
weil hier die Bedingungen für seine kommunale, genossenschaft-
liche und gesellschaftliche Betätigung günstiger sind. Ansiedlung
im Gutsbezirk wird in der Regel nur dann zuzulassen sein, wenn
die Lage der Stellen zu einer benachbarten Ortschaft bequeme Be-
ziehungen gestattet. Auch in diesem Falle ist tunlichst der kom-
munale Anschluß an die Gemeinden, und zwar vor Errichtung von
Stellen, zu sichern. Auf die Nähe der Schule ist besonderes Ge-
wicht zu legen.
„6) Finanzielle Gewinnabsicht bei Durchführung der Arbeiter-
ansiedlung schließt die Staatsunterstützung aus. Im wesentlichen
kann nur die Deckung der Selbstkosten einschließlich einer an-
gemessenen Verzinsung des Betriebskapitals zugelassen werden.
»1) Zur Sicherung nationalpolitischer Interessen und zur Erhal-
tung der Landarbeiterstelle als solche sind Sicherungsmaßregeln vor-
zusehen. Zu diesem Zwecke ist ein dingliches Wiederkaufsrecht
zugunsten des Kreises gemäß Art. 29 des Ausf.-Ges. zum BGB. zu
bestellen, das auf Verlangen des Staates an diesen abzutreten ist.
Die Verpflichtung des Kreises hierzu ist durch ein zwischen Staat
und Kreis ein für allemal getroffenes Abkommen sicherzustellen.
Durch das Wiederkaufsrecht ist hauptsächlich auch zu verhindern,
daß die Arbeiterstelle durch Aufkauf seitens eines größeren Grund-
besitzers und Vereinigung mit dessen Grundstück ihre Selbständig-
keit als Arbeiterstelle verliert. Soweit es sich um Sicherung national-
politischer Interessen handelt, wird auf die hierfür geltenden, aus
der Anlage ersichtlichen Grundsätze verwiesen !).
„8) Der Kreis soll für jede von ihm ordnungsmäßig ausgeführte
Ansiedlung eines Landarbeiters eine Beihilfe aus dem Zweimillionen-
fonds erhalten. Sie beträgt 800 M. für jede Stelle und 10 M. für
jedes angefangene Hektar der zu besiedelnden Fläche.
„9) Die Einleitung jedes Ansiedlungsunternehmens hat in grund-
sätzlichem Einverständnis mit der Landgesellschaft zu erfolgen.
Die Ausführung des Ansiedlungsunternehmens ist Sache des
Kreises; eine Mitwirkung der Landgesellschaft hierbei bleibt der
Vereinbarung zwischen dieser und dem Kreise vorbehalten. .
„10) Nach Durchführung der Besiedlung erfolgt die Bewilligung
und Auszahlung der Beihilfe auf Antrag der Landgesellschaft durch
den Oberpräsidenten.
Die Beihilfen fließen in einen bei jedem Kreise zu bildenden
Ausgleichsfonds. Der Fonds darf nur für Zwecke der Landarbeiter-
ansiedlung verwendet werden, insbesondere zur Deckung der Kosten,
welche die Regelung der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse ver-
ursachtt. Zur Deckung der Anzahlung des Ansiedlers darf der
Fonds nicht benutzt werden. Die Zinsen des Ausgleichsfonds können
zur SES Förderung der angesiedelten Arbeiter verwendet
werden.
1) Das Wiederkaufsrecht soll nur ausgeübt werden, wenn nach dem Ermessen des
Regierungspräsidenten Umstände vorliegen, welche mit den Zielen des Ansiedlungs-
gesetzes von 1886 in Widerspruch stehen.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 647
„11) Sofern der Rentenbankkredit in Anspruch genommen wird,
soll in der Regel gemäß Së 1—11 des Gesetzes, betreffend die
Beförderung der Errichtung von Rentengütern, vom 7. Juli 1891
(Gesetzsamml. S. 279) verfahren, d. h. der Weg der Rentenablösung
gewählt werden.“
Nach der Dienstanweisung für die Geschäftsführung der Ost-
preußischen Landgesellschaft!), haben „die Direktoren der Land-
gesellschaft, soweit es in ihren Kräften steht, die örtlichen Instanzen
zur Ansiedlungstätigkeit anzuregen. Insbesondere sollen sie alle,
an die Gesellschaft gelangenden Anerbietungen von zur Arbeiter-
ansiedlung geeigneten Grundstücken an die Kreisausschüsse abgeben
und den Organen der örtlichen Andsiedlungsinstanzen selbst auf
Erfordern mit Rat und Tat bei der Durchführung der Besiedlung
zur Seite stehen. Besonders ist bei Auswahl von Baustellen, bei
dem Schriftwechsel zur Regelung der Kataster- und Hypotheken-
verhältnisse, bei Beschaffung des Zwischenkredits, bei Heranziehung
von Ansiedlern und allen sonst vorkommenden Arbeiten den ört-
lichen Unternehmern nach Möglichkeit Hilfe zu leisten. Ferner
sind Baupläne und Anschläge den Unternehmern zur Verfügung zu
stellen.
„Nach Durchführung einer Besiedlung haben die Geschäftsführer
die ordnungsmäßige Ausführung festzustellen und den Antrag auf
Bewilligung und Auszahlung der Staatsbeihilfen durch den Vor-
sitzenden des Aufsichtsrats an den Oberpräsidenten einzureichen.
Wenn zwischen den Geschäftsführern und dem Unternehmer Meinungs-
verschiedenheiten hervortreten, oder die Geschäftsführer die Be-
willigung der Staatsbeihilfen nicht befürworten zu können glauben,
hat der Aufsichtsrat über die Befürwortung oder Ablehnung end-
gültig zu entscheiden.
„Ueber den Fortgang der Arbeiteransiedlung durch die Kreis-
ausschüsse unter Mithilfe der Landgesellschaft ist alljährlich dem
Aufsichtsrat ein besonderer Bericht zu erstatten.“
Für die Mitwirkung der Geschäftsführer bei der Arbeiteransied-
lung ist eine Entschädigung nach Maßgabe einer noch aufzustellen-
den Gebührenordnung an die Landgesellschaft zu zahlen.
Aehnliche Bestimmungen sind für die Ansiedlung von Land-
arbeitern in den Provinzen Pommern, Brandenburg, Hannover und
Schleswig-Holstein erlassen 2), nur daß hier der Landwirtschafts-
minister auf Antrag der Generalkommission über die Bewilligung
der Beihilfe befindet °).
1) Ostpreußische Landgesellschaft. Bericht 1908/09, Anlage B. $ 12.
2) Ministerialblatt der Königlich Preußischen Verwaltung für Landwirtschaft,
Domänen und Forsten. 5. Jahrg., September 1909, S. 269 ff.
3) In den Provinzen Hannover und Schleswig-Holstein sollen die Beihilfen nur
500 M. für jede Stelle und 10 M. für jedes angefangene Hektar betragen. Ob
nach 1911 die allgemeine Leitung der Arbeiteransiedlung auch in diesen Provinzen den
provinziellen Ansiedlungsgesellschaften wird übertragen werden können, bleibt weiteren
Erwägungen vorbehalten.
648 Otto Gerlach,
Die bei der Reorganisation der Ostpreußischen Landgesellschaft
befolgten Grundsätze entsprechen größtenteils den Anforderungen,
welche von seiten der Landschaft gestellt worden waren. Mögen
auch innerhalb der Landgesellschaft schon früher Erwägungen über
eine Reorganisation, im besonderen auch über eine umfangreichere
Arbeiteransiedlung angestellt worden sein, so dürfte doch das Vor-
gehen der Landschaft den Anstoß zu einer beschleunigten und gründ-
lichen Reform gegeben haben. Die starke finanzielle Fundierung
der Landgesellschaft sowie die Aufbringung des Grundkapitals durch
den Staat und die provinziellen Kommunalverbände sind im wesent-
lichen der landschaftlichen Vorlage nachgebildet. Auch hat die
Existenz der landschaftlichen Organisationsvorschläge zweifellos
darauf hingewirkt, daß den Landwirten ein größerer Einfluß in den
Organen der Landgesellschaft eingeräumt wurde. Die nicht behobenen
Meinungsverschiedenheiten betreffen vornehmlich die Rechtsform der
Andsiedlungsgesellschaft und den Umstand, daß die Arbeiteransiedlung
— der schwierigste und kostspieligste Teil der inneren Kolonisation
— auf die Kreise abgebürdet und nicht von der Landgesellschaft
selbst in die Hand genommen wird. Ihretwegen ist die Landschaft
der reorganisierten Landgesellschaft nicht beigetreten.
Die auf den 14. und 15. Juni 1909 vom Landwirtschaftsminister
einberufene Konferenz zur Beratung über die Organi-
sation der inneren Kolonisation konnte keinen Einfluß auf
die Wahl der Gesellschaftsform mehr ausüben, weil die Reorgani-
sation in Ostpreußen bereits stattgefunden, und weil sich in Schles-
wig-Holstein inzwischen eine gemeinnützige Ansiedlungsgesellschaft
auf genossenschaftlicher Basis gebildet hatte. Die Verhandlungen
über die Organisationsform hatten zurzeit nur noch ein theoretisches
Interesse. Daneben spielten Erörterungen über die finanziellen Schwie-
rigkeiten, welche sich für die Ansiedlungsgesellschaften aus den Rest-
renten ergeben, und über Maßnahmen zur Abhilfe eine Rolle. Auch
traten Bestrebungen auf, die innere Kolonisation rechtlich oder tat-
sächlich in den Händen der gemeinnützigen Kolonisationsunter-
nehmungen zu monopolisieren. Es wurde über die Bedeutung der Mit-
wirkung der Generalkommissionen verhandelt und die Pläne ihrer
Aufhebung oder Umgestaltung warfen ihre Schatten auf die Be-
ratung. Die Lösung dieser Frage wird auf die künftige Organisation
der Landgesellschaften nicht ohne Einfluß bleiben. Im Zusammen-
hange hiermit erörterte man die Bildung provinzieller Landeskultur-
behörden, denen die gesamten Landeskulturangelegenheiten über-
tragen werden sollten; von einer Seite wurde ihre Ausgestaltung
als Selbstverwaltungskörper empfohlen.
Die Auffassungen über die zweckmäßigste Organisation hatten
sich geklärt: Die Vertreter der privatrechtlichen Gesellschaftsform
betonten, daß für eine erfolgreiche Durchführung der inneren Kolo-
nisation und für die vollkommenste Ausnutzung der für sie jeweilig
zur Verfügung stehenden Mittel alles darauf ankomme, billig zu
verwalten, zu angemessenem Preise einzukaufen, die Meliorationen
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 649
und Bauten preiswert durchzuführen und die Zwischenverwaltung
sparsam zu leiten. Dieses Ziel werde um so vollkommener er-
reicht werden, je mehr die Kolonisationsgesellschaft nach kauf-
männischen Gesichtspunkten arbeite, wenn nur gleichzeitig Maß-
nahmen getroffen würden, welche das staatliche Interesse an einer
gesunden Besiedlung wahrten. Hierfür eigne sich am besten eine
Privatgesellschaft, welche das volle Risiko ihrer wirtschaftlichen Maß-
nahmen trägt und dank ihrer finanziellen Ausstattung hierzu auch
imstande ist; deren Geschäftsleiter sich frei bewegen und dafür
verantwortlich sind, daß sie eine, wenn auch nur mäßige (auf 4 Proz.
beschränkte) Dividende erzielen. Wird eine solche Gesellschaft, wie
in Ostpreußen, vom Staat und den Kommunalverbänden gebildet,
so verbürge ihre Zusammensetzung, daß die öffentlichen Interessen
keinen Schaden erleiden würden.
Die Vertreter der öffentlich-rechtlichen Organisation vermochten
dagegen der Erwägung, daß der Hauptnachdruck auf die Leitung
nach kaufmännischen Prinzipien zu legen sei und daß sich hierfür
im besonderen Maße eine privatrechtliche Erwerbsgesellschaft eigne,
eine entscheidende Bedeutung nicht zuzuerkennen. Auch öffentlich-
rechtliche Körperschaften können sparsam wirtschaften und bei den
einzelnen Geschäften nach kaufmännischen Grundsätzen verfahren.
Bei der inneren Kolonisation sind aber wichtige staatliche und sozial-
politische Interessen wahrzunehmen, bei denen es — nicht in der
Regel, aber wohl im einzelnen Falle — erforderlich werden kann,
Opfer zu bringen. Dazu ist eine private Erwerbsgesellschaft, deren
Geschäftsführer verpflichtet ist, Dividende herauszuwirtschaften,
nicht in dem Maße befähigt, wie eine öffentlich-rechtliche Körper-
schaft.
Soweit die innere Kolonisation nach der bisherigen preußischen
Siedlungstechnik durch Ankauf und Aufteilung großer Güter durch-
geführt wird, mögen die privatrechtlichen Genossenschaften und
Gesellschaften sich als leistungsfähig erweisen und zufriedenstellende
Verhältnisse schaffen können. Es besteht aber bei dieser Kolonisa-
tionsmethode die Gefahr, daß die Güterpreise in die Höhe getrieben
werden und daß dadurch der bis dahin noch feste Grundbesitz
mobilisiert wird. Auch können sich die privatrechtlichen Koloni-
sationsgesellschaften, soweit ihnen Mittel zur Verfügung stehen, der
ländlichen Wohlfahrtspflege widmen, ohne welche die innere Koloni-
sation die ländliche Bevölkerung nicht befestigen wird; so kann sich
die Ostpreußische Landgesellschaft auf diesem Gebiet betätigen, weil
der Staat auf seine Dividende zugunsten der Kolonisationszwecke und
der Befestigung des bäuerlichen Grundbesitzes verzichtet; mehr ließe
sich selbstverständlich erreichen, wenn auch die übrigen Gesellschafter,
nach dem Vorschlage der Landschaft, keine Dividende beziehen würden.
Sobald und sofern es sich aber um die feineren und schwie-
rigeren Aufgaben der inneren Kolonisation handelt, um die Auf-
teilung von Außenschlägen und von großbäuerlichen Besitzungen in
Dörfern, in denen es an kleinem Besitz fehlt, sowie um die Arbeiter-
650 Otto Gerlach,
ansiedlung, werden die privatrechtlichen Erwerbsgesellschaften ver-
sagen; denn die Unkosten, welche mit derartigen Geschäften ver-
bunden sind, können nicht von so kleinen Objekten getragen werden.
Es ist beachtenswert, daß der Bericht der Landgesellschaft für
1908/09!) ausführt: „Wir können zur Besiedlung in der Regel nur
Grundstücke erwerben, welche genügend groß sind, um die Kosten
der Zwischenverwaltung, der Folgeeinrichtungen und der Neuregelung
der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse unter allen Umständen selbst
zu tragen. Es scheiden für uns daher kleinere Grundstücke unter
allen Umständen aus, es sei denn, daß sie in der Nähe eines in
unserer Verwaltung befindlichen größeren Gutes gelegen sind, und
von dem Verwalter desselben mitbesiedelt werden können.“ Eine
öffentlich-rechtliche Ansiedlungsbank würde die Opfer nicht zu scheuen
brauchen und nicht scheuen dürfen, sofern nur die Kolonisation in
der Gegend geboten erscheint und die Voraussetzungen für ein gutes
Fortkommen der Kolonisten erfüllt sind.
Die Privatgesellschaft hat die Kolonisation innerhalb vorhandener
Dörfer durch Aufteilung von Bauernhöfen zur Bekämpfung der
Güterschlächterei nur versuchen können, wenn sich zufällig am Orte
ein Spar- und Darlehnskassen-Verein befand, der mit ihr gemeinsam
die Aufteilung durchführte. In solchen Fällen wird von der Ost-
preußischen Landgesellschaft mit dem Spar- und Darlehnskassen-
Verein und dem bisherigen Eigentümer ein Gesellschaftsvertrag zur
gemeinsamen Aufteilung abgeschlossen. Der Eigentümer bleibt im
Besitz des Grundstücks und führt die Wirtschaft bis zur Vollendung
der Aufteilung weiter. Die 3 Gesellschafter einigen sich über den
„Einstandspreis“ des Gutes, unter dem nicht verkauft werden darf;
der Mehrerlös wird geteilt. Dabei soll kein übermäßiger Gewinn
erstrebt werden, weil der Hauptzweck ist, wirtschaftlich leistungs-
fähige Stellen zu schaffen. — Nach der bisherigen Handhabung
dieses Geschäftszweiges sind vorwiegend Adjazentenkäufe herbei-
geführt worden. Immerhin sind auch einige kleinbäuerliche Stellen
geschaffen. Der hauptsächlichste Vorteil ist, daß die Interessenten
ne bewahrt worden sind, in die Hände von Güterschlächtern zu
allen ?).
Am wenigsten leistungsfähig ist die privatrechtliche Erwerbs-
gesellschaft für die reine Arbeiteransiedlung. Soll diese einen
Einfluß auf die Seßhaftigkeit der Arbeiter und auf die Entwicklung
einer freieren Arbeitsverfassung gewinnen, so müssen die einzelnen
Grundbesitzer, die Gutsbesitzer und Bauern angeregt werden, mög-
lichst viele Arbeiterstellen zu schaffen. Dabei muß jede Schema-
tisierung vermieden werden", Nach der Lage des einzelnen
1) 8. 12.
2) Mit Hilfe der Raiffeisenvereine hat die Landgesellschaft bis Januar 1910
6 Grundstücke in Größe von 580 ha in 71 Parzellen aufgeteilt. Davon wurden 6 als
Restgüter, 52 an Anlieger und 13 als neue Kolonate verkauft. 10 neue Stellen hatten
eine Gesamtgröße von rund 63 ha.
3) Vgl. Gerlach, Ansiedlungen von Landarbeitern, S. 772 ff.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 651
Falles wird hier die Ansiedlung von Eigentümern, dort die Arbeiter-
pacht am Platze sein. In Gegenden, in denen Spezialkulturen be-
kannt sind, wird für die Arbeiterstelle !/, ha Land genügen, wo
dagegen Kuh- und Schweinehaltung im Mittelpunkte der Arbeiter-
wirtschaft stehen, werden ihr 1!/,—2 ha zugeteilt werden müssen.
Ob das Gehöft massiv, in Fachwerk oder in Holz errichtet werden
soll, ob Ein- oder Zweifamilienhäuser den Vorzug verdienen, ob der
Kredit der Landesversicherungsanstalt oder der Rentenbank in An-
spruch genommen werden soll, und viele andere Fragen müssen bei
jedem Kolonisationsversuch unter Berücksichtigung der örtlichen Ver-
hältnisse und seiner Besonderheiten erwogen werden. — Häufig be-
sitzen die Eigentümer größerer Güter in benachbarten Dörfern
bäuerliche Grundstücke, welche sie zur Ansiedlung von landwirt-
schaftlichen Arbeitern verwenden könnten. Die Arbeiteransiedlung
ist aber so schwierig, daß ein Landwirt sie ohne sachkundigen
Rat und werktätige Hilfe nur ausnahmsweise durchzuführen ver-
mag. In mancher Beziehung können die Kreise und die Gemeinden
helfen: sie können die Propaganda übernehmen und mit Hilfe
der Landesversicherungsanstalten die zweitstelligen Hypotheken
gewähren. Dagegen eignen sie sich, wenigstens für die erste Zeit,
bis Erfahrungen gesammelt sind und sich zu einigen Grund-
regeln verdichtet haben, nicht zur Raterteilung und zur Füh-
rung der umfangreichen und schwierigen Geschäfte; hierfür bedarf
es einer Zentralstelle für größere Gebiete, etwa für die Provinzen,
von welcher durch herumreisende Beamte die erforderliche Hilfe
geleistet wird. Sollen doch auch in Ostpreußen, obwohl die Arbeiter-
ansiedlung den Kreisen übertragen ist, die Geschäftsführer der
Landgesellschaft „den Organen der örtlichen Ansiedlungsinstanzen
selbst auf Erfordern mit Rat und Tat bei der Durchführung der
Besiedlung zur Seite stehen“. Eine Erwerbsgesellschaft, deren Ge-
schäftsführer dafür verantwortlich sind, daß eine Dividende heraus-
gewirtschaftet wird, kann die Arbeiteransiedlung nicht in dem Maße
fördern und unterstützen, als es bei der Wichtigkeit derselben ge-
boten ist, es sei denn, daß sie selbst für diesen Zweck Unter-
stützungen erhielte: denn die Hilfeleistungen aller Art, die sie den
Kolonisatoren gewähren müßte, würde hohe Unkosten verursachen,
ohne entsprechende Einkünfte herbeizuführen, selbst wenn Gebühren
für die Mitwirkung einer solchen Zentralstelle bei der Arbeiter-
ansiedlung eingeführt werden sollten.
Ein eigenartiges Verhältnis ergibt sich in Ostpreußen auch aus
der Stellung der Kreise, welche Arbeiter ansiedeln, zur Landgesell-
schaft. Sofern sie Anspruch auf die Staatsbeihilfe erheben wollen,
haben sie bei der Einleitung jedes Ansiedlungsunternehmens im
grundsätzlichen Einverständnis mit der Landgesellschaft zu ver-
fahren. Die Geschäftsführer der Landgesellschaft stellen die ord-
nungsmäßige Ausführung fest und reichen den Antrag auf Be-
willigung und Auszahlung der Staatsbeihilfen durch den Vorsitzenden
des Aufsichtsrats an den Oberpräsidenten ein. Bei Meinungsver-
652 Otto Gerlach,
schiedenheiten zwischen dem Unternehmer (Kreis) und den Geschäfts-
führern entscheidet der Aufsichtsrat der Landgesellschaft endgültig
über die Befürwortung oder Ablehnung. Eine derartige Aufsichts-
stellung gegenüber den Kreisen würde einer provinziellen öffentlich-
rechtlichen Organisation eher anstehen als einer privatrechtlichen
Erwerbsgesellschaft.
Es besteht zurzeit offensichtlich das Bestreben, die Kreise oder
kreisweise gebildete Ansiedlungsgesellschaften zu ausschließlichen
Trägern der Arbeiteransiedlung zu machen, da man nur ihren Unter-
nehmungen die staatliche Unterstützung gewährt. Zwar stimmte
der Landwirtschaftsminister auf der Kolonisationskonferenz 1) der
Forderung bei, daß der „zukünftige Arbeitgeber“, also „im allge-
meinen der Gutsbesitzer“ kolonisieren soll; er zieht aber ein in-
direktes Verfahren vor, bei welchem der Kreis als Zwischenglied
eintritt: er soll Rechtsträger für alle erforderlichen Rechtsgeschäfte,
Risikoträger (nicht unbedingt erforderlich), Vermittler der Rest-
hypothek, Träger des Wiederkaufsrechts sein, die Staatsbeihilfe
empfangen und die Propaganda betreiben.
Wir fürchten, daß hiermit die Arbeiteransiedlung auf ein totes
Gleis geschoben wird. Handelt es sich um die Aufteilung mittlerer
oder größerer Bauernhöfe zum Zwecke der Arbeiteransiedlung, wie
es der Kreis Briesen versucht hat, so ist das ein gewagtes Unter-
nehmen, dessen Risiko man den Kreisen und kleinen finanzschwachen
Kreisgesellschaften nicht zumuten sollte?). Handelt es sich dagegen
nur um die gelegentliche Ansetzung von Arbeitern auf ein paar Morgen
Land, welche von einem größeren Grundbesitzer zur Verfügung ge-
stellt werden — und diesen Fall scheint die Staatsregierung im
Auge zu haben —, so ist nicht abzusehen, weshalb der Umweg
über den Kreis gemacht werden soll. Der Grundbesitzer soll das
Land dem Kreise verkaufen, nach dem vom Kreise genehmigten Bau-
entwurf die Bauten aufführen, dabei wohl gar unentgeltlich Baufuhren
leisten, und der Kreis soll dann das Grundstück an den Arbeiter ver-
kaufen. Weshalb soll der Gutsbesitzer nicht unmittelbar an den Ar-'
beiter verkaufen? Man will den Großgrundbesitzer, dem der kleine
Käufer mit größerem Mißtrauen gegenüberstehe, als der Kreisver-
waltung, für den Käufer völlig ausschalten. Die besten Kolonien aber,
welche wir kennen — z.B. Criewen und Leckow ®) — sind von Gutsherren
für ihre Arbeiter geschaffen worden. Gerade auf die Auswahl geeigneter
Kolonisten durch den Gutsherren, auf nähere persönliche Fühlung
mit ihnen, bei welcher er ihren Charakter, ihre Wünsche und ihre
wirtschaftlichen Bedürfnisse kennen lernt und Gelegenheit erhält,
ihr Vertrauen zu gewinnen, sollte man das größte Gewicht bei der
sehr schwierigen Arbeiteransiedlung legen und nicht darauf aus-
1) S. 246 ff.
2) Gerlach, Ansiedlungen von Landarbeitern, S. 483 ff., 733.
3) Ebenda, S. 65 ff., 519 ff., 738.
a De ee ` mn Zen Eug
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 653
gehen, das persönliche Moment durch die Zwischeninstanz des Kreises
auszuschalten ). Auch wenn der Gutsherr als Kolonisator auftritt,
kann man schuldnerische Abhängigkeit des Kolonisten dadurch ver-
meiden, daß der Kreis die zweitstellige Hypothek gibt.
Für eine Arbeiteransiedlung in großem Stile reicht die Kraft
der Kreise nicht aus, es bedarf dazu der privaten Initiative. Die
Arbeiteransiedlung durch die Kreise mag als Notbehelf dienen, so-
lange es noch an einem zielbewußten Vorgehen der Grundbesitzer
fehlt, um diese anzuregen, ihnen Beispiele zu zeigen. Aber auch
in der Uebergangszeit sollte man die private Arbeiteransiedlung
fördern, statt sie zu erschweren und zu beschränken. Weshalb soll
der private Kolonisator keine Beihilfen erhalten, selbst wenn er gute,
einwandfreie Kolonien schafft? Weshalb sollen die Unterstützungen
nicht gewährt werden, wenn „finanzielle Gewinnabsicht bei Durchfüh-
rung der Arbeiteransiedlung“ vorliegt. Große Erfolge kann man — auch
bei der Arbeiteransiedlung — nur erringen, wenn man das Selbstinter-
esse der Grundbesitzer, welche das erforderliche Land hergeben
müssen, einspannt. Das Bestreben, die Haupttriebfeder des wirt-
schaftlichen Handelns auszuschalten und die Arbeiteransiedlung auf
Wohlfahrtspflege zu begründen, kann nicht zu einer kraftvollen
Entwicklung führen. Bei einer Maßnahme, welche schließlich zu
einer vollkommenen Umgestaltung der ländlichen Arbeitsverfassung
führen soll, kann man nicht zum Ziele kommen, ohne das Interesse
der Grundbesitzer zu erwecken und als Triebfeder zu benutzen.
Zur Herabminderung der mit der Arbeiteransiedlung verbundenen
Schwierigkeiten haben wir empfohlen, daß die gemeinnützigen An-
siedlungsgesellschaften durch reisende Beamte die Grundbesitzer be-
raten und unterstützen sollen. Wollte man einen solchen Ausbau
bei privatrechtlichen Erwerbsgesellschaften nicht vornehmen, so bot
sich noch die Möglichkeit, die Spezialkommissare in den Dienst der
Arbeiteransiedlung zu stellen und sie hierfür auszubilden. Auch
dieser Weg ist nicht beschritten worden, sondern die Grundsätze
für die Gewährung von Staatsbeihilfen bei Arbeiteransiedlungen be-
schränken, „sofern der Rentenbankkredit in Anspruch genommen
wird“, die Mitwirkung der Generalkommissionen in der Regel auf
die Rentenablösung, schließen also ihre Vermittlung bei der Bildung
von Arbeiterrentengütern aus. Ihre Erklärung dürfte diese auffällige
Bestimmung entweder in den Reibungen finden, welche sich in Ost-
preußen zwischen Generalkommission und Landgesellschaft gezeigt
haben, oder — wie von mancher Seite befürchtet wird — in der Ab-
neigung des Staates, die Rentenbanken mit Arbeiterrenten zu belasten,
und in dem Bestreben, die mit der Arbeiteransiedlung verbundenen
1) Vgl. meine Ausführungen in den Verhandlungen der Landwirtschaftskammer
für die Provinz Ostpreußen, 10. Sitzungsperiode am 19., 20. und 21. Januar 1905.
Anlage 6. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen vom 20. Januar 1905,
S. 9; in den Verhandlungen des Landes-Oekonomie-Kollegiums 1908 S. 442, 1909
S. 170 ff.; Kolonisationskonferenz, S. 205 ff., 244 f.
654 Otto Gerlach,
finanziellen Leistungen und das Risiko den Kreisen und Landesver-
sicherungsanstalten zuzuschieben. Bis vor wenigen Jahren hat der
Staat die Rentenübernahme bei reinen Arbeiteransiedlungen abge-
lehnt, und der Kreis Briesen mußte sich noch verpflichten (1905),
seinerseits mindestens ein Viertel der Gesamtbeleihung hinter der
Rentenbankrente mit der Maßgabe zu gewähren, daß von außer-
gewöhnlichen Rückzahlungen des Rentengutsbesitzers mindestens die
Hälfte zur Ablösung der Rentenbankrente verwandt werden sollte;
auch mußte der Kreis die Ueberwachung der Bewirtschaftung sowie
der Instandhaltung der Baulichkeiten auf seine Kosten übernehmen !).
Vielleicht machen sich auch heute noch Widerstände gegen die Ueber-
nahme von Arbeiterrenten auf die Rentenbanken geltend.
* *
*
Die Ostpreußische Landschaft ist mit ihren Kolonisationsplänen
nicht durchgedrungen. Die von ihr vertretenen Grundgedanken
sind aber von solcher Folgerichtigkeit, daß sie die zukünftige Ent-
wicklung in der einen oder anderen Form beherrschen werden: 1) Die
Lösung staatlicher Aufgaben kann man, ohne öffentliche Interessen
zu gefährden, nicht auf privatrechtliche Erwerbsgesellschaften über-
tragen, selbst wenn öffentliche Verbände Mitglieder derselben sind;
die öffentlich-rechtliche Organisation wird sich auf die Dauer nicht
entbehren lassen. Bei der reinen Arbeiteransiedlung, bei der Koloni-
sation in vorhandenen Dörfern sowie bei der Verkleinerung von
Gütern wird die Erwerbsgesellschaft versagen. 2) Zur Durchführung
der inneren Kolonisation bedarf es der Mitwirkung der Grundbesitzer,
welche das erforderliche Land hergeben müssen und die Kolonisation
nach mancherlei Richtung fördern können. Ein kraftvolles Vorgehen
muß sich auf sie stützen. 3) Die Verbindung der öffentlich-recht-
lichen Organisation mit der Mitarbeit der Grundbesitzer führt zu
der Forderung, daß die inneren Kolonisation einer öÖffentlich-recht-
lichen Selbstverwaltungskörperschaft der Grundbesitzer unter staat-
licher Aufsicht übertragen wird.
In der inneren Kolonisation arbeiten bei der heutigen Organisation
zwei Instanzen nebeneinander: die Generalkommission, eine Staatsbe-
hörde, welche über den Staatskredit (Rentenbankkredit) verfügt und für
das pünktliche Eingehen der Rentenbankrente und somit für die Existenz-
fähigkeit der Kolonien verantwortlich ist, und die gemeinnützige An-
siedlungsgesellschaft, an der der Staat finanziell beteiligt ist, auf
deren Geschäftsführung er einen weitreichenden Einfluß ausübt und
welche sich einer wohlwollenden Unterstützung der Regierung zu er-
freuen hat. Konflikte zwischen der Generalkommission mit ihrer Ver-
antwortung und der auf kaufmännische Geschäftsgrundsätze ver-
wiesenen Ansiedlungsgesellschaft sind unvermeidlich: es ist bekannt,
1) Gerlach, Ansiedlungen von Landarbeitern, S. 486.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 655
daß die Staatsregierung in Ostpreußen bisweilen — es handelt sich
um Vorkommnisse vor der Reorganisation der Landgesellschaft —
gegen die Staatsbehörde zugunsten der Gesellschaft Stellung genom-
men hat. Auf die Kontliktmöglichkeit hat auch der Vorsitzende der
ostpreußischen Landwirtschaftskammer v. Batocki auf der Koloni-
sationskonferenz !) hingewiesen und bei den Koloniegründungen der
gemeinnützigen Ansiedlungsgesellschaft eine Einschränkung der Be-
Sr welche der Staat (die Generalkommission) ausübt, ge-
ordert.
Es steht zu erwarten, daß diesem Andrängen nachgegeben und
die Mitwirkung der Generalkommission bei der Feststellung der
Besiedlungsbedingungen beschränkt wird, obwohl es sich um Er-
werbsgesellschaften handelt, welche nach kaufmännischen Grund-
sätzen arbeiten. Trotzdem werden sich auch in Zukunft Anlässe zu
Konflikten bei der Entscheidung über die Uebernahme der Renten
auf die Rentenbanken ergeben.
Nach den Verhandlungen auf der Kolonisationskonferenz ist es
nicht unwahrscheinlich, daß den gemeinnützigen Ansiedlungsgesell-
schaften mit der Zeit ein Monopol auf die innere Kolonisation, oder
richtiger auf die staatliche Unterstützung dabei eingeräumt wird.
Man will den Zwischenkredit, die Uebernahme von Renten auf die
Rentenbank sowie die Gewährungen aus dem Zweimillionenfonds
den Rentengutsgründungen spekulativer Unternehmungen gänzlich
oder teilweise versagen. Auch hier wieder die kraftlähmende Ab-
neigung gegen das privatwirtschaftliche Vorgehen im Verfolg des
Selbstinteresses! Gegen eine solche Monopolisierung bestehen die
gewichtigsten Bedenken. Der Staat hat ein Interesse daran, daß
die Kolonisation energisch fortschreitet, und daß die Neubildungen
lebenskräftig und entwicklungsfähig sind, damit in ihnen eine breite,
bodenständige und zufriedene Bevölkerung ihre Nahrung findet.
Wenn ein privater Unternehmer, z. B. die Landbank, Kolonien schafft,
welche allen Ansprüchen genügen, so sollte der Staat ihre Gründungen
ebenso unterstützen, wie die der gemeinnützigen Gesellschaften, bei
denen er sich überdies noch mit erheblichen Kapitalien beteiligen
muß. Auch darf die Gefahr nicht unterschätzt werden, daß der Staat,
wenn er der privaten Parzellierung seine Unterstützung versagt,
auch seinen Einfluß auf ihre Geschäftsgebarung einbüßt. Ein Wieder-
aufleben der gemeinschädlichen Güterschlächterei könnte die uner-
wünschte Folge der Monopolisierung der Staatsunterstützung sein.
— Will man aber trotz aller dieser Bedenken auf eine Monopol=
stellung der gemeinnützigen Ansiedlungsgesellschaften hinarbeiten,
so ließe sich das noch eher zugunsten eines öffentlich-rechtlichen
Selbstverwaltungskörpers als zugunsten einer Erwerbsgesellschaft
rechtfertigen.
Die weitere Ausgestaltung der Organisation für die innere
u
1) S. 138,
656 Otto Gerlach,
Kolonisation wird davon abhängen, in welcher Weise die General-
kommission umgestaltet wird. Ihre Reformbedürftigkeit ist seit
Jahren allseitig anerkannt. Leider hat man ihre Reorganisition
zu lange hinausgeschoben: infolge davon hat sich die Gegnerschaft
gegen sie derartig verstärkt, daß an Stelle ihrer Umgestaltung und
Anpassung an ihre neuen Aufgaben die gänzliche Beseitigung dieser
Behörde erwogen wird.
Es wird vorgeschlagen, die Generalkommissionen aufzulösen und
die Aufgaben, welche sie als Verwaltungsbehörde zu erfüllen haben,
einer neu zu bildenden, vierten, „landwirtschaftlichen“ Abteilung der
Bezirksregierungen zu übertragen; ihre außerhalb des Sitzes der
Behörde beschäftigten Beamten sollen als Ausführungsorgane des
Regierungspräsidenten Verwendung finden und gleichzeitig den
Landräten und Kreisausschüssen als Hilfskräfte dienen. — Bei einer
derart radikalen Umgestaltung würde man darauf verzichten, den
reichen Erfahrungsschatz, der sich bei den Generalkommissionen
und ihren Beamten auf dem Gebiete der inneren Kolonisation an-
gesammelt hat, nutzbar zu machen und zu vermehren. Die Wahr-
nehmung der staatlichen Interessen bei der inneren Kolonisation
und ihre sachgemäße Förderung würde, zumal bei privaten Unter-
nehmungen, schweren Schaden erleiden. Nicht ohne Grund fürchtet
man Schwierigkeiten, wenn Organe der allgemeinen Verwaltung mit
der Entscheidung über Kolonisationsfragen, Bewilligung des Renten-
bankkredits u. dgl. m. betraut werden. Auch würde sich eine solche
Abteilung bei den Bezirksregierungen wegen des räumlich zu eng
begrenzten Bezirks wenig für die Förderung der Landeskultur
eignen, welche in den östlichen Provinzen für die nächsten Menschen-
alter eine sehr wichtige Aufgabe der inneren Agrarpolitik sein wird.
Das Landwirtschaftsministerium hat nach einer Meldung der
„Information“ !) der Immediatkommission einen abweichenden Vor-
schlag unterbreitet: die Landeskulturaufgaben sollen nicht den Be-
zirksregierungen, sondern den Oberpräsidenten und einem Kollegium,
welches neben dem Oberpräsidium zu bilden ist, überwiesen werden.
Das Oberpräsidium soll die Leitung der inneren Kolonisation, das
Kollegium alle übrigen Landeskulturarbeiten übernehmen. Die
praktische Verwendbarkeit dieses Vorschlags soll zunächst in Ost-
preußen, unter Aufhebung der Königsberger Generalkommission, ge-
prüft werden. — Wir enthalten uns in diesem Zusammenhange einer
eingehenderen Würdigung dieses Planes: für die innere Koloni-
sation würde seine Verwirklichung bedeuten, daß ihre Oberleitung
in die Hände des Oberpräsidenten gelegt wird; daß die Gegensätze,
welche heute zwischen Generalkommission und Landgesellschaft be-
stehen, behoben werden, zumal der Oberpräsident einen entscheidenden
Einfluß auf die Landgesellschaft auszuüben vermag; daß die in seiner
Hand ruhende staatliche Machtfülle das Kolonisationswerk vor zahl-
losen Reibungen und Schwierigkeiten bewahren kann. Graf v. Zedlitz
1) Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung vom 24. November 1909, No. 550.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 657
und Trützschler übernahm seinerzeit die Leitung der Ansiedlungs-
kommission nur unter der Bedingung, daß er gleichzeitig Ober-
präsident von Posen wurde! 1)
Ein ausgesprochener Gegner des Entwicklungsganges, den die
innere Kolonisation neuerdings eingeschlagen hat, ist Metz. Er
bekämpft ihre Uebertragung auf „halb öffentlich-rechtliche Ge-
sellschaften“, die ganz oder überwiegend aus Selbstverwaltungs-
behörden zusammengesetzt sind ?). Er befürchtet, daß die Kreise,
welche nach der Ansiedlungsnovelle vom 10. August 1904 bei der
Regelung der öffentlich-rechtlichen Verhältnisse entscheidend mit-
zuwirken haben, in einen Widerstreit der Pflichten geraten, wenn
sie Mitglieder der Ansiedlungsgesellschaft werden und als solche
ein Interesse daran gewinnen, daß bei der Ausstattung der Kolonien
mit Sparsamkeit verfahren wird è). Dieser Gesichtspunkt kann aber
für Metz wohl nicht von entscheidender Bedeutung sein: denn er
empfiehlt gleichzeitig die Aufhebung der fraglichen Bestimmung der
Ansiedlungsnovelle von 1904, weil dem Staate selbst und nicht den
Selbstverwaltungskörpern die leitende und entscheidende Mitwirkung
bei der Kolonisation zustehen muß +4). Metz hegt aber außerdem
Besorgnis, daß bei der Abneigung vieler Großgrundbesitzer gegen
die Kolonisation die Selbstverwaltungskörper als Mitglieder der
Ansiedlungsgesellschaften einen hemmenden Einfluß ausüben werden.
Das zunächst in Ostpreußen hervorgetretene Bestreben, die General-
kommission möglichst auszuschalten 5), macht ihn vollends zum
Gegner solcher Gesellschaften. Will er doch sogar die auf seine
persönliche Anregung gegründete Pommersche Ansiedlungs-
Gesellschaft, welche nach einem Vorschlage des Provinzialausschusses
gemeinsam mit dem Staat, der Provinz und den Kreisen eine
Pommersche Landgesellschaft m. b. H. nach ostpreußischem Muster
bilden soll £), lieber liquidieren als zu einer halb öffentlich-rechtlichen
Gesellschaft umbilden lassen ’. Er glaubt, daß die General-
kommissionen nach dem 1896 eingeführten „Frankfurter Verfahren“,
welches weiter zu entwickeln ist, die Kolonisation mit den Besitzern
auch ohne Unterstützung einer Gesellschaft werden gut durchführen
können; in dieser Weise seien von der Frankfurter Generalkommission
über 2000 Rentengüter, d. h. die Mehrzahl der Ansiedlerstellen,
gegründet worden ®). Diese Auslassung dürfte einige Ueberraschung
hervorrufen. da sie den seit den neunziger Jahren herrschend ge-
1) Kolonisationskonferenz, 8. 152 f.
2) Kolonisationskonferenz, S. 27ff. — Dr. Metz, Die Zukunft der innern Kolo-
nisation im östlichen Deutschland, besonders in Pommern. Berlin 1910.
3) Kolonisationskonferenz, S. 28. Zukunft der innern Kolonisation, 8. 14.
4) Zukunft der inneren Kolonisation, 8. 19.
5) Ebenda, S. 16f.
6) Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung vom 24. Februar 1910, No. 91.
7) Zukunft der innern Kolonisation, 8. 18.
8) Ebenda, S. 240.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 42
658 Otto Gerlach,
wordenen Anschauungen widerstreitet. Hat Metz mit diesen Be-
hauptungen recht, dann hätte er nicht den Anlaß zur Gründung
der Pommerschen Ansiedlungs-Gesellschaft zu geben brauchen und
man hätte sich die Arbeit sparen können, welche auf den Ausbau
gemeinnütziger Kolonisationsunternehmungen im letzten Jahrzehnt
verwendet worden ist. Noch in der Kolonisationskonferenz erklärte
Metz: „Unerläßlich ist die Hilfe gemeinnütziger, provinzieller
Besiedlungsgesellschaften“ !). Da nun aber von einem so hervor-
ragenden Praktiker und Pfadweiser auf dem Gebiete der innern Kolo-
nisation die Ansicht vertreten wird, daß auch ohne das Dazwischen-
treten solcher Gesellschaften gute Resulte erzielt werden können,
wird sie und das Material der ernstesten Nachprüfung unterzogen
werden müssen. Die Vorschläge, welche Metz für die Fortführung
des Kolonisationswerkes und für die Umgestaltung der General-
kommissionen in Generalkommissariate macht, gipfeln in folgenden
Leitsätzen ?):
„1. Die innere Kolonisation ist eine staatliche Aufgabe und des-
halb nur unter einer weitgehenden Mitwirkung geeigneter Staats-
organe durchführbar.
„2. Geeignet sind nur besondere, für jede Provinz zu bestellende
und mit besondern Befugnissen auszustattende Beamte — General-
kommissare —, denen zur örtlichen Durchführung der Be-
siedlungen Spezialkommissare untergeordnet sind.
„3. Der Generalkommissar und die Spezialkommissare haben
sich in allen wichtigen Angelegenheiten landwirtschaftlich-technischer
Natur des Rates eines von der zuständigen Landwirtschaftskammer
vorzuschlagenden und dem Minister für Landwirtschaft, Domänen
und Forsten bestätigten Landwirts (Bezirks- und Kreisbeirat) zu
bedienen.
„4. Der Beirat des Spezialkommissars überwacht insbesondere
die von dem Rentengutsverkäufer mit Hilfe eines ihm beigegebenen
Verwalters zu führende Uebergangs- (Zwischen-) Verwaltung.
„5. Zur Deckung von Ausfällen, die in einer Besiedlungssache
ohne Verschulden des Unternehmers entstehen, wird aus den Ueber-
schüssen der günstig verlaufenen Sachen ein Ausgleichsfonds gebildet,
der von der Seehandlung verwaltet wird.“
Die Vorschläge, welche das Landwirtschaftsministerium
und Metz gemacht haben, stimmen darin überein, daß die Leitung
der Kolonisation in der Hand einer Staatsbehörde liegen soll;
während aber das Landwirtschaftsministerium den Oberpräsidenten
damit betrauen will, fordert Metz grundsätzlich Trennung der
Kolonisation von der innern Verwaltung und Leitung derselben
durch einen Einzelbeamten, den Generalkommissar. Kapp em-
pfiehlt dagegen, die Leitung und Ausführung der inneren Koloni-
sation auf eine Selbstverwaltungskörperschaft zu übertragen. Auf
1) 8. 27.
2) Metz, Zukunft der innern Kolonisation, S. 29 f.
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 659
der Kolonisationskonferenz !) regte er an, die Generalkommissionen
zu Selbstverwaltungsbehörden umzugestalten, welche sich im wesent-
lichen auf die Aufteilung der Kolonisationsobjekte beschränken und
daneben — nur ausnahmsweise — in geeigneten Fällen auch Güter
zur Ansiedlung ankaufen sollten.
Gegen den Plan der Landschaft, Selbstverwaltungskörperschaften,
in denen die vereinigten Grundbesitzer einen entscheidenden Einfluß
auf die Geschäftsführung ausüben, zu Trägern der innern Kolonisation
zu machen, ist eingewandt worden, daß die Ansiedlung durch eine
solche Organisation unterbunden werden würde oder gar unterbunden
werden solle: denn die Großgrundbesitzer seien ja Gegner der
Kolonisation. Wer die Entwicklung in Ostpreußen aus nächster
Nähe beobachten konnte, wird die Behauptung, daß sich derartige
Absichten hinter den Vorschlägen versteckt hätten, mit Entschieden-
heit zurückweisen müssen. Das Vorgehen der Landschaft hat viel-
mehr den Kolonisationsgedanken an breitere Kreise des ländlichen
Grundbesitzes herangebracht und sie für ihn gewonnen. Wer die
leitenden Persönlichkeiten kennt, weiß, daß ihnen an einem energischen
Vorgehen gelegen war und ist. Es muß aber ferner bestritten werden,
daß eine Mitwirkung der Landwirte — welche ja auch bei der Pommer-
schen Ansiedlungs-Gesellschaft und bei der reorganisierten ostpreußi-
schen Landgesellschaft stattfindet — eine Beschränkung der innern
Kolonisation herbeizuführen geeignet ist. Gewiß wird sich gegen die
heutige Kolonisationstechnik eine Reaktion geltend machen, sobald die
Güterzertrümmerung das berechtigte Maß zu überschreiten droht.
Auch wird die fortschreitende Nachfrage der kolonisierenden Ge-
sellschaften schließlich eine Preissteigerung der Güter herbeiführen,
welche es unmöglich macht, auf ihnen Bauern zu günstigen Be-
dingungen anzusetzen: Die heutige Kolonisationstechnik wird an
den Folgen, welche sie auf dem Gütermarkte zeitigt, zugrunde gehen.
Darunter braucht aber die innere Kolonisation nicht zu leiden; im
Gegenteil: Ist erst eine hinreichende Anzahl von Landgemeinden
vorhanden, an welche neue Bauernhöfe und Arbeiterstellen an-
gegliedert werden können, so kann die unmittelbare Ansiedlung durch
die Gutsbesitzer einsetzen; sie können durch Abverkauf von Par-
zellen, welche an Landgemeinden grenzen und umgemeindet werden,
das bäuerliche Element verstärken und gleichzeitig ihren eignen
Betrieb verkleinern und intensiver gestalten. Die Kolonisation wird
aus der Periode der Güterzerschlagung zu einer allmählichen Um-
und Weiterbildung der bestehenden Besitzverteilung übergeleitet
werden. Wenn die Entwicklung hierfür reif sein wird, wenn Renta-
bilitäts- und Arbeiterverhältnisse gebieterisch auf eine Abstoßung
von Ländereien hinweisen, wird die Frage aufs neue geprüft werden
müssen, ob dieser großen, erweiterten Aufgabe gegenüber nicht
doch die Kräfte der Selbstverwaltung aufzurufen sind.
x *
*
1) 8. 1461.
42*
660 Otto Gerlach,
Die einzelnen, von uns besprochenen agrarpolitischen Maß-
nahmen, welche die Ostpreußische Landschaft während der
letzten drei Jahre beschlossen hat, fügen sich zu einem systema-
tischen Ganzen zusammen und richten sich auf das einheitliche
Ziel, den Grundbesitz zu befestigen. Ihm dienen in erster
Linie die Entschuldungsmaßnahmen, welche unter dem
Schutz der Agrarzölle ergriffen und durch welche die Widerstands-
fähigkeit der Grundeigentümer gegen Krisen und Unglücksfälle ge-
stärkt sowie die Unterlagen für einen ausreichenden und billigen Be-
triebskredit geschaffen werden sollen. Das gilt von der Entschuldung
bei Unterwerfung unter die Verschuldungsgrenze, welche
sich nicht nur für den Großgrundbesitz, sondern in der Regel auch für
den bäuerlichen Besitz eignet; das gilt aber auch von der zur Ergänzung
jener und in erster Linie für den kleinen und mittleren Grundbesitz in
Aussicht genommenen Umwandlung der Nachhypotheken in Tilgungs-
hypotheken ohne Eintragung der Verschuldungsgrenze,
in welchen ein Teil der der Bank zufließenden Spargelder und der
Kapitalien der Lebensversicherungsanstalt Anlage finden
soll. Auch die Lebensversicherung, welche die Schuldtilgung
ersetzen und gleichzeitig die zur Abfindung der Miterben erforder-
lichen Kapitalien bereitstellen soll, wird zur Befestigung der Be-
sitzverhältnisse beitragen. Gelingt der in Aussicht genommene
Ausbau einer Volksversicherung innerhalb der ländlichen Be-
völkerung, so können dadurch breitere Kreise der unteren Bevölke-
rungsschichten die erforderlichen Mittel zur Ansiedelung erlangen
und das im Grundbesitz gefestigte Deutschtum verstärken. Die
Maßnahmen, durch welche die landschaftliche Beleihung kleinerer
Besitzungen erleichtert wird, dienen der Befestigung des Bauern-
standes. Für die Stärkung der deutschen Volkskraft ist die Ver-
mehrung des bäuerlichen Besitzes durch innere Kolonisation
erforderlich: sie zu einer blühenden Entwicklung zu bringen und
auch den Großgrundbesitz für sie zu gewinnen, hatte sich die Land-
schaft als Aufgabe gesetzt. Aber auch bei ihr darf das Ziel der
Besitzbefestigung nicht aus dem Auge verloren werden; daher das
Verlangen, die Güterzertrümmerung darauf zu beschränken, daß eine
hinreichende Anzahl Landgemeinden zwischen die Gutsbezirke ein-
geschoben wird; im übrigen aber nur solche Güter zu zerschlagen,
welche sich für den Großbetrieb nicht eignen ; dagegen durch geeignete
Maßnahmen und durch Hilfen der Ansiedlungsbank es zu fördern,
daß die Gutsbesitzer selbst solche Gutsteile, welche sich für die Be-
siedlung mit Bauern und Arbeitern eignen und in der Nachbarschaft
von Landgemeinden liegen, abzweigen, aufteilen und besiedeln. Da-
durch würde gleichzeitig eine wirtschaftliche Kräftigung der Koloni-
satoren in den ihnen verbleibenden landwirtschaftlichen Betrieben
erzielt und die Preissteigerung vermieden werden, welche unter der
fortgesetzten Nachfrage nach Gütern für Parzellierungszwecke Platz
greifen muß, welche schließlich die Interessen der Kolonisten ge-
Landwirtschaftliche Kreditreform und innere Kolonisation. 661
fährdet, anderseits aber auch die Grundbesitzer zu Verkaufsangeboten
reizt und dadurch den Grundbesitz mobilisiert. Den durch den
Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften nicht nur in Groß-
betrieben, sondern auch in großen und mittleren bäuerlichen Wirt-
schaften hervorgerufenen Betriebsschwierigkeiten, welche in steigen-
dem Maße zu einer Lockerung der Besitzverhältnisse Anlaß geben,
wollte die Landschaft durch besondere Pflege der Arbeiter-
ansiedlung entgegentreten. Mit ihr sollte schließlich, unter Ver-
wendung der bei der inneren Kolonisation erzielten Ueberschüsse,
der Ausbau der ländlichen Wohlfahrtspflege Hand in Hand
gehen und dazu beitragen, daß auch die unteren Schichten der länd-
lichen Bevölkerung an den Segnungen des Landlebens teilnehmen
können, sich auf dem Lande wohl fühlen und die Vorzüge der land-
wirtschaftlichen Betätigung wieder schätzen lernen.
662 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
III.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches
im Jahre 1909.
Reichsgesetzblatt 1909.
Weingesetz. Vom 7. April 1909. S. 393.
SL Wein ist das durch alkoholische Gärung aus dem Safte der frischen
Weintraube hergestellte Getränk.
§ 2. Es ist gestattet, Wein aus Erzeugnissen verschiedener Herkunft oder
Jahre herzustellen (Verschnitt). Dessertwein (Süd-, Süßwein) darf jedoch zum
Verschneiden von weißem Weine anderer Art nicht verwendet werden.
$ 3. Dem aus inländischen Trauben gewonnenen Traubenmost oder Weine,
bei Herstellung von Rotwein auch der vollen Traubenmaische, darf Zucker, auch
in reinem Wasser gelöst, zugesetzt werden, um einem natürlichen Mangel an
Zucker beziehungsweise Alkohol oder einem Uebermaß an Säure insoweit abzu-
helfen, als es der Beschaffenheit des aus Trauben gleicher Art und Herkunft in
guten Jahrgängen ohne Zusatz gewonnenen Erzeugnisses entspricht. Der Zusatz
an Zuckerwasser darf jedoch in keinem Falle mehr als ein Fünftel der gesamten
Flüssigkeit betragen. Abs. 2. Die Zuckerung darf nur in der Zeit vom Beginne
der Weinlese bis zum 31. Dezember des Jahres vorgenommen werden; sie darf in
der Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember bei ungezuckerten Weinen früherer
Jahrgänge nachgeholt werden. Abs. 3. Die Zuckerung darf nur innerhalb der
am Weinbaue beteiligten Gebiete des Deutschen Reiches vorgenommen werden.
Abs. 4. Die Absicht, Traubenmaische, Most oder Wein zu zuckern, ist der zu-
ständigen Behörde anzuzeigen. Abs. 5. Auf die Herstellung von Wein zur Schaum-
weinbereitung in den Schaumweinfabriken finden die Vorschriften der Abs. 2, 3
keine Anwendung. Abs. 6. In allen Fällen darf zur Weinbereitung nur technisch
reiner, nicht färbender Rüben-, Rohr-, Invert- oder Stärkezucker verwendet werden.
$ 4. Unbeschadet der Vorschriften des $ 3 dürfen Stoffe irgendwelcher Art
dem Weine bei der Kellerbehandlung nur insoweit zugesetzt werden, als diese es
erfordert. Der Bundesrat ist ermächtigt, zu bestimmen, welche Stoffe verwendet
werden dürfen, und Vorschriften über die Verwendung zu erlassen. Die Keller-
behandlung umfaßt die nach Gewinnung der Trauben auf die Herstellung, Er-
haltung und Zurichtung des Weines bis zur Abgabe an den Verbraucher gerichtete
Tätigkeit. Abs. 2. Versuche, die mit Genehmigung der zuständigen Behörde an-
gestellt werden, unterliegen diesen Beschränkungen nicht.
$ 5. Esist verboten, gezuckerten Wein unter einer Bezeichonng feilzuhalten oder
zu verkaufen, die auf Reinheit des Weines oder auf besondere Sorgfalt bei Gewinnung
der Trauben deutet; auch ist es verboten in der Benennung anzugeben oder anzu-
deuten, daß der Wein Wachstum eines bestimmten Weinbergsbesitzers sei. Abs. 2.
Wer Wein gewerbsmäßig in Verkehr bringt, ist verpflichtet, dem Abnehmer auf Ver-
langen vor der Uebergabe mitzuteilen, ob der Wein gezuckert ist, und sich beim
Nationalökonomische Gesetzgebung. 663
ebe von Wein die zur Erteilung dieser Auskunft erforderliche Kenntnis zu
sichern.
§ 6. Im gewerbsmäßigen Verkehr mit Wein dürfen geographische Bezeich-
nungen zur Kennzeichnung der Herkunft verwendet werden. Abs. 2. Die Vor-
schriften des $ 16 Abs. 2 des Gesetzes zum Schutze der Warenbezeichnungen vom
12. Mai 1894 und des $ 1 Abs. 3 des Gesetzes zur Bekämpfung des unlauteren
Wettbewerbes vom 27. Mai 1896 finden auf die Benennung von Wein keine An-
wendung. Gestattet bleibt jedoch, die Namen einzelner Gemarkungen oder Wein-
bergslagen, die mehr als einer Gemarkung angehören, zu benutzen, um gleichartige
und gleichwertige Erzeugnisse benachbarter oder nahegelegener Gemarkungen oder
Lagen zu bezeichnen.
$ 7. Ein Verschnitt aus Erzeugnissen verschiedener Herkunft darf nur dann
nach einem der Anteile allein benannt werden, wenn dieser in der Gesamtmenge
überwiegt und die Art bestimmt; dabei findet die Vorschrift des $6 Abs. 2 Satz 2
Anwendung. Die Angabe einer Weinbergslage ist jedoch, von dem Falle des $ 6
Abs. 2 abgesehen, nur dann zulässig, wenn der aus der betreffenden Lage stammende
Anteil nicht gezuckert ist. Abs. 5 Es ist verboten, in der Benennung anzugeben
oder anzudeuten, daß der Wein Wachstum eines bestimmten Weinbergsbesitzers
sei. Abs. 3. Die Beschränkungen der Bezeichnung treffen nicht den Verschnitt
durch Vermischung von Trauben oder Traubenmost mit Trauben oder Trauben-
most gleichen Wertes derselben oder einer benachbarten Gemarkung und den Ersatz
der Abgänge, die sich aus der Pflege des im Fasse lagernden Weines ergeben.
SR Ein Gemisch von Weißwein und Rotwein darf, wenn es als Rotwein
in den Verkehr gebracht wird, nur unter einer die Mischung kennzeichnenden
Bezeichnung feilgehalten oder verkauft werden.
89. Es ist verboten, Wein nachzumachen.
$ 10. Herstellung weinähnlicher Getränke.
$ 11. Haustrunkbereitung.
$ 12. Die Vorschriften der $$ 2, 4 bis 9 finden auf Traubenmost, die der
SS 4 bis 9 auf Traubenmaische Anwendung.
$ 13. Getränke, die den Vorschriften der $$ 2, 3, 4, 9, 10 zuwider hergestellt
oder behandelt worden sind, ferner Traubenmaische, die einen nach den Bestim-
mungen des $ 3 Abs. 1 oder des $ 4 nicht zulässigen Zusatz erhalten hat, dürfen,
vorbehaltlich der Bestimmungen des $ 15, nicht in den Verkehr gebracht werden.
Dies gilt auch für ausländische Erzeugnisse, die den Vorschriften des $ 3 Abs. 1
und der SS 4, 9, 10 nicht entsprechen; der Bundesrat ist ermächtigt, hinsichtlich
der Vorschriften des $ 4 and des $ 10 Abs. 2 Ausnahmen für Getränke und
Traubenıinaische zu bewilligen, die den im Ursprungslande geltenden Vorschriften
entsprechend hergestellt sind.
$ 14. Die Einfuhr von Getränken, die nach $ 13 vom Verkehr ausgeschlossen
sind, ferner von Traubenmaische, die einen nach den Bestimmungen des $3 Abs. 1
oder des $ 4 nicht zulässigen Zusatz erhalten hat, ist verboten. Abs. 2. Der
Bundesrat erläßt die Vorschriften zur Sicherung der Einhaltung des Verbots, er
ist ermächtigt, die Einfuhr von Traubenmaische, Traubenmost oder Wein zu ver-
bieten, die den am Orte der Herstellung geltenden Vorschriften zuwider hergestellt
oder behandelt worden sind.
$ 15. Getränke, die nach $ 13 vom Verkehr ausgeschlossen sind, dürfen zur
Herstellung von weinhaltigen Getränken, Schaumwein oder Kognak nicht verwendet
werden. Zu anderen Zwecken darf die Verwendung nur mit Genehmigung der
zuständigen Behörde erfolgen.
$ 16. Der Bundesrat ist ermächtigt, die Verwendung bestimmter Stoffe bei
der Herstellung von weinhaltigen Getränken, Schaumwein oder Kognak zu be-
schränken oder zu untersagen, sowie bezüglich der Herstellung von Schaumwein
und Kognak zu bestimmen, welche Stoffe Verwendung finden dürfen und Vor-
schriften über die Verwendung zu erlassen.
$ 17. Schaumwein, der gewerbsmäßig verkauft oder feilgehalten wird. muß
eine Bezeichnung tragen, die das Land erkennbar macht, wo er auf Flaschen ge-
füllt worden ist; bei Schaumwein, dessen Kohlensäuregehalt ganz oder teilweise
auf einem Zusatze fertiger Kohlensäure beruht, muß die Bezeichnung die Her-
stellungsart ersehen lassen. Dem Schaumwein ähnliche Getränke müssen eine Be-
664 Nationalökonomische Gesetzgebung.
zeichnung Lagere welche erkennen läßt, welche dem Weine ähnlichen Getränke zu
ihrer Herstellung verwendet worden sind. Die näheren Vorschriften trifft der
Bundesrat. Abs. 2. Die vom Bundesrate vorgeschriebenen Bezeichnungen sind
auch in die Preislisten und Weinkarten sowie in die sonstigen im geschäftlichen
Verkehr üblichen Angebote mit aufzunehmen.
$ 18. Trinkbranntwein, dessen Alkohol nicht ausschließlich aus Wein ge-
wonnen ist, darf im geschäftlichen Verkehr nicht als Kognak bezeichnet werden.
Abs. 2. Trinkbranntwein, der neben Kognak Alkohol anderer Art enthält, darf
als Kognakverschnitt bezeichnet werden, wenn mindestens !/,, des Alkohols aus
Wein gewonnen ist. Abs. 3. Kognak und Kognakverschnitt müssen in 100 Raum-
teilen mindestens 38 Raumteile Alkohol enthalten. Abs. 4. Trinkbranntwein, der
in Flaschen oder ähnlichen Gefäßen unter der Bezeichnung Kognak gewerbsmäßig
verkauft oder feilgehalten wird, muß zugleich eine Bezeichnung tragen, welche das
Land erkennbar macht, wo er für den Verbrauch fertiggestellt worden ist. Die
näheren Vorschriften trifft der Bundesrat. Abs. 5. Die vom PBundesrate vorge-
schriebenen Bezeichnungen sind auch in die Preislisten und Weinkarten sowie in
die sonstigen im geschäftlichen Verkehr üblichen Angebote mit aufzunehmen.
$ 19. Buchführung.
$ 20. Lagerung.
$ 21. Ueberwachung.
Zë 22, 23, 24 Aufsicht.
25. Der Vollzug des Gesetzes liegt den Landesregierungen ob. Abs. 2.
Der Bundesrat stellt die zur Sicherung der Einheitlichkeit des Vollzugs erforder-
lichen Grundsätze, insbesondere für die Bestellung von geeigneten Sachverständigen
und die Gewährleistung ihrer Unabhängigkeit fest. Er ist ermächtigt, Vorschriften
für die jährliche Feststellung der Traubenernte sowie über Zeitpunkt, Form und
Inhalt der nach $ 3 Abs. 4 vorgeschriebenen Anzeige zu erlassen. Abs. 3. Die
weiter erforderlichen Vorschriften zur Sicherung des Vollzugs werden durch die
Landeszentralbehörden oder die von diesen ermächtigten Landesbehörden erlassen.
Abs. 4. Die Landeszentralbehörden sind außerdem ermächtigt, im Einvernehmen
mit dem Reichskanzler die Grenzen der am Weinbau beteiligten Gebiete zu be-
stimmen ($ 3 Abs. 3). Abs.5. Der Reichskanzler hat die Ausführung des Gesetzes
zu überwachen und insbesondere auf Gleichmäßigkeit der Handhabung hinzuwirken.
$$ 26—31. Straf bestimmungen.
$ 32. Die Vorschriften anderer die Herstellung und den Vertrieb von Wein
treffender Gesetze, insbesondere des Gesetzes, betreffend den Verkehr mit Nah-
rungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen, vom 14. Mai 1879, des
Gesetzes zum Schutze der Warenbezeichnungen vom 12. Mai 1894 und des Ge-
setzes zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes vom 27. Mai 1896 bleiben
unberührt, soweit nicht die Vorschriften dieses Gesetzes entgegenstehen. Die
Vorschriften der Së 16, 17 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 finden auch bei Straf-
verfolgungen auf Grund der Vorschriften dieses Gesetzes Anwendung. Durch die
Landesregierungen kann jedoch bestimmt werden, daß die auf Grund dieses Ge-
setzes auferlegten Geldstrafen in erster Linie zur Deckung der Kosten zu ver-
wenden sind, die durch die Bestellung von Sachverständigen auf Grund des $ 21
dieses Gesetzes entstehen. Die Verwendung erfolgt in diesem Falle durch die mit
dem Vollzuge des Gesetzes betrauten Landeszentralbehörden, durch welche die
etwa verbleibenden Ueberschüsse auf die nach § 17 des Gesetzes vom 14. Mai 1879
in Betracht kommenden Kassen zu verteilen sind.
$ 33. Der Bundesrat ist ermächtigt, im Großherzogtum Luxemburg ge-
wonnene Erzeugnisse des Weinbaues den inländischen gleichzustellen, falls dort ein
diesem Gesetz entsprechendes Weingesetz erlassen wiet.
§ 34. Dieses Gesetz tritt am 1. September 1909 in Kraft. Abs. 2. Mit
diesem Zeitpunkte tritt das Gesetz, betreffend den Verkehr mit Wein, weinhaltigen
und weinähnlichen Getränken vom 24. Mai 1901 außer Kraft.
Bekanntmachung, betr. Bestimmungen zur Ausführung des Wein-
gesetzes. Vom 9. Juli 1909. S. 549.
Bekanntmachung, betr. die Bildung von Weinbaubezirken. Vom
30. Januar 1909. 8 263.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 665
Viehseuchengesetz. Vom 26. Juni 1909. S. 519.
Bekanntmachung, betr. allgemeine polizeiliche Bestimmungen über
die Anlegung von Landdampfkesseln. Vom 17. Dezember 1908. S. 3.
Gesetz über die Sicherung der Bauforderungen. Vom 1. Juni 1909.
S. 449.
Erster Abschnitt. Allgemeine Sicherungsmaßregeln.
$1. Der Empfänger von Baugeld ist verpflichtet, das Baugeld zur Be-
friedigung solcher Personen, die an der Herstellung des Baues auf Grund eines
Werk-, Dienst- oder Lieferungsvertrags beteiligt sind, zu verwenden. Eine ander-
weitige Verwendung des Baugeldes ist bis zu dem Betrage statthaft, in welchem
der Entree aus anderen Mitteln Gläubiger der bezeichneten Art bereits be-
friedigt hat. Abs. 2. Ist der Empfänger selbst an der Herstellung beteiligt, so
darf er das Baugeld in Höhe der Hälfte des angemessenen Wertes der von ihm
in den Bau verwendeten Leistung oder, wenn die Leistung von ihm noch nicht in
den Bau verwendet worden ist, der von ihm geleisteten Arbeit und der von ihm
gemachten Auslagen für sich behalten. Abs. 3. Baugeld sind Geldbeträge, die
zum Zwecke der Bestreitung der Kosten eines Baues in der Weise gewährt werden,
daß zur Sicherung der Ansprüche des Geldgebers eine Hypothek oder Grund-
schuld an dem zu bebauenden Grundstücke dient oder dib Uebertragung des
Eigentums an dem Grundstück erst nach gänzlicher oder teilweiser Herstellung
des Baues erfolgen soll. Als Geldbeträge, die zum Zwecke der Bestreitung der
Kosten eines Baues gewährt werden, gelten insbesondere:
1) eolche, deren Auszahlung oder nähere Bestimmung des Zwecks der Ver-
wendung nach Maßgabe des Fortschreitens des Baues erfolgen soll, 2) solche, die
gegen eine als Baugeldhypothek bezeichnete Hypothek gewährt werden.
§ 2. Zur Führung eines Baubuches ist verpflichtet, wer die Herstellung
eines Neubaues unternimmt und entweder Baugewerbetreibender ist oder sich für
den Neubau Baugeld gewähren läßt. Ueber jeden Neubau ist gesondert Buch zu
führen. Abs. 2. Neubau im Sinne dieses Gesetzes ist die Errichtung eines Ge-
bäudes auf einer Baustelle, die zur Zeit der Erteilung der Bauerlaubnis unbebaut
oder nur mit Bauwerken untergeordneter Art oder mit solchen Bauwerken besetzt
ist, welche zum Zwecke der Errichtung des Gebäudes abgebrochen werden sollen.
Abs. 3. Aus dem Baubuch müssen sich ergeben: 1) die Personen, mit denen ein
Werk-, Dienst- oder Lieferungsvertrag abgeschlossen ist, die Art der diesen Per-
sonen übertragenen Arbeiten und die vereinbarte Vergütung; 2) die auf jede
Forderung geleisteten Zahlungen und die Zeit dieser Zahlungen; 3) die Höhe der
zur Bestreitung der Baukosten zugesicherten Mittel und die Person des Geldgebers
sowie Zweckbestimmung und Höhe derjenigen Beträge, die gegen Sicherstellung
durch das zu bebauende Grundstück ($ 1 Abe. 3), jedoch nicht zur Bestreitung
der Baukosten gewährt werden; 4) die einzelnen in Anrechnung auf die unter
Ziffer 3 genannten Mittel an den Buchführungspflichtigen oder für seine Rechnung
geleisteten Zahlungen und die Zeit dieser Zahlungen; 5) Abtretungen, Pfändungen
oder sonstige Verfügungen über diese Mittel; 6) die Beträge, die der Buchführungs-
pflichtige für eigene Taktung in den Bau aus diesen Mitteln entnommen hat.
Abs. 4. Das Buch ist bis zum Ablaufe von fünf Jahren, von der Beendigung des
a ar Baues an gerechnet, aufzubewahren.
$ 3. Die Vorschriften des $ 2 finden auch auf Umbauten Anwendung,
wenn für den Umbau Baugeld gewährt wird.
$ 4. Bei Neubauten ist der Bauleiter verpflichtet, an leicht sichtbarer Stelle
einen Anschlag anzubringen, welcher den Stand, den Familiennamen und wenigstens
einen ausgeschriebenen Vornamen sowie den Wohnort des Eigentümers und, falls
dieser die Herstellung des Gebäudes oder eines einzelnen Teiles des Gebäudes einem
Unternehmer übertragen hat, des Unternehmers in deutlich lesbarer und unver-
wischbarer Schrift enthalten muß. Wird der Bau von einer Firma als Eigentümer
oder Unternehmer ausgeführt, so ist diese und deren Niederlassungsort anzugeben.
$ 5. Baugeldempfänger, welche ihre Zahlungen eingestellt haben oder über
deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet worden ist und deren im § 1 Abs. 1
bezeichnete Gläubiger zurzeit der Zahlungseinstellung oder der Konkurseröffnung
666 Nationalökonomische Gesetzgebung.
benachteiligt sind, werden mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft, wenn
sie vorsätzlich zum Nachteile der bezeichneten Gläubiger den Vorschriften des $ 1
zuwider gehandelt haben. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann die Strafe
bis ai einen Tag Gefängnis ermäßigt oder auf Geldstrafe bis zu 3000 M. erkannt
werden.
§ 6. Zur Führung eines Baubuches verpflichtete Personen, welche ihre
Zahlungen eingestellt haben oder über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet
worden ist und deren im § 2 Abs. 3 Z. 1 bezeichnete Gläubiger zurzeit der
Zahlungseinstellung oder der Konkurseröffnung benachteiligt sind, werden mit
Gefängnis bis zu einem Jahre oder mit Geldstrafe bis zu 3000 M. bestraft, wenn
sie das vorgeschriebene Baubuch zu führen unterlassen, oder es verheimlicht, ver-
nichtet oder so unordentlich geführt haben, daß es keine genügende Uebersicht,
insbesondere über die Verwendung der zur Bestreitung der Baukosten zugesicherten
Mittel gewährt.
§ 7. Mit Geldstrafe bis zu 150 M. und im Unvermögensfalle mit Haft bis
zu vier Wochen wird bestraft, wer den Vorschriften des § 4 zuwiderhandelt.
SH Die Vorschriften dieses Abschnitts finden auf Bauten, die bereits vor
dem Inkrafttreten des Gesetzes begonnen sind, keine Anwendung.
Zweiter Abschnitt. Dingliche Sicherung der Bauforderungen.
Die Vorschriften dieses Abschnittes finden Anwendung nur in den durch landes-
herrliche Verordnung bestimmten Gemeinden. Vor Erlassung der landesherrlichen Ver-
ordnung ist die Gemeinde, die amtliche Handelsvertretung, die Handwerkskammer des
Bezirkes und die gesetzliche Arbeitervertretung zu hören. Die Vorschriften betreffen
Baubeginn, Baugläubiger, die Bauhypothek und Baugeldhypothek, Sicherheitsleistung
und die Errichtung von Bauschäöfjfenämtern.
Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb von
Steinbrüchen und Steinhauereien (Steinmetzbetrieben). Vom 31. Mai 1909,
S. 471.
Allgemeine Bestimmungen.
$ 1. In solchen Steinbrüchen und Steinhauereien, in denen regelmäßig fünf
oder mehr Arbeiter beschäftigt werden, müssen für die im Freien beschäftigten
Arbeiter zur Unterkunft während der Arbeitspausen ausreichend große und wetter-
dichte Räume vorhanden sein, welche genügend erhellt, mit einem dichten Fuß-
boden versehen und bei kalter Witterung geheizt sind; sie müssen für jeden dauernd
beschäftigten Arbeiter einen Sitzplatz enthalten. Auch müssen Vorrichtungen zum
Wärmen der Speisen vorhanden sein. Abs. 2. Die Unterkunftsräume sind täglich
zu PER: sie dürfen nicht als Lager- oder Aufbewahrungsräume benutzt werden.
§ 2. In den in $ 1 bezeichneten Betrieben müssen den Anforderungen der
Gesundheitspflege und des Anstandes entsprechende Bedürfnisanstalten in aus-
reichender Zahl vorhanden sein.
§ 3. Für solche Steinbrüche und Steinhauereien, in denen regelmäßig weniger
als fünf Arbeiter beschäftigt werden, behält es bei der Befugnis der zuständigen
Behörden, im Wege der Verfügung oder Anordnung oder durch Polizeiverordnungen
(ss 120d, 120e der Gewerbeordnung) Einrichtungen der in $$ 1, 2 bezeichneten
Art vorzuschreiben, sein Bewenden.
$ 4. In Steinbrüchen und Steinhauereien müssen für die im Freien arbeitenden
Steinhauer, Schrotschläger, Kleinschläger, Klarschläger und Pflastersteinkipper
Pflastersteinschläger) zum Schutze gegen die Unbilden der Witterung entweder
Schutzdächer über den Arbeitsplätzen oder Arbeitsbuden errichtet werden. Die
Arbeitsbuden müssen nach drei Seiten hin, insbesondere nach derjenigen der Haupt-
windrichtung, geschlossen werden können.
$5. In Steinbrüchen und Steinhauereien sind für die Arbeiter gesundes
Trinkwasser oder andere geeignete Getränke vom Arbeitgeber in ausreichender
Menge zur Verfügung zu stellen. Abs. 2. Die in d 3 bezeichneten Behörden
können anordnen, daß die Arbeitgeber den Arbeitern nicht gestatten dürfen, Brannt-
wein in den Betrieb einzubringen.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 667
Besondere Bestimmungen für Sandsteinarbeiter.
SG In Steinbrüchen und Steinhauereien müssen die Arbeiter bei dem
Bossieren oder der weiteren Bearbeitung von Sandstein mindestens 2 m voneinander
entfernt sein.
$ 7. Zur tunlichsten Vermeidung der Staubentwicklung müssen in Stein-
hauereien bei der Sandsteinbearbeitung, sofern dies nicht aus technischen Rück-
sichten unzulässig ist, die Werkstücke und bei warmer und trockener Witterung
auch die Arbeitsplätze und die Fußböden der Arbeitsbuden und Werkstätten feucht
gehalten werden. Abs. 2. Die Arbeitsbuden und Werkstätten sind täglich von
Abfall und Schutt, ihre Fußböden ebenso unter ausreichender Anfeuchtung von
Staub zu reinigen. Abs. 3. Das erforderliche Wasser ist vom Arbeitgeber zur
Verfügung zu stellen.
§ 8. Den in $ 3 bezeichneten Behörden bleibt es überlassen, gleiche Be-
stimmungen wie die hinsichtlich der Sandsteinarbeiter vorgesehenen auch für Arbeiter
zu treffen, welche bei der Gewinnung von Dolorit oder ähnlichen Gesteinsarten,
die scharfkantigen Staub entwickeln, beschäftigt werden.
Beschäftigung erwachsener Arbeiter.
$ 9. In Steinbrüchen dürfen Arbeiter, die bei der Steingewinnung (dem
Brechen, dem Unterschrämen, dem Hohlmachen, dem Herstellen und Besetzen von
Bohrlöchern, dem Sprengen u. dgl.), wenn auch nur während eines Teiles des Tages,
verwendet werden, nicht länger als 10 Stunden täglich beschäftigt werden. Abs. 2.
In Steinbrüchen und Steinhauereien dürfen Arbeiter, die bei dem Bossieren oder
der weiteren Bearbeitung von Sandstein, wenn auch nur während eines Teiles des
Tages, verwendet werden, nicht länger als 9 Stunden täglich beschäftigt werden.
Abs. 3. Ausnahmen von den vorstehenden Bestimmungen können von der unteren
Verwaltungsbehörde zugelassen werden für Arbeiten, welche in Notfällen oder im
öffentlichen Interesse unverzüglich vorgenommen werden müssen. Die Erlaubnis
darf nicht für mehr als 2 Stunden täglich und höchstens auf die Dauer von
14 Tagen erteilt werden.
eschäftigungvon Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern.
S 10. In Steinbrüchen dürfen Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter nicht
bei Abräumungsarbeiten, bei der Steingewinnung ($ 9 Abs. 1) oder der Rohauf-
arbeitung von Steinen beschäftigt werden. Als Rohaufarbeitung im Sinne dieser
Bestimmungen gilt auch die Herstellung von Chausseesteinen (Schotter, Klarschlag,
E Kleinschlag) in solchen Betrieben. Die höhere Verwaltungsbehörde
kann für ihren Bezirk oder Teile desselben gestatten, daß Arbeiterinnen über
18 Jahre mit der Herstellung von Chausseesteinen beschäftigt werden; die Dauer
der Beschäftigung im Steinbruche darf in diesem Falle 6 Stunden täglich nicht
übersteigen. Abs. 2. In Steinhauereien dürfen jugendliche Arbeiter nicht bei der
trockenen Bearbeitung von Sandstein, Arbeiterinnen auch nicht mit anderen
Arbeiten beschäftigt werden, bei denen sie der Einwirkung von Steinstaub aus-
gesetzt sind. Falls jugendliche Arbeiter, wenn auch nur während eines Teiles des
Tages, zur Bearbeitung von feuchtem Sandsteine verwendet werden, so dürfen sie
nicht länger als 9 Stunden täglich beschäftigt werden. Abs. 3. Außerdem dürfen
in Steinbrüchen und Steinhauereien Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter nicht
beim Transport oder Verladen von Abraum, Steinen oder Abfall beschäftigt werden.
Für Schieferbrüche kann die höhere Verwaltungsbehörde Ausnahmen dahin zu-
lassen, daß jugendliche Arbeiter beim Transport oder Verladen von Steinen mit
ihren Kräften angemessenen Arbeiten beschäftigt werden dürfen.
Schlußbestimmungen.
$ 11. Als Steinhauereien gelten im Sinne der vorstehenden Bestimmungen
auch solche Betriebe, in welchen die über die Rohaufarbeitung hinausgehende Be-
arbeitung der Werkstücke im Steinbruch erfolgt. Abs. 2. Die Bestimmungen
der SS 1, 2, 12 finden auf solche Fälle keine Anwendung, in welchen Steinhauer
außerhalb einer regelmäßigen Betriebsstätte, z. B. auf Bauten, vorübergehend be-
schäftigt werden.
S 12. In Steinbrüchen und Steinhauereien ist an einer in die Augen fallenden
Stelle eine Tafel auszuhängen, welche in deutlicher Schrift die Bestimmungen der
SS 1—5, 9—11 wiedergibt. Abs. 2. In solchen Steinbrüchen und Steinhauereien,
668 Nationalökonomische Gesetzgebung.
in denen Sandstein gewonnen oder bearbeitet wird, muß die Tafel (Abs. 1) außer-
dem die Bestimmungen der $$ 6, 7 wiedergeben.
$ 13. Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. Juli 1909 in Kraft und
an die Stelle der Bekanntmachung vom 20. März 1902.
Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb von
Steinbrüchen und Steinhauereien (Steinmetzbetrieben.. Vom 8. Dezem-
ber 1909. S. 971.
Bekanntmachung, betreffend die Einrichtung und den Betrieb ge-
werblicher Anlagen, in denen Thomasschlacke gemahlen oder Thomas-
schlackenmehl gelagert wird. Vom 3. Juli 1909. S. 543.
SL. Die Arbeitsräume, in denen Thomasschlacke zerkleinert oder gemahlen
wird, und die Niederlagen von Thomasschlackenmehl, in denen dieses nicht dauernd
in geschlossenen Säcken verbleibt, müssen geräumig und so eingerichtet sein, daß in
ihnen ein ausreichender Luftwechsel stattfindet. Abs. 2. Sie müssen mit einem dichten
und festen Fußboden versehen sein, der eine leichte Beseitigung des Staubes gestattet.
$ 2. Die Vorzerkleinerung der Schlacke von Hand darf nicht in den Auf-
gaberäumen für die Feinmühlen, sondern muß entweder im Freien oder in Schuppen
vorgenommen werden, die auf allen Seiten offen sind.
8 3. Die zur maschinellen Vorzerkleinerung der Schlacke dienenden Apparate
sowie die Feinmühlen und anderen Apparate, die bei der Herstellung von Thomas-
schlackenmehl Verwendung finden, müssen so eingerichtet sein, daß ein Austritt
des Staubes in die Arbeitsräume tunlichst vermieden wird. Sie müssen, sofern nicht
durch andere Vorkehrungen eine Verstäubung nach außen verhindert ist, mit wirk-
samen Vorrichtungen zur Absaugung und zum Auffangen des Staubes versehen sein.
§ 4. Die Zuführung des Mahlgutes sowie dessen Aufgeben an die im § 3
bezeicheten Apparate und an die Feinmühlen muß so eingerichtet sein, daß eine
Staubentwicklung tunlichst verhütet wird. Abs. 2. Wird die Schlacke den Fein-
mühlen in Transportgefäßen zugeführt, so muß die Beschickung so eingerichtet
sein, daß die Transportgefäße unmittelbar über den Aufgabetrichtern entleert werden
und daß, z. B. durch teilweise Ummantelnng der Aufgabestellen und durch Staub-
absaugung das Eindringen von Staub in die Arbeitsräume tunlichst verhindert wird.
$ 5. Die Außenwandungen und Fugen der Mühlen, der Zerkleinerungs-
und sonstigen staubentwickelnden Apparate, der Staubleitungen, Staubkammern
und Filteranlagen müssen staubdicht sein; entstehende Undichtigkeiten sind sofort
zu beseitigen. Abs. 2. Die Staubleitungen, Staubkammern und Filteranlagen
müssen so eingerichtet sein, daß sie im regelmäßigen Betrieb von außen gereinigt
und entleert werden können.
§ 6. Reparaturarbeiten an den in § 5 bezeichneten Apparaten und Einrich-
tungen, bei denen die Arbeiter der Einwirkung von Schlackenstaub ausgesetzt sind,
darf der Arbeitgeber nur von solchen Arbeitern ausführen lassen, welche von
ihm gelieferte, zweckmäßig eingerichtete Respiratoren oder andere, Mund und Nase
schützende Vorrichtungen, wie feuchte Schwämme, Tücher usw. tragen.
$ 7. Daß Schlackenmehl darf nur unter Vorsichtsmaßregeln so aus den Mühlen
und Staubkammern entleert und in die zur Lagerung losen Mehles dienenden Räume
(Silos) verbracht werden, daß eine Staubentwicklung tunlichst verhindert wird.
$ 8. Die Abfüllung des Mehles in Säcke (Absackung) an den Ausläufen
der Mühlen, der Transporteinrichtungen und Staubkammern darf nur unter der
Wirkung einer ausreichenden Absaugevorrichtung erfolgen.
$ 9. Beschaffenheit der Sücke und Lagerung.
$ 10. Als lose Masse darf Mehl nur in besonderen Lagerräumen (Silos) auf-
bewahrt werden, die gegen alle anderen Betriebsräume dicht abgeschlossen sind.
Abs. 2. Es müssen Einrichtungen dahin getroffen sein, daß ein Betreten der Silos
bei ihrer Entleerung und beim Abfüllen des in ihnen lose gelagerten Mehles
in Säcke vermieden wird. Abs. 3. Die Absackung des Mehles darf nur unter
der Wirkung einer ausreichenden Absaugevorrichtung erfolgen.
$ 11. Die Fußböden der in $ 1 bezeichneten Räume sind, sofern Arbeiter
darin beschäftigt werden, vor Beginn jeder Arbeitsschicht oder während jeder
Schicht in einer Arbeitspause zu reinigen. Während des Reinigens darf den
Nationalökonomische Gesetzgebung. 669
damit nicht erg N Arbeitern der Aufenthalt in diesen Räumen nicht ge-
stattet werden. Abs. 2. Wird die Reinigung auf trockenem Wege vorgenommen,
so darf sie der Arbeitgeber nur von solchen Arbeitern ausführen lassen, welche
von ihm gelieferte, zweckmäßig eingerichtete Respiratoren oder andere, Mund und
Nase schützende Vorrichtungen, wie feuchte Schwämme, Tücher usw. tragen.
$ 12. Der Arbeitgeber darf nicht gestatten, daß die Arbeiter Branntwein mit
in die Anlage bringen.
$ 13. In einem staubfreien Teile der Anlage muß für die Arbeiter ein Wasch-
und Ankleideraum und getrennt davon ein Speiseraum vorhanden sein. Diese
Räume müssen sauber und staubfrei gehalten und während der kalten Jahres-
zeit geheizt werden. Abs. 2. In dem Wasch- und Ankleideraum müssen Wasser,
Seife und Handtücher, sowie Einrichtungen zur Verwahrung derjenigen Kleidungs-
stücke, welche vor Beginn der Arbeit abgelegt werden, in ausreichender Menge
vorhanden sein. Abs. 3. Der Arbeitgeber hat seinen Arbeitern Gelegenheit zu geben,
täglich vor dem Verlassen der Arbeit in einem innerhalb der Betriebsanlage gelegenen,
während der kälteren Jahreszeit geheizten Baderaum ein warmes Bad zu nehmen,
§ 14. In denjenigen Räumen der Anlage, in welche Thomasschlacke oder
Thomasschlackenmehl lose eingebracht wird, darf Arbeiterinnen sowie männlichen
Arbeitern unter 18 Jahren die Beschäftigung und der Aufenthalt nicht gestattet
werden. Abs. 2. Ferner dürfen zum Kiopfen gebrauchter Säcke Arbeiter unter
18 Jahren nicht verwendet werden.
Š 15. Die Beschäftigung der Arbeiter, welche beim Zerkleinern oder Mahlen
der Thomasschlacke sowie beim Abfüllen, dem losen Lagern oder dem Verladen
des Thomasschlackenmehls verwendet werden, darf täglich die Dauer von 10 Stunden
nicht überschreiten. Zwischen den Arbeitsstunden müssen Pausen von einer Ge-
samtdauer von mindestens 2 Stunden, darunter eine Pause von mindestens 1 Stunde
rewährt werden. Abs. 2. Sofern die Arbeiter täglich nicht länger als 7 Stunden
eschäftigt werden, und die Dauer ihrer durch eine Pause nicht unterbrochenen
Arbeitszeit 4 Stunden nicht überschreitet, braucht nur eine Pause von mindestens
einstündiger Dauer gewährt zu werden.
16. Der Arbeitgeber darf zu den im $ 15 bezeichneten Arbeiten nur solche
Personen einstellen, welche die Bescheinigung eines von der höheren Verwaltungs-
behörde dazu ermächtigten, dem Gewerbeaufsichtsbeamten ($ 139b der Gewerbe-
rien namhaft zu machenden Arztes darüber beibringen, daß bei ihnen Krank-
heiten der Atmungsorgane oder Alkoholismus nicht nachweisbar sind. Die Be-
scheinigungen sind zu sammeln, aufzubewahren und dem Aufsichtsbeamten ($ 139 b
der Gewerbeordnung) auf Verlangen vorzulegen. Diesem Arzte hat der Arbeit-
eber auch die dauernde Ueberwachung des Gesundheitszustandes der Arbeiter
ergestalt zu übertragen, daß der Arzt mindestens einmal monatlich die Arbeiter
im Betriebe aufzusuchen und bei ihnen auf Anzeichen etwa vorhandener Er-
krankungen der Atmungsorgane und auf Anzeichen des Alkoholismus zu achten
hat. Der Arbeitgeber darf Arbeiter, die nach ärztlichem Urteil solcher Erkran-
kungen oder des Alkoholismus verdächtig sind, zur Beschäftigung mit den im $ 15
bezeichneten Arbeiten nicht zulassen. Arbeiter, die sich gegenüber den Einwir-
kungen des Thomasschlackenstaubes besonders empfindlich erweisen, sind dauernd
von jenen Beschäftigungen auszuschließen.
$ 17. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, zur Kontrolle über den Wechsel und
Bestand sowie über den Gesundheitszustand der Arbeiter ein Buch zu führen oder
durch einen Betriebsbeamten führen zu lassen. Er ist für die Vollständigkeit und
Richtigkeit der Eintragungen, soweit sie nicht etwa von einem Arzt bewirkt werden,
verantwortlich. Abs. 3. Dieses Kontrollbuch muß enthalten: 1) den Namen dessen,
der das Buch führt; 2) den Namen des mit der Ueberwachung des Gesundheits-
zustandes der Arbeiter beauftragten Arztes; 3) Vor- und Zunamen, Alter, Wohn-
ort, Tag des Ein- und des Austritts jedes Arbeiters sowie die Art seiner Beschäf-
tigung; 4) den Tag und die Art der Erkrankung eines Arbeiters; 5) den Tag der
Genesung oder des Todes; 6) die Tage und Ergebnisse der im § 16 vorgeschriebenen
allgemeinen ärztlichen Untersuchungen. Abs. 3. Das Kontrollbuch ist dem Ge-
werbeaufsichtsbeamten (§ 139b der Gewerbeordnung) sowie dem zuständigen Medi-
zinalbeamten auf Verlangen vorzulegen.
-- § 18. Der Arbeitgeber hat für die Arbeiter verbindliche Bestimmungen
670 Nationalökonomische Gesetzgebung.
darüber zu erlassen, daß die Arbeiter weder Branntwein in die Anlage noch
Nahrungsmittel in die Arbeitsräume mitnehmen dürfen, und daß das Einnehmen
der Mahlzeiten nur außerhalb der Arbeitsräume gestattet ist. Abs. 2. In den zu
erlassenden Bestimmungen ist vorzuschen, daß Arbeiter, die trotz wiederholter
Warnung diesen Bestimmungen zuwiderhandeln, vor Ablauf der vertragsmälßigen
Zeit und ohne Aufkündigung entlassen werden können. Abs. 3. Ist für einen
Betrieb eine Arbeitsordnung erlassen (§ 134a der Gerwerbeordnung) so sind diese
Bestimmungen in die Arbeitsordnung aufzunehmen.
§ 19. In jedem Arbeitsraume, sowie in dem Ankleide- und dem Speiseraume,
muß eine Abschrift oder ein Abdruck der $$ 1—18 dieser Vorschriften an einer
in die Augen fallenden Stelle aushängen.
$ 20. Die vorstehenden Bestimmungen treten sofort in Kraft und an die
Stelle der durch die Bekanntmachungen des Reichskanzlers vom 25. April 1899
und 15. November 1903 verkündeten Vorschriften über die Einrichtung und den
Betrieb gewerblicher Anlagen, in denen Thomasschlacke gemahlen oder Thomas-
schlackenmehl gelagert wird.
Bekanntmachung, betr. die Einrichtung und den Betrieb gewerb-
licher Anlagen in denen Thomasschlacke gemahlen oder Thomasschlacken-
mehl gelagert wird. Vom 17. Dezember 1909. S. 978.
Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen in
Betrieben zur Herstellung von Gemüse- oder Obstkonserven, sowie von
Gemüse- oder Obstpräserven. Vom 25. November 1909. S. 965.
Für Betriebe mit in der Regel mindestens 10 Arbeitern.
I. Abweichend von den Vorschriften des § 137, Abs. 1, 2, 4 der Gewerbe-
ordnung dürfen Arbeiterinnen über 16 Jahre an den Werktagen an höchstens
60 Tagen im Kalenderjahr unter den nachstehenden Bedingungen beschäftigt
werden. Dabei wird jeder Tag angerechnet, an dem auch nur eine Arbeiterin ab-
weichend von einer jener Vorschriften beschäftigt wird. 1) Die Beschäftigung darf
nicht vor 4'/, Uhr morgens beginnen und nicht länger als bis 10 Uhr abends
dauern. Findet die Beschäftigung am Sonnabend oder am Vorabend eines Fest-
tages statt, so ist sie über 7?/, Uhr abends hinaus nur unter der Bedingung ge-
stattet, daß die in dieser Weise beschäftigten Arbeiterinnen am folgenden Sonn-
und Festtag arbeitsfrei bleiben. 2) Die tägliche Arbeitszeit darf 13 Stunden nicht
überschreiten. 3) Die ununterbrochene Ruhezeit muß mindestens 8!/ Stunden
betragen. 4) An einer in die Augen fallenden Stelle der Betriebsstätte ist eine
Tafel auszuhängen, auf welcher der Betriebsunternehmer oder der von ihm Beauf-
tragte an jedem Tage, an dem Arbeiterinnen abweichend von einer der Vorschriften
des $ 137 Abs. 1, 2, 4 beschäftigt werden, vor dem Beginn der Ueberarbeit das
Datum und nach ihrer Beendigung die Zahl der Arbeitsstunden der am längsten
beschäftigten Arbeiterinnen, sowie Beginn und Ende der Nachtruhe, mit Tinte ein-
zutragen hat. Diese Tafel ist für jedes Kalenderjahr zu erneuern und darf nicht
vor Ablauf des Kalenderjahres von ihrer Stelle entfernt werden.
ll. Die Befugnis der unteren Verwaltungsbehörden, nach Maßgabe des
§ 138a Abs. 5 in Verbindung mit 105c Abs. 1 No. 3 der Gewerbeordnung Ueber-
arbeit zu Reinigungszwecken zu gestatten, bleibt unberührt.
III. In den Räumen. in denen Ueberarbeit stattfindet, muß auf oder neben
der durch § 138 Abs. 2 der Gewerbeordnung vorgeschriebenen Tafel ein Aushang
angebracht sein, der in deutlicher Schrift die Besimmungen unter I widergibt. `
IV. Diese Bestimmungen treten am 1. Januar 1910 in Kraft und an die
Stelle der Bestimmungen vom 11. März 1898 und vom 1. Mai 1908. Sie gelten
bis zum 31. Dezember 1919.
Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen in
Betrieben zur Herstellung von Fischkonserven. Vom 25. November
1909. S. 966.
Entsprechend der vorstehenden Bekanntmachung mit der Abweichung , daß
Arbeiterinnen über 16 Jahre an den Sonnabenden und den Vorabenden von Festtagen
Nationalökonomische Gesetzgebung. 671
nur bis 7!/, Uhr abends beschäftigt werden dürfen und die Beschäftigung nicht vor
6 Uhr morgens beginnen und nicht länger als bis 10 Uhr abends dauern darf. Die
höhere Verwaltungsbehörde kann für ihren Bezirk oder Teile davon bestimmen, daß bei
der Verarbeitung von Seefischen, die den Gewerbeunternehmern unmittelbar von den
Fischern alsbald nach ihrer Ankunft mit den Booten geliefert werden, $ 187 Abs. 1
der Gewerbeordnung auf die Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahre keine An-
wendung findet.
Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung von Arbeiterinnen und
jugendlichen Arbeitern in Anlagen, die zur Herstellung von Zichorie
dienen. Vom 25. November 1909. S. 968.
I. In Anlagen, die zur Herstellung von Zichorie dienen, darf Arbeiterinnen
und jugendlichen Arbeitern in Räumen, in welchen Darren im Betriebe sind,
während der Dauer des Betriebs eine Beschäftigung nicht gewährt und der Auf-
enthalt nicht gestattet werden,
II. In Anlagen mit Räumen der unter I bezeichneten Art muß in denjenigen
Räumen, in welchen Arbeiterinnen oder jugendliche Arbeiter beschäftigt werden,
eine Abschrift oder ein Abdruck der Bestimmungen unter I an einer in die Augen
fallenden Stelle aushängen.
III. Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. Januar 1910 in Kraft und
an die Stelle der durch die Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 31. Januar
1902 verkündeten Bestimmungen.
Bekanntmachung, betr. die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter bei
der Bearbeitung von Faserstoffen, Tierhaaren, Abfällen oder Lumpen.
Vom 8. Dezember 1909. S. 969.
I. In Hechelräumen, in Räumen, in welchen Maschinen zum Oeffnen,
Lockern, Zerkleinern, Entstäuben, Anfetten oder Mengen von rohen oder abge-
nutzten Faserstoffen, von Tierhaaren oder von Abfällen im Betriebe sind, sowie
in Räumen, in welchen Tierhaare durch Handarbeit entstäubt oder gelockert (ge-
facht) werden, darf jugendlichen Arbeitern während des Betriebes eine Beschäf-
tigung nicht gewährt und der Aufenthalt nicht gestattet werden. Abs. 2. Die
Karden (Krempel) für Wolle und Baumwolle fallen unter die vorstehende Bestim-
mung nicht. Abs. 3. Auf Anlagen, in denen in der Regel weniger als 10 Arbeiter
beschäftigt werden, und durch elementare Kraft (Dampf, Wind, Wasser, Gas,
Luft, Elektrizität usw.) bewegte Triebwerke nicht oder bloß vorübergehend zur
Verwendung kommen, findet die Bestimmung des Abs. 1 keine Anwendung.
Il. In Räumen, in denen Lumpen geöffnet, getrennt, zerrissen, entstäubt, an-
gefettet, gemengt, sortiert oder gepackt werden, darf jugendlichen Arbeitern während
des Betriebes eine Beschäftigung nicht gewährt und der Aufenthalt nicht gestattet
werden. Abs. 2. Die höhere Verwaltungsbehörde kann gestatten, daß in solchen
Räumen, in welchen geeignete, mechanisch wirkende Staubabsaugevorrichtungen
vorhanden sind, jugendliche Arbeiter beim Oeffnen, Trennen, Zerreißen, Entstäuben
und Mengen der Lumpen, sofern dies von Hand geschieht, sowie beim Sortieren
und Packen von Lumpen beschäftigt werden.
III. In Betrieben mit Räumen der unter I Abs. 1, 2 fallenden Art muß in
denjenigen Räumen, in welchen jugendliche Arbeiter beschäftigt werden, eine Ab-
schrift oder ein Abdruck der Bestimmungen unter I, II an einer in die Augen
fallenden Stelle aushängen.
IV. Die vorstehenden Bestimmungen treten am 1. Januar 1910 in Kraft und
an die Stelle der durch die Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 27. Februar
1903 verkündeten Bestimmungen. Abs. 2. Auf jugendliche Arbeiter, die gegen-
wärtig beim Oeffnen, Trennen, Zerreißen, Entstäuben oder Mengen der Lumpen
von Hand sowie beim Sortieren oder Packen von Lumpen beschäftigt sind, findet
die Bestimmung unter II Abs. 1 keine Anwendung.
Bekanntmachung, betr. den Betrieb der Zinkhütten. Vom 8. De-
zember 1909. S. 971.
672 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Die Së 9, 10 der Bekanntmachung, betr. die Einrichtung und den Betrieb
der Zinkhütten, vom 6. Februar 1900, bleiben bis zum 1. Januar 1911 in Kraft.
Gesetz, betr. die Preisfeststellung beim Markthandel mit Schlacht-
vieh. Vom 8. Februar 1909. S. 269.
§ 1. Die Landeszentralbehörden sind befugt, für Schlachtviehmärkte zum
Zwecke der Feststellung von Preis und Gewicht der Tiere Vorschriften zu erlassen
und Einrichtungen anzuordnen. Abs. 2. Die hierdurch entstehenden Kosten
fallen dem Unternehmer des Marktes zur Last; der $ 68 der Gewerbeordnung
findet Anwendung. Abs. 3. Vorschriften, durch welche die Feststellung von
Preisen nach Schlachtgewicht verboten wird, dürfen, sofern diese Feststellungen
auf tatsächlichen Unterlagen und nicht lediglich auf Schätzungen beruhen, auf
Grund dieses Gesetzes nicht erlassen werden. Abs. 4. Schriftstücke, deren Aus-
stellung auf Grund des Abs. 1 angeordnet ist, sind stempelfrei.
$ 2. Die Landeszentralbehörden sind befugt, für Orte, an denen eine ne
lung auf Grund des $ 1 getroffen ist, und für deren Umgebung marktähnliche
Veranstaltungen für Vieh zu untersagen und den Handel mit Vieh außerhalb des
Marktplatzes während des Markttags sowie an dem voraufgehenden und dem nach-
folgenden Tage zu verbieten.
$ 3. Wer den auf Grund der §§ 1 und 2 erlassenen Vorschriften zuwider-
handelt, wird mit Geldstrafe bis zu 150 Mark und im Unvermögensfalle mit Haft
bis zu 4 Wochen bestraft.
Bekanntmachung, betr. Aenderungen der Anlage B zur Eisenbahn-
verkehrsordnung. Vom 29. Dezember 1908. S. 1. Entsprechende Be-
kanntmachungen vom 19. Januar 1909, S. 261, vom 6. Februar 1909,
H 275, vom 27. Februar 1909, S. 279 und vom 23. März 1909,
S. 334.
Bekanntmachung, betr. die Eisenbahnverkehrsordnung. Vom 23. De-
zember 1908. S. 93.
Bekanntmachung, betr. die dem Internationalen Uebereinkommen
über den Eisenbahnfrachtverkehr beigefügte Liste. Vom 5. Januar
1909, S. 209. Entsprechende Bekanntmachungen vom 3. März 1909,
S. 280, vom 26. April 1909, S. 434, vom 2. Juni 1909, S. 474, vom
14. Juni 1909, S. 513, vom 16. Juli 1909, S. 771, vom 5. November
1909, S. 962 und vom 18. Dezember 1909, S. 992.
Bekanntmachung, betr. Ergänzung und Aenderung der Anlage C
zur Eisenbahnverkehrsordnung. Vom 1. April 1909, S. 337. Ent-
sprechende Bekanntmachungen vom 1. Mai 1909, S. 435, vom 13. Juli
1909, S. 769, vom 28. Juli 1909, S. 901, vom 10. September 1909,
S. 923, vom 7. Oktober 1909, S. 935, vom 26. Oktober 1909, S. 939
und vom 8. Dezember 1909, S. 974.
Bekanntmachung, betr. allgemeine polizeiliche Bestimmungen über
die Anlegung von Schiffsdampfkesseln. Vom 17. Dezember 1908, S. 51.
Bekanntmachung, betr. den Befähigungsnachweis und die Prüfung
der Maschinisten auf Seedampfschiffen der deutschen Handelsflotte. Vom
7. Januar 1909, S. 210.
Bekanntmachung, betr. den Befähigungsnachweis und die Prüfung
der Seeschiffer und Seesteuerleute auf deutschen Kauffahrteischiffen.
Vom 24. Juli 1909, S. 892.
Bekanntmachung, betr. Ergänzung der Vorschriften über die Be-
setzung der Kauffahrteischiffe mit Kapitänen und Schiffsoffizieren vom
16. Juni 1903. Vom 7. Januar 1909, S. 247.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 673
Bekanntmachung, betr. die Besetzung der Kauffahrteischiffe mit
Kapitänen und Schiffsoffizieren. Vom 21. Mai 1909, S. 445.
Bekanntmachung, betr. Krankenfürsorge auf Kauffahrteischiffen.
Vom 21. Mai 1909, S. 446.
Bekanntmachung, betr. Vorschriften über Auswandererschiffe. Vom
3. August 1909, S. 904.
Gesetz zur Ergänzung der Gesetze, betr. Postdampfschiffsverbin-
dungen mit überseeischen Ländern. Vom 8. März 1909, S. 317,
Der Reichskanzler wird in Abänderung des Gesetzes vom 3. Juni 1908 er-
mächtigt, dem Unternehmer der auf Grund fos Gesetzes vom 13. April 1898 ein-
gerichteten Postdampfschiffsverbindung mit Ostasien und Australien für den Be-
trieb a) einer vierwöchentlichen Verbindung zwischen dem Schutzgebiete Neu-Guinea
einerseits und Hongkong sowie dem australischen Festland Zeg und b) der
wiedereinzurichtenden, in dem Vertrage mit dem Norddeutschen Lloyd vom
EES, 1598 im Artikel 1 Abs. 1 unter A4 vorgesehenen Anschlußlinie
12. September
von Singapore nach dem Schutzgebiete Neu-Guinea vom 1. April 1909 ab an Stelle
der in dem Gesetze vom 3. Juni 1908 vorgesehenen Erhöhung der Reichsbeihilfe
um jährlich 230 000 Mark eine solche um 500 000 Mark jährlich zu bewilligen.
Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen. Vom 3. Mai 1909,
S. 437.
I. Verkehrsvorschriften.
II. Haftpflicht.
$ 7. Wird bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges ein Mensch getötet, der
Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt,
so ist der Halter des Fahrzeugs verpflichtet, dem Verletzten den daraus ent-
stehenden Schaden zu ersetzen. Abs. 2. Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen,
wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, das weder
auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs noch auf einem Versagen
seiner Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis insbesondere
dann, wenn es auf das Verhalten des Verletzten oder eines nicht bei dem Betriebe
beschäftigten Dritten oder eines Tieres zurückzuführen ist und sowohl der Halter
als der Fi ührer des Fahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorg-
falt beobachtet hat. Abs. 3. Wird das Fahrzeug ohne Wissen und Willen des
Fahrzeughalters von einem anderen in Betrieb gesetzt, so ist dieser an Stelle des
Halters zum Ersatze des Schadens verpflichtet.
$ 8. Die Vorschriften des $ 7 finden keine Anwendung: 1) wenn zur Zeit
des Unfalls der Verletzte oder die beschädigte Sache durch das Fahrzeug befördert
wurde oder der Verletzte bei dem Betriebe des Fahrzeugs tätig war; 2) wenn der
Unfall durch ein Fahrzeug verursacht wurde, das nur zur Beförderung von Lasten
dient und auf ebener Bahn eine auf 20 km begrenzte Geschwindigkeit in der
Stunde nicht übersteigen kann.
8 9. Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten
mitgewirkt, so finden die Vorschriften des $ 254 BGB. mit der Maßgabe Anwendung,
daß im Falle der Beschädigung einer Sache das Verschulden desjenigen, welcher
die tatsächliche Gewalt über die Sache ausübt, dem Verschulden des Verletzten
gleichsteht.
§ 10. Im Falle der Tötung ist der Schadensersatz durch Ersatz der Kosten
einer versuchten Heilung sowie des Vermögensnachteils zu leisten, den der Ge-
tötete dadurch erlitten hat, daß während der Krankheit seine Erwerbsfähigkeit
aufgehoben oder gemindert oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eingetreten
. war. Der Ersatzpflichtige hat außerdem die Kosten der Beerdigung demjenigen
zu ersetzen, dem die Verpflichtung obliegt, diese Kosten zu (apen. Abs. 2. Stand
der Getötete zur Zeit der Verletzung zu einem Dritten in einem Verhältnisse, vermöge
dessen er diesem gegenüber kraft Gesetzes unterhaltspflichtig war oder unterhalts-
pflichtig werden konnte, und ist dem Dritten infolge der Tötung das Recht auf
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 43
674 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Unterhalt entzogen, so hat der Ersatzpflichtige dem Dritten insoweit Schadens-
ersatz zu leisten, als der Getötete während der mutmaßlichen Dauer seines Lebens
zur Gewährung der Unterhaltes verpflichtet gewesen sein würde. Die Ersatzpflicht
tritt auch dann ein, wenn der Dritte zurzeit der Verletzung erzeugt, aber noch
nicht geboren war.
$ 11. Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit ist der
Schadensersatz durch Ersatz der Kosten der Heilung sowie des Vermögensnachteils
zu leisten, den der Verletzte dadurch erleidet, daß infolge der Verletzung zeitweise
oder dauernd seine Erwerbsfähigkeit aufgehoben oder gemindert oder eine Ver-
mehrung seiner Bedürfnisse eingetreten ist.
RK Der Ersatzpflichtige haftet: 1) im Falle der Tötung oder Verletzung
eines Menschen nur bis zu einem Kapitalbetrag von 50000 M. oder bis zu einem
Rentenbetrag von jährlich 3000 M.; 2) im Falle der Tötung oder Verletzung
mehrerer Menschen durch dasselbe Ereignis, unbeschadet der in No. 1 bestimmten
Grenze, nur bis zu einem Kapitalbetrage von insgesamt 150000 M. oder bis zu
einem Rentenbetrage von insgesamt 9 M.; 3) im Falle der Sachbeschädigung,
auch wenn durch dasselbe Ereignis mehrere Sachen beschädigt werden, nur bis
zum Betrage von 10000 M. Abs. 2. Uebersteigen die Entschädigungen, die
mehreren auf Grund desselben Ereignisses nach Abs. 1 No. 1, 3 zu leisten sind,
insgesamt die in No. 2, 3 bezeichneten Höchstbeträge, so verringern sich die
einzelnen Entschädigungen in dem Verhältnisse, in welchem ihr Gesamtbetrag
zu dem Höchstbetrag steht.
$ 13. Der Schadensersatz wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbs-
fähigkeit und wegen Vermehrung der Bedürfnisse des Verletzten sowie der nach
$ 10 Abs. 2 einem Dritten zu gewährende Schadensersatz ist für die Zukunft durch
Entrichtung einer Geldrente zu leisten. Abs. 2. Die Vorschriften des $ 843
Abs. 2—4 BGB. und des $ 708 No. 6 ZPO. finden entsprechende Anwendung.
Das gleiche gilt für die dem Verletzten zu entrichtende Geldrente von der Vor-
schrift des $ 850 Abs. 3 und für die dem Dritten zu entrichtende Geldrente von
der Vorschrift des $ 850 Abs. 1 No. 2 ZPO. Abs. 3. Ist bei der Verurteilung
des Verpflichteten zur Entrichtung einer Geldrente nicht auf Sicherheitsleistung
erkannt worden, so kann der Berechtigte gleichwohl Sicherheitsleistung verlangen,
wenn die Vermögensverhältnisse des Verpflichteten sich erheblich verschlechtert
haben; unter den gleichen Voraussetzungen kann er eine Erhöhung der im Urteil
bestimmten Sicherheit verlangen.
$ 14. Die in den $$ 7—13 bestimmten Ansprüche auf Schadensersatz ver-
jähren in zwei Jahren von dem Zeitpunkte an, in welchem der Ersatzberechtigte
von dem Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt, ohne
Rücksicht auf diese Kenntnis in 30 Jahren von dem Unfall an. Schweben zwischen
dem Ersatzpflichtigen und dem Ersatzberichtigten Verhandlungen über den zu
leistenden Schadensersatz, so ist die Verjährung gehemmt, bis der eine oder der
andere Teil die Fortsetzung der Verhandlungen verweigert. Im übrigen finden
die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Verjährung Anwendung.
$ 15. Der Ersatzberechtigte verliert die ihm auf Grund der Vorschriften dieses
Gesetzes zustehenden Rechte, wenn er nicht spätestens innerhalb zweier Monate,
nachdem er von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis er-
halten hat, dem Ersatzpflichtigen den Unfall anzeigt. Der Bechteveriust tritt nicht
ein, wenn die Anzeige infolge eines von dem Ersatzberechtigten nicht zu vertreten-
den Umstandes unterblieben ist oder der Ersatzpflichtige innerhalb der bezeichneten
Frist auf andere Weise von dem Schaden Kenntnis erhalten hat.
$ 16. Unberührt bleiben die reichsgesetzlichen Vorschriften, nach welchen
der Fahrzeughalter für den durch das Fahrzeug verursachten Schaden in weiterem
Umfange als nach den Vorschriften dieses Gesetzes haftet oder nach welchen ein
anderer für den Schaden verantwortlich ist.
8 17. Wird ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht und sind
die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatze des Schadens
verpflichtet, so hängt im Verhältnisse der Fahrzeughalter zueinander die Ver-
EEN zum Ersatze sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den
mständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem
einen oder dem anderen Teile verursacht worden ist. Das gleiche gilt, wenn der-
Nationalökonomische Gesetzgebung. 675
Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden ist, von der Haftpflicht,
die für einen anderen von ihnen eintritt. Abs. 2. Die Vorschriften des Abs. 1
finden entsprechende Anwendung, wenn der Schaden durch ein Kraftfahrzeug und
ein Tier oder durch ein Kraftfahrzeug und eine Eisenbahn verursacht wird.
S 18. In den Fällen des $ 7 Abs. 1 ist auch der Führer des Kraftfahrzeugs
zum Ersatze des Schadens nach den Vorschriften der $$ 8—15 verpflichtet. Die
Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Schaden nicht durch ein Verschulden des
Führers verursacht ist. Abs. 2. Die Vorschrift des $ 16 findet entsprechende
Anwendung. Abs. 3. Ist in den Fällen des $ 17 auch der Führer eines Fahr-
zeugs zum Ersatz des Schadens verpflichtet, so finden auf diese Verpflichtung
in seinem Verhältnisse zu den Haltern und Führern der anderen beteiligten Fahr-
zeuge, zu dem Tierhalter oder Eisenbahnunternehmer die Vorschriften des § 17
entsprechende ren
S 19. In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, in welchen durch Klage oder
Widerklage ein Anspruch auf Grund der Vorschriften dieses Gesetzes geltend gemacht
ist, wird die Verhandlung und Entscheidung letzter Instanz im Sinne des $ 8 des
Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetze dem Reichsgericht zugewiesen.
§ 20. Für Klagen, die auf Grund dieses Gesetzes erhoben werden, ist auch
das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das schädigende Ereignis stattgefunden hat.
III. Strafvorschriften.
Bestimmung über den Betrieb von Telegraphenanlagen auf fremden
Schiffen in deutschen Hoheitsgewässern.. Vom 12. Dezember 1909.
H. 977. (Schluß folgt.)
43*
676 Miszellen,
Miszellen.
XIX.
Die Entwicklung des Preisniveaus und des Getreidebedarfs
in England und Deutschland in den letzten Dezennien.
In der gleichen Weise wie seit einer Reihe von Jahren soll in
dem Folgenden auf Grund der Hamburger und der Reichsstatistik die
Preisentwicklung in den letzten Jahren untersucht werden.
Nach Tabelle I sind seit dem Vorjahre im Jahre 1908 Tee und
Kakao stark im Werte gesunken. Doch war für Kakao im Jahre 1907
der Preis exzeptionell hoch, so daß 1908 noch nicht das Niveau seit
1900 wieder erreicht ist, sondern auf der Höhe von 1891—1900 steht.
Tee war von 1905—07 wesentlich teurer, steht aber jetzt wieder unter
dem Durchschnitt der früheren Dezennien 78 gegen 81,5 von 1891
bis 1900; während Kaffee seit 1901 geringere Schwankungen zeigte,
aber auch auf einer tieferen Stufe verharrt, als es von 1847—1900 im
Durchschnitt der Fall war, im Verhältnis von 60:36. Indigo hat seit 1900,
wo infolge der Erfindung der künstlichen Herstellung im Großen ein be-
deutender Preissturz um ca. 150 M. pro Zentner eingetreten war, große
Preisschwankungen erfahren. Schon 1904 und 1906 war der Satz
von 380 im Jahre 1902 auf 288 und 296 heruntergegangen, erhob sich
1905 und 1907 auf 303 und 326, um 1908 auf 240 M. zu sinken. Zu
bemerken ist aber, daß auch schon von 1886—90 infolge der ungün-
stigen Absatzverhältnisse nur 338 M. durchschnittlich gezahlt wurden.
Baumwolle hat auch seit 1891 eine nachhaltige Preisermäßigung
erfahren (1847—70:81 M., 1881—90 : 51, 1891—1900 : 37, 1901—7 : 39,
1908:41 M.) und im letzten Jahre etwas angezogen.
Reis ist mit den heimischen Getreidearten in den letzten drei
Jahren über den früheren Durchschnitt hinausgegangen. Man muß bis
in die achtziger Jahre zurückgehen, um gleich hohe Getreidepreise (ab-
gesehen von 1891) zu finden, wie in den letzten Jahren. Noch stärker
stieg Talg.
Die Metalle sind 1908 zwar billiger wie im Vorjahre, aber immer
noch teurer als in den letzten Durchschnitten; erst in den siebziger
Jahren waren die Sätze höher. Auch die Steinkohle hatte in den
beiden letzten Jahren höheren Preis, als in den vorhergegangenen
Perioden bis in die siebziger Jahre zurück.
Von besonderem Interesse ist das arithmetische Mittel der Preise
von 157 Waren aller Art. Gegenüber dem Durchschnitt der Preise
1871—80 gleich hundert ist dasselbe von 1881—90:85, 1891—1900:
Miszellen. 677
Tabelle].
Die Preisentwicklung im Hamburger Handel während der letzten
Dezennien.
Durchschnittswert verschiedener Handelsartikel in Mark pro Zentner
nach der nach den Hamburger Börsenpreisen deklarierten Einfuhr.
Durchschnittspreise der Jahre
No, Ware 1847 1871 1881 | 1891 | 1901 R
_20 | —so | —90 |—1900 —05 1902 | 1903 | 1904 | 1905 | 1906 il 1908
1 | Kaffee, Brasil 47,51| 73,70) 57,15) 59,69 | 36,06| 33,65| 32,15| 39,42] 40,49| 39,43) 35,04| 38,88
2 | Kakao 54,32| 63,90| 71,15| 64,68 | 59,47| 61,73| 58,13| 57,48| 55,37| 56,21| 83,97| 64,18
3] Tee 152,62| 132,18| 102,56| 81,43 | 81,47| 73,01| 79,76| 77,74|101,65| 92,89| 91,42| 77,89
4 | Zucker, roher 24,56| 26,81| 17,83| — = = — = = = — =
5 | Korinthen 24,66| 22,07| 19,81| 15,65 | 19,50| 18,62| 17,89| 18,00| (Ben 22,41| 24,02| 23,55
6 | Rosinen 26,79| 26,66| 23,61| 21,28 | 25,23| 29,95| 24,49| 22,69| 23,08| 26,66| 30,78| 27,53
7 | Mandeln 64,23| 71,24] 71,44| 65,09 | 65,23| 69,47| 63,85| 61,29| 62,82| 57,38| 80,74| 73,33
8 | Pfeffer 36,75| 51,58) 67,23| 38,46 | 59,76| 63,14| 62,35| 53,11| 57,78| 53,10) 49,71| 42,41
9 | Kokosöl 46,08) 41,07| 31,59| 20,28 | 32,66| 35,50| 31,50| 31,46| 33,20| 33,14| 35,62| 32,94
10 | Palmöl 27.00 37,87| 26,78| 21,72 | 23,64| 24,17| 23,91) 23,88| 23,14| 26,19| 29,56| 25,12
11 | Indigo 629,35| 701,13| 587,59|487,58 |341,27|379,71|333,48|288,63|303,15|296,73|326,55|240,68
12 | Mahagoniholz 11,83| 10,95 gail 812| 6,74| Dani 7,18) 6,s4| 5,80) 5,15] 5,24| 5,22
13 | Baumwolle 81,26| Gan 50,82| 37,34 | 39,20| 36,16| 39,19| 42,97| 37,70| 39,47| 39,71| 41,05
14 | Seide 1923,22 1975,25/1424,38)| — _ — — —_ — — — —
15 | Flachs 60,23) 61,78 54,82) — | — | — -| - | — | — — | —
16 | Hanf 35,76| 35,05] 30,59) 28,74 | 32,23| 34,33| 33,43| 31,39| 29,78) 30,01] 29,28] 34,85
7 | Reis 13,03) 10,61 Ban 7,74| 7,583] 7,05) 8,04| "ao 7,84| 8,11) 8,92| 9,10
18 | Weizen 10,95| 11,43 Ban 6,76 | Gen 6,501 6,54] 6,78| 7,02] 6,97| 7,37) 8,10
19 | Roggen 7,99) Baal Beni 5,70| Sai 5,30| 5,22] 5,00) 5,87) 5,86 Dën 7,24
20 | Gerste Bail 10,53 7,40| 4,76| 4,89) 5,01) 4,62) 4,52) 5,201 5,22| 6,11] 5,88
21 | Hafer 7,32| 8,05 6,54| 5,72| 6,02| Bail 6,04) 5,71| 6,01| 6,33| 7,44| 6,33
22 | Hopfen 90,52| 136,24| 122,365 — — =- — — — — — —
23 | Kleesaat 51,09) 58,72) 50,08| 42,10 | 43,82| 43,30| 45,73] 46,55| 42,96| 40,08| 44,31] 48,07
24| Raps u. Rübsaat | 15,05) 14,77| 12,83) 10,89 | 10,34| 10,92| 10,62| 9,78| 9,49| 10,39) 11,77| 11,11
25 | Rüböl 39,54| 33,94| 29,07) — = s= — = = == kg —
26 | Leinöl 34,57| 31,21) 23,95| 22,75 | 27,01) 31,84| 27,58) 22,31] 22,55| 23,46| 26,01) 26,57
271 Kalbfelle I11,42| 114,76| 84,04| 66,39 | 78,42) 78,25| 72,05| 73,55| 84,63/105,52| 92,10) 96,36
28 | Borsten 231,62| 359,53| 137,61|205,58 |195,53|191,67|179,68|204,48|192,45|190,10|181,87|180,45
29 | Pferdehaare 173,47| 178,93| 156,82| — Ta — = = —_ =s = Sg
30 | Wachs 150,16| 115,60| 81,26| 91,59 |I11,73|106,45|104,61|120,25|119,64|123,11|124,73|108,7:
31 | Talg 45,52) 41,21] 34,00| 26,46 | 30,36| 33,89| 29,29| 28,01| 29,28| 31,60| 33,94| 35,7
32 | Tran 35,62) 29,27| 23,73| 17,54 | 18,86| 19,71| 20,22| 18,62| 17,48| 17,73| 20,50| 18,
3 | Butter 82,25| 110,35| 89,833| — — — — = = = Se Es
34 | Schmalz 54,22| 47,13) 42,48| 33,89 | 14,14| 48,38) 41,86| 36,24| 37,29| 41,38| 45,20) 45,9:
35 | Heringe 10,72| 13,06| 11,70) 11,13 | 11,88) 12,81| 11,92| 10,77| 12,34) 12,23) 13,55| 11,99
36 | Eisen, rohes 3,67 4,32 2,811 Zil 3,06) 3,06| 2,951 2,89) 4,15| 3,47, 3,57) 3,58
37 | Zink, rohes 19,83] 22,36| 15,36) — — — — -= — — — —
38 | Zinn 109,85| 105,81) 93,07| 81,66 |104,42|103,92|106,15| 96,44|110,27|115,69|122,65|110,15
39 | Kupfer 94,86) 83,50) 60,62| 54,46 | 63,89| 63,11| 59,45| 62,03| 62,31| 67,16) 77,74| 62,00
40 | Blei 20,43| 22,92| 17,12| 17,66 | 19,42| 17,03| 19,64| 21,29| 20,60| 22,52| 23,86| 20,96
41 | Quecksilber 262,20| 339,65) 218,67|228,53 |268,58!286,15 273,84|255,69|239,13/230,05 220,46|242,34
42 |Steinkohlen und
Koks 0,81 0,89 0,63| 0,70| 0,71] 0,73| 0,70| 0,66] 0,66| 0,68| O,76| 0,75
43 | Salpeter 14,28| 13,81] 10,53) 8,04 | 9,37) 9,10) 8,96| 9,79| 10,43| 10,73) 10,81) 9,85
44 | Eisen in Stangen
| engl. 9,61| 10,61 6,96| 7,05 | Ban 9,231137.26) 7,86] 7,66| 7,37| 8,02] 8,49
45] Baumwollengarn | 142,24| 164,43| 149,90|124,21 136,05 128,31)128,22|139,54|141,10]162,32]155,95|157,83
16 | Wollen- u. Halb-
wollengarn 311,87| 316,32| 218,23|/192,50 |171,16/160,73|163,24|172,85|185,64|205,59|214,838|197,03
#7 | Leinengarn 159,15| 128,19| 156,241174,93 |185,51|187,89|180,75|179,67|190,26|185,09|193,77|187,69
678
Miszellen.
Tabelle Ia.
Prozentverhältnisse gegen den Durchschnitt der Jahre
1847—70 = 100
No. Ware
1871 | 1881| 1891 | 1901
80| —90 |—1900| —05 1903 | 1904 | 1905 | 1906 | 1907 | 1908
1| Kaffe, Brasil 155,13/120,29|125,62 | 75,90| 67,67| 82,98| 85,22] 82,99| 73,75) 81,84
2 | Kakao 116,53|130,98|119,07 |109,48|107,01|105,82|101,93|103,48|154,58|118,15
3 | Tee 86,57| 67,20| 52,96 | 53,98| 52,28| 50,94| 66,60) 60,86| 59,90| 51,04
4 | Zucker, roher 109,16| 72,59| — — — — — — — —
5 | Korinthen 89,50| 80,33| 63,44 | 79,07| 72,53| 72,99| 75,75| 90,88| 97,40| 95,50
6 | Rosinen 99,51| 88,10| 79,438 | 94,18| 91,41| 84,70| 86,15| 99,51|118,89|102,76
7 | Mandeln 110,91/I11,22|10I,34 |IO1,56| 99,41| 55,42| 97,80| 89,96|125,70|114,17
8 | Pfeffer 140,35|182,93|104,65 |162,61|169,66|144,52|157,22|144,41|135,27|115,40
9 | Kokosöl 80,13| 68,54| 61,26 | 70,88| 68,36) 68,27| 72,05| 71,92| 77,30, 71,48
10 | Palmöl 100,46| 71,04| 57,61 | 62,71| 63,72| 63,34| 61,38| 69,47| 78,41| 66,53
11 | Indigo 111,41| 93,36) 77,48 | 54,23| 52,99) 45,86| 48,17| 47,15| 51,89| 38,24
12 | Mahagoniholz 92,56| 83,14| 68,59 | 56,97| 60,69] 54,44| 49,03] 43,53 44,29) 44,13
13 | Baumwolle 81,06| 62,53| 45,95 | 48,24| 48,23| 52,88| 46,39) 48,57| 48,87| 50,52
14 | Seide 102,71) 74,07) — — — — — — — —
15 | Flachs 102,57| 91,03| — = = = — - j| — keng
16 | Hanf 98,01) 85,55) 80,37 | 90,13) 93,48) 87,78| 83,28| Bian 81,88 97,46
17 | Reis 81,13) 68,15| 59,36 | 57,78| 61,70| 56,02| 60,17) 62,24| 68,46 69,54
18 | Weizen 104,38) 76,26| 61,73 | 60,73] 59,73| 61,92| 64,15) 63,65| 67,31] 73,97
19 | Roggen 106,26| 82,54! 71,34 | 66,46| 65,33] 62,58) 73,47| 70,84 82,60) 90,51
20 | Gerste 127,79| 89,75| 57,76 | 51,34| 56,07| 54,85| 63,11] 63,35 74,15| 71,36
21 | Hafer 109,97| 89,34| 78,07 | 82,24| 82,51| 78,01| 82,10| 86,47|101,64| 86,48
22 | Hopfen 150,51|135,18| — — — _ ER -- — —
23 | Kleesaat 115,02) 98,00| 82,46 | 85,84| 89,68) 91,19| 84,15| 78,51) 86,80 94,09
24 | Raps und Rübsaat 97,88| 84,99| 72,13 | 68,52| 70,38| 64,81| 62,89| 68,16| 78,00| 73,82
25 | Rüböl 85,87| 73,52) — — — — — — — —
26 | Leinöl 90,54| 69,48) 66,22 | 78,36| 80,01) 64,92| 65,42) 68,06| 75,24| 76,85
27 | Kalbfelle 103,00| 74,42| 59,58 | 70,38| 64,67| 66,01| 75,96| 94,10| 82,66| 86,48
28 | Borsten 155,22|145,76| 88,75 | 84,42| 77,57| 88,28| 83,02| 82,12 78,52| 77,91
29 | Pferdehaare 103,15| 90,41| — — _ — — — — =
30 | Wachs 76,98| 54,12) 60,99 | 74,41) 69,71 80,08) 79,67| 81,98| 83,06| 72,42
31 | Talg 89,74) 74,04| 57,62 | 66,11| 63,78| 61,00) 63,76| 68,82| 74,76 78,47
32 | Tran 82,17| 66,55, 49,24 | 52,95| 56,77| 52,27| 49,07| 49,77| 57,55| 51,97
33 | Butter 134,16,108,61), — — — — — — — =
34 | Schmalz 86,92| 78,25| 62,50 | 75,88| 77,20| 66,87| 68,77| 76,23| 83,36| 84,71
35 | Heringe 121,94|109,15|103,77 |110,82|111,19|100,47|115,58|123,41|126,40/111,75
36 | Eisen, rohes 117,71| 76,57| 78,20 | 83,38] 80,38| 78,75| 85,83| 94,55 97,28] 97,55
37 | Zink, rohes 112,76| 77,46| — — — _ _ — — ez
38 | Zinn 96,32| 84,72| 74,43 | 95,06| 96,33| 87,79|100,38|105,32|111,65/100,27
39 | Kupfer 88,02] 63,91) 57,20 | 67,35| 62,67| 65,39] 65,69 70,80, 81,95, 65,86
40 | Blei 112,19| 83,77| 86,44 | 95,06] 96,13|104,21|100,88|112,18/116,76| 102,52
41 | Quecksilber 129,54| 83,40) 87,16 |102,43,104,44| 97,52) 91,20) 87,74| 84,08| 92,43
42 | Steinkohlen u. Koks [109,88| 77,78| 85,85 | 87,65| 86,42| 81,48| 81,48| 83,95| 93,83] 92,59
43 | Salpeter 96,71, 73,71) 56,30 | 65,62] 62,75| 68,56| 73,04, 75,14) 75,70) 68,98
44 | Eisen inStangen, engl.|113,58, 72,37| 13,31 | 86,68) 85,54| 81,79| 79,71] 76,69) 83,59] 88,35
45 | Baumwollengarn 115,60105,39| 87,32 | 95,#6| 96,49| 98,11] 99,20|114,12)109,68| 110,96
46 | Wollen- und Halb-
wollengarn 101,73) 69,98) 61,72 | 54,88| 52,94] 55,42] 59,52] 65,92] 68,72] 63,18
47 | Leinengarn 80,55| 98,17,109,91 |116,56|113,57|112,89]119,55|116,80|121,75 117,98
679
Miszellen.
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Tabelle ic.
Prozentuale Preisveränderung der einzelnen Gruppen nach den Durchschnittspreisen
unter Berücksichtigung der konsumierten Quantitäten
von | von | von Wang,
IT (10 | 1002] 1003| 1904| 1905| 1906] 1907 |1908 | 1881 |1891 |1901 | 1908] 1004| 1005| 1906| 1907 | 190
gegenüber 1847—1880 = 100 gegenüber 1871—1880 = 100
100,46 |101,50 | 66,82 |62,79161,66171,21173,78|72,81) 87,85175,47| 79,4388,28|52,62|48,74|56,30|58,88|57,16| 81,21|70,16
48,70 | 51,07 |46,88151,12|56,05/49,17 51,78] 51,79|53,64|| 79,68|56,69|59,44|59,50/65,23157,2859,92| 60,29|62,88
61,61 | 61,15 \62,58160,54|60,21161,90/63,36| 52,57/39,91|| 78,97|61,69|61,22|60,61|60,28161,99|63,48) 49,57|37,64
73,26 | 79,51 |78,62|76,79 76,17|81,62|89,59| 102,72 188,69) 67,19,67,48|73,21|70,70 70,14|75,14,82,49|105,18)90,88
83,74 | 86,03 |87,95 84,34|79,52|79,52 81,95) 91,57|90,36| 70,79|78,09|80,23|78,65174,186|74,16 76,40 85,39|84,27
63,99 | 63,40 |64,89|62,40 60,82|66,96|167,06| 72,52|72,60| 76,37|62,85162,07 61,08 59,85165,55/65,65| 71,48|71,56
von 1871| von von von
bis 1880 | 1881
pane gegenüber| Me | bin: | Me
1847 1890 | 1900 | 1905 1890 |1900 |1905
bis 1867
KL xb PR 100
1) Kaffee, Brasil
2) Kakao
I. 3) Tee 141,66
4) Pfeffer
5) Reis
5 I. 6) Baumwolle 81,84 | 66,28
"e 7) Indigo
N
es DL e ge 101,85 | 78,87
= 10) Palmöl
11) Roheisen
1 S
IV: 13 ege E 111,80 | 72,97
14) Blei
V. 15) Steinkohlen 109,88 | 75,90
16) Weizen
17) Ro
VI. ia erg 112,51 | 78,01
19) Hafer
Durchschnitt der Summen 105,54 | 77,43
Arithmet. Mittel, berechnet
aus 157 Hamburger Durch-
schnittspreisen 171,81 | 91,70
68,44 | 67,93 68,86,66,61,65,12,69,42 70,55 76,42|70,10| 74,86|66,19165,85 64,42 |62,98|67,14/68,12| 75,52|69,46
84,10 | 76,37 |73,68|75,60|75,60,80,83/80,52| 89,47]82,07| 85,18[78,47|71,01|70,29|70,30|75,19|74,87 83,19|76,51
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6061 8061 | 2061 | 9061 | SO6T +061 | 8061 io Gë ES oad ƏM
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606I1—L6ST OTEC op 01 esjeıdsyyruyosyomqa
"II attagnt
682 Miszellen.
Tabelle
Verhältnisse
1884 | 1889| 1894 | 1899
Ware Sa ee Kä 1904 | 1905 | 1908 |
zu 1879—83 = 100
Weizen aus 14 Notierungen 82,53| 90,72| 77,47 78,75 | 83,73| 82,61| 85,98
Roogen „ 14 a 82,48|100,30| 76,01 | 85,12 Bieal 87,15| 92,40|
Gerste „ 15 I 90,14|100,90| 92,02 96,75 95,53| 98,75/100,29
Mais ge, 7 AN PR 85,68] 89,21| 70,45 | 83,02 , 86,48] 90,85| 95,09
Hafer „ Lä H 93,33|107,76| 95,08 |IOI,41 | 94,13]103,54|115,10
Mehl a) Weizenmehl aus 6 Notierungen | 81,43) 87,10] 73,51 | 71,78 | 75,16) 74,68| 76,97
b) Roggenmehl, Berlin 84,27\104,73| 71,10 1)| 84,05 77,55| 84,27, 92,8
Rüböl, Berlin 86,98) 98,72| 76,88 1)| 93,11 76,58| 79,83] 96.41]
Kartoffelspiritus, Hamburg 85,74|108,09| 97,19!) | 77,78| — — — |
Zucker a) Rohzucker, Magdeburg 70,10| 56,25| 34,51 30,47 | 31,48| 35,45| 26,39)
b) Raffinade, Magdeburg 74,61| 74,37| 60,57 68,67 | 50,60] 54,68| 46,59
Kaffee Rio, gut ordinär, Bremen 114,83)152,05|123,48 | 66,40 | 71,93| 75,93| 76,17
„ Plantation Ceylon, mittel, Frankfurta.M.| 94,71|114,44| 99,17 75,38 | 73,74| 74,18| 74,84
Reis Rangoon, Tafel, Bremen 84,61| 86,98| 97,04 | 87,68 | 85,26| Bian 87,93|
Pfeffer, Bremen 145,41) 86,15| 57,20 [116,58 115,23|112,14|103,05|
Heringe, schottische, Hamburg 79,71) 77,73) 80,25 |110,29 |, 86,87|104,08|128,64
Rohtabak, Kentucky, ordinär, Bremen 101,46| 80,38| 77,02 101,60 | 94,57 93,42] 110,59
D Brasil, secunda, Bremen 102,04|112,17) 92,81 |106,53 90,82) 97,75 111,32
Baumwolle, Bremen 87,26| 78,49| 59,27 | 75,45 '100,98| 78,94| 92,26)
Wolle, Berlin 82,81| 78,48| 67,10 | 81,43 | 88,42| 92,87|103,52
Hanf, Lübeck 109,00| 94,44110,89 [127,24 |117,02|117,29|128,26
Rohseide, Krefeld 85,74| 83,24| 66,70 | 76,03 | 68,74| 72,16, 79.52
Baumwollengarn, Krefeld, No. 40—120 87,67| 85,52| 76,32 13,74 |104,89| 100,20 121,13)
ve Zettel 16, Mülhausen i. E.| 78,32| 74,87| 66,50 | 60,59 | 87,19] 73,37| 89,16
Kattun, Mülhausen i. E. 92,55| 87,31| 77,69 | 80,77 | 95,00] 88,46 105,00
Leinengarn, No. 30, Flachsgarn, Bielefeld | 92,69| 89,04] 84,02 | 94,79 |102,48| 98,09|110,56
Blei aus 6 Notierungen 85,12) 83,01) 79,48 | 95,87 | 83,08 96,15|120,78
Kupfer, Berlin 81,49| 91,10| 72,59 |IOoI,s4 | 89,57|107,10 132,53
Zink aus 5 Notierungen 93,65|124,75|101,69 |121,97 133,82|150,15|160,13
Zinn „3 s 109,68|101,21| 71,60 |133,86 |135,95|154,64|194,10
Roheisen, Haumburg 89,63| 89,18| 89,41 |100,55 | 94,34) 95,69|103,93
Petroleum, Hamburg (unverzollt) 92,35| 80,72| 73,77 | 90,71 | 85,84] 79,69] 89,00
Steinkohlen, westf., Berlin 90,12|121,41|114,88 |125,97 |122,18|122,19)125,26
Arithmetisches Mittel | 91,73) 95,14| 79,42 | 90,51 | 89,56 92,00| 102,86]
78,5, 1901—05 : 71, also in fortdauerndem Rückgang; worauf allmählich
wieder eine Steigerung einsetzt: 1905 und 1906 75, 1907 mit dem exzep-
tionellen Satz 85, um 1908 wieder auf 76,5 zurückzugehen, womit es
immerhin noch hinter 1891—1900 zurückbleibt. Die Steigerung des
Preisniveaus geht mithin nur langsam vor sich. Die englischen Zahlen,
die einige Seiten weiter folgen, zeigen in der Hauptsache dasselbe Er-
gebnis, nur etwas abgeschwächt. Auch da steht das Jahr 1907 mit
außergewöhnlich hoher Zahl da. Die letzten beiden Jahre haben aber
höhere Zahlen, als die neunziger, und bleiben erst hinter der Periode
von 1878—87 zurück.
1) Durchschnitt von 3 Jahren.
Miszellen.
683
1879 Verhältnis
—89 | 1889| 1894 | 1899 |
1907 | 1908 | 1909 absol. | —93| —98 |—1903 1904 | 1905 | 1906 1007 | 1008 | 1909
Zahlen zu 1879—88 = 100
100,07 |102,22|112,47 | 190,39| 82,70| 85,63 | 87,04 | 92,55 | 89,92 | 95,04|110,62|112,99|124,32
112,22 |109,58|102,81 | ı51,76| 89,88| 84,03 | 94,11 | 90,31 | 93,85 |102,16,124,08|121,16 113,67
105,58 |107,46|103,24 | 154,81|101,41| 97,25 |102,25 |100,96 |102,97 |105,99|111,52|113,57|109,11
104,25 |123,52|115,58 | 126,15| 88,40| 76,42 | 90,06 | 94,35 | 97,26 |103,14|113,08|133,98|125,87
127,95 |115,97|121,91 | 137,86|124,49| 98,66 |105,23 | 97,68 |105,57 |I19,44|132,717|120,34|126,51
89,08 | 91,721100,19 | 28,21| 78,98] 81,81 | 79,90 | 83,66 | 82,02 | 85,68] 99,15/102,10|111,52
112,02 |105,04| 98,32 | 20,69| 85,50| 77,77!)| 91,93 | 84,82 | 98,88 |101,50|122,52|114,90|107,54
124,43 |117,63| 96,18 | 54,23| 89,51] 82,74')]100,24 | 82,45 | 85,45 |103,85|133,95/126,60| 103,54
51,85 | 62,07| 46,85 | 50,441106,741104,76!)| 83,841 | — — — | 55,89| 66,90| 50,50
26,58 | 32,49| 33,44 | 53,15| 58,48| 41,07 | 36,26 | 37,40 | 40,26 | 31,33| 31,63| 38,70! 39,79
48,69 | 51,96| 53,04 | 67,69| 85,15) 70,25 | 79,70 | 58,72 | 63,01 | 54,42] 56,51] 60,30| 61,56
69,00 | 67,68| 71,99 | 112,73|141,96|114,25 | 61,43 | 66,55 | 69,55 | 70,56| 63,83| 62,61| 66,60
74,17 | 75,17| 71,21 | 225,21|120,031102,11 | 77,02 | 75,98 | 75,81 | 76,85| 76,34| 77,41| 73,33
96,15 | 95,70) 88,87 | 22,38] 86,51| 86,28 | 95,71 | 93,07 | 95,98 | 95,98|104,96|104,46| 97,01
88,54 | 62,68) 65,72 | 115,16] 49,07| 49,46 [100,81 | 99,64 | 96,57 | 89,15| 76,56| 54,20| 56,83
100,32 | 89,90 114,14 | 27,91| 61,16 90,25 [124,04 | 97,71 116,43 |148,26|112,83|101,11)128,38
137,65 |157,39|125,47 | 57,91l101,31) 76,41 |100,79 | 93,82 | 92,86 |109,51[136,56|156,18|124,47
139,27 |135,07|109,87 | 91,30| 83,24) 91,29 |105,36 | 89,81 | 98,86 |109,99|137,73|133,58| 108,65
98,69 | 87,06| 97,25 | 114,58| 76,76| 63,71 | 81,09 |108,47 | 85,61 | 99,15/106,08| 93,57|104,51
104,02 | 93,99|103,52 | 304,93) 76,14| 74,04 | 89,86 | 97,56 [102,98 |114,23)114,78|103,71|114,28
135,93 |130,96133,07 | 53,64| 95,08/105,70 |121,29 |111,54 |I13,29 |122,07|129,57|124,83 126,85
103,84 | 73,29| 76,25| 57,35|102,88| 72,83 | 82,44 | 74,56 | 78,56 | 86,45|112,71| 79,48) 82,69
152,25 |118,201119,57 | 4,77| 88,47| 81,76 100,42 |112,37 |107,34 |129,77|163,10\126,62|128,09
104,43 | 86,21| 83,25 1,79| 84,92| 77,09 | 68,71 | 98,88 | 82,77 |101,12|118,44| 97,76| 94,41
117,31 | 96,92) 92,31 0,23|106,95| 87,82 | 91,30 |107,39 |100,00 |118,70|122,61|109,56 104,35
134,47 |111,69| 95,75| 2,11/102,84| 87,20 | 97,36 |106,35 |104,73 |115,16|139,57|115,92| 99,38
154,25 | 94,18) 76,07 | 26,93| 75,94 86,45 [100,44 | 90,42 |105,08 |131,45|146,12]102,51| 82,79
> — — — 79,47| 80,74 |112,83| 99,63 |118,29 |147,42| — — —
142,73 |120,61|134,32 | 32,69|107,19|104,71 |126,34 (138,60 |148,72 |165,89|147,48|124,93|139,13
186,47 |144,63|145,55 | 202,16| 92,82| 68,08 |127,18 [129,21 |145,10 |184,41|177,16|137,42|138,28
113,22 | 99,45| 97,84 | 77,29| 96,82| 94,77 116,94 | 98,11 |100,57 |110,17|120,02|105,42|103,18
90,39 | 98,36) 89,32 | 15,16| 62,93] 76,98 | 89,44 | 89,58 | 84,44 | 92,88| 94,33|102,64) 93,21
130,42 |131,79)127,68| 18,11]114,13|114,96 |126,67 |122,86 |122,86 |125,95|131,14|132,52|128,38
108,005| 99,71 96,95 | — | 91,52| 83,44 | 95,08 | 94,05 | 96,46 1108,011113,56|104,94| 102,13
Die Zusammenstellungen der deutschen Reichsstatistik liegen nun
über das Jahr 1909 vor.
Daraus ergibt sich, daß die Getreidepreise
auch in diesem Jahre die Höhe des Vorjahres gewahrt haben (für
Weizen und Hafer ist eine weitere Erhöhung zu verzeichnen) und
wesentlich günstiger stehen als im Durchschnitt der Jahre 1879—89,
nämlich im Verhältnis wie 100 zu 119. Eine außerordentliche Ver-
teuerung hatte in den vorhergehenden Jahren der Tabak erfahren, flaute
im letzten aber ab. Das Rohmaterial der Textilindustrie zeigt in der
letzten Periode bedeutende Schwankungen. Es war 1907 sehr in die
Höhe gegangen, hat 1908 einen bedeutenden Rückgang erfahren und
ist 1909 wieder erheblich in die Höhe gegangen, als Zeichen des Auf-
schwungs der Industrie.
Miszellen.
684
o r
Tabelle IV.
Verhältnis Verhältnis
ee ed etA 1904 | 1905 | 1906 | 1907 | 1908 | 1909 1sso [1808| 1800 | 1904 | 1005
zu 1879—83 — 100 zu 1879—89 = 100
EE — - Sg
1906 | 1907 | 1908 | 1909
Weizen
Roggen
Gerste
Mais
Hafer
Mehl
a) Weizenmehl
b) Roggenmehl
86,20, 97,24| 81,38| 87,59 | 87,28] 90,96) 95,92|108,54|109,88|110,12|105,16 |88,00| 94,72 | 94,38 | 98,36 [103,72 117,37 118,82) 119,08
Kartoffelspiritus A 86,841103,24| 86,66| 79,78| — — — | 51,85) 62,07| 46,85Jı11,21 |93,85| 83,83 | — — — | 55,89 | 66,91| 50,50
Kaffee, Rio,
Bremen
Kaffee, Planta-
tion, Frankfurt
a. M.
Reis
Pfeffer
109,70,115,38, 94,53, 82,91 | 82,92| 83,86) 81,87| 77,26 71,86| 71,14|111,76 |91,49| 80,25 | 80,26 | 81,17 | 79,24 | 74,77 | 69,55 68,85
Baumwolle
Do . . f 86,25 80,42, 69,28 83,65 | 91,52| 89,971100,73 105,70) 93,55 101,85| 86,86 [74,83] 90,34 | 98,84 97,06 |108,78 114,16 101,04 110,00
Rohseide
Blei
Zink
Zinn
Roheisen
| |
95,24| 95,45) 77,50|117,05 |111,39|126,57 153,54 159,74 126,86|126,67| 97,99 |79,57|120,17 |114,36 [129,94 |157,64 ‚158,84 |126,15, 125,96
| | VW
Arithmet. Mittel | 92,34| 96,65 80,52| 91,33 | 92,30) 94,67 105,98] 100,62 92,84] 9ı,ss|101,26 184,35 95,68 | 96,57 |100,72 |110,84 [104,21 96,48] 94,88
Miszellen. 685
Die Metalle blieben im letzten Jahre im arithmetischen Mittel auf
derselben Höhe wie im vorigen; gegenüber dem Durchschnitt von
1879—89 wie 100:126. Das war aber bei den verschiedenen Metallen,
wie wir schon oben sahen, sehr ungleich, und für Kupfer liegen An-
gaben leider nicht vor. Blei ist in ganz auffallender Weise im Preise
gesunken. 1907 war der Höhepunkt seit vielen Jahren mit 146 gegen
1879—89 = 100, 1908: 102, 1909: 83. Zink hatte dagegen die höchsten
Sätze 1906, stand 1908 sehr tief und ist 1909 wieder in die Höhe ge-
gangen auf 139 gegenüber 1879—89 == 100. Für Zinn gingen die Ver-
hältniszahlen von 120 im Jahre 1907 auf 105 und 103 in den folgen-
den Jahren herunter. Roheisen stand 1907 mit 120 recht hoch, während
es in den beiden letzten Jahren fast auf das Niveau von 1879—80
herabgegangen war. Steinkohlen standen gegenüber unserer Ausgangs-
periode von 1889—98: 114, von 1899—-1906: 125, in den letzten drei
Jahren 131. Man wird darin die ausgleichende, aber auch erhöhende
Kraft des Syndikats erkennen können.
Zur Ergänzung und Ausfüllung der vorliegenden Lücke fügen wir
die Preise nach den statistischen Zusammenstellungen über Kupfer von
Aron Hirsch u. Sohn in Halberstadt hinzu. Danach waren die Kupfer-
preise im Jahresdurchschnitt pro Tonne 1901: 65 £ 15 sh 1902: 52.13,
1903: 59.3, 1904: 59.08, 1905: 69.12, 1906: 87.6, 1907: 87.6, 1908:
59.18, 1909: 58.15. Bei dem beständig zunehmenden Bedarf an Kupfer
für Elektrizitätszwecke ist es für die Produktion schwer, damit gleichen
Schritt zu halten.
Wir entnehmen der Sauerbeckschen Zusammenstellung der Preise
von 45 Waren in England aus dem Märzheft 1910 des Journal of the
Royal statistical Society die folgende Uebersicht:
Das Verhältnis der summarischen Indexnummern, Gruppen von
Artikeln, 1867—77 = 100.
Jahr 253: Vie E.5|5|8 33 Eao S S| Saa) S Eu
Saja Sg asala] gal Salg also] 53258
z| az %5 Za jjs 5 zl S Le a EC
> |“ Is ee ie garidi EIES JES
o 7
1878—87| 79 | 95 | 76 84 | 7371| 81 | 76 |79182,1| 97| 99%, | 3/0
1888—97| 62 | 81 | 66 70 7059| 66 5 |67l61,0)101| 101°/, CN
1897—06| 62 | 84 | 49 67 8664| 68 | 72 |70144,81108| oi, EN
1899—08] 64 | 86 48 68 92| 67; 71 75 |72|44,6|109| 92°/, CNS
1898 67 77 D 68 7051| 63 | 61 |64|44,8l120| 111 EN
1899 | 60 | 79 | 53 69 | 92168] 65 | 70 |68|45,1|113| 107 3°,
1900 62 85 54 68 10866) 71 | 80 |75/46,4 99| 99"), 4
1901 62 85 46 67 Bo Go 71 72 |70/44,21106| 94 EN?
1902 63 87 41 67 82 61| 71 | 71 |69139,61113 94'/, CNR
1903 62 BA | 44 66 82| 66| 69 72 |69|40,7|104| 90°, 37;
1904 63 83 50 68 8171| 67 | 72 |70|43,4| 93| 88%), Zu
1905 63 | 87 | 52 69 87|72| 68 | 75 |72|45,7|113| Soit, 3
1906 62 | 89 | 46 69 |1or|80| 74 | 83 |77l50,71116| 881), AL
1907 69 88 48 72 |ro7|77| 78 86 |80149,81117| 84 Ale
1908 70 | 89 | 48 72 8962| 73 | 74 |73l40,1lııı] 86
1909 | 71 | 89 | 50 73 1|86|64| 76 | 75 [74139,sl113| 84 EN
686 Miszellen.
Wir fügen noch die Indexnummern des Londoner Economist bei,
welche die Summe der Preise von 47 Gegenständen umfassen:
1845—50 2200 1. Juli 1903 2003
1857 2996 1. Januar 1904 2197
1870 2689 1. Juli 1905 2136
1886 2538 1. Januar 1906 2163
1890 2236 1. Juli 1906 2342
1898 1840 1. Januar 1907 2362
1899 1918 1. Juli 1907 2499
1. Januar 1900 2145 1. Januar 1908 2310
1. Juli 1901 2126 1. Juli 1908 2190
1. Januar 1902 1948 1. Januar 1909 2197
Es ergibt sich aus diesen Zahlen, daß das Jahr 1907 den Höhe-
punkt der Preisentwicklung zeigte, der seit langer Zeit dagewesen ist,
daß aber das Jahr 1908 wieder einen Rückschlag ergab, der mit der
allgemeinen wirtschaftlichen Depression in Zusammenhang stand. Das
Jahr 1909 führte nur eine geringe Erhöhung des Niveaus herbei.
Tabelle IV. Britisches Reich. Einfuhr von Weizen und
Weizenmehl in C.-Wts.
Ver. Staaten Indien
Proz. | Proz.
Gesamt- Rußland
einfuhr | Proz.
1877—81 67 200 000 7 067 056 | 10,5 | 38456 968 | 56,6 3 877 077 5,7
1882—91 82 300000 | 18657 348 | 20,2 | 38 109 250 | 46,3 9603 975 | 11,6
1892—96 98 602 466 | 14.295 898 | 14,5 | 52613058 | 53,4 6 994 839 7,1
1897—01 96 254 233 6 228 327 6,5 | 60131 184 | 62,5 4 330 720 4,5
1900 98 597 450 4506620 | 4,6 | 57418064 | 58,2 6 239 0,0
1901 101 064 683 2 580 806 2,6 | 66855052 | 66,2 3 341 500 3,8
1902 107 927 701 6620 104 | 6,1 | 64. 961474 | 60,2 8 842 182 8,2
1903 116744 152 | 17 277482 |ı4,8 | 46730727 | 40,0 | 17058798 | 14,6
1904 118 230963 | 23 708306 |20,1 | 18513547 | ı5,7 | 25521047 | 2ı,6
1905 109 577515 | 24703 200 |22,5 | 12270100 | ı1,2 | 22805 400 | 20,8
1906 107 157 500 | 15017 500 | 14,0 | 32300770 | 30,2 | 12636 200 | 11,8
1907 110 465 366 | 10900 300 | 9,87) 30021454 | 27,2 | 18 269 600 | 16,5
1908 104 101 560 5147 110 | 4,4 | 36905 224 | 35,4 2 948 400 2,8
1909 108 907 365 | 17 844840 |16,4 | 22433 ııı | 20,6 | 14633 200 | 13,4
Brit. Amerika | Australien Argentinien Rumänien
| Proz. | Proz.
Proz. | | Proz.
1877—81 | 3872422 | 5,7 | 2446930 | 3,6 — —
1882—91 | 3449866 | 4,1 | 1997991 | 2,1 —
1892—96 | 5262572 | 5,3 | 2054255 | 2,1 | 5944862 | 6,0
1897—01 | 7987097 Bai 2458949 | 2,6 | 8712792 | ai
1900 7937626 | 8,1 | 2919268 | 3,0 | 18 769000 | 19,0
1901 8577960 | 8,5 | 6127019 | 6,1 8 309706 | 8,2
1902 12 220490 | tal 4217019 | 3,9 | 4543236 | 42
1903 14 465 698 | 12,4 61 | 0,0 | 14 232525 | 12,2
1904 9036643 | 7,6 |11364669 | 9,6 | 21 841 650 | 18,5
1905 7852000 | 7,2 |12064700 | 9,2 | 23 236 400
N
m
w
1906 13 120 200 | 12,8 | 8404 800 | 7,8 | 19 325 200 | 18,0 | 3 780 000
1907 14 307 700 | 13,0 | 8327 500 | 7,5 | 21900600 | 19,8 | 3 258 800 2,9
1908 16 147 727 | 15,5 | 5598 200 | 5,8 | 31 680 200 | 30,4 | 1837000 | 1,8
1909 18 675 145 | 17,8 | 9700 100 | 9,0 | 20037 800 | 18,4 | 527600 | 4,8
Miszellen. 687
Wie aus den bezüglichen Tabellen hervorgeht, ist in dem britischen
Reiche die Weizenzufuhr 1908 eine verhältnismäßig geringe gewesen,
mit 104 Mill. Zentner gegen 110 Mill. des Vorjahres; sie hob sich 1909
fast wieder auf diese Höhe. Bemerkenswert ist, daß, während Rußland
in den letzten beiden Jahren auffallend wenig nach dem britischen Reiche
exportierte, nur 4,4 Proz, des englischen Bedarfes gegen 22,5 Proz. 1905,
im Jahre 1909 wieder 16,4 Proz. mit 17,8 Mill. Ztr. von dort gedeckt
wurden. Auch Indien hatte in dem letzten Jahre fast ganz versagt mit
2,8 Proz. gegen 16,5 im Vorjahre, und steht im letzten Jahre mit
13,4 Proz. wieder mehr im Vordergrund. Dafür waren die Vereinigten
Staaten mit 35,4 Proz. im Jahre 1908 auf 20,6 Proz. herabgegangen,
während das britische Amerika auf 17,3 herauf, Argentinien von 30,4 Proz.
auf 18,0 Proz. heruntergegangen ist. Australien stieg auf 9 Proz.
Die Einfuhr an Weizen ist in Deutschland seit 1906 auf über
2 Mill. t gestiegen und betrug 1907 und 1909 2,4 Mill, 1908 nur
2,0 Mill. t, während die Ausfuhr sich im Jahre 1909 auf 209000 und
1908 261000 t belief. Der Bedarf hat daher auch in den letzten Jahren
noch zugenommen, obwohl die Ernten günstige waren. Es unterliegt
keinem Zweifel, daß mit der Zunahme des Wohlstandes der Konsum
sich mehr und mehr vom Roggen dem Weizen zuwendet. War 1908
Rußland als Weizenlieferant sehr zurückgetreten (12,3 Proz.) und nament-
lich durch Argentinien (42 Proz.) und die Vereinigten Staaten (35,7 Proz.)
verdrängt, so hat sich das im letzten Jahre wieder umgekehrt. Das erstere
Land lieferte jetzt 50 Proz., die beiden anderen 22,5 und 12,5 Proz.
Der Bezug vom Ausland an Roggen hat in der Periode 1900— 1904
(804000 t) fortdauernd abgenommen, bis 275000 t im letzten Jahre,
von denen Rußland 93 Proz., Rumänien 5,3 Proz. betrugen. Aber
dieser Einfuhr stand noch eine wachsende Ausfuhr gegenüber, mit
586000 t 1908 und 656000 t 1909, so daß im letzten Jahr mehr an
das Ausland abgegeben, als von ihm bezogen ist, was seit Dezennien
nicht der Fall gewesen ist. Die Ursache ist einmal in dem bereits er-
wähnten Umstande zu suchen, daß der Roggenkonsum in Deutschland
sich vermindert hat, dann in der Ausdehnung der Anbaufläche infolge
der Verschiebung der Preise zugunsten des Roggens gegenüber dem
Weizen und — wenn man der Erntestatistik trauen darf — in der erheb-
licheren Erhöhung der Ernteerträge. Im Jahre 1908 waren 6119433 ha
mit Roggen bestellt, von 1896—1900: 5944000 ha, von 1901—05:
6045000, 1906 und 1907: 6072000 ha. Die Erträge wurden aber
angenommen von 1896—1900 mit 8'591 000 t, 1901—05: 9445 000,
1906 und 1907: 9691000, 1908: 10736000 t. Die letzte Ernte war
wieder eine sehr reiche. Aus dem Umstande, daß trotz des verringerten
Bedarfs Deutschlands an Roggen der Preis desselben zwar 1909 gegen-
über der beiden Vorjahre zurückgegangen, aber immer noch gegenüber
dem Durchschnitt von 1874—89 wie 100:113 steht, muß man schließen,
daß die Produktionskraft Rußlands kaum mit der Bevölkerungszunahme
Schritt zu halten vermag.
Die Einfuhr von Gerste und besonders Futtergerste hat erheblich
zugenommen, was auf die Zollermäßigung für letztere zurückzuführen
sein wird. Dagegen ist die Haferzufuhr im letzten Jahre durch die
Miszellen.
688
Tabelle VI.
Einfuhr in Deutschland in Tonnen zu 1000 kg.
1890
|
1880 1885 1880|1885|1890|1895|1900
1080. ee ae 1900—04| 1006 | 1907 | 1908 | weg 94-80 oal po 04 119041190511908|1907 1908 |1909
Weizen Prozente
Rußland 185 727/234 2561289 080| 678 810| 615 172| 735 816| 564528 258 134] 227 665] 34,7] 52,0| 30,5| 48,4| 32,6] 43,9| 44,0] 37,1]23,00|12,85] 50,5
Oesterr.-Ungarn|144 126| 90080| 55 039 14321 9 898 2 589 8 556 1007 1 892| 26,9| 20,8, 5,8| 1,0] 0,5] 0,2] 0,1) 0,1) 0,05| 0,05) —
Belgien,Niederl.| 79 370| 60 192| 33 743| 11293 6 964 5 589 — | 24617 7 937| 14,9| 13,3] 3,6| 0,8! OAI 0,3| 0,5| 0,8| — | 1,17| 0,8
Ver. Staaten 78 088| 20 821|292 833| 381 214| 692 399| 299041| 542780 746697| 305 506| 14,6) 4,5| 30,9| 27,2| 36,6| 9,1) 2,9| 14,9|22,11|35,72| 12,5
Rumänien — -— 84 234| 139269| 147 366| 335 359| 343358, 148008| 119916| — | — | Bal oa 7,8) 9,3 14,2| 16,7|13,98| 7,08) 4,9
Brit.-Ostindien — — 17 440 400I| 21281 1 064 4044 — 40 442| — | — | 1,9| 0,3| ı1,1| 4,8| 2,2| 0,1| 0,16) — 1,7
Argentinien — — |69249| 154600) 349616| 530353| 860837| 877 186| 572876| — | — | 7,3| 11,0| 18,5| 22,9| 31,8| 26,3|35,07141,96| 22,6
Diverse 16 039| 30 743|104 609 _20127| 47 870| 85582) 130713| 34895|!)121 975| 2,9| 7,1Jır,ı| 1,4| 2,5| 4,5| 40| 4,2| 5,38| 1,67| 5,0
Summa 1534 633/449 922 946 236|1 403 635| 1 890 566|2 013 393|2 454 846|2 090 544|2 433 098| 100 | 100 | 100 | 100| 100 | 100 | 100 | 100 | 100 | 100 | —
Roggen
Rußland 409 286|511 484|424 275| 662 279| 718927 514 407 453 759| 258 197 251 519 55, 9| 69,4| 67,4| 76,4| 89,4| 90,2] 83,5] 79,3]74,60|74,35| 93,5
Oesterr.-Ungarn| 50 259| 8882| 16 560 — 635 — 68 18. 201 — lol = | — | S Än l
Frankreich 66 449| 13 143| 15 357 957 9721 — _ 1325| — 9,7| 1,8| 2,4] ou 0,1) — | — | — | — | 3,81) —
Belgien 45 629| 26472 \,, 102 2 219 289 — — — — 6,2| 3,6 „| a8 90 — | —|—|— |>|-
Niederlande 44 198| 56 915) 9 2 587 2917 — u 21313 — Däi 7,7 3, 0,3| 0,4) 0,7| 0,5| — | — | 64| —
Ver. Staaten 10016| 4420| 49029 106044 31381 984| 7429| 17973 — 1,3| 0,6| 7,8|12,2| 3,9| 0,5) 1,3| 0,2| 1,22] 5,18| —
Rumänien — 38860) 69831| 33338 95569 103836) 29030 14741| — | — | 7,2| Bu 4,2| 4,4| 9,6| 14,7|17,07| Bag 5,3
Diverse 1065 544/115 932| 58 593| 22458] 15369 37579 43243] 7506| — |14,0| 15,73] aal Sei Lal 4,2| 5,1l 5,8| 711| 216| —
Summa |732 3811737 250.629 733| 866 375, 803 848|) 648 539| 608 267| 347 264 °)274 721 100 | 100 | 100 | 100 | 100 | 100 | 100 100 | 100 | 100 | —
Gerste
Rußland 42 642|114 602|303 211| 574496| 765 841|1 483 894|1 558 429|1 598 523|2 272 769| 13,5] 23,8] 38,0 544 65,7| 77,4| 68,1| 81,5|73,70|80,50| 88,4
Oesterr.-Ungarn|197 CH 2458 649 313 848| 317 155 293 262 103066 254702 217597| 150486| 52,1| 51,2| 39,3] 30,1 25,2] 14,6| 20,8| 5,7|12,04|10,96| 5,8
Rumänien 99 4 467| 68862 49402| 117972 158351) 64267| 34015) — | — | 12,1] 6,5 4,2| 4,3] 5,2) 6,5| 7,49] An 1,3
Ver. Staaten | — — | 52001) 17 239| 65511| — | 357) — nl ol Al Li 0,9) 2,2) Aëi — | 0,02| —
Summa |320 867/479 9321798 604 1055 ED 165 SE 820 222 2 114 679 1 985 62912 569 860, 100 | 100 100 | 100 | 100 | 100 | 100 100 | 100 | 100 | —
Hafer
Rußland 161 124|131 5161101 346| 280497| 344 457| 459929! 179322| 164245| 404 142| 68,0| 72,6| 48,7| 70,2| 82,4| 76,8] 84,8] 71,4|55,49 5478 76,5
Oesterr.-Ungarn| 60 827| 233 340| 28 548| 3 853 6 025 2248| — | — I 5ı11[/ 22,9| 12,9| 13,7| 1,0) 1,0) OAl — | 0,3] —
Rumänien — 29275 11797, 34016 57143 74918 27823| 36379| — | — | 14,1| Ant 8,1| 15,6) 2,6| 8,9|23,18| 9,28 Fr
Ver. Staaten — — — | 92055| 22026| 107402 Geer 1967 1 140| — | — | — |23,0| 5,2| 0,4| 5,5) 16,6, — | 0,66) —
Summa |265 127|181 192/208 166| 399 399| 420 166| 644 498| 323 176] 299 804|) 527 941| 100 | 100| 100 | 100 | 100 | 100 | 100
1) Australien.
2) Ausfuhr 655 750. 3) Ausfuhr 300 285 t,
100 | 100 | 100 | —
troffen.
Miszellen.
wachsende Ausfuhr zum großen Teile ausgeglichen, 1908 sogar über-
Der Anbau des Hafers hat, wenn auch nicht so stark wie
der des Roggens, zugenommen von 4019000 ha von 1896—1900 auf
4241000 1901—05, dagegen 1906—07: 4298000 ha, 1908: 4275000.
Erheblicher stieg nach der offiziellen Statistik der Ernteertrag.
1901—05: 7173000 t, 1906 und 1907:
8790 000 t, 1908: 7694000 t.
1896—1900: 6481000 t,
Tabelle VII
London
Paris
128
133
113
119
123
125
129
124
128
132
151
140
141
159
121
127
125
132
126
133
139
142
155
160
185,41
Weizen.
Deutschland En ri
aus 15 Notierungen wa Far
1897 175,61 184 205
1898 198,30 210 206
1899 160,83 170 162
1900 162,80 147 163
1901 171,48 149 165
1902 170,65 161 178
1903 162,88 140 186
1904 176,21 175 180
1905 173,85 168 IQI
1906 180,94 152 192
1907 210,60 179 194
1908 215,13 221 183
1909 236,70 263,89 197579
Roggen
Deutschland Wien
aus 16 Notierungen
1897 124,53 137
1898 148,38 153
1899 144,13 121
1900 141,34 126
1901 145,87 134
1902 146,65 129
1903 136,18 120
1904 137,06 130
1905 146,22 130
1906 155,04 120
1907 188,30 157
1908 183,87 182
1909 172,50 178,32
Gerste
Deutschland i
aus 12 Notierungen Ze
1897 154,75 162
1898 167,09 166
1899 156,22 146
1900 161,74 145
1901 164,66 148
1902 158,13 141
1903 150,68 138
1904 156,29 148
1905 161,57 154
1906 164,08 147
1907 172,65 160
1908 175,82 161
1909 168,91 167,68
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV).
137,43
Paris
III III IL IS
New York
141
149
122
124
123
126
131
150
158
134
148
161
188,91
Amsterdam
95
119
121
117
110
112
112
108
124
124
151
158
141,10
London
122
153
144
140
141
145
128
126
137
690 Miszellen.
Tabelle VIII.
E E 1884 |1886 |1891 | 1896 | 1901 |
Weizen 83 | —85 | —90 | —95 | —1900| 04 | 1905 | 1906 | 1907 | 1908 | 1909
= =— —
Königsberg 196,71|160,92|168,20|162,88|158,56 |158,25 | 164,56 172,56| 198,45| 200,15 222,17
Danzig verzollt 154,14 [163,65 165,28 168,62) 202,21) 208,26, 228,17
Danzig unverzollt 198,85|150,17|139,63|134,46|128,844)]127,41?)| 131,45*1)| 167,08! — — | 185,18
London 200,00)153,41|142,73|119,72|134,30 |129,05 139,46 132,85| 173,37| 160,64 167,11
Berlin 205,00|161,65|174,21 166,13]154,41°)|165,56 174,78 179,61| 206,27| 211,22) 233,89
Lindau 245,18|202,85|213,06 212,90|2I1,85 |I9I,36 195,78 197,38| 233,21| 241,07| 263,75
Wien 181,51 |158,58 168,49 151,79| 189,55| 221,64) 263,58
Danzig unverzollt —
als Königsberg 2,14| 10,75| 28,57| 28,42| 29,72 | 30,84 33,11 46,53| — — 37,07
Danzig verzollt mehr
als unverzollt —- — _ — | 25,30 | 36,24 |+ 33,88 |+ 42,59) — _ 43,57
Berlin mehr als London| Son 8,14| 31,48| 46,41) 20,11 | 36,51 35,32 46,76) 32,57) 48,31| 48,48
Lindau mehralsLondon]| 45,18| 49,44| 70,33| 93,18| 77,55 | 62,31 56,27 64,53| 59,51] "Bue 78,34
Weizen | Jan. | Febr. | März | April | Mai | Juni | Jwi |August| Sept. | Okt. | Nov. | Dez.
1908
Königsberg 208,10| 192,00| 186,40| 186,10| 208,00| 215,00| 170,00| 198,10| 203,00| 203,00| 204,15| 207,65
Danzig verzollt 214,60| 215,00| 206,41 203,60) 218,45| 208,23| 221,25| 197,63| 200,60| 199,98; 205,27| 208,01
London 165,62| 153,66| 146,12| 145,99| 155,18| 151,03| 145,24| 146,33| 146,62| 146,00] 148,13| 160,64
Berlin 221,00| 212,20| 208,11| 208,70| 220,55| 212,16| 221,30| 204,00| 206,46| 204,86; 206,75| 208,54
Lindau 247,50| 240,00| 240,00| 240,00| 240,00| 240,00| 240,00) — — — — ges
Wien 230,48| 218,83| 219,04| 208,95| 218,05| 224,61| — |211,15| 213,32] 221,68 235,88] 235,80
Berlin mehr als
London 55,38] 58,54] 61,99) 62,71] 65,37) 61,18 76,06] 57,67) 59,84| 58,86) 58,62; 48.00
Lindau mehr als
London «| 81,88) 86,34| 93,88) 94,01] 84,82] 88,97| 94,76] — — — — —
1909 =
Königsberg 210,95| 216,77| 229,40, 245,00| 245,00| 250,00) — | 198,00| 207,00| 211,30, 213,00| 217,00
Danzig verzollt 209,68| 218,07| 231,95| 249,71! 256,30) 270,000 — |209,50| 212,10) 216,01| 219,27 223.91
London 154,77) 159,47 167,98, 187,51] 196,56| 200,90| 203,79| 198,81) 159,88| 148,44| 153,27) 155.98
Berlin 209,68| 219,60| 230,81, 242,52| 259,29) 268,00| 260,77| 241,85| 213,28 220,31| 217,80) 222,72
Lindau — |235,00| 255,00) 270,00| 285,00| 290,00| 290,00| 270,00| 250,00| 242,50 242,50 242,50
Wien 237,33| 243,36| 258,55| 265,28| 273,48| 296,43| 287,06| 260,16| 257,70| 264,06, 264,15! 258,33
Berlin mehr als
London 54,97| 60,18] 62,85) 55,01] 62,73] 67,10) 56,98] 43,04] 53,45] 71,87) 64,55) 66,73
Lindau mehr als F
London — 75,53| 87,02| 82,49| 88,44| 89,10| 86,21| 71,19] 90,17| 94,06 89,23] 86,51
Tabelle IX.
1886 | 1891, | I je a
d Roggen —90 |94, 95 1896—00 | 1901—04 | 1905 | 1906 | 1907 | 1908 | 1909
Bremen südr. unverzollt 104,52) 108,45| 107,56 107,75 122,25| 131,25| 151,10 157,10 146,15
Lübeck russ. 143,35| 154,50| 140,25 147,01 150,000 — _ _ >
Mannheim 156,78) 159,22| 150,16 147,42 158,73| 172,47| 199,04) 194,76) 179,48
Danzig verzollt — — 129,17 132,38 142,10| 150,89| 186,24| 177,00| 17 1,54
„ unyerzollt — — 99,394) | 98,29?) | — |104,52| — — ==
Amsterdam, Asow — — 107,92 110,57 123,71| 123,85| 171,06| — |138,38
Wien — — | 133,15 128,38 129,96| 120,33| 156,95| 181,83] 178,32
Lübeck mehr als Bremen unverzollt| 38,82] 46,05] 32,59 39,26 27,5| — _ — =
Danzig verzollt mehr als unverzollt | — — 29,78 34,09 — 46,37| — = er
Mannheim mehr als Bremen 52,26| 50,77| 42,60 39,67 36,48| 51,22| 47,94| 77,64 33.33
1) Einschließlich 2 M. Faktoreispesen.
4) 3) 2) Durchschnitt aus 4, 3, 2 Jahren.
Miszellen. 691
Roggen | Jan. | Febr. | März | April | Mai | Juni | Juli | Aug. | Sept. | Okt. | Nov. | Dez.
1908 A j
Bremen südr. unv. | 172,00| 166,50| 162,00] 151,50| 156,00| 151,25| 150,25| 154,50| 156,00] — — |151,00
Mannheim 215,65| 207,81| 206,74| 199,09| 204,25| 201,88| 195,70| 192,20| 191,09| 178,44| 173,47| 170,14
Danzig verzollt 199,30| 187,68| 181,25| 180,10| 188,03| 175,09| 175,25| 169,93| 170,84| 167,84| 165,63| 162,90
A unverzollt)) — — — — — |127,00| 127,67| — — — — —
Amsterdam, Asow |171,37|167,23| 165,55| 159,49| 156,36| 152,66| 151,87| 152,56| 158,68| 175,87| 148,35) —
Wien 198,22 182,13 190,60| 179,55 185,44| 186,82| — |170,28| 169,39| 152,40| 184,70| 182,98
Danzig verzollt
mehr als unverz. — — — — —- 48,09| 47,58| — — — — —
Mannheim mehr alsi
Bremen 43,65| 41,31| 44,74| 47,57| 48,25] 50,63| 45,45| 37,70) 35,09) — — 19,14
1909 3 X
Bremen südr. unv.| 145,75| 150,00| 151,25| 156,00| 154,50| 155,00 150,75| 140,50| 137,00| 137,5u| 137,50| 138,00
Mannheim 169,22| 176,56) 182,22| 187,03| 188,93| 195,89 192,91) 178,75| 170,16| 172,97] 170,56| 168,58
Danzig verzollt 162,32) 163,65| 168,79| 175,03| 184,15| 192,96 188,17| 169,95| 167,18) 164,08| 163,43] 162,47
» unverzollt5| — — Ei — — — — |121,94| — — — —
Amsterdam, Asow — kg — |150,78| — — 144,87| 135,83| 132,19| 132,27| 131,61| 132,41
Wien 177,91 181,45 187,30| 180,41 179,03| 185,83 180,14| 174,58| 170,10| 175,02| 175,96| 172,51
Danzig verzollt
ınehr als unverz. | — — — — —- — — 48,1| — — — —
Mannheim mehr als
23,47| 260,56| 30,97| 31,03| 34,43| 40,89| 42,16| 38,25 33,16, 35,47| 33,06| 30,58
Die Getreidepreise waren in den drei letzten Jahren auf dem Welt-
markt, wie in Deutschland erheblich in die Höhe gegangen. Weizen
kostete in Berlin von 1891—1900 160 M. die Tonne, 1901—05 167,
1906 179, von 1907—09 210 M. Die Londoner Preise stiegen in ganz
ähnlicher Weise, von 1891—1900 war er 127, von 1901—05 131, 1906
133, 1907—09 167 M., das ist seit der ersten Periode eine Steigerung
von 40, gegenüber der zweiten von 26 M. Die Differenz zwischen
Berlin und London hat sich noch etwas erhöht, sie betrug im letzten
Jahre 53, in den früheren Perioden nur einige 30 M., gegenüber München
und Mannheim war die Differenz stets noch größer, im letzten Jahre
78 und 85 M. Für Roggen müssen die Preise zwischen Bremen un-
verzollt und Danzig verzollt, dann zwischen Mannheim und Amsterdam
verglichen werden, um die Wirkung des Zolles festzustellen. Die Differenz
zwischen den ersten beiden Lagerplätzen war im letzten Jahre, wo mehr
aus- als eingeführt wurde, nur 25 M., zwischen den letzteren Häfen
immerhin noch 41 M., zwischen Mannheim und Bremen (unverzollt)
noch 33 M., in den Vorjahren mit überwiegender Einfuhr 37—51 M.
Sicher werden in den folgenden Jahren noch wieder niedrigere
Preise zu erwarten sein; ob es aber vielleicht duch der Anfang einer nach-
haltigen Hausse ist, vermag im Moment niemand mit Sicherheit zu ent-
scheiden, da es schwer ist, festzustellen, welche Ausdehnung der Ge-
treidebau noch in den Ländern mit bisher unbebauten Landstrichen zu
nehmen vermag und wie schnell sie vor sich gehen wird.
1) Einschließlich 2 M. Faktoreispesen.
Roggen für Lübeck.
Leider fehlen die Zahlen für unverzollten
44*
692 Miszellen.
XX.
Mathematisch-Statistisches zur preussischen
Wahlrechtsreform.
Von L. v. Bortkiewicz.
Die Wahlrechtsvorlage der Regierung, die allerdings noch manche
Aenderungen erfahren dürfte, ehe sie Gesetz wird, sieht einige Abweich-
ungen von dem Prinzip der Klasseneinteilung der Wähler nach der
Steuerleistung vor. So wird unter anderem in $$ 9 und 10 der Vorlage ver-
fügt, daß unter bestimmten Einschränkungen gewisse Personenkategorien
(höhere Kommunalbeamte, Inhaber wissenschaftlicher Zeugnisse, die zum
einjährig-freiwilligen Militärdienst befähigen, und Militäranwärter), soweit
sie nach ihrer Steuerleistung in die dritte Abteilung fallen, aus dieser
ausgeschieden und der zweiten Abteilung zugewiesen werden sollen.
Diese Neuerung bezweckt offenbar, den betreffenden durch ihre
Beamtenstellung oder durch ein gewisses Maß wissenschaftlicher Bildung
ausgezeichneten Wählern einen größeren Einfluß auf das Wahlergebnis
einzuräumen. Letzteres bestimmt sich ja nach $ 21 der Vorlage durch
Zusammenaddierung der Prozentsätze der Stimmen, die in jeder der
drei Abteilungen auf die in Frage kommenden Kandidaten entfallen,
wobei derjenige als gewählt gelten soll, welcher im Durchschnitt der
drei Abteilungen mehr als fünfzig Hundertteile der abgegebenen Stimmen
auf sich vereinigt hat. Da aber die Zahl der Wähler in der III. Ab-
teilung immer größer ist als in der II., so falle, möchte man meinen,
jede einzelne Stimme mehr ins Gewicht, wenn sie in der II. als wenn
sie in der III. Abteilung abgegeben wird.
Gesetzt al&o, es kämen nur zwei Kandidaten, ein regierungsfreund-
licher A und ein oppositioneller B, in Betracht, und angenommen außer-
dem, daß sämtliche Wähler, die auf Grund der $$ 9 und 10 der Vor-
lage aus der III. in die II. Abteilung zu versetzen sind, für A stimmen,
so scheint es, als ob solch eine Versetzung unbedingt zugunsten des A
ausschlagen müsse. Man wäre auch geneigt, zu glauben, daß sich für
A ein um so größerer prozentueller Stimmenzuwachs ergeben wird, je
größer die Zahl der aus der III. in die II. Abteilung zu befördernden
Wähler sein wird.
Es möge zunächst an einigen Zahlenbeispielen gezeigt werden,
daß sich derartige Erwartungen unter Umständen als unbegründet er-
weisen, während sie in anderen Fällen dem wirklichen Sachverhalt aller-
dings entsprechen.
Miszellen. 693
Beispiel No. 1.
Es entfallen Stimmen auf
Abteilung | Stimmende A | B
absolut | relativ | absolut | relativ
I 300 231 77 Proz. 69 23 Proz.
D 1000 640 64 , 360 36 »
III 2500 200 Bh ei 2300 92 `
Zusammen | | |149 Proz. | |151 Proz.
Man nehme nun an, daß z. B. 50 Wähler aus der III. in die II. Ab-
teilung versetzt werden. Dadurch wird der Prozentsatz der für A ab-
gegebenen Stimmen in der II. Abteilung von 64 auf ER 100 = 65,7
anwachsen und in der III. Abteilung von 8 auf ER 100=6,1
herabsinken, so daß für alle drei Abteilungen zusammengenommen sich
statt 149 Proz. ergeben wird: 77 Proz. + 65,7 Proz. + 6,1 Proz. = 148,8
Proz. Durch Versetzung von 100 Wählern käme man auf: 77 Proz.
+67,3 Proz. + 4,2 Proz. = 148,5 Proz., und würde man alle 200 Wähler
der III. Abteilung, die für A stimmen, der II. Abteilung zuweisen, so
erhielte man: 77 Proz. +70 Proz.+0 Proz. —147 Proz. Ueberhaupt
läßt sich in diesem Fall dadurch, daß eine größere oder kleinere An-
zahl von Wählern der III. Abteilung, die für A stimmen, der II. Ab-
teilung zugewiesen werden, für A nichts erreichen.
Beispiel No. 21).
| Es entfallen Stimmen auf
z Stimmende =
Abteilung Wähler | A | B :
| absolut | relatlv | absolut | relativ
I 180 144 80 Proz. 36 20 Proz.
u 1000 450 45 » 550 |55 »
III 4000 800 20 , 3200 80 ,„
Zusammen | |145 Proz. | |155 Proz.
Wenn man hier z. B. 200 Wähler der III. Abteilung aus den 800,
die dem A ihre Stimme geben, der II. Abteilung zuweist, so ergeben
sich in den drei Abteilungen zugunsten von A die Stimmenquoten:
80 Proz., 54,1 Proz. und 16,3 Proz. Ihre Summe stellt sich auf 150,4
Proz., so daß A als gewählt zu gelten hätte, weil nämlich !/, dieser
Summe den Satz von 50 Proz. überschreitet. Noch günstiger würde
sich die Lage des A bei Versetzung von 300 Wählern gestalten. Man
1) Die in diesem Beispiel angenommenen Zahlenverhältnisse entsprechen ungefähr
dem Zahlenbild, welches die 12 Berliner Wahlbezirke zusammengenommen im Jahre
1908 darboten, wobei unter A der Kandidat der freisinnigen Volkspartei und unter B
derjenige der sozialdemokratischen Partei zu verstehen ist. Siehe G. Evert, Die
preußischen Landtagswahlen von 1908. Berlin 1909. (Zeitschrift des Kgl. Preußischen
Statistischen Landesamts. Ergänzungsheft XXX.) S. 230—231.
694 Miszellen.
erhielte: 80 Proz. + 57,7 Proz. + 13,5 Proz. — 151,2 Proz. Den größten
prozentuellen Stimmenzuwachs zugunsten von A würde man aber durch
Versetzung von 465 Wählern aus der III. in die II. Abteilung erzielen.
Es ergäbe sich: 80 Proz. + 62,5 Proz. + 9,5 Proz. = 152,0 Proz. Hin-
gegen würde die Versetzung aller 800 Personen, die in der IIL Ab-
teilung für A stimmen, in die II. Abteilung zwar noch zugunsten des
A ausschlagen, aber ihm nicht zum Siege über B verhelfen, denn man
hätte: 80 Proz. + 69,4 Proz. +0 Proz. = 149,4 Proz.
Beispiel No. 3.
Es entfallen Stimmen auf
Abteilung | Stimmende A | B
absolut | relativ | absolut | relativ
I 250 225 90 Proz. 25 10 Proz.
II 1000 460 AG „ 540 Eé a
o m 5400 540 TÖ: , 4860 90
Zusammen | | |146 Proz. | |154 Proz.
In diesem Falle würde im Gegenteil der größte Vorteil für A da-
durch erwachsen, daß man alle für ihn in der III. Abteilung stimmen-
den Wähler der II. Abteilung zuweist. Es ergäbe sich: 90 Proz. +
64,9 Proz. + 0 Proz. = 154,9 Proz. zugunsten von A. Aber schon
131 Stimmen der III. Abteilung würden ausreichen, um den A als
Sieger aus dem Wahlkampf hervorgehen zu lassen, denn man erhielte
hier: 90 Proz. + 52,3 Proz. + 7,8 Proz. = 150,1 Proz.
Beispiel No. 4.
Es entfallen Stimmen auf
Abteilung | Stimmende A | B
absolut | relativ | absolut | relativ
I 400 320 80 Proz. 80 20 Proz.
II 1000 560 66 „ 440 T . 25
II 3000 360 12 2640 88 n
Zusammen | |148 Proz. | |152 Proz.
Das günstigste Ergebnis für A wird in diesem Fall durch Be-
förderung von 160 Wählern aus der III. in die II. Abteilung erzielt.
Dies führt zu den Stimmengquoten: 80 Proz., 62,1 Proz. und 7,0 Proz.,
welche zusammen 149,1 Proz. ergeben, d. h. immer noch weniger als
erforderlich ist, um dem A die Majorität zu verschaffen. Würde man
aber alle 360 in Betracht kommenden Wähler der III. Abteilung in
die II. Abteilung hinübernehmen, so erhielte man: 80 Proz. + 67,7 Proz.
+ 0 Proz. = 147,7 Proz., d. h. im ganzen sogar weniger als dem un-
veränderten Prinzip der Klasseneinteilung nach der Steuerleistung ent-
spricht.
Es zeigt sich an der Hand obiger Beispiele, daß die Frage, unter
welchen Bedingungen dem Kandidaten A damit geholfen werden kann,
daß ein Teil der für ihn stimmenden Wähler, die nach Maßgabe ihrer
Steuerleistung in die III. Abteilung fallen, der IL Abteilung zugewiesen
Miszellen. 695
wird, nicht ganz einfach ist. Daher soll nunmehr versucht werden,
dieser Frage algebraisch beizukommen.
Es seien 8,, Ba, 8, die Zahlen der (an der Abstimmung teil-
nehmenden) Wähler in den Abteilungen I, II und III, wie sich diese
Zahlen nach Maßgabe der Steuerleistung ergeben. Die entsprechenden
Zahlen der für den regierungsfreundlichen Kandidaten A bezw. für den
Gegenkandidaten B stimmenden Wähler seien mit a,, a, und a, bezw.
b,, b, und b, bezeichnet. Setzt man
a a a b b b
See SE rl aß en Fa
so müßte, damit A gewählt würde, die Bedingung erfüllt sein:
a, Los + ag >15.
Es sollen nun auf Grund der in §§ 9 und 10 der Wahlrechts-
vorlage vorgesehenen Privilegien x Wähler, die sich unter den ge
Wählern befinden, der II. Abteilung zugewiesen werden. Gesetzt, daß
diese x Wähler ausnahmslos für A stimmen, so wird durch ihre Ver-
setzung in die II. Abteilung die Stimmenquote o, auf a‘, anwachsen
und die Stimmenquote a, auf eis herabsinken. Es fragt sich zunächst,
unter welcher Bedingung die Summe «a, + a's + a's größer als die
Summe a, Lex + a, ausfällt.
Man führe die Bezeichnung
oe H a'g F ag — (a, +, Hea) = E (x)
ein. Alsdann findet man:
i êt Ba E
SE EE 3 —X
und, da
S — a, = b, und ,—a,=b,,
df(x) ` ba "£ b, a)
de (+? (8,— x)?”
Der Differentialquotient u
nimmt mit steigendem x ab. Da zu-
gleich f(o)—=0, so muß, damit es überhaupt irgend einen Wert von x
geben kann, der zu f(x)>O führt, jener Differentialquotient bei x = 0
jedenfalls positiv sein. Es ergibt sich demnach:
woraus
Za 2 Ps (2)
folgt.
Diese Ungleichung besagt, daß die Zahl der Wähler der III. Ab-
teilung, relativ genommen, in stärkerem Maße die Zahl der Wähler
der II. Abteilung übertreffen muß als die Quote der oppositionellen
Stimmen in der III. Abteilung die nämliche Quote in der II. Abteilung
übertrifft. Ist das nicht der Fall, so kann die Versetzung einer größeren
oder kleineren Anzahl von Wählern aus der III. in die II. Abteilung
dem Kandidaten A niemals zum Vorteil gereichen.
696 Miszellen.
Wenn aber die Ungleichung (2) zutrifft, so entsteht die Frage,
wie viele Wähler aus der III. Abteilung der II. Abteilung zuzuweisen
sind, damit sich für A der größtmögliche Vorteil ergibt. Es fragt sich
mit anderen Worten, bei welchem Wert m von x die Funktion f(x)
ihr Maximum erreicht. Zur Bestimmung von m dient die Gleichung:
Bi. w eh, (3)
Führt man die Bezeichnungen
ar KE und d
5 82 2
ein, so verwandelt sich (3) in:
1 vw
UF vO
oder auch in:
v —yu —
= 4
mv (4)
woraus 4
ne EI 6)
1 +y vw
folgt. Da v>w, so wird u positiv ausfallen.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich nach Formel (5) >,
bezw. m>a, ergibt. Das würde bedeuten, daß die Versetzung aller
Wähler der III. Abteilung, die für A stimmen, in die II. Abteilung
dem A einen größeren Vorteil bringt als die Versetzung einer beliebigen
kleineren Zahl dieser Wähler. Damit nun m>a, ausfällt, muß offenbar
bei x = a, noch positiv sein. Man hat also:
b, e? b, o
re
oder
bb; > (Sg +3)?
oder schließlich
UE vo,)?
SA > er (6)
Führt man die Bezeichnung
L vag)?
ST = F(v)
ein, so erhält man:
und
Miszellen. 697
Demnach erreicht die Funktion F(v) ihr Minimum bei v=} Wenn
8
also die Ungleichung (6) bei v = L nicht erfüllt ist, so gibt es keinen
8
Wert von v, bei welchem sie erfüllt wäre. Trifft hingegen die Un-
gleichung (6) bei u zu, so daß
2b; > 3 (7)
so wird die Ungleichung (6) überhaupt für alle Werte von v zutreffen,
die zwischen bestimmten Grenzen v, und v, enthalten sind. Diese
Grenzen findet man offenbar aus der Gleichung
PaPs = a E
oder
gei? — (Buß, — 20g) v + 1 = 0.
Man erhält:
ec Bobs — Ze — V Babs (Daf — 45) (8)
Wee 3 L
20,
und
= Babs — 2a; + V Kë (Babo — 405) (9)
Ke 2a,;? i
Es geht aus (8) und (9) hervor, daß wenn f fg = 4ag ist, v; = V; = Gë
Ist GB >4o,, so muß übrigens, sofern ß,<1, a fortiori die Un-
gleichung ß,>4a, erfüllt sein, woraus «<0,2 folgt. Das gilt auch
für den Fall, wo ß,ß,—=4e,. Wenn also die Quote der für A Stimmenden
in der III. Abteilung gleich 20 Proz. oder größer als 20 Proz. ist, so
wird die Versetzung aller für A stimmenden Wähler aus der III. in
die II. Abteilung unter keinen Umständen (möge = noch so groß sein)
dem A den größtmöglichen Vorteil bringen. Nimmt man aber an, was
der Wirklichkeit in der überaus großen Mehrzahl der Fälle entsprechen
dürfte, daß GB, so ergibt sich: Bi Ae, oder 1 — Ges Lois
woraus ag <3— V8 oder a, <0,172 folgt.
Soviel zu der Frage, unter welchen Bedingungen die Versetzung
aller für A stimmenden Wähler aus der III. in die II. Abteilung vor-
teihafter für A ist als die Versetzung eines Teiles derselben.
Eine andere Frage ist die, unter welcher Bedingung die Versetzung
aller für A stimmenden Wähler aus der III. in die II. Abteilung irgend-
einen Vorteil für A bietet. Diese Frage beantwortet sich an der Hand
der Ungleichung:
e Lane % äg
S, + ag / Se S3
oder
o + vaN a x
1+v 7 2 H
698 Miszellen.
woraus sich
v— 1
a + a C
v
oder auch
1
DE TI (10)
ergibt.
Es hat auch ein Interesse, zu bestimmen, unter welcher Bedingung
die Versetzung der a, Wähler in die II. Abteilung dem A zum Siege
über B verhelfen wird. Aus
aHan 3
te
folgt
es + vag 3
pia a
3—2(, +a)
(20; — De
und weiter
oder, wenn man die Differenz o Sek: mit d bezeichnet,
—6
De (11)
Schließlich kann man fragen, welche Minimalzahl x von für A
stimmenden Wählern aus der III. in die II. Abteilung versetzt
werden muß, damit A den Sieg über B davonträgt. Darauf gibt die
Gleichung + A
% atx 8 —x_3
SE EE 2
die gewünschte Antwort. Führt man die Bezeichnung — = ġ eoin
2
und setzt man für o, wieder + ö ein, so nimmt diese Gleichung fol-
gende Gestalt an:
Ges +E) (Y — ë) + (vas — E (1 +E) — (1 — 8) (1 + ë) (v — $) = 0. (12)
An der Hand der vorstehenden Formeln finden die Ergebnisse, zu
denen obige Zahlenbeispiele geführt haben, ihre Erklärung.
So ist für das Beispiel No. 1 entscheidend, daß hier die Formel (2)
nicht zutrifft. Man hat: = = 2} und RN = 25,
2 2
Im Beispiel No. 2 ist die Ungleichung (2) erfüllt, daher wird dem
A damit geholfen, daß ein Teil der für ihn stimmenden Wähler, die
ihrer Steuerleistung nach in die III. Abteilung fallen, der II. Ab-
teilung zugewiesen wird. In diesem Beispiel ist aber die Un-
2
gleichung (6) nicht erfüllt, weil ß,ß, = 0,44, während ae = 0,81.
Miszellen. 699
Darum wird auch der größte Vorteil für A durch Versetzung aus der
III. in die II. Abteilung nicht aller 800 Personen, die hierbei in Be-
tracht kommen, sondern eines bestimmten Teiles derselben erzielt.
Nach Formel (5), woman v = 4 und w = = zu setzen hat, berechnet
sich u zu 0,465 und dementsprechend m zu 465. Wenn sich aber in
diesem Beispiel dadurch, daß alle die 800 Personen der II. Abteilung
zugewiesen würden, keine Majorität zugunsten des A ergibt, so liegt
es daran, daß die Ungleichung (11) nicht erfüllt ist. Man hat nämlich
= Beh: _ 4i
v= 4 und En $
3
Das Beispiel No. 3 bietet einen Fall dar, in welchem die Un-
gleichung (6) zutrifft, denn es ist:
BaB = 0,486 und
Daher denn resultiert der größte Vorteil für A daraus, daß man alle
die in Betracht kommenden 540 Personen der II. Abteilung zuweist.
Formel (5) führt hier zu u = 0,6 bezw. m = 600. Die in diesem Bei-
spiel auftretende Zahl 131 ist aus der Gleichung (12) ermittelt worden,
wo gesetzt wurde: œ, —= 0,46, aş = 0,1, v = 5,4 und ô= 0,4. Es ergab
sich: — 0,1303 und dementsprechend x = 130,3 bezw. 131.
Schließlich beruht die Eigentümlichkeit des Beispiels No. 4, wo
die Versetzung aller für A stimmenden Wähler aus der III. in die
I. Abteilung die Lage des A, statt zu verbessern, verschlechtert, auf
dem Umstand, daß hier die Ungleichung (10) nicht erfüllt ist. Man
bat nämlich:
KS Ge — 0,489.
Bı + be = 1,32 und EE e.
Das politische Interesse, welches sich an die hier behandelte Spezial-
frage knüpft, dürfte nicht allzu groß sein, nachdem die $$ 9 und 10
der Regierungsvorlage von der Wahlrechtskommission des Abgeordneten-
hauses einstimmig abgelehnt worden sind!). Diese Spezialfrage lenkt
aber die Aufmerksamkeit des Logikers auf sich, indem sie recht deut-
lich zeigt, wie wenig man durch den „gesunden Menschenverstand“
vor falschen Urteilen geschützt ist, wo es sich um quantitative Zu-
sammenhänge, selbst relativ einfacher Art, handelt. Dem „Denken ohne
Formeln“ sind eben enge Grenzen gesteckt.
1) Als dieser Aufsatz verfaßt wurde, bildete die Regierungsvorlage noch den
Gegenstand der Kommissionsberatungen im Abgeordnetenhause. Neuerdings ist nament-
lich infolge der von der Wahlrechtskommission des Herrenhauses gefaßten Beschlüsse
die Frage der Privilegierung der sogenannten „Kulturträger‘“ durch ihre Beförderung
in höhere Wählerklassen wieder aktuell geworden. Es ist aber nicht außer Acht zu
lassen, daß inzwischen das Prinzip der indirekten Wahl wiederhergestellt worden ist,
während die Ausführungen im Text auf der Annahme beruhen, daß die Abgeordneten
direkt gewählt werden.
700 Literatur.
Literatur.
IV.
Neuere Literatur über Neu-Seeland ’).
Von Dr. Arthur Goldschmidt.
Irgendein zusammenfassendes Werk in deutscher Sprache über
jene in kulturhistorischer und vor allem sozialpolitischer Beziehung so
interessante Insel fehlte bisher völlig. Aus diesem Grunde allein schon
ist die Uebertragung des Buches von Siegfried über Neu-Seeland
verdienstvoll. Aber auch in jeder anderen Hinsicht hat Warnack,
da eine Originalarbeit über dieses Thema nicht beabsichtigt war, etwas
sehr Nützliches geleistet. Erstens kennt André Siegfried die auch
heute noch trotz der modernen Verkehrsmittel recht abgelegene Insel
Neu-Seeland aus eigens an Ort und Stelle angestellten Studien, zweitens
aber, und dies ist ebenso wichtig, hat er es verstanden, seine wissen-
schaftlichen Ergebnisse in dem anregenden und lebhaften Tone des
Franzosen vorzutragen. Das einzig Bedauerliche vielleicht an einer
Uebertragung dieses Werkes ist, daß nun diejenigen Deutschen, die
sich für die Materie interessieren, davon abgehalten werden, die elegante
stilistisch feine Sprache — die ja, so gut auch die Uebersetzung ist,
nicht vollständig wiederzugeben ist — im Originaltext zu genießen.
Das Buch ist ein erfreulicher und eindringlicher Beweis dafür, daß
Langweiligkeit keineswegs die Voraussetzung einer wissenschaftlichen
Arbeit ist.
Den Hauptteil des Buches bildet naturgemäß die Darstellung der
vom Ministerium Seddon inaugurierten sozialpolitischen Gesetzgebung
— jener Gesetzgebung, die die Aufmerksamkeit der gesamten zivili-
sierten Welt auf sich gelenkt hat. Alle die Fragen, die bei uns fort-
dauernd diskutiert werden, und in den Parlamenten jahraus jahrein
die Gesetzgeber beschäftigen, ohne eine Lösung zu finden, hat man dort
mit bewundernswerter Energie, wenigstens bis zu einem gewissen Grade,
zu lösen gesucht. Es muß hier genügen, einige Kapitelüberschriften
des Buches anfzuzählen, um einen Begriff der weitausgreifenden Tätig-
keit der neuseeländischen Regierung zu geben: „Die Arbeiterschutz-
1) Neu-Seeland, eine sozial- und wirtschaftspolitische Untersuchung von André
Siegfried, übersetzt und in einzelnen Teilen erweitert von Dr. Max Warnack.
Berlin, Carl Heimanns Verlag, 1909.
Literatur. 701
gesetzgebung“, „Die Gesetzgebung tiber die obligatorischen Einigungs-
und Schiedsverfahren“, „Die Altersrenten“, „Die Landgesetzgebung“
(bezweckend die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Schaffung
kleiner Pachtrentengüter), „Der Staat und der Agrarkredit“ (Kredit-
gewährung aus Staatsmitteln), „Die Regierung und die Einwanderung“,
„Die Regierung und die gelbe Gefahr“, „Die Frauenbewegung“ (Frauen-
stimmrecht), „Der Kampf gegen den Alkoholismus“ (von Regierung und
Parlament unterstützt und organisiert) etc.
Die Seele dieser großartigen Sozialgesetzgebung, deren Inhalt an-
nähernd obige Ueberschriften kennzeichnen, war der Premierminister
der Kolonie, Richard Seddon. „Während die europäischen Mächte
durch Zweifel, Verzagtheit oder, gerade herausgesagt, durch die Schwer-
fälligkeit ihrer sozialen und politischen Organisationen zurückgehalten,
zaudern und Zeit verlieren, widmet sich Seddon, völlig frei im Handeln,
auf seiner kleinen Insel mit 800000 Bewohnern, völlig sicher unter der
schützenden Vormundschaft Englands, mit all der Kühnheit jugend-
lichen Kraftgefühls den allerneuartigsten Versuchen. Sein Programm
ist die mit jedem Tage weitergehende Ausdehnung der staatlichen
Intervention zum Nutzen der minder begünstigten Volksschichten, der
Industriearbeiter, der kleinen Angestellten, der einfachen Landwirte.
Für sie regiert er in erster Linie, in ihren Reihen sucht er seine
Schutzbefohlenen, und aus ihnen rekrutiert sich die starke Majorität,
die ihn in 15 Jahren nicht einmal im Stich ließ und ihn bis zu seinem
Tode auf seinem hohen Posten hielt.“
Ebenso wie in diesem aus dem Vorwort ‚genommenen Zitat, so
bringt Siegfried wieder und wieder, wa sich Gelegenheit dazu bietet,
seine ehrliche Begeisterung für die Persönlichkeit Seddons und sein
Reformwerk zum Ausdruck. Und in der Tat wird sich niemand der
höchsten Bewunderung für den Mann entziehen können, der bei Durch-
führung dieser Gesetzgebung, die geschaffen war ohne irgendein Vor-
bild in der Welt, ständig die Majorität des Volkes hinter sich hatte.
Worin lag aber der Erfolg seines einzigartigen Regierungsprogramms ?
Er lag erstens in der Popularität von Seddons Person und der Ueber-
zeugungskraft seiner Rede — und zwar mehr noch hieran als an seinem
Programm selbst — und zweitens an der zu sozialreformatorischen
Experimenten ausnehmend glücklichen, isolierten Lage der kleinen Insel.
Diese isolierte Lage nämlich bewirkte Schutz gegen die überall sonst
störende ökonomische und politische Einwirkung der übrigen Welt,
Schutz gegen Einwanderung unwillkommener Elemente und Schutz vor
kriegerischen Verwicklungen. Zwei Faktoren also, die abgelegene Lage
und die Person Seddons haben in glücklichster Weise zur Förderung
Neu-Seelands beigetragen. Sie sind aber beide — und dieses Moment
ist bei der optimistischen Beurteilung der neu-seeländischen Zustände
bei Siegfried außer Acht gelassen — nicht als dauernd zu bezeichnen.
Ein Genie wie Seddon ist eine Ausnahme, und schon seine Nach-
folger sind nur Durchschnittsmenschen, über die nichts Besonderes zu
sagen ist. Sie müssen noch den Beweis erbringen, daß sie die Fähig-
keit haben, in Seddons Bahnen erfolgreich weiter zu kämpfen. Und
702 Literatur.
die isolierte Lage Neu-Seelands wird mehr und mehr dadurch in ihren
Folgen unwirksam, daß die heutige Verkehrsentwicklung Entfernungen
nicht mehr kennt. Die weit und breit gepriesenen Verhältnisse der
Insel werden allmählich mehr und mehr Leute mit für die bisherige
Entwicklung gefährlichen politischen und historischen Vorurteilen an-
locken. Eine dauernde Abschließung von der Außenwelt ist nicht mög-
lich trotz allen Einwanderungsgesetzen etc.
Wie sehr Neu-Seeland zur Aufrechterhaltung seiner sozialen Ge-
setze einer starken Regierung und einer starken Hand bedarf, geht
deutlich genug daraus hervor, daß kaum ein paar Monate nach dem
Tode Seddons ernste Streiks das Land beunruhigten. Es ist kein
Zweifel, daß es hauptsächlich die Autorität des alten Premiers war,
die so lange Zeit die Unzufriedenheit nicht zum Ausbruch kommen
ließ. Kaum hat ihn der Tod von seinem Posten, auf dem er unent-
behrlich war, abberufen, wagte sich die alte Streiklust wieder hervor.
Der Kampf zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, den man irrtüm-
licherweise wegen eines mehr als zehnjährigen gewerklichen Friedens
für endgültig beseitigt hielt, der aber nur geschlummert hatte, brach
wieder mit Gewalt hervor. Dr. Warnack, der das schon 1904 er-
schienene und daher etwas veraltete Siegfriedsche Buch besonders
in dem Kapitel über das obligatorische Einigungs- und Schiedsverfahren
etwas ausführlicher ergänzt hat, hat diesen Punkt meines Erachtens
nicht genügend kritisch beleuchtet. Die Tatsache, daß nach einer mehr
als zehnjährigen Streikpause das Jahr nach dem Tode Seddons vier
Streiks, deren einer von größter Bedeutung war, brachte, gibt zu denken.
Und die Regierung hat beim Ausbruch dieser Kämpfe nicht die alte
Energie gezeigt. Warnack hat das ausführliche, vorzügliche Literatur-
verzeichnis von Siegfried für die Zeit seit 1904 ergänzt, übersah
jedoch leider ein deutsches Buch, von einem deutschen Arzt, Dr. Max
Herz!), geschrieben, der in Neu-Seeland selbst (Auckland) niederge-
lassen ist, und recht fesselnd die dortigen Verhältnisse schildert. Aus
zwei Gründen möchte ich aus diesem Buche die Darstellung des einen
des nach Seddons Tode entstandenen Streiks wiedergeben. Erstens
nämlich geht aus ihr hervor, daß die Zufriedenheit unter Arbeitern wie
Industriellen keineswegs derartig ist, wie sie nach den begeisterten
Schilderungen einer Reihe von Schriftstellern ?2) erscheinen könnte, und
zweitens sehen wir, wie wenig eine noch so wohl durchdachte Gesetz-
gebung einen Streik verhindern kann, wenn die Streikenden halsstarrig
sich nicht einigen wollen, und die Regierung zur zwangsweisen Durch-
führung der Gesetze nicht Macht und Autorität genug hat. Dr. Max
Herz schreibt (S. 103):
„Den dritten Streik begannen die Blackball Miners, Werkleute im
Westland. Der Streik drehte sich hier um Fragen der Arbeitszeit und
der Art der Arbeiterentlassungen bei stillem Geschäftsgang. Die
1) Dr. Max Herz, Das heutige Neu-Seeland, Land und Leute, 1908.
2) Neben Siegfried vgl. vor allem die zahlreichen Schriften und Berichte von
W. P. Reeves, der 1905—1908 High Commissioner for New Zealand in London war,
ferner E. Tregear, Secretary for Labour and Registrar of industrial Unions.
Literatur. 703
Union, die diesmal ganz offen führte, forderte längere Mittagspause,
kürzere Arbeitsdauer und die Entscheidung durch das Los darüber,
wer bei mangelnder Arbeit entlassen werden soll, um die Entfernung
von agitatorisch wirkenden Leuten zu verhindern; würde das Los ver-
heiratete Miners treffen, so sollten Junggesellen für sie einspringen.
Die Company wollte sich natürlich von ihren Angestellten nicht den
Weg der Geschäftsführung vorschreiben und die Hände binden lassen
und bestand auf Erfüllung des bestehenden Awards. Die Bergleute
legten die Arbeit nieder. Der Arbitration Court eilte herbei, erhob
Beweis, untersuchte und verurteilte die Union zu 1500 Mark Strafe.
Dennoch nahmen die Bergleute die Arbeit nicht wieder auf und trotzten
dem Gesetz, und verhandelten auf eigene Faust mit der Company.
Wochenlang ohne Resultat. Keiner wollte nachgeben. Die übrigen
Gewerkschaften des Landes steiften der streikenden Union den Rücken,
sandten moralische, vor allem finanzielle Unterstützung in solcher Höhe,
daß bis an 60 Mark Streikgelder pro Familie und Woche gezahlt werden
konnten. Solche Beihilfe verbietet ausdrücklich das Gesetz wie den
Streik selbst. — Die Regierung tat nichts. Das Gesetz war offen ver-
letzt, doppelt und dreifach — vom Agitator verhöhnt, der Gerichts-
beschluß mißachtet, die Richter beschimpft — und die Regierung rührte
nicht den kleinsten Finger. — Die Company wurde mürbe, gab nach,
bewilligte die längere Mittagspause und die verkürzte Arbeitszeit, und
der Streik war zu Ende. Und bedeutete einen neuen Sieg der Arbeiter.
Hilflos und schwach hatte die Regierung sich gezeigt, unwillig,
dem Gesetze Achtung zu verschaffen. Unwillig, weil man kurz vor den
Parlamentswahlen steht, und die Regierung sich die Massen der Arbeiter
nicht entfremden will.....
Warnack geht in seiner Ergänzung des Kapitels über die Arbi-
tration und Conciliation Boards nur auf den wichtigsten Streik, den
der Schlächter, ein mit der Begründung, daß es zu weit führen würde,
alle diese Ausstände näher zu beschreiben. Er dürfte damit doch die
Bedeutung dieser Ausstände unterschätzt haben. Da bei ihm eine aus-
führliche Darstellung der Antistreikgesetze gegeben ist, sind für eine
kritische Beleuchtung der dortigen Zustände die Klagen und Mißstände,
die augenscheinlich in weiten Kreisen zum Ausdruck kommen, von
größtem Interesse. Gerade nach der sehr ausführlichen lobenden Dar-
stellung der Gesetze und ihrer Erfolge wird der unbefangene Leser
durch diese Uebergehung vielleicht nicht ganz richtig orientiert.
Die Regierung hat nach Beilegung der Streiks wieder neue Gesetze
gemacht, um ähnlichem vorzubeugen. Wenn dies noch nicht genügen
sollte, wird sie wieder neue und wieder neue machen. Aber bedeutet
das eine Lösung der sozialen Frage? Es bedeutet nichts anderes als
das Wiederaufleben des alten Polizeistaates mit unendlichen, bis ins
kleinste Detail gehenden Vorschriften. Seit Bestehen der Schiedsgerichte
sind in Neu-Seeland die Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Unter-
nehmern unendlich gewachsen. Wegen jeder Kleinigkeit läuft man zum
Kadi. Fast wird man an die alten Zunftzeiten mit den unendlichen
Zunftprozessen gemahnt, die wegen der geringsten Kleinigkeiten geführt
704 Literatur.
wurden und ein ungeheures, sehr unproduktiv angelegtes Kapital ver-
schlangen. Warnack charakterisiert am Schlusse des betreffenden
Kapitels ganz treffend die Schiedsgerichte folgendermaßen:
„Das Schiedsgericht ist zu einer für das gewerbliche Leben der
Kolonie allmächtigen Instanz geworden, die es bis in seine kleinsten
Einzelheiten und unumschränkt regelt und kontrolliert, und zwar nicht
als rechtsprechende Behörde, sondern als rechtschaffende Autorität.‘ —
Also eine Gerichtsbarkeit ähnlich an Einfluß und Macht der der Zünfte
der mittelalterlichen Stadt!
Warnack enthält sich jeder Kritik, ob diese allmähliche Wand-
lung der Schiedsgerichte zum Guten oder Bösen geschah. Meines Er-
achtens bedeutet die zunehmende Machtvollkommenheit der Schieds-
gerichte eine Gefahr für das gewerbliche Leben. Der Ausfall der
Schiedssprüche wird schließlich abhängig von der gerade am Ruder be-
findlichen Parlamentspartei.
Es würde weit über den Rahmen einer Besprechung hinausgehen,
auch auf die übrigen Kapitel ausführlicher einzugehen. Sie sind auch
nicht von einem derartig aktuellen Interesse, wie das über die Schied
gerichte und Einigungsämter, obgleich besonders die neuseeländischen
Landgesetze auch für uns genug des Interessanten bieten.
Wir müssen Dr. Warnack dankbar sein, daß er durch das mit
großer Sachkenntnis ergänzte Buch von Dr. Siegfried das Interesse
für die neuseeländische soziale Entwicklung in erhöhtem Maße wach-
gerufen hat. Ich selbst hatte, als ich kürzlich in London war, Ge-
legenheit genommen, mich mit australischer Literatur und Gesetzen
vertraut zu machen. Bei diesen Studien, die sich auch auf Neu-Seeland
erstreckten, habe ich oben skizzierte Eindrücke erhalten.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 705
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes,
L Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Eisenhart, Hugo (Prof.), Geschichte der Nationalökonomik. 2. verm. Aufl.
3. unveränderter Abdruck. Jena, Gustav Fischer, 1910. gr. 8. IX—278 SS. M. 4.—.
Grigorovici, Tatiana, Die Wertlehre bei Marx und Lassalle. Beitrag zur
Geschichte eines wissenschaftlichen Mißverständnisses. Wien, Ignaz Brand & Co., 1910.
gr. 8. 96 S. M. 2.—.
Grunzel, Jos. (Prof.), Grundriß der Wirtschaftspolitik. (In 5 Bdn.) 3. Bd.
Industriepolitik. Wien, Alfred Hölder, 1910. gr. 8. VI—154 SS. M. 2,80.
Schriften des deutschen volkswirtschaftlichen Verbandes. Herausgeg. vom Vor-
stand. III. Bd. Volkswirtschaftliche Streitfragen. Vorträge und Diskussionen. 1. Reihe.
Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8. VII—27—48—40—72—38—21 SS. M. 5.—.
(Inhalt: Friedrich List als praktischer Volkswirt, von G. v. Schmoller. — Die Wirt-
schaftswissenschaft in der heutigen Beamtenvorbildung, von Ernst von Halle. — Die
Psychologie der Reichsfinanzreform, von Heinrich Quensel. — Innere Kolonisation, ins-
besondere im Osten Deutschlands, von E. Stumpfe. — Die Beziehungen zwischen Buch-
haltung, Wirtschaft und Volkswirtschaftslehre, von Friedrich Leitner. — Die wissen-
schaftliche Erforschung großindustrieller Unternehmungen, von Oscar Stillich.)
Fourni®re, Eugène, La sociocratie. Essai de politique positive. Paris, V. Giard
& E. Brière, 1910. 8. 220 pag. fr. 2,50. (Collection des doctrines politiques publiée
sous la direction de A. Mater. XVI.)
Margarita, Félix, Le problème social. Individualisme ou collectivisme? Paris,
Société des publications littéraires illustrées, 1910. 16. 212 pag. fr. 2.—.
Novicow, J., La critique du darwinisme social. Paris, Félix Alcan, 1910. 8.
411 pag. fr. 7,50. (Bibliothèque de philosophie contemporaine.)
Worms, René, Les principes biologiques de Pévolution sociale. Paris, V. Giard
& E. Brière, 1910. 18. 122 pag. fr. 2.—. (Bibliothèque sociologique internationale.
Publiée sous la direction de René Worms. Série in-18. A.)
Lewis, Arthur Morrow, Vital problems in social evolution. Chicago, Charles
H. Kerr & Co., 1910. 16. 192 pp. $ 0,50.
Oxford Studies in social and legal history edited by Paul Vinogradoff. Vol. I.
English monasteries on the eve of the dissolution, by Alexander Savine. — Patronage
in the later empire, by F. de Zulueta. Oxford, Clarendon Press, 1909. 8. VI—303,
78 pp. 12/.6.
Schinz, Albert, Anti-pragmatism. An examination into the respective rights
of intellectual aristocracy and social democracy. London, T. Fisher Unwin, 1910. Cr. 8.
318 pp. 6/.6.
ae: Modern, as set forth by socialists in their speeches, writings, and
programmes. 3rd edition. Revised and enlarged. Edited by R. C. K. Ensor. London,
Harper, 1910. Cr. 8. 444 pp. 1/.—.
Villiers, Brougham, The socialist movement in England. 2nd edition, with
a new preface. London, T. Fisher Unwin, 1910. Cr. 8. 356 pp. 2/.6.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Oxford Studies in Social and Legal History. Vol. I.
1909.
Wir begrüßen das neue Unternehmen mit großer Freude.
Paul Vinogradoff, der seine Leitung übernommen hat, ist uns kein
Fremder. Wir kennen ihn, den geborenen Russen und jetzigen Pro-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 45
706 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
fessor der Universität Oxford, seit vielen Jahren als hochverdienten
Förderer der mittelalterlichen Geschichte. Seine Werke zur englischen
Agrarverfassung, insbesondere über die Grundherrschaft und ihre Auf-
hebung, sind grundlegend und haben seit langem die gebührende An-
erkennung gefunden. Es konnte aber einem so hervorragenden
Historiker, der zugleich in der Lehrtätigkeit steht, nicht entgehen, daß
die geschichtlichen Studien in England noch nicht auf der wünschens-
werten allgemeinen Höhe stehen. In der Vorrede, mit der er die
vorliegende Sammlung eröffnet, weist er mit vollem Rechte darauf hin,
daß Männer wie Grote, Stubbs und Maitland noch immer vereinzelte
Erscheinungen sind. Was England not tut, ist eine systematische
Schulung und Heranziehung von Historikern, und weiter ein Unter-
nehmen, das es sich zur Aufgabe macht, die Arbeiten dieses histo-
rischen Nachwuchses an die Oeffentlichkeit zu bringen. Vinogradoff
verweist auf die Sammlungen von Schmoller, Knapp und Stutz als seine
Vorbilder, und in Anlehnung an sie tritt er jetzt mit dem ersten Band
seiner Studien vor die Fachgenossen.
Als Einleitung bringt er uns die Untersuchung des Professors der
Geschichte an der Universität Moskau A. Savine: English Monasteries
on the Eve of the Dissolution. Es ist natürlich von der allergrößten
Bedeutung, wenn wir über die wirtschaftlich-sozialen Folgen eines für
die englische Entwickelung im 16. Jahrhundert so wichtigen Ereig-
nisses, wie es die Säkularisierung der Klöster darstellt, eingehend unter-
richtet werden, und deshalb verdient Savine für seine keineswegs leichte
und erfreuliche Arbeit vollen Dank. Als Material diente ihm der Va-
lor Ecclesiasticus, jene Erhebung über die wirtschaftlichen Verhältnisse
der Klöster, die von der Regierung unmittelbar vor der Aufhebung
vorgenommen wurde. Es ist ein Verdienst Savines, daß er endgültig
festgestellt hat, wie wir zwar das Einkommen der Klöster
kennen, wie aber alle hierauf gestüzten bisherigen Berechnungen über
den Umfang des Landbesitzes der Klöster willkürlich und unfundiert
sind. Weiter ist bedeutsam seine Feststellung des Umfanges der Ein-
hegungen auf den Klostergütern. Er kommt dabei zu dem Schluß, dab
die Verhältnisse, die in jeder Hinsicht weitgehenden Einhegungen und
extensiver Wirtschaft günstig waren, dafür sprechen, daß die Zeit-
genossen die agrarischen Umwälzungen jener Zeit ganz außerordentlich
übertrieben haben. Auch die Ueberschätzung des sozialen Einflusses,
den die Aufhebung der Klöster äußern mußte — es handelte sich um
7000 geistliche und 25000 weltliche Personen — wird auf das richtige
Maß zurückgeführt. Wir haben nur einige bemerkenswerte Punkte aus
Savines Arbeit hervorgehoben. Tatsächlich umfaßt sie die gesamte
Wirtschaftsführung der Klöster am Ende ihres Bestehens.
Als zweite Arbeit bringt die Sammlung eine Studie: De Patro-
einiis Vicorum, von Francis de Zulueta. Ihre Beurteilung würde nur
dem Juristen oder Althistoriker zustehen. Denn es handelt sich um
exegetische und textkritische Darstellung der fiskalischen und agra-
rischen Verhältnisse Aegyptens in der spätrömischen Zeit unter Be-
nutzung der neueren Papyrusfunde. Wenn es sich auch mehr um De-
tailfragen handelt, erscheint uns auch dieser Beitrag wertvoll.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 707
Wir können, wie gesagt, Vinogradoff nur in hohem Maße dankbar
sein, daß er uns diese Bereichung unserer Kenntnisse vermittelt. Wir
möchten aber zugleich dem Wunsche Ausdruck geben, daß sich der
Herausgeber, was bei seinen persönlichen Neigungen ja erklärlich genug
wäre, doch nicht darauf beschränke, Arbeiten allein zur alten und
mittelalterlichen Sozial- und Rechtsgeschichte in seine Sammlung auf-
zunehmen. Ihr Name enthält ja keinen Hinweis darauf, und so wollen
wir hoffen, daß die folgenden Bände uns ebenso schätzenswerte Bei-
träge zur Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit bringen, wie sie der erste
für die ältere Zeit enthält. Vinogradoff und seine Mitarbeiter können
unseres Interesses und unseres Dankes sicher sein.
Halle a. S. Georg Brodnitz.
Manes, Alfred, Politisches und Wirtschaftliches aus Australasien. Berlin, Leonhard
Simion Nf., 1910. gr.8. 32 SS. M.1.—. (Volkswirtschaftliche Zeitfragen. Heft 251.)
Psenner, Ludwig (Präs.), Religion und Volkswohl oder Volkswirtschaftliches
Leben seit der Reformation. Graz, Ulr. Moser, 1910. 8. IV—126 SS. M. 1,40.
Aubin, Eugène, En Haiti. Planteurs d’autrefois, nègres d’aujourd’hui. Paris,
Armand Colin, 1910. 8. XXXV-—345 pag. fr. 5.—.
Kurth, Godefroid, La cité de Liége au moyen Age, 3 vol. Bruxelles, A. Dewit,
1910. 8. LXXI—323, VIII—346, VII— 418 pag. fr. 15.—.
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Augustin Challamel, 1910. 8. 389 pag. fr. 5.—.
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entièrement refondue. Paris, Félix Alcan, 1910. 8. V-—330 pag. fr. 6.—. (Biblio-
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708 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Skal, Georg von, History of German immigration in the United States and
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ing and Publishing Co., 1910. 8. 356 pp. $ 10.—.
Onderzoek naar de mindere welvaart der inlandsche bevolking op Java en
Madoera. VIa. VIb. Overzicht van de uitkomsten der gewestelijke onderzoekingen naar
den inlandschen handel. 2 dln. I. Tekst. II. Bijlagen. ’s-Gravenhage, Martinus Nijhoff,
1910. fol. XII—248, IV—229 blz. fl. 2,50.
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Casparis, H., Der Bischof von Chur als Grundherr im Mittelalter. Bern,
Stämpfli & Cie, 1910. gr. 8. VIII—172 SS. M. 3,20. (Abhandlungen zum schweize-
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Diancourt, Norddeutschlands Kalisalze. Kattowitz O/S., Gebrüder Böhm, 1910.
gr. 8. 20 SS. M. 1.—. (Sammlung berg- und hüttenmännischer Abhandlungen.
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Festschrift. 25 Jahre im Dienste der deutschen Seefischerei. Ein Rückblick
auf die Tätigkeit des Deutschen Seefischerei-Vereins von (Drot) H. Henking. — Die
Seefischerschulen des Deutschen Seefischerei-Vereins. — Die Samariterkurse des Deut-
schen Seefischerei-Vereins. Mit 1 Karte. Berlin, Otto Salle, 1910. 4. VIII—216 S$.
(Abhandlungen des Deutschen Seefischerei-Vereins. Bd. XI.)
Föhrenbach, O., Der badische Bergbau in seiner wirtschaftlichen Bedeutung
vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Freiburg i. B., G. Ragoezy, 1910.
gr. 8. 64 SS. M. 1,20. ;
Kohlenvorräte, Die, der Vereinigten Staaten nach den neuesten Ermittelungen.
Kattowitz O/S., Gebrüder Böhm, 1909. gr. 8. 17 SS. M.1.—. (Sammlung berg- und
hüttenmännischer Abhandlungen. Heft 49.) (Aus: Berg- und hüttenmännische Rundschau.)
Landarbeit und Kleinbesitz. Herausgeg. von (Prof.) Richard Ehrenberg. 8. Heft.
Grundsätze für Bildung kleinen Grundbesitzes in den verschiedenen Landesteilen von
Mecklenburg-Schwerin. — Entwickelung der Bevölkerung und der Häuslerei-Gründungen
in den Dörfern des Mecklenburg-Schwerinschen Domaniums 1863—1905. Berlin, Paul
Parey, 1910. gr. 8. III—S. 81—175. M. 2.—. — 9. Heft. Vorschläge für eine neue
Gestaltung des mecklenburgischen Ansiedelungswesens. Ebenda 1910. gr. 8. S. 177—
261. M. 2.—.
Simmersbach, Bruno, Frankreichs Bergbau und Hüttenwesen im Jahre 1908.
Kattowitz O/S., Gebrüder Böhm, 1909. gr. 8. 24 SS. M. 1.—. (Sammlung berg- und
hüttenmännischer Abhandlungen. Heft 51.) (Aus: Berg- und hüttenmännische Rundschau.)
Steiger, Jos. Alf., Dürrheim und seine Saline. Freiburg i. B., Caritasverband,
1910. 8. VII—148 SS. mit Abbildungen, 1 Plan u. 2 Taf. M. 2.—.
Thomas, Adolf, Beiträge zur Geschichte der Bauernbefreiung und der Ent-
lastung des ländlichen Grundbesitzes im Großherzogtum Hessen. Mainz, J. Diemer,
1910. 8. 132 SS. M. 3.—.
Siderski, D., Les sécheries agricoles. Étude économique et technique de la
dessiccation des produits agricoles. Paris, Lucien Laveur, 1910. 8. 176 pag. fr. 3.—.
Armes, Ethel, The story of coal and iron in Alabama. Birmingham, Alabama,
Chamber of Commerce, 1910. 8. XXXIV—581 pp. $ 5.—.
Fernow, Bernard Eduard, A brief history of forestry in Europe, the United
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$ 2,50.
5. Gewerbe und Industrie.
Berlin, Philipp, Die bayerische Spiegelglasindustrie. Berlin, Emil Ebering,
1910. gr. 8. 144 SS. M. 3,50.
Böttger, Hugo, Die Industrie und der Staat. Tübingen, J. C. B. Mohr, 1910.
8. VIII—241 SS. M. 3,20.
Feuchtwanger, S., Staatliche Submissionspolitik in Bayern. Stuttgart und
Berlin, J. G. Cotta Nacht, 1910. gr. 8. X—160 SS. M. 3,50. (Münchener volks-
wirtschaftliche Studien. Stück 98.)
Klapper, Edmund, Die Entwicklung der deutschen Automobil-Industrie. Eine
wirtschaftliche Monographie unter Berücksichtigung des Einflusses der Technik. Berlin,
Boll und Pickardt, 1910. gr. 8 V—111 SS. M. 2.—.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 709
Liefmann, Robert (Prof.), Kartelle und Trusts und die Weiterbildung der
volkswirtschaftlichen Organisation. 2., stark erweiterte Aufl. (6.—10. Tausend.) Stutt-
gart, Ernst Heinrich Moritz, 1910. kl. 8. 210 SS. M. 2.—. (Illustrierte Bibliothek
der Rechts- und Staatskunde. Bd. 12.)
Pudor, Heinrich, Deutsche Qualitätsarbeit. Richtlinien für eine neue Ent-
wicklung der deutschen Industrie. Gautzsch bei Leipzig, Felix Dietrich, 1910. 8. III—
66 SS. M. 1,50.
Thiele, Friedrich, Die deutsche Lagerhausindustrie. Ihre geschichtliche Ent-
wicklung, Organisation und wirtschaftliche Bedeutung in der Gegenwart. Berlin,
S. Simon (1910). 8. 138 SS. M. 2.—. (Handel, Industrie und Verkehr in Einzel-
darstellungen. Bd. 17/18.)
Huart, Albin, L’industrie du bouton dans l’Oise et ses grèves récentes. Paris,
Arthur Rousseau, 1910. 12. 62 pag. fr. 1.—.
Seilhac, Léon de, La grève du tissage de Lille (Oetobre—Decembre 1909).
Paris, Arthur Rousseau, 1910. 12. 98 pag. fr. 2.—.
Beveridge, W. H., Unemployment; a problem in industry. 2d edition. New
York, Longmans, Green & Co., 1910. 8. XVI—323 pp. $ 2,40.
Borgnino, C., Cenni storico-eritici sulle origni dell’ industria dello zucchero in
Italia. Bologna, Zanichelli, 1910. 8. 1. 8.—.
6. Handel und Verkehr.
Brendle, Bernhard, Der Holzhandel im alten Basel. Basel, Helbing & Lichten-
hahn, 1910. gr. 8. 125 SS. M. 3.—.
Eckert, Heinrich, Die Krämer in süddeutschen Städten bis zum Ausgang des
Mittelalters. Berlin-Wilmersdorf, Dr. Walther Rothschild, 1910. gr. 8. XII—89 SS.
M. 3.—. (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte. Heft 16.)
Günther, Erwin (Öber-Postprakt.), Die europäischen Fernsprechgebühren, ihre
Grundlagen, Entwicklung und zweckmäßige Gestaltung. Jena, Gustav Fischer, 1910.
gr. 8. XI—263 SS. M. 6.—. (Sammlung nationalökonomischer und statistischer Ab-
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S. Bd. 61.)
Lenz, Rudolf, Der Kupfermarkt unter dem Einfluß der Syndikate und Trusts.
Berlin, Verlag für Fachliteratur, 1910. gr. 8. III—157 SS. M. 3,60.
Olep, Heinrich (Handelsk.-Syndikus), Zur Frage eines Binnenseeweges von
Hamburg über Bremen, Emden, Ruhrort nach Köln. Neuss a. Rh., Selbstverlag, 1910.
8. 48 SS. M. 1,50.
Rotach, Arnold, Das Postwesen der Stadt St. Gallen von seinen Anfängen bis
1798. St. Gallen, Fehr, 1909. gr. 8. 98 SS. M. 2,40.
Schulze, Fr. (Navigationssch.-Dir.), Lübeck, sein Hafen, seine Wasserstraßen.
Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1910. 8. 43 SS. mit Abbildungen. M. 0,50. (Meeres-
kunde. Jahrg. IV, Heft 3.)
Aclocque, Geneviève, Études sur le commerce et l’industrie A Chartres, depuis
le XI* siècle jusqu’à la fin du ministère de Colbert. Thèse. Abbeville, impr. Paillart,
1910. 8. 12 pag.
Devys, J., Les chemins de fer de l’État belge. Paris, Arthur Rousseau, 1910.
8. 236 pag. fr. 5.—.
Ribeyre, Paul (avocat), Les ligues sociales d’acheteurs. Thèse. Grenoble, impr.
Brotel et Guirimand, 1910. 8. 177 pag.
Campbell, D. N. E., Searchlight on the Panama canal; or, America’s greatest
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Chiozza Money, L. G., Money’s fiscal dietionary. London, Methuen & Co.
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Lee, Ivy L., The American railway problem: an address delivered before the
London School of Economics, Feb. 7, 1910. London, Stevens & Brown, 1910. Cr. 8.
32 pp. 1/.—.
7. Finanzwesen.
Fliedner, H., Die Rheinzölle der Kurpfalz am Mittelrhein, in Bacharach und
Kaub. Trier, Jacob Lintz, 1910. gr. 8. XV—189 SS. M. 6.—. (Westdeutsche Zeit-
schrift. Ergänzungsheft XV.)
710 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
Harling, Otto von, Eine Wehrsteuer für Deutschland. Berlin, Verlag de
Vaterländischen Schriftenverbandes, 1910. gr. 8. 35 SS.
Reform, Die, der Gebäudesteuer. (Hauswertsteuer und Arealsteuer.) Wien, Manz,
1910. Lex.-8. III—115 SS. M. 1,30. (Verhandlungen und Beschlüsse des Industrie-
rates. Heft 22.)
Wurm, Emanuel, Die Finanzgeschichte des Deutschen Reiches. Hamburg,
Auer & Co., 1910. 8. 272 SS. M. 1.—.
Caillaux, L’impöt sur le revenu. Discours prononcés à la Chambre des Députés.
Paris, Berger-Levrault & Oe, 1910. 12. 548 pag. fr. 3,50.
Cans, Albert, La contribution du clergé de France à l’impöt pendant la seconde
moitié du règne de Louis XIV (1689—1715). Thèse complémentaire. Paris, A. Picard
et fils, 1910. 8. XI—105 pag.
Francotte, Henri, Les finances des cités grecques. Liège, impr. H. Vaillant-
Carmanne, 1909. 8. 315 pag. fr. 7.—.
Haristoy, J., L’impöt sur le revenu. Paris, Félix Alcan, 1910. 8. 881 pag.
fr. 12.—.
Rouffie, Marcel, & Fernand Momméja, L’impöt sur le revenu en Alsace-
Lorraine. Histoire d’une réforme des contributions directes. Paris, Georges Roustan,
1910. 8. 331 pag. fr. 7,50.
Tenerelli, F. G. (prof.), Le finanze comunali di Catania verso il secolo XVI.
Catania, tip. Giannotta, 1910. 8. 84 pp.
8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen.
Cruceiger, Gustav, Transport-Versicherung. München, Max Steinebach, 1910.
gr. 8. 130 SS. M. 2,50. (Das gesamte Versicherungswesen in Einzeldarstellungen.
Bd. 1.)
Jahrbuch der Genossenschaft der Bau- und Steinmetzmeister Uralte Haupthütte
in Wien. 1. Jahrg. 1910. Wien, Carl Konegen. gr. 8. XV—382 SS. M. 6.—.
Kriwitschenko, G., Die ländlichen Kreditgenossenschaften in Rußland. Stutt-
gart und Berlin, J. G. Cotta Nachf., 1910. gr. 8. 124 SS. M. 3.—.' (Münchener
volkswirtschaftliche Studien. Stück 100.)
Riesser (Prof.), Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration im Zusammen-
hange mit der Entwicklung der Gesamtwirtschaft in Deutschland. 3. völlig umgearb.
u. stark verm. Aufl. Jena, Gustav Fischer, 1910. Lex.-8. XV—715 SS. mit 1 far-
bigen Karte. M. 15.—.
Schaefer, Wilhelm, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Feuerversiche-
rung in Deutschland. Hannover, C. Brandes, 1910. gr. 8. 80 SS. M. 1,20.
Schmidt, Georg, Der Einfluß der Bank- und Geldverfassung auf die Diskonto-
politik im Deutschen Reich, in England, Frankreich, Oesterreich-Ungarn, Belgien und
den Niederlanden. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. VIII—120 38.
M. 3.—.
Domergue, Jules, La question des sociétés de crédit. Nouvelle édition. Paris,
la Réforme économique (1910). 8. 160 pag. (Extrait de la Réforme économique.)
Leygonie, J., Le régime fiscal des opérations de banque en France. Paris,
L. Larose & L. Tenin, 1910. 8. 163 pag. fr. 5.—.
Dawson, William H., The unearned increment. 3rd edition. London, Swan
Sonnenschein & Co., 1910. Cr. 8. 218 pp. 2/.6. (Social Science Series.)
Delprat, G.H.M., Vereenvoudiging van het inleggen en terugbetalen door middel
van check- en giroverkeer bij de spaarbank te Rotterdam. Rotterdam, M. Wyt & Zonen,
1910. gr. 8. 64 blz. fl. 1.—.
Vissering, G., Het oude en het moderne giroverkeer. Amsterdam, J. H. de Bussy,
1910. gr. 8. 176 blz. fl. 1,90.
9. Soziale Frage.
Bellom, Maurice, Les lois d’assurance ouvrière à l'étranger.
Supplément général. Paris 1909.
Von dem rühmlichst bekannten internationalen Werke Bellom’s über
die Arbeiterversicherung liegt nunmehr im zehnten Bande der Schlußband
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 711
dieses großen Werkes vor, dessen erster Teil (1892 erschienen) der
Krankenversicherung gewidmet ist, während der zweite Teil in
6 Bänden (1895/1904) die Unfallversicherung und der dritte Teil in
2 Bänden (1905/06) die Invalidenversicherung behandelt. In jedem
dieser Teile wird neben systematischen und historischen Darstellungen
der einschlägigen Gesetzgebung der verschiedenen Länder der Text der
Gesetze, Ausführungsbestimmungen, Statuten, Formulare usw. in vorzüg-
licher Uebersetzung gegeben und reiches statistisches Material beigefügt.
Mit dem vorliegenden Schlußbande beabsichtigt der Verfasser nicht
etwa das Gesamtwerk der Gegenwart anzupassen, was eine völlige
Neuausgabe bedingt hätte, vielmehr nur solches Gesetzesmaterial nach-
zutragen, welches in den früheren Bänden bereits angekündigt oder
erst nach deren Erscheinen zustande gekommen war. So finden wir
in diesem Schlußbande, neben Nachträgen für Deutschland, Dänemark,
Luxemburg, Schweden und Rußland, vornehmlich die neueste Gesetz-
gebung (1907/09) in Ungarn, Belgien, Spanien, Italien und der Schweiz
behandelt.
Ein dem Schlußbande angefügtes Inhaltsverzeichnis (S. 579/582)
bietet eine nach Bänden geordnete Uebersicht über dieses Nachtrags-
material, während ein weiteres, ebenfalls nach Bänden geordnetes
alphabetisches Verzeichnis die im Gesamtwerk angezogenen, übersetzten
oder abgedruckten Gesetze und Verordnungen in chronologischer Folge
aufführt und so das Auffinden jeder Einzelheit in dem großen Werke
in bequemster Weise ermöglicht.
Daß dieses wegen seiner Sorgfalt, Gründlichkeit und Zuverlässigkeit
mit verschiedenen Ehrenpreisen und auf mehreren Weltausstellungen
durch erste Preise ausgezeichnete Werk für alle, die sich mit dem
Studium und der Förderung der Arbeiterversicherung befassen, und
namentlich für solche, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind,
als Quellenwerk fast unentbehrlich ist, braucht nicht weiter hervor-
gehoben zu werden.
Berlin, Dezember 1909. Dr. Zacher.
Crüger, Hans, Die ersten 50 Vereins- und Genossenschaftstage des allgemeinen
Verbandes der auf Selbsthilfe beruhenden deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaften. Berlin, J. Guttentag, 1910. gr. 8. VI—156 SS. M. 2,25. (Genossen-
schaftliche Zeit- und Streitfragen. Heft 9.)
Herrmann, August, Die Lage der Waldarbeiter in den der Forstordnung
unterworfenen Waldungen in Elsaß-Lothringen. Zabern i. E., A. Fuchs, 1910. gr. 8.
X1I—185 SS. M. 4.—. (Bausteine zur elsaß-lothringischen Geschichts- und Landes-
kunde. Heft 9.)
Kaup, J. (Doz.), Die Ernährungsverhältnisse der Volksschulkinder. Tatsachen und
Vorschläge. Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8. III—44 SS. M. 0,30. (Flug-
schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Heft 4.)
Krueger, Herm. Edwin, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Privatange-
gestellten. 1. Teil. Jena, Gustav Fischer, 1910. 8. 229 SS. M. 1,50. (Schriften der
Gesellschaft für soziale Reform. Bd. III. Heft 6 u. 7.)
Lage, Die wirtschaftliche, der deutschen Handlungsgehilfen im Jahre 1908. Bearb.
nach statistischen Erhebungen des deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, vor-
genommen im Jahre 1908. 1.—3. Tausend. Hamburg, Buchhandlung des D.H.V., 1910.
Lex.-8. XIV—154 SS. M. 2,80.
Lorenz, Jacob, Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der schweize-
rischen Heimarbeit. 1. Heft. Zürich, Grütliverein, 1910. gr. 8. VII—70 SS. M. 1,20.
712 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Neter, Eugen, Der Selbstmord im kindlichen und jugendlichen Alter. Langen-
salza, H. Beyer & Söhne, 1910. gr.8. 2288. M. 0,40. (Beiträge zur Kinderforschung
und Heilerziehung. Heft 70.) KR
Saul, Rud. (Med.-Prakt.), Säuglingssterblichkeit im Großherzogtum Mecklenburg-
Schweriu. Schwerin, Stiller, 1909. 8. 41 SS. mit 6 Taf. M. 1.—.
Wagner-Roemmich, Klaus, Wohnungsfrage und Antikapitalismus. Berlin,
O. Haering, 1910. gr. 8. V—97 SS. M. 2.—.
Wohlfahrtseinrichtungen, Die, von Groß-Berlin. Ein Auskunfts- und Hand-
buch, herausgeg. von der Zentrale für private Fürsorge. 4. Aufl. Berlin, Julius Springer,
1910. 8. XXIV—503 SS. M. 3.—.
Abadie, J., Contribution A l’&tude des questions d’assistance sociale en Algérie.
Alger, impr. Heintz, 1909. 8. 145 pag.
Boeglin, Eugène, Une capitale chrétienne sociale Vienne. Paris, Perrin et C”,
1910. 16. fr. 3,50.
Cormouls-Houlès, Édouard, L’assistance par le travail. Préface de Léon
Bourgeois. Paris, Arthur Rousseau, 1910, 8. 870 pag. fr. 15.—.
Courteault, Henri, Le Bourg-Saint-Andéol. Essai sur la constitution de létat
social d'une ville du midi de la France au moyen âge. Paris, H. Champion, 1909. 4.
XXIV—287 pag.
Lallemand, Léon, Histoire de la charité. Tome 4: Les temps modernes (du
XVI® au XIX” siècle). Partie 1. Paris, A. Picard et fils, 1910. 8. IX—625 pag.
Adderley, James, The parson in socialism. London, R. Jackson, 1910. Cr. 8.
249 pp. 1/.—.
Inchiesta parlamentare sulle condizioni dei contadini nelle provincie meridionali
e nella Sicilia. Vol II (Abruzzi e Molise). Vol. III (Puglie). Vol. IV (Campania).
Vol. V (Basilicata e Calabrie). Vol. VII (Monografie speciali). Tomo III (Dati sulle
finanze locali del Mezzogiorno). Roma, tip. Nazionale, di G. Bertero e C., 1909. 4.
8 voll. XV—300, 40, XV—739, XIX—655, 40, XVI—331, XXVIII—840, XI—
224 pp. 1. 22,50.
Weij, J. J. van der, In Rhijnland en Westphalen. Een sociale reisschets. Ant-
werpen, C. en H. Courtin, 1910. 8. XVI—144 blz. fr. 1,75.
10. Gesetzgebung.
Entwurf einer Reichsversicherungsordnung nebst Begründung. Reichstags-Vor-
lage (Drucksache Nr. 340). Berlin, Carl Heymann, 1910. 4. 299—II—784 SS.
M. 7.—
Henschel, Albert (Magistr.-Assess.), Bankgesetz. Vom 14. III. 1875. Nebst den
Novellen vom 18. XII. 1889, 7. VI. 1899 und 1. VI. 1909. Erläuternde Ausg. Berlin,
Franz Vahlen, 1910. 16. XV—492 SS. M. 4.—.
Langen, A. (Priv.-Doz.), Zum Scheckrecht. Erörterungen über die Rechtslage
des Schecks außerhalb des Scheckgesetzes. Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8. VIII-
140 SS. M. 4.—.
Pesl, D. (Rechtsanwalt), Das Erbbaurecht. Geschichtlich und wirtschaftlich dar-
gestellt. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. 158 SS. M. 3,50.
(De Boelpaepe, H.,) La revision de la loi organique des conseils de prud’hommes
devant le Senat. Bruxelles, veuve Ferd. Larcier, 1910. 8. 23 pag.
Goineau, A., Les retraites ouvrières et paysannes. Loi du 5 avril 1910 annotée
et comınentée. Paris, Marcel Rivière et Ce 1910. 16. fr. 1.—.
Lefort, Jh, La prime en matière d’assurance sur la vie. (Études de jurispru-
dence.) Paris, Fontemoing & Oe, 1910. 8. VIII —120 pag. fr. 3.—.
Loi, La, anglaise de 1908 régissant l’enfance (Children act). Traduction et notes
de Fernand van der Elst, Bruxelles, veuve Ferd. Larcier, 1909. 8. 66 pag. fr. 1,50.
Prins, A., La défense sociale et les transformations du droit pénal. Bruxelles,
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Cosentini, Francesco (prof.), Il socialismo giuridico, con una ricca bibliografia
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recht. (Academisch proefschrift.) Utrecht, P. den Boer, 1909. gr. 8. XX—490 blz.
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Gerland, Heinrich B. (Prof.), Die englische Gerichtsverfassung. Eine syste-
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u. 1 Schaubild im Text. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. IV—80 SS.
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714 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
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1906—31. III. 1907. Darmstadt, Buchhandlung Großh. Staatsverlags, 1909. Lex 8.
32 SS. M. 0,80. — 4. Heft. Stand und Bewegung der Bevölkerung in den einzelnen
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(Reg.-R.) Knöpfel. Ebenda 1909. Lex.-8. 75 SS. M. 1,60.
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1909. Karlsruhe, G. Braun, 1910. Lex.-8. 7 SS. M. 0,75.
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Herausgeg. von der Großherzoglich Hessischen Zentralstelle für die Landesstatistik.
Darmstadt, Buchhandlung Großh. Staatsverlags, 1909. Lex.-8. 47 SS. M. 0,50.
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und die Bevölkerungs-Aufnahme vom 1. Dezember 1905 in der Stadt Berlin und 29
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Agricoltura, Industria e Commercio. Ufficio del Lavoro.) Roma, Officina Poligrafica
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donne e dei fanciulli (1° luglio 1903—25 luglio 1907) presentata dal Ministro di Agri-
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1909. (Ministero di Agricoltura, Industria e Commercio. Ufficio del Lavoro.) Roma,
tipogr. della Camera dei Deputati, 1909. 4. 208 pp. (Estratto dagli Atti Parlamentari.
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Duch& de Luxembourg.) Luxembourg, impr. Charles Beffort, 1910. 8. 7—497 pag.
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Hollerich, Arsdorf, Mertert, Rodenburg und Klerf. 2. Teil. Wohnungsstatistik. (Groß-
herzogtum Luxemburg.) Luxemburg, Druck von P. Worr&-Mertens, 1909. 8. 319 SS.
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burg. Ebenda 1910. 8. 11 88.
Die periodische Presse des Auslandes. 715
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M. 3,50.
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Torino, fratelli Bocca, 1910. 8. XV—434 pp. l. 12.—. (Biblioteca antropologico-
giuridica, serie I, vol. XL.)
Niceforo, A. (prof.), Antropologia delle classi povere. Milano, F. Vallardi, 1910.
8. 288 pp. 1. 8.—.
Die periodische Presse des Auslandes.
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de Colbert, II, par A. Arnauné. — L’Éthiopie et l’expansion européenne en Afrique
orientale, II, par R. Ferry. — La propriété artistique et littéraire et la Conférence de
Berlin (1908), II, par Léon Poinsard. — L’organisation municipale dans les villes de la
Pologne russe, par Henri Vimard. — ete.
Bulletin de statistique et de législation comparée. 34° année, février 1910:
France: Les produits de enregistrement, des domaines et du timbre constatés et re-
couvrés en France pendant lexercice 1908. — Les opérations de la Banque de France
en 1909. — Autriche-Hongrie: Le projet de budget hongrois pour 1910. — États-Unis :
Le rapport du Sécretaire du Trésor. — ete.
Journal des Économistes. 69° année, mars 1910: Guerre de tarifs, par G. de Mo-
linari. — Conceptions économiques et juridiques du socialisme, par Yves Guyot. — Le
tarif américain et la France, par Dean B. Mason. — Les inscrits maritimes et la marine
marchande, par Georges de Nouvion. — D’état actuel de la question des retraites
ouvrières en France, par Maurice Bellom. — Le Japon et ses finances, par Yves Guyot.
— etc. .
Réforme Sociale, La. 30° année, N° 102, 16 mars 1910: La conciliation et Par-
bitrage, I, par G. Olphe-Galliard. — Le travail de nuit dans les boulangeries, communi-
cation de Bouteloup, et observations de A. des Cilleuls, etc. — Les boucherons de Vaux-
716 Die periodische Presse des Auslandes.
en-Dieulet (Ardennes). Participation aux bénéfices et caisse de prévoyance, par Roger
Graffin. — La Normandie rurale, par Paul Doin. — ete. — N° 103, 1” avril 1910:
L’Union des agriculteurs dans le Grand Duché de Posen, par le Comte Alexandre Szembek.
— La conciliation et l’arbitrage, II, par G. Olphe-Galliard. — Le socialisme municipal
par Henry Clement. — etc.
Revue d’£conomie Politique. 24° Année, N° 3, Mars 1910: Aperçu de l'histoire
des monaies et du commerce d’argent en France, par E. Levasseur. — Le machinisme
et le chômage (suite et fin), par G. Olphe-Galliard. — Chronique commerciale, par Léon
Polier. — ete.
Revue internationale de Sociologie. 18° Année, N° 2, Février 1910: Emile Cheysson,
par Rene Worms. — De l’intolerance comme phénomène social, par Raoul de la Grasserie.
— Société de Sociologie de Paris, séance du 12 janvier 1910: Les types professionnels:
le colonial. Communication de L. Aspe-Fleurimont. Observations du colonel Lebas, ete.
— etc.
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Century, The nineteenth, and after. No. 398, April 1910: The greatest social
problem and its solution, by Ellis Barker. — The case for the working mother, by
Allice 8. Gregory. — England and Germany: how to meet the crisis, by Sir Edmund
C. Cox. — etc.
Journal of the Institute of Bankers. Vol. XXXI, Part IV, April, 1910: Gilbart
Lectures, 1910, II and III, by Sir John Paget: Stamping bills of exchange payable on
demand; Stamping assignment of debt; Standing orders for periodical payments; ew.
— etc.
Journal, The Economic. No. 77, March, 1910: Tax reform movement in the
United States, by (Prof.) Carl Plehn. — Assessment of weekly and monthly tenancies
for local taxation, by F. O. Lyons. — Organisation of consumption, by J. S. Furnivall.
— True cost of secondary education for girls, by Ruth Young. — Lot meadow customs
at Yarnton, Oxon, by R. H. Gretton. — etc.
Journal of the Royal Statistical Society. New Series, Vol. LXXII, Part II,
March, 1910: Urban vital statistics in England and Germany, by A. W. Flux. —
Methods of crop reporting in different countries, by Ernest H. Godfrey. — The statistice
of wages in the United Kingdom during the nineteenth century. (Part XVII.) The
cotton industry, III, by George Henry Wood. — Prices of commodities in 1909, by
A. Sauerbeck. — ete.
Review, The Fortnightly. N° 520, April, 1910: The people and their vote, by
Stephen Reynolds. — England’s peril: invasion or starvation, by Archibald Hurd.
— etc.
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Handelsministerium. Jahrg. V, Heft 1, Januar 1910: Ergebnisse der zehnjährigen
Förderung der Fabriksindustrie. — Die industriellen Interessenvertretungen in Ungarn.
— Die ungarische Schiffahrt und der Hafen von Fiume. — Ergebnisse der Arbeiter-
versicherung. — etc. — Heft 2, Februar 1910: Die Großindustrie Ungarns von 1595 bis
1906. Aus der neuen Ausgabe der Denkschrift des ungarischen Handelsministeriums. —
Die Förderung der ungarischen Hausindustrie. — etc.
Monatschrift, Statistische. Herausgeg. von der k. k. Statistischen Zentral-
Kommission. Neue Folge. Jahrg. XV, 1910, Februar-März-Heft: Untersuchungen über
die Entwicklung der Straffälligkeit in Oesterreich, von Hugo Forcher. — etc.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amt im Handels-
ministerium. Jahrg. XI, Nr. 2, Februar 1910: Vorentwurf eines Strafgesetzbuches
(Oesterreich). — Arbeitsbeirat (Oesterreich). — Handlungsgehilfengesetz (Oesterreich).
— Krankenversicherung (Norwegen). — ete.
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Bd. 19, 1910,
Heft 1 u. 2: Zur Theorie der Armut, von Chr, J. Klumker. — Ueber Kinderschutz
‘Die periodische Presse des Auslandes. 717
und Volksvermehrung, von Alois Epstein. — Zur Finanzstatistik der autonomen Selbst-
verwaltung in Oesterreich, von Paul Grünwald. — Die Mutterschaftsversicherung in
Deutschland und Oesterreich, von Alfons Fischer. — Allotments und Small Holdings
in England, von Karl RüZicka. — Die englische Finance Bill von 1909, von Ernst Frei-
herr v. Plener. — etc.
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Giornale degli Economisti e Rivista di Statistica. Serie III, Anno XXI, Gennaio
1910: L’opera scientifica di Leone Walras, di Vilfredo Pareto. — Le forme moderne
dell’ impresa industriale e commerciale, di Gino Arias. — Sulle municipalizzazioni, di
' Attilio Cabiati. — L’applicazione della matematica all’ economia, di Luigi Amoroso. —
La questione sociale risoluta coll’ aviazione, di Umberto Ricci. — Tavole di criminalità
e di recidività, di Giorgio Mortara. — Prezzi e consumi, di Corrado Gini. — La XII
Sessione dell’ [stituto internazionale di Statistica, di Alberto Beneduce. — etc.
Rivista internazionale di scienze sociali e discipline ausiliarie. Anno XVIII,
Gennaio 1910: Le classi agricole e le loro organizzazioni sociali ed economiche nel
Ferrarese, di Giulio Gennari. — La sintesi economica, di Giuseppe Goria. — etc. —
Febbraio 1910: Le classi agricole e le loro organizzazioni sociali ed economiche nel
Ferrarese, di Giulio Gennari. — Statistiche economiche e moderni problemi scientifici,
di Eugenio Anzilotti. — etc.
Rivista italiana di sociologia. Anno XIV, fasc. 1, Gennaio-Febbraio 1910:
L’elemento sociale nella proprietà, di C. Calisse. — I liberi pensatori dell’ Islamismo,
di J. Pizzi. — La caccia nell’ antico diritto germanico, di E. Loncao. — Del metodo
nell’ insegnamento della statistica, di G. Ferroglio. — ete.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. 59° jaarg., 1910, maart:
Gedwongen pensionneering van ambtenaren op vooraf bepaalden leeftijd, I, door (Prof.)
P. van Geer. — Het vraagstuk der economische organisatie, I, door J. J. M. H. Nyst.
— etc.
H. Schweiz.
Bibliothèque universelle et revue suisse. N° 172, Avril 1910: L’empire japonais
d’après une récente publication, par Louis Leger. — etc.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XVII, 1909,
Heft 21: Die Förderung des Arbeitsnachweises durch den Bund, von Anderegg. —
Staatliche Arbeitslosenfürsorge in Deutschland. — etc.
Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 32, März 1910: Die Lage
der Fabrikarbeiterinnen in Deutschland, von F. Imle. — Die Heimarbeit in der Stickerei
im Kanton St. Gallen, von A. Burkhardt. — Stadtseelsorge und Sozialreform, von (Prof.)
J. Beck. — ete.
Zeitschrift für Schweizerische Statistik. Jahrg. 46, 1910, Bd. 1, Lieferung 2:
Das schweizerische Bankwesen in den Jahren 1906 bis 1908, vom statist. Bureau d.
Schweizerischen Nationalbank. — Kurze Angaben über die Verwendung des zur Be-
kämpfung des Alkoholismus in der Schweiz bestimmten Alkoholzehntels bis Ende 1908,
von B. Hildebrand. — Die Entwicklung des Schulturnens im Kanton Glarus, von
(Schulinspektor) Eugen Hafter. — etc.
L ‚Belgien.
Revue Économique internationale 7° Année, Vol. I, N° 3, Mars 1910: Les
conséquences économiques de la décroissance de la natalité, par Charles Gide. — L’entente
hollando-belge et ses travaux, par J. des Cressonni®res. — La Banque d’Italie, par (Prof.)
A.-J. de Johannis. — Le Brésil et l’enseignement agricole, par Armand Ledent. — La
depopulation de la France, par G. de Contenson. — La Croatie-Slavonie. Situation
économique actuelle, par René Gonnard. — Aperçu sur les progrès de la colonisation
frangaise, par Ren& Vauthier. — etc.
M. Amerika.
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No. 3, March 1910: The Tariff of 1909, III, by H. Parker Willis. — The rationality
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D. R. Scott. — etc.
718 Die periodische Presse Deutschlands.
Political Science Quarterly edited for the Academy of Political Science in
the eity of New York by the Faculty of Political Science of Columbia University.
Vol. XXV, Nr. 1, March, 1910: Private conscience and corporate right, by Joseph
B. Ross. — Congress and the Supreme Court, by Harold M. Bowman. — The Payne-
Aldrich tariff, by George M. Fisk. — Municipal government in Porto Rico, U, by
W. F. Willoughby. — Monetary experience of the Argentine, by Isaac Grinfeld. — The
British Budget and social reform, by George Paish. — ete.
Die periodische Presse Deutschlands,
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft. Jahrg. 43, 1910, Nr. 3: Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch,
von (Prof.) August Köhler. — Die Korbwarenindustrie in Oberfranken, von Hans
Heine. — etc.
Archiv für innere Kolonisation. Bd. II, Heft 2, Februar 1910: Ansiedlung-
politik und Städteentwicklung, von Fritz Vosberg. — Die Ansiedlung von Arbeitern
durch die Preußische Staatsforstverwaltung, von (Oberförster) Röhrig. — Die Landbank
außerhalb ihres Wirkens im neuen Rentengutsbildungsverfahren, von Paschke. —
Deutschlands Auswanderung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Ansied-
lungen in Brasilien, von A. W. Sellin. — ete.
Archiv für Rassen- u. Gesellschafts-Biologie. Jahrg. 7, Heft 1, Jan. u. Febr.
1910: Weitere Beiträge zur Theorie der Vererbung, von Wilhelm Weinberg. — Allerlei
Fragen der menschlichen Fortpflanzungshygiene. Einfluß von Geburtenzwischenraum,
Unehelichkeit und Späterzeugung auf die Konstitutionskraft der Kinder, von Fr. von
den Velden. — ete.
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Bd. XXX, Heft 2, März-Heft
1910: Studie zur schleswig-holsteinischen Agrarstatistik, von Ferdinand Tönnies. — Das
Gesetz des abnehmenden Bodenertrages im landwirtschaftlichen Betriebe, I, von (Prof.)
Joseph Esslen. — Wirtschaftsführung und Haushaltungsaufwand deutscher Volksschul-
lehrer, von Wilhelm Gerloff. — Kritische Bemerkungen zum österreichischen Gesetz-
entwurf einer Sozialversicherung, von Arthur Salz. — Sozialdemokratische Pfarrer, von
(Prof.) Karl Vorländer. — Nochmals „Marx oder Kant?“ Von G. v. Schulze-Gaevernitz.
— Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1909, von Emil Lederer. — etc.
Archiv für Volkswohlfahrt. Jahrg. 3, Heft 6, März 1910: Die zweite amtliche
Denkschrift zur Privatbeamtenversicherung, von Otto Meltzing. — Neuere Literatur zur
Jugendfürsorge-Gesetzgebung, von (Amtsgerichtsr.) J. F. Landsberg. (Schluß.) — Zur
Chronik der Volkswohlfahrtspflege im Jahre 1908, von Oscar Neve. (Forts.) — ete.
Bank, Die. 1910, 4. Heft, April: Eine währungspolitische Lektion, von Alfred
Lansburgh. — Staatssozialistische Verwirklichungen, von Felix Pinner. — Theorie und
Praxis im Aktienwesen, von Ludwig Eschwege. — Die Berliner Banken im Jahre 1909,
von A. L. — etc.
Blätter, Kommunalpolitische. Jahrg. 1, Nr. 3, März 1910: Die Neuregelung
der Aachener Finanzen, von A. Hommerich. — Die Frage der Ausgestaltung der öffent-
lichen Arbeitsnachweise, von J. Giesberts. — etc.
Blätter für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Jahrg. 5,
No. 9, März 1910: Ueber den Schutz der Handarbeit, von Raffaele Musto. — ete. —
Jahrg. 6, No. 1, April 1910: Die Finanzen Persiens, von James Greenfield. — etc.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. IX, Nr. 5: Der Volkswirt als Berufs-
armenpfleger, von F. Bechtold. — Fehler der Berechnung des Kapitalvermögens? Von
W. Claassen. — Zur Handelshochschulfrage, von Rudolf Heydner. — etc.
Export. Jahrg. XXXII, 1910, Nr. 12: Die Weltmarktsstellung der Vereinigten
Staaten von Amerika. — ete. — Nr. 13: Einfuhrscheine. — ete. — Nr. 14: Die Er-
schwerung der dänischen Vieheinfuhr. — ete. — Nr. 15: Ueber die Wirkungen der
neuen Handelsverträge. — ete.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 140, Heft 1, April 1910: Wirtschaftliche Ent-
wicklung im Lichte der Technik, von R. Rinkel. — Zur Reichsversicherungsreform,
von (Dr. med.) Schiele. — Zur österreichischen Polen-Politik, von Franz Zweybrück.
— etc.
Die periodische Presse Deutschlands. 719
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXIX, 1910, Nr. 12: Der Kampf
gegen den Terminhandel in Nordamerika, von Moritz Schanz. — Der Entwurf der
Reichsversicherungsordnung. — ete. — Nr. 13: Eisenbahnfinanzen und Verkehrserleich-
terungen, von O. Ballerstedt. — ete. — Nr. 14: Die Reservefonds der Berufsgenossen-
schaften. — ete. — Nr. 15: Der neue französische Zolltarif, Deutschland und Belgien,
von O. Ballerstedt. — ete. — Nr. 16: Centralverband Deutscher Industrieller. Dele-
giertenversammlung vom 12. Apr. 1910. — etc.
Kultur, Soziale. Jahrg. 30, April 1910: Ausbildungskurse in der Armenpflege,
von (Generalsekretär) J. Weydmann. — Landwirtschaft und Reform der Rheinischen
Landgemeindeordnung, von Karl Müller. — Ludwig Freiherr v. Vincke, von Franz
Schmidt. — etc.
Medizin, Soziale, und Hygiene. Bd. V, 1910, Nr. 3: Die Regelung des ge-
meindeärztlichen Dienstes, von A. Gottstein. — Pflegeversicherung bei Geisteskranken,
von (Med RI Max Fischer. — etc.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. 1910, Nr. 6: Die deutsch-japanischen
Handelsbeziehungen. — Der deutsche Soyabohnenzoll, von O. — ete. — Nr. 7: Ameri-
kanische Handelspolitik. — Nachklänge der englischen Tarifreformdebatte, von Glaser.
— etc.
Monatshefte, Sozialistische. 1910, Heft 5: Parlament und Parlamentsreform,
von Karl Leuthner. — Der neue Arbeitskammergesetzentwurf, von Karl Severing. —
Kolonisation und Kultur, von Gerhard Hildebrand. — Staatliche und kommunale Woh-
nungsfürsorge, von Hermann Mattutat. — ete. — Heft 6: Kommunismus und Sozialis-
mus, von Edmund Fischer. — Lohnstatistik, von Friedrich Kleeis. — etc. — Heft 7: Wahl-
rechtsvorlage und Herrenhaus, von Leo Arons. — Die sozialen Reformen in Südamerika,
von Manuel Ugarte. — etc. — Heft 8: Die genossenschaftliche Internationale, von Hans
Müller. — Die Potenz politischer Massenstreiks, von Eduard Bernstein. — Probleme des
Munizipalsozialismus, von Hugo Lindemann. — ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXVII, 1910, No. 1420: Nordamerika-
nischer Handelschauvinismus. — ete. — No. 1421: Schätzung und Besteuerung von
Einkommen und Vermögen. — etc. — No. 1422: Zur Entwicklung der Großbanken.
— etc. — No. 1423: Die Berliner Großbanken im Jahre 1909, von Robert Franz. —
ete. — No. 1424: Reichsanleihen und preußische Staatsanleihen, von K. Bottke. — Zur
Kritik der Bankbilanzen. — Zur Gründung einer deutschen Kommunalbank. — etc.
Plutus. Jahr 7, 1910, Heft 13: Nordamerikanische Eisenbahnkönige, von Ernst
Schultze-Großborstel. — ete. — Heft 14: Bestrafung des Postscheckverkehrs, von Heinz
Potthoff. — ete. — Heft 15: Unsere Großbanken, I, von G. B. — etc. — Heft 16:
Neugründungen und Kapitalserhöhungen, von Richard Calwer. — etc.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 15, Nr. 3, März 1910:
Erfahrungen aus der Praxis mit dem Patent- und Gebrauchsmustergesetz, von Ed. Bres-
lauer. — Die Generalklausel des neuen Wettbewerbsgesetzes, von (Rechtsanwalt) Alfred
Rosenthal. — etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 35, April 1910: Was sollen wir essen, womit sollen
wir uns kleiden? Von (Prof.) Rubner. — Tod und Leben, von (Prof.) A. Ewald. —
Die Notwendigkeit der allgemeinen Fortbildungsschule in Preußen, von (Geh. Reg.-R.)
Fritz Kalle. — ete.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. IX, No. 1, April 1910: Zur Entwick-
lungsgeschichte der Rassen- und National-Charaktere, von Albert Reibmayr. — Die
weiße Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Zukunft, von Hans
Fehlinger. — etc.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 7, April 1910: Die deutsch-englischen
politischen Beziehungen vom Jahre 1870 bis zur Gegenwart, von Felix Salomon. — ete.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1910, Heft 4, April: Die diesjährige Kolonial-
bahn-Vorlage, von... — Die Diamantenregie, I, von W. Regendanz. — Nochmals die
Ausweisung aus den Schutzgebieten, von (Prof.) Max Fleischmann. — etc.
Rundschau, Masius. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XXII, 1910, Heft III/IV: Das Versicherungswesen im Jahre 1909. — Die Hagel-
versicherung des 18. Jahrhunderts in Deutschland. (Schluß.) — ete.
Sozial-Technik. Jahrg. IX, Heft 7: Die technische Unfallverhütung. Ihre
Notwendigkeit, Erfolge und Ziele, von Ernst Barten. — ete. — Heft 8: Zur Frage der
Verringerung der Zahl der Unfälle und der Unfullrentenlast, von (Gewerbe-R.) Willner.
720 Die periodische Presse Deutschlands.
— Die eigenen Heilstätten der Versicherungsträger in der Invalidenversicherung, von
Rud. Ludw. Arnold. — ete.
Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte. Bd. VII, 1910,
Heft 1: Die Entstehung der deutschen Ministerialität, von F. Keutgen. — Mark-
genossenschaft und Stadtgemeinde in Westfalen, von K. Haff. — Der Uebergang von
Natural- zu Geldbesoldung an der Kurie, von Ludwig Dehio. — Contribution à la con-
sistance et à la destination des biens nationaux, von Ch. Bournisien. — Kulturgeographie
der deutsch-slavischen Sprachgrenze, von Erwin Hanslik. — Hansische Handelsgesell-
schaften, von Karl Lehmann. — Zwei Beiträge zur Geschichte des Gewerberechts im
Herzogtum Lothringen, von Weyhmann. — ete.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. VI, 1910, Nr. 7: Zur Entwicklung
der Löhne im preußischen Steinkohlenbergbau, von (Dir.) Kuczynski. — Bewertung unà
Verwertung von Erfindungen, von (Patentanwalt) Gustay Rauter. — Die Kritik der
zweiten Denkschrift zur Privatbeamten- Versicherung, von Otto Meltzing. — Die relative
Wertentwicklung in Deutschlands Außenhandel im Jahre 1909, von Böhm. — Die
deutsche Textilindustrie im Jahre 1909, von Apelt. — ete.
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 26: Um die Freiheit der Bauleute, von
August Bringmann. — ete. — Nr. 27: Pflichten ohne Rechte. Ein Beitrag zur gesetzlichen
Stellung der Hausgewerbetreibenden in Preußen, von Eduard Eckardt. — etc. — Nr. 28:
Sozialdemokratie und Oktroi, von Jean Martin. — etc. — Nr. 29: Sisyphusarbeit? Von
Otto Bauer. — ete.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 3, Heft 1, April
1910: Die Bilanz der Reichsbank, von Georg Obst. — Zahlungsunfähigkeit, von Norbert
Lotmar. — etc.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft. Jahrg. XII,
Heft 3, März 1910: Ueber einige Handels-Artikel Deutsch-Ostafrikas, von R. Hermann.
— Die Zuckerindustrie Formosas, von W. K. — Das erste Vierteljahrhundert deutscher
Kolonialwirtschaft, von Moritz Schanz. — Die Eingeborenenfrage und die Regelung der
Rechtsverhältnisse der Eingeborenen in den deutschen Schutzgebieten, von Carl v. Stengel.
— Zur Pomonafrage, von (Gerichtsassessor) Romberg. — etc.
Zeitschrift für soziale Medizin, Säuglingsfürsorge und Krankenhauswesen.
Bd. V, Heft 1, Dezember 1909: Der ungarische Arbeiterschutz, von Heinrich Pach. —
Sterblichkeit und Lebensbedingungen der Säuglinge in den Stadtkreisen M.-Gladbach
und Rheydt und in dem Landkreise M.-Gladbach, von Marie Baum. — Heft 2, April
1910: Die Sterblichkeit im ersten Lebensmonat, von E. Roesle. — Ueber Medizinal-
statistik, von H. Silbergleit. — Ueber die Aufgaben und Berufspflichten der Kreis
wohnungsinspektion in Worms, von Else Conrad. — Süuglingssterblichkeit und Säugling-
fürsorge in Mecklenburg-Schwerin, von H. Brüning. — ete.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Neue Folge. Jahrg. 1, 1910, Heft 4: Politik
und Nationalökonomie, III, von L. Pohle. — Die Verwaltung der Freien Gewerkschaften
in Deutschland, I, von Bernhard Schildbach. — Beiträge zur Theorie des Kapitalzinses,
IV, von H. Oswalt. — etc.
Zeitschrift des Königlich Preußischen Statistischen Landesamts. Jahrg. 50, 1910,
Abt. 1: Einige Ergebnisse der „Statistik über den Schuldenstand der preußischen Städte
und größeren Landgemeinden am 31. März 1906“, von Oskar Tetzlaff. — Die Gesell-
schaften mit beschränkter Haftung in Preußen, im Jahre 1908, von F. Kühnert, — etc.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. 30, Heft 6, 1910: Zum
Vorentwurf eines Reichs-Strafgesetzbuches, von W. Mittermaier. — Die Besteuerung
des Verbrechens, von (Amtsrichter) Brenske. — etc.
Zeitschrift für die gesamte Versicherungs-Wissenschaft. Bd. X, Heft 2, April
1910: Grundlagen der Streikversicherung, von Meltzing. — Die Reform der preußischen
Feuerversicherungs-Sozietäten, von Schmidt. — Die Mutterschaftsversicherung vom
Standpunkte der Versicherungs-Wissenschaft, von (Direktor) Marschner. — etc.
Frommanas-he Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena.
M. Wagner, Die Reichsversicherungsordnung. 721
vil.
Die Reichsversicherungsordnung.
Von
Dr. M. wagner Berlin,
Man kann dem Reichsamt des Innern nur Dank dafür wissen,
daß es im vorigen Jahre mit einem Plan über die künftige Gestal-
tung der Reichsversicherung an die Oeffentlichkeit getreten ist. Auf
diese Weise war den beteiligten Organisationen, den Versicherungs-
trägern sowie der sozialpolitischen Wissenschaft reichlich Gelegenheit
geboten worden, den Entwurf einer eingehenden Kritik zu unter-
ziehen. Und man kann sagen, daß die Kritik von allen Seiten recht
scharf ausgefallen ist. Kaum war der Entwurf der Oeffentlichkeit
übergeben, da kam in die verschiedenen Versicherungsträger eine
Bewegung hinein, die durch ihre Intensität und durch die Schnellig-
keit, mit der sie sofort nach dem Erscheinen des Entwurfes ent-
facht wurde, den besten Beweis dafür erbrachte, wie sehr die Arbeiter-
versicherung ein Bestandteil des gesamten deutschen Wirtschaftslebens
geworden ist. Recht auffällig war dabei, daß die Versicherungs-
träger selbst, aus deren Kreisen in früheren Jahren hier und da der
Wunsch nach einer eigentlichen Zusammenlegung laut geworden war,
nicht nur von einer Verschmelzung nichts wissen wollten, sondern
auch der „Annäherung“ der drei Versicherungszweige recht skeptisch
gegenüberstanden. Wie ein roter Faden zog sich durch all die
vielen Kongresse, Vorträge und Abhandlungen der Gedanke hin-
durch, daß die Träger der drei Versicherungszweige unter allen
Umständen ihre Selbständigkeit gewahrt wissen wollten. Mit be-
sonderem Nachdruck geschah dies namentlich von seiten der Orts-
krankenkassen und der Berufsgenossenschaften. Man konnte auch
die Beobachtung machen, daß die Stellungnahme der sozialpolitischen
Wissenschaft sich in demselben Rahmen bewegte und sich über-
wiegend auf den Standpunkt stellte, daß von einer Verschmelzung
der drei Versicherungszweige abzusehen sei, daß vielmehr danach
gestrebt werden müsse, eine Annäherung der drei Versicherungs-
zweige und eine Vereinfachung in organisatorischer und materieller
Beziehung zu erreichen. Inwieweit die von den verschiedenen Ver-
Drit'e Folge Bd. XXXIX (XCIV). 46
722 M. Wagner,
sicherungsträgern geäußerten Wünsche und Bedenken in dem nun-
mehr dem Reichstage unterbreiteten Bundesratsentwurf!) berück-
sichtigt worden sind, wird in den nachfolgenden Zeilen des näheren
dargelegt werden ?).
Schon äußerlich macht die Reichsversicherungsordnung den Ein-
druck, daß der Bundesrat es mit seiner Beratung und Beschluß-
fassung sehr ernst genommen hat. Die Begründung zu dem Gesetz-
entwurf hat einen außerordentlichen Umfang angenommen, geht
sehr eingehend auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfes ein und
bemüht sich, die von den Versicherungsträgern sowie von der sozial-
politischen Wissenschaft gemachten Einwendungen in ihrem pro und
contra richtig abzuwägen. Recht merkwürdig muß es allerdings an-
muten, wenn auch in der Begründung des neuen Entwurfes die Be-
merkung des ersten Entwurfes wiederkehrt, es werde nicht an
Stimmen fehlen, die unter Hinweis auf die wirtschaftliche Gesamt-
lage und die erhöhten Anforderungen, welche an das Reich und
Staat und an die Steuerkraft der Nation gestellt werden müßten,
den gegenwärtigen Zeitpunkt als weniger geeignet für eine Aus-
dehnung sozialer Maßnahmen erklärten. Dieser Hinweis war bei
dem ersten Entwurf recht wohl angebracht, denn er erschien mitten
in den Kämpfen um die Reichsfinanzreform. Vielleicht beruht die
Wiederholung auf einem bloßen Versehen, vielleicht hat der Vater
des Gesetzentwurfes in der Ueberzeugung, daß auch trotz der „großen
Finanzreform“ die Finanzkalamität nicht aufhören wird, die Einwen-
dung bei dem Neudruck stehen lassen. Wie dem auch sei, der
Gesetzentwurf ist nunmehr an den Reichstag gelangt und alle mał-
gebenden Instanzen sind sich darüber einig, daß die Beratung dieses
so überaus wichtigen Gesetzes mit der erforderlichen Intensität in
Angriff genommen werden muß).
Bezüglich der allgemeinen Ziele der Reform bleibt auch
der neue Gesetzentwurf auf dem Standpunkte stehen, daß eine Zu-
sammenlegung der drei Versicherungszweige nicht opportun sei und
von den Versicherungsträgern auch nicht gewünscht werde. Statt
der Verschmelzung will die Reichsversicherungsordnung unter Wah-
1) Vgl. Entwurf einer Beichsversicherungsordnung nebst Begründung. Drucks.
des Reichstags, No. 340. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1910. Preis 7 M. Das erste
Buch enthält außer den allgemeinen Grundzügen der Organisation gewisse Vorschriften,
die für alle Träger und Zweige der Versicherung übereinstimmen, sowie Begriffsbe-
stimmungen. Es regelt ferner die Verhältnisse der Versicherungsbehörden. Das zweite,
dritte und vierte Buch bringen die besonderen Vorschriften für die Einzelzweige der
Reichsversicherung in der Reihenfolge ihres geschichtlichen Entstehens, also für Kranken-
versicherung, Unfallversicherung, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung. Dabei
wird das Buch über Unfallversicherung in drei Teile gegliedert, entsprechend den be-
sonderen Verhältnissen der gewerblichen, landwirtschaftlichen und See-Unfallversiche-
rung. Als fünftes und sechstes Buch schließen sich die Vorschriften über die gegen-
seitigen Beziehungen aus den verschiedenen Versicherungszweigen sowie über das Ver-
fahren in den Spruch- und Beschlußsachen an.
2) Vgl. auch meine Abhandlungen „Die Reichsversicherungsordnung‘, Jahrg. 1909,
S. 145—167.
3) Inzwischen ist der Entwurf einer Kommission überwiesen worden.
Die Reichsversicherungsordnung. 723
rung der Selbständigkeit der Versicherungsträger eine gegenseitige
Annäherung erreichen. Als Mittel hierzu soll wiederum das Ver-
sicherungsamt dienen, durch dessen Errichtung der so häufig
verlangte „lokale Unterbau“ verwirklicht werden soll. Die Begrün-
dung des Gesetzentwurfes beschäftigt sich eingehend mit dem von
fast allen Seiten beim Erscheinen des ersten Entwurfes erhobenen Ein-
wand, daß durch die Errichtung eigener örtlicher Versicherungsstellen
in das Versicherungswesen einen ihm bis dahin fremden bureau-
kratischen Zug hineintragen werde. „Diese Sorge war schon gegen-
über dem zuerst veröffentlichten Entwurf unbegründet; noch mehr
gilt dies gegenüber dem Entwurf in seiner vorliegenden Gestalt.
Soweit die Tätigkeit der örtlichen Stelle einen behördlichen oder,
wie bei der Krankenversicherung, einen Aufsichtscharakter trägt,
handelt es sich lediglich um die Uebernahme von Befugnissen, die
in gleicher oder ähnlicher Weise schon jetzt bestehen und nur
anderen Behörden beigelegt sind. Die geltend gemachten Bedenken
gingen denn auch weniger nach dieser Richtung hin; sie wandten
sich vielmehr dagegen, daß die örtliche Stelle bei den eigenen Ver-
waltungsangelegenheiten der großen Versicherungsträger mitbeteiligt
werden sollte, Der ursprüngliche Entwurf wollte ihr hier allerdings
eine in gewissen Grenzen selbständige Mitwirkung zuweisen, wahrte
ihr aber auch dabei den Charakter eines bloßen Hilfsorganes. Sie
sollte nur solche Geschäfte dieser Art übernehmen, welche schon
jetzt überwiegend nicht im Ehrenamte, sondern von angestellten Be-
amten wahrgenommen werden, und der eigenen selbständigen Ent-
schließung der leitenden Organe nirgends vorgreifen. Gleichwohl
hat man dies als einen Eingriff in die Selbstverwaltung bezeichnet.
Ein solcher liegt der Absicht des Entwurfes durchaus fern. Diese
ging und geht nur dahin, den Versicherungsträgern bei ihren Auf-
gaben da eine Unterstützung zu bieten, wo sie ihnen selbst will-
kommen ist, nicht aber, sie ihnen aufzudrängen. Die jetzige Fassung
des Entwurfs bringt dies klar zum Ausdruck: in eigenen Verwal-
tungssachen der Versicherungsträger, namentlich bei der Kontrolle
der Beitragsentrichtung und bei der Ueberwachung der Leistungs-
empfänger, wirkt danach die örtliche Stelle nur dann mit, wenn der
Versicherungsträger selbst es beantragt oder zustimmt.“ (Motive.)
Daß die Einwendungen der Versicherungsträger mit dieser Be-
gründung des Gesetzentwurfes so ohne weiteres als beseitigt gelten
können, kann mit Fug und Recht nicht behauptet werden. Daß
die Versicherungsträger, namentlich die Berufsgenossenschaften,
durch das Auftauchen des Versicherungsamtmannes für ihre bis-
herige Selbstverwaltung befürchteten, ist an sich begreiflich. Denn
gerade die Berufsgenossenschaften sind den Arbeitgebern überaus
lieb gewordene Institutionen und in recht vielen Fällen als die Ge-
burtsstätte wirtschaftlicher Verbände innerhalb des betreffenden In-
dustriezweiges anzusehen. Wenn daher die Reichsregierung die
Berechtigung des von den Versicherungsträgern erhobenen Ein-
wandes anerkennt, indem sie die Befürchtung der „Bureaukrati-
46*
724 M. Wagner,
sierung“ energisch von sich weist, so bleibt allerdings zu beachten,
daß derlei Einwendungen aus der „Bureaukratie“ selbst kommen
und diese erst in der Praxis beweisen muß, daß die von den Ver-
sicherungsträgern erhobenen Bedenken unberechtigt sind. Die Be-
gründung meint, der Entwurf fasse die Beamten, die zurzeit bei der
unteren Verwaltungsbehörde etc. die Geschäfte aus der Arbeiterver-
sicherung erledigten. auf der einen Seite, und die nach $ 61 des
Invalidenversicherungsgesetzes vorhandenen Vertreter der Arbeit-
geber und der Versicherten bei der unteren Verwaltungsbehörde auf
der anderen Seite zu einem Versicherungsamt zusammen, gestalte
dieses Amt etwas aus und betraue einen besonderen Fachbeamten
mit den laufenden Geschäften. In Stadtbezirken, wo jetzt schon
ein besonderer Dezernent für Gewerbewesen oder für Sozialpolitik
mit besonderem Bureau besteht, wird nach Behauptung der Begrün-
dung organisatorisch sehr wenig geändert. In Landbezirken soll
das Versicherungsamt z. B. in Preußen angegliedert werden an die
Kreisverwaltungen, in Bayern an die Bezirksämter etc.
Das Versicherungsamt soll nach den Absichten des Gesetzent-
wurfes überall da als Bindeglied tätig werden, wo der Mangel einer
solchen Verbindung bisher lästig empfunden wurde, so bei der Sorge
für rechtzeitiges Eingreifen und wirksame Durchführung des Heil-
verfahrens. Das Versicherungsamt soll für die Krankenversicherung
die Aufsichtsinstanz, für die Unfall-, die Invaliden- und die Hinter-
bliebenenversicherung den gemeinsamen Unterbau abgeben. Daneben
soll es im allgemeinen alle Aufgaben aus dem Gebiete der reichs-
gesetzlichen Versicherung übernehmen, die nach der geltenden Ge-
setzgebung Sache der unteren Verwaltungsbehörde, der Gemeinde
und sonstiger unterer Instanzen sind, und die Versicherungsträger
bei Durchführung ihrer Aufgaben in der bereits angegebenen Weise
unterstützen. Dabei liegt ihm zugleich für seinen Bezirk ob, un-
entgeltlich über alle Fragen Auskunft zu erteilen, die mit der reichs-
gesetzlichen Versicherung in Verbindung stehen.
Von besonderer Bedeutung ist die Stellung, welche die Reichs-
versicherungsordnung zu der Frage einnimmt, welcher Stelle für die
verschiedenen Versicherungsarten die Rentenfeststellung über-
tragen werden soll. Bekanntlich ist namentlich von seiten der Un-
fallversicherten und der hinter ihnen stehenden Organisationen und
Parteien wiederholt die Forderung erhoben worden, daß die Ver-
sicherten selbst bei der Rentenfeststellung mitwirken müßten. Die
Berufsgenossenschaften haben dieser Anregung entschieden wider-
sprochen, weil sie aus der ausschließlichen Tragung der Unfallver-
sicherungskosten durch die Arbeitgeber für sich das Recht herleiten,
allein über die Rentenfestsetzung zu entscheiden. Der Entwurf des
Reichsamts des Innern war den Wünschen der Versicherten ziemlich
entgegengekommen. Der von den Berufsgenossenschaften und auch
von der sozialpolitischen Wissenschaft erhobene Protest scheint be-
wirkt zu haben, daß der Bundesrat anderer Meinung geworden ist.
Die Begründung des neuen Entwurfs rechnet mit einer doppelten
Die Reichsversicherungsordnung. 725
Möglichkeit: „Entweder beläßt man es dabei, daß der Versicherungs-
träger selbst die nötigen Erhebungen anstellt und den Feststellungs-
bescheid erteilt, erblickt aber, wie bei der Krankenversicherung, in
dieser Tätigkeit des Versicherungsträgers kein instanzielles Vorgehen.
Dann muß das Versicherungsamt in die Stelle der ersten Instanz
einrücken dergestalt, daß der Versicherte es anruft, damit es den
Beschied nachprüft und in einem geregelten Verfahren sowie in
voller Besetzung, also mit Beisitzern aus dem Stande der Arbeit-
geber und der Versicherten, darüber entscheidet. Gegen sein Urteil
steht beiden Teilen die Berufung an die nächsthöhere Instanz, das
Oberversicherungsamt, zu. Oder man verlegt das Zusammenwirken
von Versicherungsträgern und Versicherungsamt schon in die Zeit
vor Erlaß des Bescheides. Dann gestaltet sich das Verfahren folgender-
maßen. Das Versicherungsamt hat den ersten Angriff der Sache.
Es sammelt als unbeteiligte Stelle das ganze erforderliche Material,
gibt dem Versicherten Gelegenheit zum Vorbringen seiner Wünsche
und Beweismittel, verhandelt mit ihm unter Zuziehung von Arbeit-
gebern und Versicherten in paritätischer Besetzung und gibt dann
die gesamten Vorgänge mit einem eigenen Gutachten an den Ver-
sicherungsträger zum Erteilen des Bescheides ab. Gegen den Be-
scheid hat der Berechtigte das Rechtsmittel der Berufung an das
Öberversicherungsamt. Es ist dies im allgemeinen das gleiche Ver-
fahren, wie es schon jetzt in Sachen der Invalidenversicherung geübt
wird, nur mit der sehr wesentlichen Maßgabe, daß das ganze Vor-
verfahren vor der Bescheidserteilung in der Hand einer eigenen,
sachkundigen Versicherungsbehörde übergeht“ (Motive).
An sich wäre zweifellos wünschenswert, gleichmäßig für alle
Arten der Rentenfeststellung das gleiche Verfahren zu wählen. Die
Begründung. sagt aber sehr richtig, daß die Träger der Gewerbe-
und der Seeunfallversicherung großen Wert darauf legen, das dem
Bescheide vorangehende Ermittlungsverfahren in der eigenen Hand
zu behalten, und zwar nicht an letzter Stelle „im Interesse der Un-
fallverletzten selbst“. Tatsächlich führt denn auch die überwiegende
Zahl der Bescheide überhaupt zu keinem Streitverfahren, vielmehr
sind die Beteiligten in den meisten Fällen untereinander einig, es
wäre daher recht überflüssig und mehr als „bureaukratisch“, wollte
man da noch eine dritte Stelle zur Mitwirkung heranziehen. Außer-
dem steht die Frage, ob sich die Uebernahme eines Heilvertahrens
empfiehlt, mit der Frage der Ermittlung des Unfalls in engster Be-
rührung. Wenn das Versicherungsamt also die Ermittlungen in die
Hand nimmt, so wird die wünschenswerte Fühlung der Versiche-
rungsträger in der Frage der Einleitung eines Heilverfahrens zum
mindesten gelockert. Damit würde aber auch die präventive Wirkung
der Arbeiterversicherung, auf die gerade in neuerer Zeit mit Recht
so großer Wert gelegt wird, in gewisser Hinsicht illusorisch gemacht.
Ferner muß man auch berücksichtigen, daß die Träger der Unfall-
versicherung sich in ihren Sektionen etc. viel leichter örtliche Organe
schaffen können als die Versicherungsanstalten und infolgedessen
726 M. Wagner,
weniger als diese auf die Mitwirkung einer lokalen Versicherungs-
behörde angewiesen sind. Aus all diesen Gründen kommt der neue
Entwurf dazu, auf die „an sich wünschenswerte Einheit des Ver-
fahrens“ zu verzichten und dasselbe der Eigenart jedes Versiche-
rungszweiges anzupassen. Für das Verfahren in Streitigkeiten über
Entschädigungen aus der Unfallversicherung setzt also die geplante
Reform nach der organisatorischen Seite hin hauptsächlich erst im
Zeitpunkte nach Erlaß des Feststellungsbescheides ein. Allerdings
soll es den Versicherungsträgern — gemeint sind hier namentlich
die Berufsgenossenschaften — freistehen, schon vorher bei dem Ver-
sicherungsamtmann eine gutachtliche Aeußerung einzuholen, sowie
dem Versicherungsamtmann die Führung der Ermittlung zu über-
tragen. „Das Zulassen dieser Möglichkeit entspricht dem schon
hervorgehobenen Charakter des Versicherungsamtes als eines Hilfs-
organs der Versicherungsträger; sie ist auch von dem Standpunkte
der letzteren aus völlig unbedenklich, da es ihrer eigenen Ent-
schließung überlassen bleibt, davon Gebrauch zu machen oder nicht.
Die Annahme geht wohl nicht fehl, daß damit namentlich für ein-
zelne landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften einem praktischen
Bedürfnisse entsprochen wird. Nach den bisher bekannt gewordenen
Aeußerungen aus berufsgenossenschaftlichen Kreisen wird freilich
auch die Einsetzung des Versicherungsamtes als erste Instanz bei
Unzufriedenheit mit dem Feststellungsbescheide Widerspruch be-
gegnen. Wenn dieser hier und da mit der Behauptung begründet
wird, es entspreche nicht der Stellung großer Körperschaften, wenn
sie der Rechtsprechung einer örtlichen Behörde mit räumlich be-
schränktem Wirkungskreis unterstellt werden, daß auch die höchsten
staatlichen Behörden bei Rechtsstreitigkeiten gleich jedem Privat-
manne vor örtlichen Gerichten, wie den Amts- und Landgerichten,
Kreisausschüssen usw. Recht nehmen müssen. Niemand aber wird
behaupten können, daß dies ihrer Würde nicht entspreche oder ihr
Ansehen beeinträchtige. Dem weiteren Einwande, daß die Versiche-
rungsämter in vieler Beziehung nicht die gleiche Fachkenntnis, wie
die Organe der Versicherungsträger, besäßen, ist schon an früherer
Stelle begegnet worden: das instanzielle Verfahren soll keinen Gegen-
satz zwischen Versicherungsamt und Versicherungsträger zum Aus-
drucke bringen, sondern im Gegenteil dazu dienen, die Kenntnis und
Erfahrung beider zu sachgemäßer Entscheidung zu vereinigen.“
Die verschiedenen Versicherungsträger, namentlich die Berufs-
genossenschaften, verfügen über ein praktisch ausgezeichnet durch-
gebildetes Beamtenpersonal. Die an der Spitze der Berufsgenossen-
schaften ehrenamtlich und besoldet tätigen Personen haben in den
meisten Fällen sozusagen den ganzen Entwicklungsgang mit durch-
gemacht und an der Wiege der Arbeiterversicherung gestanden. Im
Laufe der Jahre haben sie sich eine außerordentliche Detailkenntnis
des materiellen Rechtes und der hierauf bezüglichen Judikatur er-
worben. Das so überaus weite Gebiet der gesamten Arbeiterversiche-
rung, das nicht für sich, sondern in Verbindung mit der gesamten
Die Reichsversicherungsordnung. 727
Volkswirtschaft betrachtet werden muß, läßt es schier unmöglich er-
scheinen, daß das Versicherungsamt resp. der Versicherungsamtmann
über alle einschlägigen Fragen, in denen sich bei den maßgebenden
Persönlichkeiten der Berufsgenossenschaften eine Unkenntnis resp.
Unsicherheit herausstellen sollte, gewissermaßen als unfehlbare Aus-
kunftsstelle betrachtet werden kann.
Es ist vielmehr anzunehmen. daß die betreffenden Beamten der
einzelnen Versicherungsträger, sowohl der Berufsgenossenschaften als
auch der Invalidenversicherungsanstalten und der Krankenkassen, auf
ihrem speziellen Gebiete besser orientiert sein können als der Ver-
sicherungsamtmann. Die von dem Gesetzentwurf erwartete Ver-
billigung durch die Konsultation des Versicherungsamtes dürfte
daher wohl nicht in der erwarteten Weise eintreten. Wenn es tat-
sächlich dazu kommen sollte, daß der Versicherungsamtmann von
den Versicherungsträgern recht viel in Anspruch genommen wird,
dann würde sich von selbst bei dem Versicherungsamtmann das
Gefühl einer gewissen Ueberlegenheit herausbilden, das schließlich
mit einer Bevormundung enden müßte, durch welche das Gespenst
der Bureaukratie zweifellos wieder heraufbeschworen würde. Die
Praxis wird, daran zweifele ich nicht einen Augenblick, meine An-
sicht vollauf bestätigen.
Ueberhaupt wird es von der Persönlichkeit des Versiche-
rungsamtmannes abhängen, ob und inwieweit die Versicherungs-
ämter die Aufgabe in dem Sinne des Entwurfes erfüllen. Die Be-
gründung des jetzigen Entwurfes betont ebenso nachdrücklich wie
der erste Entwurf, daß neben Geschäftsgewandtheit, sozialem Ver-
ständnis und der Fähigkeit, Menschen geschickt und taktvoll zu be-
handeln, der Versicherungsamtmann über ein beträchtliches Maß von
Gesetzeskenntnis und Erfahrung in der Reichsversicherung verfügen
soll. Zu erwägen wäre, ob nicht von den Versicherungsträgern bei
jeder Neubesetzung der Stelle eines Versicherungsamtmannes Vor-
schläge gemacht werden dürfen. Auf alle Fälle ist zu wünschen,
daß dieser Posten einmal nicht als Durchgangsposten, als Sprung-
brett benutzt wird, sodann auch, daß nicht die Stellen überwiegend
mit Assessoren besetzt werden. Denn die rein formal juristische
Ausbildung genügt nicht in einem Beruf, der sozusagen den Puls-
schlag des modernen Lebens zu hören verstehen muß. Die Arbeiter-
versicherung hat viel zu viel Berührungspunkte mit dem praktischen
Leben, als daß hier die gute theoretische Ausbildung allein maß-
gebend sein dürfte. Im engsten Zusammenhang hiermit steht auch
die Kostenfrage des Versicherungsamtes. Die Begründung will, aus-
gehend von dem Doppelcharakter des Versicherungsamtes, insofern
es behördliche Geschäfte und Aufgaben im Interesse der Versiche-
rungsträger und deren Versicherten zu erfüllen oder bei ihnen mit-
zuwirken hat, die Kosten auf die entlasteten Behörden und auf die
Versicherungsträger abwälzen. Der Versicherungsamtmann soll be-
soldet werden von der zuständigen Reichs-, Staats- oder Gemeinde-
behörde. Dasselbe soll gelten von den laufenden Kosten für Ge-
128 M. Wagner,
schäftsräume. Alle übrigen persönlichen und sachlichen Kosten des
Versicherungsamtes sollen den Versicherungsträgern zufallen. Zu
erwägen wäre, ob nicht nach dem Vorschlage des Deutschen Handels-
tages die Kosten derart verteilt werden sollen, daß eine Streitig-
keitsentscheidung bei der Krankenversicherung, eine Streitigkeits-
entscheidung bei der Unfallversicherung und eine Bescheidserteilung
bei der Invalidenversicherung als etwa gleichwertige Verteilungs-
faktoren angesehen werden sollen.
Von sonstigen dem Versicherungsamt übertragenen Befugnissen
sei noch die erwähnt, zu entscheiden, ob Gewohnheitstrinkern Sach-
leistungen gewährt werden sollen. Es dürfte im Interesse der Sache
selber liegen, wenn die Entscheidung hierüber der unteren Verwal-
tungsbehörde übertragen würde, da diese in der Regel über Familien-
verhältnisse ete., die doch hierbei in Betracht kommen, besser Be-
scheid wissen kann als das Versicherungsamt. Genau dasselbe gilt
von der Festsetzung des Ortslohnes und der Ortspreise durch das
Versicherungsamt, die meines Erachtens aus praktischen Gründen
ebenfalls der unteren Verwaltungsbehörde übertragen werden sollten.
Ueber dem Versicherungsamt soll nach dem Vorbilde des ersten
Entwurfes das Oberversicherungsamt stehen. Und zwar soll
dasselbe in der Regel an die höhere Verwaltungsbehörde angegliedert
werden. Die ÖOberversicherungsämter sollen im allgemeinen eine
ähnliche Stelle einnehmen wie z. B. in Preußen die Bezirksausschüsse
bei den Regierungen. Die Zusammensetzung der Schiedsgerichte
aus beamteten Vorsitzenden und aus Laienbeisitzern ist zwar grund-
sätzlich übernommen, aber ziemlich geändert worden. So wird der
Direktor nach dem Entwurf auf Lebenszeit ernannt, ferner wird außer
ihm von vornherein mindestens noch ein Mitglied vorgesehen, das
dauernd im Oberversicherungsamt tätig ist und in der Beschluß-
kammer neben dem Direktor mitwirkt. Wurden die Beisitzer der
Schiedsgerichte allein von den Ausschüssen der Versicherungs-
anstalten gewählt und hatten die Berufsgenossenschaften lediglich
ein Vorschlagsrecht, so will nunmehr die Reichsversicherungsordnung
auch den Berufsgenossenschaften und Krankenkassen eine Mitwir-
kung bei dieser Wahl gewährleisten. So werden die Arbeitgeber-
beisitzer gewählt zur Hälfte durch die Arbeitgebermitglieder im
Ausschuß der Versicherungsanstalt und zur Hälfte von den Trägern
der Unfallversicherung. Die Beisitzer der Versicherten werden durch
die Laienmitglieder aus den Versicherten bei der nachgeordneten
Instanz, also bei den Versicherungsämtern gewählt, die ihrerseits
von den Vorständen der Träger der Krankenversicherung gewählt sind.
Als oberste Instanz bleibt, wie bisher, das Reichsversiche-
rungsamt bestehen, dessen Organisation sich in der Hauptsache
bewährt hat und daher nur wenig Aenderungen erfährt. Ob die von
der Reform in organisatorischer Beziehung erwartete Entlastung des
Reichsversicherungsamtes eintritt, muß erst die Praxis zeigen.
Was die einzelnen Versicherungszweige angeht, so bringt der
Bundesratsgesetzentwurf für die Krankenversicherung die meisten
Abänderungen.
Die Reichsversicherungsordnung. 729
Bezüglich der Erweiterung des Kreises der versiche-
rungspflichtigen Personen bleibt es in der Hauptsache bei
den Vorschlägen des ersten Entwurfes. Es werden also neu ein-
bezogen die landwirtschaftlichen Arbeiter, die Dienst-
boten, die unständigen Arbeiter, die im Wander-
gewerbe Beschäftigten, die Hausgewerbetreibenden
und die in ihren Betrieben Beschäftigten, ferner
Apotheker, Bühnen- oder Orchestermitglieder ohne
Rücksicht auf den Kunstwert ihrer Leistungen, Lehrer
und Erzieher, letztere drei Kategorien für den Fall, daß der
Jahresarbeitsverdienst 2000 M. nicht übersteigt.
Zu erwägen wäre, ob nicht dem Bundesrat die Befugnis ver-
liehen werden soll, Hausgewerbetreibende ohne Rücksicht auf die
Höhe ihres Einkommens von der Krankenversicherungspflicht zu
befreien, wenn sie nur nebenbei und nur in ganz geringem Umfange
tätig sind, so daß also der Verdienst bei weitem nicht zur Be-
streitung des Lebensunterhaltes ausreicht. Ferner wäre zu erwägen,
ob die Zuschüsse der Auftraggeber zur Krankenversicherung der
Hausgewerbetreibenden nicht für alle Gewerbszweige einheitlich zu
berechnen, sondern nach Gruppen von Gewerbszweigen abgestuft
werden sollen.
Die zweite Aufgabe bei einer Reform der Krankenversicherung
sieht auch der neue Entwurf wieder darin, die Uebelstände, die
durch die übermäßige Zersplitterung des Kassenwesens
hervorgerufen worden sind, zu beseitigen. Die Gemeindeversiche-
rung, sowie die Baukrankenkassen, die als Unterarten der Betriebs-
krankenkassen anzusehen sind, sollen verschwinden.
Die bestehenden Betriebskrankenkassen sollen bestehen
bleiben. Ende des Jahres 1908 bestanden 7954 Betriebskranken-
kassen mit 3059725 Mitgliedern, das sind über 25 Proz. der
Krankenversicherungspflichtigen überhaupt. Man kann also sagen,
daß die Betriebskrankenkassen einen recht stattlichen Teil der Ge-
samtsumme der Versicherungspflichtigen ausmachen. Die Betriebs-
krankenkassen haben sich außerordentlich gut bewährt und gehen
in ihren effektiven Leistungen in vielen Fällen ganz bedeutend weiter
als die Ortskrankenkassen. Der Mehrempfang an Krankheitskosten
gegenüber der Leistung des Arbeitnehmers bei den Betriebs-
krankenkassen stellte sich im Jahre 1908 auf 10,11 M., bei den
Baukrankenkassen auf 10,0 M., bei den Ortskrankenkassen dagegen
auf nur 6,40 M. Wenn von seiten der Versicherten wiederholt ein-
gewendet wird, die Betriebskrankenkassen stünden allzu sehr unter
dem Einfluß des Betriebsinhabers, so mag dieser Einwand im ge-
wissen Sinne eine Berechtigung haben. Es ist aber auch zu be-
denken, daß der Betriebsinhaber eine weit größere finanzielle Be-
teiligung hat als etwa ein Arbeitgeber, dessen Arbeiter bei der
allgemeinen Ortskrankenkasse versichert sind. Im übrigen ist zu
beachten, daß das Stimmenverhältnis bei den Betriebskrankenkassen
das gleiche ist wie bei den Ortskrankenkassen, daß also hier mit
gleichem Maße gemessen wird. Ob der Gesetzentwurf mit der Be-
730 M. Wagner,
stimmung, daß die Errichtung einer neuen und die Zulassung einer
bestehenden Betriebskrankenkasse davon abhängig zu machen sei,
daß sie die allgemeinen Ortskrankenkassen und Landkrankenkassen
nicht gefährden, das Richtige getroffen hat, möchte ich bezweifeln.
Außerdem ist auch die Bestimmung, daß die allgemeinen Ortskranken-
kassen und die Landkrankenkassen gegen die Genehmigung der Er-
richtung einer Betriebskrankenkasse das Recht der Beschwerde
haben, außerordentlich bedenklich. Wer die Verhältnisse etwas näher
kennt, für den steht es zweifellos fest, daß die Ortskrankenkassen,
die unter sozialdemokratischem Einfluß stehen, gegen die Errichtung
jeder Betriebskrankenkasse aus rein politischen oder gewerkschaft-
lichen Gründen Beschwerde erheben. Werden doch die Betriebs-
krankenkassen gerade von jener Seite in der allerheftigsten Weise
angegriffen. Neue Betriebskrankenkassen sollen nur dann errichtet
werden können, wenn der betreffende Betrieb mindestens 500 ver-
sicherungspflichtige Arbeiter beschäftigt, allerdings kann die oberste
Verwaltungsbehörde die Mindestgrenze bis auf die Hälfte herab-
setzen. Diese Bestimmung wird von seiten der Arbeitgeber An-
feindungen erfahren.
Die Ortskrankenkassen und Landkrankenkassen
sollen in der Regel für den Bezirk eines Versicherungsamtes er-
richtet werden. Und zwar erstere als allgemeine Kasse. Die be-
ruflichen Ortskrankenkassen sollen also nicht mehr die Regel bilden.
Solche Ortskrankenkassen, die vor Inkrafttreten der Reichsversiche-
rungsordnung für einzelne oder mehrere Gewerbezweige oder Be-
triebsarten errichtet sind, werden als besondere Ortskrankenkassen
bezeichnet, die nur zugelassen werden sollen, wenn die Kasse min-
destens 500 Mitglieder zählt.
Bezüglich der Errichtung von Innungskrankenkassen ist
zu erwähnen die Hinzufügung einer neuen Voraussetzung zu den
bisherigen, daß nämlich ihre Leistungsfähigkeit für die Dauer sicher
sein mul.
In der Frage der Reorganisation der inneren Ver-
waltung der Krankenkassen beharrt der jetzige Entwurf genau so
wie der erste Entwurf auf der Forderung, daß unberechtigte äußere
Einflüsse unbedingt ferngehalten werden müssen. Es ist zweifellos
festzustellen, daß eine ganze Reihe von großen Ortskrankenkassen
unter dem politischen Einfluß der Sozialdemokratie stand oder
daß sie doch wenigstens hier und da als Agitationsstätten benutzt
worden sind, was zum großen Teil auch in persönlichen Verhält-
nissen, in der Besetzung der Aemter etc. seinen Grund hat. Bei
den Verhandlungen im Bundesrat soll gerade diese Frage eine
heftige Diskussion entfacht haben, Preußen soll jedoch fest auf
seinem bisherigen Standpunkt verharrt haben. Es ist mit Sicher-
heit zu erwarten, daß auch im Reichstag über die Hälftelung der
Beiträge und die hieraus sich ergebende Verteilung der Rechte und
Pflichten die heftigsten Kämpfe entstehen werden, wie schon aus der
ersten Lesung des Entwurfes hervorgegangen ist. Die Parteien
pr
Die Reichsversicherungsordnung. 131
des Reichstags sollten sich nicht leiten lassen von der Ansicht
der hinter ihnen stehenden Massen, die von politischen Rücksichten
diktiert ist, sondern sollten unter Ausschaltung aller parteipolitischen
Momente die Frage von dem Gesichtspunkt prüfen, welche Mittel
organisatorischer Art die objektive Durchführung der Kranken-
versicherung am besten garantieren. Man kann recht häufig auf
seiten der Versicherten, namentlich soweit dieselben unter gewerk-
schaftlichem oder politischem Einfluß stehen, die Ansicht vertreten
hören, die Beiträge der Versicherten zur Arbeiterversicherung seien
schließlich weiter nichts als „vorenthaltene Lohnbeträge“, mit anderen
Worten, der Versicherte brauche überhaupt keine Beiträge zu zahlen.
Daß eine mögliche Erfüllung einer solchen Forderung auch eine
anderweitige Verteilung der Pflichten mit sich bringt, wird von
jener Seite nicht gewürdigt, wie denn auch jetzt zwar die Hälftelung
der Beiträge als selbstverständlich hingenommen wird, ohne daß be-
züglich der entsprechenden Verteilung der Rechte und Pflichten ge-
nau mit demselben Maß gemessen wird.
Die Begründung des Entwurfes meint, nach früheren Aeuße-
rungen der Arbeitgeberschaft wäre die Annahme berechtigt gewesen,
sie würde die höhere Beitragslast willig in Kauf nehmen.
Neuerdings scheine aber in einzelnen Teilen des Unternehmertums
ein gewisser Umschwung eingetreten zu sein. Etwas Aehnliches
habe man schon des öfteren beobachten können, wenn die Regie-
rung daran ginge, dringliche Anregungen, die zunächst von allen
Seiten gegeben worden seien, in die gesetzgeberische Tat umzusetzen.
Es wird aber erhofft, daß die Arbeitgeber sich „nach Ueberwinden
des ersten Widerstrebens nicht nur mit der Belastungsfrage ab-
finden, sondern auch die Vorteile dieser Maßregel der Reform
schätzen lernen. Die Abneigung gegen die Uebernahme der halben
Beiträge beruht nicht auf der Sorge vor der Mehrlast allein, sondern
weit mehr auf der Gleichgültigkeit, die ein großer Bruchteil der
Unternehmer zurzeit dem ganzen Kassenwesen entgegenbringt. Hat
diese ihren Grund wesentlich in der besprochenen ungünstigen
Stellung, die den Arbeitgebern beim Mitwirken in den Kassen-
angelegenheiten zugewiesen ist, so wird sie zugleich mit deren Auf-
besserung aller Voraussicht nach allmählich schwinden.“
Die Begründung hat ganz recht, wenn sie meint, bei den Arbeit-
gebern sei eine außerordentliche Gleichgültigkeit vorhanden gewesen.
Es wird nur vergessen, daß diese Gleichgültigkeit ihre Ursache in
der bisherigen gänzlichen Einflußlosigkeit der Arbeitgeber in den
Kassenorganen hat. Auch wenn die Arbeitgeber sich in der inten-
sivsten Weise um das Kassenwesen gekümmert hätten, in wichtigen
Fragen sind sie regelmäßig überstimmt worden. Eine Freudigkeit
in der Ausübung eines Ehrenamtes wird natürlich nicht dadurch
erzeugt, sondern die ursprünglich vielleicht zutage getretene Arbeits-
freudigkeit muß allmählich einer erklärlichen Gleichgültigkeit Platz
machen. Um so mehr ist mit der Begründung zu wünschen, daß
die Arbeitgeber nunmehr die geplante Reform schätzen lernen,
132 M. Wagner,
durch welche ihnen ein gleicher Einfluß wie den Versicherten zu-
gesichert wird. Uebrigens haben die letzten Kundgebungen der ver-
schiedenen wirtschaftlichen Korporationen klar zu erkennen gegeben,
daß die überwiegende Mehrzahl der Arbeitgeberschaft volles Ver-
ständnis für die Bedeutung der Reform hat und infolgedessen auch
bereit ist, die Mehrbelastung auf sich zu nehmen.
Besondere Beachtung muß auch der Stellung des Vorsitzenden im
Vorstande geschenkt werden. Denn wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer
in gleicher Anzahl miteinander verhandeln, pflegen die Gegensätze in
der Regel geschlossen aufzutreten. Man hat daher in den meisten
Fällen zur Heranziehung eines unparteiischen Vorsitzenden greifen
müssen. Die Begründung meint, es komme nicht so sehr darauf
an, daß der Vorsitzende außerhalb der beiden Gruppen stehe oder
von einer außenstehenden Stelle gewählt oder bestätigt werde, son-
dern vielmehr darauf, daß die beiden Parteien der Ansicht wären,
er walte unparteiisch seines Amtes. Dementsprechend beläßt es der
Entwurf dabei, daß der Vorsitzende der Ortskrankenkassen durch
Wahl der Arbeitgeber und der Versicherten selbst aus ihrer Mitte
bestellt wird. Allerdings wird übereinstimmende Wahl durch beide
Teile gefordert. Nur für den Fall, daß beide Gruppen sich nicht
einigen, soll der Vorsitzende durch die Aufsichtsbehörde vorläufig
bestellt werden. „Die Aussicht darauf, daß so wenigstens auf Zeit
das Besetzungsrecht auf eine außerhalb der Kassengemeinschaft
stehende Stelle übergehen würde, wird einen starken Antrieb ab-
geben, sich zu einigen und jenes Aushilfemittel für die Regel ent-
behrlich machen.“ Wichtig ist auch, daß der Entwurf die Zuständig-
keit der beiden leitenden Kassenorgane, also des Vorstandes und
des Ausschusses, besser gegeneinander abzugrenzen versucht. Dem
Ausschuß soll die gebührende Teilnahme an den wichtigeren An-
gelegenheiten der Kasse in einem weiteren Maße wie dem bisherigen
durch das Gesetz selbst gesichert werden. Ferner wird der Kreis
der Angelegenheiten, die dem Vorstande vorbehalten bleiben sollen,
schärfer fixiert. Er soll allein die laufende Verwaltung führen.
Erwähnt sei noch, daß bezüglich des Verhältnisses der
Kassenangestellten der Entwurf die Neuerung bringt, daß in
der Dienstordnung Geldstrafe bis zum Betrage eines einmonatlichen
Diensteinkommens vorgesehen werden darf. Entgegen dem ersten
Entwurf wird die Genehmigung der Dienstordnung dem Versiche-
rungsamt (also nicht dem Oberversicherungsamt) übertragen, gegen
dessen abschlägige Entscheidung die Beschwerde an die oberste
Verwaltungsbehörde gegeben ist. War in dem ersten Entwurf die
Art und Form der Rechnungsführung der Kassen dem Oberver-
sicherungsamt übertragen, so will der neue Entwurf dieselbe dem
Bundesrat übertragen wissen. Die Aufsicht über die Kassen steht
dem Versicherungsamt zu. Die Strafen für Unterlassung der vor-
geschriebenen Anmeldung versicherungspflichtiger Personen sind
wesentlich verschärft, und zwar entscheidet über die Verhängung
der Strafe nicht das ordentliche Gericht, sondern das Versicherungs-
Die Reichsversicherungsordnung. 7133
amt mit Beschwerde an das Öberversicherungsamt, das definitiv
zu entscheiden hat.
Die wichtigste Neuerung für die Krankenversicherung ist die
Regelung des Verhältnisses der Aerzte zu den Kassen.
Unsere gesamte Arbeiterversicherung hat zweifellose von vornherein
den großen Fehler gemacht, der Tätigkeit des Arztes nicht die-
jenige Bedeutung beizulegen, welche sie bei der Durchführung der
Arbeiterversicherung tatsächlich verdient. Man möchte sagen, daß
sich gewissermaßen 50 Proz. der gesamten Arbeiterversicherung er-
schöpfen in der ärztlichen Tätigkeit. Man kann daher einerseits be-
greifen, daß auf seiten der Aerzte eine starke Opposition gegen ihre
bisherige Behandlung resp. die Wertschätzung der ärztlichen Tätig-
keit entfacht worden ist. Andererseits haben die Kämpfe zwischen
Aerzten resp. Aerzteorganisation und Krankenkassen einen derartigen
Umfang und eine derartige Heftigkeit angenommen, daß es unbedingt
notwendig ist, zwischen den scharfen Gegensätzen zu vermitteln.
Mit Recht macht die Begründung darauf aufmerksam, die zu ge-
währende ärztliche Hilfe sowie die Entlohnung der ärztlichen Tätig-
keit auf der Gegenseite sei durchaus ungeeignet, den Gegenstand
eines Kampfes zu bilden. „Um so bedauerlicher ist es, daß sich
bei der Krankenversicherung schon seit einer längeren Zeit von
Jahren im Verhältnis zwischen den Aerzten und den Organen der
Krankenkassen scharfe Gegensätze entwickelt haben. Ihr Ergebnis
sind an vielen Orten erbitterte Streitigkeiten, ein Zustand offenen
Kampfes gewesen. Ein nicht geringer Teil der deutschen Aerzte-
schaft steht infolgedessen der ganzen Krankenversicherung mit einer
gewissen Mißstimmung gegenüber. Auf der anderen Seite wird
durch Kämpfe dieser Art oft geradezu die ordnungsmäßige ärztliche
Versorgung der erkrankten Versicherten in Frage gestellt und damit
eine schwere öffentliche Notlage geschaffen.“
Auf seiten der Aerzte muß bedacht werden, daß mit der Ein-
führung der Arbeiterversicherung die Interessen des ärztlichen
Standes nach den verschiedensten Richtungen hin außerordentlich
gefördert worden sind. Man denke nur an die vermehrte Nachfrage
nach ärztlicher Hilfe und an die erhöhte Sicherheit auf den Bezug
des Entgelts. Die Stellung des Arztes in der Arbeiterversicherung
hat zweifellos dazu beigetragen, daß der Andrang zum ärztlichen
Studium sich außerordentlich gehoben hat. Andererseits soll nicht
verkannt werden, daß eine große Anzahl von Krankenkassen, nament-
lich von Ortskrankenkassen, den Aerzten nicht diejenige Stellung
garantieren will, die ihnen als Stand und als mitbestimmender Faktor
bei der Durchführung der Arbeiterversicherung zweifellos zukommen
muß, wenn nicht auch die Interessen der Versicherten selber dar-
unter leiden sollen. Zwischen Aerzten und Ortskrankenkassen hat
sich allmählich ein Verhältnis herausgebildet, das sich wie im ge-
werkschaftlichen Kampf als Gegensatz zwischen Arbeitgebertum
und Arbeitnehmertum kennzeichnen läßt. Arbeitgeber sind in
dem vorliegenden Falle die Ortskrankenkassen, Arbeitnehmer sind
134 M. Wagner,
die Aerzte. Wie in den gewerkschaftlichen Kämpfen weite Kreise
auf beiden Seiten die Ansicht vertreten, daß durch Abschluß eines
Tarifvertrages die Gegensätze überbrückt und beseitigt werden
können, so hat auch hier gewissermaßen analog die Regierung sich
auf den Standpunkt gestellt, daß die zwischen den Aerzten und den
Krankenkassen bestehenden Gegensätze durch einen regelrechten
Tarifvertrag beseitigt werden können. Die in dem jetzigen Entwurf
vorgeschlagene Gestaltung des Verhältnisses zwischen Aerzten und
Krankenkassen läuft denn auch tatsächlich auf den Abschluß eines
Tarifvertrages hinaus, dem sämtliche Vorteile und Mängel des im
gewerblichen Leben als kollektiven Arbeitsvertrag bezeichneten Ver-
trages anhaften. In der Regel bietet ein Arbeitstarifvertrag, das
wird man nicht leugnen können, dem Arbeitnehmer größere Vorteile
als dem Arbeitgeber. So bietet auch die von der Regierung vor-
genommene Regelung für die Aerzte als Arbeitnehmer, was des
näheren noch zu beweisen sein wird, größere Vorteile. Jedenfalls
stellt der jetzige Entwurf die Aerzte bedeutend besser als der erste
Entwurf.
Bekanntlich wird von den Aerzten resp. ihrer Organisation, dem
Leipziger Verbande, die sogenannte „freie“ Arztwahl verlangt, aller-
dings etwas modifiziert, nämlich ein System, „nach welchem jeder
appropierte Arzt bei jeder Krankenkasse seines Wohnbezirkes zur
Praxis zugelassen werden muß, sofern er sich verpflichtet, diese
Praxis zu gewissen Bedingungen auszuüben, die zwischen der Kasse
und der Mehrzahl seiner Standesgenossen im Bezirk oder deren
Standesvertretung oder Koalition vereinbart sind“. Die Kranken-
kassen stellen sich auf den entgegengesetzten Standpunkt, ebenso
eine Minderheit der Aerzte. Die Krankenkassen behaupten, daß das
System der freien Arztwahl den Keim großer Unzuträglichkeiten,
namentlich auch finanzieller Natur, in sich trage und daß es sich in-
folgedessen empfehle, die Regelung dem Ermessen und der freien
Vereinbarung der Beteiligten zu überlassen. Nicht mit Unrecht
führen die Kassen an, daß im einzelnen Falle die freie Arztwahl
sehr leicht die persönlichen Beziehungen zwischen den Kassenver-
waltungen und den Aerzten lockern und das Interesse der Aerzte am
Gedeihen der Kasse mindern könne, daß sie das Simulantentum
fördere und die Ausgaben der Kasse außerordentlich steigere. Denn
die Kassenmitglieder würden veranlaßt, vorzugsweise diejenigen
Aerzte zu konsultieren, welche in der Verordnung von Arzneien und
Stärkungsmitteln am weitesten gingen. Weiter wird darauf hin-
gewiesen, die freie Arztwahl erreiche ihren Zweck, den Aerzten den
freien Wettbewerb zu sichern, gar nicht. Denn wenn auch die Ge-
fahr einer Abhängigkeit von der Kassenverwaltung beseitigt erscheine,
so bleibe doch der mindestens ebenso bedenkliche Mißstand der Ab-
hängigkeit von den einzelnen Kassenmitgliedern.
Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Mittel zur Abhilfe gehen
zunächst von dem durchaus korrekten Standpunkte aus, daß kein
System der ärztlichen Versorgung dauernd gut wirken kann, wenn
Die Reichsversicherungsordnung. 735
nicht auf beiden Seiten der gute Wille vorhanden ist. Wenn beide
Kontrahenten, Aerzte und Krankenkassen, verständnisvoll zusammen-
wirken, so kann jedes der beiden Systeme, das den speziellen
Verhältnissen angepaßt wird, sich gut bewähren. Ein Umstand muß
besonders ins Gewicht fallen, nämlich der, daß die Aerzte, die doch
so ein überaus wesentlicher Bestandteil der Arbeiterversicherung
sind, gesetzlich nicht verpflichtet sind, Kassenpraxis zu treiben,
während die Krankenkassen durch Gesetz gezwungen sind, ihren
Mitgliedern die ärztliche Behandlung zu gewähren, mit anderen
Worten, die Aerzte als Arbeitnehmer können streiken, die Kassen,
die Arbeitgeber, nicht. Würde man nun unter allen Umständen das
System der freien Arztwahl einführen, so stünden die Kassen einem
einzigen Kontrahenten gegenüber, in dessen Belieben es liegt, einen
Vertrag abzuschließen oder nicht. Ein gesetzlicher Zwang, die
Kassenpraxis auszuüben, kann nicht ausgesprochen werden. Die
Reichsversicherungsordnung geht daher grundsätzlich davon aus, daß
die Kasse und Aerzte ihr Gegenseitigkeitsverhältnis frei vereinbaren,
und daß beide Systeme gleichwertig und gleichberechtigt sein sollen.
Um nun aber die zweifellos auch in Zukunft entstehenden Streitig-
keiten im Interesse der Durchführung der Krankenversicherung
möglichst zu garantieren, sollen Instanzen geschaffen werden, deren
Aufgabe es ist, Streitigkeiten zu schlichten und ihnen vorzubeugen.
Zu diesem Zwecke wird von der Reichsregierung die Bildung von
Vertragsausschüssen vorgeschlagen, die nicht nur in Tätigkeit
treten sollen, wenn bereits Streitigkeiten ausgebrochen sind, sondern
schon bei einem bevorstehenden Vertragsabschluß fördernd, ver-
mittelnd und schlichtend einsetzen sollen. Die Vertragsausschüsse
sollen unmittelbar aus der Wahl der Kassen und der an der Kassen-
praxis interessierten Aerzte hervorgehen. Ein unparteiischer Ob-
mann soll nur für bestimmte Fragen gewählt werden. Der Ausschuß
soll auf größere Bezirke begrenzt und als ständige Einrichtung auf
einen längeren Zeitraum gewählt werden und so zusammengesetzt
sein, „daß die beteiligten Kassen und Aerzte in den Ausschußver-
tretern ihrer Gruppe auch wirklich die richtigen Vertreter der eigenen
Interessen erblicken können“.
Unter den Aufgaben der Vertragsausschüsse kommen zunächst
als wesentlich in Betracht Vereinbarungen über bestimmte, den Ver-
hältnissen des Bezirkes angepaßte allgemeine Grundsätze für die
Verträge. Allerdings sollen diese Grundsätze nicht für jeden Fall
bindend sein.
Immerhin erhalten die Aerzte damit die Garantie eines standes-
gemäßen Entgelts für ihre Tätigkeit und der Unmöglichkeit un-
würdigen Unterbietens durch einzelne Standesgenossen, andererseits
erhält die Kasse eine Gewähr dafür, daß die Aerzte den Vertrag
tatsächlich durchführen können. Der allgemeine Vertrag wird für
den betreffenden Bezirk abgeschlossen, und zwar mit der Wirkung,
daß jeder approbierte Arzt des Bezirks Kassenmitglieder behandeln
kann, wenn er dem Vertrage schriftlich beitritt, und daß ein Arzt
736 M. Wagner,
vom Beitritt nur dann ausgeschlossen werden kann, falls ein wichtiger
Grund in Frage kommt. Diese Art des Vertrages ist also im Grunde
genommen weiter nichts als die sogenannte freie Arztwahl. Es
bleibt allerdings zu bedenken, daß die Kassen nicht verpflichtet
sind, einen solchen Vertrag abzuschließen, sondern daß ihnen nur
die Möglichkeit hierzu gelassen wird. Schließlich kann in der Satzung
der Krankenkasse der Vorstand ermächtigt werden, den Vertrag als
besonderen Aerztevertrag mit bestimmten Aerzten abzuschließen.
Allerdings soll in solchen Fällen, soweit die Kasse es finanziell er-
tragen kann, den Mitgliedern ermöglicht werden, zwischen 2 Aerzten
zu wählen, was identisch ist mit dem System der sogenannten „be-
schränkten freien Aerztewahl*.
Als weitere Aufgabe wird dem Vertragsausschuß die Tätigkeit
als Einigungsamt, einer freien Schiedsinstanz ohne Zwangscharakter,
übertragen. Er soll nämlich nur auf Anrufen der beiden Parteien
in Tätigkeit treten und etwa die Funktion übernehmen, welche dem
gewerbegerichtlichen Einigungsamt in gewerblichen Lohnkämpfen
zukommt. Die Regierung scheint schon vorauszusehen, daß es trotz
des Bestehens einer auf friedliche Vereinbarung hinzielenden In-
stitution doch zu Streitigkeiten kommen wird. Denn schließlich hat
der Vertragsausschuß keinerlei Exekutivgewalt. Die Aerzte können,
wie schon betont, nicht gezwungen werden, in Tätigkeit zu treten,
die Krankenkassen dagegen sind durch Gesetz gezwungen, ihren
Mitgliedern die garantierte Hilfe zu teil werden zu lassen. Es ist
deshalb von verschiedenen Seiten die Einführung eines „Kurier-
zwanges“ wenigstens für diese Fälle angeregt worden. Aus prin-
zipiellen Gründen muß eine derartige Forderung natürlich fallen,
der Zwang würde sich praktisch auch sehr schwer durchführen
lassen. Als Ausweg schlägt daher der Entwurf vor, daß die Kassen
ihren Mitgliedern in solchen Fällen nicht unmittelbar die ärztliche
Hilfe gewähren, sondern ihnen einen Barbetrag aushändigen, mittels
dessen sie sich die ärztliche Hilfe dann selbst beschaffen können.
Es ist zweifellos, daß in einem solchen Falle eine derartige Maß-
nahme nicht ohne Einwirkung auf die streikenden Aerzte bleiben
wird. Zu bedenken ist allerdings, daß dann die Aerzte in der Lage
sein werden, zu erklären, nur gegen Gewährung der ärztlichen
Minimaltaxe tätig zu werden. Daß dies in finanzieller Beziehung
für die Kasse von Nachteil sein wird, ist zweifellos. Aber schließ-
lich handelt es sich hier auch nicht um einen normalen Fall, und
die erhöhten Aufwendungen dienen jedenfalls dazu, zu ermöglichen,
daß die gesetzlichen Verpflichtungen der Krankenkasse erfüllt werden.
Die Befürchtung, daß Kassenmitglieder in einem solchen Falle die
Kasse ausnutzen werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber
für diesen Fall kommt die Vorschrift in Betracht, daß die oberste
Verwaltungsbehörde verfügen kann, wie der Nachweis der Krankheit
oder Arbeitsunfähickeit anders als durch ärztliches Attest erbracht
werden kann. Von Bedeutung ist auch die Vorschrift, wonach, wenn
die von der Krankenkasse gewährte ärztliche Versorgung und
Die Reichsversicherungsordnung. 7137
Krankenhauspflege nicht genügt, von dem Oberversicherungsamt
nach Anhören der Kasse und des Vertragsausschusses eine Anord-
nung getroffen werden kann, daß auch durch andere Aerzte und
Krankenhäuser die entsprechenden Leistungen gewährt werden
können. Als dritte Aufgabe soll dem Vertragsausschuß die Schlich-
tung von Streitigkeiten aus den bereits abgeschlossenen Verträgen
zustehen.
Von Bedeutung ist auch, daß die Reichsversicherungsordnung
nochmals nachdrücklichst feststellt, daß unter ärztlicher Behandlung
die Tätigkeit eines approbierten Arztes zu verstehen ist. Damit
wird den approbierten Aerzten ein Monopol in recht weitem Um-
fange eingeräumt. Andererseits werden in der Reichsversicherungs-
ordnung auch die Ausnahmen fest bestimmt. Als solche werden
Hilfsleistungen angesehen, die von einem approbierten Arzt ange-
ordnet sind, oder ohne eine solche Anordnung in dringlichen Fällen
erfolgen müssen, wenn nicht ärztliche Hilfe rechtzeitig beschafft
werden kann.
Die von den Aerzten wiederholt aufgestellte Forderung, die
ärztliche Tätigkeit nach den einzelnen Leistungen zu bemessen,
wobei die Mindestsätze der Medizinaltaxe zugrunde gelegt werden
sollen, ist von der Regierung mit Recht nicht berücksichtigt worden,
weil die unmittelbare Folge der Bewilligung einer solchen Forderung
der wirtschaftliche Zusammenbruch zahlreicher Kassen sein müßte.
Man wird sich nicht der Ansicht verschließen können, daß der
neue Entwurf der Reichsversicherungsordnung den aus den Kreisen
der Aerzte geäußerten Wünschen ziemlich weit entgegengekommen
ist. Die Aerzte verlangen zweifellos mit Recht Schutz vor einer
standesunwürdigen Behandlung durch die Krankenkassen. Die
Reichsversicherungsordnung bemüht sich redlich, diesen Schutz in
ausgiebiger Weise zu gewähren. Andererseits sollten die Aerzte
doch mit bestehenden Verhältnissen rechnen und nicht nach dem
Beispiel, das in gewerkschaftlichen Kämpfen von seiten der Gewerk-
schaften gegeben wird, ihre Forderungen materieller Natur allzu
hoch spannen und ohne Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der
Kassen. Nur wenn auf beiden Seiten der feste Wille herrscht, in
einem friedlichen Einverständnis miteinander zu arbeiten, dann wird
der von der Reichsversicherungsordnung vorgeschlagene Weg beiden
Teilen dienen können. Es handelt sich, wie schon erwähnt, tat-
sächlich um den Abschluß eines regelrechten Tarifvertrages. Wenn
dieser seine beabsichtigte Wirkung haben soll, dann darf er, wie
dies im gewerblichen Lohnkampfe recht häufig geschieht, von keiner
Seite angesehen werden als ein „bewaffneter Waffenstillstand“, als
eine Pause im Kampf, nach deren Beendigung der Kampf wieder
um so heftiger entfacht wird. Jedenfalls muß von den gesetz-
gebenden Faktoren erwartet werden, daß sie diese so überaus wichtige
Frage nun einmal einer Regelung unterziehen, die im Interesse beider
Teile liegt.
Erfreulich ist auch, daß die Reichsversicherungsordnung das Ver-
Dritte Folge Bà, XXXIX (XCIV). 47
738 M. Wagner,
hältnisderApothekerzuden Krankenkassen regelt. Auch
hier waren heftige Meinungsverschiedenheiten wie bei den Aerzten
über den Abschluß von Verträgen entstanden. ` Von seiten der
Krankenkassen waren recht häufig den Aufsichtsbehörden Klagen
darüber zugegangen, daß sie eben wegen Fehlens einer besonderen
Vereinbarung die Handverkaufsartikel zu den höheren Rezeptur-
preisen bezahlen müßten. Daher die Bestimmung, daß die Apo-
theken Arzneimittel für Krankenkassen auch ohne ärztliches Rezept
nicht höher als zu den im Handverkauf üblichen Preisen verkaufen
dürfen. Für andere Arzneimittel sollen die Apotheken den Kranken-
kassen nach näherer Bestimmung der obersten Verwaltungsbehörde
einen Abschlag von den Preisen der Arzneitaxe gewähren. Soweit
sich ein Bedürfnis herausstellt, sollen die zur Schlichtung von
Streitigkeiten mit den Aerzten vorgeschriebenen Vorschriften auch
für Meinungsverschiedenheiten mit den Apothekern entsprechend an-
gewendet werden können.
Für die Unfallversicherung bringt der neue Entwurf die
wenigsten Abänderungen.
Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen
wird ausgedehnt: bei Tiefbauarbeiten auf den gesamten Umfang
des Betriebs, auf das Dekorateurgewerbe, den Betrieb der Bade-
anstalten, den gewerblichen Fachbetrieb, den Reittier- und Stall-
haltungsbetrieb, das nicht gewerbsmäßige Halten von Reittieren
und Fahrzeugen, die durch elementare oder tierische Kraft bewegt
werden, und auf Betriebe zur Behandlung und Handhabung der
Ware, wenn sie mit einem kaufmännischen Betriebe verbunden sind,
der über den Umfang des Kleinbetriebs hinausgeht.
Von Bedeutung ist ferner, wie schon erwähnt, daß der Vor-
schlag des ersten Entwurfes die Versicherungsämter mit der erst-
instanzlichen Feststellung zu betrauen, fallen gelassen worden ist.
Würde ein solcher Vorschlag Gesetz, dann könnten die Versiche-
rungsämter durch ihre Tätigkeit zu einer weiteren finanziellen Ent-
lastung der Berufsgenossenschaften beitragen wie im ersten Entwurf
angenommen worden war. Dazu liegt aber nicht der geringste
Grund vor, denn die Berufsgenossenschaften haben sich, das steht
einwandfrei fest, recht gut bewährt. Die Arbeitgeber tragen allein
die Kosten der Unfallversicherung und müssen dementsprechend
auch allein über die sich hieraus ergebenden Rechte entscheiden
können. Außerdem würde ein derartiger Vorschlag wahrlich nicht
dazu beitragen, das Rentenfestsetzungsverfahren zu beschleunigen,
und auf die Beschleunigung kommt es doch in der Hauptsache an.
Das Versicherungsamt soll, wie schon erwähnt, lediglich als erste
Instanz für die Entscheidungen von Streitigkeiten über die Ent-
schädigung eingesetzt werden. Allerdings kann die Berufsgenossen-
schaft schon vorher eine gutachtliche Aeußerung des Versicherungs-
amtes einholen.
Von Bedeutung ist auch das Recht, Renten bis zu 20 Proz.
der Vollrenten nach der voraussichtlichen Dauer der Einbuße in
Die Reichsversicherungsordnung. 739
der Erwerbsfähigkeit nur auf eine bestimmte Zeit zu bewilligen.
Die Folge derartiger Unfälle, die mit Renten bis zu 20 Proz. ent-
schädigt werden, fallen recht häufig in einer von vornherein fast
genau zu bestimmenden Zeit weg oder mindern sich doch wenigstens
ganz bedeutend. Die Neuerung der Reichsversicherungsordnung ist
daher ganz berechtigt.
Genauer fixiert sind auch die Bestimmungen über den Kranken-
geldzuschuß und die sonstigen Leistungen während der Karenzzeit.
Die Bestimmung des ersten Entwurfes, daß die Rente ruht, soweit
und solange der Verletzte den Lohn bezieht, den er ohne den Unfall
beziehen würde, ist beseitigt worden.
Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Neuerung, daß die
obersten Postbehörden von jeder Berufsgenossenschaft einen
Vorschuß einziehen können, und zwar vierteljährlich oder monat-
lich. Der Vorschuß soll den Betrag nicht übersteigen, den die Ge-
nossenschaft im laufenden Geschäftsjahr voraussichtlich zu zahlen
hat. So sind z. B. Entschädigungsbeiträge, welche die Post im
Jahre 1909 für die Genossenschaft verauslagt, für deren mit 31/, Proz.
verzinsliche und mit 3!/, Proz. der ersparten Zinsen zu tilgende Schuld
anzusehen. Das Reich trägt ?/, dieser Beiträge an Zinsen und
Tilgung, ®/, sind von den Berufsgenossenschaften jedesmal im Juli
mit dem dann fälligen Teilbetrag des Postvorschusses an die Post
abzuführen. Die Rechnungsstelle des Reichsversicherungsamtes hat
die Höhe des Postvorschusses festzustellen. Nunmehr wird also
nicht mehr das Reich die durch die Post zu zahlenden Entschä-
digungsbeiträge zinslos vorstrecken.
Die von den Berufsgenossenschaften wiederholt geäußerten
Wünsche auf Abänderung der Vorschriften über die Ansamm-
lung eines Reservefonds will der Entwurf dadurch berück-
sichtigen, daß sowohl die Höhe der Rücklagen als auch die Zu-
schläge zu ihr nach der Höhe der Entschädigungsbeiträge in jeder
einzelnen Berufsgenossenschaft bemessen werden und der Höchst-
betrag der Rücklagen die Hälfte des Kapitalwertes der in der Ver-
gangenheit entstandenen jeweils laufenden Entschädigungsbeiträge
nicht übersteigen soll. Außerdem soll das Reichsversicherungsamt
das Recht haben, die Höhe der Zuschläge festzusetzen und auch die
Frist, in welcher die Zuschläge zu der Rücklage zu machen sind,
bis zu 10 weiteren Jahren zu verlängern. Zu erwägen wäre, ob
nicht von der Bestimmung, daß der Kapitalbestand der Berufs-
genossenschaften innerhalb einer Frist von 21 Jahren das Dreifache
der Entschädigungssumme erreichen soll, Ausnahmen zur Ermäßigung
des Betrages zuzulassen sind. Ferner wären vielleicht diejenigen
Berufsgenossenschaften, deren Rücklagen das gesetzliche Erfordernis
überschreiten, zu ermächtigen, den Ueberschuß für den an die Post
abzuführenden Betriebsfonds zu verwenden.
Die Vorschriften über die Unfallverhütung und
den Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften durch
die Berufsgenossenschaften sind wesentlich verschärft worden.
47*
740 M. Wagner,
Das Bauunfallversicherungsgesetz ist in seinem ganzen
Umfang mit den Vorschriften für die Gewerbeunfallversiche-
rung verschmolzen.
Für die Invalidenversicherung bringt der Entwurf ebenfalls
recht wenig Neuerungen. Von Bedeutung ist das Wiederkehren der
freiwilligen Zusatzversicherung, das bestimmten Wünschen
des Mittelstandes entgegenkommt.
Die Befugnis des Bundesrates, Gewerbetreibende und sonstige
Betriebsunternehmer für versicherungspflichtig zu erklären, hatte bis
jetzt eine gewisse Beschränkung, nunmehr soll sie für solche Be-
triebsunternehmer gelten, die regelmäßig keine oder höchstens 2 Ver-
sicherungspflichtige beschäftigen.
Die von verschiedenen Seiten befürwortete Einführung
neuer Lohnklassen lehnt der Entwurf ab. Die Befürworter
einer derartigen Maßnahme wollten einerseits eine weitere Ausge-
staltung der Invalidenversicherung, andererseits eine bessere Nutz-
barmachung für die hochentlohnten Versicherten erreichen. Eine
entsprechende Eingabe hat bereits im Jahre 1907 der Deutsche
Handwerks- und Gewerbekammertag an das Reichsamt des Innern
gerichtet. Indessen kann man der Begründung recht geben, wenn
sie glaubt, daß finanzielle und verkehrstechnische Gründe gegen
eine derartige Forderung sprechen. Ebenso hat der Bundesrat die
so häufig verlangte Herabsetzung der Altersgrenze für
den Bezug der Altersrente abgelehnt. Im Reichstag und auch
außerhalb desselben ist wiederholt der Wunsch ausgesprochen worden,
die Altersgrenze von 70 auf 65 oder gar 60 Jahre herabzusetzen.
Bei einem derartigen Vorschlag wird die Bedeutung der Altersrente
gewöhnlich überschätzt. Bei einer Herabsetzung der Altersgrenze
würde sich eine außerordentliche finanzielle Mehrbelastung ergeben,
die im Interesse der Versicherten selbst sicherlich nicht liegt. Bei
einer Herabsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre würde sich eine
Mehrbelastung von insgesamt etwa 29 Mill. M., bei einer Herab-
setzung der Altersgrenze auf 60 Jahre eine solche von rund
81 Mill. M. ergeben. Neu ist auch die dem Bundesrat verliehene
Befugnis, zu bestimmen, daß Ausländer versicherungsfrei sein sollen,
wenn denselben der Aufenthalt im Inland nur für eine bestimmte
Dauer gestattet worden ist.
Die Bestimmungen über das Heilverfahren in Kranken-
anstalten und Genesungsheimen enthalten eine Reihe von Neuerungen.
Zur Unterbringung in einer solchen Anstalt soll bei einem Minder-
jährigen dessen Zustimmung genügen. Wenn der Erkrankte bis zum
Eingreifen der Versicherungsanstalt der Krankenversicherung unter-
stand, so richtet sich das Hausgeld auch für die Zeit, für welche
die Verpflichtung der Krankenkasse nicht mehr besteht, nach den
Vorschriften über Krankenversicherung. Der Versicherungsanstalt
wird, statt eine etwa gewährte Invalidenrente auf die Angehörigen-
unterstützung anzurechnen, das Recht verliehen, eine Invaliden- oder
Witwenrente für die Dauer des Heilverfahrens ganz oder teilweise
Die Reichsversicherungsordnung. 741
zu versagen. Gewohnheitstrinkern, die nicht entmündigt sind, können
ganz oder teilweise Sachleistungen gewährt werden, und zwar muß
dies auf Antrag eines beteiligten Armenverbandes geschehen. Die
Sachleistungen gewährt die Gemeinde des Wohnorts. Der An-
spruch auf bare Leistungen geht im Werte der Sachbezüge auf die
Gemeinde über.
Entgegen den Vorschlägen des ersten Entwurfes geschieht die
Entziehung der Rente nicht durch das Versicherungsamt, sondern
durch die Versicherungsanstalt.
Die bereits in dem ersten Entwurf vorgeschlagene Witwen- und
Waisenversicherung kehrt so ziemlich unverändert wieder. Die
Begründung verweist nochmals nachdrücklichst darauf, daß von einer
Verwirklichung der bekannten Lex Trimborn, welche die Mehr-
erträge aus den erhöhten Zöllen als finanzielle Basis für die Hinter-
bliebenenversicherung benutzen wollte, keine Rede sein kann. Schon
in meinem früheren Aufsatz habe ich darauf hingewiesen, daß das
so sehr schwankende Ergebnis aus den Mehrerträgen der erhöhten
Zölle nicht gestatte, eine so dauernde Institution wie die Hinter-
bliebenenversicherung auf einer derart unsicheren finanziellen Basis
aufzubauen. In dem Einführungsgesetz zur Witwen- und Waisen-
versicherung soll vorgeschlagen werden, daß die zur Zeit des In-
krafttretens der Hinterbliebenenversicherung vorhandenen Bestände
des angesammelten Lex-Trimborn-Fonds zur Bestreitung der Reichs-
zuschüsse so lange verwendet werden sollen, bis der Fonds aufge-
braucht wird. Wenn, wie ursprünglich beabsichtigt, schon vom
1. Januar 1910 an Hinterbliebenenbezüge gewährt würden, so müßte
der angesammelte Fonds früher aufgezehrt werden, als dies in Aus-
sicht genommen war, und die Folge würde eine recht unerwünschte
Erhöhung der Matrikularbeiträge sein müssen. „Es wäre vom ver-
sicherungstechnischen und finanziellen Standpunkte aus nicht zu ver-
antworten, für einen vor dem Inkrafttreten der Hinterbliebenenver-
sicherung liegenden Zeitraum Lasten zu übernehmen, ohne daß
Beiträge zu ihrer Deckung entrichtet oder anderweitig Mittel zur
Verfügung gestellt sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es sich
nicht nur um die Ausgabe für die Zeit vor dem Inkrafttreten der
Hinterbliebenenversicherung handelt, sondern auch um die während
dieser Zeit entstehende Last für die kommenden Jahre bis zum voll-
ständigen Ausscheiden der betreffenden Witwen und Waisen aus
der Fürsorge. Es ist daher schon die äußerste Grenze, wenn die
verbündeten Regierungen vorschlagen, die Hinterbliebenenbezüge
schon vom Tage des Inkrafttretens der Hinterbliebenenversicherung
ab auf Grund der einfachen Anwartschaft auf die Invalidenrente zu
gewähren, ohne Beitragsleistung für die Hinterbliebenenversicherung
zu verlangen, oder eine besondere Wartezeit festzusetzen. Jedes
weitere Zugeständnis würde die darin liegende Unbilligkeit ver-
stärken, daß die mit rückwirkender Kraft geltenden Zuwendungen
nur aus den Beiträgen derjenigen erfolgen können, die selbst keinen
Vorteil davon haben.“
742 M. Wagner,
Betroffen werden von der Witwen- und Waisen-
versicherung die Hinterbliebenen aller gegen Invalidität ver-
sicherten Personen, geleistet werden Witwen-, in Ausnahmefällen
auch Witwerrenten sowie Waisenrenten, Witwengeld und Waisen-
aussteuer. Die Hauptvoraussetzung für die Gewährung von Hinter-
bliebenenbezügen bildet, daß der verstorbene Ernährer zur Zeit seines
Todes eine Invalidenrente bezog oder die Voraussetzungen dafür in
seiner Person erfüllt hatte. Stirbt ein Versicherter, so erhält die
invalide Witwe eine Witwenrente und die Kinder bis zum voll-
endeten 15. Lebensjahr eine Waisenrente. Uneheliche Kinder sind
beim Tode der versicherten Mutter, auch wenn der Vater noch am
Leben ist, zum Bezug der Waisenrente berechtigt. Den ehelichen
Kindern, deren Vater noch lebt, steht in der Regel kein Anspruch
auf Waisenbezüge zu.
Die Hinterbliebenenbezüge setzen sich zusammen aus
den Beiträgen der Versicherten und der Arbeitgeber und aus festen
Reichszuschüssen, die für jede Witwenrente 50 M., für jede Waisen-
rente 25 M. jährlich betragen. Die Höhe der Renten hat sich nach
der Begründung in den Grenzen halten müssen, die durch das Maß
der zur Verfügung stehenden Mittel einerseits und durch die Rück-
sicht auf die finanzielle Tragkraft der zu Beiträgen verpflichteten
Arbeitgeber und Versicherten andererseits gegeben sind. Die Renten
sind so bemessen, daß in Lohnklasse IV (etwa 1000 M. Lohn jähr-
lich) nach 1500 Beitragswochen, also zu einer Zeit, in der der Ver-
sicherte, wenn seit Vollendung des 15. Lebensjahres regelmäßig
Beiträge für ihn entrichtet worden sind, 46 Jahre alt sein wird, be-
tragen:
die Invalidenrente 290,40 M.
die Witwenrente 122,40 „
die Waisenrente für ein Kind 61,20 „
Der Wert der dafür gezahlten Beiträge ohne Zinsen beträgt 570 M.
Die Beiträge bedürfen, damit die Hinterbliebenenbezüge aufgebracht
werden können, einer Erhöhung um durchschnittlich ein Viertel, die
Marken in Lohnklasse I werden um 2, in II um 4, in III um ô.
in IV um 8 und in V um 10 Pfg. erhöht und betragen also 16, 24,
30, 38, 46 Pfe.
Im sechsten Buch faßt die Reichsversicherungsordnung die allen
Versicherungszweigen gemeinsamen Vorschriften über das Ver-
fahren zusammen, und zwar nach 4 Gruppen: das Feststellungs-
verfahren, das Verfahren bei besonderen Streitigkeiten, das Beschluß-
verfahren und die Kosten des Verfahrens in Spruch- und Beschlaf,
sachen sowie die Gebühren der Rechtsanwälte.
Die Feststellung durch die Versicherungsträger wird nicht
einheitlich, sondern für die drei Versicherungszweige verschieden
gestaltet. So wird in Sachen der Krankenversicherung wie bisher
der Anspruch auf die Leistungen zunächst bei der zuständigen
Krankenkasse des Versicherten geltend gemacht. Falls die zu-
ständige Krankenkasse sich zu einer vollständigen oder teilweisen
Die Reichsversicherungsordnung. 743
Ablehnung entschließt, tritt der nunmehr neu geschaffene einheitliche
Instanzenzug: Versicherungsamt, Oberversicherungsamt, Reichs-
versicherungsamt in Tätigkeit. Ursprünglich war beabsichtigt, die
Unfalluntersuchung auf die Versicherungsämter zu übertragen, davon
ist abgesehen worden. Das Versicherungsamt soll jedoch von jeder
Untersuchungsbehandlung benachrichtigt werden und kann sich hier-
bei vertreten lassen. Damit der für alle spätere Entscheidungen
maßgebende erste ärztliche Befund bei einem Unfallversicherten
sicher festgestellt wird, ist für die schwereren Fälle vorgeschrieben,
daß die Ortspolizeibehörde ein ärztliches Gutachten einholt. Die
Vorschläge des ersten Entwurfes gingen von dem Gedanken aus,
ein Zusammenwirken von Versicherungsamt und Versicherungs-
trägern bei der ersten Feststellung sei im Interesse aller Beteiligten
wünschenswert. Lediglich um das Verfahren zu vereinfachen und
zu verbilligen, hat der Bundesrat diesen Standpunkt aufgegeben.
Für die Invalidenversicherung liegen allerdings die Verhältnisse
anders. Hier soll das Versicherungsamt schon bei der Vorberatung
der Sachen tätig sein und in allen wichtigeren Fällen nach münd-
licher Verhandlung ein Gutachten erstatten. Nach Erteilung des
Bescheides durch die Versicherungsanstalt ist dem Versicherten das
Rechtsmittel der Berufung an das Oberversicherungsamt gegeben.
Das gleiche Verfahren soll für die Hinterbliebenenversicherung
gelten, die ja an die Invalidenversicherung angeschlossen ist
Das Versicherungsamt soll bei Streitigkeiten über Leistungen
der Kranken- und Unfallversicherung entscheiden, also im Spruch-
verfahren. In Sachen der Unfallversicherung sollen möglichst Ver-
treter aus solchen Betrieben zugezogen werden, die dem Unfall-
betrieb technisch und wirtschaftlich nahestehen. Gegen die Bescheide
der Invalidenversicherungsanstalten, ferner gegen die Urteile des
Versicherungsamtes ist das Rechtsmittel der Berufung an das Ober-
versicherungsamt gegeben, und zwar steht das Rechtsmittel auch
dem Versicherungsträger zu, soweit Urteile des Versicherungsamtes
in Betracht kommen. Solche Sachen, in denen eine Revision nicht
statthaft ist, sind von den Oberversicherungsämtern an das Reichs-
versicherungsamt abzugeben, wenn sie von einer amtlich veröflent-
lichten prinzipiellen Entscheidung des Reichsversicherungsamtes ab-
weichen. Die Oberversicherungsämter nehmen also in diesem Falle
eine ähnliche Stellung ein, wie etwa die Senate des Reichsversiche-
rungsamtes oder der Landesversicherungsämter, welche die Sache
zur Entscheidung an den Großen Senat des Reichsversicherungs-
amtes abzugeben haben, sobald sie die Absicht haben, von einer
amtlich veröffentlichten prinzipiellen Entscheidung des Reichsver-
sicherungsamtes abzuweichen.
Als letzte Instanz wird für alle Zweige der Reichsversicherungs-
ordnung die Revision vorgesehen, dagegen wird der Rekurs, der für
die Unfallversicherung besteht, beseitigt. Die Folge ist zweifellos
eine wesentliche Entlastung des Reichsversicherungsamtes, deren
Berechtigung von keiner Seite bestritten wird. Hoffentlich trägt
744 M. Wagner,
diese Entlastung dazu bei, daß die Parteien nicht mehr wie bisher
allzulange auf die Endentscheidung warten müssen. Die Revision
kann nur gegründet werden auf Gesetzesverletzungen, auf einen
Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten und auf wesentliche
Mängel des Verfahrens. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der
Akten liegt namentlich dann vor, wenn Tatsachen festgestellt sind,
für die sich in den Akten kein genügender Anhalt findet, oder wenn
Tatsachen von Bedeutung, die in den Akten festgestellt werden,
bei der Entscheidung unbeachtet geblieben sind. Ueber die Revision
entscheidet das Reichsversicherungsamt, soweit nicht die Landes-
versicherungsämter zuständig sind, was dann der Fall ist, wenn das
angefochtene Urteil von einem Oberversicherungsamt des Bezirkes
erlassen ist.
Ueber die Beschwerden gegen Anordnungen und Verfügungen
der Versicherungsträger entscheidet das Versicherungsamt in Sachen
der Kranken-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, das Ober-
versicherungsamt in Sachen der Unfallversicherung. Demnach ist
das Oberversicherungsamt nicht nur Spruchbehörde, sondern auch
Beschlußbehörde. Im Beschlußverfahren sollen hauptsächlich Fragen
entschieden werden, "die verwaltungsrechtlicher Natur sind. So
gehören hier namentlich hin Beitrags-, Prämien-, Gefahrentarif- und
Katasterbeschwerden, Strafbeschwerden etc. Soweit die Kranken-
und Invalidenversicherung in Betracht kommt, soll das Versiche-
rungsamt entscheiden. Dies ist verständig, weil auch gegenwärtig
die untere Verwaltungsbehörde über derartige Beschwerden ent-
scheidet. Soweit die Unfallversicherung in Betracht kommt, werden
die Beschwerden unmittelbar an das Reichsversicherungsamt gegen-
wärtig abgegeben. Auch hier war zweifellos eine Entlastung des
Reichsversicherungsamtes durchaus notwendig, zumal sich bei den
Berufsgenossenschaften allmählich eine feste Verwaltungspraxis
herausgebildet hat. Es liegen daher keinerlei Bedenken vor, die
Entscheidung über die fraglichen Beschwerden in die Hände des
Oberversicherungsamtes zu legen. Damit wird der Einfluß des Reichs-
versicherungsamtes, der zweifellos notwendig ist, durchaus nicht voll-
ständig beseitigt, sondern bleibt erhalten, da ja die Entscheidungen
des Oberversicherungsamtes in den meisten Fällen mit der weiteren
Beschwerde an das Reichsversicherungsamt angefochten werden können.
Zum Schluß sei auch noch erwähnt, daß der neue Entwurf der
Reichsversicherungsordnung Neuerungen enthält, die sich auf die
sprachliche Form beziehen. Und zwar sind diese Neuerungen
unter Mitwirkung des allgemeinen deutschen Sprachvereins ziemlich
gründlich vorgenommen worden. Ein soziales Gesetzbuch, das in der
Hauptsache dem Interesse der Arbeiter dient, muß sich ganz natur-
gemäß von dem so verpönten Juristendeutsch fernhalten. Der Vater
des Gesetzentwurfes will sich bemüht haben, eine kurze und klare
und möglichst einwandfreie Sprache zu wählen. Zu billigen sind
vor allem in dieser Beziehung die zahlreichen Verdeutschungen und
Verkürzungen, z. B. Sachleistung für Naturalleistung, Hausgeld
Die Reichsversicherungsordnung. 745
für Angehörigenunterstützung, Wochengeld für Wöchnerinnenunter-
stützung, Stillgeld für Unterstützung selbststillender Mütter etc.
Alles in allem, bringt der Bundesratsentwurf gegenüber dem
ersten Entwurf des Reichsamts des Innern eine Reihe von wichtigen
Neuerungen, die zum größten Teil zu erklären sind aus der bei
dem Erscheinen des ersten Entwurfs von den Versicherungsträgern
und von der sozialpolitischen Wissenschaft geübten Kritik, die nicht
ganz auf unfruchtbaren Boden gefallen zu sein scheint. Die Arbeiter-
versicherung Deutschlands ist bereits zu einem stattlichen Gebäude
emporgewachsen, dessen festes Gefüge der Bundesratsentwurf noch
fester gestalten will. Ob dieses in allen Teilen der Fall sein wird,
muß erst die Praxis zeigen. Ueberdies ist auch anzunehmen, daß
der Reichstag noch eine ganze Reihe wichtiger Abänderungen vor-
nehmen wird. An sich ist die Absicht, auch äußerlich ein einheit-
liches Gesetz zu schaffen und eine einheitlich durchlaufende Para-
graphierung zu wählen, durchaus lobenswert. Indessen ist die Frage
nicht unberechtigt, ob nicht durch die hierdurch notwendig werdenden
zahlreichen Verweisungen auf vorhergehende Paragraphen die Ueber-
sichtlichkeit leiden muß. Schon heute ist die Arbeiterversicherung
in ihren Einzelheiten weiten Kreisen ein Buch mit sieben Siegeln.
Wenn erst der Buchhandel unter Berücksichtigung der Verarbeitung
aller Versicherungszweige in einem einzigen fortlaufend paragra-
phierten Gesetz mit dickleibigen Ausgaben der Reichsversicherungs-
ordnung an die Oeffentlichkeit treten muß, dann kann dies wahrlich
nicht dazu beitragen, die Arbeiterversicherungsordnung populär zu
machen.
Inzwischen sind mit außerordentlicher Schnelligkeit die ver-
schiedenen Interessenten aufmarschiert, um zu dem Entwurf der
Reichsversicherungsordnung Stellung zu nehmen. Wie nicht anders
zu erwarten, ist die Krankenversicherung auf hartnäckige Opposition
namentlich in den Kreisen der Ortskrankenkassen sowie in den
Kreisen der Arbeiterorganisationen gestoßen. Recht auffällig ist
hierbei, daß namentlich die freien Gewerkschaften, die mit
der sozialdemokratischen Partei liiert sind, diesmal selbständig auf-
getreten sind und einen besonderen Kongreß einberufen haben. Die
Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine sowie die christlichen Gewerk-
schaften waren zwar auch zu dem Kongreß eingeladen, haben aber
der Einladung keine Folge geleistet, sondern schlossen sich der von
der Gesellschaft für soziale Reform veranlaßten Eingabe an den
Reichstag an. Der außerordentliche Kongreß der freien Gewerk-
schaften forderte für die Krankenversicherung gemeinsame Orts-
krankenkassen für die Städte und Bezirkskrankenkassen für die
Landgemeinden unter Aufhebung der übrigen Krankenkassenformen,
soweit sie sich nicht auf die Gewährung ergänzender Krankenunter-
stützung beschränken, als die wichtigsten Voraussetzungen für eine
gedeihliche Entwicklung der Krankenversicherung. Die im Entwurf
vorgesehene Halbierung der Beiträge und des Stimmrechts bedeute,
so betonte der Kongreß, die vollkommene Entrechtung der Ver-
746 M. Wagner,
sicherten. Die vorgeschlagene Regelung des Kassenbeamtenrechts,
der Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Aerzten und
Apotheken bedürfe dringend einer Aenderung auf der Basis völliger
Vertragsfreiheit beider Teile. Im einzelnen wird gefordert: 1) die
Erhöhung der Einkommensgrenze für die Versicherungspflicht auf
5000 M.; Ausgestaltung der Fürsorge für die Versicherten und ihre
Angehörigen, insbesondere Gewährung einer ausreichenden Unter-
stützung an Schwangere und Wöchnerinnen, Gewährung von Still-
geld (Mutterschaftsversicherung); 3) Einräumung des Rechts an die
Krankenkassen, auch auf dem Gebiete der Krankheitsverhütung tätig
zu sein, darauf bezügliche Vorschriften zu erlassen und die Durch-
führung dieser sowie der auf Grund der Gewerbeordnung erlassenen
Bestimmungen zu überwachen: 4) Gleichstellung der landwirtschaft-
lichen Arbeiter, der Dienstboten, Hausgewerbetreibenden usw. mit
den gewerblichen Arbeitern; 5) Einheitlichkeit des Rechtsweges,
Zuständigkeit des Reichsversicherungsamtes als höchste Aufsichts-
und Rekursinstanz unter Ausschaltung der Verwaltungsbehörden;
6) Uebernahme der Kosten für die Versicherungsbehörden auf das
Reich, die Einzelstaaten und Gemeinden.
Bezüglich der Unfallversicherung forderte der Gewerkschafts-
kongreß unter anderem die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf
alle gegen Lohn oder Gehalt Beschäftigten ohne Rücksicht auf die
Höhe des Lohnes oder Gehaltes. Ferner auf alle selbständigen
Unternehmer, soweit ihr Einkommen 3000 M. nicht übersteigt, unter
Gewährung der Versicherungsberechtigung bei einem Einkommen
bis zu 5000 M.
Für die Invalidenversicherung wurde unter anderem eine er-
hebliche Steigerung der Rentensätze, Vermehrung der Zahl der Bei-
tragsklassen unter Anrechnung des vollen Jahresverdienstes ge-
fordert. Recht bezeichnend für die Stellungnahme der freien
Gewerkschaften zu der Reichsversicherungsordnung ist folgender
Beschluß:
„Für den Fall, daß die in dem Entwurfe der Reichsversicherungsordnung
vorgesehene Halbierung der Beiträge und der Vertretung für die Krankenver-
sicherung Gesetz werden sollte, verpflichten sich die der (reneralkommission ange-
schlossenen Gewerkschaften, dahin zu wirken, daß die Gewerkschaftsbeiträge um
denjenigen Betrag erhöht werden, den die Arbeiter infolge der geminderten Bei-
tragszahlung zur Krankenversicherung ersparen. Die dadurch erzielten Mehrein-
nahmen sollen dazu verwandt werden, den Einfluß, der den Arbeitern innerhalb
der Verwaltung der Krankenkassen genommen wird, durch verschärften gewerk-
schaftlichen Kampf auf wirtschaftlichem Gebiete zu erweitern, um so den der
A lasse durch die Reichsversicherungsordnung zugefügten Schaden auszu-
gleichen.“
Der Gesetzgeber will durch die Halbierung der Beiträge die
für die Arbeiter entstehenden Lasten herabmindern, sofort kommen
die Gewerkschaften und beschlagnahmen die hierdurch freiwerdenden
Beiträge, um sie für reine Kampfeszwecke zu verwenden. Auf diese
Weise wird in die öffentliche Diskussion sowie in die Arbeiterver-
Die Reichsversicherungsordnung. 747
sicherung überhaupt ein Kampfesgedanke hineingetragen, der im
Interesse dieses Friedenswerkes wahrlich nicht erwünscht sein kann.
Jedenfalls beweist obiger Beschluß noch mehr als bisher schon fest-
stand, daß die freien Gewerkschaften und mit ihnen die Sozialdemo-
kratie die Ortskrankenkassen tatsächlich für ihre Zwecke auszunutzen
versucht haben und auch in Zukunft noch auszunutzen gedenken.
Die Betriebskrankenkassen haben ebenfalls zu der Reichs-
versicherungsordnung Stellung genommen. Am 9. Mai hat der Ver-
band zur Wahrung der Interessen der deutschen Betriebskranken-
kassen folgende Resolution gefaßt:
„Die Verbandsversammlung erklärt im Anschluß an die von dem Ausschusse
am 13. April aufgestellten „Entschließungen“ über den Entwurf der Reichsver-
sicherungsordnung: Der erheblichen Ausdehnung der Krankenversicherungspflicht
wird grundsätzlich zugestimmt. Bedenken bestehen jedoch gegen die vorgesehene
Versicherung der Hausgewerbetreibenden. Auch der Ausdehnung der Leistungen
wird zugestimmt. Die Zahntechniker müssen aber zu der allgemeinen Zahn-
behandlung zugelassen werden. Die Betriebskrankenkassen, die bestbewährte und
leıstungsfähigste Kassenart, müssen grundsätzlich als gleichberechtigte Organi-
sationsform neben den Orts- und Landkrankenkassen bestehen bleiben. Sie dürfen
keinesfalls von dem Bestande und der Leistungsfähigkeit der Orts- und Land-
krankenkassen abhängig sein. Als Voraussetzung für das Fortbestehen und die
Errichtung von Betriebskrankenkassen darf, wie bisher, nur eine Mindestzahl von
50 Versicherten festgesetzt werden. Die Errichtung einer neuen gemeinsamen Be-
hördenorganisation für die Reichsversicherung, namentlich von Versicherungs-
ämtern, ist sachlich nicht gerechtfertigt und verumständlicht und verteuert die
Reichsversicherung ganz erheblich. Den Krankenkassen muß das Recht bleiben,
nur bestimmte Apotheken zuzulassen. Bei anderer Rechtslage sind günstige Liefe-
rungsbedingungen überhaupt nicht mehr zu erzielen. Ferner müssen die frei-
egebenen Mittel auch aus anderen Quellen bezogen und selbst abgegeben werden
xönnen. Die Regelung der Arztfrage wird auf das Entschiedenste zurückgewiesen ;
sie läuft tatsächlich auf die zwangsweise Einführung der freien Arztwahl hinaus
und gibt die Krankenkassen den Aerzteorganisationen preis. Die Arztfrage ist für
die Krankenkassen eine Lebensfrage. Erfolgt nicht eine Regelung dieser Frage
mindestens im Sinne der Bestimmungen des ersten Entwurfs, so ist die ganze
Neuordnung der Krankenversicherung für die Krankenkassen unannehmbar.*
Auch auf seiten der Industrieverbände ist der Entwurf der
Reichsversicherungsordnung auf das eifrigste diskutiert worden. Der
Zentralverband deutscher Industrieller hat in verschie-
denen Verhandlungen die Erweiterung des Kreises der Kranken-,
Unfall- und Invalidenversicherung sowie die Schaffung größerer
Rechtsklarheit und eines einheitlichen Instanzenzuges als Verbesse-
rung anerkannt, andererseits hat er gegen die unübersichtliche und
unpraktische Zusammenfassung aller Versicherungsgesetze in ein
Gesetz von 1754 Paragraphen und gegen die Schaffung eines so-
genannten Unterbaues von mindestens 1000 Versicherungsämtern
Einspruch erhoben. Die Bestimmungen über das Verhältnis der
Kassen zu den Aerzten erklärte er für unannehmbar, da sie ein-
seitig im Interesse der Aerzte abgefaßt und die notwendige Rück-
sicht auf die Existenzbedingungen der Kassen vermissen lassen.
Ebenso hat der Zentralverband gegen die geplanten Beschränkungen
der Betriebskrankenkassen Einspruch erhoben.
748 M. Wagner,
Die 36. Vollversammlung des Deutschen Handelstages
lehnte die Zusammenfassung der verschiedenen Versicherungszweige
in ein einheitliches Gesetz ab, verwarf auch die Errichtung von ört-
lichen Versicherungsämtern und stellte sich auf den Standpunkt, es
genüge für die Vereinheitlichung der Zuständigkeit und des In-
stanzenzuges, wenn die bisherigen Schiedsgerichte unabhängig ge-
macht und ausgebaut würden. Ferner stellte sich der Deutsche
Handelstag auf den Standpunkt, das Reichsversicherungsamt müsse
in seiner Spruchtätigkeit für die Unfall-, die Invaliden- und die
Hinterbliebenenversicherung für alle Entscheidungen von grundsätz-
licher Bedeutung als Rekursinstanz erhalten bleiben. Bei der Rege-
lung der Aerzteverhältnisse müsse der besondere und allgemeine
Aerztevertrag als durchaus gleichwertig behandelt und die Kassen
dürften nicht gezwungen werden, den Versuch mit jedem der beiden
Systeme zu machen, ehe sie die Ermächtigung erhielten, die ärzt-
liche Versorgung durch Geldleistung zu ersetzen. Trotz der hohen
Belastung der Arbeitgeberschaft durch die Hinterbliebenenversiche-
rung sprach sich der Deutsche Handelstag auch für die Einführung
dieses Versicherungszweiges aus, unterließ jedoch nicht zu betonen,
daß eine weitere Anspannung der Öffentlichen Fürsorge die ernste
Gefahr in sich berge, das Gefühl der persönlichen Verantwortlich-
keit, diese kräftige Triebfeder der wirtschaftlichen Tätigkeit, mehr
und mehr zu lähmen.
Von dem geschäftsführenden Ausschuß des Deutschen Hand-
werks- und Gewerbekammertags wird unter anderem ge-
fordert, daß der Vorsitzende der Krankenkassenorganisationen in
jedem Falle dem Stande der selbständigen Gewerbetreibenden ent-
nommen werden müsse, und daß die Halbierung der Stimmen bei
allen Abstimmungen unbedingt garantiert werde. Nur unter diesen
Umständen vermöge der Deutsche Handwerks- und Gewerbekammer-
tag der Halbierung der Beiträge überhaupt zuzustimmen.
Mit ganz besonderer Heftigkeit ist auch die Aerzteschaft
gegen die Bestimmungen des (Gesetzentwurfes über die Regelung
der Aerztefrage aufgetreten. Nach überaus heftiger Diskussion hat
der Leipziger Verband folgende Resolution angenommen ;
„Der außerordentliche Deutsche Aerztetag stellt fest, daß der dem Reichstag
vorgelegte Entwurf einer Reichsversicherungsordnung in seinen Bestimmuugen über
die Ordnung des kassenärztlichen Dienstes die set langen Jahren immer wieder
einmütig erhobenen Forderungen der im Deutschen Aerztevereinsbunde organisierten
24000 Aerzte unberücksichtigt läßt. Er erkennt in der geplanten Errichtung ge
trennter Vertragsausschüsse für jedes kassenärztliche System die Gefahr, daß in
die Einigkeit der Aerzteschaft Bresche gelegt, die ärztliche Organisation ausge
schaltet und vernichtet wird und so die Aerzte wehrlos gemacht und der unbe
schränkten Herrschaft der Kassenvorstände ausgeliefert werden. Eine Ordnung
der Arztfrage, die selbstsüchtigen Sonderbündlern ihre Fürsorge zuwendet un
sogar Wortbrüchige den vom Staate eingesetzten Ehrengerichten entzieht, dafür
aber das jedem freien Berufe zustehende Koalitionsrecht beseitigt, lehnt der Aerztet
entschieden ab. Eine solche Ordnung ist nicht geeignet, den von allen Seiten un
nicht zuletzt von der deutschen Aerzteschaft im Interesse aller sozialen Fürsorge-
einrichtungen als unbedingt notwendig erkannten Frieden zwischen Aerzten und
Die Reichsversicherungsordnung. 749
Krankenkassen herbeizuführen, sondern nur sehr dazu angetan, den Krieg zwischen
Kassen und Aerzten zu verschärfen und zu verewigen, und dazu noch Kampf und
Streit der Aerzte untereinander zu entfachen. Immer und immer wieder hat der
Deutsche Aerztetag seine maßvollen und gut durchführbaren Forderungen einmütig
aufgestellt. Sie sind ein untrennbares Ganzes und müssen es bleiben. Immer
und immer wieder hat der Deutsche Aerztetag gezeigt, wie leicht man durch ıhre
Erfüllung im Rahmen des Gesetzes eine glückliche Lösung der Kassenarztfrage
und dauernden Frieden zwischen Aerzten und Versicherungsträgern herbeiführen
kann. Er will auch bis in die letzte Stunde an dem Versuch einer friedlichen
Lösung festhalten, und beauftragt deshalb seinen Geschäfssausschuß, dem Reichstag
sofort die von ihm als unbedingt notwendig erkannten Abänderungen des Entwurfs
mit Begründung zur Berücksichtigung zu unterbreiten. Er erwartet, daß die Ge-
setzeebung, nachdem sie den Aerztestand mit seinen Berufsnotwendigkeiten seit
Beginn der sozialen Gesetzgebung als nicht beachtenswert beiseite gelassen hat,
nunmehr endlich seinen Forderungen die gesetzliche Anerkennung verschafft. Der
Deutsche Aerztevereinsbund erklärt nochmals feierlich, daß er jedem Versuch, die
Einigkeit der Aerzte zu untergraben, ihre Koalitionsfreiheit anzutasten und Schutz-
maßregeln für Schädlinge des Standes zu treffen, den äußersten Widerstand ent-
egensetzen wird. Er ruft heute in der Stunde der Not und Gefahr von neuem
ie Aerzteschaft auf, in festem Zusammenschluß die Waffen der Selbsthilfe bereit
zu halten, und beauftragt den Leipziger Verband, schleunigst alle Maßnahmen zu
ergreifen, die dem Aerztestande die Freiheit seiner Berufsausübung auf jeden Fall
zu gewährleisten und die ihm gebührende Stellung den Krankenkassen gegenüber
zu sichern geeignet sind.*
Mit dem in dieser Resolution vertretenen Standpunkt haben
sich nicht alle Aerzte identifiziert, eine ganze Reihe von Aerzten
nimmt einen mehr versöhnlicheren und milderen Standpunkt ein.
So hat z. B. der Vorstand des Vereins Berliner Kassenärzte mit
freier Aerztewahl sich mit den Vorschlägen des Entwurfes einver-
standen erklärt und bemerkt hier unter anderem folgendes:
„Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Arztsystems würde die Kassen
der Freiheit der Vertragschließung berauben, da sie dann einer mehr oder minder
geschlossenen, im Leipziger Verbande geeinten Mehrheit von Vertragsgegnern gegen-
überständen, die ihrerseits nicht verpflichtet sind, ihre Tätigkeit auszuüben. Nimmt
man den Kassen das Recht, auch mit anderen Aerzten Verträge abzuschließen, so
ist die koalierte Aerzteschaft in der Lage einseitig nach Gutdünken ihre Vertrags-
bedingungen zu diktieren. Die Kassen sind dann nicht imstande, sich unbilliger
und übertriebener Forderungen der Gegenseite zu erwehren, und die Ausgaben (der
Krankenkassen könnten so eine unerschwingliche Höhe erreichen, Die soziale
Versicherung ist der Arbeiter, nicht der Aerzte wegen geschaffen.“
Die Apotheker sind ebenfalls mit den Bestimmungen des Ent-
wurfes über die Regelung der Apothekerfrage durchaus nicht ein-
verstanden. Der Deutsche Apothekertag hat insbesondere dagegen
protestiert, daß die Apotheken verpflichtet werden sollen, alle nicht
stark wirkende Mittel enthaltenden Arzneien zu Handverkaufspreisen
zu liefern. Und zwar wird dies damit begründet, daß eine solche
Bestimmung nicht nur eine ständige Quelle der schwierigsten Streitig-
keiten zwischen Kassen und Apothekern bilden, sondern auch die
Lebensfähigkeit der meisten Apothekenbetriebe im höchsten Grade
beeinträchtigen oder gar aufheben würde.
Die Berufsgenossenschaften wandten sich auf dem 24.
ordentlichen Berufsgenossenschaftstag in Berlin insbesondere gegen
die Errichtung der Versicherungsämter. Nicht mit Unrecht ist her-
750 M. Wagner,
vorgehoben worden, von dem Versicherungsamtmann könne eine so
eingehende Kenntnis der allgemeinen beruflichen Verhältnisse und der
Rechtsprechung nicht vorausgesetzt werden, wie sie die eigenen Organe
der Berufsgenossenschaften auf Grund ihrer engen Beziehungen zum
gewerblichen Leben und ihrer langiährigen Erfahrungen besäßen.
Ferner hat sich der Berufsgenossenschaftstag mit der Begründung,
das Unfallversicherungswesen sei noch zu jung, als daß das Reichs-
versicherungsamt von der Aufgabe, die Praxis der Unfallentschädigung
auch auf dem Gebiete der tatsächlichen Beurteilung zu leiten und
zu überwachen, entbunden werden könnte, gegen die Beseitigung des
Rekurses erklärt. Der Gesamtaufwand für die Versicherungsämter
wird im Gegensatz zu der Begründung des Gesetzentwurfes auf
30 Mill. berechnet, von denen auch nicht der kleinste Bruchteil der
Erhöhung der Versicherungsleistungen oder sonstiger materieller
Forderungen zugute käme. Die vorgeschlagenen Bestimmungen
über die Ansammlungen des Reservefonds haben den Beifall der
Berufsgenossenschaften nicht gefunden, vielmehr wird verlangt, daß
die Rücklagen jeder gewerblichen Berufsgenossenschaft dauernd die
doppelte Höhe der Summe der laufenden Renten betragen muß.
Diejenigen Berufsgenossenschaften, deren Reservefonds zurzeit dieser
Forderung noch nicht entspricht, sollen verpflichtet werden, bis zum
Jahre 1925 das Fehlende mit der Maßgabe zu ergänzen, daß das
Versicherungsamt unter besonderen Verhältnissen diese Frist um
höchstens 10 Jahre verlängern kann und die Höhe des jährlichen
Zuschlags zu bestimmen hat.
Die Landesversicherungsanstalten vertreten den Stand-
punkt, es solle den Versicherungsbehörden keine Sonderstellung
gegenüber den Versicherungsträgern eingeräumt, vielmehr ausdrück-
lich im Gesetz bestimmt werden, daß die Versicherungsträger in
gleicher Weise wie die Aemter der Reichsversicherung zur Durch-
führung der Reichsversicherung berufen sind. Ferner wird gefordert,
daß die Kosten der Versicherungsämter nicht den Versicherungs-
trägern zur Last fallen sollen, es wird auch auf die Möglichkeit
hingewiesen, auf die im bestehenden Gesetz vorgesehenen Renten-
stellen an Stelle der im Entwurf vorgesehenen Versicherungsämter
zurückzugreifen.
Damit sind die mannigfaltigen Kundgebungen zur Reichsver-
sicherungsordnung nicht erschöpft, vielmehr handelt es sich hier um
eine ganz kleine Auslese, die aber schon beweist, daß die Ansichten
der beteiligten Interessentengruppen sich zum Teil ganz diametral
gegenüberstehen. Die Heftigkeit der Stellungnahme durch die Inter-
essenten, die in einigen Fällen fast zur Leidenschaftlichkeit aus-
geartet ist, beweist, welches Interesse für die Arbeiterversicherung
in weiten Bevölkerungsschichten wurzelt. Auch die erste Lesung
im Reichstag hat gezeigt, daß vorläufig keine Hoffnung vorhanden
ist, die verschiedenen Parteien mit ihrer grundverschiedenen Ansicht
auf einer mittleren Linie zu vereinigen. Die Kommission, welcher
der Entwurf zur Vorberatung überwiesen worden ist, wird während
e Die Reichsversicherungsordnung. 751
der Reichstagsferien tagen. Besonders erfreulich ist, daß in zwei
industriereichen preußischen Provinzen zunächt einmal gewisser-
maßen ausprobiert werden soll, wie der Entwurf, namentlich auch
die im Entwurf vorgesehenen Versicherungsämter, in der Praxis funk-
tionieren und welche Kosten sie verursachen werden.
Der Reichstag hat es nunmehr in der Hand, der Reichsversiche-
rungsordnung diejenige Gestaltung zu geben, die dem Interesse der
Versicherten, der Arbeitgeber und der gesamten deutschen Volks-
wirtschaft entspricht. Parteipolitische Momente sind schließlich in
keinem Parlament auszuschalten, indessen sollten sich gerade bei
einem solchen Friedenswerk die Parteien darüber einig sein, daß es
darauf ankommt, unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit beider
Teile, namentlich unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung der
industriellen Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt an das Werk
der Reform heranzugehen.
752 Anton Vizaknai,
VIII.
Die ungarische Volkszählung am Ende des
Jahres 1910.
Von
Dr. Anton Vizaknai,
Ministerialrat, Vizedirektor des königl. ungar. statistischen Zentralamts.
Die ungarische Volkszählung des Jahres 1910 kann sich, was
das System der Durchführung der Volkszählung betrifft, in den be-
kannten Bahnen bewegen. Unsere früheren Volkszählungen, insbe-
sondere die des Jahres 1890 und 1900, wurden mit einer so ent-
wickelten Technik durchgeführt, daß bei der Volkszählung des Jahres
1910 keine meritorischen Neuerungen in Aussicht stehen, und die
kleineren Vervollkommnungen technischen Charakters sind so gering-
fügig, daß die Behandlung derselben nicht in den Rahmen dieses
Artikels gehört.
Was bei dem System der Volkszählung das Wichtigste ist, näm-
lich das Aufnahmsformular, so hat sich das bei uns bereits dreimal
angewendete System der Zählkarte so sehr bewährt und den früheren
Ausweis- oder Registersystemen gegenüber als so vorteilhaft er-
wiesen, daß wir dasselbe jedenfalls sowohl bei der nächsten, als
auch bei späteren Volkszählungen beibehalten sollen, obwohl es nicht
zu leugnen ist, daß die Konskription mittels Zählkarten dem Zählungs-
kommissär bedeutend mehr Arbeit gibt, als wenn die Volkszählung
durch Eintragung der Daten in die Konskriptionslisten erfolgen würde.
Wir sollen das bei uns gut bewährte System der Zählkarte bei-
behalten, obgleich jener große Nachteil der Registerkonskription —
wonach behufs vielseitiger kombinativer Ausnützung der Daten die-
selben vor der Aufarbeitung zuerst aus den Registern auf Zählkarten
herausgeschrieben werden müssen, weil ohne derartige vorherige
Herausschreibung die Aufarbeitung nur sehr unvollkommen möglich
wäre, — mit Hilfe der neueren Aufarbeitungstechnik heute schon
einigermaßen paralysiert werden kann. Einerseits läßt sich nämlich
die Aufarbeitung mit Hilfe der Lucien Marchschen Rechenmaschinen
auch unmittelbar aus den Registern — wenn auch mit nicht so
reichen Kombinationen als aus den Zählkarten — vornehmen, anderer-
seits kann man mit Hilfe der mit den elektrischen Rechenmaschinen
verbundenen Perforiermaschinen die Daten der Register mit Leichtig-
keit und verhältnismäßig ohne große Kosten auf die Personalblätter
übertragen. Wenn wir also, das System der Zählkarte und der Re-
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 753
gister miteinander vergleichend, ausschließlich jene technischen Ge-
sichtspunkte ins Auge fassen, welche sich bei der Durchführung der
Volkszählung und bei der zentralen Aufarbeitung der Daten ergeben,
so müßten wir eigentlich für das Registersystem Stellung nehmen,
da dasselbe bei der Konskription weniger Arbeit verursacht und da
die bei der zentralen Aufarbeitung früher vorgekommenen Nachteile
mittels der heutigen Aufarbeitungstechnik leicht überwunden werden
können. Nur haben all diese technischen Gesichtspunkte eine unter-
geordnete Bedeutung gegenüber dem großen Vorteil, den die Kon-
skription mittels Zählkarten vor dem Registersystem dadurch voraus
hat, daß es die Gruppierung der bei demselben Arbeitgeber, bei dem-
selben Unternehmen angestellten Personen und somit die Klassi-
fizierung der ganzen Bevölkerung nach den verschiedenen Berufs-
betrieben ermöglicht.
Die ungarische Volkszählung des Jahres 1890 hat zum ersten-
mal auf der Zählkarte der Angestellten (und zwar damals bloß be-
züglich des industriellen Hilfspersonals) den Namen und die Unter-
nehmung des Arbeitgebers erfragt und diese wertvollen Daten für
die Zwecke der industriellen Betriebsstatistik auch tatsächlich aus-
genützt. Seither wurde dieser Fragepunkt von dem industriellen
Hilfspersonal auf sämtliche angestellte Personen ausgedehnt, in die
Aufnahmeformulare der meisten ausländischen Volkszählungen über-
nommen und gilt heutzutage als einer der wertvollsten Fragepunkte
über die Berufstätigkeiten, zumal die darauf erteilten Antworten die
einzige Möglichkeit bieten, die Bevölkerung — bei gleichzeitiger
Kombinierung der gesamten demographischen Daten — nach Berufs-
betrieben zu gruppieren und jede Person bei demjenigen Wirtschafts-,
bezw. Produktionszweig einzureihen, zugunsten dessen dieselbe tat-
sächlich tätig ist, z. B. den Tischler, welcher in einer Kartonfabrik
arbeitet, nicht zu den übrigen Tischlern, sondern bei der Karton-
fabrikation, jenen, der in einer Maschinenfabrik angestellt ist, bei der
Maschinenfabrikation, den im Bergbau Beschäftigten zum Berg-
bau etc.
Doch ist jene Vervollkommnung der Berufsstatistik, zu welcher
nur der Fragepunkt über den Arbeitgeber der Angestellten Gelegen-
heit gibt, praktisch nur so durchführbar, wenn die den Namen und
das Unternehmen des Arbeitgebers anführenden Daten nicht in Re-
gister eingetragen werden, sondern auf einzelne Zählkarten zusammen-
gestellt zur Verfügung stehen; denn nur so ist es möglich, die Zähl-
karten der einen gemeinsamen Arbeitgeber angebenden, eventuell
nicht nur an verschiedenen Plätzen derselben Gemeinde, sondern in
verschiedenen Gemeinden des Landes wohnenden, oftmals viele hundert,
ja viele tausend angestellten Personen um die Zählkarte des gemein-
samen Arbeitgebers nebeneinander zu gruppieren. Dies ist also der
Grund dafür, daß wir das Zählkartensystem bei den Volkszählungen
dem Registersystem unbedingt vorziehen. Und wir wollen wünschen,
daß nicht nur unsere nächste Volkszählung, sondern auch die späteren
ungarischen Volkszählungen mittels Zählkarten vorgenommen werden,
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 48
754 Anton Vizaknai,
obgleich diese Art der Volkszählung bedeutend mehr Arbeit verur-
sacht, als die registermäßige Volkszählung !).
Im übrigen ist es auch möglich, die mit der Ausfüllung der
Zählkarten verbundenen großen schriftlichen Arbeiten zu vermindern.
Die Zählkarte hat zahlreiche Fragepunkte, worauf Antworten nur in
beschränkter Zahl möglich sind. Bezüglich dieser könnten die Ant-
worten in der Zählkarte gedruckt aufgenommen werden und würde
die Ausfüllung des Fragepunktes ohne jede weitere schriftliche Arbeit
durch einfaches Unterstreichen der betreffenden Antwort ermöglicht
sein. Wir haben dieses Verfahren bereits bei der im Jahre 1904 zu
Wahlreformzwecken vorgenommenen statistischen Erhebung, welche
eigentlich eine Volkszählung betreffs der männlichen Bevölkerung
über 20 Jahre war, ohne jeden Nachteil angewendet; außerdem ist
dieses Verfahren auch bei mehreren jährlichen systematischen Daten-
sammlungen eingeführt, so bei der Populations- und Volksunterrichts-
statistik, deren datenliefernde Personen gelegentlich bei der Volks-
zählung die Agenden der Zählungskommissäre und der Volkszählungs-
revisoren versehen werden, und so glauben wir, diese Vereinfachung
1) Ich muß jedoch hier bemerken, daß ich das Zählkartensystem nur bei solchen,
alle wissenschaftlichen Anforderungen und vielseitigen praktischen Aufgaben ins Auge
fassenden Volkszählungen für unbedingt notwendig halte, wie es unsere bisherigen Volks-
zählungen waren und wie wir auch die Volkszählung für das Jahr 1910 in Aussicht
genommen haben. Könnten wir jedoch — was ich sowohl vom statistischen Gesichts-
punkt. als auch im Interesse wichtiger praktischer Zwecke sehr dringend wünschte —
zwischen den großen Volkszählungen der mit Null endigenden Jahre am Ende der
5-Jahre-Volkszählungen abhalten, so würde ich selbst den Vorschlag machen, bei diesen
Volkszählungen, wobei man sich auf die Feststellung der Seelenzahl nach Geschlecht,
Alter, Religion, Muttersprache und nach ungarischer Sprachkenntnis, sowie auf die Berufs-
tätigkeit (doch ohne die eigentliche Betriebsstatistik) beschränken könnte und im übrigen
bloß einige vom Gesichtspunkt der Wahlberechtigung notwendig erscheinenden anderen
Daten betreffs der männlichen Bevölkerung über 24 Jahre sammeln müßte, — das Re-
gistersystem anzuwenden, wodurch die Kosten der Volkszählung sowohl bei der lokalen
Durchführung, als auch bei der zentralen Aufarbeitung im Verhältnis zu unseren eigent-
lichen großen Volkszählungen, die mittels Zählkarten vorgenommen werden, mindestens
auf ein Viertel herabsinken würden.
Ich halte die Volkszählungen am Ende der Der Jahre vom statistischen Gesichts-
punkt deshalb für sehr notwendig, weil die Volkszählungsdaten durch die immer inten-
siver werdenden Populationsbewegungen in der zweiten Hälfte des Jahrzehntes so sehr
veralten, daß sie beinahe unbrauchbar werden, und auch die Ergebnisse der jährlichen
Datensammlungen der Populationsstatistik, welche nur den entsprechenden Bevölkerungs-
daten kombiniert, lehrreich sind, verlieren ebenfalls ihren Wert. Aber auch im Inter-
esse der praktischen Verwaltung wäre es sehr erwünscht, am Ende der 5er Jahre Volks-
zählungen abzuhalten, weil bei dieser Gelegenheit für jede Gemeinde aus dem Volks-
zählungsmaterial ein solches Stammbuch der Gemeindebevölkerung, sodann eine solche
Stammliste der Bewahr- und Schulpflichtigen und der Reichstagswähler zusammengestellt
werden könnte, welche, ohne jede neuere Konskription nur durch die entsprechenden
Jahresergänzungen erweitert, 5 Jahre hindurch zu verwenden wäre. Hierdurch könnte
man sozusagen ohne neuere Kosten mit einem Schlag in dem Gemeindeleben Ordnung
schaffen, ja sogar noch Ersparnisse erzielen, da die jetzt übliche jährliche Konskription
der bewahr- und schulpflichtigen Kinder und der Reichstagswähler durch 5 Jahre jeden-
falls mehr kostet, als die Durchführung einer Registervolkszählung am Ende jedes 5er-
Jahres. Die Stammbücher über die Gemeindebevölkerung, welche bei der kommunalen
Verwaltung so dringend notwendig wären, könnten auf diese Art sozusagen ohne neuere
materielle Opfer geschaffen werden.
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 755
auch bei der 1910er Volkszählung ohne weitere Bedenken anwenden
zu können.
Eine solche Erleichterung haben die ungarischen Volkszählungen
um so mehr notwendig, weil sich dieselben im Verhältnis zu denen
anderer Länder durch die Reichhaltigkeit der Fragepunkte auszeichnen
und nicht nur auf jene Fragen beschränken, welche vom Statistischen
Kongreß in St. Petersburg festgestellt wurden, sondern auch zahlreiche
andere Fragen umfassen, deren Erforschung vom staatlichen oder
sozialen Gesichtspunkt aus Wichtigkeit hat und deren Zahl sich bei
der Volkszählung des Jahres 1910 sicherlich noch erweitern wird.
Im Jahre 1900 waren Name, Geburtsjahr, Geschlecht, Familien-
stand, Beschäftigung (erweitert mit den Daten über den Haus- und
Grundbesitz, über den Pacht- und Teilbesitz), Kenntnis des Lesens
und Schreibens, Religion, Muttersprache und Kenntnis sonstiger
Sprachen, Staatsbürgerschaft, Geburtsort und eventuell geistiges oder
körperliches Gebrechen auch schon Gegenstand der Volkszählung.
Dieselbe erstreckte sich außerdem in Form von separaten auf der
Rückseite der Zählkarte aufgenommenen Fragen auf die Feststellung
der Arbeitslöhne und der Arbeitszeit des Industrieverkehrshilfs-
personals und auf die Konstatierung der Einrichtung und der Pro-
duktionsdaten der mit weniger als 20 Hilfspersonen arbeitenden
Industrieunternehmungen.
Das Ergebnis der Volkszählung des Jahres 1900 lieferte den Beweis,
daß die Aufnahme dieser bloß die Industrie- und Verkehrsbevölke-
rung umfassenden Spezialfragen in die Zählkarte nicht praktisch ge-
wesen war. Die diesbezüglichen Daten waren einerseits sehr mangel-
haft und die betreffenden Fragepunkte blieben auf vielen Zählkarten
unausgefüllt, andererseits waren die eingelaufenen Daten zum guten
Teil unzuverläßlich.
Die Feststellung der Daten über Arbeitslohn- und Arbeitszeit,
sowie über Einrichtung und Produktionsverhältnisse der Industrie-
betriebe wäre übrigens in den Rahmen unserer Volkszählung selbst
in dem Falle kaum richtig einzufügen, wenn man voraussetzen könnte,
daß wir auf diese Frage gelegentlich der Volkszählung genaue und
verläßliche Antworten erhalten. Auch die halbwegs ausführliche Be-
leuchtung der Lohn- und Arbeitszeitverhältnisse, sowie der Einrich-
tungs- und Produktionsverhältnisse der Industriebetriebe würde näm-
lich so zahlreiche Fragepunkte erfordern, daß die Aufnahme derselben
in die Zählkarte auch schon wegen Raummangels physisch unmöglich
wäre. Eine derartige Datensammlung wäre vielleicht zwar gleich-
zeitig mit der Volkszählung, jedoch mittels eines separaten detail-
lierten Aufnahmeformulars als besondere und höchstens mit der
Volkszählung zusammenhängende Aufnahme durchzuführen, was unter
unseren Verhältnissen allerdings eine Beeinträchtigung der eigent-
lichen Volkszählungsarbeiten nach sich ziehen würde.
Die Fragepunkte über Arbeitslohn und Arbeitszeit, sowie über
Einrichtungs- und Produktionsverhältnisse der Industriebetriebe
werden also infolge der bei der Volkszählung des Jahres 1900 ge-
Ars
756 Anton Vizaknai,
machten ungünstigen Erfahrungen nicht Gegenstand der 18%er
Volkszählung sein. An Stelle desselben werden andere ebenfalls
wichtige und gemeinnützliche, jedoch solche Fragepunkte aufgenommen
werden, welche mit den demographischen Verhältnissen der Bevöl-
kerung in engerem Zusammenhang stehen, allgemeiner Natur sind
und in Form von einfachen klaren Fragen aufgestellt werden können,
worauf sich auch die bezüglichen Antworten leicht und verläßlich
geben lassen, die also bei der Volkszählung zur Berechnung viel
geeigneter sind, als es die auf der Rückseite der 1900er Zählkarte
angeführten Fragen waren.
Bevor ich auf die Besprechung dieser neuen Fragepunkte über-
gehe, will ich vorher noch zwei sehr wichtige Fragen der Volkszählung
erörtern, welche schon bei unseren bisherigen Volkszählungen Gegen-
stand von Nachforschungen waren, deren genaue und verläßliche
Daten jedoch nicht nur bei uns, sondern auch bei den ausländischen
Volkszählungen nur mit großen Schwierigkeiten beschafft werden
können. Es sind dies die Fragen über das Lebensalter und die
Berufstätigkeit.
Die Textierung des Fragepunktes über das Lebensalter ist sehr
einfach; denn ob wir das Geburtsjahr (eventuell auch Tag und Monat)
oder das zur Zeit der Volkszählnng erreichte Lebensalter erfragen,
so ist die Frage in beiden Fällen klar und prägnant, und somit kann
auch die Antwort prägnant sein. Die Schwierigkeit besteht darin,
daß es viele Leute gibt, welche weder das Jahr, noch den näheren
Zeitpunkt ihrer Geburt, noch ihr Lebensalter genau kennen und das-
selbe sehr oft nur approximativ anzuführen wissen, sich dabei je-
doch häufig um 4—5, ja sogar um noch mehr Jahre irren. Daher
kommt es, daß nicht nur bei uns, sondern auch in den Altersdaten
der ausländischen Volkszählungen die mit Null und 5 endigenden
Geburts-, bezw. Altersjahre in unverhältnismäßig großer Zahl vor-
kommen 1).
Die genaue Feststellung des Alters und auf dieser Basis die De-
taillierung der Bevölkerung dem Lebensalter nach, hat aus mehreren
Gründen sehr große Bedeutung, ja man kann sagen, daß dieser Teil
der Volkszählungsarbeit sozusagen den fundamentalen Teil der
ganzen Volkszählung bildet. Infolge des Umstandes, daß einzelne
bürgerliche Pflichten und Rechte (wie z. B. Bewahr- und Schulpflicht,
1) Im Nachstehenden einige einschlägige Beispiele aus den Daten der ungarischen
Volkszählung des Jahres 1900:
männlich weiblich männlich weiblich
19 Jahre alt 150468 154 538 44 Jahre alt 102 872 97 234
20:5 „ 161119 195 135 45 „ ep EEJ742 122 443
21i s on 150800 137138 | 46 u » 94 173 90 397
29 5 » 101350 or 588 49 „ o 77 219 64 049
30 a Ae 197741 197 551 50 a w 138657 165 106
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41 y Ae 97 778 82004 | 56 „ e 82 348 74 845
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 757
Wehrpflicht, Wahlberechtigung) an eine gewisse Altersgrenze ge-
bunden sind, hat es einen großen praktischen Wert, auf Grund der
Altersdaten die Zahl der in dem betreffenden Alter stehenden Per-
sonen festzustellen. Eine noch größere Bedeutung haben die Daten
über das Lebensalter vom rein statistischen Gesichtspunkt. Vor
allem ist es evident, daß auch die übrigen sämtlichen Daten der
Volkszählung, insbesondere die über Geschlecht, Familienstand und
Bildungsgrad, sodann über Religion, Muttersprache und sonstigen
Sprachenkenntnisse und auch über die Berufstätigkeit nur dadurch
so recht lehrreich werden, wenn wir dieselben mit dem Lebensalter
kombinieren können. Und somit wären namentlich die statistischen
Daten über die Eheschließungen, Geburten und Todesfälle nur von
geringem Wert, wenn deren Ergebnisse mit den entsprechenden
Altersverhältnissen der gesamten Bevölkerung nicht kombiniert
werden könnten.
Die Frage der genauen Feststellung des Lebensalters wäre leicht
zu lösen, wenn im Zusammenhang mit unserer staatlichen Matrikel-
führung die Einrichtung der sogenannten Familienbücher (bezüglich
der unverheirateten großjährigen Personen an Stelle derselben die
Personalbücher) eingeführt, nämlich bei jeder Eheschließung für die
Eheleute ein Familienbuch ausgestellt würde, in welches die wesent-
lichsten Personaldaten der Eheleute, sowie der Eltern derselben,
darunter insbesondere Ort und Zeit ihrer Geburt, und nachher die
aus der Ehe entsprossenen Kinder und die in der Familie vor-
kommenden Todesfälle ebenfalls eingetragen würden. Solche Fa-
milienbücher hätten nicht bloß vom statistischen und genealogischen
Gesichtspunkt sehr große Wichtigkeit, sondern würden auch die
Genauigkeit und Schnelligkeit der Immatrikulierung fördern; denn
der Matrikelführer brauchte bei Eintragung solcher Geburts- oder
Todesfälle, die ein aus einer in das Familienbuch bereits einge-
tragenen Ehe entstammendes Kind betreffen, die Daten über die
Eltern nicht durch zeitraubende lange Fragestellungen festzustellen,
und er würde nicht — wie die Erfahrung zeigt — in vielen Fällen
irrtümliche, von ähnlichen Eintragungen abweichende Aufzeichnungen
machen, sondern er könnte sich bei derartigen Eintragungen auf die
positiven Daten des Familienbuches stützen. Die geringe Mehr-
arbeit bei Ausstellung der Familienbücher wäre nicht bloß durch
die größere Genauigkeit und Verläßlichkeit der Matrikeln reichlich
belohnt, sondern auch durch die bei den einzelnen Matrikelein-
tragungen erreichbare bedeutende Arbeitsersparnis, da auch hierfür
der Satz gilt, daß ein im Interesse der Ordnung gebrachtes Opfer
eigentlich kein Opfer ist.
In Ermangelung von Familienbüchern sucht man in einzelnen
Staaten, unter anderem auch in Oesterreich, die Genauigkeit der
Altersdaten bei den Volkszählungen in der Art zu fördern, daß zu
Volkszählungszwecken die Ausfertigung kostenfreier Matrikelauszüge
für alle Fälle angeordnet wird, wo die Parteien ihr Alter nicht ge-
nau kennen und auch solche authentische Dokumente nicht vorweisen
758 Anton Vizaknai,
können, woraus die Zeit der Geburt festzustellen ist. Bei Fest-
stellung des Aufnahmeformulars für die 1900er Volkszählung wurde
dieses Verfahren auch bei uns in Erwägung gezogen, doch ergab
sich, daß dasselbe bei unserer doppelten Matrikelführung kaum einen
Erfolg haben könnte. Die Institution der staatlichen Matrikeln be-
steht nämlich bei uns erst seit 15 Jahren. Im Interesse der Ge-
nauigkeit der Altersdaten aber wären gerade bei den Personen der
höheren Altersklassen solche Matrikelauszüge notwendig, welche
demnach von den kirchlichen Matrikelführern angestellt werden
müßten. Und es ist kaum anzunehmen, daß die Gesetzgebung aus
rein statistischen Gründen sie hierzu verpflichten würde. Ohne
gesetzliche Verpflichtung aber ist absolut nicht darauf zu rechnen,
daß die zu den vielerlei Konfessionen gehörenden kirchlichen Matrikel-
führer die erforderlichen Matrikelauszüge bereitwillig und kostenfrei
ausstellen.
Unter unseren Verhältnissen bleibt also zur Förderung der
Genauigkeit der Altersdaten kein anderes Mittel übrig, als daß in
den auf die Volkszählung bezüglichen Aufrufen und Instruktionen,
sowohl das große Publikum, als auch die Zählungskommissäre in
eindringlichster Weise auf diesen Fragepunkt aufmerksam gemacht
werden. In all den Fällen, wo zufolge des niederen Bildungsgrades
der zu zählenden Person nicht angenommen werden kann, daß dieselbe
die Geburtszeit von sich selbst und ihren Familienmitgliedern genau
kenne, ist es im Interesse der genauen Ausfüllung des Fragepunktes
sehr erwünscht, daß die Zählungskommissäre immer die eventuell
vorhandenen Matrikelauszüge oder sonstige den Zeitpunkt der Ge-
burt oder das erreichte Lebensalter enthaltende Schriftstücke (wie
z. B. Schulzeugnisse, Fleißbücher, Lehrlingsverträge, Lehrlings-
zeugnisse, Dienstbotenbücher, Arbeitsbücher, Mitgliedsbücher von
Krankenkassen etc.) einsehen sollen.
Im übrigen hängt die Genauigkeit der Altersdaten der Volks-
zählungen mit der allgemeinen Bildung enge zusammen, und auf
dieser Basis kann mit Recht angenommen werden, daß die dies-
bezüglichen Daten der 1910er Volkszählung in dem Ausmaß, wie
die allgemeine Bildung inzwischen zugenommen hat, genauer sein
werden, als jene des Jahres 1900. Dieser langsame Prozeß könnte
jedoch, wenigstens was die Zukunft betrifft, durch die Mithilfe der
Volksschulen bedeutend beschleunigt werden. Es ist vielleicht nicht
übertrieben, wenn wir behaupten, daß die Kenntnis unserer Geburts-
zeit für jedermann ebenso eine Grundbedingung der allgemeinen
Bildung ist, wie das Lesen und Schreiben oder die Bewandtnis in
der vaterländischen Geographie und Geschichte, sowie in den bürger-
lichen Rechten und Pflichten. Es wäre deshalb sehr wichtig, wenn
die Elementarschullehrer darauf achten würden, daß die ihnen an-
vertrauten Kinder zum Einprägen ihrer Geburtszeit verhalten werden,
so daß die Geburtszeit dem Kind, wenn dasselbe die Schule verläßt,
sozusagen unauslöschlich im Gedächtnis bleibe. Nachdem die Ge-
burtszeit der Kinder in die Klassenbücher eingetragen wird, hat der
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 759
Lehrer Gelegenheit, diese Daten im Laufe des sechsjährigen Ele-
mentarunterrichtes durch häufige Erinnerungen und Fragestellungen,
bei größeren Kindern durch zeitweises Ausrechnenlassen des er-
reichten Lebensalters (der Jahre, Monate und Tage) mit Leichtigkeit
dem Gedächtnis der Kinder einzuprägen. Damit würde die Volks-
schule nicht bloß der Statistik einen unendlich nützlichen Dienst
erweisen, sondern auch die Genauigkeit der Matrikelführung, ja so-
gar die Schnelligkeit der Eintragungen fördern. Es sprechen also
mehrere wichtige Interessen dafür, daß die Volksschule die Kinder
zum Einprägen ihrer Geburtszeit anhalten solle, weshalb es sehr
erwünscht wäre, wenn das Kultus- und Unterrichtsministerium diese
Aufgabe in den Lehrplan der Volksschulen ehebaldigst aufnehmen
und deren strikte gewissenhafte Durchführung den Lehrern ganz
besonders ans Herz legen würde.
Bezüglich der Schwierigkeiten einer genauen Feststellung der
Berufstätigkeiten ist die Situation gerade umgekehrt wie bei dem
Lebensalter. Während betrefis des Lebensalters die Stilisierung des
Fragepunktes einfach und leicht ist und die Schwierigkeit bloß daraus
entsteht, daß es viele Leute gibt, die ihr eigenes Alter nicht kennen
oder nur approximativ anzugeben wissen, kann jeder Mensch über
seine eigene Berufstätigkeit der Wahrheit entsprechend und mit
Leichtigkeit berichten, vorausgesetzt, daß diesbezüglich entsprechend
detaillierte und verständige Fragen an ihn gerichtet werden. Die
Schwierigkeit liegt hier nur darin, daß es nicht so leicht ist, die
beruflichen Fragepunkte derart präzis, ausführlich und in einer jeden
Zweifel ausschließenden Prägnanz abzufassen, daß die darauf er-
haltenen Antworten ein ganz genaues, treues, ausführliches und
prägnantes Bild der Berufstätigkeiten liefern.
Bezüglich der Zusammenschreibung der Berufstätigkeiten waren
unsere ersten Volkszählungen noch sehr mangelhaft. Die Volks-
zählung des Jahres 1890 stand zuerst in dieser Beziehung auf dem
entsprechenden Niveau und nahm sogar durch die Initiierung des
bereits erwähnten neuen Fragepunktes, sowie durch einige Vervoll-
kommnungen in der Aufarbeitung der Daten (z. B. durch die De-
taillierung der industriellen Facharbeiter, Wandergewerbetreibenden,
Hausierhändler etc.) eine leitende Rolle ein. An der Hand der
Volkszählung des Jahres 1890 und auf Grund der damals erwor-
benen günstigen Erfahrungen wurden die beruflichen Fragepunkte
bei der Volkszählung des Jahres 1900 mit noch größerer Sorgfalt
und Präzisität festgestellt, wobei bereits mit vollem Bewußtsein auf
folgende Grundsätze Gewicht gelegt wurde:
a) die Berufstätigkeiten, bei Vermeidung jeder Allgemeinheit,
mit voller Genauigkeit zu benennen;
b) bei der Benennung jedesmal auch ersichtlich zu machen, ob
der Betreffende seine Berufstätigkeit selbständig oder als Ange-
stellter betreibt, und in letzterem Falle in welcher Eigenschaft;
c) bei den Angestellten den Arbeitgeber und dessei Unter-
nehmung anzuführen ;
760 Anton Vizaknai,
d) bei solchen Personen, die angestellt zu sein pflegen, zur Zeit
der Volkszählung jedoch stellenlos waren, die Zeitdauer der Stellen-
losigkeit einzutragen ;
e) bei den keinen eigenen Erwerb aufweisenden Personen den
Namen und die Berufstätigkeit des Erhalters genau anzuführen.
f) bei solchen Personen, die eine Nebenberuftätigkeit haben,
dieselbe auf dem Zählungsblatt ebenfalls ganz detailliert auszuweisen.
Selbstverständlich sollen diese, bei den berufsstatistischen Auf-
nahmen bereits als allgemeingültig anerkannten Grundsätze ge-
legentlich der Volkszählung des Jahres 1910 ebenfalls berücksichtigt
und womöglich noch kürzer und prägnanter textiert werden, als es
die Fragepunkte der 1900er Volkszählung waren. Außerdem werden
die beruflichen Fragepunkte diesmal mit noch zwei neuen Fragen
ergänzt, von denen die eine betreffs der bei einem Arbeitgeber an-
gestellten Personen feststellen soll, seit wann der Betreffende bei
diesem Arbeitgeber in Verwendung steht, während die zweite Frage
bei den selbständigen Gewerbetreibenden und selbständigen Kauf-
leuten die nähere Art, wie das Gewerbe bezw. der Handel betrieben
wird, feststellen soll, d. h. ob der betreffende Gewerbetreibende oder
Kaufmann ein eigenes ordentliches Geschäft (Werkstätte, Fabrik,
Laden) besitzt oder als Handwerker für fremde Rechnung zu Hause
oder eventuell in der Wohnung des Bestellers arbeitet, ferner ob
derselbe nicht ein Hausindustrieller, Hausierer, Agent oder Markt-
verkäufer ist.
Was den ersten Fragepunkt anbetrifft, seit wann nämlich die
angestellten Personen bei ihrem letzten Arbeitgeber in Verwendung
stehen, so hat die Feststellung desselben sowohl vom Gesichtspunkt
der Solidität der Betriebe des Arbeitgebers, als auch vom Ge-
sichtspunkt der sozialen Lage der Arbeiterklasse überaus große
Wichtigkeit. Namentlich heutzutage, wo die Arbeiterbewegung in-
folge der allgemeinen sozialen Unzufriedenheit und zum Teil infolge
der irreführenden sozialen Aufreizung viel größere Dimensionen an-
genommen hat, als es in den früheren Jahrzehnten der Fall war.
Die Frage hat übrigens auch eine gewisse politische Beziehung, da
in den verschiedenen aufgetauchten ungarischen Wahlrechtsreforn-
entwürfen unter den Rechtstiteln der Wahlberechtigung auch die
dauerndere Anstellung bei ein und demselben Arbeitgeber vorkommt.
Betreffs der Modalitäten, wie das Gewerbe und der Handel be-
trieben wird, enthielt auch schon die Zählkarte des Jahres 1900
eine besondere Rubrik zur Aufnahme der für fremde Rechnung zu
Hause arbeitenden Gewerbetreibenden. Bezüglich der sonstigen
Modalitäten verlangte nur die Instruktion zur Ausfüllung der Zähl-
karten, es solle die Benennung der Berufstätigkeit mit solcher Ge-
nauigkeit erfolgen, daß hieraus diese verschiedenen Modalitäten der
Gewerbe und Handelsbetriebe (ausgenommen die in der Wohnung
der Besteller verrichtete Gewerbearbeit, welche in der Instruktion
des Jahres 1900 nicht erwähnt war), festgestellt werden können.
Selbstverständlich können wir jedoch auf viel genauere und verläß-
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 761
lichere Daten rechnen, wenn nicht nur die Instruktion diese Detail-
lierung vorschreibt, sondern sich auch die Zählkarte selbst in be-
sonderen Fragepunkten hierauf erstreckt.
Bereits bei der Volkszählung des Jahres 1900 kam als wert-
volle Ergänzung der beruflichen Fragepunkte der auf den Haus- und
Grundbesitz sowie auf den Pacht- und Teilbesitz bezügliche Frage-
punkt hinzu, durch dessen Aufnahme die ungarische Volkszählung
gleichfalls bahnbrechend gewirkt hat. Es läßt sich als sicher an-
nehmen, daß auch dieser Fragepunkt, sobald man sich von dem
wahren großen Wert desselben im allgemeinen überzeugt hat, bei
sämtlichen maßgebenden Volkszählungen in Anwendung kommen
wird. Vom Gesichtspunkt der richtigen Klassifizierung der landwirt-
schaftlichen Bevölkerung sind nämlich diese Daten ganz unentbehr-
lich; denn gerade zur Bezeichnung der Berufstätigkeiten der land-
wirtschaftlichen Bevölkerung sind so allgemeine Benennungen (Land-
mann, Bauer, Landwirt etc.) gang und gäbe, daß ohne die ent-
sprechenden Besitzdaten ausschließlich auf Grund der Berufsdaten
nicht einmal die primitivste Gruppierung der landwirtschaftlichen
Bevölkerung (Besitzer, Pächter, landwirtschaftliche Arbeiter etc.) in
verläßlicher Weise durchgeführt werden könnte. Außerdem sind die
Haus- und Grundbesitzdaten auch deshalb wertvoll, weil sie uns
über die wenigstens in Realitäten zum Ausdruck kommenden Ver-
mögensverhältnisse der Personen mit verschiedener Beschäftigung
und sozialer Stellung Aufschluß geben. Die Kenntnis dieser Daten
ist betreffs jeder Berufs- und Gesellschaftsklasse lehrreich, insbe-
sondere aber betreffs der Arbeiterklasse, wo jener Arbeiter, der ein
eigenes Wohnhaus oder einen kleinen Grundbesitz hat, wodurch er
sich eher an die heimatliche Scholle und an die auf der Achtung
und dem Schutz des Privateigentums basierende Gesellschaftsordnung
gebunden fühlt, zweifellos unter eine ganz andere Beurteilung fällt,
wie sein Arbeitergenosse, der kein Fleckchen heimatlichen Bodens
sein eigen nennt und im Existenzkampf bloß auf seiner Hände
Arbeit angewiesen ist. Bei der statistischen Konskription der An-
gehörigen der Arbeiterklasse hat demnach jene Unterscheidung
große Wichtigkeit, wonach die keinen Haus- noch Grundbesitz auf-
weisenden Arbeiter von den irgend eine Realität besitzenden Ar-
beitern ‚separat ausgewiesen werden, wozu der die Haus- und Grund-
besitzverhältnisse betreffende Fragepunkt unserer Zählkarte Gelegen-
heit bietet. Diese Frage wird also im Verhältnis zur Textierung
des Jahres 1900 mit einer Vereinfachung, jedoch in der durch die
doppelte Aufgabe dieses Fragepunktes motivierten Detaillierung und
Präzisität auch in den Rahmen der 1910er Volkszählung aufge-
nommen werden.
Außer jenen Fragepunkten, welche auf der Zählkarte bereits bei
der 1900er Volkszählung vorhanden waren und außer den zwei neuen
Nebenfragen, welche behufs genauerer Feststellung der Berufsver-
hältnisse zur Ergänzung der beruflichen Fragepunkte aufgenommen
wurden, sind für unsere Volkszählung des Jahres 1910 fünf weitere
762 Anton Vizaknai,
neue Fragepunkte in Aussicht genommen, welche die Aufgabe haben
sollen, die eigentlichen demographischen Daten unserer Volkszählung
zu bereichern. Einer der wichtigsten dieser Fragepunkte soll die
Zahl der insgesamt geborenen Kinder von verheirateten, verwitweten
und geschiedenen Personen, sowie darunter die Zahl der noch am
Leben befindlichen Kinder feststellen, eine zweite Frage, welche bei
unseren bisherigen Volkszählungen sich bloß auf die Untersuchung
der elementaren Bildung, des Lesens und Schreibens erstreckte,
wird durch die Erforschung über die Absolvierung von wenigstens
8 bezw. 4 Mittelschulklassen erweitert; die dritte Frage soll die
Aufenthaltszeit im Wohnort (und wenn die betreffende Person nicht
in ihrem eigentlichen Wohnorte konskribiert wurde, im Konskriptions-
ort) feststellen; der vierte Fragepunkt sucht zu erforschen, ob die
gezählte Person sich bereits irgendwo im Auslande aufgehalten hat,
während schließlich der fünfte Fragepunkt feststellen soll, wer von
den bereits in wehrpflichtigem Alter stehenden wenigstens 21 Jahre
alten Männern Soldat war oder nicht.
Der die Zahl der Kinder erforschende Fragepunkt — eine ähn-
liche Frage wurde zuerst in Frankreich bei der Volkszählung auf-
geworfen, wo dies durch die dortigen tristen Populationsverhältnisse
noch notwendiger ist, als bei uns — verfolgt den Zweck, über die
eheliche Fruchtbarkeit und über den Kinderreichtum der Familien,
insbesondere aber über die in einzelnen Teilen unseres Vaterlandes
vorkommenden und unter dem Namen „Einkindersystem“ bekannten
ungesunden Zustände möglichst genaue und lehrreiche Orientierung
zu bieten.
Die beabsichtigte Feststellung der Kinderzahl gelegentlich der
Volkszählung des Jahres 1910 ist nicht der erste Versuch des Königl.
ungarischen statistischen Zentralamtes, um die eheliche Fruchtbar-
keit festzustellen. Zu diesem Zwecke wurden, wenn auch nicht im
Rahmen der Volkszählungen, so doch in unserer Populationsstatistik
schon zweierlei Erhebungen veranstaltet. Die eine erfolgte mit der
Geburtsstatistik im Zusammenhang und basierte auf der Frage, wie
viel lebende Geschwister und wie viele verstorbene Geschwister aus
der Ehe der Eltern des Neugeborenen entsprossen sind. Diese
Datensammlung bot jedoch über die Produktivität der Ehen kein
klares Bild, da bei einem großen Teil der Ehen, über deren -Kinder-
stand wir auf diese Art im Zusammenhang mit den Geburtsfällen
Daten erhalten, die Produktivität noch eigentlich nicht abgeschlossen
ist. Deshalb wurde mit Auflassung dieser Datensammlung im Zu-
sammenhang mit der Sterbestatistik die in unserer Populations-
statistik noch heute bestehende Datensammlung eingeführt, welche
auf dem Totenschein der verehelichten Personen die Zahl der aus
der durch den Tod gelösten Ehe entstammenden sämtlichen Kinder
und darunter der noch am Leben befindlichen Kinder festzustellen
sucht. Auf diesem Wege erhalten wir über die Produktivität von
bereits gelösten Ehen wertvolle Daten. In dieser Beziehung also
kann die Datensammlung nicht beanstandet werden. Ein Nachteil
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 763
dieser Datensammlung zeigt sich aber darin, daß sie sich auf ver-
hältnismäßig wenig Fälle erstreckt und wir somit gezwungen sind,
aus einer geringen Anzahl von Todesfällen auf die Produktivität der
gesamten Ehen Schlüsse zu ziehen. Ein weiterer Mangel dieser
Datensammlung besteht auch darin, daß bei einem Teil der durch
den Tod gelösten Ehen die Produktivität schon lange, vielleicht vor
Jahrzehnten, aufgehört hat, und somit die Ergebnisse dieser Daten-
sammlung nicht so sehr die jetzige Produktivität, als vielmehr die
Produktivität der Ehen in der Vergangenheit darstellen.
Die angeführten Schwierigkeiten liefern den Beweis, daß die
wichtige Frage der Produktivität der Ehen ausschließlich im Rahmen
der Populationsstatistik nicht genügend gelöst werden kann und
man diesbezüglich auf die Hauptquelle der Bevölkerungsstatistik,
auf die Volkszählung angewiesen ist, mit deren Hilfe wir über den
Kinderreichtum der zur Zeit der Volkszählung bestehenden sämt-
lichen Ehen Daten erhalten können. Es ist jedoch selbstverständ-
lich, daß jene Durchschnittszahl, die auf Grund dieser Datensamm-
lung aus dem Kinderstand sämtlicher bestehender Ehen die auf
eine Ehe entfallende Kinderzahl feststellen wollte, über die Produk-
tivität der Ehen ebenfalls ein falsches Bild geben würde, da im
größeren Teil der bestehenden Ehen noch weitere Kinder geboren
werden können. Um ein richtiges Bild zu erhalten, wird es un-
bedingt notwendig sein, den gesamten Kinderstand und die auf eine
Ehe entfallende durchschnittliche Kinderzahl nach den Altersgruppen
der Eheleute detailliert, in der Art festzustellen, daß die Kinder der
in die Altersgruppe von 20—25, von 25—30, von 30—35, von 35
—40, von 40—45, von 45—50 Jahren etc. gehörigen Eheleute in
separaten Gruppen ausgewiesen werden. Hierdurch läßt sich nicht
bloß über die Produktivität der von diesem Gesichtspunkt abge-
schlossenen Ehen ein klares und in Anbetracht der großen Daten-
menge auch ein verläßliches Bild erhalten, sondern es werden uns
auch über die bisherige Produktivität der noch produktionsfähigen
Ehen sehr lehrreiche Daten zur Verfügung stehen.
Das mit der Volkszählung verbundene Sammeln der die Pro-
duktivität der Ehen darstellenden Daten wird auch deshalb sehr
wertvolles Material zustande bringen, weil uns aus demselben Zeit-
punkt sämtliche demographischen Daten der Bevölkerung und deren
erteilung nach Berufstätigkeiten zur Verfügung stehen, und wir
die Kinderzahl außer mit dem Alter der Eheleute auch noch mit
anderen den Kinderreichtum beleuchtenden wichtigen Verhältnissen,
so mit der Religion, Nationalität und Berufstätigkeit kombinieren
können.
Die Erforschung der die Kenntnis des Lesens und Schreibens
überschreitenden höheren Bildung wird bei der Volkszählung kaum
eine nennenswerte Mehrarbeit verursachen und dennoch unsere
Volkszählung mit sehr wertvollen neuen Daten bereichern. Natür-
ich müssen auch diese Daten mit der Religion, Nationalität und
Berufstätigkeit kombiniert aufgearbeitet werden.
764 Anton Vizaknai,
Der Fragepunkt über die Aufenthaltszeit im Wohnort verfolgt
einen ähnlichen Zweck, wie die Frage über die Anstellungsdauer
des Hilfspersonals bei dem letzten Arbeitgeber, nur hat der Frage-
punkt ein allgemeineres Interesse, weil er sich auf jedermann er-
streckt. Auch dieser Fragepunkt ist berufen, über die heutzutage
immer größere Dimensionen annehmende Fluktuation der Bevölke-
rung Aufklärung zu geben. Außerdem hat diese Frage ebenfalls einige
politische Beziehung; denn in dem zu schaffenden neuen ungarischen
Wahlgesetz wird die Wahlberechtigung jedenfalls an eine gewisse
Ansässigkeit geknüpft werden. Um aber diese Ansässigkeit mit
einem Jahr, zwei Jahren oder eventuell mit längerer Zeitdauer fest-
stellen zu können, sind gerade die statistischen Daten notwendig,
und derartige Angaben stehen uns derzeit nicht zur Verfügung.
Eine etwas weitere Erklärung bedarf der folgende neue Frage-
punkt unserer Zählkarte, nämlich die Frage, ob die gezählte Person
sich bereits im Ausland aufgehalten hat. Es steht zwar außer
Zweifel, daß die Antworten, welche wir auf diese Fragen erhalten
werden, namentlich wenn wir die Daten nach Berufsklassen und
einzelnen Berufstätigkeiten detaillieren, vom kulturellen Standpunkt
aus Wert besitzen, ja sogar in manchen Relationen auch vom
national-politischen Gesichtspunkt aus Interesse verdienen. Die-
selben wären aber gleichwohl ohne besonders reales Interesse, wenn
das Kgl. ungarische statistische Zentralamt mit diesem Fragepunkt
nicht auch eine andere wichtige, wenn auch aus der Zählkarte nicht
ersichtliche Tendenz verfolgen würde. Es soll nämlich auf Grund
der hoffentlich sorgfältigen und genauen Beantwortung dieser Frage
festgestellt werden, wie groß sich die Zahl der in Amerika ge-
wesenen und von dort zurückgekehrten Personen stellt, was un-
gefähr der Zahl der nach Amerika ausgewanderten und von dort
zurückgekehrten Personen gleichkommt. Da nämlich die zum Ver-
gnügen, Studien halber oder zum Besuch nach Amerika reisenden
Personen nur einen geringen Prozentsatz ausmachen und wir die
zu Erwerbszwecken nach Amerika den auch schon wegen der großen
Ungewißheit, ob sie aus der weiten Ferne jemals zurückkehren
werden, als Auswanderer zu betrachten pflegen, so können wir auch
die von Amerika zurückkehrenden Personen im allgemeinen als
Rückwanderer betrachten.
Bekanntlich sind unsere Datensammlungen über die Auswande-
rung, insbesondere über die amerikanische Auswanderung, jetzt
schon verläßlich genug, weil unsere datenliefernden Behörden über
die Auswanderung zum Teil aus den Begleitberichten der Reise-
pässe, zum Teil aus den längeren und in der betreffenden Gemeinde
meistens allgemein bekannt werdenden Reisevorbereitungen der Aus-
wanderer auf leichte Art Kenntnis erlangen können. Ueber die
Rückwanderungen haben indessen unsere datenliefernden Behörden
weniger Gelegenheit rechtzeitig Kenntnis zu erlangen; deshalb sind
auch die Daten über die Rückwanderungen viel mangelhafter als
über die Auswanderung. Das Statistische Amt verfolgt also mit
Die ungarische Volkszählung am Ende des Jahres 1910. 765
diesem neuen Fragepunkt den Zweck, mit Hilfe desselben die Mangel-
haftigkeit unserer Datensammlung über die Rückwanderung aus
Amerika zu ergänzen.
Gleichwohl hätte man den Fragepunkt unmöglich nur betreffs
Amerikas aufstellen dürfen; denn es wäre hervorstehend, ja nahezu
verletzend gewesen, an jedermann der gesamten Bevölkerung Ungarns
die Frage zu richten, ob er in Amerika war, als ob die Zählkarte
von der Annahme ausginge, daß früher oder später jedermann dahin
kommen müsse. Deshalb soll der Fragepunkt allgemein gehalten
werden, was im übrigen auch deshalb richtig ist, weil wir auf diese
Art auch über die von Rumänien zurückwandernden Personen Daten
erhalten, was ebenfalls von Bedeutung ist. Außerdem ist dieser
Fragepunkt, wie bereits erwähnt, auch bezüglich des übrigen Aus-
landes nicht ohne Interesse.
Bei Abfassung des Fragepunktes über den Aufenthalt im Aus-
land wurde auch in Erwägung gezogen, ob man die im Ausland
gewesenen Personen nicht zugleich auch fragen solle, wie oft und
wie lange sie sich daselbst aufgehalten haben und zu welchem
Zweck, ob Erwerbs halber, zu Studienzwecken, zum Vergnügen,
zum Besuch oder zu sonstigen Zwecken. Nachdem aber dieselben
Personen sich in verschiedenen Ländern, verschiedene Male, zu ver-
schiedenen Zeiten und Zwecken aufgehalten haben können, so hätte
der jetzige einfache Fragepunkt zu einem ganz großen Ausweis er-
weitert werden müssen, um auf diese verschiedenen Fragen Ant-
wort zu erhalten. Dies wäre indessen einerseits nicht in den
Rahmen der Zählkarte einzufügen gewesen und andererseits auch
mit dem genau bemessenen Zweck nicht im Einklang gestanden,
welcher bei Aufnahme dieses Fragepunktes in die Zählkarte eigent-
lich ins Auge gefaßt wurde.
Der letzte Fragepunkt der 1910er Volkszählung: „Waren Sie
Soldat?“, welcher sich natürlich nur auf die im wehrpflichtigen
Alter oder darüber hinausstehenden männlichen Personen bezieht,
sucht die physische Lebensfähigkeit unserer männlichen Bevölkerung
und einzelner Klassen derselben zu beleuchten. Ueber die physische
Lebensfähigkeit betreffs der ganzen Bevölkerung Daten zu sammeln,
würde auf unüberwindliche Hindernisse stoßen. Bezüglich der er-
wachsenen männlichen Bevölkerung jedoch, deren Mitglieder bei
der Stellung ohne Ausnahme ärztlich untersucht werden, wobei fest-
gestellt wird, ob sie jene körperliche Entwicklung und gesunde
Konstitution habe, welche für die Strapazen des aktiven Dienstes
notwendig sind, bieten sich diese leicht zu sammelnden Daten von
selber dar, welche die Aufarbeitung in der Zentrale durch die Ver-
gleichung mit der Nationalität, Religion und Berufstätigkeit noch
lehrreicher gestalten kann.
766 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Nationalökonomische Gesetzgebung.
IV.
Die wirtschaftliche Gesetzgebung des Deutschen Reiches
im Jahre 1909.
(Schluß.)
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb. Vom 7. Juni 1909.
S. 499.
SL Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbes Hand-
lungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung
und Schadensersatz in Anspruch genommen werden.
§ 2. Unter Waren im Sinne dieses Gesetzes sind auch landwirtschaftliche
Erzeugnisse, unter gewerblichen Leistungen und Interessen auch landwirtschaftliche
zu verstehen.
$ 3. Entspricht im wesentlichen dem $ 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes vom
27. Mai 1896.
$ 4. Entspricht in der Hauptsache dem $ 4 Abs. 1 des früheren Gesetzes, jedoch
mit der Aenderung, daß auf Gefängnis bis zu einem Jahre und Geldstrafe bis zu
5000 M. oder eine dieser Strafen erkannt werden kann.
Werden die unrichtigen Angaben in einem geschäftlichen Betriebe von einem
Angestellten oder Beauftragten gemacht, so ist der Inhaber oder Leiter des Be-
triebs neben dem Angestellten oder Beauftragten strafbar, wenn die Handlung mit
seinem Wissen geschah.
$ 5. Entsprechend $ 1 Abs. 3 und 4 des früheren Gesetzes.
$6. Wird in öffentlichen Bekanntmachungen oder in Mitteilungen, die für
einen größeren Kreis von Personen bestimmt sind, der Verkauf von Waren an-
BEN igt, die aus einer Konkursmasse stammen, aber nicht mehr zum Bestande
der Konkursmasse gehören, so ist dabei jede Bezugnahme auf die Herkunft der
Waren aus einer Konkursmasse verboten. Abs. 2. Zuwiderhandlungen gegen
diese Vorschrift werden mit Geldstrafe bis zu 150 M. oder mit Haft bestraft.
$ 7. Werin öffentlichen Bekanntmachungen oder in Mitteilungen, die für einen
ößeren Kreis von Personen bestimmt sind, den Verkauf von Waren unter der
ezeichnung eines Ausverkaufs ankündigt, ist gehalten, in der Ankündigung den
Grund anzugeben, der zu dem Ausverkauf Anlaß gegeben hat. Abs. 2. Durch
die höhere Verwaltungsbehörde kann nach Anhörung der zuständigen gesetzlichen
Gewerbe- und Handelsvertretungen für die Ankündigung bestimmter Arten von
Ausverkäufen angeordnet werden, daß zuvor bei der von ihr zu bezeichnenden
Stelle Anzeige über den Grund des Ausverkaufs und den Zeitpunkt seines Beginns
zu erstatten sowie ein Verzeichnis der auszuverkaufenden Waren einzureichen ist.
Die Einsicht der Verzeichnisse ist jedem gestattet.
$ 8. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu 5000 M.
oder mit einer dieser Strafen wird betraft, wer im Falle der Ankündigung eines
Ausverkaufs Waren zum Verkaufe stellt, die nur für den Zweck des Ausverkaufs
N g worden sind (sogenanntes Vorschieben oder Nachschieben von
aren).
Nationalökonomische Gesetzgebung. 767
$ 9. Der Ankündigung eines Ausverkaufs im Sinne des $ 7 Abs. 2 und des
$ 8 steht jede sonstige Ankündigung gleich, welche den Verkauf von Waren wegen
ndigung des Geschäftsbetriebs, Aufgabe einer einzelnen Warengattung oder
Räumung eines bestimmten Warenvorrats aus dem vorhandenen Bestande Betrifft.
Abs. 2. Auf Saison- und Inventurausverkäufe, die in der Ankündigung als solche
bezeichnet werden und im ordentlichen Geschäftsverkehr üblich sind, finden die
Vorschriften der §§ 7 und 8 keine Anwendung. Ueber die Zahl, Zeit und Dauer
der üblichen Saison- und Inventurausverkäufe Se die höhere Verwaltungsbehörde
nach Anhörung der zuständigen gesetzlichen Gewerbe- und Handelsvertretungen
Bestimmungen treffen.
$ 10. Strafbestimmungen.
$ 11. Betrifft die Quantitätsverschleierungen und entspricht in der Hauptsache
$5 des früheren Gesetzes.
$ 12. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu 5000 M.
oder mit einer dieser Strafen wird, soweit nicht nach anderen Bestimmungen eine
schwerere Strafe verwirkt wird, bestraft, wer im geschäftlichen Verkehre zu
Zwecken des Wettbewerbes dem Angestellten oder Beauftragten eines geschäftlichen
Betriebs Geschenke oder andere Vorteile anbietet, verspricht oder gewährt, um
durch unlauteres Verhalten des Angestellten oder Beauftragten bei dem Bezuge von
Waren oder gewerblichen Leistungen eine Bevorzugung für sich oder einen Dritten
zu erlangen. Abs. 2. Die gleiche Strafe trifft den Angestellten oder Beauftragten
eines geschäftlichen Betriebs, der im geschäftlichen Verkehre Geschenke oder andere
Vorteile fordert, sich versprechen läßt oder annimmt, damit er durch unlauteres
Verhalten einem anderen bei dem Bezuge von Waren oder gewerblichen Leistungen
im Wettbewerb eine Bevorzugung verschaffe. Abs. 3. Im Urteil ist zu erklären,
daß das Empfangene oder sein Wert dem Staate verfallen sei.
8 13. In den Fällen der §§ 1, 3 kann der Anspruch auf Unterlassung von
jedem Gewerbetreibenden, der Waren oder Leistungen gleicher oder verwandter
Art herstellt oder in den geschäftlichen Verkehr Bringt, oder von Verbänden
zur Förderung gewerblicher Interessen geltend gemacht werden, soweit die Ver-
bände als solche in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten klagen können. Auch können
diese Gewerbetreibenden und Verbände denjenigen, welcher den $$ 6, 8, 10, 11, 12
zuwiderhandelt, auf Unterlassung in Anspruch nehmen. Abs. 2. Zum Ersatze
des durch die Zuwiderhandlung entstehenden Schadens ist verpflichtet: 1) wer
im Falle des $ 3 die Unrichtigkeit der von ihm gemachten Angaben kannte oder
kennen mußte; gegen Redakteure, Verleger, Drucker oder Verbreiter von perio-
dischen Drockschrkteni kann der Anspruch auf Schadensersatz nur geltend ge-
macht werden, wenn sie die Unrichtigkeit der Angaben kannten; 2) wer gegen die
SS 6, 8, 10, 11, 12 vorsätzlich oder fahrlässig verstößt. Abs. 3. Werden in einem
geschäftlichen Betriebe Handlungen, die nach $$ 1, 3, 6, 8, 10, 11, 12 unzulässig
sind, von einem Angestellten ei Beauftragten vorgenommen, so ist der Unter-
lassungsanspruch auch gegen den Inhaber des Betriebs begründet.
$ 14. Ueble Nachrede Abs. 1 entsprechend $ 6 Abs. 1 des früheren Gesetzes.
Abs. 2. Handelt es sich um vertrauliche Mitteilungen und hat der Mit-
teilende oder der Empfänger der Mitteilung an ihr ein berechtigtes Interesse, so
ist der Anspruch auf Unterlassung nur zulässig, wenn die Tatsachen der Wahr-
heit zuwider behauptet oder verbreitet sind. Ge Anspruch auf Schadensersatz
kann nur geltend gemacht werden, wenn der Mitteilende die Unrichtigkeit der
Tatsachen Pante oder kennen mußte. Abs. 3. Die Vorschrift des § 13 Abs. 3
findet entsprechende Anwendung.
$ 15. Verleumdung. Abs. 1 entsprechend $ 7 des früheren Gesetzes, jedoch Er-
höhung der Geldstrafe bis 5000 M. und Verbindung von Geld- und Freiheitsstrafe
möglich.
Abs. 2. Werden die in Abs. 1 bezeichneten Tatsachen in einem geschäftlichen
Betriebe von einem Angestellten oder Beauftragten behauptet oder verbreitet, so
ist der Inhaber des Betriebes neben dem Angestellten oder Beauftragten strafbar,
wenn die Handlung mit seinem Wissen geschah.
$ 16. Wer im geschäftlichen Verkehr einen Namen, eine Firma oder die be-
sondere Bezeichnung eines Erwerbsgeschäfts, eines gewerblichen Unternehmens oder
768 Nationalökonomische Gesetzgebung.
einer Druckschrift in einer Weise benutzt, welche geeignet ist, Verwechselungen
mit dem Namen, der Firma oder der besonderen Bezeichnung hervorzurufen, deren
sich ein anderer befugterweise bedient, kann von diesem auf Vateria der Be-
nutzung in Anspruch genommen werden. Abs. 2. Der Benutzende ist dem Ver-
letzten zum Ersatz des Schadens verpflichtet, wenn er wußte oder wissen mußte,
daß die mißbräuchliche Art der Benutzung geeignet war, Verwechselungen hervor-
zurufen. Abs. 3. Der besonderen Bezeichnung eines Erwerbsgeschäfts stehen
solche Geschäftsabzeichen und sonstige zur Unterscheidung des Geschäfts von
anderen Geschäften bestimmten Einrichtungen gleich, welche innerhalb beteiligter
Verkehrskreise als Kennzeichen des Erwerbsgeschäfts gelten. Auf den Schutz von
Warenzeichen und Ausstattungen finden diese Vorschriften keine Anwendung. Abs. 4.
Die Vorschrift des $ 13 Abs. 3 findet entsprechende Anwendung.
$ 17. Verrat von Geschäftsgeheimnissen, entsprechend dem früheren $ 9, jedoch
Gefüngnis bis zu einem Jahre und Geldstrafe bis zu 5000 M. oder eine dieser Strafen.
§ 18. Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu 50WM.
oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer die ihm im geschäftlichen Verkehr
anvertrauten Vorlagen oder Vorschriften technischer Art, insbesondere Zeichnungen,
Modelle, Schablonen, Schnitte, Rezepte zu Zwecken des Wettbewerbes unbefugt
verwertet oder anderen mitteilt.
$ 19. Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften der SS 17, 18 verpflichten
außerdem zum Ersatz des entstandenen Schadens. Mehrere Verpflichtete haften
als Gesamtschuldner.
§ 20. Wer zu Zwecken des Wettbewerbes es unternimmt, einen anderen zu
einer Zuwiderhandlung gegen die Vorschriften des $ 17 Abs. 1, $ 18 zu bestimmen,
wird mit Gefängnis bis zu neun Monaten und mit Geldstrafe bis zu 2000 M. oder
mit einer dieser Strafen bestraft.
$ 21. Verjährung.
$ 22. Die Strafverfolgung tritt mit Ausnahme der in den Së 6, 10, 11 be-
zeichneten Fälle nur auf Antrag ein. In den Füllen der $$ 4, 8, 12 hat das
Recht, den Strafantrag zu stellen, jeder der in $ 13 Abs. 1 bezeichneten Gewerbe-
treibenden und Verbände. Abs. 2. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig.
Abs. 3. Strafbare Handlungen, deren Verfolgung nur auf Antrag eintritt, können
von den zum Strafantrage Berechtigten im Wege der Privatklage verfolgt werden,
ohne daß es einer vorgängigen Anrufung der Staatsanwaltschaft bedarf. Die öffent-
liche Klage wird von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben, wenn dies im
öffentlichen Interesse liegt. Abs. 4. Geschieht die Verfolgung im Wege der
Privatklage, so sind die Schöffengerichte zuständig.
23. Oeffentliche Bekanntmachung des Urteils.
24. Zuständigkeit.
25. Erweiterte Zulassung einstweiliger Verfügungen.
$ 26. Neben einer nach Maßgabe dieses Gesetzes verhängten Strafe kann
auf Verlangen des Verletzten auf eine an ihn zu erlegende Buße bis zum Betrage vou
10000 M. erkannt werden. Für die Buße haften die dazu Verurteilten als Gesamt-
schuldner. Eine erkannte Buße schließt die Geltendmachung eines weiteren Ent-
schädigungsanspruchs aus.
$ 28. Wer im Inland eine Hauptniederlassung nicht besitzt, hat auf den
Schutz dieses Gesetzes nur insoweit Anspruch, als in dem Staate, in welchem seine
Hauptniederlassung sich befindet, nach einer im Reichs-Gesetzblatt enthaltenen Be-
kanntmachung deutsche Gewerbetreibende einen entsprechenden Schutz genießen.
Bekanntmachung, betreffend Abänderung und Ergänzung der Eich-
ordnung und der Eichgebührentaxe. Vom 3. August 1909. Beilage
zu No. 52.
Münzgesetz. Vom 1. Juni 1909. S. 507.
$ 1. Im Deutschen Reiche gilt die Goldwährung. Ihre Rechnungseinheit
bildet die Mark, welche in hundert Pfennige eingeteilt wird.
..$2. Als Reichsmünzen sollen ausgeprägt werden, und zwar 1) als Gold-
münzen: Zwanzigmarkstücke und Zehnmarkstücke; 2) als Silbermünzen: Fünf-
no
?
Nationalökonomische Gesetzgebung. 769
markstücke, Dreimarkstücke, Zweimarkstücke, Einmarkstücke und Fünfzig-
pfennigstücke; 3) als Nickelmünzen: Fünfundzwanzigpfennigstücke, Zehnpfennig-
stücke und Fünfpfennigstücke; 4) als Kupfermünzen: Zweipfennigstücke und Ein-
ptennigstücke.
$ 3. Bei Ausprägung der Goldmünzen werden aus einem Kilogramm feinen
Goldes 139!/, Zwahrismarhatäcke und 279 Zehnmarkstücke, bei Ausprägung der
Silbermünzen aus einem Kilogramm feinen Silbers 40 Fünfmarkstücke, 66°, Drei-
markstücke, 100 Zweimarkstücke, 200 Einmarkstücke, 400 Fünfzigpfennigstücke
ausgebracht.
Das Mischungsverhältnis beträgt bei den Goldmünzen 900 Teile Gold und
100 Teile Kupfer, bei den Silbermünzen 900 Teile Silber und 100 Teile Kupfer.
$ 4. Das Verfahren bei den Ausprägungen wird vom Bundesrate geregelt.
Es soll die vollständige Genauigkeit der Münzen nach Gehalt und Gewicht sicher-
stellen. Soweit diese Genauigkeit bei dem einzelnen Stücke nicht innegehalten
werden kann, soll die Abweichung in Mehr oder Weniger bei den Goldmünzen im
Gewichte nicht mehr als zweiundeinhalb Tausendteile, im Feingehalte nicht mehr
als zwei Tausendteile, bei den Silbermünzen im Gewicht nicht mehr als zehn
Tausendteile, im Feingehalte nicht mehr als drei Tausendteile betragen. In der
Masse aber müssen Gewicht und Gehalt der Gold- und Silbermünzen den Vor-
schriften des $ 3 entsprechen.
$ 5. Die Goldmünzen und die Silbermünzen zu mehr als einer Mark tragen
auf der einen Seite den Reichsadler mit der Inschrift „Deutsches Reich“ und mit
der Angabe des Wertes in Mark sowie mit der Jahreszahl der Ausprägung, auf
der anderen Seite das Bildnis des Landesherrn beziehungsweise das Hoheitszeichen
der freien Städte mit einer entsprechenden Umschrift und dem Münzzeichen. Die
sonstige Verzierung und der Durchmesser der Münzen sowie die Beschaffenheit
der Ränder werden vom Bundesrate festgestellt. Abs. 2. Der Bundesrat wird er-
mächtigt, Fünf-, Drei- und Zweimarkstücke als Denkmünzen in anderer Prägung
herstellen zu lassen.
$6. Die übrigen Silbermünzen, die Nickel- und Kupfermünzen tragen die
Wertangabe, die Inschrift „Deutsches Reicht, die Jahreszahl, den Reichsadler und
das Münzzeichen. Die näheren Bestimmungen über die Verteilung dieser Gepräge-
merkmale auf die beiden Münzseiten, über deren Verzierung und die Beschaffen-
heit der Ränder sowie über Zusammensetzung, Gewicht und Durchmesser dieser
Münzen werden vom Bundesrate festgestellt.
$ 7. Die Münzen werden für Rechnung des Reichs auf den Münzstätten
derjenigen Bundesstaaten, welche sich dazu bereit erklären, ausgeprägt. Das Ver-
fahren bei der Ausprägung und die Ausgabe der Münzen unterliegen der Aufsicht
des Reiches. Abs. 2. Privatpersonen haben das Recht, auf diesen Münzstätten
Zwanzigmarkstücke für ihre Rechnung ausprägen zu lassen, soweit diese Münz-
stätten nicht für das Reich beschäftigt sind. Die für solche Ausprägungen zu er-
hebende Gebühr wird vom Reichskanzler mit Zustimmung des Bundesrats fest-
gestellt, darf aber den Betrag von 14 Mark auf das Kilogramm feinen Goldes nicht
übersteigen. Der Unterschied zwischen dieser Gebühr und der Vergütung, welche
die Münzstätte für die Ausprägung in Anspruch nimmt, fließt in die Reichskasse;
er muß für alle deutschen Münzstätten derselbe sein. Die Münzstätten dürfen für
die Ausprägung keine höhere Vergütung in Anspruch nehmen, als die Reichskasse
für die Ausprägung von Zwanzigmarkstücken gewährt. Abs. 3. Im übrigen be-
stimmt der Reichskanzler unter Zustimmung des Bundesrats die Kee
Beträge, die Verteilung dieser Beträge auf die einzelnen Münzstätten und die den
letzteren für die Prägung jeder einzelnen Münzgattung gleichmäßig zu gewährende
Vergütung. Die Beschaffung der Münzmetalle für die Münzstätten erfolgt auf
Anordnung des Reichskanzlers.
$ 8. Der Gesamtbetrag der Silbermünzen soll bis auf weiteres 20 M., der-
jenige der Nickel- und Kupfermünzen 211. M. für den Kopf der Bevölkerung des
Reichs nicht übersteigen.
$ 9. Niemand ist verpflichtet, Silbermünzen im Betrage von mehr als 20 M.,
Nickel- und Kupfermünzen im Betrage von mehr als 1 M. in Zahlung zu nehmen.
Abs. 2. Von den Reichs- und Landeskassen werden Silbermünzen in jedem Be-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 49
770 Nationalökonomische Gesetzgebung.
trage in Zahlung genommen. Der Bundesrat bezeichnet diejenigen Kassen, welche
Goldmünzen gegen Einzahlung von Silbermünzen in Beträgen von mindestens
200 M. oder von Nickel- und Kupfermünzen in Beträgen von mindestens 50 M.
auf Verlangen verabfolgen. Er setzt zugleich die näheren Bedingungen des Um-
tausches fest.
$ 10. Die Verpflichtung zur Annahme und zum Umtausche ($ 9) findet auf
durchlöcherte und anders als durch den gewöhnlichen Umlauf im Gewichte ver-
ringerte, sowie auf verfälschte Münzstücke keine Anwendung.
$ 11. Goldmünzen, deren Gewicht um nicht mehr als fünf Tausendteile
hinter dem Sollgewichte N 3) zurückbleibt (Passiergewicht) und die nicht durch
gewaltsame oder gesetzwidrige Beschädigung im Gewichte verringert sind, sollen
bei allen Zahlungen als vollwichtig gelten. Abs. 2. Goldmünzen, die das Passier-
gewicht nicht erreichen und an Zahlungsstatt von den Reichs-, Staats-, Provinzial-
oder Kommunalkassen, sowie von Geld- und Kreditanstalten und Banken an-
genommen worden sind, dürfen von diesen Kassen und Anstalten nicht wieder
ausgegeben werden. Abs. 3. Die Goldmünzen werden, wenn sie infolge längeren
Umlaufs und Abnutzung am Gewicht so viel eingebüßt haben, daß sie das Passier-
ewicht nicht mehr erreichen, für Rechnung des Reichs eingezogen. Auch werden
ES E abgenutzte Goldmünzen bei allen Kassen des Reichs und der Bunde-
staaten stets voll zu demjenigen Werte, zu welchem sie ausgegeben sind, an-
genommen.
$ 12. Silber-, Nickel- und Kupfermünzen, die infolge längeren Umlaufs und
Abnutzung an Gewicht oder Erkennbarkeit erheblich eingebüßt haben, werden
zwar noch von allen Reichs- und Landeskassen angenommen, sind aber auf Rech-
nung des Reichs einzuziehen.
13. Zur Eichung und Stempelung sollen Gewichtsstücke zugelassen werden,
die das Sollgewicht und das Passiergewicht der nach Maßgabe dieses Gesetzes aus-
zuprägenden Goldmünzen, sowie ein Vielfaches dieser Gewichte angeben. Auf die
Eichung und Stempelung dieser Gewichtsstücke finden die Vorschriften der Maß-
und Gewichtsordnung entsprechende Anwendung.
$ 14. Der Bundesrat ist befugt: 1) einzuziehende Münzen außer Kurs zu
setzen; 2) die zur Aufrechterhaltung eines geregelten Geldumlaufs erforderlichen
olizeilichen Vorschriften zu erlassen; 3) den Wert zu bestimmen, über welchen
inaus fremde Gold- und Silbermünzen nicht in Zahlung angeboten und gegeben
werden dürfen, sowie den Umlauf fremder Münzen gänzlich zu untersagen; 4) zu
bestimmen, ob ausländische Münzen von Reichs- oder Landeskassen zu einem
öffentlich bekannt zu machenden Kurse im inländischen Verkehr in Zahlung ge
nommen werden dürfen, in solchem Falle auch den Kurs festzusetzen. Abs. 2.
Bei der Anordnung der Außerkurssetzung (No. 1) erläßt der Bundesrat die für sie
erforderlichen Vorschriften; die Einlösungsfrist muß 2 Jahre betragen. Die Be-
kanntmachung über die Außerkurssetzung ist durch das Reichs-Gesetzblatt, sowie
durch die zu den amtlichen Bekanntmachungen der unteren Verwaltungsbehörden
dienenden Tageszeitungen zu veröffentlichen. Abs. 3. Gewohnheitsmäßige oder
ewerbsmäßige Zuwiderhandlungen gegen die vom Bundesrat in Gemäßheit der
estimmungen unter No. 2 und 3 getroffenen Anordnungen werden mit Geldstrafe
bis zu 150 M. oder mit Haft bis zu 6 Wochen bestraft.
$ 15. 1) Alle Zahlungen, die vor Eintritt der Reichswährung in Münzen
einer inländischen Währung oder in landesgesetzlich den inländischen Münzen
gleichgestellten ausländischen Münzen zu leisten waren, sind vorbehaltlich der Vor-
schriften des $9 in Reichsmünzen zu leisten. Abs. 2. 2) Die Umrechnung solcher
Goldmünzen, für welche ein bestimmtes Verhältnis zu Silbermünzen gesetzlich
nicht feststeht, erfolgt nach Maßgabe des Verhältnisses des gesetzlichen Feingehalts
derjenigen Münzen, auf welche die Zahlungsverpflichtung lautet, zu dem gesetz-
lichen Feingehalt der Reichsgoldmünzen. Abs. 3. Bei der Umrechnung anderer
Münzen werden der Taler zum Werte von 3 M., der Gulden süddeutscher Wäh-
rung zum Werte von 1°/, M., die Mark lübischer oder hamburgischer Kurant-
währung zum Werte von 1' M., die übrigen Münzen derselben Währungen zu
entsprechenden Werten nach ihrem Verhältnis zu den genannten berechnet. Abs. 4.
Bei der Umrechnung werden Bruchteile von Pfennigen der Reichswährung zu
Nationalökonomische Gesetzgebung. 771
1 Pio, berechnet, wenn sie '/, Pfg. oder mehr betragen, Bruchteile unter !/, Pfg.
werden nicht gerechnet. Abs. 5. 3) Werden Zahlungsverpflichtungen nach Ein-
tritt der Reichswährung unter Zugrundelegung vormaliger inländischer Geld- oder
Rechnungswährungen begründet, so ist die Zahlung vorbehaltlich der Vorschriften
des $ 9 in Reichsmünzen unter Anwendung der Vorschriften der No. 2 zu leisten.
Abs. 6. 4) In allen gerichtlich oder notariell aufgenommenen Urkunden, welche
auf einen Geldbetrag Tenten, desgleichen in allen zu einem Geldbetrage verurteilen-
den gerichtlichen Entscheidungen ist dieser Geldbetrag, wenn für ihn ein be-
stimmtes Verhältnis zur Reichswährung gesetzlich feststeht, in Reichswährung
auszudrücken, woneben jedoch dessen gleichzeitige Bezeichnung nach derjenigen
Währung, in welcher ursprünglich die Verbindlichkeit begründet war, gestattet
bleibt.
$ 16. Das Gesetz, betreffend die Ausprägung von Reichsgoldmünzen, vom
4. Dezember 1571, das Münzgesetz vom 9. Juli 1873, das Gesetz, betreffend Aende-
rungen im Münzwesen, vom 1. Juni 1900 und das Gesetz, betreffend Aenderungen
im Münzwesen, vom 19. Mai 1908 werden aufgehoben. Soweit in bestehenden Vor-
schriften auf Vorschriften der aufgehobenen Gesetze verwiesen ist, treten die ent-
sprechenden Vorschriften dieses Gesetzes an die Stelle.
Bekanntmachung, betr. die Ausführungsbestimmungen zu den bis-
herigen Münzgesetzen. Vom 9. Juni 1909. S. 512.
Bekanntmachung, betr. den Schutz von Erfindungen, Mustern und
Warenzeichen auf der Internationalen photographischen Ausstellung zu
Dresden 1909. Vom 9. Januar 1909. S. 249.
Bekanntmachung, betr. benachbarte Orte im Wechsel- und Scheck-
verkehre. Vom 9. Januar 1909. S. 249.
Gesetz, betr. Aenderung des Bankgesetzes. Vom 1. Juni 1909.
S. 515.
Artikel 1. $24 des Bankgesetzes vom 14. März 1875 erhält unter Aufhebung
des Artikel 2 des Gesetzes vom 7. Juni 1899 nachstehende Fassung: Aus dem
beim Jahresabschlusse sich ergebenden Reingewinne der Reichsbank wird: 1) zu-
nächst den Anteilseignern eine ordentliche Dividende von 3'/, vom Hundert des
Grundkapitals berechnet; 2) von dem verbleibenden Reste den Anteilseignern !/,,
der Reichskasse ®/, überwiesen; jedoch werden von diesem Reste 10 Hundertstel
dem Reservefonds zugeschrieben, die je zur Hälfte auf Anteilseigner und Reich
entfallen. Abs. 2, Erreicht der Reingewinn nicht volle 21. vom Hundert des
Grundkapitals, so ist das Fehlende aus dem Reservefonds zu ergänzen. Abs. 3.
Das bei Begebung von Anteilscheinen der Reichsbank etwa zu gewinnende Auf-
geld fließt dem Reservefonds zu. Abs. 4. Dividendenrückstände verjähren binnen
4 Jahren, von dem Tage ihrer Fälligkeit an gerechnet, zum Vorteile der Bank.
Artikel 2. An die Stelle des Artikel 5 des Gesetzes vom 7. Juni 1899 tritt
folgende Vorschrift: Der nach Maßgabe der Anlage zum $ 9 des Bankgesetzes der
Reichsbank zustehende Anteil an dem Gesamtbetrage des der Steuer nicht unter-
liegenden ungedeckten Notenumlaufs, einschließlich der ihr inzwischen zuge-
wachsenen Anteile der unter No. 2 bis 12, 15 bis 17 und 20 bis 33 bezeichneten
Banken wird auf 550 Mill. M. festgesetzt, unter gleichzeitiger Erhöhung des Ge-
samtbetrags auf 618771000 M. Abs. 2. Für die auf Grund der Nachweisung für
den Letzten des März, des Juni, des September und des Dezember jedes Kalender-
jahres aufzustellende Steuerberechnung ($ 10 des Bankgesetzes) tritt eine Erhöhung
des Anteils der Reichsbank auf 750 Mill. M. und eine Erhöhung des Gesamt-
betrages auf 818771000 M. ein.
Artikel 3. Die Noten der Reichsbank sind gesetzliches Zahlungsmittel.
Im übrigen bleiben die Vorschriften des $ 2 des Bankgesetzes unberührt,
Artıkel4. I. Im $ 18 des Bankgesetzes werden die Worte „kursfähiges
deutsches Geld“ ersetzt durch die Worte: „deutsche Goldmünzen“. II. $ 19 Abs. 1
des Bankgesetzes erhält folgende Fassung: Die Reichsbank ist verpflichtet, die
Noten der vom Reichskanzler nach der Bestimmung im $ 45 dieses Gesetzes
49*
7112 Nationalökonomische Gesetzgebung.
bekannt gemachten Banken sowohl in Berlin, als auch bei ihren Zweiganstalten
in Städten von mehr als 80000 Einwohnern oder am Sitze der Bank, welche die
Noten ausgegeben hat, zum vollen Nennwert in Zahlung zu nehmen, so lange die
ausgebende Bank ihrer Noteneinlösungspflicht pünktlich nachkommt. Abs. 2. Unter
der gleichen Voraussetzung ist die Reichsbank verpflichtet, die Noten jeder der
vorbezeichneten Banken innerhalb des Staates, der ihnen die Befugnis zur Noten-
ausgabe erteilt hat, bei ihren Zweiganstalten, soweit es deren Notenbestände und
Zahlungsbedürfnisse gestatten, dem Inhaber gegen Reichsbanknoten umzutauschen.
Abs. 3. Die nach Abs. 1 und 2 angenommenen oder eingetauschten Noten dürien
von der Reichsbank nur entweder zur Einlösung präsentiert oder zu Zahlungen
an diejenige Bank, welche sie ausgegeben hat, oder zu Zahlungen an dem Orte,
wo die Bank ihren Hauptsitz hat, verwendet werden.
Artikelö. Im § 8 und $ 32 Abs. 1 werden die Schecks eingefügt. In $ 12
No. 2 und Z 17 werden nach dem Worte „haften“ eingeschaltet die Worte: „rbenso
Schecks, aus welchen mindestens zwei als zahlungsfähig bekannte Verprlichtete harten“.
Hinter § 47 des Bankgesetzes wird als $ 47a folgende Vorschrift eingestellt:
Für Privatnotenbanken, auf welche die beschränkenden Bestimmungen des $ 43
keine Anwendung finden, gelten hinsichtlich der Deckung ihrer im Umlaufe be-
findlichen Noten die Vorschriften des $ 17.
Artikel 6. 1. Artikel 6 des Gesetzes vom 7. Juni 1899 erhält nachstehende
Fassung: Dem $ 13 des Bankgesetzes No. 3 wird unter b nach den Worten „de
Kurswertes“ folgender Satz beigefügt: „Diesen Pfandbriefen stehen gleich die auf
den Inhaber lautenden Schuldverschreibungen öffentlich-rechtlicher Bodenkredit-
institute des Inlandes sowie diejenigen auf den Inhaber lautenden Schuldver-
schreibungen der übrigen vorbezeichneten Institute und Banken, welche auf Grund
von Darlehnen ausgestellt werden, die an inländische kommunale Korporationen
oder gegen Uebernahme der Garantie durch eine solche Korporation gewährt sind.“
II. Im § 13 des Bankgesetzes wird als No. 9 folgende Vorschrift eingestellt:
9) zinsbare Darlehne auf nicht länger als 3 Monate im Lombardverkehr auch
egen Verpfändung von Forderungen, die in dem Reichsschuldbuch oder in dem
Staatsschuldbuch eines deutschen Staates eingetragen sind, zu höchstens °, des
Kurswerts der umgewandelten Schuldverschreibungen zu erteilen. III. Hinter $ 20
des Bankgesetzes werden als $$ 20a und 20b folgende Vorschriften eingestellt:
$ 20a. Soll zugunsten der Reichsbank ein Pfandrecht an einer Forderung, die im
teichsschuldbuch oder im Staatsschuldbuch eines deutschen Staates eingetragen
ist ($ 13 No. 9), in das Schuldbuch eingetragen werden, so genügt für den Antrag
die Beglaubigung durch die Personen, durch welche gemäß $ 38 die Reichsbauk
verpflichtet wird. Soweit diese Vorschrift die Unterschriften von 2 Mitgliedern des
Reichsbankdirektoriums erfordert, sind an Stelle der letzteren auch andere von
dem Reichsbankdirektorium der Schuldbuchverwaltung bezeichnete Beamte der
Reichsbank zur Vornahme der Beglaubigung befugt. Abs.2. Auf die Beglaubigung
finden die Vorschriften des $ 183 des Gesetzes über die Angelegenheiten der frei-
willigen Gerichtsbarkeit entsprechende Anwendung. § 20b. Ist zugunsten der
Reichsbank ein Pfandrecht in das Schuldbuch eingetragen ($ 13 No. 9), so erwirbt
die Reichsbank das Pfandrecht auch dann, wenn die Forderung einem Dritten
zusteht, und geht das Pfandrecht dem vor der Verpfändung begründeten Rechte eins
Dritten an der Forderung vor, es sei denn, daß das Recht des Dritten zu der Zeit
der Eintragung des Pfandrechts im Schuldbuch eingetragen oder in diesem Zeit-
punkte der Reichsbank bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt
war. Abs. 2. Ist der Schuldner mit der Erfüllung der durch das Pfandrecht ge-
sicherten Forderung im Verzuge, so ist die Schuldbuchverwaltung auf schriftliche
Verlangen der Reichsbank berechtigt und verpflichtet, der Reichsbank auch ohne
Nachweis des Verzugs gegen Löschung der eingetragenen Forderung oder eine
entsprechenden Teiles dieser Forderung auf den Inhaber lautende Schuldverschrei-
bungen auszureichen, es sei denn, daß eine gerichtliche Anordnung vorliegt, welche
die Ausreichung an die Reichsbank untersagt oder in dem Schuldbuche solche
Rechte Dritter oder Verfügungsbeschränkungen zugunsten Dritter vermerkt sind,
welche früher als das Pfandrecht der Reichsbank eingetragen worden waren. Da:
Pfand haftet auch für die durch die Ausreichung entstehenden Kosten. Abs. 3. Die
Nationalökonomische Gesetzgebung. 1773
Schuldbuchverwaltung hat spätere Eintragungen bei der Ausreichung der Schuld-
verschreibungen der Reichsbank mitzuteilen. Abs. 4. Auf die Befriedigung der
Reichsbank aus den von der Schuldbuchverwaltung ausgereichten Schuldverschrei-
bungen finden die Vorschriften des § 20 entsprechende Anwendung.
Artikel 7. $ 22 des Bankgesetzes wird durch folgende Vorschrift ersetzt:
Die Reichsbank ist verpflichtet, die Geschäfte der Reichshauptkasse unentgeltlich
zu besorgen. Abs. 2. Sie ist berechtigt, entsprechende Kassengeschäfte für die
Bundesstaaten zu übernehmen.
Artikel a, Die Artikel 8, 4, 5 und 6 treten am 1. I. 1910, die übrigen am
1. I. 1911 in Kraft.
Verordnung, betr. Aenderung des Statuts der Reichsbank vom
21. Mai 1875. Vom 18. Dezember 1909. S. 980.
Bekanntmachung, betr. Aenderung der Postscheckordnung vom
6. November 1908. Vom 22. Oktober 1909. S. 938.
1. Im § 8 „Rückzahlung mittelst Schecks‘ erhalten die Abs. I und II folgende
Fassung: I. 1) Die Scheckformulare werden in Blattform oder in Kartenform aus-
regeben. Abs. 2. Die Formulare werden den Kontoinhabern vom Postscheckamt
in Heften von 50 Stück zum Preise von 50 Pf. für das Heft geliefert. II. Der
Höchstbetrag eines Schecks wird auf 10000 M. festgesetzt. Abs. 3. Von der am
rechten Rande des Schecks befindlichen Zahlenreihe hat der Aussteller vor der
Ausgabe des Schecks die Zahlen, die den Betrag des Schecks übersteigen, mit
Tinte zu durchstreichen. Bei Schecks in Blattform können die Zahlen, die den
Betrag des Schecks übersteigen, auch abgetrennt werden. Ist die Durchstreichung
oder Abtrennung versehentlich unterblieben, so hängt es von dem Ermessen des
Postscheckamts ab, ob der Scheck einzulösen ist.
2. Als § 8 Abs. III wird folgende Vorschrift eingestellt: III. Der an dem
Scheckformular in Kartenform befindliche Abschnitt kann zu schriftlichen Mit-
teilungen benutzt werden; er wird dem Zahlungsempfänger ausgehändigt.
? 3. Die bisherigen Abs. III bis XII des $ 8 werden mit IV bis XIII be-
zeichnet.
Handelsvertrag zwischen dem Deutschen Reiche und dem Freistaat
El Salvador. Vom 14. April 1908. S. 405.
Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag zwischen dem
Deutschen Reiche und Venezuela. Vom 26. Januar 1909. S. 919.
Gesetz, betr. die Handelsbeziehungen zum Britischen Reiche. Vom
13. Dezember 1909. S. 979.
Der Bundesrat wird ermächtigt, den Angehörigen und den Erzeugnissen des
Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland sowie den Angehörigen
und den Erzeugnissen britischer Kolonien und auswärtiger Besitzungen bis zum
31. Dezember 1911 diejenigen Vorteile einzuräumen, die seitens des Reichs den An-
ehörigen oder den Erzeugnissen des meistbegünstigten Landes gewährt werden.
Das Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1910 in Kraft.
Bekanntmachung, betr. die Handelsbeziehungen zum Britischen
Reiche. Vom 22. Dezember 1909. S. 980.
Bekanntmachung, betr. die Feststellung des Börsenpreises für
Zucker. Vom 11. März 1909. S. 318.
Auf Grund des § 35 Abs. 1 Ziffer 3 des Börsengesetzes hat der Bundesrat
beschlossen, den Beschluß, wonach der Feststellung des Börsenpreises für Zucker
allgemein die Gewichtseinheit von 100 kg zugrunde zu legen ist (Bekanntmachung
vom 6. Mai 1902), wieder aufzuheben.
Bekanntmachung, betr. die Zulassung von Börsentermingeschäften
in Anteilen von Bergwerks- und Fabrikunternehmungen. Vom 29. April
774 Nationalökonomische Gesetzgebung.
1909. S. 435. Entsprechende Bekanntmachung vom 27. Dezember 1909,
H 1000.
Bekanntmachung, betr. den börsenmäligen Zeithandel in Getreide
an der Produktenbörse zu Danzig. Vom 24. Dezember 1909. S. 493.
Bekanntmachung, betr. die Geschäftsbedingungen der Produkten-
börse zu Mannheim für den Zeithandel in Getreide. Vom 27. Dezember
1909. S. 997.
Verordnung, betr. den Handel mit südwestafrikanischen Diamanten.
Vom 16. Januar 1909. S. 270.
$ 1. Zum Schutze des Handels mit südwestafrikanischen Diamanten wird
den Förderern dieser Edelsteine die Verpflichtung auferlegt, ihre gesamte Förde-
rung der von dem Reichskanzler (Reichs-Kolonialamt) oder mit seiner Zustimmung
dem Gouverneur bezeichneten Behörde oder Person zwecks Vermittelung der Ver-
wertung zu übergeben. Abs. 2. Die Verwertung erfolgt in der nach dem freien
Ermessen der Kolonialverwaltung für die Förderer günstigsten Weise. Abs. 3.
Der durch die Verwertung der Diamanten erzielte Erlös ist an die Berechtigten
abzuführen. Abs. 4. Für die bei der Verwertung aufzuwendende Mühewaltung
und die entstehenden Kosten ist eine angemessene Gebühr zu entrichten, welche
der Reichskanzler (Reichs-Kolonialamt) festsetzt.
$ 2. Der Reichskanzler (Reichs-Kolonialamt) ist ermächtigt, sofern er es im
Interesse der Erhaltung eines gesunden Handels mit Diamanten für erforderlich
erachtet, ein jährliches Höchstmaß der zur Verwertung gelangenden Diamanten
für jeden Förderer festzusetzen. Hinsichtlich der dieses Höchstmaß übersteigenden
Förderung ist es dem freien Ermessen der Kolonialverwaltung überlassen, in
welchem Zeitpunkte eine Verwertung eintreten soll. Die Verpflichtung zur Ueber-
gabe der Diamanten wird dadurch nicht berührt.
$ 3. Wer es unternimmt, Diamanten der im $ 1 vorgesehenen Verwertung
zu entziehen, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft, neben welchem
auf Geldstrafe bis zu 100000 Mark erkannt werden kann. Sind mildernde Um-
stände vorhanden, so kann ausschließlich auf die Geldstrafe erkannt werden.
Abs. 2. Neben der gemäß Abs. 1 verwirkten Strafe ist auf Einziehung der Dis-
manten, in bezug auf welche das Vergehen begangen worden ist, zu erkennen.
Kann ihre Einziehung nicht vollzogen werden, so ist auf Erlegung ihres Wertes,
und wenn sich dieser nicht genau feststellen läßt, auf Zahlung einer dem wahr-
scheinlichen Werte entsprechenden Geldsumme zu erkennen. Abs. 3. Eingeborenen
gegenüber finden außer den vorstehend angedrohten Strafen auch diejenigen Straf-
mittel Anwendung, die in den allgemeinen, die EE gegenüber den
Eingeborenen regelnden Vorschriften für zulässig erklärt sind.
$ 4. Der Reichskanzler (Reichs-Kolonialamt) und mit seiner Zustimmung
der Gouverneur haben die zur Sicherstellung der den Förderern obliegenden Ver-
pflicbtung zur Uebergabe der Diamanten und zur Ausführung dieser Verordnung
erforderlichen Bestimmungen zu erlassen.
§ 5. Den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestimmt der
Reichskanzler (Reichs-Kolonialamt) oder mit seiner Zustimmung de Gouverneur.
Verordnung, betr. die Ausfuhr von Angoraziegen aus dem Schutz-
gebiete Deutsch-Südwestafrika.. Vom 15. Februar 1909. S. 403.
$ 1. Die Ausfuhr von Angoraziegen aus dem Schutzgebiet ist verboten.
$ 2. Wer entgegen der Vorschrift dieser Verordnung Angoraziegen ausführt.
wird mit einem Jahre Gefängnis und einer Geldstrafe von 10000 Mark bestraft.
$ 3. Die Bestimmung des $ 1 findet keine Anwendung auf die Ausfuhr von
Angoraziegen nach benachbarten Staaten und Kolonien, in denen ae ein
gesetzliches Verbot für die Ausfuhr von Angoraziegen unter Androhung ent-
sprechender Strafen und mit der Maßgabe besteht, daß durch eine gleichartige
Ausnahmebestimmung die Ausfuhr in das Deutsch-Südwestafrikanische Schutz-
gebiet gewährleistet wird.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 775
Verordnung, betr. die Ausfuhr von Straußen und Straußeneiern aus
dem Schutzgebiete Deutsch-Südwestafrika. Vom 15. Februar 1909.
S. 404.
Entsprechend der vorstehenden Verordnung.
Bekanntmachung, betr. Einfuhrbeschränkungen wegen Gefahr der
Einschleppung der San Jose-Schildlaus. Vom 29. Juli 1909. S. 893.
Gesetz, betr. die Abänderung des $ 15 des Zolltarifs vom 25. De-
zember 1902 und des $ 2 des Gesetzes, betr. den Hinterbliebenen-
Versicherungsfonds und den Reichs-Invalidenfonds, vom 8. April 1907.
Vom 11. Dezember 1909. S. 973.
Im § 15 Abs. 3 des Zolltarifs vom 25. Dezember 1902 und im $ 2 Nr. 2 des
Gesetzes, betr. den Hinterbliebenen-Versicherungsfonds und den Reichs-Inyaliden-
fonds vom 8. April 1907 treten an die Stelle der Worte: „bis zum 1, Januar 1910“
die Worte: „bis zum 1. April 1911“.
Gesetz wegen Aenderung des Gesetzes, betr. die Wechselstempel-
steuer. Vom 4. März 1909. S. 305.
I. Der $ 1 erhält folgende Fassung: $ 1. Gezogene und eigene Wechsel
unterliegen dem Wechselstempel. Abs. 2. Von der Stempelabgabe befreit bleiben:
l. die vom Ausland auf das Ausland gezogenen und die im Ausland ausgestellten
eigenen Wechsel, wenn sie nur im Auslande zahlbar sind; 2. die vom Inland auf
das Ausland gezogenen, nur im Ausland, und zwar auf Sicht oder spätestens inner-
halb zehn Tagen nach dem Tage der Ausstellung zahlbaren Wechsel, sofern sie vom
Aussteller unmittelbar in das Ausland versendet werden.
IV. An die Stelle des $ 12 treten folgende Vorschriften: Ein zur Annahme
versandtes Wechselexemplar darf vom Verwahrer gegen Vorlegung eines nicht
versteuerten Exemplars oder einer nicht versteuerten Abschrift desselben Wechsels
unversteuert nur ausgeliefert werden, wenn dieses unversteuerte Exemplar oder
diese unversteuerte Abschrift zuvor auf der Rückseite dergestalt durchkreuzt ist,
daß dadurch die Benutzung zum Indossieren ausgeschlossen wird. Ist dies nicht
der Fall, so haftet der Verwahrer, der das mit dem Annahmevermerke versehene
Exemplar unversteuert ausliefert, für die Stempelabgabe und verfällt, wenn sie
nicht rechtzeitig entrichtet wird, in die im $ 15 bestimmte Strafe.
VI. $ 14a. Verjährung des Anspruchs auf Entrichtung des Wechselstempels.
VII. $ 16c. Die Umwandlung einer nicht beizutreibenden Geldstrafe in eine
Freiheitsstrafe findet nicht statt. Auch ist, wenn der Verurteilte ein Deutscher
be die Zwangsversteigerung eines Grundstücks ohne seine Zustimmung nicht zu-
sig.
Eyr. $ 16a. An Stelle von § 15 III: Ergibt sich in den Fällen der §§ 15, 16
aus den Umständen, daß eine Hinterziehung der Stempelabgabe nicht hat verübt
werden können oder nicht beabsichtigt worden ist, so tritt eine Ordnungsstrafe bis
zu 150 Mark ein. Hinter § 16: § 16b. Die auf Grund dieses Gesetzes zu ver-
hängenden Strafen sind bei offenen Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften
und Kommanditgesellschaften auf Aktien gegen die zur Vertretung der Gesellschaft
berechtigten Gesellschafter, bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung gegen die
Geschäftsführer, bei Genossenschaften, Aktiengesellschaften und sonstigen rechts-
fähigen Vereinen gegen die Vorstandsmitglieder nur im einmaligen Betrage, jedoch
unter Haftbarkeit jedes einzelnen als Gesamtschuldner festzusetzen. Ebenso ist
in anderen Fällen zu verfahren, in denen mehrere Personen gemeinschaftlich oder
als Vertreter desselben Teilnehmers am Umlauf des Wechsels beteiligt sind. Abs. 2.
Die Vorschrift des Abs. 1 Satz 1 findet entsprechende Anwendung im Verhältnisse
des Vollmachtgebers zu dem Bevollmächtigten, welcher innerhalb der ihm zu-
stehenden Vertretungsmacht im Namen des Vollmachtgebers eine der in den $§ 6
bis 12 bezeichneten Handlüngen vornimmt, bevor der Verpflichtung zur Entrich-
tung des Stempels genügt ist.
IX. Verjährung der Strafverfolgung von Hinterziehungen des Wechselstempels.
776 Nationalökonomische Gesetzgebung.
XIII. Der $$ 22 wird durch folgende als Abs. 2 des $ 28 einzuschaltende
Vorschriften ersetzt. Der Bundesrat erläßt insbesondere die Anordnungen wegen der
Anfertigung und des Vertriebes der nach Maßgabe dieses Gesetzes zu verwendenden
Stempelmarken und gestempelten Vordrucke sowie die Vorschriften über die Art
der Verwendung der Marken. Er stellt die Bedingungen fest, unter welchen für
verdorbene Marken und Vordrucke Erstattung zulässig ist.
XIV. An die Stelle des $ 24 treten folgende Vorschriften: 1. Auf Verpflich-
tungsscheine über die Zahlung von Geld, sofern sie durch Indossament übertragen
werden können, 2. auf Anweisungen über die Zahlung von Geld, sofern sie durch
Indossament übertragen werden können oder auf den Inhaber lauten oder sofern
die Zahlung an jeden Inhaber bewirkt werden kann. Abs. 2. Es macht keinen
Unterschied, ob die im Abs. 1 bezeichneten Urkunden in Form von Briefen oder
in anderer Form ausgestellt werden. Abs. 3. Befreit von der Stempelabgabe sind
Schecks mit der im $ 29 Abs. 2 des Scheckgesetzes vorgesehenen Ausnahme sowie
die statt der Barzahlung dienenden auf Sicht zahlbaren Platzanweisungen, die
nicht Schecks sind. Eine auf die Urkunde gesetzte Annahmeerklärung macht den
Scheck oder die Platzanweisung steuerpflichtig, sofern der Annahmeerklärung
rechtliche Wirkung zukommt. Die Versteuerung muß erfolgen, ehe der Akzeptant
den Scheck oder die Platzanweisung aus den Händen gibt. Abs. 4. In welchen
Fillen Anweisungen, die an einem Nachbarorte des Ausstellungsortes zahlbar sind,
den Platzanweisungen gleich zu achten sind, bestimmt der Bundesrat nach Mat,
gabe der örtlichen Verhältnisse.
XV. Der $ 25 erhält folgende Fassung:
Urkunden, welche nach diesem Gesetz stempelpflichtig sind oder auf welche
die in diesem Gesetz vorgesehenen Stempelbefreiungen Anwendung finden, sind in
den einzelnen Bundesstaaten keiner Abgabe unterworfen. Abs. 2. Auch von den
auf derartige Urkunden gesetzten Uebertragungsvermerken, Quittungen und sonstigen
auf die Leistung aus diesen Papieren bezüglichen Vermerken dürfen landesgesetz-
liche RER nicht erhoben werden. Auf Proteste findet diese Vorschrift keine
Anwendung.
XVII. An die Stelle des $ 27 treten folgende Vorschriften: Der Ertrag des
Wechselstempels fließt in die Reichskasse, Jedem Bundesstaate wird von der jähr-
lichen EAAS, welche in seinem Gebiet aus dem Verkaufe von Stempelmarken
oder gestempelten Vordrucken erzielt wird, der Betrag von zwei vom Hundert aus
der Reichskasse gewährt.
Bekanntmachung des Textes des Wechselstempelgesetzes. Vom 10.
März 1909. S. 310.
Gesetz, betr. die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds und des
Hinterbliebenen-Versicherungsfonds. Vom 1. Juni 1909. S. 469.
$ 1. Das Gesetz, betr. die Gründung und Verwaltung des Reichs-Invaliden-
fonds, vom 23. Mai 1873, und das Gesetz, betr. den Hinterbliebenen- Versicherungs-
fonds und den Reichs-Invalidenfonds, vom 8. April 1907, werden wie folgt
geändert: Die Verwaltung des Reichs-Invalidenfonds und des Hinterbliebenen-Ver-
sicherungsfonds nach den für diese Fonds geltenden Vorschriften wird dem Reichs-
kanzler mit folgender Maßgabe übertragen: 1. Eine Außerkurssetzung von Schuld-
verschreibungen des Reichs-Invalidenfonds findet nicht mehr statt. Die bisher
erfolgten Außerkurssetzungen verlieren ihre Wirkung. 2. Der § 5 des Gesetzes
vom 23. Mai 1873 wird aufgehoben. 3. Bei dem gemeinsamen Verschlusse der
Wertpapiere wirken zwei Mitglieder der Reichsschuldenkommission mit, von denen
das eine dem Bundesrate, das andere dem Reichstag angehört. Eine Bilanz über
den Reichs-Invalidenfonds ist nicht mehr aufzustellen.
$ 2. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. Oktober 1909 in Kraft.
Doppelsteuergesetz,. Vom 22. März 1909. S. 332.
$ 1. Ein Deutscher darf vorbehaltlich der Bestimmungen im $3 zu den direkten
Staatsstenern nur in demjenigen Bundesstaate herangezogen werden, in welchem
er seinen Wohnsitz hat. Abs. 2. Einen Wohnsitz im Sinne dieses Gesetzes hat
ein Deutscher an dem Orte, an welchem er eine Wohnung unter Umständen inne hat,
welche auf die Absicht der dauernden Beibehaltung einer solchen schließen lassen.
Nationalökonomische Gesetzgebung. IT
$ 2. Ein Deutscher, welcher in keinem Bundesstaate einen Wohnsitz hat,
darf nur in demjenigen Staat, in welchem er sich aufhält, zu den direkten Staats-
steuern herangezogen werden. Abs. 2. Hat ein Deutscher in seinem Heimatstaat
und außerdem in anderen Bundesstaaten einen Wohnsitz, so darf er nur in dem
ersteren zu den direkten Staatssteuern herangezogen werden. Abs. 3. In Reichs-
oder Staatsdiensten stehende Deutsche dürfen, sofern sie sowohl in demjenigen
Bundesstaat, in welchem sich ihr dienstlicher Wohnsitz befindet, als auch in einem
anderen Bundesstaat einen Wohnsitz im Sinne des $ 1 Abs. 2 dieses Gesetzes
haben, nur in dem ersteren Bundesstaate, sofern sie aber in keinem Bundesstaat
einen Wohnsitz im Sinne des $ 1 Abs. 2 dieses Gesetzes, sondern nur einen dienst-
lichen Wohnsitz haben, nur in dem Bundesstaate des dienstlichen Wohnsitzes zu
den direkten Staatssteuern herangezogen werden.
$ 3. Der Grund- und Gebäudebesitz und der Betrieb eines stehenden Gewerbes
sowie das aus diesen Quellen herrührende Einkommen dürfen nurin demjenigen Bundes-
staate besteuert werden, in dessen Gebiete der Grund- und Gebäudebesitz liegt
oder die Betriebsstätte zur Ausübung des stehenden Gewerbes unterhalten wird.
Abs. 2. Betriebsstätte im Sinne dieses Gesetzes ist jede feste örtliche Anlage oder
Einrichtung, die der Ausübung des Betriebes eines stehenden Gewerbes dient.
Außer dem leg o eines Betriebes gelten hiernach als Betriebsstätten: Zweig-
niederlassungen, Fabrikationsstätten, Ein- und Verkaufsstellen, Niederlagen, Kontore
und sonstige zur Ausübung des Gewerbes durch den Unternehmer selbst, dessen
Geschäftsteilhaber, Prokuristen oder andere ständige Vertreter unterhaltene Ge-
schäftseinrichtungen. Abs. 3. Befinden sich Betriebsstätten desselben gewerb-
lichen Unternehmens in mehreren Bundesstaaten, so darf die Heranziehung zu den
direkten Staatssteuern in jedem Bundesstaate nur anteilig erfolgen. Abs. 4. Die
Besteuerung des Gewerbetriebes im Umherziehen einschließlich des Wanderlager-
betriebs bleibt demjenigen Bundesstaate vorbehalten, in dessen Gebiet der Betrieb
stattfindet oder stattfinden soll.
$4. Wird en Steuerpflichtiger für denselben Zeitraum, für den er in einem
Bundesstaate die von ihm dort eingeforderte direkte Staatssteuer entrichtet hat,
in einem anderen Bundesstaat zu einer gleichartigen direkten Staatssteuer heran-
gezogen, so ist ihm diese auf Antrag bis zur endgültigen Entscheidung über das
Recht und das Maß der Besteuerung zu stunden.
$5. An den Wirkungen, welche der Wohnsitz oder Aufenthalt außerhalb
des Reichsgebiets auf die Steuerpflichtigkeit eines Deutschen äußert, wird durch
das gegenwärtige Gesetz nichts geändert.
$ 6. Beschwerden über eine infolge Verletzung der Vorschriften dieses Ge-
setzes eingetretene Doppelbesteuerung sind innerhalb eines Jahres nach der end-
gungen eststellung der Doppelbesteuerung anzubringen. Solche Beschwerden
ürfen nicht aus dem Grunde zurückgewiesen werden, daß der Steuerpflichtige die
in Landesgesetzen vorgesehenen ordentlichen Rechtsmittel gegen die Veranlagung
nicht innerhalb bestimmter Fristen eingelegt oder den Antrag auf Erstattung nicht
innerhalb landesgesetzlich vorgeschriebener Fristen gesteilt habe.
Gesetz, betr. die Feststellung eines fünften Nachtrags zum Reichs-
haushaltsetat für das Rechnungsjahr 1908. Vom 13. Februar 1909. S. 277.
Aufnahme von 150 Mill. M. Schatzanweisungen über den etatsmäßigen Betrag. Aus-
gaben für Reichsschuld und Reichsamt des Innern 6218329 M. Deckung durch Matrikular-
beiträge.
Gesetz, betr. die Feststellung des Reichshaushaltsetats für das Rech-
nungsjahr 1909. Vom 4. April 1909. S. 345.
$ 1. Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Reichshaushaltsetat für das
Rechnungsjahr vom 1. April 1909 bis 31. März 1910 wird in Ausgabe und Ein-
nahme auf 2850013863 M. festgestellt, und zwar:
im ordentlichen Etat
auf 2221 703099 M. an fortdauernden und
auf 393693619 M. an einmaligen Ausgaben sowie
auf 2 615396718 M. an Einnahmen,
778
Nationalökonomische Gesetzgebung.
im außerordentlichen Etat
auf 234617145 M. an Ausgaben und
auf 234 617145 an Einnahmen.
$ 2. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung einmaliger außer-
ordentlicher Ausgaben die Summe von 202 391 629 M. im Wege des Kredits flüssig
zu machen.
$ 3. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur vorübergehenden Verstärkung der
arf, jedoch nicht über
ordentlichen Betriebsmittel der Reichshauptkasse nach
den Betrag von 600 Mill. M. hinaus, Schatzanweisungen auszugeben.
S$ 4—7.
Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1909.
I. Ordentlicher Etat.
A. Ausgabe.
a) Fortdauernde Ausgaben.
Bundesrat
Reichstag
Reichskanzler und Reichskanzlei
Auswärtiges Amt
Reichsamt des Innern
Verwaltung des Reichsheeres
Reichsmilitärgericht
Verwaltung der Kaiserlichen Marine
Reichsjustizverwaltung
Reichsschatzamt
Reichs-Kolonialamt
Reichs-Eisenbahnamt
Reichsschuld
Rechnungshof
Allgemeiner Pensionsfonds
Reichs-Invalidenfonds
Reichs-Post- und Telegraphenverwaltung
Reichsdruckerei
Reichs-Eisenbahnverwaltung
Summe der fortdauernden Ausgaben
b) Einmalige Ausgaben.
Reichstag
Auswärtiges Amt
Reichsamt des Innern
Reichspost- und Telegraphenverwaltung
, Reichsdruckerei
Verwaltung des Reichsheeres
. Reichsmilitärgericht
Verwaltung der Kaiserlichen Marine
Reichs-Justizverwaltung
Reichsschatzamt
Reichskolonialamt
Reichsschuld
Reichs-Eisenbahnverwaltung
Expedition nach Ostasien
Fehlbetrag für 1907
Beihilfen für 1907
Gestundete Matrikularbeiträge für 1906
Summe der einmaligen Ausgaben
Hierzu Summe der fortdauernden Ausgaben
1 956 880 M.
300 985
17 759 565
77 999 050
671459 690
582951
143 698 682
2474705
304 739 077
2 bob 948
443 935
171452 800
1 138 186
115 109 685
35 241997
568 054 118
8 029 245
98 654 000
2 221 703 099 M.
934 960 M.
1 988 400
16 889 907
87 084
98 919 398
850 000
155 050 368
22 500
24 541673
25 056.435
3 015.070
940 491
13 842 652
23 151001
28 403 680
393 693 619 M
2 221705099 »_
Summe der Ausgabe des ordentlichen Etats 2 615 396 718 N.
D
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
Nationalökonomische Gesetzgebung. 779
B. Einnahme.
Zölle, Steuern und Gebühren 1 203 277 980 M.
Abfindungen 97 120 „
Reichspost- und Telegraphenverwaltung 672647 600 „
Reichsdruckerei 11922500 „
Reichs-Eisenbahnverwaltung 123 291 000 „,
Bankwesen 32884 000 „
Verschiedene Verwaltungseinnahmen 65 816704 „
Aus dem Reichs-Invalidenfonds 35 242007 „
Ausgleichungsbetrüge 30554078 „
Matrikularbeiträge 411 200049 „
Gestundete Matrikularbeiträge für 1906 28403680 „
Summe der Einnahme des ordentlichen Etats 2615 396 718 M.
Die Ausgabe des ordentlichen Etats beträgt 2615 396718 „
II. Außerordentlicher Etat.
A. Ausgabe.
Auswärtiges Amt —
Reichsamt des Innern 14 000 000 M.
Verwaltung des Reichsheeres 41716200 ,
Verwaltung der Kaiserlichen Marine 109 786545 „
Reichs-Kolonialamt 3 600 000 „,
Reichspost- und Telegraphenverwaltung 45 000 000 „,
Reichs-Eisenbahnverwaltung 20514400 „
Summe der Ausgabe des außerordentlichen Etats 234 617 145 M.
B. Einnahme.
Aus der Verwendung des Fonds für Klein-
wohnungen 257 000 M.
Für Festungsgrundstücke 3818413 „
Aus Anlaß der Expedition nach Ostasien 1 167469 „
Rückerstattungen auf die aus dem Reichs-Festungs-
baufonds geleisteten Vorschüsse 42014 „
Von dem Schutzgebiete Togo 45525 „
Von der Verwaltung der Reichseisenbahnen 519500 „„
Von der Reichspost- und Telegraphenverwaltung 1162360 „,
Zur Verminderung der Reichsschuld 25 337 249 „
Aus der Anleihe 202 267 615 A
Summe der Einnahme des außerordentlichen Etats 234 617 145 M.
Die Ausgabe des außerordentlichen Etats beträgt 234617145 „
Abschluß.
Summe der Ausgabe des ordentlichen und des
außerordentlichen Etats 2850013 863 M.
Summe der Einnahme des ordentlichen und des
außerordentlichen Etats 2850013 863 ,„
Gesetz, betr. die Feststellung des Haushaltsetats für die Schutz-
gebiete auf das Jahr 1909. Vom 4. April 1909. S. 378.
81.
68 623 530 M.
im außerordentlichen Etat auf 30 315 000 „
$ 2. Der im Wege des Kredits flüssig zu machende Betrag beläuft sich auf
26 644 930 M
? Der diesem Gesetz als Anlage beigefügte Haushaltsetat der Schutz-
e auf das Rechnungsjahr 1909 wird
938 530 M. festgestellt, und zwar:
im ordentlichen Etat auf
in Einnahme und Ausgabe auf
780 Nationalökonomische Gesetzgebung.
I. Ostafrikanisches Schutzgebiet.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 10729833 M.
Reichszuschuß 3 578 804 d
Summe der Einnahme 14 308 637 M.
Die Ausgabe beträgt 14 308 637 „
II. Schutzgebiet Kamerun.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 4 400 000 M.
Ersparnis aus dem Rechnungsjahr 1906 516259 „
Reichszuschuß 2 267 107 „
Summe der Einnahme 7 183 366 M.
Die Ausgabe beträgt 7 183 366 „,
III. Schutzgebiet Togo.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 2 334 490 M.
Reichszuschuß —
Summe der Einnahme 2334 490 M.
Die Ausgabe beträgt 2334490 „,
IV. Südwestafrikanisches Schutzgebiet.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 8 348050 M.
Ersparnisse aus den Rechnungsjahren 1905
und 1906 10956 852 „
Reichszuschuß 17 124 914 „
Summe der Einnahme 27 429 810 M.
Die Ausgabe beträgt 27 429816 „
V. Schutzgebiet Neuguinea.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 744 000 M.
Zuschuß der Verwaltung der Karolinen,
Palau, Marianen und Marschallinseln zu
den Verwaltungsausgaben von Neuguinea 62 215 „
Reichszuschuß 916 obo „,
Summe der Einnahme D 722 275 M.
Die Ausgabe beträgt 1722275 „
VI. Verwaltung der Karolinen, Palau, Marianen und Marschallinseln.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 577 275 M.
Ersparnis aus dem Rechnungsjahr 1906 32183 „
Summe der Einnahme 609 458 M.
Die Ausgabe beträgt 609 458 „
VII. Schutzgebiet Samoa,
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 607 700 M.
Ersparnis aus dem Rechnungsjahr 1906 155 830 „
Summe der Einnahme 763 530 M.
Die Ausgabe beträgt 763 530 „
VII Schutzgebiet Kiautschou.
Eigene Einnahmen des Schutzgebiets 3 620 597 M.
Reichszuschuß 8 545 005 „
Summe der Einnahme 12 165 602 M.
Die Ausgabe beträgt 12 165 602 „
IX. Schutzgebietsschuld.
Ausgabe.
Zur Herstellung von Schuldpapieren sowie
zu sonstigen Ausgaben der Verwaltung 9 000 M.
Verzinsung 2097 356 „
Summe der Ausgabe 2 106 356 M.
Lé „ Einnahme 2106 356 ,„
Nationalökonomische Gesetzgebung. 781
Gesetz, betr. die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaus-
haltsetats für das Rechnungsjahr 1909. Vom 27. Dezember 1909. S. 983.
Ordentliche Ausgaben 38 549741 M.
Außerordentliche Ausgaben. (Fehlbeträge, Deckung der ge-
stundeten Matrikularbeiträge, vorläufige Begleichung der
den Sollbetrag der Ueberweisungen um mehr als au Pfg.
auf den Kopf der Bevölkerung übersteigenden Matrikular-
beiträge fiir 1909.) 522 201419 „
Deckung der außerordentlichen Ausgaben durch Anleihe.
Gesetz, betr. die Feststellung eınes Nachtrages zum Haushaltsetat
für die Schutzgebiete auf das Rechnungsjahr 1909. Vom 27. Dezember
1909. 8 991.
Gesetz, betr. die Kontrolle des Reichshaushalts, des Landeshaus-
halts von Elsaß-Lothringen und des Haushalts der Schutzgebiete. Vom
17. März 1909. S. 320.
Bekanntmachung, betr. das Ausscheiden des Großherzogtums Luxem-
burg aus der norddeutschen Brausteuergemeinschaft. Vom 29. Sep-
tember 1909. S. 933.
Gesetz, betr. die zollwidrige Verwendung von Gerste. Vom 3. August
1909. S. 899.
$ 1. Es ist verboten, Malz aus Gerste, die bei der Einfuhr in das deutsche
Zollgebiet nach einem niedrigeren als dem für Malzgerste bestehenden Zollsatze
verzollt worden ist, zu Brauzwecken zu verwenden. Abs. 2. Der Bundesrat er-
läßt die zur Durchführung des Verbots erforderlichen Bestimmungen. Er ist ins-
besondere befugt, für die zum niedrigeren Zollsatze eingeführte Gerste eine Kenn-
zeichnung vorzuschreiben. Abs. 3. Jeder Verkäufer der zum niedrigeren Zollsatze
verzollten und nicht kenntlich gemachten ausländischen Gerste ist verpflichtet, dem
Käufer ausdrücklich von der erfolgten Verzollung nach dem niedrigeren Zollsatze
Kenntnis zu geben.
$2. Wer es unternimmt, zu Brauzwecken Malz zu verwenden, das aus
Gerste bereitet ist, die bei der Einfuhr in das deutsche Zollgebiet nach einem
niedrigeren als dem für Malzgerste bestehenden Zollsatze verzollt worden ist, oder
solche Gerste, wenn sie nicht kenntlich gemacht ist, ohne ausdrücklichen Hinweis
auf die nach dem niedrigeren Zollsatze erfolgte Verzollung ($ 1 Abs. 3) in den
Verkehr bringt, macht sich der Zolldefraudation (§ 135 des Vereinszollgesetzes)
schuldig. Abs. 2. Als vorenthaltene Abgabe ist derjenige Zollbetrag anzusehen,
welcher sich aus dem Unterschiede zwischen dem angewandten und dem für Malz-
gerste in Betracht kommenden Zollsatz ergibt. Abs. 3. Für die Berechnung der
Abgabe sind 75 kg Malz gleich 100 kg Gerste anzunehmen. Abs. 4. Die Geld-
strafe beträgt mindestens 50 M. für jeden einzelnen Fall. Kann der Betrag der
vorenthaltenen Abgabe nicht festgestellt werden, so ist auf eine Geldstrafe von
50 bis 5000 M. zu erkennen.
$ 3. Die Defraudation wird insbesondere dann als vollbracht angenommen,
1) wenn Gerste, die nach dem niedrigeren Zollsatze verzollt worden ist, oder aus
solcher bereitetes Malz in die Räume einer Brauerei eingebracht oder dort vor-
gefunden wird, sofern die Einbringung nicht mit Genehmigung der Zollbehörde
erfolgt ist; 2) wenn gekennzeichnete Gerste oder aus solcher bereitetes Malz einem
auf Beseitigung der Kennzeichnung gerichteten Verfahren unterworfen wird. Abs. 2.
Wird festgestellt, daß eine Vorenthaltung der Abgabe nicht beabsichtigt worden
ist, so tritt nur eine Ordnungsstrafe Wé $4 ein.
4. Zuwiderhandlungen gegen die gemäß $ 1 Abs. 2 erlassene, öffentlich
oder den Beteiligten besonders bekannt gemachten Bestimmungen werden, sofern
nicht die Defraudationsstrafe zu verhängen ist, mit einer Ca bis zu
150 M. bestraft.
$ 5. Dieses Gesetz tritt am 1. September 1909 in Kraft.
782 Nationalökonomische Gesetzgebung.
Branntweinsteuergesetz. Vom 15. Juli 1909. S. 661.
Gesetz wegen Aenderung des Brausteuergesetzes. Vom 15. Juli
1909. S. 695.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Brausteuergesetzes. Vom
21. Juli 1909. S: 773.
Gesetz wegen Aenderung des Schankgefäßgesetzes.. Vom 24. Juli
1909. 8. 891.
Gesetz wegen Aenderung des Tabaksteuergesetzes. Vom 15. Juli
1909. S. 705.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Tabaksteuergesetzes. Vom
21. Juli 1909. S. 793.
Gesetz zur Abänderung des Schaumweinsteuergesetzes. Vom 15. Juli
1909. S. 714.
Gesetz wegen Aenderung des Reichsstempelgesetzes. Vom 15. Juli
1909. S. 717.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Reichsstempelgesetzes,
Vom 22. Juli 1909. S. 833.
Gesetz wegen Aenderung des Wechselstempelgesetzes. Vom 15. Juli
1909. S. 740.
Gesetz, betr. Aenderungen im Finanzwesen. Vom 15. Juli 1909.
S. 743.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Zündwarensteuergesetzes.
Vom 21. Juli 1909. S. 814.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Wechselstempelgesetzes.
Vom 21. Juli 1909. S. 825.
Bekanntmachung, betr. die Fassung des Leuchtmittelsteuergesetzes.
Vom 22. Juli 1909. S. 880.
Siehe in diesen Jahrbüchern: Die Reichsfinanzgesetze von 1909, III. F. Bd. 38,
S. 721ff. und das Branntweinsteuergesetz, ebenda S. 629 ff.
Gesetz, betr. die Einwirkung von Armenunterstützung auf öffent-
liche Rechte. Vom 15. März 1909. S. 319.
Soweit in Reichsgesetzen der Verlust öffentlicher Rechte von dem Bezug
einer Armenunterstützung abhängig gemacht wird, sind als Armenunterstützung
nicht anzusehen: 1) die Krmkmantrstütenakt 2) die einem Angehörigen wegen
körperlicher oder geistiger Gebrechen gewährte Anstaltspflege; 3) Unterstützungen
zum Zwecke der Jugendfürsorge, der Erziehung oder der Ausbildung für einen
Beruf; 4) sonstige Unterstützungen, wenn sie nur in der Form vereinzelter Leistungen
zur Hebung einer augenblicklichen Notlage gewährt sind; 5) Unterstützungen, die
erstattet sind.
Besoldungsgesetz. Vom 15. Juli 1909. S. 573.
Bekanntmachung, betr. die Anzeigepflicht bei Erkrankungen und
Todesfällen an Milzbrand. Vom 28. September 1909. S. 933.
Verordnung, betr. die Einführung des Gesetzes über die Frei-
zügigkeit und des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz in Helgo-
land. Vom 29. März 1909. S. 335.
Gesetz, betr. Aenderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, der
Zivilprozeßordnung, des Gerichtskostengesetzes und der Gebührenord-
nung für Rechtsanwälte. Vom 1. Juni 1909. S. 475.
Bekanntmachung, betr. das Außerkrafttreten des Abkommens zur
Nationalökonomische Gesetzgebung. 783
Regelung von Fragen des internationalen Privatrechts vom 14. No-
vember 1896 und des Zusatzprotokolls vom 22. Mai 1897, sowie das
Inkrafttreten des Abkommens über den Zivilprozeß vom 17. Juli 1905.
Vom 24. April 1909. S. 409.
Gesetz zur Ausführung des Abkommens über den Zivilprozeß vom
17. Juli 1905. Vom 5. April 1909. S. 430.
Bekanntmachung, betr. die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde
Luxemburgs zu dem Haager Abkommen über den Zivilprozeß vom
17. Juli 1905, sowie die im Anschluß an dieses Abkommen von Deutsch-
land mit den Niederlanden, mit Luxemburg und mit Norwegen zur
weiteren Vereinfachung des Rechtshilfeverkehrs getroffenen Verein-
barungen. Vom 16. August 1909. S. 907.
Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und den Vereinigten
Staaten von Amerika, betr. den gegenseitigen gewerblichen Rechts-
schutz. Vom 23. Februar 1909. S. 895.
Abkommen zwischen dem Deutschen Reiche und Dänemark, betr.
den gegenseitigen Schutz der Muster und Modelle. Vom 12. Juni 1909.
S. 915.
Bekanntmachung, betr. den internationalen Verband zum Schutze
des gewerblichen Eigentums. Vom 21. September 1909. S. 926.
184 Miszellen.
Miszellen.
XXI.
Die Streikbewegung in Oesterreich, Frankreich und
Grossbritannien im Jahre 1908').
Von Dr. Maximilian Meyer, Berlin.
I. Oesterreich.
Von den hauptsächlich in Frage kommenden amtlichen Veröffent-
lichungen über die Bewegung der Streiks und Aussperrungen erfährt
die vom k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium heraus-
gegebene österreichische Statistik die eingehendste Bearbeitung. Sie
zeichnet sich vor anderen dadurch aus, daß sie die Starrheit in der
Darstellung vermeidet, d. h. daß nicht Jahr für Jahr die textliche Be-
arbeitung mit ganz geringen Aenderungen sich in den einmal festge-
legten Bahnen bewegt, daß sie in der Betrachtung der Bewegung nicht
an der Oberfläche haften bleibt, sondern, soweit das Urmaterial es her-
gibt, bemüht ist, durch immer neue Kombinationen, Berechnungen und
Gegenüberstellungen tiefer in diese soziale Erscheinung einzudringen,
um neue Erkenntniswerte bezüglich dieser für das ganze Wirtschafts-
leben so ungeheuer wichtigen Frage zu gewinnen.
So ist die Berichterstattung für das Jahr 1908 gegenüber dem
Vorjahre wieder in mehrfacher Hinsicht erweitert worden. Dazu gehört:
1) die nähere Charakterisierung der streikenden Personen;
2) das Auftreten verschiedenartiger Forderungen bei ein und dem-
selben Streik ;
3) der Verlauf der Streikbewegung während des Jahres.
Auch das Tabellenwerk hat Erweiterungen erfahren. So wird bei
jeder Forderung für alle drei Arten des Erfolges die Zahl der Streikenden
mitgeteilt. Aus den Forderungen „andere Gegenstände“ wurden die
Forderungen, welche die Organisation betreffen, als selbständige Gruppe
1) Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Oesterreich während des Jahres
1908; herausgeg. v. k. k. arbeitsstatistischen Amte im Handelsministerium, Wien 1910.
Statistique des grèves et des recours A la conciliation et A l’arbitrage survenus
pendant l’annte 1908, Paris 1909.
Report on strikes and lockouts and on conciliation arbitration boards in the
united kingdom in 1908, London 1909.
Miszellen. ` 785
ausgeschieden. Innerhalb der Gruppenstreiks werden jetzt drei Arten
unterschieden `
1) Streiks, bei denen alle Betriebe vollständig unterbrochen waren,
2) solche, bei denen einzelne Arbeiterkategorien in den ergriffenen
Betrieben vollständig streikten,
3) Streiks, die wenigstens in einem ergriffenen Betriebe vollständig
waren. Bis dahin wurden die zweite und die dritte Gruppe in einer
Gruppe nachgewiesen..
Nach diesen einleitenden Bemerkungen seien die wichtigsten Er-
gebnisse hier wiedergegeben.
Die ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse, unter denen Oester-
reich im Berichtsjahre zu leiden hatte, spiegeln sich in dem nicht un-
erheblichen Rückgange der Streikbewegung wider. In Oesterreich
haben im Jahre 1908 721 Streiks in 2702 Betrieben mit 78562 Streiken-
den stattgefunden; im Jahre 1907 wurden 365 Streiks in 3428 Be-
trieben mit 98227 Streikenden mehr gezählt. Von den 721 Streiks
waren 576 (79,9 Proz.) Angriff-, 82 (11,4 Proz.) Abwehrstreiks; 63
(8,9 Proz.) waren nicht zu klassifizieren. Die weitaus größte Zahl der
Streiks waren Einzelstreiks, 78,1 Proz. aller Streiks erfaßten nur einen
Betrieb, der Rest von 21,9 Proz. der Streiks entfiel auf die Gruppen-
streiks. Ueber 50 Betriebe erfaßten nur 6 Streiks, das sind 0,8 Proz.
aller stattgehabten Streiks.
Der weitaus größte Teil der Streiks dauerte nur kurze Zeit. So
währten ?/, aller Streiks (62,6 Proz.) mit ?/, aller Streikenden
(66,5 Proz.) nur 1—10 Tage. Ueber 90 Tage hinaus kamen nur
3,8 Proz. der Streiks mit 5,1 Proz. der Streikenden.
Bis zu 10 Streikende waren in 108 Fällen an einem Ausstande
beteiligt; nicht ganz 1/, aller Ausstände waren solche mit weniger als
20, etwas über !/, solche mit 21—50 Streikenden, fast °/,, bildeten
Streiks mit 51—200, 1/, , Streiks mit 201—500 Streikenden; in 31 Fällen
überstieg die Zahl der Streikenden die Ziffer 500 und zwar verteilten
sich diese Fälle auf folgende Gewerbegruppen:
18 Kohlenbergbau ı Baugewerbe
2 Metallverarbeitung ı Papierindustrie
1 Schiffbau 1 Gast- und Schankgewerbe
3 Textilindustrie 2 Verkehrsgewerbe
2 Nahrung und Genußmittel
In 168 Füllen (23 Proz. der Gesamtzahl) streikte die gesamte
Arbeiterschaft, in 87 Fällen mußten auch alle nichtstreikenden Arbeiter
wegen Arbeitsniederlegung seitens der Streikenden die Arbeit einstellen.
Die Zahl der gezwungen Feiernden betrug 8858. In 266 Fällen streikten
einzelne Arbeiterkategorien vollständig, und in 43 Fällen ruhte ein Teil-
betrieb des Gesamtbetriebes vollständig.
Rund die Hälfte aller Streiks hatte mehr als 200 versäumte Arbeits-
tage oder Schichten zur Folge, über !/, mehr als 400 und etwa 1/;
mehr als 1000. Die Streikenden waren zu °/,, männlichen, zu !/,,
weiblichen Geschlechts. Von je 100 männlichen Beschäftigten hatten
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 50
786 Miszellen.
58, von je 100 weiblichen 54 am Ausstande teilgenommen. Der Prozent-
anteil der Jugendlichen, die in von Streiks ergriffenen Betrieben be-
schäftigt waren, betrug 4, der der Erwachsenen 96; bei den Streikenden
` betrug die Quote der Jugendlichen 31/, Proz. Während nicht ganz
die Hälfte der beschäftigten Jugendlichen die Arbeit niederlegte, be-
teiligten sich im Durchschnitt 58 von 100 beschäftigten erwachsenen
Arbeitern an den Ausständen.
Folgende Zahlen geben Aufschluß über die Arbeiter nach ihrer
Qualifikation:
Beschäftigte Streikende Von 100 Be
schäftigten
absolut | Prozent | absolut | Prozent | streikten
Zahl der gelernten Arbeiter 85 750 63,1 53 580 68,2 62,5
» » ungelernten Arbeiter | 47 257 34,8 24472 31,2 51,8
» wn Lehrlinge 2 864 2,1 510 0,6 17,8
Den Verlauf der Streikbewegung stellt der Bericht nach 3 Rich-
tungen dar:
1) nach dem Zeitpunkte ihres Beginns in Gruppen zu je 3 Monaten,
2) nach der Anzahl der Streiks und der Streikenden für einen be-
stimmten Stichtag im Monat.
3) nach der Anzahl der Streiks und der Streikenden nach Kalender-
monaten.
Zu 1. Es entfielen in die Monate:
Streiks Mit Streikenden
absolut Prozent absolut Prozent
März— Mai 311 43,2 29 130 37,1
Juni— August 210 29,1 26 649 33,9
September—November 89 12,3 12 035 15,3
Dezember—Januar—Februar 111 15,4 10 748 13,7
Zu 2.
Am 17. eines jeden Monats des Jahres 1908
Monat betrug die Zahl der
Streiks Streikenden
Januar 15 2591
Februar 18 1874
März 31 2707
April 57 4376
Mai 70 5657
Juni 63 8499
Juli 4I 3780
August 29 2973
September 29 3232
Oktober 16 3951
November 17 2896
Dezember 13 1576
Die Streikbewegung zeigt in der ersten Hälfte des Jahres eine
stetige Aufwärtsbewegung, in der zweiten Hälfte des Jahres einen Rück-
gang. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man die Streiks
auf die einzelnen Monate verteilt. Man erhält dann:
Miszellen. 787
Im Laufe der nebenstehenden Monate
Monat waren im Zuge
Streiks mit Streikenden
Januar 45 4556
Februar 63 5947
März 92 7 258
April 135 13 076
Mai 190 21 273
Juni 155 19 618
Juli 121 11541
August 84 8 843
September 69 6 874
Oktober 55 10 289
November 37 4 967
Dezember 30 4 184
Die wichtigeren Gewerbegruppen hatten folgenden Anteil an der
Streikbewegung:
d f Versäumte
Gewerbegruppen Streiks Streikende Arbeitstage
Bergbau 81 26 803 75745
Industrie in Steinen, Erden, Ton u. Glas 95 5939 92845
Metallverarbeitung 58 4 605 147 543
Erzeugung von Maschinen, Apparaten,
Instrumenten u. Transportmitteln 37 3 980 I51159
Industrie der Holz- und Schnitzwaren
und Kautschuk 53 1742 48 258
Textilindustrie 59 7 284 110675
Bekleidungs- und Pelzwarenindustrie 47 2170 23 946
Industrie der Nahrungs- u. Genußmittel 4I 3746 27 914
Baugewerbe 145 12 664 189 729
Verkehrswesen 27 4444 27 511
Den 721 Streiks entsprachen 881 Veranlassungen, und zwar wurde
die Veranlassung in Fällen
absolut Prozent
Unzufriedenheit mit den Löhnen 490 68,0
Unzufriedenheit mit der Arbeitsdauer 138 19,1
Entlassung von Arbeitern oder Ver-
trauensmännern 87 12,1
Unzufriedenheit mit der Arbeits- und
Dienstordnung 43 6,0
Mißliebige Arbeiter 23 3,2
Mißliebige Vorgesetzte 2I 2,9
Kürzung der Löhne 19 2,6
Unter den Forderungen kamen vor:
bei Streiks
absolut Prozent
Lohnforderungen 551 76,4
Arbeitszeitforderungen 228 31,6
Organisationsforderungen 280 38,8
Sonstige Forderungen 192 26,6
Um ein Bild von den Forderungen, die unter die Gruppen Organi-
sations- und sonstige Forderungen fallen, zu erhalten, seien hier einige
spezielle Angaben gemacht. Es wurden gefordert bei 116 Streiks An-
erkennung oder Einsetzung von Arbeitervertretungen bezw. Vertrauens-
männern, bei 86 Freigabe des 1. Mai, bei 68 Wiederaufnahme Ent-
50*
788 Miszellen.,
lassener, bei 60 Nichtentlassung von Streikenden, bei 34 Entlassung von
Streikbrechern bezw. mißliebigen Arbeitern, bei 32 Entfernung von Vor-
gesetzten, bei 13 Nichtentlassung von Arbeitervertrauensmännern, bei
11 die Arbeitsvermittlung betreffend, bei 7 Aufnahme von nur der
Organisation angehörigen Arbeitern, bei 22 die Abschaffung der Akkord-
arbeit, bei 15 Schiedsgericht in Streitigkeiten, bei 6 Einführung der
Akkordarbeit, bei 5 Regelung des Lehrlingswesens.
In welcher Kombination die Forderungen auftreten, dafür mögen
für die vier Hauptkategorien, Lohn-, Zeit-, Organisations-, andere Forde-
rungen, die folgenden Zahlen Aufschluß geben.
Forderungen, betreffend Streiks in Proz.
Lohn allein 258 35,8
Arbeitszeit allein 16 2,2
Organisation allein 99 13,8
Sonstiges allein 44 6,1
Lohn und Arbeitszeit 77 10,7
H » Organisation 29 4,0
+ », Sonstiges 29 4,0
Arbeitszeit und Organisation 2 0,3
= „ Sonstiges I 0,1
Organisation und Sonstiges 8 1,1
Lohn, Arbeitszeit und Organisation 48 6,7
Lohn, Organisation und Sonstiges 26 3,6
Lohn, Arbeitszeit und Sonstiges 16 2,2
Lohn, Arbeitszeit, Organisation und Sonstiges 68 9,4
Eine sehr eingehende textliche Bearbeitung hat die Frage nach
dem Streikergebnis gefunden.
Legt man den Streik als Ganzes zugrunde, so zeigt sich, daß
160 Streiks (22,2 Proz.) mit 10 162 Streikenden (12,9 Proz.) vollen Erfolg
38 „ (427 sn ) » 37336 W (47,5 „ ) teilweiser Erfolg
253 » (GB51 » ) „ 31064 n (39,6 n ) Mißerfolg
hatten.
Der Anteil der wichtigeren Gewerbegruppen am Erfolg war der
folgende:
Streiks in Proz. Streikende in Proz.
Gewerbegruppen voller we. kein | voller GE) kein
ey Erfolg Erfolg
Bergbau 16,0 | 28,4 | 55,6 | 15,2 | 20,2 | 646
Industrie der Steine, Erden, Ton und Glas | 20,0 | 41,1 | 38,9 | 14,9 | 53,7 | 31,4
Metallverarbeitung 17,2 | 56,9 | 25,9 5,8 | 76,3 | 17,9
Erzeugung von Maschinen, Apparaten, In-
strumenten und Transportmitteln 10,8 | 48,6 | 40,6 6,2 | 65,5 | 28,3
Industrie der Holz- und Schnitzwaren und
Kautschuk 22,6 | 43,4 | 34,0 | 12,5 | 64,4 | 23,1
Textilindustrie 16,9 | 45,8 | 37,8 6,1 | 53,3 | 40,5
Bekleidungs- und Putzwarenindustrie 25,5 | 51,1 | 23,4 9,2 | 80,0 | 10,8
Industrie der Nahrungs- und Genußmittel | 36,6 | 31,7 | 31,7 | 26,6 | 61,5 | 11,9
Baugewerbe 23,4 | 43,5 | 33,1 89 | 54,7 | 36,4
Verkehrsgewerbe 18,5 | 48,2 | 53,8 | 13,7 | 75,8 | 10,5
Miszellen. 789
Aber auch über den positiven Erfolg, was an Lohnerhöhung und
an Kürzung der Arbeitszeit von den Streikenden gewonnen wurde, gibt
die Statistik Auskunft. Lohnerhöhungen wurden bei 345 Streiks von
34717 Streikenden erwirkt; bei 245 Streiks mit 21137 Streikenden
sind die Grenzen der prozentuellen Lohnerhöhung bekannt.
Die häufigst vorkommenden Lohnerhöhungen, geordnet nach der
Zahl der Streikenden, waren die folgenden:
Prozente der Streiks mit Prozente der Streiks mit
Lohnerhöhung Streikenden Lohnerhöhung Streikenden
5 20 2616 8 4 311
10 33 2485 6—10 2 309
10—20 5 1697 11—43 1 284
5—10 6 1153 10—17 I 280
10—15 II 836 7 256
8—10 6 677 2—18 I 230
1—30 2 669 10—21 I 223
7 4 553 4—20 2 212
9—10 I 551 5—6 2 203
15 II 531 40—44 I 200
20 12 504 35—39 DH 187
II 4 486 4—5 3 186
10—II 3 437 6—8 2 170
6—20 3 391 KEE: 1 153
7—II I 380 12 4 153
In etwa A der Fälle, wo irgendwelche Lohnzugeständnisse gewährt
wurden, betrug die Lohnerhöhung mehr als 5 Proz., sie überstieg zu-
meist — auch in etwa A der Fälle — nicht 20 Proz. In einem ver-
einzelten Falle wurde der bisherige Lohn verdoppelt.
Arbeitszeitverkürzungen wurden bei 111 Ausständen von 12205
Streikenden erreicht, und zwar:
im Ausmaße bei mit im Ausmaße bei mit
von Stunden Streiks Streikenden von Stunden Streiks Streikenden
Ye I 82 VD 2 133
1 3
h 4 800 É 5 132
Ne 2 697 1 35 2559
Ma 4 284 (NA 2 52
i 39 3221 2 2 112
1—1 4 410 CM 2 212
IEN I 405 1 380
Weiter wird untersucht:
der Einfluß der Einzel- oder Gruppenstreiks,
der Angriff- oder Abwehrstreiks,
der Zahl der Betriebe,
der Zahl der Streikenden,
HI
auf den Erfolg.
der
der
der
der
Groß- und Kleinbetriebe,
Dauer der Streiks,
verschiedenen Arbeiterkategorien,
Zahl der Forderungen
Von diesen Kombinationen sollen hier nur die berücksichtigt werden,
die sich in den Veröffentlichungen der anderen hauptsächlich in Frage
kommenden Länder nicht finden.
790 Miszellen.
Das gilt 1) von der Zergliederung der Streiks nach Groß- und Klein-
betrieben.
Es ergibt sich hier folgendes:
Streiks in Proz. HE
Streiks, an welchen beteiligt waren | Streiks | Streikende j ud
»mmamm |
SES
65 283 18,6| 40,4| 41,0| 13,3 40,3 464
6723 | 34,6) 40,8| 24,6| 21,4|70,2| 8,4
6556 | 3,8193,4| 3,81 0,5|95,9! 36
nur Großbetriebe!)
nur Kleinbetriebe
Klein- und Großbetriebe
2. Von der Beteiligung der verschiedenen Arbeiterkategorien.
überwiegend männl. Streikenden 13,8) 46,4 39,8
darunter nur mit männl. Streikenden 13,0| 47,5 39,4
überwiegend weibl. Streikenden 4,4| 58,7| 36,9
darunter nur mit weibl. Streikenden 12,1| 78,7) 9,2
überwiegend gelernten Streikenden 12,3| 44,5 43,2
darunter nur mit gelernten Streikenden 7,5| 51,7) 40,8
überwiegend ungelernten Streikenden 14,8| 55,9 29,3
darunter nur mit ungelernten Streikenden 16,8| 51,6, 31,6
3) Von der Zahl der gestellten Forderungen.
davon mit
Zahl vollem | teilweisem | keinem
der gestellten | Streiks Erfol
Forderungen ge
absolut | Proz. | absolut | Proz. | absolut | Proz.
1 381 113 29,7 86 182 47,1
2 127 24 18,9 63 40 31,5
3 63 7 Ié 4I 15 23,8
4 41 6 14,6 30 5 12,2
5 2 I 4,2 19 4 16,6
mehr als 5 85 | ' 8,2 69 9 10,6
Je größer die Anzahl der Forderungen, um so häufiger tritt teil-
weiser, um so seltener voller oder kein Erfolg auf.
Durch Multiplikation der Anzahl der verlorenen Arbeitstage mit
dem mittleren Arbeitslohn für jeden Betrieb wurde ein Gesamtlohn-
ausfall von 3310000 K (6584000 K im Vorjahre) berechnet; davon
1) Als Großbetriebe gelten die Fabriken sowie solche nicht industrielle Betriebe,
bei denen mehr als 20 Arbeiter in Verwendung stehen.
2) S = Sieg. 3) V = Vergleich. 4) N = Niederlage.
Miszellen, 791
entfielen auf die Streikenden 3083000 K, auf die gezwungen Feiernden
227000 K.
Nun noch einige Worte über die Aussperrungen. Es fanden
35 Aussperrungen im Jahre 1908 statt, 9 mehr als im Vorjahre. 268 Be-
triebe mit 13425 Beschäftigten wurden von der Aussperrung berührt;
ausgesperrt wurden 9588 Arbeiter. Die größte Zahl der Aussperrungen
berührte das Baugewerbe (8), die Textilindustrie erlebte 5, die Industrie
der Steine, Erden, Ton und Glas, die Metallverarbeitung, die Erzeugung
von Maschinen, Apparaten und die Industrie der Holz- und Schnitz-
stoffe je 4, die Industrie in Leder, Häuten, Borsten, Haaren und
Federn 2, Handel und Verkehrswesen je 1.
II. Frankreich.
Wie die österreichische amtliche Streikstatistik legt auch die fran-
zösische den Hauptwert darauf, nicht nur das Gesamtergebnis der Be-
wegung zur Darstellung zu bringen, sondern jeden einzelnen Streik in
seinem Verlauf kurz aufzuzeichnen. Während nun aber die öster-
reichische amtliche Stelle den Gebrauch der Statistik durch eine ein-
gehende textliche Bearbeitung, wie wir oben gesehen haben, erleichtert,
begnügt sich die französische amtliche Stelle damit, der Einzeldar-
stellung einige Uebersichtstabellen folgen zu lassen. Im übrigen über-
läßt sıe alles weitere der wissenschaftlichen Bearbeitung. Die wenigen
Textseiten unterrichten nur über die ganz an der Oberfläche liegenden
Fragen, und zwar werden an keiner Stelle frühere Jahre zum Vergleich
herangezogen. Es möchte deshalb zum Zwecke einer schnelleren Orien-
tierung von Nutzen sein, wenn, wie das ganz allgemein üblich ist, in
die Jahresbände Angaben über die Bewegung einiger zurückliegende
Jahre aufgenommen würden.
Die Streikbewegung in Frankreich im Jahre 1908 war die folgende:
Es fanden in diesem Jahre 1073 Streiks gegen 1275 im Vorjahre
statt. Diese Streiks verteilten sich auf 4641 Betriebe; es streikten
99042 Arbeiter (88399 Männer, 8061 Frauen und 2582 Jugendliche)
gegen 197961 Arbeiter (164824 Männer, 23177 Frauen und 9960
Jugendliche) im Jahre 1907. 9196 Arbeiter mußten gezwungen feiern.
Auch hier machte sich der Einfluß der ungünstigen Geschäftslage im
Jahre 1908 geltend. Der kurze Streik herrschte vor. 65,3 Proz. aller
Streiks mit 47,4 Proz. aller Streikenden dauerten eine Woche und
weniger. 247 Streiks dauerten weniger als einen Tag, 138 1—2 Tage;
über 100 Tage dauerten nur 1,4 Proz. der Streiks mit 2,8 Proz. aller
Streikenden. Ueber 3/, aller Streiks (78,4 Proz.) waren Einzelstreiks,
86 (8,0 Proz.) umfaßten 2—5 Betriebe, 102 (9,5 Proz.) 6—25 Betriebe,
42 (3,9 Proz.) 26—100 Betriebe und 2 (0,2 Proz.) mehr als 100 Be-
triebe. 25 Streikende und darunter waren in 438 Fällen an einem
Ausstande beteiligt, das sind 40,8 Proz.; an 399 = 37,2 Proz. der
Streiks beteiligten sich 26—100 Streikende, an 205 = 19,1 Proz. 101
bis 500 Streikende und an 31 = 2,9 Proz. mehr als 500 Streikende.
192 Miszellen.
Es fielen in die Zeit:
März—Mai 368 Streiks mit 33 652 Streikenden,
Juni— August 258 PR » 27 580 a
September—November 187 o „ 17633 =
Dezember, Januar, Februar 260 e aw 20177 ge
Die Verteilung auf die Gewerbegruppen war die folgende:
Zahl der
Gewerhermppen Streiks Streikenden He
Land-, Forstwirtschaft, Fischerei 40 6669 54 609
Bergbau, Steinbruchgewerbe 63 11472 78 530
Industrie der Nahrungsmittel 14 1420 50538
Chemische Industrie 24 1307 5458
Polygraphische Gewerbe 37 1838 22007
Industrie der Leder und Felle 40 3315 42 502
Textilindustrie 150 12 977 270422
Industrie der Holz- u. Schnitzstoffe 64 3975 95 756
Metallgewinnung u. -Verarbeitung 72 5 852 86 972
Steinschleifereien, Keramik 56 5025 233 990
Baugewerbe 429 35 102 647 951
Transportgewerbe 84 10 090 132 008
Die Beteiligung am Streik war am größten im Steinbruchgewerbe;
hier beteiligten sich über ®/, aller Arbeiter (77,1 Proz.) am Streik.
Es folgt von den wichtigeren Gewerbegruppen das Baugewerbe mit
71,1 Proz., der Bergbau mit 87,2 Proz., die Industrie der Steine und
Erden mit 33,3 Proz., die Textilindustrie mit 16,8 Proz. und die Metall-
verarbeitung (unedle Metalle) mit 9,9 Proz.
Bei 628 Streiks wurde von 62557 Streikenden die Forderung auf
Lohnerhöhung gestellt, bei 150 Streiks mit 17136 Streikenden auf
Kürzung der Arbeitszeit, bei 169 Streiks mit 14171 Streikenden auf
Wiederanstellung entlassener Arbeiter, Meister oder Direktoren, bei
112 Streiks mit 10260 Streikenden auf Entlassung von Arbeitern.
Von den Streiks endeten:
185 mit 20 133 Streikenden (20,3 Proz.) mit vollem Erfolg,
324 » 46 599 nm (47,1 » ) „ teilweisem Di
564 „ 32310 ñ (326 „ ) „ keinem D
Den größten Erfolg hatten die land- und forstwirtschaftlichen
Arbeiter; 45,3 Proz. erreichten vollen Erfolge und nur 16,1 Proz.
hatten erfolglos zum Streik gegriffen. Ueber dem Durchschnitt stehen
auch noch von den bedeutenderen Gewerbegruppen die Arbeiter im
Bergbau, in der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe und im Bau-
gewerbe; hier hatten 32,0 Proz. bezw. 24,3 Proz. und 22,6 Proz. vollen,
dagegen 26,8 Proz. bezw. 83,6 Proz. und 33,9 Proz. keinen Erfolg.
Unter dem Durchschnitt blieben die Textilindustrie, das Transport-
gewerbe und vor allem die Metallverarbeitung und Metallgewinnung;
in diesen Gewerbegruppen hatten 12,6 Proz. bezw. 20,1 Proz. und
7,2 Proz. der Arbeiter vollen und 83,7 bezw. 37,2 Proz. und 48,1 Proz.
keinen Erfolg.
Was die einzelnen Forderungen angeht, so konnten 21,7 Proz. der
Streikenden die geforderte Lohnerhöhung voll durchsetzen. Davon
Miszellen. 793
kamen 11,8 Proz. auf das Baugewerbe und 4,6 Proz. auf Land-, Forstwirt-
schaft und Fischerei; der Rest von 5,3 Proz. verteilte sich auf die
übrigen Gewerbegruppen. 26,9 Proz. der Streikenden hatten keinen
Erfolg; davon entfielen 13,9 Proz. auf das Baugewerbe, 3,0 Proz. auf
die Textilindustrie, 2,7 Proz. auf die Metallverarbeitung, 1,7 Proz. auf
Land-, Forstwirtschaft und Fischerei; der Rest von 5,6 Proz. verteilte
sich auf die übrigen Gewerbegruppen. Günstiger war bezüglich der
Zahl der Arbeiter, die voll ihre Forderung durchzusetzen vermochten,
das Ergebnis bei der Forderung um Kürzung der Arbeitszeit. Hier
hatten 41,2 Proz. der Streikenden vollen Erfolg; davon entfielen auf
das Steinbruchgewerbe 15,1 Proz., auf das Baugewerbe 5,8 Proz., auf
Land-, Forstwirtschaft, Fischerei 3,0 Proz., auf das Transportgewerbe
2,8 Proz., auf den Bergbau 0,3 Proz.; der Rest von 14,1 Proz. verteilte
sich auf die übrigen Gewerbegruppen. 34,8 Proz. der Arbeiter hatten
keinen Erfolg, daran nahmen teil 17,6 Proz. des Baugewerbes, 4,1 Proz.
Land-, Forstwirtschaft, Fischerei, 3,1 Proz. des Bergbaues und 2,8 Proz.
des Transportgewerbes; der Rest von 7,2 Proz. verteilte sich auf die
anderen Gewerbegruppen. Bei den beiden für die Fabrikleitung so
überaus wichtigen Forderungen, nämlich der um Wiederanstellung von
Arbeitern oder der um Entlassung von solchen hatten die Mehrzahl der
Streikenden keinen Erfolg, nämlich 57,6 Proz. bezw. 67,2 Proz. Die
57,6 Proz. setzten sich zusammen, wie folgt: 11,4 Proz. Textilindustrie,
9,4 Proz. Baugewerbe, 6,7 Proz. Transportgewerbe, 5,6 Proz. Bergbau,
4,0 Proz. Metallverarbeitung (gewöhnliche Metalle); der Rest von
20,5 Proz. verteilte sich auf die übrigen Gewerbegruppen. Die 67,2 Proz.
teilen sich wie folgt auf: 20,6 Proz. Textilindustrie, 12,2 Proz. Metall-
verarbeitung (gewöhnliche Metalle), 10,3 Proz. Baugewerbe, 9,9 Proz.
Transportgewerbe, 2,2 Proz. Bergbau; der Rest von 12,0 Proz. verteilte
sich auf die übrigen Gewerbegruppen. Am vollen Erfolge nahmen bezüg-
lich der beiden letzten Fragen nur 19,3 Proz. und 25,3 Proz. der Arbeiter
teil. Die Verteilung bezüglich des ersten Prozentsatzes ist hier die
folgende: 5,4 Proz. Textilindustrie, 3,4 Proz. Baugewerbe, 2,9 Proz. Berg-
bau, 1,9 Proz. Metallverarbeitung (gewöhnliche Metalle), 0,9 Proz. Trans-
portgewerbe; der Rest von 4,8 Proz. verteilte sich auf die übrigen Ge-
werbegruppen. Bezüglich des zweiten Prozentsatzes war die Verteilung
folgende: 8,7 Proz. Transportgewerbe, 3,7 Proz. Textilgewerbe, 2,8 Proz.
Bergbau, 1,9 Proz. Baugewerbe, 1,0 Proz. Metallverarbeitung (gewöhn-
liche Metalle); der Rest von 7,2 Proz. verteilte sich auf die übrigen Ge-
werbegruppen.
Ueber die Höhe des Lohngewinnes und des Lohnausfalls unter-
richtet die auf 8. 794 u. 795 folgende Zusammenstellung.
Im ganzen wurden 381 Aussperrungen über 306 Betriebe verhängt;
betroffen wurden 25206 Arbeiter. Eine Aussperrung im Baugewerbe,
die vom 5.—21. April dauerte, betraf allein 18000 Arbeiter. Was die
Gewerbegruppen anbelangt, so kamen 2 Aussperrungen auf den Berg-
bau, 13 auf die Industrie der Steine, Erden, Ton, Glas, je 2 auf die
Metallverarbeitung und die Textilindustrie, 1 auf das Bekleidungs-
gewerbe und 7 auf das Baugewerbe.
794 Miszellen.,
Verlust und Gewinn der
Zahl Durchschnittlicher Lohn
Unter-
Ergebnis der Streiks Pi So wenden Dada schied
Streiks Streikenden Streik Sirel
fres, fres. fres.
Voller Erfolg Ei 13 484 5,93 6,72 0,79
Teilweiser Erfolg 131 19 889 4,69 5,10 0,41
Kein Erfolg 248 12 482 5,04 5,04 SS
40 | 4585 | 5,05 5,46 au
Lohn
Voller Erfolg 2 160 4,15 4,99 0,84
Teilweiser Erfolg 5 358 3,44 3,53 ou |
Kein Erfolg 13 798 4,56 4,56 Sai")
| 20 | 1316 | 4,33 4,46 | ou
| 490 | arızı | 503 5,48 | 0%
III. Großbritannien.
Die englische amtliche Veröffentlichung unterscheidet sich von den
beiden vorgenannten dadurch, daß sich in ihr eine Einzelaufführung der
Arbeitskonflikte, einzelne besonders wichtige ausgenommen, nicht findet;
über die französische geht sie insofern hinaus, als sie die Ergebnisse
eingehender textlich zur Darstellung bringt, hinter der österreichischen
bleibt sie in der Zahl und in der Tiefe der Reflexionen weit zurück.
Wirft man einen Blick auf das sehr sorgfältig vorgenommene Erhebungs-
verfahren und auf den sehr eingehenden Fragebogen!) und vergleicht
damit die Berichterstattung, so muß ihre Aermlichkeit sofort ins Auge
fallen. Nur die allernotwendigsten Fragen werden hier erörtert, da-
gegen bleiben andere nicht unwesentliche unberührt, so z. B. um nur
eine herauszugreifen, die nach den Lohn- und Arbeitszeitverhältnissen
der Streikenden vor und nach der Arbeitsstreitigkeit.
Es wäre nun möglich, daß die Angaben über die Lohn- und Arbeits-
zeitverhältnisse der Streikenden in den einzelnen Nachweisungen der-
artig mangelhaft wären, daß sich eine Verarbeitung nicht lohnte. Hätte
aber das Arbeitsamt unter diesen Umständen die Frage weiter in der
Nachweisung belassen ? Es läßt sich aber auch noch die andere Mög-
lichkeit denken, daß die Angaben über die Höhe des Lohnes und über
die Länge der Arbeitszeit brauchbar sind, daß sie aber nur nicht zur
Verarbeitung und Darstellung im Streikbande selbst gelangen. Träfe
1) Abelsdorff, Die Methode der englischen Streikstatistik. Jahrbücher für
Nationalökonomie u. Statistik, III. F., S. 97 f.
Miszellen. 19
Streikenden im Jahre 1908.
Für 300 Arbeitstage
Lohnyer. | Pohnver- | Roh- Reingewinn nach Abzug Zahl der notwen-
Zahl der lust lust gewinn für des Lohnverlustes digen Tage, um
Streiktage pro Kopf aile Strei- für alle | __ den Verlust ein-
kenden | Streikenden | Pro Kopf zuholen
fres. fres. fres. fres. fres.
erhöhung
152623 904 507 67,08 |3 214 610| 2 310 103 171,32 85
357332 |1674779| 84,21 |2454279 779 500 39,19 205
159871 805 883 64,56 — — — —
669826 |3385 169| 73,82 | 5 668 889 | 2 283 720 | 49,80 | 180
kürzung
2552 9357| 58,48 40 500 31142 194,64 60
2529 8693| 24,28 9725 9725 2,88 270
17 658 80 436 | 100,79 — — — —
22739 | 98486| 74,84 | sozz| — | = | 576
692565 |3483655| 7385 |5719114| 2235459 | 4780 | 185
letztere Vermutung zu, und würden diese Angaben nur zu inneramt-
lichen Zwecken benutzt, so müßte darin ein großer Fehler erblickt
werden; denn gerade die Frage, was die Streikenden Positives durch
die Einstellung der Arbeit erreicht haben, ist doch die wichtigste, über
die man Aufschluß haben möchte. Sie gehört unter allen Umständen
in die Veröffentlichung über die Streiks und Aussperrungen.
Würde nun der Berichterstattung eine Einzeldarstellung über die
wichtigsten Punkte der Streikbewegung beigegeben sein, so wäre jedem
Interessenten die Möglichkeit geboten, sich auch über solche Fragen
zu informieren, die nicht im Text behandelt worden sind. Jetzt bleibt
nichts weiter übrig, als sich mit dem zu begnügen, was textlich dar-
gestellt ist, und das ist, um es noch einmal zu sagen, nicht allzuviel.
Fassen wir kurz zusammen. Die österreichische amtliche Statistik
der Streiks und Aussperrungen kommt dem Ideal am nächsten, weil
hier neben der Einzelaufführung der einzelnen Streik- und Aussperrungs-
fälle eine eingehende textliche Besprechung gegeben ist. Die fran-
zösische Statistik reicht vollkommen aus, weil jedermann an der Hand
der gebotenen Einzelaufführung sich alle wichtigen Fragen beantworten
und kombinieren kann. Die englische Statistik ist unzulänglich, weil
sie nur eine immerhin beschränkte textliche Darstellung von der Streik-
bewegung bringt und von jeder Einzelaufführung mit obiger Einschrän-
kung absieht. Jeder Bearbeiter muß sich mit dem hier Vorgesetzten
begnügen, und es ist ihm durch das Fehlen der Einzelaufführung un-
möglich gemacht, in die einzelnen Fragen weiter einzudringen. Nur
die Einzelaufführung der Streiks gewährt dem wissenschaftlichen Be-
arbeiter den Spielraum, den er nötig hat.
796 Miszellen.
Die Streikbewegung im Jahre 1908 stellt sich in wesentlichen
Punkten, wie folgt, dar:
Im Vergleich zum Vorjahre mit seinen 601 Streitigkeiten ist ihre
Zahl im Berichtsjahre auf 399 zurückgegangen. Doch war der Un-
fang der Streikbewegung ein weit größerer, wenn man erwägt, daß an
dieser Zahl der Streitigkeiten 223 969 Arbeiter direkt und 71538 in-
direkt, zusammen also 295 507 Arbeiter beteiligt waren gegen zusammen
147498 im Jahre 1907. Die erhebliche Zunahme der Zahl der an den
Streitigkeiten Beteiligten ist auf den 7-wöchigen Streik der 120000
Baumwollspinner und Weber in Lancashire, Cheshire und Derbyshire
und auf den 18-wöchigen Streik der 35000 Arbeiter im Schiffbau und
auf den 30-wöchigen Streik der 11000 Arbeiter im Maschinenbaue
zurückzuführen. Diese 3 Streiks vereinigten 56 Proz. aller in Arbeits-
streitigkeiten verwickelten Arbeiter in sich. Bringt man die Zahl der
an diesen 3 großen Streitigkeiten Beteiligten von der Gesamtzahl der
an den Arbeitsstreitigkeiten beteiligten Arbeiter in Abzug, so verringert
sich die Zahl der direkt und indirekt Beteiligten auf 129507 und bleibt
damit hinter dem Jahre 1907 um 17991 zurück. Immerhin aber war
die Bewegung im Berichtsjahre umfangreicher, da hier auf einen Streik
327, im Jahre 1907 245 Beteiligte kamen. Die Beteiligten verloren
10 834 189 Arbeitstage; davon entfielen auf die Arbeiter, die an den
3 oben erwähnten großen Streiks beteiligt waren, 81/, Millionen Arbeits-
tage (76 Proz.) Von der Gesamtzahl der in Großbritannien gewerblich
Beschäftigten betrug die Zahl der in Arbeitsstreitigkeiten verwickelten
Arbeiter 2,9 Proz.; dagegen im Jahre 1907 1,4 Proz.
Es beteiligten sich
j an mit Prozent der
Arbeiter Streitigkeiten Feiernden Gesamtzahl
unter 25 57 940 0,3
25 und unter 50 Wi 2499 0,9
50 „ ` 100 56 3 926 1,3
100 „ më 250 100 16 278 5,5
250 „ » 500 45 15 054 5,1
500 „ „ 1000 32 22 888 7,7
1000 o » 2500 28 37 976 12,9
250 o n 5000 4 13 857 4,5
5000 „ mehr 6 182 089 61,6
Von den Streiks dauerten:
Dauerklassen Zahl der Streitigkeiten Zahl der Feiernden
unter I Woche 128 45 982
ı bis unter 2 Wochen 7I 30759
20 om A D 53 13 665
däm je JD "e 39 12 472
er a.) D 27 124 560
Bra OT 9 4 879
IO o è „I5 D 25 4891
15,5, e 20 re 19 42 205
20 yp „ 25 D 7 1227
25 und mehr A 2I 14 847
Danach dauerten 32 Proz. der Streitigkeiten weniger als 1 Woche.
Weniger als 1 Monat dauerten 63 Proz., während jene, welche weniger
Miszellen.
797
als 2 Monate dauerten, 80 Proz. ausmachten und 77 Proz. der Arbeiter,
die überhaupt in Streitigkeiten verwickelt waren.
Die einzelnen Gewerbegruppen waren, wie folgt, an der Streik-
bewegung beteiligt.
Gewerbegruppen
Baugewerbe
Bergbau und Steinbruch
davon
Kohlenbergbau
Eisen-Erzbau
Steinbruchgewerbe
Metallverarbeitung, Masch.-
und Schiffbau
davon
Roheisengewinnung
Eisen- u. Stahlindustrie
Maschinen- u. Schiffbau
Textilindustrie
davon
Baumvwollspinnerei
Baumwollweberei
Wollwarenfabrikation
Leinen- u. Juteindustrie
Druckerei, Bleicherei usw.
Bekleidungsgewerbe
Transportgewerbe
Polygraphische Gewerbe
Holz- u. Möbelindustrie
Nahrungsmittelindustrie
Streitigkeiten
79
144
171
Zahl der
Ponssrdiger irekt indirekt Gesamtzahl
PRBE Sn Beteiligten
19 2714 178 2 892
145 60474 26 548 87 022
136 59729 26 360 86 089
6 564 158 722
3 ICH 30 211
62 29 020 29 318 58 338
I 131 10 141
7 1759 1 839 3 598
47 26.077 26 595 52 672
69 119 583 13 220 132 803
17 112748 10378 123 126
16 4534 1322 5 856
4 102 147 249
II 801 866 1667
14 1004 128 1132
32 3 233 1429 4 662
21 4 360 534 A 894
8 697 66 763
20 846 — 846
7 519 106 625
Von den 399 Streitigkeiten mit 223969 direkt Beteiligten endeten:
Proz. Beteiligte Proz.
19,8 19 185 8,6 mit vollem Erfolge
36,1 146 850 65,6 „ teilweisem „
42,9 56437 25,2 „ keinem Se
1,2 1497 0,6 „ unbekannt.
5
Im Jahre 1907 hatten von den Beteiligten:
32,6 Proz. vollen
40,1
27,0
0,3
H
teilweisen
keinen
unbekannt
Erfolg
HI
Danach war der Ausgang für die Beteiligten im Berichtsjahre
erheblich ungtinstiger als im Vorjahre.
bleibt auch bestehen, wenn man die 21 000 direkt beteiligten Maschinen-
bauer und Schiffsbauer, die keinen Erfolg erzielen konnten, und die
110000 direkt beteiligten Wollspinner, die sich mit einem teilweisen
Erfolge begnügen mußten, in Abzug bringt.
Es hatten nämlich dann:
20,6 Proz. vollen
39,6
38,2
1,6
teilweisen
keinen
unbekannt
Dieser ungünstige Ausgang
Erfolg
nm
798 Miszellen.
In den einzelnen Gewerbegruppen war das Ergebnis für die direkt
Beteiligten das folgende:
direkt Beteiligte
Gewerbegruppen voller Erfolg | teilweiser Erfolg | kein Erfolg
absolute absolute absolute
Zahl | Ëm: ) Zahl | Re zu VP
Baugewerbe 73 2,7 ı 810 | 66,7 831 | 30,6
Bergbau und Steinbruch 14917 | 25,0 20 842 | 34,3 23 272 | 38,5
Metallverarbeitung, Maschinen-
und Schiffbau 600 1,6 3 392 9,1 24974 | 89,3
Textilindustrie 2318 1,9 115015 | 96,2 2 250 1,9
Bekleidungsgewerbe 748 23,1 876 | 27,1 1609 | 49,8
Transportgewerbe 243 5,6 3 202 | 73,4 915 | 21,0
Der Ausgang für die Beteiligten bezüglich der Gründe gestaltete
sich wie folgt:
voller Erfolg | teilweiser Erfolg | kein Erfolg
Gründe
absolute absolute absolute
Zahl | Pro Zahl Proz Zahl Proz.
Löhne 3564 2,0 136 221 | 77,4 34 951 | 19,9
Arbeitszeiten 236 2,8 1045 | 12,5 7096 |847
Beschäftigung bestimmter Ar-
beiterkategorien und Personen 2579 23,3 4915 | 44,4 3584 | 32,3
Arbeitsbedingungen 3254 26,1 2747 | 22,0 6466 | 51,9
Organisationsfragen 9542 78,1 1830 | 14,1 502 A4
Sympathiestreiks — — 92 3,1 2888 | 96,9
Will man die Streikbewegung in den hier behandelten Ländern
miteinander vergleichen, so ist das nicht ohne weiteres angängig. Man
hat zu beachten, daß die englische Statistik, wenn sie auch noch die
Begriffe Streik und Aussperrung beibehalten hat, eine Scheidung nach
diesen beiden Richtungen nicht vornimmt, sondern ganz allgemein von
Arbeitsstreitigkeiten (disputes) spricht. Ferner besteht ein Unterschied
zwischen der englischen auf der einen und der österreichischen und
französischen Statistik auf der anderen Seite darin, daß die österreichische
und französische Statistik keine Grenze nach unten für die Zahl der
Teilnehmer am Streik hat, wogegen die englische Statistik nur die
Streitigkeiten zählt, an denen mindestens 10 Arbeiter beteiligt sind
und ferner solche, die keinen ganzen Tag dauern, falls nicht die Ge-
samtdauer 100 Tage überschreitet. Unter Berücksichtigung dieser
Momente erhält man
Streitigkeiten mit direkt Beteiligten
Oesterreich 661 87 581
Frankreich 983 123 555
Großbritannien 399 223 969
Miszellen. 799
Danach kamen auf eine Streitigkeit in Oesterreich 132,5, in Frank-
reich 125,7 und in England 561 Beteiligte. Läßt man die 110 000
Baumwollstreikenden außer Anschlag, so verringert sich die Durch-
schnittsbeteiligungsziffer in Großbritannien auf 285,6.
Damit ist bewiesen, dal, wenn auch die Zahl der Streitigkeiten
in Oesterreich und Frankreich im Berichtsjahre größer als in England
war, dort weit weniger Arbeiter davon berührt wurden als hier.
Und wirft man noch einen Blick auf das Ergebnis, so hatten
die Arbeiter den größten Erfolg in Frankreich, dann kommt Oester-
reich und schließlich England.
Die Prozentsätze lauten:
voller teilweiser kein
Erfolg
Frankreich 17,0 54,8 28,2
Oesterreich 12,6 47,8 39,6
Großbritannien 8,6 65,6 25,2
800 Miszellen.
XXI.
Die internationale Automobilindustrie.
Von Dr. Kreuzkam.
Die junge internationale Automobilindustrie hat eine schwere
Krisis durchgemacht, die vor etwa zwei Jahren über sie hereingebrochen
war. Als Ursachen für die ungünstige Lage dieser Industrie kamen
in der Hauptsache zwei Faktoren in Betracht: die Vermehrung der
Erzeugung und die Abnahme des Verbrauches. Man hatte eben den
Konsum, der bei einem verhältnismäßig teuren Gebrauchs- und Luxus-
artikel immer schwierig ist, überschätzt, und nachdem die erste Ueber-
sättigung des Marktes eingetreten war, konnte eine Stauung nicht aus-
bleiben. Konsum und Produktion mußten also wieder einander angepaßt
und es mußten neue Absatzmöglichkeiten gesucht werden, was sich
dadurch erschwerte, daß die deutsche Industrie verhältnismäßig spät auf
den Markt gekommen war. Dazu kam, daß Automobile und Automobil-
teile bei der Einfuhr nach fremden Ländern außerordentlich hohen, zum
Teil sogar unerschwinglichen Zöllen unterliegen, während bei der Einfuhr
nach Deutschland nur ein sehr niedriger Zoll erhoben wird. Dabei
hatten sowohl in Deutschland als auch im Auslande die großen Auto-
mobilfabriken, angeregt durch die zeitweise spontane Nachfrage nach
Automobilen in den letzten Jahren, ihre Betriebe erheblich erweitert.
Eine wie große Bedeutung die Automobilindustrie in der kurzen Zeit
ihres Bestehens im Wirtschafts- und Verkehrsleben gewonnen hat,
zeigt die Statistik über die Automobilfabriken in den wichtigsten
Ländern: danach gab es schon i. J. 1906 in Frankreich 205 Fabriken,
in Amerika 111, in Italien 80, in England 62, in Deutschland 33, in
Belgien 18, in Oesterreich-Ungarn 4, in der Schweiz 4 und in Spanien
2 Fabriken. Die Entwicklung des Automobilismus in den wichtigsten
europäischen Ländern wird durch die nachstehende Uebersicht beleuchtet;
die Zahl der Kraftfahrzeuge betrug in
Frankreich England Deutschl. Belgien Italien Ver. Staaten
1902 23 7ıı 6 253 4738 1700 350 314
1903 30 204 9437 6 904 2839 1308 2722
1904 37 322 14 170 11370 5 020 3 080 11274
1905 47 302 20 048 15 683 7927 8 870 23 877
1906 55 000 28 000 2I 003 12 000 9 000 60 000
Die sprunghafte Entwicklung des Automobilismus in den einzelnen
Ländern fällt hiernach ohne weiteres in die Augen. An der Spitze
Miszellen. 801
marschierte Amerika: das große Wachstum der Automobilindustrie in
den Vereinigten Staaten zeigt sich darin, daß die Zahl der Automobil-
fabriken von 51 i. J. 1902 auf 253 im Vorjahre gestiegen ist. Diese
starke Zunahme bedeutet jedoch nicht, daß die Automobilindustrie in
Amerika nicht mit Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hätte; die
Finanzkrises von Ende 1907 und die seitdem vorherrschende, erst in
neuerer Zeit überwundene geschäftliche Flauheit waren hauptsächlich
dafür verantwortlich, daß von den zahlreichen Neugründungen in der
Automobilindustrie sich nicht weniger als 155 als ein Fehlschlag er-
wiesen haben. Der Wert der in den Vereinigten Staaten während der
letzten — 1907 beendeten — 6 Jahre abgesetzten Automobile beläuft
sich auf rund 250 Mill. Dollar; dazu kommen noch für 52670000 Dollar
eingeführte Motorwagen. Die meisten der gegenwärtig in den Ver-
einigten Staaten im Betriebe befindlichen Motorwagenfabriken befinden
sich in den westlichen Staaten, und zwar zählen Michigan und Ohio
deren je 39, Indiana 39, New York 29, Pennsylvania 18 und
Massachusetts 16; die übrigen Fabriken verteilen sich über das Land
von Rhode Island bis Texas. Die Vereinigten Staaten haben dem
Auslande 1903 für 6,8 Mill. M., 1904 für 7,9, 1905 für 11,3, 1906 für
16, 1907 für 24 Mill. M. Automobile geliefert, was in dem kurzen
Zeitraume eine ansehnliche Zunahme bedeutet. Die seitdem erheblich
gesteigerten Lieferungen gingen in der Hauptsache nach Großbritannien
und Kanada, außerdem nach Mexiko, Deutschland, Italien, Frankreich,
Westindien und Australien.
In Frankreich, das gewöhnlich als der Automobilfabrikant der
Welt bezeichnet wird, hat die Uebererzeugung von Automobilen gleich-
falls eine Krisis verursacht, die einen großen Umfang annahm, so daß
namhafte Firmen ihren Betrieb einstellen oder durch Entlassung von
Arbeitern einschränken mußten. Welche außerordentliche Bedeutung
die Herstellung und die Ausfuhr von Automobilen für das französische
Wirtschaftsleben erlangt hat, ergibt sich daraus, daß der Wert der
ausgeführten französischen Automobile 1906 nahezu 138 Mill. fres.
betrug. Unter den Abnehmern französischer Automobile hat England
dauernd an erster Stelle gestanden: beispielsweise 1905 mit einem
Werte von fast 50 Mill. fres., während Deutschland und Belgien mit
je 10—11 Mill. fres. und die Vereinigten Staaten mit 6—7 Mill. fres.
unter den Abnehmern auftraten. Die Entwicklung der französischen
Automobilindustrie liegt nicht etwa allein in der Güte und Leistungs-
fähigkeit der Erzeugnisse; wie kaum ein anderes Fahrzeug war das
Automobil in seinen Erstlingsjahren ein Gegenstand des Luxus, und so
konnte es nicht fehlen, daß dieser Luxus- und Modeartikel in Frankreich
einen besonders guten Boden fand. Als die ersten Wurzeln des Auto-
mobilismus einsetzten, warf sich Frankreich mit aller Gewalt — unter-
stützt durch den Wagemut und kühnen Unternehmungsgeist einzelner
kapitalkräftiger Männer — auf den Automobilbau. Die ersten Auto-
mobile waren aber Personenwagen, und gerade dieser Zweig der
modernen Automobilindustrie gelangte im Lande des „Geschmackes“
zu bemerkenswerter Ausbildung, sodaß man sich schon nach verhältnis-
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 51
802 Miszellen.
mäßig kurzer Zeit daran gewöhnt hatte, einen „chicen“ Wagen nur aus
Frankreich zu beziehen. Unter diesen Zuständen hatten die übrigen
Industrieländer, namentlich Deutschland und England, schwer zu leiden;
aus diesen beiden Ländern wanderten alljährlich viele Millionen nach
Frankreich, ohne daß es der aufstrebenden heimischen Industrie damals
möglich gewesen wäre, gegen den französischen Vorsprung anzukämpfen.
Insbesondere nachdem eine französische Firma von Daimler das Recht
erworben hatte, seine Erfindung zu verwerten, haben die leichten
französischen Luxuswagen bei den reichen Sportleuten aller Länder
willkommene Aufnahme gefunden. Die französische Automobilindustrie
hat zudem von Anfang an keinerlei Hemmungen zu erleiden gehabt;
sie erfreute sich der Sympathie der Regierung wie des Volkes; keinerlei
Ausnahmegesetze, keine polizeilichen Verbote, keine Steuern lasteten
auf dem französischen Automobilismus: kein Wunder daher, wenn die
Industrie sich dabei treibhausartig entwickelte, kein Wunder aber auch,
wenn sie sich um die technische Ausbildung des Automobilwesens,
namentlich um die Ausbildung des Nutzwagenbaues, nicht viel kümmerte.
Mit weitschauendem Blicke erkannten deutsche und englische Fabrikanten
die dadurch entstandene Lücke in der automobiltechnischen Entwicklung,
betrieben in ihren Ländern mit Energie den Nutzwagenbau und er-
reichten hierin in verhältnismäßig kurzer Zeit Erfolge, die einen Wett-
bewerb Frankreichs auf diesem Gebiete fast ausschlossen. Frankreich
blieb das Land des Luxuswagens; Deutschland und England wurden
die Länder des Nutzwagenbaues. Freilich hat Frankreich, angespornt
durch die Erfolge, die der Motoromnibusbau in Berlin und London er-
zielte, sich auch diesem Zweige der Automobiltechnik zugewandt, aber
es scheint, als ob Frankreich hierbei zu spät gekommen wäre. Heute
liegen die Verhältnisse bereits so, daß weder die englische noch die
deutsche Industrie den französischen Wettbewerb außerhalb Frankreichs
zu fürchten braucht. In Frankreich wirkten mithin verschiedene
Faktoren zusammen, die die Lage der Automobilindustrie wenig günstig
gestalteten. Seit einiger Zeit ist indes in Frankreich wieder ein
wesentlich stärkerer Eingang von Aufträgen in Automobilen be-
merkt worden.
England ist erst verhältnismäßig spät in den Wettbewerb mit der
großen kontinentalen Automobilindustrie eingetreten, obwohl es bereits
in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine blühende Automobil-
industrie besaß. Ein engherziges Parlament setzte um die Mitte des
letzten Jahrhunderts eine Bill durch, die die Geschwindigkeit der
Kraftfahrzeuge derart niedrig hielt, daß es sich nur noch verlohnte, die
geschaffenen Dampfwagen als Lastwagen, nicht aber als Personenwagen,
zu benutzen. Diese Bill wurde indes wieder aufgehoben, und nun
gewann der Motoromnibus in London eine Ausdehnung, wie in keiner
anderen Stadt der Welt. In jüngster Zeit hat die englische Motorwagen-
industrie einen sehr bemerkenswerten Aufschwung genommen und sich
zu einem der wichtigsten Industriezweige des Landes ausgestaltet.
Schätzungsweise wurde vor einiger Zeit der Gesamtbetrag des in der
englischen Automobilindustrie angelegten Kapitals auf tiber 250 Mill. M.
Miszellen. 803
angegeben und der Gesamtwert der 1906 hergestellten Motorwagen
auf rund 100 Mill. M. Auch die englische Ausfuhr an Motorwagen hat
bedeutend zugenommen; sie betrug beispielsweise i. J. 1905 12315000M.
Trotz dieser Zunahme der Erzeugung und der Ausfuhr hat aber die
Einfuhr fremder Motorwagen und Motorwagenteile lange Zeit hindurch
nicht wesentlich abgenommen; allerdings ist das Augenmerk darauf
gerichtet, sie möglichst einzuschränken. Das Hauptinteresse der
englischen Fabrikanten war früher der Herstellung von teuern Wagen
zugewandt; in dem Male jedoch, wie man sich in England der
Herstellung solcher Wagen zuwandte, die für den mittleren Besitz er-
schwinglich sind, und insbesondere auch den Bau von Geschäftswagen
betrieb, nahm die Industrie einen weiteren Aufschwung.
Ueberaus ungünstig lagen bis vor kurzem die Verhältnisse in der
italienischen Automobilindustrie. Die unternehmungslustigen italienischen
Großindustriellen machten — begünstigt durch hervorragende Siege bei
Rennen und sonstige für die Werbetätigkeit verwertbare Sportereignisse,
sowie durch einen weitgehenden Kredit der Banken — schnelle Fort-
schritte; die Herstellung von Automobilen vergrößerte sich erheblich,
und auch die Ausfuhr steigerte sich zeitweise merklich. Aber der
Verbrauch im eigenen Lande konnte nicht entfernt mit der vermehrten
Erzeugung von Automobilen Schritt halten, und so machten sich die
Folgen der Uebererzeugung bald in empfindlichster Weise fühlbar. Bis
Juli 1905 zählte man in Italien, wo es zwei Jahre zuvor noch keine
Automobilfabrik gegeben hatte, annähernd 50 Automobilgesellschaften
mit einem effektiven Kapital von mehr als 230 Mill. Lire. In der
Folgezeit haben viele Unternehmungen ihr Kapital erhöht, und es sind
neue Gesellschaften insbesondere für Spezialzweige der Automobil-
industrie (Karosserien, Gummireifen usw.) entstanden, so daß man nicht
fehlgehen dürfte, wenn man die Zahl der Automobilgesellschaften zur-
zeit der höchsten Blüte dieses Industriezweiges auf 100 und ihr effektives
Kapital auf eine halbe Milliarde schätzt. Die italienische Ausfuhr von
Automobilen stieg von 1 Mill. M. i. J. 1904 auf 3 Mill. M. i. J. 1905
und auf 5 Mill. M. i. J. 1906. Die vielen Fabriken fanden auf die
Dauer um so weniger Johnende Beschäftigung, als sich die Nachfrage
immer nur auf die wenigen Marken beschränkte, deren Hersteller ihre
Berühmtheit durch die ungeheuren Auslagen, die die Teilnahme an den
Rennen erfordert, teuer — oft allzu teuer — erkauft hatten. Als nun
noch die Geldnot ein allgemeines Uebel wurde und die Börsenlage in
der ganzen Welt zu großen Verlusten und zur Einschränkung des
Budgets der Reichen führte, war dies für die italienische Automobil-
fabrikation ein besonders harter Schlag, namentlich für die Fabriken,
die erst in den Jahren 1905 und 1906 errichtet worden waren; in
diesen beiden Jahren wurden nicht weniger als 36 Unternehmungen
für den Kraftwagenbau ins Leben gerufen. Die Banken, die früher
bereitwillig die großen Gesellschaften mitbegründet hatten, zogen sich
zurück und ließen viele Unternehmungen in schwebender Pein, und so
konnte es nicht ausbleiben, daß eine Anzahl Insolvenzen in diesem
früher von rosigen Hoffnungen begleiteten Geschüftszweige eintrat.
51*
804 Miszellen.
Man hat berechnet, daß die Krisis in der italienischen Kraftwagen-
industrie den daran beteiligten Kapitalisten einen Verlust von rd.
200 Mill. Lire gebracht hat. Wie erinnerlich, wurden auch die be-
kannten Fabriken „Rapid“, „Aquita“, das „Fiatwerk“, „Halia“ u. a.
davon betroffen. Während das Jahr 1908 für die italienische Kraft-
wagenindustrie noch im Zeichen der Krisis stand, wird jetzt allmählich
eine gemäßigte ruhige Fortentwicklung dieser Industrie vorausgesehen.
Die Einfuhr ist bedeutend zurückgegangen und die Ausfuhr merklich
gestiegen; die Ziffern stellten sich für ganz Italien folgendermaßen:
Ausfuhr Einfuhr
1908 1907 1908 1907
Kleine Fahrzeuge 52 50 77 219
Mittlere Fahrzeuge 602 493 130 247
Große Fahrzeuge 975 740 141 259
1269 1283} 348 725
Es wurden an großen und mittleren Kraftwagen 1908 (gegenüber
1907) ausgeführt nach: Großbritannien 388 Stück (125), Frankreich
275 (353), der Schweiz 167 (263), Deutschland 156 (219), den Ver-
einigten Staaten 153 (51), Argentinien 148 (41) Stück.
In einer Reihe von Staaten, in denen sich der Automobilbau all-
mählich entwickelte, ist die Ungunst der Verhältnisse weniger scharf
hervorgetreten, so in Belgien, Oesterreich-Ungarn, der Schweiz usw.
In Deutschland, wo sich zunächst außer den Fabriken der Erfinder
des modernen Automobils, Daimler und Benz, nur die älteren Fahrrad-
fabriken wie Opel, Dürkopp, Adler usw. mit dem Automobilbau be-
schäftigten, befaßten sich später mehr als 60 Fabriken mit diesem In-
dustriezweige, und die mittelbar und unmittelbar darin angelegten Werte
überschritten eine Milliarde. Darüber hinaus gaben die Kraftfahrzeug-
industrie und die damit zusammenhängenden Industrien, wie die Pneu-
matikherstellung, die Herstellung der Automobil-Spezialstahle, der Ka-
rosseriebau u. a. m., wenn man die Angehörigen der Beschäftigten
mitrechnet, rund einer Million Menschen Lohn und Brot. Bereits seit
dem Jahre 1906 hat sich die deutsche Automobilindustrie in einer un-
günstigen Lage befunden; schon bevor sich der allgemeine wirtschaft-
liche Niedergang im gewerblichen Leben bemerkbar machte, trat in
der Automobilindustrie eine Stagnation hervor, die durch die Auswüchse
des Wettbewerbes unter den Automobilfirmen noch verschärft wurde.
Die große Zahl von Fabriken in der Fahrradindustrie, die aus der Auf-
nahme der Herstellung von Automobilen eine Besserung ihrer Lage
erhofften, sowie die übereifrigen Gründungen in der Motorindustrie,
hatten damals eine äußerst ungünstige Uebererzeugung gezeitigt. Der
Wettbewerb der Fabriken führte zu einer Ueberbietung in der Reklame,
in der Beschickung von Ausstellungen und sportlichen Veranstaltungen,
in der kostspieligen Unterhaltung eigner Geschäftsvertretungen in den
Großstädten und im Auslande Die hohen Geschäftsunkosten dieses
verderblichen Wettbewerbes hatten, Hand in Hand mit der Ueberpro-
duktion, bereits im Jahre 1906 die gekennzeichnete internationale Krise
Miszellen. 805
geschaffen. Dazu kam in der Folgezeit ein merklicher Rückgang in
der Nachfrage nach Kraftfahrzeugen, die durch die großen Unterhal-
tungskosten, die Strenge der Automobil-Haftpflicht-Gesetze u. a. m. ver-
anlaßt wurde, und schließlich wirkte die allgemeine wirtschaftliche
Depression weiter drückend auf die Lage der Automobilindustrie. Ein
Teil der weniger kapitalkräftigen Unternehmungen verschwand, der
Kreis der Produzenten wurde merklich kleiner, und zugleich kehrte
man zu einer rationelleren Wirtschaftsweise und zur Sparsamkeit zurück.
Die technischen Fortschritte im Automobilbau, die Schaffung eines
billigen Kleinwagentyps und die damit verbundene Verbilligung des
Unterhalts von Automobilfahrzeugen, erhöhten schon im Jahre 1908 die
Nachfrage wieder einigermaßen; die Ausgestaltung des Verkehrs in den
Großstädten erforderte eine ansehnliche Zahl von Fahrzeugen, und auch
der Bedarf der Heeresverwaltung sowie der Ausbau der Luftschiffahrt
brachte der Automobilindustrie gute Beschäftigung.
Die Zukunft der Automobilindustrie — davon war man allgemein
schon längst überzeugt — lag ganz sicher nicht in den großen Touren-
und Luxuswagen, sondern in den Nutzwagen, d. h. in Motordroschken,
Omnibussen, Geschäfts- und Lastwagen und in den sogenannten kleinen
Volksautomobilen. In neuerer Zeit wandte man sich besonders nach-
haltig dem bis dahin vernachlässigten Bau von Automobillastwagen zu.
Gerade das Lastautomobil, durch welches das Kraftfahrzeug mehr in
die Gewerbe eingeführt wird, bot augenscheinlich der Industrie bessere
Aussichten, und der sich dabei von selbst ergebende Lastautomobilzug
schien ‘dazu berufen, auch den Betrieb von Kleinbahnen zu ersetzen.
Für die Heeresverwaltung hat das Lastautomobil großes Interesse, indem
es in Krieg und Frieden im Fall der Not die Eisenbahn ersetzen
kann. Durch die staatliche Unterstützung, die den Käufern bestimmter
Arten von Lastautomobilen gwährt wurde — und zwar eine einmalige
Vergütung von 4000 M. bei der Anschaffung sowie eine Vergütung bei
dem Betriebe von jährlich 1000 M. auf die Dauer von 4 Jahren — hat
den Bau solcher Kraftfahrzeuge sehr gefördert, und die vom Kriegs-
ministerium von Zeit zu Zeit unternommenen größeren Probefahrten sind
dabei für die einzelnen Fabriken und besonders für die Käufer sehr
iehrreich. Im Etatsjahr 1908/09 haben 6 Firmen — Büssing, Daimler,
Gaggenau, N. A. G., Scheibler und Stoewer — an der Submission teil-
genommen, und zwar waren im einzelnen Büssing 44, Daimler 59,
Gaggenau 20, N. A. G. 25, Scheibler 6 und Stoewer 4 Wagen zugeteilt.
Im laufenden Jahre kommen, nachdem sie die letzte Prüfungsfahrt im No-
vember 1908 mit Erfolg vollendet haben, noch Dürrkopp, Eisenach, Nacke,
Norddeutsche und Podens hinzu. Dann verteilen sich die nach Maß-
gabe der vorhandenen Mittel ungefähr zu subventionierenden 180 Wagen
auf 11 Firmen, und es ist anzunehmen, daß schon dadurch die Ver-
teilung auf die einzelnen Provinzen und Bundesstaaten gleichmäliger
wird. Vorläufig ist die Zahl der subventionierten Wagen in den ein-
zelnen Bezirken nämlich noch recht verschieden; es sind vorhanden
und finden Verwendung:
806 Miszellen.
in Ostpreußen 4 in Württemberg 20
„ Westpreußen 3 „ Sachsen (Königreich) 3
„ Brandenburg 19 „ Baden TI
„ Pommern 5 „ Hessen 3
„ Posen 3 „ Mecklenburg I
s» Schlesien 24 „ Oldenburg o
„ Sachsen 7 „ Thüringische Staaten o
„ Schleswig-Holstein 3 „ Braunschweig 13
„ Hannover o „ Anbalt I
» Westfalen 12 „ Hansastädte 2
» Hessen-Nassau 3 „ Elsaß-Lothringen 6
„ Rheinland 9 Zusammen 152
Voraussichtlich dürfte auch den beiden bisher noch nicht unter-
stützten Firmen, die an der Prüfungsfahrt für Lastkraftwagen 1909
teilgenommen haben, nämlich Argus und Ehrhardt, die Berechtigung
der Beihilfe zuerkannt werden, so daß dann 13 Firmen dafür in Frage
kommen.
Die Anschaffung eines Lastwagenautomobils erfolgt natürlich in
der Regel nur dann, wenn dabei ein bestimmter wirtschaftlicher Vorteil
erwächst; es ist aber in der Praxis sehr schwer, für einen einzelnen
Lastwagen eine Ertragsfähigkeit herauszurechnen. Dagegen ist bereits
des öfteren bei der Inbetriebstellung mehrerer Lastautomobile die Wirt-
schaftlichkeit gegenüber der Bespannung mit Pferden und gegenüber
der Eisenbahn festgestellt worden. Aus diesem Grunde haben sich
neuerdings sogenannte Betriebsgesellschaften gebildet, die für die Er-
zeugnisse von Brauereien, Steinbrüchen, Oelfabriken, Mühlen u. dgl. m.
die Beförderung übernehmen. Diese Betriebsgesellschaften waren zu-
meist in der Lage, die Beförderung billig und pünktlich zu leisten
und dabei die Ertragsfähigkeit der Gesellschaften zu wahren. Im grolen
und ganzen gilt als feststehend, daß Lastzüge unter 10 t gegenüber
dem Betriebe mit Pferden nicht wirtschaftlich sind, daß dagegen Lasten
von 10 t aufwärts im Gegensatz zum Betriebe mit Pferden sich gut
lohnen. Die bisherigen Erfahrungen lehren weiter, daß, je mehr Last-
automobile eine Betriebsgesellschaft verwertet, desto lohnender der Be-
trieb wird. Ist die Regierung, namentlich das Kriegsministerium, in
der Lage, durch Neubewilligungen und zweckmäßige Verteilung von
Beihilfen weiter helfend einzugreifen, so wird das für die Automobil-
industrie und die mit ihr zusammenhängenden Gewerbezweige von grobem
Werte sein.
Der Zuwachs an Kraftfahrzeugen in Deutschland ergibt sich aus
der nachstehenden Uebersicht am Ende der letzten 3 Jahre:
Januar 1907 1908 1909
Personenfahrzeuge 25 815 24 244 39475
Lastfahrzeuge 1211 1 778 2 252
Insgesamt 27 026 36 022 41727
Im Vergleich zum Jahre 1907 zeigt die Zahl der Kraftfahrzeuge
im Jahre 1909 eine Vermehrung von rund 55 Proz., und zwar waren
94,6 Proz. Fahrzeuge zur Personenbeförderung und 5,4 Proz. zur Lasten-
beförderung im Betriebe. Die Zahl der Lastfahrzeuge ist hierbei ver-
hältnismäßig rascher gestiegen, als die der Personenfahrzeuge, da näm-
Miszellen. 807
lich im Jahre 1907 nur 4,5 Proz., in den beiden folgenden Jahren aber
4,9 Proz. bezw. 5,4 Proz. aller Kraftfahrzeuge zur Lastenbeförderung
dienten, zumal die Verwendung von Kraftfahrzeugen als Geschäfts-
wagen bei vielen Geschäftsbetrieben als zum guten Rufe des Unter-
nehmens gehörend angesehen wird. Während im Jahre 1907 rund
60 Proz. aller Kraftfahrzeuge Krafträder waren, betrug deren Zahl
1909 nur 53 Proz. oder 20928 Stück. Die Zahl der Kraftwagen stieg
seit dem Jahre 1907 von 11072 auf 15214 im nächsten Jahre, während
im Januar 1909 insgesamt 18299 Kraftwagen in Deutschland im Be-
triebe waren, von denen 2004 als Lastwagen Verwendung fanden. Auf
die einzelnen Gegenden Deutschlands verteilen sich die Kraftfahrzeuge
ungleich, und zwar kommt auf Preußen mit 22362 Stück über die
Hälfte aller Fahrzeuge; die größte Anzahl, 4300 Fahrzeuge, war im
Rheinlande im Betriebe, während Berlin 2863 Kraftfahrzeuge zählte.
Von den übrigen Staaten folgte Bayern mit 5096, Sachsen mit 4062,
Elsaß-Lothringen mit 2479, Württemberg mit 1852, Baden mit 1785,
Hessen und Hamburg mit 802 bzw. 757 Kraftfahrzeugen. Bei der
Vermehrung der Kraftwagen läßt sich die immer größer werdende Be-
liebtheit der Kleinautos deutlich erkennen: seit dem Jahre 1907 wuchs
nämlich bis zum Jahre 1909 die Zahl der Kraftwagen zur Personen-
beförderung mit einer Motorstärke bis 8 PS um 4323, während die
Zunahme der Personenwagen mit höheren Pferdestärken nur 4109 betrug,
wovon wiederum die beträchtliche Zahl von 2163 Wagen eine Motor-
stärke von 8 bis höchstens 16 PS aufwies, so daß nur eine Vermehrung
von 1946 Personenwagen mit über 16 PS stattfand. Welchen ver-
schiedenen Zwecken das Kraftfahrzeug dient, ergeben folgende Betrach-
tungen: im Dienste von Behörden wurden 395 Kraftfahrzeuge ver-
wendet; davon entfallen 234 auf Preußen, und zwar hat sich die
Zahl der bei Behörden in Deutschland gebrauchten Kraftfahrzeuge seit
dem Jahre 1907 um rund 80 Proz. vermehrt. Eine Vermehrung um
über 100 Proz. zeigt die Verwendung der Kraftfahrzeuge im öffent-
lichen Verkehrsleben, für das im Januar 1909 2340 Wagen benutzt
wurden. 16537 Kraftfahrzeuge dienten für die Zwecke des Handels-
gewerbes und sonstiger Gewerbebetriebe sowie für land- und forstwirt-
schaftliche Betriebe. Für andere Berufszweige betrug die Anzahl der
verwendeten Kraftfahrzeuge 4641, wovon 2308 Krafträder und 1990
Kleinautos bis zu 8 PS waren. Vor allem ist das Kraftrad und das
Kleinauto ein von Landärzten viel verwendetes Verkehrsmittel. Die
Entwicklung des Verkehrs mit Kraftfahrzeugen ist im Dienste des Er-
werbslebens bedeutend rascher vor sich gegangen, als auf dem Gebiete
des Kraftfahrsports. Ingesamt dienten in Deutschland im Januar 1909
nur 15562 Kraftfahrzeuge für Vergnügungs- und Sportzwecke, von
denen indes ein großer Teil zugleich im Erwerbsleben Verwendung
finden mag, so daß die Entwicklung des Kraftfahrwesens in Deutsch-
land in erster Linie das Bild einer großen Bereicherung des geschäft-
lichen Verkehrswesens bildet.
Gegen Ende des Jahres 1908 hat die Geschäftslage in der deutschen
Automobilindustrie eine bedeutende Hebung erfahren: der ausländische
808 Miszellen.
Wettbewerb wurde weiterhin zurückgedrängt und der Absatz der
deutschen Erzeugnisse im Auslande gesteigert. Die Ein- und Ausfuhr
von Motorfahrrädern stellte sich nämlich in Doppelzentnern folgender-
malen
Jan.-Nov. Jan.-Nov.
1907 1908 1908 1909
Einfuhr 18 217 13 636 12 882 12 546
Ausfuhr 20 765 19 935 18 732 25 448
Diese günstige Entwicklung des Auslandgeschäftes beruht haupt-
sächlich auf der Vermehrung der Ausfuhr von Personenwagen (um rund
6000 mit 19659 dz). Nur nach Brasilien ist die Ausfuhr (um 31 dz)
zurückgegangen, während nach allen anderen Ländern, insbesondere
nach Oesterreich-Ungarn, Rußland, den Vereinigten Staaten, den Nieder-
landen usw. sich die Ausfuhr gehoben hat. Frankreich, Belgien, die
Schweiz und Italien führten zwar wie bisher mehr Personenwagen nach
Deutschland ein, als die deutsche Ausfuhr nach diesen Ländern betrug,
aber es zeigt sich auch hierbei deutlich der Rückgang des Absatzes
der fremden Industrieerzeugnisse auf dem deutschen Markte. Im Jahre
1908 stellte sich nämlich der Handel mit diesen Ländern in Doppel-
zentnern folgendermaßen :
Einfuhr Ausfuhr Mehreinfuhr
Frankreich 5920 2896 + 3024
Belgien 2839 207 + 2632
Italien 1224 272 + 952
Im letzten Jahre hat sich das Verhältnis von Ein- und Ausfuhr
den drei Ländern gegenüber mithin bedeutend verbessert, so daß Frank-
reich nur ein Drittel der Mehreinfuhr des Vorjahres zu verzeichnen
hatte.
Der Gesamtwert des Absatzes der deutschen Automobilindustrie
im Auslande belief sich in den 11 Monaten des Jahres 1909 auf rund
173/, Mill. M., während die Jahresausfuhr 1908 nur rund 148/, Mill. M.
und 1907 121/, Mill. M. betragen hatte. Ein wichtiges Moment für
die Besserung der Lage dieser Industrie bildet der Ausbau des öffent-
lichen Automobilverkehrswesens, sowie die Verwendung der Kraftfahr-
zeuge zu militärischen, postalischen und ähnlichen Zwecken, wodurch
der Industrie eine gewisse Stetigkeit des Bedarfes auch in schlechten
Zeiten gewährleistet wird. Dazu kommt die weiter um sich greifende
Verwendung der Automobilmotoren im Schiffbau und in der Luft-
schiffahrt, sowie die zunehmende Lastenbeförderung durch Kraftwagen,
wodurch der Automobilindustrie ein weites Feld der Betätigung er-
öffnet wird. Jedenfalls ist sie mit guten Aussichten in das laufende
Jahr eingetreten.
Miszellen. 809
XXIII.
Zum Stadtbegriff und zur Städtestatistik Russlands.
Von Dr. Gustav Sodoffsky.
I.
Es sind ca. 11/, Jahrhunderte verflossen, seitdem von v. Justi!)
der Versuch gemacht wurde, eine Begriffsdefinition der Stadt zu geben.
Dieselbe lautet: „Eine Stadt ist ein Zusammenhang von Gesellschaften,
Familien und einzelnen Personen, die bei einander wohnen, um mit desto
besserem Erfolge, Wirkung und Zusammenhange solche Gewerbe und
Nahrungsarten zu treiben, die unmittelbar sowohl zu des Landes Not-
durft und Bequemlichkeit als zu einer Verbindung des gesamten
Nahrungsstandes im Lande erfordert werden.“ Dieser Versuch einer
Begriffsbestimmung war für seine Zeit, vom ökonomischen Standpunkte
aus, wohl einigermaßen zutreffend und ist es auch noch heute. Vom
allgemeinen Standpunkte aus, der sich für einen Begriff wie den in
Rede stehenden empfiehlt, dürfte die obige Definition aber doch nicht
erschöpfend und also als gewissermaßen einseitig zu betrachten sein,
denn dieselbe macht unter anderem den Eindruck, als ob es der einzige
Zweck der städtischen Bevölkerung sei, Gewerbe und Nahrungsarten
mit Erfolg zu betreiben, während doch z. B. in nicht geringem Maße
auch Zwecke der Wissenschaft, Kunst, Unterhaltung, Wohltätigkeit usw.
in Betracht kommen. Letztere könnten allerdings, wenigstens zum
Teil, aber auch etwa als zu den Zwecken des „Landes Notdurft“ ge-
hörig zu betrachten sein, was auch nicht unberechtigt erscheint. Nicht
ganz klar und befriedigend sind die Worte „als zu einer Verbindung
des gesamten Nahrungsstandes“ etc. erforderlich werden, und wenigstens
letzterer Begriff.
Mit Hilfe der in Rede stehenden Definition ist es aber jedenfalls
gar nicht möglich, zwischen Stadt und Dorf zu unterscheiden. Es ist
überhaupt fraglich, ob das auch etwa durch eine noch zutreffendere
ökonomische Definition möglich wäre. Ich glaube es verneinen zu
müssen. Für die Unterscheidung von Stadt und Dorf wird man nicht
vermeiden können, einen quantitativen ökonomischen Maßstab zur An-
wendung zu bringen und derselbe wird sich ohne viele Willkür nicht
anwenden lassen. Es fehlt auch z. B. in Rußland an gewissen stati-
stischen Daten, einer Statistik der Beschäftigungen der Bevölkerung der
einzelnen Ansiedlungen, einer Handels- sowie besonders Gewerbestatistik.
Es gibt auch kein geographisches Werk, das über die ökonomischen
Verhältnisse der einzelnen Ortschaften Rußlands einigermaßen zutreffend
informiert (auch das neuerdings im Erscheinen begriffene geographische
Lexikon Richters berücksichtigt nur Ortschaften mit einer Einwohner-
zahl von 500 an).
1) Cfr. „Staatswirtschaft‘“ 1758, Bd. 1, S. 477; — Sombart in „Arch. f. Sozialw.“
etc., 1907, S. 1f.
810 Miszellen.
Die beste ökonomische Definition wird schwerlich imstande sein,
ein zutreffendes Bild von jenen Kulturstätten zu geben, die im Sprach-
gebrauch als Städte bezeichnet werden.
Wenn wir es aber unternehmen wollten, durch Merkmale der
Kultur die Begriffe der Städte und Dörfer oder wenigstens den Begrift
der Stadt zu definieren, so würde das eine sehr komplizierte Begriffs-
bestimmung abgeben und der Unterschied zwischen Stadt und Dorf
wäre kaum klar darzulegen.
Wir brauchen aber klare und möglichst einfache Merkmale der
Unterscheidung. Bisher herrschte in bezug auf den Begriff von Stadt
und Dorf Unklarheit sowohl im Sprachgebrauch als in der Wissenschaft.
Die mittelalterliche, einst sehr verbreitete Definition Maurers:
„Städte sind ummauerte Dörfer,“ ist für unsere Zeit, in der es wohl nur
noch ausnahmsweise ummauerte Städte gibt, natürlich nicht mehr von
Bedeutung.
Eine andere Definition enthält ein auch noch heute geltendes,
wenn auch bestrittenes Kennzeichen, nämlich die rechtlich und tatsäch-
lich bestehende städtische Verwaltung und lautet, in pleno wiedergegeben,
wie folgt: „Nicht Mauer und Graben, nicht die Zahl der Einwohner,
nicht die Blüte des Handels und Gewerbes geben das entscheidende
Kennzeichen der in ihre volle Blüte eingetretenen deutschen Stadt. Im
Ratssiegel symbolisiert sich nicht weniger als in der Mauer der recht-
lich anerkannt organisierte Unterschied zwischen Stadt und Land“ 1).
Aehnlich äußert sich Kallisen 2): „Nicht die Aussonderung eines Ortes
von dem umgebenden Lande durch eine ihn umschließende Mauer, son-
dern das im Schutze der Mauer erwachsene eigenartige, auf selbständiger
Gemeindeverbindung beruhende Leben ist das Charakteristische der Stadt.“
Einseitig und durchaus streitig erscheint die Definition, daß die
Stadt ein Ort sei, dem Marktrecht verliehen sei, völlig unbrauchbar die
eines Amerikaners, nach der eine Stadt ein Ort ist, welcher eine Uni-
versität besitzt und nach der es also nur relativ ganz wenig Städte
geben würde.
Einseitig erscheint die nächstfolgende, zum Teil noch mittelalter-
lich klingende mehrere Kriterien vereinigende weitere Definition einer
Stadt: „Ein Ort müsse befestigt, der Mittelpunkt des Burgwarts®) ...
befestigt, befriedet, im Besitz des usus negotiandi und eine Korporation
des öffentlichen Rechts sein“ 4).
Von mehr örtlichem und dabei juridischem Charakter ist die Be-
stimmung der preußischen Städteordnung von 1853, daß als Städte an-
zusehen seien „alle bisher auf dem Provinziallandtage im Stande der
Stadt vertretenen Ortschaften“.
Nicht übereinstimmen kann ich leider mit einer von Sombart auf-
gestellten ökonomischen Begriffsbestimmung: „Eine Stadt im ökonomischen
Sinne ist eine größere Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unter-
halt auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlichen Arbeit angewiesen
1) Roth v. Schreckenstein, Das Patriziat in deutschen Städten, 1856, S. 28.
2) Die deutschen Städte, 1891, S. 238.
3) Schwarz, Anfänge des Städtewesens in den Elb- und Saalegegenden, 1896, S. 10.
4) Varges, Die Entstehung d. deutschen Städteverf., J. f. N. u. St., III F., Bd. 6, S. 164.
Miszellen. 811
sind“ 1), denn es gibt viele Gemeinwesen, die wohl den meisten An-
sprüchen genügen dürften, die man an eine Stadt vom juridischen und
kulturellen Standpunkte aus stellen dürfte und deren Bevölkerung,
wenigstens teilweise, durchaus nicht auf fremde landwirtschaftliche Arbeit
angewiesen ist. Letzteres kann man auch vielfach selbst von den
Bewohnern der Konturen größerer Städte sagen. Schließlich sei auch
noch darauf hingewiesen, daß es doch wohl Ortschaften, wie nicht sehr
große Fabrik- und Villenorte, gibt, für welche jenes Kennzeichen nicht
zutrifft.
Von manchen Statistikern wie Meuriot („le véritable indice d'une
population urbaine est la population non globale, mais agglomerée“ ?)
wird Dichtigkeit der Bevölkerung als unterscheidendes Merkmal in
Vorschlag gebracht, doch bildet dieselbe ein trügerisches, vielfach in
praxi schwer, kostspielig, ja in vielen Städten oft fast gar nicht zu be-
schaffendes Merkmal einer städtischen Ansiedlung. In England berück-
sichtigte man einst die mittlere Entfernung zwischen den Gebäuden der
Ortschaften, doch wurde dieses Kriterium bald verlassen, denn Dörfer
sind oft aus irgendwelchen Gründen dichter besiedelt als Städte.
Nicht möglich erscheint eine zutreffende Unterscheidung auch etwa
auf Grund von Budgets, denn letztere fehlen ja vielfach und die Aus-
gaben und Einnahmen müßten mit den Bewohnerzahlen in Relation ge-
setzt werden.
Bisher ist es leider noch nicht geglückt, eine recht entsprechende,
vollauf zufriedenstellende Definition der Stadt zu geben und den Unter-
schied zwischen Stadt und Dorf ihren Eigenschaften nach klarzu-
stellen. Es ist aber nötig, daß man sich über den Stadtbegriff völlig
klar werde, z. B. im Interesse der Statistik.
Es ist durchaus nicht erwünscht, daß der Begriff der Stadt zu
bloß „akademischen Zwecken“ festgestellt werde, sondern daß die Fest-
stellung zu praktischen Zwecken geschieht, welche die Wissenschaft
stets im Auge zu halten hätte.
Nicht nach Kompliziertheit, sondern nach Einfachheit und Klarheit
des Begriffs wäre zu streben. Eine „Reihe von Begriffsdefinitionen
der Stadt resp. des Dorfes, von verschiedenen Gesichtspunkten aus“ auf-
gestellt, wäre nicht zweckmäßig. Es scheint mir in Anbetracht der
Sachlage am empfehlenswertesten, sich an praktisch leichter erfaßbare
Merkmale zu halten, wodurch sich die Frage dann relativ einfach löst.
Erstens sollten als Städte diejenigen Gemeinwesen bezeichnet und be-
handelt werden, die vom Gesetz als solche anerkannt werden. Diese
Tatsache ist als maßgebend zu betrachten, wenngleich auch gewiß zu-
zugeben ‘ist, daß es als Städte bezeichnete kleine Gemeinwesen gibt,
die trotz der ihnen zustehenden städtischen Rechte doch immer vor-
wiegend ländlichen Charakters sind und deren Titel und Bedeutung
sehr stark kontrastiert. Es gibt auch alte als Städte bezeichnete Ge-
meinwesen, die in bezug auf ihre Bedeutung sehr stark herabgegangen
sind und ihren Eigenschaften nach, kaum mehr die Bezeichnung Stadt
1) Varges, Die Entstehung d. deutschen Städteverf., J. f. N. u. St., III. F., Bd. 6, S. 164.
2) Des agglomerations urbaines dans l’Europe contemporain, 1898, S. 41/42.
812 Miszellen.
verdienen. Trotz ihrer städtischen Rechte können Gemeinwesen in
ökonomischer Hinsicht recht niedrig stehen.
Ferner werden wir uns bei den bestehenden Verhältnissen auch
dazu verstehen müssen, ein sehr einfaches zweites Kriterium anzu-
wenden, um uns enventuell des Ausdruckes Stadt leicht (und unter den
gegenwärtigen Verhältnissen ohne große Gefahr jemals obne wenigstens
einigermaßen zutreffende neuere Daten zu sein)!), bedienen zu können
— nämlich der Zahl der Einwohner. Der vom „Internationalen stati-
stischen Kongreß“ 1887 aufgestellten Definition: „Städte sind Wohn-
plätze von mehr als 2000 Einwohnern“, schlossen sich z. B. die meisten
Kulturstaaten an?).
Es muß allerdings unbedingt anerkannt werden, daß dieses Merkmal
zur Unterscheidung von Stadt und Dorf ein immer sehr unvollkommenes,
daß es ein äußerliches Kriterium ist, das Wesen einer Stadt oder eines
Dorfes nicht bestimmt, daher ziemlich willkürlich ist usw., aber das-
selbe ist sehr einfach und, wie gesagt, jederzeit in einem jeden Kultur-
staat zugänglich. In Frankreich wird es bereits seit 1846 zur An-
wendung gebracht.
In manchen Fällen, wenn auch im ganzen doch wohl nur aus-
nahmsweise, dürften Ansiedlungen von größerer beständiger Bevölke-
rungszahl hinter kleineren kulturell stark zurückstehen. Bei dem
raschen Fortschreiten der Kultur, dürfte es aber doch wohl vermutlich
nicht sehr lange dauern, bis auch in die kulturell rückständigen Ort-
schaften höhere Kultur dringt.
Im Prinzip wird man das Minimum der Einwohnerzahl, welches als
Merkmal einer Stadt anzunehmen ist, bei Staaten, die ihrer Kultur nach
niedriger als die westeuropäischen stehen, aber höher ansetzen müssen.
Für Rußland z. B. wäre es wohl vielleicht zweckentsprechend, die
Grenzlinien zwischen Stadt und Dorf etwa auf mehr als 5000 oder 6000
Einwohner zu normieren, eine mittlere Stadt mit etwa 30 000 oder 40 000
Einwohner beginnen zu lassen (man rechnet sonst 10 000—20 000), eine
Großstadt mit 100000 oder 150000 und aus den letzteren dann etwa die
beiden Residenzen in einer besonderen Gruppe auszuscheiden. Der
Begriff und die Kennzeichen einer städtischen Ansiedlung sind im
russischen Gesetz nicht genau festgestellt. Städtische Ansiedlungen
sind Städte ebenso auch Hakelwerke (posady) und Flecken, die auf der
Städteordnung basieren. Als städtische Ansiedelungen anerkannte
Hakelwerke unterscheiden sich durch nichts von Städten, besonders
wenn die Städteordnung auf sie Anwendung gefunden hat. Dasselbe
gilt für Flecken. Als Städte werden diejenigen bewohnten Punkte aner-
kannt, denen die Bezeichnung „Stadt“ durch einen Akt administrativer
Verfügung zuerkannt worden ist. Bei Unterscheidung der bewohnten
1) Z. B. für Rußland, wo die allgemeine Volkszählung vor ea. 13 Jahren (1897)
stattfand, die betr. Bevölkerungszahlen etwa nach prozentualen Verhältnissen zu ergänzen
zu suchen, wäre, glaube ich, nicht ratsam. Abgesehen von der nicht geringen Arbeit,
die das verursachen würde, wäre die Richtigkeit oder verhältnismäßige Znverlässigkeit
der Ergebnisse doch wohl sehr zu bezweifeln.
2) Der Maßstab der Bevölkerungszahl wird auch z. B. von Twerdochlebow, Die
Besteuerung der Immobilien im Westen, Odessa, 1906 (russ.), S. 6, sowie von Weber,
Die Großstadt ete., Leipzig 1908, S. 1 anerkannt.
Miszellen. 813
Punkte in städtische und ländliche wird bisher weder der Charakter
der Beschäftigung der Bewohner, noch ihre Zahl in Berücksichtigung
gezogen. In vielen bewohnten Punkten, die als städtische Ansiede-
lungen anerkannt werden, ist die Hauptbeschäftigung der Bewohner
die Landwirtschaft und, bisweilen Fisch- und Tierfang, während gewerb-
liche industrielle und kommerzielle Tätigkeit manchmal völlig fehlen. Die
Nichtberücksichtigung der Bewohnerzahl bei der Einteilung der be-
wohnten Punkte in städtische und ländliche, führt dazu, daß unter
unseren Städten ungefähr 200 sind, die weniger als 5000 Einwohner
haben, während unter den ländlichen Ansiedlungen fast ebenso viele
vorhanden sind die über 10000 Einwohner aufweisen 1).
II.
Städtische Ansiedlungen hatte man im gesamten russischen Reiche
(exklusive Finlands) im Jahre 1904 949. Von denselben entfallen auf
das europäische Rußland 680, das Weichselgebiet 114, den Kaukasus 54,
die Steppen- und innerasiatischen Gebiete 49 und auf Sibirien 52.
Ihrer administrativen Bedeutung nach, zerfallen sie in 88 Gouver-
nements- und Gebietsstädte, 612 Bezirks- und Kreisstädte und 243
Nichtkreis- und außeretatmäßige (besujesdnye und saschtatnye).
Nicht-städtische Ansiedlungen von 10000 und mehr Einwohnern
waren im Jahre 1904 171 registriert.
Man unterschied im Jahre 1904:
Gouverne-
ments- und
Gebietsstädte
Zahl in | Kreis- u. Be- | Zahl in
Proz. zirksstädte Proz.
Große Städte (von über 100 000 Einw.) 17 19,3 3 0,5
Mittlere Städte (von 20—100 000 Einw.) 65 72,7 93 15,2
Kleine Städte (von 5—20 000 Einw.) 6 8,0 343 56,0
Städte-Dörfer (von unter 5000 Einw.) — — 173 28,0
Zusammen | 88 100,0 612 100,0
d Sl | | Ae o
„s3la,8 BA, sl se
BErIZElE 228328 38 88-8
8853 TASS SH EIER
Ska EE e ECKE
5 E S EK: |
E — > Je Sl së m _ un
|
Große Städte (von über 100 000 Einw.) — — | 20] 2,11 — — | 20| 1,8
Mittlere Städte (von 20—100 000 Einw.) 17 7,01175| (ei 30 | 17,51 205 | 18,4
Kleine Städte (von 5—20 000 Einw.) 106 | 43,6.455| 48,3) 141 | 82,5| 596 | 53,5
Städte-Dörfer (von unter 5000 Einw.) 120 | 49,41293| 31,0) — — | 293 | 26,3
Zusammen | 243 |100,0/943/100,0| 171 '100,0:1114/100,0
Die Gouvernements- und Gebietsstädte gehören meist zu den
mittleren, die Bezirks- und Kreisstädte zu den kleinen, die Nichtkreis-
1) Die Städte Rußlands im Jahre 1904. St. Petersburg 1906, S. 439 f. (russ)
2) In dem vorhin zitierten Werke hätten in der betr. Tabelle (S. 440) die nicht-
städtischen von den städtischen Ansiedlungen korrekterer Weise durch Striche getrennt
oder etwa eine Erläuterung gegeben werden müssen.
814 Miszellen.
und außeretatmäßigen Stüdte fast ebenso zu den kleinen Städten wie
zu den Städte-Dörfern.
Große Städte von über 100000 Einwohner gibt es im ganzen 20
(oder 2 Proz. aller städtischen Ansiedlungen). Von diesen Städten sind
17 Gouvernements- und nur 3 Kreisstädte (Odessa, Lodz, Rostow a Di
Die mittleren Städte, deren es 175 (18,6 Proz.) gibt, sind ihrer
administrativen Bedeutung nach, wie folgt, zu unterscheiden: 65 Gouver-
nementsstädte, 92 Kreisstädte und 18 Nichtkreis- und außeretatmälige
Städte.
Von den kleinen Städten (455, das sind 48,3 Proz.) sind Gouverne-
mentsstädte 6, Kreisstädte 343 und Nichtkreisstädte 106.
Städte-Dörfer (293, das sind 31 Proz.) gehören zu den Kreis- und
Nichtkreisstädten, und zwar 173 zu den ersteren und 120 zu den letzteren.
Die großen Städte bilden 19,3 Proz. der Gouvernements- und
0,5 Proz. der Kreisstädte (unter Nichtkreis- und unter außeretatmäßigen
hat man sie gar nicht). Die mittleren Städte bilden von der ersten
72,7 Proz., von der zweiten 15,2 und von der dritten Gruppe 7 Proz.
Die kleinen Städte 8,0, 56,0 und 43,6 Proz. Die Städte-Dörfer (deren
man unter Gouvernementsstädten gar nicht hat), bilden von den Kreis-
städten 28,3 Proz. und von den Nichtkreisstädten und außeretatmäßigen
49,4 Proz.
Von den 171 nicht-städtischen Ansiedlungen von 10000 und mehr
Einwohnern bilden 30 (17,5 Proz.) mittlere und 141 (82,5 Proz.) kleinere
Ansiedlungen, entsprechend „mittleren“ und „kleinen Städten“.
Am meisten vertreten sind kleine Städte in den zwei nördlichen
Gouvernements des europäischen Rußland, wo sie 84 Proz., und im
baltischen Gebiet, wo sie 60 Proz. aller Städte bilden.
Außer der administrativen Bedeutung haben auf die Bevölkerungs-
zahl der Ortschaften noch andere Faktoren Einfluß. Durch relative
Dichtheit der Bevölkerung zeichnen sich Eisenbahnknotenpunkte, Häfen
sowie Handels- und Industriezentren aus.
Das Eisenbahnnetz erfaßt bei weitem nicht alle städtischen An-
siedlungen des Reiches, sondern nur 417, das sind 44 Proz. Dabei
sind die Gouvernementsstädte in ungleich besseren Verhältnissen als
Kreis- und Nichtkreisstädte. Während von ersteren (88) an Eisen-
bahnen 76, das sind 86 Proz., liegen, befinden sich von 612 Kreis-
städten bloß 268, das sind 44 Proz., und von 244 Nichtkreisstädten
nur 73, das sind 29 Proz. an Eisenbahnen. Von den nicht-städtischen
Ansiedlungen von 10000 und mehr Bewohnern aber liegen 30 Proz.
(52 von 171) an der Eisenbahn,
Von den städtischen Ansiedlungen sind 279, das sind 29,6 Proz.,
Anlegeplätze und Häfen.
Von 88 Gouvernementsstädten liegen 48, oder 55 Proz., an Wasser-
wegen, von 612 Kreisstädten 187, das sind 31 Proz., und von 244
Nichtkreisstädten 44, oder 18 Proz.
Von nicht-städtischen Ansiedlungen haben Anlegeplätze 23, das
sind 13 Proz.
Miszellen. 815
XXIV.
Die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter
in den Niederlanden.
Von Dr. jur. Jan Ort (Statist. Amt in Amsterdam).
Die Ergebnisse der in 1886 eingesetzten parlamentarischen Unter-
suchungskommission hatte zur Folge, daß ein Gesetz zur Verhütung
übermäßiger und gefährlicher Arbeit von jugendlichen Arbeitern und
von Arbeiterinnen zustande kam. Dieses Gesetz (vom 5. März 1889)
untersagt jede Arbeit von Kindern unter 12 Jahren, während die täg-
liche Arbeitszeit von Arbeitern von 12—16 Jahren 11 Stunden nicht
überschreiten darf. Uebrigens werden gewisse Beschäftigungen, welche
mit Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden sind, jugendlichen
Arbeitern unter 16 Jahren durch Verwaltungsverordnung (Königlichen
Erlaß) entweder gänzlich untersagt oder von gewissen Bedingungen
abhängig gemacht. Die Verordnung ist zuletzt am 10. August 1909
erlassen (im Bulletin des Internat. Arbeitsamtes zurzeit noch nicht ver-
öffentlicht).
Den Bestimmungen des Bergwerkgesetzes vom 27. April 1904 ge-
mäß hat die Verwaltungsverordnung (Königlicher Erlaß) vom 22. Sep-
tember 1906 (Bulletin des Internat. Arbeitsamtes S. 533) Vorschriften
erlassen über die Sicherstellung gegen Gefahr für Leben und Gesund-
sundheit, die Arbeitszeit und die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter.
Nach dieser Verordnung dürfen Kinder unter 13 Jahren in einem Berg-
werk gar nicht beschäftigt werden, jugendliche Arbeiter unter 16 Jahren
nicht unter Tag und Arbeiter unter 20 Jahren ohne ärztliches Zeugnis
‚nicht unter Tag, und mit schwerer Arbeit nicht über Tag!).
Nach den Aenderungen, welche das Gesetz über den Arbeitsvertrag
vom 13. Juli 1907 (eingeführt 1. Februar 1909) °?) in das Bürgerliche
Gesetzbuch gebracht hat, bestimmt dieses unter anderem folgendes über
die Rechtsverhältnisse minderjähriger Arbeiter: Ein Minderjähriger ist
befugt, als Arbeiter Arbeitsverträge abzuschließen, wenn er dazu von
seinem gesetzlichen Vertreter (Vater, Vormund) mündlich oder schrift-
lich ermächtigt ist. In eine schriftliche Vollmacht (welche vom Minder-
1) Für nähere Angaben hinsichtlich des gesetzlichen Schutzes der jugendlichen
Arbeiter siehe den Artikel Arbeiterschutzgebung in den Niederlanden von Dr. J. H.
van Zanten, im Handw. d. Staatsw.
2) Siehe Bulletin des Internat. Arbeitsamtes 1907, S. 470 ff.
816 Miszellen.
jährigen dem Arbeitgeber einzuhändigen ist) können Bedingungen auf-
genommen werden, wodurch z. B. bestimmt werden kann, daß der Lohn
ganz oder teilweise statt dem Minderjährigen dem gesetzlichen Ver-
treter persönlich ausgezahlt werden muß. Wenn der gesetzliche Ver-
treter eines Minderjährigen findet, daß der von dem Minderjährigen
geschlossene Arbeitsvertrag für diesen nachteilige Folgen haben könnte,
oder auch daß die Bedingungen der oben genannten Vollmacht nicht
erfüllt werden, so kann er den Amtsrichter ersuchen, den Arbeits-
vertrag aufgelöst zu erklären. Dasselbe Recht steht der Staatsanwalt-
schaft des Amtsgerichts zu.
Ferner hat der Arbeitgeber die Verpflichtung, die Arbeit so zu
regeln, daß minderiährige Arbeiter Gelegenheit haben, den Unterricht in
Religions-, Fortbildungs- oder Fachschulen zu besuchen. Die Kon-
kurrenzklausel darf nicht mit minderjährigen Arbeitern abgemacht
werden. In den Vertrag kann die Bedingung aufgenommen werden,
daß ein Teil des Lohnes, den ein minderjähriger Arbeiter verdient, vom
Arbeitgeber auf den Namen des Arbeiters in die Reichspostsparkasse
oder in eine den durch Verwaltungsverordnung festgesetzten Bedingungen
entsprechende, zu diesem Zwecke besonders eingerichtete Sparkasse
eingelegt werden soll.
Bei den Volkszählungen von 1889, 1899 und 1909 ist auch eine
Berufszählung abgehalten; daraus ergibt sich für die Jahre 1889 und
1899 folgendes (die Zahlen von 1909 sind noch nicht bekannt).
Zahl der Arbeiter von weniger als 16 Jahren auf 100 Arbeiter
aller Altersklassen:
männliche weibliche
1889 1899 1889 1899
Industrie 10,68 11,24 15,25 19,94
Landwirtschaft 5,87 7,63 10,39 11.70
Handel und Verkehr 4,71 6,05 12,40 9,86
Fischerei und Jagd 9,92 10,47 4,16 5,27
Freie und andere Berufe 1,80 1,81 7,37 8,14
Von allen in einem Berufe beschäftigten Personen standen im
Lebensalter von weniger als 16 Jahren:
männliche weibliche
1889 1899 1889 1899
4,86 5,60 7,30 8,23
Verhältnismäßig sehr groß ist die Zahl der jugendlichen männlichen
Arbeiter in den typographischen Gewerben mit bei den Zählungen von
1889 und 1899 20,02 bezw. 19,11 Proz. Personen unter 16 Jahren.
Dann kommt die Papierindustrie mit 18,66 bezw. 17,14 Proz. und dann
die Lederindustrie (hauptsächlich Schuhmachereien) mit 16,99 bezw.
14,66 Proz. Es verdient Erwähnung, daß bei diesen drei Gewerben
die Zahl der jugendlichen Arbeiter prozentweise von 1889 auf 1899
zurückgegangen ist. Dieselbe Erscheinung sieht man in noch einigen
Klassen der Industrie mit einem hohen Prozentsatze der Jugendlichen,
z. B. in der Kleidungsindustrie, für welche die Zahlen 15,90 bezw.
12,99 Proz. betrugen und für die Maschinenfabrikation mit 10,88 bezw.
9,52 Proz. Die Vermehrung, welche für die ganze Industrie konstatiert
Miszellen. 817
wurde, muß demnach namentlich auf Rechnung der Gewerbeklassen ge-
schrieben werden, worin der Prozentsatz der Jugendlichen nicht be-
sonders hoch ist.
Höher als die Durchschnitte der ganzen Industrie für 1889 und
1899 sind z. B. noch die Holzindustrie mit 11,29 bezw. 13,51 Proz.,
das Kunstgewerbe mit 12,46 bezw. 13,23 Proz.; niedriger als die Durch-
schnitte sind z. B. die Prozentsätze des Gas- und Elektrizitätsgewerbes
(0,75 und 1,22 Proz.), der Torfgräberei (8,42 und 4,36 Proz.) und der
Baubetriebe (5,70 und 8,19 Proz.).
Daß die Prozentsätze der weiblichen jugendlichen Arbeiter in fast
allen Gewerben bedeutend höher sind als diejenige der männlichen,
daran wird wohl schuld sein, daß die höheren Altersklassen in der Be-
rufsstatistik bei den Frauen verhältnismäßig viel weniger stark besetzt
sind als bei den Männern.
Dem Zentralberichte der Arbeitsinspektion tiber die Jahre 1907 und
1908 ist folgendes zu entnehmen.
Die gesetzlich verbotene Arbeit von Kindern unter 12 Jahren
scheint in der eigentlichen Industrie wirklich zu den großen Ausnahmen
zu gehören. Von der Verwendung dieser Kinder als Laufburschen und
Laufmädchen und in der Hausindustrie ist dasselbe leider noch nicht
zu sagen.
Was den Artikel des Arbeitsgesetzes betrifft, wodurch die Maximal-
arbeitszeit der Jugendlichen auf 11 Stunden pro Tag bestimmt wird,
die übergroße Mehrheit der Uebertretungen dieses Artikels fand statt
im Putz- und Konfektionsgewerbe Auch in den Wäschereien und in
den Bäckereien geschahen viele Zuwiderhandlungen.
Die Zahl der „Arbeitskarten“ (welche für jeden in einer Fabrik
oder in einer Werkstätte tätigen Arbeiter von 12—16 Jahren vom
Bürgermeister ausgefertigt und durch den Arbeitgeber während der
Dauer der Beschäftigung aufbewahrt werden) betrug am 31. Dezember
1908: für männliche Arbeiter 60 121, für weibliche 32 894, insgesamt
93 015 (1903: 76 587, 1904: 83281, 1905: 94 688, 1906: 85 317).
Die 1906 ernannte Staatskommission für die Landwirtschaft er-
örtert in ihrem Bericht vom 28. August 1909 die Frage, ob nicht für
die im schulpflichtigen Alter (bis 13 Jahr) stehenden Kinder auch die
Arbeit in der Landwirtschaft soll verboten werden. Bis jetzt ist diese
Arbeit gesetzlich erlaubt vor und nach den Schulzeiten, während außer-
dem durch die Schulinspektion außerordentlicher Urlaub gewährt werden
kann für Landarbeiten. Die Staatskommission beantwortete diese Frage
bejahend, weil ihrer Ansicht nach die Arbeit der Kinder wenig lohnend
ist und nachteilig für ihre geistige und sittliche Entwicklung.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 52
818 Literatur.
Literatur.
V.
Alfred Weber, Ueber den Standort der Industrien ').
Besprochen von W. Lexis.
Thünen hat bekanntlich eine Theorie des Standorts der landwirtschaft-
lichen Produktion aufgestellt, die zwar von einer hypothetischen Grundlage
ausgeht, aber das Problem richtig erfaßt und einer weiteren, den tatsäch-
lichen Verhältnissen angepaßten Ausbildung fähig ist. Es hat auch nicht
an Versuchen gefehlt, die Normen aufzuklären, nach denen sich der
Standort der Gewerbe bestimmt, und insbesondere hat Rorschers
Formulierung Erfolg gehabt, nach der die Standortswahl der Industrie
nach Durchführung der Arbeitsgliederung davon abhänge, ob der Preis
des Produktes hauptsächlich durch Rohstoff, durch die Arbeit oder
durch das Kapital bedingt sei. Aber die Sätze Roschers sind doch
nur von der Oberfläche des reichlich gesammelten Tatsachenmaterials
abstrahiert, sie sind nicht gerade falsch, aber sie dringen nicht in die
Dynamik der wirklichen Vorgänge ein. Dies kann nur geschehen mittels
quantitativer Abwägung der wirksamen Faktoren und ihrer gegen-
seitigen Beziehungen, also mittels einer im mathematischen Geiste ge-
führten, wenn auch nicht mit mathematischen Formeln operierenden
Untersuchung. Eine solche hat nun Alfred Weber in seinem oben an-
geführten Werk geliefert und dabei nicht nur sehr wertvolle Ergeb-
nisse erzielt, sondern auch ein Beispiel einer in mancher Beziehung
neuen Methodik der Behandlung volkswirtschaftlicher Fragen gegeben.
Das eigentlich Mathematische findet sich in einem Anhang von G. Pick,
im Text aber werden die mathematischen ‘Resultate mit Hilfe zahl-
reicher Figuren in einer weitgehenden Kasuistik auf die wirtschaft-
lichen Erscheinungen angewandt. Jedoch bleibt die Darstellung durch-
aus auf dem Boden der reinen Theorie. Die empirischen Tatsachen in das
abstrakte Schema so gut wie möglich einzufügen, bleibt einem zweiten
Bande vorbehalten, zu dem die Industrieentwicklung Deutschlands von
1861 bis zur neuesten Gewerbezählung das Beobachtungsmaterial dar-
bieten soll. Manchen Lesern, denen die mathematische Anschauungs-
weise weniger geläufig ist, wird die Bedeutung des ersten Bandes
1) Erster Teil. Reine Theorie des Standorts. Tübingen 1909.
Literatur. 819
vielleicht erst aus dem zweiten völlig klar werden. Uebrigens bemerkt
der Verfasser selbst, daß manche kasuistische Ausführungen des vor-
liegenden Bandes ohne Nachteil für das Verständnis des Ganzen über-
sprungen werden dürfen, daß sie aber zur wissenschaftlichen Erschöpfung
des Themas hier beigebracht werden mußten,
Als „Standortsfaktoren“ der Industrie unterscheidet der Verfasser
zunächst „generelle“ und „spezielle“. Nur die ersteren, nämlich die-
jenigen, die gleichartige Bedeutung für alle Industriezweige haben,
kommen hier weiter in Betracht. Ferner werden unterschieden „regio-
nal verteilende“ und „agglomerierende“ (bezw. deglomerierende) Fak-
toren, nämlich solche, die die Industrie an bestimmte geographisch ge-
gebene Punkte der Erdoberfläche hinziehen und so ein erstes Grundnetz
der Industrieorientierung schaffen, und solche, die innerhalb dieses
Netzes wieder Verschiebungen, Zusammenziehungen oder Zerstreuungen
erzeugen. Es wird nun gezeigt, daß man in der reinen Theorie nur
zwei generelle regionale Standortsfaktoren zu berücksichtigen braucht:
die Transportkosten und die Arbeitskosten. Dazu kommt noch ein
dritter genereller Faktor, die Agglomerationstendenz, die das durch die
beiden anderen bedingte Netz mehr oder weniger „verzerrt“, indem sie
Ablenkungen, „Deviationen“ von der diesen entsprechenden Verteilung
bewirkt. Als erster Standortsfaktor aber sind die Transportkosten zu
betrachten; sie bestimmen das Grundnetz, auf das zunächst der Arbeits-
kostenfaktor ablenkend einwirkt. Die einfachsten Elemente der Trans-
portkosten sind Gewicht und Entfernung. Sie werden demnach nach
Tonnenkilometer bemessen und die Verschiedenheiten der Tarifierung
und der Wegearten können ausgeglichen werden, indem man statt der
wirklichen Gewichte und Entfernungen nötigenfalls fingierte in An-
rechnung bringt, die den besonderen Bedingungen der Beförderung ent-
sprechen. Wie die Verhältnisse in Deutschland und den alten Kultur-
ländern liegen, ist man berechtigt, in dem ganzen Gebiet einen
einheitlichen Transportapparat, das Eisenbahnsystem, anzunehmen.
Die Transportkosten setzen sich zusammen aus den Frachten für
die Beförderung der Materialien von ihren Produktions- und Fundstätten
nach dem Ort ihrer Verarbeitung, also dem in Frage stehenden Standort
und den Kosten der Beförderung der Fabrikate von diesem Standort,
nach dem Absatz- oder Konsumort. Das Material aber besteht aus zwei
Hauptarten von Stoffen, nämlich eigentlichen Rohstoffen, wie z. B.
Erzen, die verarbeitet, und Hilfsstoffen, die verbraucht werden und
namentlich, wie Kohlen, zur Kraftgewinnung dienen, weshalb man sie
auch als Kraftstoffe bezeichnen kann, Die von der Natur gegebenen
„Lager“ dieser beiden Stoffarten finden sich meistens an verschiedenen
Stellen, und nach der einfachsten schematischen Vorstellung kann man
daher drei auf den Standort eines industriellen Betriebes entscheidend
einwirkende Punkte annehmen, das Rohstofflager, das Kraftstofflager
und den Konsumplatz, die zusammen das „Standortdreieck“ bilden.
Der lediglich nach den Transportkosten bestimmte Standort würde nun
der Platz sein, an dem die Zahl der nach dem einheitlichen Kostensatz
zu bezahlenden Tonnenkilometer ein Minimum wird. Es ist leicht zu
52%
820 Literatur.
sehen, daß dieser Standort nicht außerhalb des Dreiecks liegen kann;
je weiter ein Punkt äußerlich von dem Dreieck absteht, um so größer
ist die Summe der Entfernungen von den drei Ecken. Der Standort
muß jedoch nicht notwendig innerhalb des Dreiecks liegen, er kann
auch in eine der Ecken rücken, unter Umständen auch eine unbestimmte
Lage auf einer Linie haben.
Fällt er in das Innere des Dreiecks, so ergibt sich eine einfache
mathematische Lösung der Minimumaufgabe: Betrachtet man die Tonnen-
zahlen als Kräfte, die vom Standorte nach den drei Ecken ziehen, so
muß sich der gesuchte Standort dort befinden, wo diese Kräfte im
Gleichgewicht stehen, d. h. wo jede gleich ist der Resultierenden der
beiden anderen in entgegengesetzter Richtung. Dieser Satz ist jedoch
nur anwendbar, wenn sich die drei Kräfte, als Linien dargestellt, wie
Seiten und Diagonale eines Parallelogramms verhalten, d. h. wenn sich
ein Dreieck aus ihnen bilden läßt und demnach je zwei größer sind als
die dritte. Dies trifft jedoch in vielen Fällen nicht zu, wobei auch
zu bedenken ist, daß die Tonnenkilometer unter Umständen nicht die
wirklich verfahrenen, sondern die in der oben angedeuteten Weise mit
Rücksicht auf die verschiedenen Tarifsätze angerechneten darstellen.
A. Weber macht nun hier eine sehr nötige Unterscheidung: nur
wenige Materialien gehen vollständig in das Produkt ein, fast alle er-
leiden durch die Verarbeitung einen größeren oder geringeren Gewichts-
verlust und die Kraftstoffe vollends werden gänzlich aufgebraucht.
Daher sind Reinmaterialien und Gewichtsverlustmate-
rialien zu unterscheiden (der Ausdruck „Verlustmaterialien“ dürfte auch
genügen). Infolge dieser Verschiedenheit des Materials kann der Stand-
ort in eine Ecke gezogen werden. Werden z. B. zur Herstellung von
einer Tonne Produkt eine Tonne Reinmaterial und 21/, t Kohlen ver-
wendet, so rückt der Standort P an das Kohlenlager V, wohin dann
natürlich auch das Reinmaterial von seinem Lager R zu schaffen ist.
Denn läge P irgendwo im Innern des Dreiecks in der Entfernung PK
von dem Konsumplatz K, so ergibt der Transport auf den Linien VP,
RP und PK immer eine größere Zahl von Tonnenkilometern, als der
von R nach V und von dort — wo auch P liegt — nach K. Wenn
aber ausschließlich Reinmaterialien verarbeitet werden, die aus den
beiden Lagern R, und R, bezogen werden, so liegt der Standort P
am Konsumplatz K, denn in diesem Falle ist das Gewicht des Pro-
duktes gleich der Summe der Gewichte der beiden Materialien, und
wenn P im Innern des Dreiecks läge, so würden die Wege R,PK und
R,PK immer größer sein, als die Summe der Linie R,K und R,K, die
direkt von den Lagern zum Konsumplatz führen.
Weber unterscheidet aber noch eine dritte Gattung von Materialien,
die er mit dem nicht gerade anmutenden Wort „Ubiquitäten“ bezeichnet.
Es sind solche, die innerhalb des Standortsdreiecks für die in Betracht
kommenden Produktionsbetriebe überall an Ort und Stelle zu haben
sind. Zu diesen kann z. B. Holz gehören, wenn dies auch heute nicht
mehr so häufig der Fall ist, wie in früherer Zeit. Man könnte dieses
Material vielleicht „allverbreitetes“ nennen, da „allgegenwärtig“ wohl
Literatur. 821
etwas zu viel besagt. Die Einführung von Ubiquitätsmaterial bewirkt
eine Erhöhung des Produktgewichts ohne Vergrößerung der Material-
transportkosten, sie wirkt dadurch der Anziehungskraft der Verlust-
materiallager entgegen, und wenn das Gewicht dieses frachtfreien
Materials den Gewichtsverlust der anderen Materialien ausgleicht, so
verschiebt sich der Standort zum Konsumplatz, Auf Grund dieser
Unterscheidung von Reinmaterial, Gewichtsverlustmaterial und Ubiqui-
tätsmaterial stellt Weber den „Materialindex“ und das „Standsorts-
gewicht“ als charakteristische Verhältniszahlen auf. Der erstere drückt
das Verhältnis des verbrauchten lokalisierten, d. h. nicht all-
verbreiteten Materialgewichts zum Produktgewicht aus, wobei die Ubi-
quitäten, die etwa mitverwendet sind, nur als Verstärkung des Pro-
duktgewichts Bedeutung haben. Wenn also für eine Tonne Produkt
im ganzen eine Tonne lokalisiertes Material verbraucht ist, so ist der
Materialindex 1, gleichviel ob für diese Tonne viel oder wenig oder
gar kein allverbreitetes Material zugezogen worden ist. Das Standorts-
gewicht aber ist die Tonnenzahl, die auf eine Tonne Produkt für die
Bewegung in der Standortsfigur überhaupt in Betracht kommt. Es ist
also gleich dem Materialindex + dem Produktgewicht 1, worin auch
das in diesem etwa mitenthaltene nicht aufgebrauchte Gewicht von
Ubiquitätsmaterial eingerechnet ist. Diese auf das Standortsdreieck als
den einfachsten Fall beschränkte Betrachtungsweise ist auch anwendbar
unter der Voraussetzung, daß mehr als zwei Materiallager in Anspruch
genommen werden müssen. Die Standortsfigur ist dann mindestens ein
Viereck, die mathematische Behandlung wird weniger einfach, immerhin
aber bleibt das Bild der Zugkräfte, die von den zu transportierenden
Gewichten auf den Standort ausgeübt werden, noch zutreffend. Der
Standort wird sich innerhalb des Polygons auf einen Minimalpunkt
einstellen, wenn aber ein Gewicht der Summe der übrigen gleich oder
größer ist, so wird er in die entsprechende Ecke gezogen.
Durch weitere Ausführungen sucht der Verfasser sich der Wirk-
lichkeit mehr anzunähern, indem er unter anderem auch das „Zer-
schlagensein des Transportapparates“, das Nebeneinanderstehen von
Eisenbahnen, Wasser- und Landstraßen berücksichtigt. Immer aber
handelt es sich in diesem Kapital ausschließlich um die „Transport-
orientierung“ der Industrie, um die isolierte Darstellung des hypothe-
tischen, lediglich durch die Transportkosten bedingten Grundnetzes der
Standortsverteilung. Diese Verteilung wird nun aber zunächst ver-
ändert und verschoben durch die lokal verschiedenen Arbeitskosten, so-
weit diese durch die Verschiedenheit der persönlichen Leistungs- und
Lohnhöhe der Arbeiterbevölkerung entsteht. Hier greift also die
kapitalistische Gesellschaftsordnung ein, während die Transportorien-
tierung an sich unabhängig von der Gesellschaftsform zustande kommt.
Die moderne Verkehrsentwicklung hat allerdings die Tendenz, die Ver-
schiedenheit der Lohnsätze für dieselbe Leistung auszugleichen, tatsäch-
lich ist sie aber immer noch in beträchtlichem Grade vorhanden und
die Ausgleichung kann sich jedenfalls nur langsam vollziehen. Hat
aun ein Ort geringere Arbeitskosten als der rein transportmäßig be-
822 Literatur.
stimmte Standort, so übt er auf die Produktionsstätte eine Anziehungs-
kraft aus, deren Wirkung aber niemals in einer bloßen Annäherung
an den billigeren Arbeitsplatz bestehen kann, denn diese würde gar
keinen Vorteil bringen; vielmehr muß die Produktion entweder voll-
ständig nach diesem Arbeitsplatz verlegt werden, oder sie bleibt trotz
der Anziehung des letzteren auf dem transportmälig bestimmten Minimal-
punkt. Ob die Verlegung stattfindet, hängt lediglich davon ab, ob die
dadurch zu erreichende Ersparung von Arbeitskosten größer ist, als die
Erhöhung der Transportkosten, die durch das Verlassen des Minimal-
punktes entsteht. Je weiter sich die Produktionstätte nach jeder be-
liebigen Richtung innerhalb und außerhalb der Standortsfigur von diesem
Punkt entfernt, um so mehr steigen die zusätzlichen Transportkosten.
Man kann nun auf jeder vom Minimalpunkt auslaufenden Richtungs-
linie eıne Reihe von Punkten bezeichnen, deren jedesmaliger Abstand
einer gleichen Erhöhung der Transportkosten entspricht und man kann
ferner in der Ebene alle Punkte durch eine in sich geschlossene Linie
verbinden, auf die ein gleicher Transportkostenzuwachs vom Minimum
aus entfällt. So entstehen die Linien gleicher Transportkosten oder
die „Isodopanen“, wie Weber sie nennt, der wohl mit den Sprach-
reinigern noch einen schweren Strauß zu bestehen haben wird. Je
weiter diese Niveaulinien von dem transportmäßigen Standort sich ent-
fernen, um so mehr nähern sie sich der Kreisform; innerhalb und in der
Nähe der Standortsfigur aber haben sie eine unregelmäßig ovale Form,
weil hier die als Zugkräfte gedachten Gewichte der Materialien und des
Produktes ihren verschiedenartigen Einfluß üben. Jeder auf die Pro-
dukteinheit kommenden, durch den Arbeitsplatz bedingten Ersparnis moi
nun eine „kritische“ Isodopane entsprechen, die eine ebenso große Ver-
teuerung der Einheit infolge der erhöhten Transportkosten bezeichnet.
Liegt der Arbeitsplatz auf einen niedrigeren Isodopane als diese, also
innerhalb der von dieser eingeschlossenen Fläche, so übersteigt die Er-
sparnis die Deviationskosten, und es ist vorteilhaft, die Produktions-
stätte nach diesem Platz zu verlegen. Der Verfasser erörtert nun die
verschiedenen hier in Betracht kommenden Möglichkeiten, wobei er als
die wesentlichen Bestimmungsgründe der „Arbeitsorientierung“ der In-
dustrie betrachtet ıhr Standortsgewicht und ihren „Arbeitskostenindex“,
nämlich die durchschnittlichen Arbeitskosten, die für eine Tonne
Produkt gesellschaftlich-notwendigerweise aufgewandt werden müssen.
Ein hoher Arbeitskostenindex bietet die Möglichkeit einer verhältnis-
mäßig großen „Kompression“ durch die auf billigen Arbeitsplätzen zu
erreichende Ersparnis und die „kritische“ Isodopane ist dann weit hinaus-
geschoben; bei niedrigem Arbeitskostenindex dagegen ist nur eine kleine
komprimierbare Kostenmasse und daher auch nur eine geringe Ersparnis-
möglichkeit gegeben. Es ist aber hier auch das Standortsgewicht zu
berücksichtigen, das für die Gewichtseinheit des Produktes sehr ver-
schieden sein kann. Je größer es ist, um so größer sind die in Frage
kommenden Transportkosten, um so kleiner der Abstand für einen gleichen
Zuwachs dieser Kosten, um so näher rücken die Isodopanen zusammen
und um so enger wird der Kreis, in dem der Arbeitskostenindex in
Literatur. 823
dem obigen Sinne seine ablenkende Wirkung ausüben kann. Daher
sind die Arbeitskosten nicht auf die Gewichtseinheit des Produktes,
sondern auf das auch das Gewicht des lokalisierten Materials enthaltende
Standortsgewicht zu beziehen, und so bestimmt sich der „Arbeits-
koeffizient“, die auf eine Tonne Standortsgewicht entfallenden Arbeits-
kosten. In diesem Arbeitskoeffizient ist der quantitative Maßstab für
die Ablenkbarkeit der Industrie durch die Arbeitskosten gegeben. Auf
die Schlußfolgerungen, die der Verfasser aus diesen Grundanschauungen
zieht, und auf seine weiteren Erörterungen über die „Milieubedingungen“
der Arbeitsorientierung kann hier nicht ‘eingegangen werden, sondern
es bleibt nur noch seine Theorie der „Agglomeration“ zu skizzieren.
Die neben der Agglomeration auftretende „Deglomeration“ ist kein selb-
ständiger Faktor, sondern eine durch die erstere hervorgerufene und
iie herabsetzende und auflösende Gegentendenz. Die Agglomeration
wfrkt nicht, wie die Transport- und Arbeitskosten, allgemein regional
aus das Standortsbild ändernd ein, sondern sie erzeugt nur lokale Zu-
sammenziehungen oder Zerstreuungen der durch jene generellen Fak-
toren bedingten Produktionsverteilung. Im allgemeinen ist als Agglome-
rativfakter jeder Vorteil anzusehen, der daraus entsteht, daß die
Produktion in einer bestimmten größeren Masse an einem Platze ver-
einigt wird. Jeder Vorteil dieser Art stellt sich als eine Kostenersparnis
auf die Gewichtseinheit des Produktes dar, und wenn mehrere Faktoren
dieser Art zusammenwirken, so vereinigen sich die Ersparnisindices zu
einer Ersparnisfunktion. Der durch die Agglomeration verur-
sachten Verschiebung der Produktionsstätte steht aber wieder eine Er-
höhung der Transportkosten gegenüber, und jene kann nur insoweit
stattfinden, als noch eine positive Ersparnis übrig bleibt. Als agglome-
rativer Faktor wirkt zunächst die Ueberlegenheit des technischen
Apparates des Großbetriebes, die zur Folge hat, daß kleine Betriebe in
einem weiten Umkreis mehr und mehr aufgesogen werden. Dazu
kommen die Vorteile, die aus der Nachbarschaftslage von Betrieben ent-
springen, die verschieden aufeinanderfolgende Produktionsstufen repräsen-
tieren und demnach aufeinander angewiesen sind. Dadurch werden aber
auch wieder mancherlei Hilfsgewerbe, die Spezialitäten oder Reparaturen
liefern, zu solchen Industriezentren herangezogen.
Mit dem Ausbau des technischen Apparates des Großbetriebes ver-
bindet sich auch eine Konzentrierung und wirksamere Organisation der
Arbeitskräfte, die ebenfalls zur Vergrößerung der Ersparnisfunktion bei-
trägt. Durch beide Momente werden natürlich auch die Arbeitskosten
beeinflußt; diese sind vorher nur nach ihrer persönlichen Seite mit Be-
zug auf Leistung und Lohnhöhe betrachtet worden, während sie hier
auf ihren objektiven Grundlagen hervortreten. Ferner wirken auch
rein gesellschaftliche Faktoren in agglomerativem Sinne, so namentlich
die Bildung eigener Märkte für den Materialbezug an den großen In-
dustrieplätzen und umgekehrt die Anziehungskraft, die sie auf die Kund-
schaft ausüben, so daß an Ausgaben für Reisende viel gespart werden
kann. Auch das Bankkapital wird sich hier reichlich zusammenfinden
und Kredit zu den günstigsten Bedingungen anbieten. Aber je mehr
824 Literatur.
die Agglomeration die Industrie und mit ihr die Bevölkerung zusammen-
zieht, um so stärker entwickeln sich auch die aus ihr selbst hervor-
gehenden Gegentendenzen, die sämtlich ihre Quelle in der Verteuerung
des Bodens, also in der Grundrente haben. Dadurch kann schließlich
die Deglomeration das Uebergewicht erlangen, ein Teil der Industrie
sich vielleicht veranlaßt sehen, seinen Standort aus den Städten wieder
auf das Land zu verlegen. Wie die Arbeitsorientierung eine Ablenkung
der Industrie von dem transportmäßigen Minimalpunkt bedeutet, so
stellt die Agglomeration eine zweite ablenkende Kraft dar, die die
erstere verstärken oder ihr entgegenwirken kann. Die großen Arbeits-
plätze üben als solche schon eine agglomerierende Wirkung aus, doch
betrachtet der Verfasser diese als eine zufällige, nicht aus den
spezifischen Agglomerativgründen hervorgehende. Die Größe der Er-
sparnis, die aus der Agglomeration entsteht, hängt von dem „Form-
werte“ des Produkts ab. Dieser Formwert beruht einesteils auf den
eigentlichen Arbeitskosten und anderenteils auf den Maschinenkosten, zu
denen nicht nur Tilgung und Verzinsung des stehenden Kapitals, sondern
namentlich auch die Kosten des Kraftverbrauchs gehören. Nur In-
dustrien mit hohem Formwert des Produktes können hohe Agglomera-
tionseinheiten und eine starke prozentmäßige Kompression der Kosten
schaffen. Von den beiden Faktoren jedoch, aus denen sich der auf
die Produkteinheit bezogene Formwertindex bildet, enthält der Maschinen-
formwert ein auf die Agglomeration negativ wirkendes Element in dem
steigenden Brennstoffverbrauch, durch den das Standortsgewicht erhöht
wird. Daher bietet sich als geeignetes Kriterium für die Agglomerier-
barkeit eine nicht auf die Einheit des Produktgewichts, sondern auf
die des Standortgewichts bezogene Verhältniszahl, die der Verfasser
den „Formkoeffizienten“ nennt, und man kann nun sagen: Industrien
mit hohem Formkoeffizienten haben starke, Industrien mit niedrigem
schwache in ihrem Charakter liegende Agglomerierbarkeit.
Die einzelnen Industrien schaffen nun aber im allgemeinen nicht
ein fertiges Endprodukt in einem einzigen Prozeß, sondern sie sind in
mehrere Produktionsstufen zerlegt, auf denen selbständige Betriebe ihr
Erzeugnis immer an die nächst höhere weitergeben. Jede Stufe hat
aber ihre besonderen wirtschaftlichen Bedingungen und für jede kann
es daher auch einen Standort mit minimalen Transportkosten und
arbeitsmäßige und agglomerative Ablenkungen geben. Der Verfasser
kommt hier im allgemeinen zu dem Satze, daß vom Standpunkt der
reinen Transportorientierung für eine Produktion, die technisch zer.
schlagbar“ ist, der einheitliche Produktionsstandort Ausnahme, die Zer-
schlagung in mehrere Standorte aber die Regel sei. Auf jeden Einzel-
standort aber können dann Arbeitsorientierung und Agglomeration
verschiebend einwirken. Aber auch die selbständigen Produktionspro-
zesse laufen nicht einfach nebeneinander her, sondern greifen mannig-
fach ineinander, wodurch ebenfalls ihre örtliche Verteilung beeinflubt
wird. Als Hauptformen dieser Wechselbeziehungen unterscheidet der
Verfasser die „Verkoppelung“, die „Materialverbundenheit“ und die
„Absatzverbundenheit*. Den Schluß des Werkes bildet eine Betrach-
Literatur. 825
tung der Industrie im Gesamtwirtschaftskörper, die von einer Kon-
struktion der gesellschaftlichen Schichtung und eines allgemeinen Lage-
rungsmechanismus ausgeht. Hier stellt sich nun aber die große Lücke
in der reinen Theorie heraus: die Arbeitsplätze und ihre Kostendiffe-
renzen sind nichts fest Gegebenes, über ihre Entstehung und Entwick-
lung gibt die reine Theorie keinen Aufschluß. Hier muß die auf die
Beobachtung des Tatsachenmaterials gestützte realistische Theorie ein-
greifen, und dann erhebt sich die Frage, welchen Einfluß das historisch
gegebene kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem die Arbeitskraft als
eine „Ware“ behandelt wird, auf die lokale Gruppierung der Arbeiter-
schaft ausübt. In dem zweiten Teile des Werkes soll dieses Problem
seine Erörterung und überhaupt die Theorie ihre Anwendung auf die
empirische Gestaltung der wirtschaftlichen Zustände finden. Man darf
gespannt sein, wie der Verfasser die sich hier ergebenden Schwierig-
keiten überwindet. Diese Schwierigkeiten entstehen vor allem dadurch,
daß alle bedeutenderen Industrien nicht nur unter nationalwirtschaft-
lichen, sondern unter weltwirtschaftlichen Existenzbedingungen stehen.
Die Standortslehre ist ohne Zweifel zunächst nur für ein einzelnes Land
und Volk aufzustellen, weiter sind dann aber die von außen kommenden
Einwirkungen abzuwägen.
Viele Industrien beziehen ihre Rohstoffe aus fremden Weltteilen,
und fast alle arbeiten nicht für einzelne „Konsumplätze“, sondern für
den Absatz in einem weiten, In- und Ausland umfassenden Kreise.
Besonders gilt dies von der großeu Eisenindustrie, die Schienen, Ma-
schinen und Konstruktionen auf Grund von Bestellungen und Sub-
missionen nach allen Ländern liefert. Aber auch z. B. die bergische Klein-
eisenindustrie, die gleichmäßig produziert, beschickt in ihrer Gesamtheit
von ihrem Bezirk aus den ganzen Weltmarkt, wenn auch die einzelnen
Firmen — Fabrikanten oder Verleger — ihre Kundschaft meistens nur
in einem bestimmten Gebiet haben. Für den ausländischen Rohstoff
wird man die Haupteinfuhrhäfen als „Lager“ betrachten können, für
Baumwolle z. B. Bremen und Hamburg, für indische auch Triest. An
diesen Plätzen bestehen, etwa auf Grund der „ceif“-Clausel, für die
gleiche Warenqualität einheitliche Preise und die höheren Transport-
kosten der aus größerer Entfernung auf den Markt kommenden Ware
werden von den betreffenden Produzenten getragen. Was den Absatz
der Industrieerzeugnisse betrifft, so ist zu erwägen, daß er keineswegs
mit gleichmäßigem Gewinn auf die Mengeneinheit erfolgt. Die Waren
treten auf entfernteren Märkten in Konkurrenz mit solchen, die unter
günstigeren Transportbedingungen stehen, und sie müssen dann selbst
die Mehrkosten des Transports übernehmen. Insbesondere gilt dies von
den oben bezeichneten Produkten der großen Eisenindustrie. Ueber-
haupt wird in der realistischen Theorie auf den Gewinn und den spe-
zifischen, d. h. auf die allgemeine Gewichtseinheit bezogenen Wert der
Produkte größere Rücksicht genommen werden müssen. Der Gewinn
berechnet sich in Prozent des Wertes; je höher dieser ist, um so
geringer ist der Prozentsatz, der auf die Transportkosten der Gewichts-
einheit entfällt und um so weiter kann der Transport ausgedehnt werden,
826 Literatur.
ohne daß der Gewinn unter das noch annehmbare Minimum herabge-
drückt wird. Bei Waren mit sehr hohem spezifischen Wert ver-
schwindet daher der Einfluß der Transportkosten auf den Standort fast
vollständig, zumal wenn auch der Rohstoff hochwertig ist. Daß Pforz-
heim und Hanau Hauptsitze der Goldwarenindustrie, Krefeld ein Haupt-
zentrum der Seidenindustrie geworden, ist von der theoretischen Ge-
staltung der Transportorientierung unabhängig geschehen. Ueberhaupt
sind viele Industriezentren aus gewissermaßen zufälligen Ansammlungen
hausgewerblicher Betriebe entstanden, oft nur sehr wenig begünstigt
durch positive lokale Vorteile und vielleicht mehr durch das negative
Moment der geringen landwirtschaftlichen Nutzbarkeit des Bodens be-
einflußt. Diese Standorte erlangten dann aber den Vorteil einer in ihrem
Gewerbe geschulten und leistungsfähigen Arbeiterbevölkerung und die
weitere Agglomerierung vollzog sich durch die Verbesserung der Technik
und die kaufmännisch-kapitalistische Organisation des Absatzes und der
Vorteile der lokalen wirtschaftlichen Konzentrierung. Diese Industrie-
zentren wirkten nun ihrerseits auf die ‘Gestaltung des Transport-
apparates ein, und viele Bahnen durch schwieriges gebirgiges Gelände,
wie z. B. die nach Remscheid und Solingen, wären sicherlich nicht
gebaut worden, wenn nicht bereits vorhandene wichtige Industrieplätze
sie gefordert hätten.
Ohne Zweifel wird A. Weber in dem zweiten Bande nicht nur die
spezifischen Standortsfaktoren, sondern auch die konkreten historischen
Bedingungen der Entwicklung der Industrieplätze berücksichtigen. Durch
den vorliegenden Band aber hat er sich bereits das Verdienst erworben,
zum erstenmal eine genaue Analyse der überhaupt in Betracht kommen-
den Standortsfaktoren und eine Darstellung der allgemeinen Möglich-
keiten ihres Zusammenwirkens gegeben zu haben. Wie und wie weit
sich diese Möglichkeiten verwirklichen, kann nur aus den Tatsachen
der Erfahrung festgestellt werden. Namentlich wird sich zeigen, daß
das rein transportmälige Standortsnetz nur eine ideale Existenz hat,
daß ihm entsprechende Transportwege vielfach gar nicht vorhanden,
sondern von Anfang an durch diejenigen ersetzt sind, die zu den
durch Arbeitskosten und Agglomeration begünstigten Arbeitsplätzen
führen.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes, 827
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands
und des Auslandes.
1. Geschichte der Wissenschaft. Encyklopädisches. Lehrbücher. Spezielle
theoretische Untersuchungen.
Conrad, Otto, Lohn und Rente. Leipzig und Wien (Deuticke)
1909. 256 SS.
Das vorliegende Buch, zweifellos das Resultat ernster und selb-
ständiger Arbeit, bietet im Wesen ein Gesamturteil des Verf. über
den Vorgang der Verteilung des volkswirtschaftlichen Produktions-
ertrages auf Grund einer sorgfältig ausgearbeiteten Theorie (S. 1—177),
und sodann (S. 178—256) seine daraus folgenden Ansichten über das
Problem der Sozialreform. Methodisch und inhaltlich ist es also ein
in sich geschlossenes Ganzes von viel weiteren Zielen als der Titel
vermuten läßt. Ein Grundgedanke ist es, der zunächst dargestellt,
verteidigt, beleuchtet wird, und dessen Anwendungen sodann erörtert
werden. Seiner Natur nach ist derselbe vor allem eine These über
tatsächliches Geschehen, doch führt er in der Hand des Verf. auch zu
einem Werturteile über dasselbe und schließlich zu praktisch-politischen
Forderungen.
Dieser Grundgedanke läßt sich dahin ausdrücken, daß das Arbeits-
einkommen oder der Lohn seine Erklärung in der produktiven Leistung
des Arbeitenden finde, während das arbeitslose Einkommen oder, wie
der Verf. sagt, die Rente, auf einer Monopolstellung des Bezugsbe-
rechtigten beruhe, sich also als Monopolgewinn begreifen lasse. Die
Haupttypen arbeitslosen Einkommens, auf die wir uns hier beschränken
wollen, sind die Grundrente und der Zins vom Produktivkapital, der
Produktivzins. Und der Kern der theoretischen Ausführungen des
Verf. gilt dem Beweisthema, daß diese beiden Einkommensarten unter
den Begriff der Monopolgewinne fallen, woraus sich dann alles Weitere
ergibt.
Bezüglich der Grundrente schließt sich der Verf. der „Ricardo-
Thünenschen“ Theorie an (S. 22). Dann führt er aus, daß, weil der
brauchbarere Boden begrenzt ist, auch die Konkurrenz auf dem Markte
der Bodenprodukte beschränkt sei. Die Besitzer brauchbaren Bodens
besäßen daher ein Monopol und seien deshalb imstande, den Bodenpreis
über den Kosten zu halten — einen Monopolgewinn zu machen, der
eben die Grundrente bilde. Eine Theorie des Kapitalzinses dagegen
828 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
schafft sich der Autor selbst!). Er definiert das Produktivkapital als
den Komplex produzierter Produktionsmittel und frägt sich, wie es
komme, daß der Unternehmer für seine Produkte mehr erlöst, als zum
Ersatze der Kosten inklusive Risikoprämie, Amortisationsquote und
Unternehmerlohn nötig ist. Nun sei es eine Erfahrungstatsache, daß
die Verwendung von solchem Produktionskapitale gegenüber der Hand-
arbeit Kosten spare, d. h. daß man mit seiner Hilfe dieselbe Produkt-
menge mit geringerem Aufwand an Arbeit erzielen könne. „Das Ziel
aller technischen Verbesserungen, aller Kapitalinvestitionen ist die Ver-
billigung der Produktion“ (S. 39). Die Produktpreise aber bleiben
auch nach der Einführung des Kapitals in den Produktionsprozeß zu-
nächst dieselben, und so ergebe sich eine Differenz zwischen Kosten
und Erlös, die in der Hand des Unternehmers realisiert und dann von
ihm an den Kapitalisten herausgegeben wird — der Zins. Warum aber
wird der Zins durch die Konkurrenz der Kapitalien nicht beseitigt?
Weil die Konkurrenz dazu nicht stark genug, weil sie eben auf die
Kapitalbesitzer beschränkt sei, weil diese ein „Monopol des Kapitals“
besitzen. Wie kommt es jedoch — so hat schon ein Kritiker der
unten zitierten Abhandlung gefragt — daß die Kapitalgüter nicht einfach
soviel wert sind, als ihre Verwendung an Kosten spart, daß also jener
Gewinn, der diese Verwendung zur Folge hat, nicht schon ein Element
ihres Preises bildet? Das sei deshalb ausgeschlossen, weil ihr Preis
gleich ihren Kosten sein müsse, und diese sind ja ex hypothesi geringer
als die der Handarbeit, welche dann durch das Kapital erspart sind.
Die Kapitalgüter spielen, wie der Leser sieht, nach dieser Auffassung
eine doppelte Rolle — als reproduzierbare Güter erstens und als Mittel
zur Erzielung eines Ueberschusses über die Kosten der Produkte
zweitens, letzteres deshalb, weil nur derjenige eine Unternehmertätig-
keit ausüben kann, der über Kapital verfügt, was eben im Sinne des
Verf. mit Beschränkung der Freiheit der Konkurrenz, mit dem Besitze
eines Monopoles gleichbedeutend ist.
Damit ist das Phänomen des Zinses auf dieselbe Grundlage ge-
stellt, die auch die Grundrente trägt, und damit ist die begriffliche
Zusammenfassung beider als „Rente“, sowie ihre scharfe Gegenüber-
stellung zum Lohne und ihre Einreihung in die Gruppe der Monopol-
gewinne begründet. Und daraus leitet der Verf. zunächst gewisse
Folgen des Rentenbezugs ab. Vergleicht man einen Zustand der
Volkswirtschaft, in dem es solches arbeitsloses Einkommen gibt, mit
einem Zustande, in dem es fehlt, so sind die Wirkungen eines Ueber-
ganges vom letzteren zum ersteren gegeben durch die ohne Weiteres
verständliche Kausalkette: Preiserhöhung der Produkte, Einschränkung
der Nachfrage, Einschränkung der Produktion, Entlassung der über-
flüssigen Arbeiter — worauf dann entweder ein „Lohndruck“ seitens
der letzteren folgt, was zum Sinken der Preise, Ausdehnung der Nach-
frage, Ausdehnung der Produktion und so zur Wiederanstellung der
1) Vgl. den Artikel des Verf. über den Kapitalzins in diesen Jahrbüchern 1908,
der alle wesentlichen Elemente der hier besprochenen Darstellung enthält,
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 829
entlassenen Arbeiter führt, oder diese Arbeiter dauernd arbeitslos
bleiben, dann nämlich, wenn der organisierte Widerstand der übrigen
Arbeiter den Lohndruck wirkungslos macht. Das ist nach Conrad
auch die Erklärung des Phänomens der Arbeitslosigkeit. Ferner ergibt
sich daraus unmittelbar seine Ansicht über die Aufgaben und die wirk-
samen Mittel der Sozialreform. Sie liegen in dem „Kampfe gegen das
Monopol“ und bestehen in Einziehung der Rente im Wege der Be-
steuerung, in der Gründung staatlicher Konkurrenzunternehmungen,
staatlichen Preisfestsetzungen, in der Verstaatlichung der industriellen
Betriebe usw. Alles andere, z. B. der Versuch, die Lage der Arbeiter
durch das Mittel des Minimallohnes zu heben, sei notwendig wirkungslos,
sei Pseudosozialreform 1).
Diese Reformvorschläge endlich beruhen in letzter Linie auf Wert-
urteilen über den gegenwärtigen Verteilungsprozeß. Der Verf. verwirft
den Bezug arbeitslosen Einkommens als ungerecht auf Grund des Satzes:
„Jedem nach seiner Leistung“. Unter „Leistung“ nun versteht er nicht
den Nutzen, den das wirtschaftliche Verhalten jemandes stiftet, sondern
das damit verbundene „Opfer an Annehmlichkeit und Wohlfahrt“ (S. 131).
Danach müsse das Nationalprodukt verteilt werden, also nur an die-
jenigen, die Arbeit leisten. Es entgeht ihm allerdings nicht, daß auch
die relative Höhe der Löhne nicht von diesem Momente abhängt, aber
das „Talentmonopol“ sei eben Werk der Natur und müsse hingenommen
werden. Jedenfalls sei nur eine Verteilung nach jenem Prinzipe ge-
recht, und jedenfalls herrsche nur dann freie Konkurrenz, wenn die
Produktionsmittel jedermann zugänglich seien. Und nur freie Kon-
kurrenz in diesem Sinne verwirkliche die Maximalbefriedigung der
Gesellschaft.
Gegen diesen Gedankengang ergeben sich vor allem einige Ein-
wendungen technischer Natur. Vor allem ist beschränkte Konkurrenz
und Monopol nicht dasselbe. Von Monopolisten in dem — einzig
relevanten — Sinne, daß sie monopolistische Preispolitik treiben können,
kann nur dort die Rede sein, wo einzelne Wirtschaftssubjekte oder
Verbände das ganze Angebot einer Ware beherrschen. Ist das nicht
der Fall und besteht wenigstens beschränkte Konkurrenz, so kann sich
der Preis namentlich dann, wenn immerhin eine beträchtliche Anzahl
von Konkurrenten vorhanden ist, weder auf lange noch erheblich von
dem Kostensatze entfernen. Man sieht leicht, wie wichtig dieser
scheinbar unbedeutende Mangel hier wird. Uebrigens verändert sich
dem Verf. sein Monopolbegriff sozusagen unter den Händen, und gegen
Schluß des Buches argumentiert er ganz so, wie wenn es tatsächlich
Kapital- und Grundmonopole im eigentlichen Sinne gäbe. Seine Reform-
vorschläge besonders sind fast ganz diejenigen, welche man gegenüber
wirklichen Monopolbildungen, Trusts z. B., zu empfehlen pflegt. Ein
anderer hierhergehöriger Punkt ist der folgende: Der Verf. erklärt,
Ricardos Grundrententheorie zu akzeptieren. Dieselbe führt aber zu
D Der Verf. hat das zum Teil weiter ausgeführt in dem Artikel „Zwei Irrlehren
der Nationalökonomie“, Oesterreichische Rundschau, 1909.
830 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
dem für Conrad unannehmbaren Schlusse, daß die Rente kein Element
des Produktpreises bildet. Ueber diese Frage gibt es eine ganze
Literatur, der Verf. setzt sich mit ihr jedoch nicht auseinander. Ferner
polemisiert er gegen die Abstinenztheorie des Zinses — als deren
einziger Vertreter Mithoff herausgehoben wird — um dann doch zu-
zugeben, daß „die Menschen zum Sparen eines Ansporns bedürfen“
(S. 129). Hier liegt ein Widerspruch. Denn wozu ein „Ansporn“,
wenn kein „Opfer“ vorliegt? Außerdem sind die gegen die Abstinenz-
theorie angeführten Gründe kaum überzeugend, und an einer Stelle
(S. 130 Fußnote) bricht hier der Gedankengang in sich zusammen.
Sagt der Verf. weiters (S. 124), daß die Rente in seinem Sinne deshalb
keine Vergütung für eine Nutzleistung sein könne, weil sie nicht überall
„eingehoben“ wird, wo eine solche vorliegt, so ist das eine Vernach-
lässigung des wesentlichen Unterschiedes zwischen dem Gesamtnutzen,
den eine produktive Leistung stiftet, und ihrem Grenznutzen, eben jeder
Unterscheidung, die zum Verständnisse der Wert- und Preisbildung
wesentlich ist. Es liegt hier nur ein Spezialfall der altbekannten
„Wertantinomie“ vor, die schon die Klassiker beschäftigte und die gegen-
wärtig als befriedigend aufgeklärt betrachtet werden kann, nämlich der
Antinomie zwischen dem Tauschwerte eines Gutes und seiner Bedeutung
für die Wirtschaft. Heute ist das Argument, daß der Nutzen nicht
Maß des Preises sein könne, weil sehr nützliche Güter keinen Preis
haben, nicht mehr zulässig. Aehnlicher Einwendungen gegen den Ge-
dankengang des Verf. vom Standpunkte des theoretischen Handwerks
aus gibt es noch eine ganze Reihe, so dürfte z. B. seine Polemik gegen
Philippovich nicht haltbar sein.
Aber der Kern der Sache liegt in der Zinstheorie. Vom „Boden-
monopole“ haben wir schon oft gehört, dagegen ist jene, trotz einiger
Anklänge, die sich hier und da in der Literatur finden — Carver,
Hobson — wesentlich neu. Wie steht es um sie? Zunächst ist
wiederum darauf zu verweisen, daß die Unternehmer im allgemeinen
kein Monopol haben, selbst dann nicht, wenn die Unternehmerrolle
an Kapitalbesitz geknüpft ist. Sodann ist das letztere eben durch-
aus nicht der Fall. Immerhin ließe sich vielleicht der eigentliche
Unternehmergewinn daraus erklären, daß nicht jeder die zur Unter-
nehmertätigkeit erforderliche Fähigkeit hat und daß im einzelnen Falle
hier wirklich mitunter von einem „Talentmonopole“ gesprochen werden
könnte. Aber dieser Gewinn würde nicht dem Kapitalisten zufallen,
wäre auch nicht lediglich auf die Mitwirkung des Kapitals zurückzu-
führen. Die Kostenersparung, die die Einführung des Kapitales mit
sich bringt, wirft keinen dauernden Gewinn ab. Denn die sich er-
öffnende Gewinnmöglichkeit hat stets erhöhte Nachfrage nach Kapital
zur Folge, diese erhöhte Produktion und diese erhöhte Kosten. Es
zeigt sich hier, wie wichtig die Frage ist, ob man im „Kostengesetze“
eine letzte Erklärung der Preisbildung oder nur ein „sekundäres Ge-
setz“ sieht: wohl tendieren die Preise danach, sich den Kosten der
Güter anzupassen. Aber diese Kosten variieren mit der produzierten
Menge, und diese hängt von der Nachfrage nach dem Produkte ab.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 831
Und jener Prozeß müßte jene Preisdifferenz, die beim Verf. die Quelle
des Zinses ist, aufsaugen. Conrad meint, daß dieselbe erst dann ver-
schwinden könnte, wenn die Menge des Kapitals unbeschränkt wäre
— und da sie das nicht ist, so schließt er daraus, erstens, daß solange
das nicht der Fall ist, der Zins sich erhalten, und zweitens, daß hier
ein Fall des Monopoles vorliegen müsse. Wäre der erstere Punkt
richtig, dann müßte jeder Preis ein Element des Zinses enthalten,
wäre es der zweite, dann wäre jedes wirtschaftliche Gut zugleich und
ipso facto ein monopolisiertes.
Unter diesen Umständen kann man dem theoretischen Gedanken-
gange des Autors kaum zustimmen. Mit ihm fallen dann auch seine
praktischen Konsequenzen. Ueber das Ideal der Gerechtigkeit in der
Volkswirtschaft kann man freilich sehr verschiedener Ansicht sein,
Allein welche praktische Bedeutung kann einem Ideale zukommen, das
sein Autor selbst desavouiert einmal durch das Geständnis, daß es
selbst unter den Arbeitern undurchführbar sei infolge der Tatsachen
der „Talentmonopole“ und sodann durch das weitere Geständnis, daß
der Zins volkswirtschaftspolitisch zweckmäßig sei, weil sonst niemand
mehr sparen würde? Welchen Zweck kann seine sozialpolitische Be-
kämpfung haben, wenn das der Fall ist? Statt die Verwerflichkeit
des kapitalistischen Verteilungsprozesses und die Unzulänglichkeit der
Darstellung, die er bisher gefunden hat, aus seinem Gedankengange
zu folgern, hätte der Autor an dem letzteren selbst irre werden müssen.
Gerade die große Gründlichkeit der Darstellung zieht seine Mängel ans
Licht — fast könnte man eben darin ein Verdienst des Buches sehen.
Czernowitz. J. Schumpeter.
Adler, Max, Der Sozialismus und die Intellektuellen. Wien, Ignaz Brand & Co.,
1910. gr. 8. 79 SS. M. 1.—.
Behrens, Franz (Reichst.-Abg.), Wandlungen in der Sozialdemokratie? Ein
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Conrad, J. (Prof.), Grundriß zum Studium der politischen Oekonomie. 4. Teil:
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Kritik der politischen Oekonomie‘ herausgeg. von Karl Kautsky. 3. (Schluß-)Bd. Von
Ricardo zur Vulgärökonomie. Stuttgart, J. H. W. Dietz Nachf., 1910. 8. XIV—602 SS.
M. 7,50. (Internationale Bibliothek. Bd. 37a.)
832 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Neurath, Otto, und Anna Schapire-Neurath, Lesebuch der Volkswirt-
schaftslehre. 2 Teile. 1. Teil. (Plato bis Ricardo.) 2. Teil. (Sismondi bis George.)
Leipzig, Dr. Werner Klinkhardt, 1910. gr. 8. VIII—231, VII—287 SS. Je M. 3.—.
Thieme, Erich, Die Sozialethik John Stuart Mills. Diss. Leipzig, Ernst Wiegandt,
1910. 8. 112 SS. M. 1,25.
Verhandlungen des Vereins für Soeialpolitik in Wien, 1909. I. Zum Ge-
dächtnis an Georg Hanssen, von G. F. Knapp. — U. Die wirtschaftlichen Unternehm-
ungen der Gemeinden, mit Referaten von C. J. Fuchs, P. Mombert und M. Weiss. —
DI Die Produktivität der Volkswirtschaft, mit Referaten von E v. Philipporich,
O. Kammerer, C. Ballod, J. Esslen und Fr. Freiherrn v. Wieser. Mit zahlreichen
Schaubildern. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. VI—637 SS. M. 14.—.
(Schriften des Vereins für Socialpolitik. Bd. 132.)
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Vereine zu Hannover. Winter-Semester 1908/09. Hannover, Adolf Sponholtz (1910).
8. III—103 SS. M. 1,50.
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90 pp. 1/.—.
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Mill, John Stuart, Letters. Edited with an introduction by Hugh S. R. Elliott.
With a note on Mill’s private life by Mary Taylor. 2 vols. London, Longmans, Green,
and Co., 1910. 8. XLVI—312, 408 pp. 21/.—.
Wicksteed, Philip H., The common sense of political economy; including a
study of the human basis of economic law. New York, The Macmillan Company, 1910.
8. XI—702 pp. $ 4,25.
2. Geschichte und Darstellung der wirtschaftlichen Kultur.
Imle, F., Der Bleibergbau von Mechernich in der Voreifel. Eine
wirtschafts- und sozialpolitische Studie Jena (Gustav Fischer) 1909.
XI, 226 SS. mit einer Skizze.
Das Thema, das die Verf. sich für die vorliegende Arbeit gewählt
hat, ist sicherlich ein besonders interessantes und dankbares. Mindestens
seit den Zeiten der Römer ist am Mechernicher Bleiberg Bergbau be-
trieben worden, und lange Zeit hindurch galt dieses Gebiet als eines
der wichtigsten Bleierzreviere Europas. Gerade bezüglich des Erz-
bergbaus ist die wirtschaftswissenschaftliche Litteratur äußerst dürftig,
und das ist um so mehr zu beklagen, als dieser Gewerbezweig besonders
interessante, aber auch besonders komplizierte, schwer zu ergründende
Verhältnisse aufweist. Leider kann aber die Schrift von Imle als eine
sachlich erschöpfende, wissenschaftlich einwandfreie Darstellung des
Mechernicher Bleibergbaues nicht angesehen werden. Das mag im
folgenden etwas ausführlicher begründet werden, zumal das Buch mir
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 833
typisch zu sein scheint für die unwissenschaftliche Art, in der häufig
auf Grund unzureichender Unterlagen schwerwiegende Urteile über
verwickelte wirtschaftliche Fragen abgegeben werden.
Der bestgelungene Teil des Buches ist die Darstellung der älteren
Entwicklung des Mechernicher Bergbaues. Sehr anschaulich ist hier
geschildert, wie sich allmählich an die Stelle des alten, zersplitterten
Eigenlöhnerbetriebes hauptsächlich infolge technischer Notwendigkeiten
die kapitalistische Unternehmung setzte und wie eine immer weiter-
gehende Konzentration dahin führte, daß schließlich eine einzige große
Firma fast den ganzen Bergwerksbetrieb der Gegend beherrschte. Daß
wir über manche wichtige Punkte, so vor allem über den Vertrieb der
Erze, nur sehr spärlich Auskunft erhalten, ist bedauerlich, erklärt sich
aber wohl aus den dürftigen Angaben der Quellen. Allerdings hat die
Verf. auch manches Material übersehen. So sind nicht benutzt: ver-
schiedene Aufsätze tiber den Mechernicher Bleiberg im Journal des
Mines Bd. 14 (1803), Bd. 16 (1804), Bd. 22 (1807), Bd. 27 (1810);
v. Oeynhausen u. v. Dechen, Der Bleiberg bei Commern, im Archiv
für Bergbau und Hüttenwesen, Bd. 9 (1825); Denkwürdiger und nütz-
licher Rheinischer Antiquarius, Abt. 38, Bd. 13, S. 121—126. Hervor-
gehoben sei auch die Untersuchung des Einflusses, den die wechselnde
Gesetzgebung auf die Gestaltung des Bergbaues gehabt hat. Etwas zu
breit für die vorliegende Studie sind aber die Ausführungen in $ 8
über die Unterstellung unter das preußische Berggesetz, da dieses
Gesetz für den Mechernicher Bergbau keine so bedeutsamen Neue-
rungen brachte, wie für andere preußische Gebiete. Erwünscht wäre
es gewesen, wenn die S. 13 ff. behandelte Bergordnung von 1578
im Wortlaut wiedergegeben wäre, dasselbe gilt von dem S. 22£.
erwähnten Vergleich von 1661. Mindestens hätte angegeben werden
müssen, wo diese Materialien veröffentlicht sind. Zu umfangreich
scheinen mir (das gilt auch für die Darstellung der späteren Entwicklung)
die Ausführungen über die Technik des Bergbaues und der Aufbereitung.
Hier hätte manche rein technische Darlegung weggelassen und das
übrige in die wirtschaftliche Schilderung hineingearbeitet werden sollen.
Falsch ist die S. 4 gegebene Deutung des Ausdrucks „Knotten“, ebenso
die S. 15 gegebene Erklärung für „Reitmeister“. Auf S. 18 hätte
wohl der Ausdruck „Bergtreiber“, auf S. 21 das Wort „Bergpächter“
näher erläutert werden müssen.
Besonders dankenswert wäre eine gründliche Darstellung der
neueren Entwicklung des Mechernicher Bergbaues gewesen, zumal die
wirtschaftliche Entwicklung des Mechernicher Bergwerksaktienvereins,
der nach und nach fast alle Gruben vereinigte, einem sehr starken
Wechsel unterworfen war. Als die Gesellschaft 1861 gegründet wurde,
stellte man ihr allgemein ein besonders günstiges Prognostikon.
Längere Zeit hindurch hat sie dann auch eine gute Entwicklung ge-
nommen und hohe Dividenden verteilt. Später aber trat ein Umschwung
en. Seit dem Geschäftsjahr 1892 sind überhaupt keine Dividenden
mehr gezahlt worden. Dagegen wurde 1895 das Aktienkapital von
M. 9600000 auf M. 6400000 und im Jahre 1902 sogar auf M. 1600 000,
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 53
834 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
d. h. also auf ein Sechstel des ursprünglichen Betrages herabgesetzt.
Auf die Frage nach den Ursachen dieses Rückganges findet man eine
bemerkenswerte Antwort in einem (der Verf. unbekannt gebliebenen)
Gutachten, das ein hervorragender Sachverständiger, Professor Lengemann-
Aachen, der Gesellschaft im Jahre 1902 erstattet hat. (Das gedruckte
Gutachten wurde der ordentlichen Generalversammlung dieses Jahres
vorgelegt.) Lengemann sieht die Ursachen des Rückganges in dem
Niedergang der Bleipreise, dem Heruntergehen des Erzgehaltes, der
Verschlechterung in der Qualität der Erze und außerdem in Fehlern
der früheren Leitung. „Es muß unumwunden die bestimmte Anklage
gegen die Betriebsleitung früherer Zeiten erhoben werden, daß sie es
verhindert hat, zur rechten Zeit und in den Jahren der höchsten wirt-
schaftlichen Blüte Vorsorge zu treffen für spätere Jahre und Aufschlüsse
zu machen, die in Benutzung genommen werden konnten, wenn die
guten und bis dahin bekannten Mittel abgebaut waren. Es ist in den
guten Jahren nur immer abgebaut worden, um hohe Gewinne zu er-
zielen, und es ist nichts oder doch äußerst wenig geschehen, um dem
Betrieb einige Nachhaltigkeit zu sichern, was doch um so nötiger war,
als die Erze an und für sich sehr arm sind und eine Massengewinnung
mit rapid fortschreitendem Verhieb erheischen, und als es längst fest-
stand, daß arme Zonen mit reichen wechseln.“ Auch manche positiven
Maßnahmen der früheren Leitung seien verfehlt gewesen und bereiteten
dem jetzigen Betriebe die größten Schwierigkeiten. „Rechnet man zu
diesen sich aus dem früheren Betrieb und dessen Fehlern ergebenden
Betriebsschwierigkeiten noch den in der Mitte der 90er Jahre ein-
getretenen Arbeitermangel, so wird man in der Hauptsache die Gründe
aufgeführt haben, welche zu der jetzigen Kalamität führen mußten.“
Andererseits hob Lengemann damals hervor, daß ein großer Teil der
Konzessionsfelder unaufgeschlossen sei und möglicherweise noch große
Reichtümer bergen könne. Er sprach deshalb am Schlusse seines
Gutachtens die Hoffnung aus, „daß ein Werk von der Bedeutung des
Mechernicher Werks, das nach seiner Stellung unter den deutschen
Bleiwerken gewissermaßen eine Mansfelder Gewerkschaft im Westen
Deutschlands repräsentiert, diese Krisis überwindet, wenn die Beteiligten
Vertrauen zur Sache behalten und sich durch temporäre Mißerfolge
nicht abschrecken lassen“. Zu einem erheblichen Aufschwung ist es
indessen seitdem nicht mehr gekommen. In der Generalversammlung
vom 30. Mai 1908 wurde die Liquidation der Gesellschaft beschlossen,
der Betrieb ist aber bis heute, wenn auch in beschränktem Umfange,
fortgeführt worden.
Ich habe diese Verhältnisse etwas näher geschildert, um zu zeigen,
daß hier ein sehr interessantes wirtschaftliches Problem vorliegt und
daß eine sorgfältige Schilderung dieser Entwicklung außerordentlich
wertvoll sein würde. Leider versagt die Verf. in dieser Hinsicht fast
vollständig. Abgesehen von der Darstellung der immer weitergehenden
Konzentration und der später noch zu erwähnenden Darstellung der
Arbeiterverhältnisse, erhalten wir auch nicht einmal einen oberflächlichen
Ueberblick über die geschäftliche Entwicklung des Mechernicher Berg-
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 835
werksvereins. Die lange Dividendenlosigkeit und die zweimalige
Kapitalsreduktion werden, so unglaublich das klingt, überhaupt nicht
erwähnt. Keinerlei Angaben finden sich tiber die Höhe der früher
gezahlten Dividenden u. dgl. Die Verf. erklärt diesen Mangel damit,
daß die Verwaltung ihr jegliche Auskunft verweigert habe und daß ihr
wegen der „Oeffentlichkeitsscheu“ der Gesellschaft nur die beiden
letzten Jahresberichte zugänglich gewesen seien. Das ist aber keine
ausreichende Entschuldigung. Um in die Tiefe zu gehen, hätte man
sicherlich des Materials der Geschäftsleitung bedurft, aber eine wenigstens
einigermaßen orientierende Darstellung des Gesamtverlaufs und der
darauf einwirkenden Faktoren hätte sich auch auf Grund der Geschäfts-
berichte, wie ich mich durch Einsicht in eine Reihe derselben überzeugt
habe, geben lassen. Wenn die Verf. diese Berichte nicht von der
Firma bekam, so hätte sie sie anderweitig einsehen müssen. Ein
nationalökonomischer Autor müßte doch wissen, daß die Aktien-
gesellschaften in Deutschland ziemlich weitgehenden Publizitäts-
vorschriften unterworfen sind und daß sie danach jedes Jahr ihren
Geschäftsbericht zu dem — allgemein zugänglichen — Handelsregister
einzureichen haben. Auch schon aus den Börsenhandbüchern hätte sie
sehr viel ersehen können. So enthält z. B. das „Handbuch der deutschen
Aktiengesellschaften“ eine ganze Reihe von Angaben, die der Verf.
unbekannt geblieben sind. Einiges Material hätte sich auch aus der
Fachpresse sammeln lassen, vgl. z. B. den Aufsatz von Wegner, Die
Ursachen des Niederganges des rheinischen Bleierzbergbaues in „Der
Erzbergbau“, 1908, S. 289f., 311ff. Im einzelnen ist zu diesem Teile
der Imleschen Ausführungen zu bemerken: Die Angabe, daß der
Mechernicher Bergwerksaktienverein 1859 gegründet sei (S. 58), ist
unrichtig. Wohl haben die vier Inhaber der Firma „von Meinertzhagen
und Gebr. Kreuser“ schon in diesem Jahre einen Vertrag wegen
Gründung einer Aktiengesellschaft geschlossen, aber erst 1861 (das
Ministerium von der Heydt stand der Gründung von industriellen
Aktiengesellschaften, besonders der Ueberführung bereits bestehender
Unternehmungen in die Aktiengesellschaftsform bekanntlich sehr wenig
freundlich gegenüber) gelang es, die staatliche Genehmigung zur Gründung
der Aktiengesellschaft zu erlangen. (Das Gründungsstatut ist abgedruckt
im Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Aachen 1861, S. 93 ff.).
Die Angaben, die S. 70 über das finanzielle Resultat des Geschäfts-
jahres 1906 gemacht werden, lassen darauf schließen, daß die Verf.
mit dem kaufmännischen Rechnungswesen nicht vertraut ist. Verluste
„aus den Abschreibungen zu decken“ ist unmöglich. Die auf S. 77f.
gegebene Uebersicht über die Entwicklung der Bleipreise, diesen für
den vorliegenden Fall besonders wichtigen Faktor, ist ziemlich wertlos,
weil die Ziffern nicht miteinander vergleichbar sind. Sonderbar und
geschmacklos ist es, daß der letzte Generaldirektor in dem ganzen
Buche nicht als solcher, sondern als „der Bergrat“ bezeichnet wird.
(Er ist früher staatlicher Bergbaubeamter gewesen). Erst auf S. 158
erfährt der Leser, daß damit der Direktor der Aktiengesellschaft ge-
meint sei; bis dahin wundert er sich baß, was denn ein Bergrat auf
53*
836 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes,
einem Privatwerk zu sagen habe. Nicht näher behandelt werden die
der Gesellschaft gehörige Bleihütte, die auch fremde Erze in großem
Umfange verhüttet, und die sonstigen Nebenbetriebe.
Von allen den Faktoren, die für den wirtschaftlichen Erfolg des
Bergbaues in Betracht kommen, betrachtet die Verf. genauer nur einen,
allerdings besonders wichtigen, nämlich die Arbeiter- (und Beamten-)
verhältnisse. Fast die Hälfte der Schrift entfällt auf die Darstellung
des Arbeiter- und Knappschaftswesens. Auf dem Titel ist die Schrift
zwar als „sozialpolitische“ Studie bezeichnet, aber es handelt sich dabei
nur um eine — allerdings auch sonst vielfach übliche — mißbräuchliche
Anwendung des Ausdrucks „politisch“, denn das Vorwort sagt: „Unser
Ausgangspunkt war und blieb der Betrieb und die Produktion, die
Arbeiter haben uns nur insoweit beschäftigt, als sie eben Produktions-
faktor sind“. Ihr Material über diese Fragen hat die Verf. sich durch
Befragen der im Verbande christlicher Bergarbeiter organisierten
Arbeiter verschafft. Zunächst hat sie sich bei einer Reihe von Arbeitern
mündliche Auskunft geholt und dann an etwa den dritten Teil der
Belegschaft Fragebogen versandt. Von diesen Fragebogen sind 175
brauchbar beantwortet zurückgekommen. Diese 175 Antworter stellten
nach ihren Angaben 11,6 Proz. der Belegschaft dar. (Wie man S. 126
erfährt, befanden sich unter den 175 aber auch noch 12 Berginvaliden.)
Die Antworten dieser Enquete sind zweifellos teilweise recht interessant
und sie seien zu aufmerksamer Lektüre empfohlen. Andererseits darf
natürlich nicht verkannt werden, daß derartige, einander übrigens vielfach
widersprechende, Angaben eines kleinen Teiles der Arbeiterschaft kein
genügend zuverlässiges Material bilden, um daraus in einer wissen-
schaftlichen Arbeit so weittragende Folgerungen zu ziehen, wie das die
Verf. getan hat.
Ich gehe auf die Ausführungen über die Beamten, denen Mangel
an bergmännischer Schulung vorgeworfen wird (S. 63, 135, 158), nicht
weiter ein, weil der Fernstehende das nicht beurteilen kann. Dagegen
sollen die Arbeiterverhältnisse und das Urteil der Verf. darüber noch
gewürdigt werden. Die Mechernicher Arbeiterverhältnisse erhalten
dadurch ihr Gepräge, daß die Arbeiter zum großen Teil in Mechernich
und den umliegenden Dörfern eigenen Grundbesitz haben, daß sie zum
Teil weite Wege vor und nach der Schicht zurücklegen müssen, daß
sehr viele neben der bergmännischen noch landwirtschaftliche Arbeit
verrichten, daß die Löhne niedriger sind als die Löhne der Kohlen-
bergleute, daß infolgedessen vielfach die jüngeren, kräftigeren Leute
in andere Reviere abwandern und die durchschnittliche Leistungs-
fähigkeit der Arbeiterschaft dadurch ungünstig beeinflußt wird. Diese
Verhältnisse sind aber nicht, wie die Verf. meint, etwas ganz
speziell für Mechernich Eigenartiges, sondern sehr vieles, was für
dieses Gebiet gilt, trifft auch auf zahlreiche andere Erzbergbau-
reviere zu. (Vgl. z. B. Einecke, Der Eisenerzbergbau und der Eisen-
hüttenbetrieb an der Lahn, Dill und in den benachbarten Revieren.
Jena 1907, S. 36 ff.) Allerdings wird wohl die Abwanderung
leistungsfühiger Leute, über die auch die Geschäftsberichte mehrfach
klagen, infolge der bereits vorgenommenen Betriebseinschränkung und
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.. 837
der in Aussicht stehenden noch weitergehenden Einschränkungen sich
in Mechernich besonders fühlbar machen. Die Kritik, die die Verf. an
den Arbeiterverhältnissen übt, läßt sich etwa so zusammenfassen: Die
Arbeiter würden vom Werke nicht hoch genug bezahlt und nicht gut
genug behandelt; andererseits leisteten sie auch dem Unternehmen
nicht genug. In dem weitgehenden landwirtschaftlichen Nebenerwerb
liege der Hauptschaden, und zwar beklagt die Verf. diese Verbindung
von landwirtschaftlicher und bergbaulicher Tätigkeit weniger im Interesse
der Arbeiter als in dem des Unternehmens (vgl. z. B. S. 153). Sie
glaubt, hierin die Hauptursache des geschäftlichen Rückganges ge-
funden zu haben. Was während 17-jähriger Dividendenlosigkeit alle
Beteiligten nicht herausgefunden haben, das hat die Vert, die weder
die Gruben jemals befahren hat noch die wirtschaftliche Entwicklung
des Werkes näher kennt, entdeckt. Auf S. 184 heißt es: „Wir sind
der Auffassung, daß der geschäftliche Rückgang des Bergbaus
unserer Gegend zum großen Teil seine Ursachen in ungesunden
sozialen Einrichtungen hat, die wiederum die Konsequenz einer ge-
wissen sozialen Unreife sind“. Noch zuversichtlicher heißt es im
Vorwort: „An guten Arbeiter- und Beamtenverhältnissen könnte dieser
Zweig des deutschen Bergbaus zum Wohle der Beteiligten und der
ganzen Gegend, weiterwirkend des Vaterlandes gesunden“ (S. VII,
ähnlich S. 121). Dazu ist folgendes zu bemerken: Einerseits spricht
aus diesen Aeußerungen ein großes Maß von geschäftlicher Naivität,
Daß die Arbeiterverhältnisse einen großen Einfluß auf die geschäftlichen
Resultate haben, ist sicher; aber ebenso sicher ist, daß derjenige, der
die in Betracht kommenden geologischen, bergmännischen und Markt-
verhältnisse nicht kennt, völlig außerstande ist, ein Urteil darüber abzu-
geben, ob durch andersartige Bezahlung und Behandlung der Arbeiter
das Unternehmen aus einem schlecht rentierenden zu einem gut
rentierenden gemacht werden konnte, Zum anderen ist zu fragen:
Wie soll denn nach Ansicht der Verf. die Verbindung von bergbaulicher
und landwirtschaftlicher Tätigkeit aus der Welt geschafft werden?
Glaubt die Verf., daß eine Erhöhung der Löhne die Folge haben würde,
daß die Arbeiter nun sämtlich mit einem Male ihren Grundbesitz ver-
kaufen und allen Nebenerwerb aufgeben würden? Oder soll das
Unternehmen denn alle diejenigen Arbeiter, die sich von ihrem Grund-
besitz nicht trennen wollen, entlassen und andere Arbeiter von auswärts
heranziehen? Würde nicht sowohl das eine als auch das andere für
die jetzigen Arbeiter und die ganze Gegend von unheilvollem Ein-
flusse sein? Und was würde gar die Folge sein, wenn kurz darauf
der Bergbau doch eingestellt werden müßte?
Manche Aeußerungen zeigen, daß die Verf. auch bezüglich der
Arbeiter- und Beamtenverhältnisse vielfach mangelhaft unterrichtet ist.
S. 143 hat sie den Ausdruck „Ortsältester“ ganz falsch verstanden.
Der Ortsälteste der Normalarbeitsordnung für den Ruhrbezirk ist genau
dasselbe wie der Kameradschaftsälteste der Mechernicher Arbeitsordnung.
Die Aeußerung über den „bergakademisch gebildeten, gesetzlichen
Steiger“ (S. 186) und die mit dem vorstehenden übrigens in Widerspruch
stehende Angabe, daß der gesetzliche Steiger „ein Technikum und eine
838 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Bergbauschule“ besucht haben müsse, zeigen, daß die Verf. über die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Bekleidung eines Steigerpostens
nicht informiert ist. An einer Stelle tritt ein bemerkenswerter Mangel
an Objektivität zutage. Es handelt sich dabei um folgendes: Neuer-
dings ist ein kleiner Teil der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert
worden. Dazu bemerkt die Verf.: Dieser Zusaumenschluß scheine
bereits einen günstigen sozialethischen Einfluß ausgeübt zu haben.
„Während früher grauenhaftes Mißtrauen den Arbeiter vom Arbeiter
trennte (S. 37 lautet das Urteil allerdings ganz anders), und jeder nur
nach seinem Privatvorteil strebte, treten sich die Leute jetzt allmäh-
lich näher und lernen den Wert gemeinsamen Handelns schätzen. Vor
allem aber sei das persönliche Ehrgefühl erwacht und mit ihm vielfach
das Bewußtsein der Pflichten gegenüber der Firma“ (S. 136). Ganz
im Gegensatz hierzu spricht sich der der Verf. bekannte Geschäftsbericht
pro 1906 aus. Dort wird „die merkliche Abnahme der Leistung pro
Mann und Schicht“ unter anderem zurückgeführt auf „die von aus-
wärts in unsere Belegschaft hineingetragene künstliche Erregung der
Unzufriedenheit“. Trotzdem die Verf. andere Angaben des Geschäfts-
berichts sehr ausführlich wiedergibt, verschweigt sie dem Leser diese
Stelle!
Sehr störend ist es, daß die Verf. im Text fast ganz auf Quellen-
angaben verzichtet und sich damit begnügt, zu Beginn der Arbeit die
benutzten Werke zu verzeichnen. Auf genaue Einzelbelege können wir
aber in wissenschaftlichen Monographien nicht verzichten. Der Leser
hat ein gutes Recht darauf, genau zu erfahren, auf Grund welcher
Unterlagen bestimmte Angaben gemacht sind. Uebrigens übt die
Notwendigkeit, Belege zu bringen, auch auf den Autor einen sehr heil-
samen Zwang aus, sich selbst bei seinen Einzelangaben genauer
Rechenschaft darüber abzulegen, ob seine Behauptungen sich aufrecht
erhalten lassen.
Mein Schlußurteil über das Buch lautet: Die Verf. hat sich mit
außerordentlichem Fleiß in die ihr, wie zahlreiche Fehler verraten, sehr
fremde Materie hineingearbeitet. Das Buch bietet infolgedessen viel
Interessantes bezüglich der historischen Entwicklung. Auch die mit-
geteilten Aeußerungen der Arbeiter sind von Interesse. Eine Darstellung
der neueren wirtschaftlichen Entwicklung des Mechernicher Bergbaus
hat die Verf. nicht geliefert; die von ihr abgegebenen Urteile über die
Ursachen des Rückganges und die Möglichkeit eines Wiederaufschwungs
entbehren der Begründung. Nur derjenige, der von der Kompliziertheit
geschäftlicher Fragen, von der großen Fülle der verschiedenen Faktoren,
die auf den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens und ganz
besonders eines Erzbergbaubetriebes einwirken, keine genügende Vor-
stellung hat, kann meinen, daß das vorgebrachte Material eine irgendwie
ausreichende Grundlage bietet, um die geschäftliche Entwicklung und
die Ursachen des Rückganges zu übersehen oder gar beurteilen zu
können, ob, wann und in welchem Umfange die Einstellung des
Betriebes wirtschaftlich angebracht resp. ob bei anderen Geschäfts-
prinzipien künftig auf ein günstigeres Ergebnis zu rechnen ist.
Aachen. Richard Passow.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 839
Georg Caro, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der
Juden im Mittelalter und der Neuzeit, Bd. 1, das frühere
und das hohe Mittelalter. (Schriften herausgegeben von der
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. Grundriß
der Gesamtwissenschaft des Judentums.) Leipzig, Gustav Fock, 1908.
VII u. 514 S., 8°%. Preis 7 M. geb. 8 M.
Es muß zunächst die Frage erhoben werden, ob man von einer
Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und der Neuzeit sprechen
kann, denn eine jüdische Volkswirtschaft gibt es in dieser Zeit nicht
mehr. Mit dem Untergange des alten jüdischen Reiches in Palästina
schwinden dem jüdischen Volke die Grundbedingungen einer eigenen
Volkswirtschaft, die gemeinsame Heimat und der gemeinsame Staat.
Die wirtschaftliche Betätigung der in viele Länder zerstreuten Juden
hat sich seitdem unabhängig voneinander in die Organismen fremder,
selbständiger Volkswirtschaften eingegliedert und ist mit ihnen aufs
engste verwachsen, ihre historische Darstellung ist daher nur im engsten
Zusammenhange mit der Wirtschaftsgeschichte der einzelnen Völker
möglich, und man kann streng genommen nur von einer vergleichenden
Darstellung der Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Stellung
des Juden bei den verschiedenen Völkern und Staaten des Mittelalters
und der Neuzeit reden. In diesem Sinne ist auch die vorliegende Dar-
stellung gehalten, wie sich schon aus den Kapitelüberschriften ergibt.
Die Berechtigung einer solchen zusammenhängenden Betrachtung der
Betätigung und Lage des jüdischen Volkselementes in den einzelnen
Staaten gibt der Umstand, daß die Juden in allen diesen Staaten in
ganz ähnlicher Weise einen Fremdkörper gebildet und sich trotz des
Fehlens jeglicher politischer Gemeinschaft bis heute einen gewissen
Volkscharakter in eigenartiger Weise bewahrt haben.
Das Band, welches sie seit der Zerstörung des Tempels zu Jeru-
salem zusammenhält, ist das gemeinsame Religionsbekenntnis, die Pflege
der; von den Vätern ererbten Lehre und im engsten Zusammen-
hang damit die gemeinsame Abstammung als Kinder Abrahams, d. h.
das Gefühl der gemeinsamen Rasse, ein Moment, das mit dem Verf.
wohl nicht völlig ausgeschaltet werden darf. Im Mittelalter ist jeden-
falls für die Stellung des Juden der religiöse Gegensatz das ausschlag-
gebende Moment gewesen, und die gleiche Situation des Juden, als
Bekenners der mosaischen Lehre, gegenüber dem in dem römischen
Bischof zentralisierten Christentum der Völker des Abendlandes hat
auch eine ähnliche Entwicklung ihrer sozialen und wirtschaftlichen
Lage bei den verschiedenen christlichen Völkern verursacht, da hier
wie dort gleiche Ursachen wirkten. Daß die wirtschaftliche Betätigung
der Juden durch Rasseneigenschaft bedingt gewesen sei, behandelt der
Verf. mit Recht als überwundenen Standpunkt. „Vor allem war es
eine von Kirche und Staat ihnen auferlegte beschränkende Gesetzgebung,
die sie auch wider ihren Willen zwang, bestimmte Berufe zu bevor-
zugen. Von der Urproduktion ausgeschlossen, an gewerblicher Tätig-
keit gehindert, wo der Erwerb von Grundbesitz und der Betrieb von
Handwerken ihnen untersagt blieb, waren sie für ihren Lebensunterhalt
auf den Handel angewiesen (S. 11).“ Zu beachten wäre dabei, daß in
840 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
erster Linie gerade handeltreibende Juden in die abendländischen ger-
manischen Staaten kamen, und ihre Nachkommen diesem Erwerbszweig
von vornherein nahe standen, für den sie auch ohne Zweifel bedeutendere
Fähigkeiten besaßen als der damals in solchen Dingen noch sehr
schwerfällige Germane, und der Jude fand hier ein Erwerbsgebiet, auf
dem ihm der Einheimische keine Konkurrenz machte. Die Betätigung
in Handel und Geldgeschäft wäre daher auch ohne jene sie beschränkenden
Gesetze für die Juden in jenen Gebieten, wenigstens im Anfang, die
nächstliegendste gewesen.
Der vorliegende Band reicht bis zum Zeitalter Innozenz III. ein-
schließlich und zerfällt in zwei Bücher. Buch 1 behandelt die soziale
Stellung und wirtschaftliche Tätigkeit der Juden vom Ausgange des
Altertums bis zum Beginn der Kreuzzüge in fünf Abschnitten: 1) im
ausgehenden Altertum; 2) in den aus der Völkerwanderung hervorge-
gangenen germanischen Staaten; 3) im Orient im Zeitalter Mohammeds
und der Khalifen; 4) im Reiche Karls des Großen; 5) in der früheren
deutschen Kaiserzeit.
Der Verf. legt besonderen Nachdruck auf den Nachweis, daß die
Juden im ausgehenden Altertum auch stark Ackerbau betrieben haben,
und daß es das religiöse Motiv war, das sie im römisch-christlichen
Staate in eine Sonderstellung drängte. Die unter dem Einflusse des
Christentums stehende spätere römische Gesetzgebung hat in dieser
Hinsicht die weittragendsten Wirkungen ausgeübt, indem die Juden
von den öffentlichen Aemtern ausgeschlossen und durch die Gesetze
über das Halten christlicher Sklaven durch Juden im Betriebe der
Grofßgrundwirtschaft lahm gelegt wurden. Im Handels- und Geldge-
schäft wurde die Betätigung des Juden am wenigsten beschränkt, und
so erscheint er auch in den auf dem Boden des alten römischen Reiches
gegründeten germanischen Staaten fast ausschließlich als Handelsmann
und Geschäftsmann. Import fremder, namentlich orientalischer Waren
ist die Haupttätigkeit, daneben an zweiter Stelle das Geldgeschäft.
Der in diesen Ländern als Römer und nicht als Fremder lebende
Jude blieb aber darin für die katholische Kirche „ein disparates Element“.
Die Kirche strebte, ihn, den Mörder Christi, zu vernichten und griff
zu dem Mittel der Zwangsbekehrung, und die von der Kirche geleitete
Gesetzgebung hatte die Absonderung der Juden aus der Gemeinschaft
der Christen zum Ziele. „Auf die Söhne des Lichtes soll kein Schatten
fallen durch Vergesellschaftung mit der Finsternis,“ sagt später Agobard
von Lyon (S. 92). Ein feindliches Rassegefühl war mit dem Verf.
bei jenen Maßnahmen sicher nicht im Spiele, der Rassengegensatz ist
erst in neuester Zeit ein bedeutender Faktor im Völkerleben geworden,
im Mittelalter herrscht allein die kirchliche Idee, und sie ist vor allem
der Juden Verhängnis gewesen.
Buch 2 behandelt das Zeitalter der Kreuzzüge, das große Leiden
für die Judenschaft heraufbeschwur. In dieser von so phantastisch
religiösen Ideen angefüllten Zeit spielte natürlich das religiöse Motiv
bei den ausbrechenden Judenverfolgungen die erste Rolle. Beim zweiten
Kreuzzug aber richtet sich der Angriff der Fanatiker namentlich auch
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslaudes. 841
gegen das wirtschaftliche Gebahren der Juden, gegen das Zinsennehmen,
den Wucher, und durch den vom Papste verheißenen Zinserlaß wurde be-
sonders der Jude getroffen. Bernhard von Clairveaux gebrauchte das
Wort judaisieren — wuchern (S. 223). Der Kirche galt das Zinsennehmen
überhaupt für lasterhaft, und aus den Worten der religiösen Schwärmer
Schlüsse auf einen unheilvollen jüdischen Wucher zu ziehen, ist nach
den Ausführungen des Verf. kaum angängig. Jedenfalls mögen immerhin
in manchen Gegenden natürlicherweise die Schuldner der Juden zahl-
reich gewesen sein, und der Gedanke, sich eines die regelmäßigen
Zinsen fordernden Gläubigers gewaltsam unter dem Schein einer frommen
Tat entledigen zu können, mußte im niederen Volke wirken. Anders
lag es doch bei den Schuldnern vom Herren- und Fürstenstande, sie
konnten die Schulden beim Juden nicht so andauernd drücken, und sie
mußten daran interessiert sein, daß der Jude nicht Schaden litt, schon
um jemanden zu haben, der ihnen bei ihren ständigen Geldverlegen-
heiten Rat schaffen konnte.
Ein besonderes Kapitel behandelt die Reisen des Benjamin von
Tudela.
Der zweite Abschnitt von Buch 2 enthält das Zeitalter Innozenz III.
Charakteristisch für die Stellung der Kirche ist die Aeußerung des
Thomas von Aquino: „Die Juden sind Knechte der Fürsten, und was
sie besitzen, ist durch Wucher erworben; die Fürsten können darüber
frei schalten“ (S. 313). Die Fürsten haben sich das zunutze gemacht.
Interessant sind die englischen Verhältnisse, wo die Juden namentlich
das Geldgeschäft betrieben. Die Juden sind dort des Königs Eigentum,
und ihre Geldgeschäfte eine Einnahmequelle des Staates. Aaron von
Linkoln (1166--1186) nennt der Verf. den ersten großen jüdischen
Finanzmann des Mittelalters (S. 326), er hinterließ bei seinem Tode
Außenstände von ca. 20000 Pfd. Beachtenswert ist die Beziehung
dieser Finanzjuden zur staatlichen Finanzverwaltung, sie erscheinen
als die Bankiers des Königs, welche den Einlauf der Staatseinkünfte dem
Schatzamt vermittelten. Es kam hier zu einer weitgehenden Ausge-
staltung des jüdischen Kreditgeschäftes, bei dem der König als erster
Gewinnbeteiligter erscheint, und das im Judenschatzamt eine Kontroll-
stelle erhielt.
Den Schluß bildet die Darstellung der Verhältnisse in Frankreich
und Deutschland in dieser Periode, für Deutschland lag das Quellen-
material im wesentlichen in den „Regesten zur Geschichte der Juden
im fränkischen und im deutschen Reich bis 1273“ schon gesammelt vor.
Die Bezeichnung „Kammerknechte“ (S. 412) unter Friedrich IL ent-
stammt vielleicht dem Sprachgebrauch der sizilischen Kanzlei. Spanien
ist, um im Zusammenhang behandelt zu werden, für den nächsten
Band zurückgestellt worden.
Ein Anhang (S. 455—514) enthält eine Besprechung der bisherigen
Literatur und die sehr umfangreichen und wertvollen Quellenangaben,
sowie die kritischen Bemerkungen. Der Umstand, das dieser Apparat
abschnittweise sich anordnet, erschwert bisweilen die Benutzung für
Einzelheiten. Die Publikation fördert nicht nur die Kenntnis von der
842 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Geschichte des Judentums, sondern bringt auch wertvolle Beiträge zur
allgemeinen Wirtschaftsgeschichte der europäischen Staaten. Die Materie
wird hier zum ersten Male auf Grund umfassender Quellenstudien auch
mit Benutzung der hebräischen Quellen zusammenhängend behandelt,
dem Verf. ist für die grundlegende Arbeit zu danken.
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5. Gewerbe und Industrie.
Lord Avebury, Staat und Stadt als Betriebsunternehmer. Vom
Verfasser genehmigte deutsche Ausgabe. Mit einem Geleitworte von
Professor Richard Ehrenberg. Berlin (Carl Heymann) 1909. 160 SS.
Mit einem Bildnisse von Avebury.
Lord Avebury ist in Deutschland durch die unter seinem früheren
Namen Lubbock erschienenen Arbeiten über den Ursprung und den
Urzustand der Menschheit usw. bekannt geworden. Die große geistige
Woge, die in England gegen den Freihandel angeht, hat auch ihn, offen-
bar in Verteidigung seiner Jugendideale, zur Feder greifen lassen.
Vor wenig Jahren erschien von ihm ein Buch über den Freihandel.
Die alten wohlbekannten Argumente der Freihandelpartei wurden ohne
jede Vertiefung gegen die Schutzzolltheorie vorgeführt. Von einem
Namen, der an der Spitze der englischen Bankwelt steht, der Handels-
kammerpräsident in der größten Handelsstadt der Welt war, hätte man
erwarten können, daß er wenigstens aus dem Gebiete seiner kauf-
männischen Erfahrung Neues zu den alten Streitfragen habe beitragen
können; aber dem war nicht so. Und was er über die deutsche In-
dustrie und ihre Ausfuhrtendenzen anführte, beruhte auf einer sehr
844 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
oberflächlichen Kenntnis Deutschlands. Das Buch (Staat und Stadt),
wird mit einer unwürdigen Reklame auf Lord Avebury — so werden
seine Orden und Titel aufgezählt — eingeleitet. Eine Seite macht das
Geleitwort von Richard Ehrenberg aus. Wozu, frägt sich der Leser,
braucht ein Gelehrter, von dem vorher auf S. 8 alle möglichen Ver-
dienste um die Welt aufgezählt worden sind, noch eine Einführung
beim deutschen Lesepublikum, und, wenn doch, kann dann eine Seite
genügen? Der Uebersetzer des Buches ist nicht genannt.
Das Buch vertritt ebenso wie der „Freihandel“ eine bestimmte
wirtschafts-politische Tendenz. Von dem Kontinent wehen leider
heute für den freien englischen Geist böse und verderbliche Ideen
nach England herüber, und es besteht sogar die Gefahr, daß diese Ideen
die Köpfe in England verwirren könnten. Dagegen kämpft Avebury
an. War es der Schutzzoll in der Schrift über den Freihandel, so jetzt
die Betriebsunternehmungen der Städte. Avebury vertritt den Stand-
punkt, daß es wirtschaftlich ein verhängnisvoller Fehler sei, wenn Staaten
oder Stadtverwaltungen sich mit Gewerbetätigkeit befassen, einen Stand-
punkt, den „alle Nationalökonomen von Adam Smith bis Fawcett nach-
drücklich betont“ (S. 13) haben. Scharf greift er die städtischen Ver-
waltungen in England an. Die Schulden wuchsen ungeheuer, von 1883/84
bis 1903/04, also in 20 Jahren, seien sie um 276 Mille £ gestiegen.
Gewinne erzielten die Stadtverwaltungen nicht. Nur da, wo Stadtver-
waltungen Monopole besäßen und Preise ansetzen könnten, wie es ihnen
beliebe, sei dies in gewissem Sinne natürlich der Fall. Sie nehmen so
viel, wie ihnen gut dünkt, aus der Tasche der Steuerzahler und nennen
es Gewinn. Die Abrechnungen von 48 Stadtverwaltungen, die Straßen-
bahnen besitzen, zeigten, daß nur 13 überhaupt zu den städtischen
Steuern beitragen, 17 setzten für Abnützung nichts aus und nur 11
geben über 2 Proz. Immer mehr Betriebe gehen aus den Privatunter-
nehmungen in den Gemeindebetrieb über, Das Heer der städtischen
Angestellten schwillt unausgesetzt an und nehmen die Steuern unaus-
gesetzt zu. In 10 Jahren seien sie für Staat und Gemeinde um jährlich
130 Mille £ angewachsen. Seine Ansicht faßt Avebury dahin zusammen:
unsere Stadtverwaltungen haben sehr wichtige Pflichten zu erfüllen;
sie können nicht gleichzeitig regieren und Handel treiben. Wenn sie
dabei bleiben, sich auf geschäftliche Unternehmungen einzulassen, so
werden sie die Steuern erhöhen müssen, das Fortschreiten wissenschaft-
licher Entdeckungen hemmen und den persönlichen Unternehmergeist,
dem England in der Vergangenheit seine kaufmännische Ueberlegen-
heit hauptsächlich verdanke, ersticken, wenn nicht vernichten. — Avebury
übt eine vernichtende Kritik an der englischen Stadtverwaltung, vor
allem an dem Londoner Grafschaftsrat. Wir können diese nicht nach-
zuprüfen; sie würde nur beweisen, daß, mit deutschen Augen gesehen,
schon eine weitgehende Korruption sich in den Verwaltungen eingenistet
hat, einen Nachweis aber der Schädlichkeit der städtischen Betriebe
können wir darin nicht erblieken. Es ist bezeichnend, daß Avebury
auf die Vereinigten Staaten, auf Ausstralien — hier wird bemerkt, daß
die Staatsbahnen wegen zu hoher Besoldung und wegen der übergroßen
Anzahl von Beamten mit großen Verlusten gearbeitet haben — hinweist,
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 845
aber auf die städtischen deutschen Verhältnisse nicht eingeht. Wohl
aber widmet er eine besondere Beachtung den deutschen Staatsbahnen,
er stützt sich auf die Arbeiten von Faxwell und Fawer (Express trains,
English und Foreign 1889) von Acworth (The Railways and the Traders)
und von Meyer (Government Regulation of Railway Rates) ohne ihre
Angaben weiter nachzuprüfen. Der Uebersetzer ist hier recht eigen-
mächtig vorgegangen, er hat Textstellen weggelassen, weil die Angaben
nicht mehr zutreffen (S. 115). Was aber noch schlimmer ist, er hat
auch Avebury sinnentstellend übersetzt; so heißt es bei ihm: in 1878
Bismarck persuaded the Diet to buy up the Prussian railways. In der
Uebersetzung lautet der Satz: im Jahre 1878 überredete Bismarck den
Reichstag zum Ankauf der preußischen Eisenbahnen. Der Uebersetzer
behauptet ferner, daß die Richtigkeit der übrigen und damit der ent-
scheidenden Tatsachen sich nicht bestreiten lasse. Was die Richtigkeit
der angeführten Tatsachen betrifft, so sei nur eine Behauptung von
Avebury berücksichtigt; er sagt: Bismarck habe die Stände überredet,
weil er dann imstande sein werde, die Preise herabzusetzen und dadurch
dem Verkehre zu nützen... (im Text lautet es anders; on the plea that
he would be able to lower rates, and thus benefit and decentralise
commerce, was einen anderen Sinn gibt). „Die Wirkung sei erwiesener-
maßen gerade entgegengesetzt gewesen.“ Jede deutsche Statistik hätte
aber Avebury gezeigt, daß die Einnahmen für Frachtgut auf ein
Tonnenkilometer von 4,23 Pf. im Jahre 1880 auf 3,49 Pf. im Jahre 1907
und die Einnahmen für Eil- und Expreßgut im gleichen Zeitraum von
23,02 Pf. auf 16,37 Pf. gefallen sind.
Die Frage, ob die Städte wirtschaftliche Unternehmen betreiben
sollen oder nicht, eine Frage, die unserer Ansicht nach keiner Rich-
tung geklärt ist, erfährt durch Avebury keine wissenschaftliche Förde-
rung, sein Buch ist eine rein polemische Schrift.
Dresden. Robert Wuttke.
Basch, Carl, Die Entwicklung der elektrischen Beleuchtung und der Industrie
elektrischer Glühlampen in Deutschland. Berlin, Franz Siemenroth, 1910. gr. 8. 96 SS.
M. 2,50.
Binz, Arthur, Ursprung und Entwickelung der chemischen Industrie. Zur Feier
des Geburtstages Sr. Mai, des Kaisers am 27. Januar 1910 in der Aula der Handels-
hochschule Berlin vorgetragen. Berlin, Georg Reimer, 1910. gr. 8. 23 SS. M. 0,80.
Carolus, Karl, Schein und Sein des Hansabundes. Berlin, Buchdruckerei von
Carl Hause, 1909. gr. 8. 53 SS. M. 0,30.
Dienstag, Paul (Kammerger.-Ref.), Die deutsche Uhrenindustrie. Eine Dar-
stellung der technischen Entwicklung in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung. Leipzig,
Dr. Werner Klinkhardt, 1910. gr. 8. 240 SS. M. 5,25. (Technisch-volkswirtschaft-
liche Monographien. Bd. 11.)
Erban, Franz, Kartelle und Konventionen in der chemischen Industrie. Papier-
mühle bei Roda S.-A., Gebr. Vogt, 1910. kl. 8. IV—54 SS. M. 1.—. Aus: (Appretur-
Zeitung.)
Koch, Waldemar, Die Industrialisierung Chinas. Berlin, Julius Springer, 1910.
gr. 8. 86 SS. M. 2,40.
Troitzsch, Fritz, Das Seilergewerbe in Deutschland, eine Darstellung seiner
wirtschaftlichen und technischen Entwieklung von der Zunftzeit an bis zur Gegenwart.
Leipzig, Dr. Werner Klinkhardt, 1910. gr. 8. 144 SS. M. 3,15.
Vogelstein, Theodor, Kapitalistische Organisationsformen in der modernen
Großindustrie. 1. Bd. Organisationsformen der Eisenindustrie und Textilindustrie in
846 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
England und Amerika. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. XVI—277 SS,
M. 6,50.
Beauquis, A., Histoire économique de la soie. Paris, H. Dunod et E. Pinat,
1910. 8. 500 pag. fr. 12.—
Gemähling, Paul, Travailleurs au rabais. La lutte syndicale contre les sous-
concurrences ouvrières. Paris, Bloud & C', 1910. 8. 432 pag. fr. 7,50. (Études sur
l’organisation du travail et la concurrence. Il.)
Izart, J., La Belgique au travail. Paris, P. Roger & Cie., 1910. 8.- fr. 4.—.
Hemantakumar, Ghosh H., The advancement of industry. Calcutta, Cam-
bray, 1910. Cr. 8. 222 pp. 3/.—.
History, Documentary, of American Industrial Society. Editors: J. R. Phillips
Commons and others. In 10 vols. Vol. 3. 4. Cleveland, O., A. H. Clark, 1910. 4.
Per set $ 50.—.
Rowntree, B. Seebohm, Land and labour: lessons from Belgium. London,
Macmillan and Co., 1910. 8. 654 pp. 10/.6.
Cioci, Adolfo, Brevi nozioni sopra alcune industrie italiane. Firenze, suce. Le
Monier (M. Ricci), 1910. 8. VI—224 pp. 1. 2,50.
6. Handel und Verkehr.
Debes, R., Das Lagerhaus St. Gallen. St. Gallen, Fehr, 1910. gr. 8. 32 SS.
M. 1,50. (Handelswissenschaftliche Veröffentlichungen. Herausgeg. von (Prof.) R. Debes.
Heft 1.)
Dunker, Carl, Der deutsche Kaufmann und die koloniale Expansion der Völker
Westeuropas. Zur Feier des Geburtstages Sr. Maj. des Kaisers am 27. Januar 1910 in
der Aula der Handelshochschule Berlin vorgetragen. Berlin, Georg Reimer, 1910. gr. 8.
27 SS. M. 0,80.
Jahrbuch amerikanischer Eisenbahnen. Ein Handbuch für Bankiers und Kapi-
talisten. Bearb. von L. Bleeck und B. Unholtz. 1. Jahrg. 1910. Berlin, Verlag für
Börsen- und Finanzliteratur. 8. XXXIX—495 SS. M. 8.—.
Devys, Les chemins de fer de l’État belge. Thèse. Paris, Arthur Rousseau,
1910. 8. 244 pag.
Rousseau, R., Les sociétés par actions. Paris, Arthur Rousseau, 1910. 8.
fr. 4.—.
Myers, Gustavus, History of great American fortunes. In 3 vols. Vol. 2,
Great fortunes from the railroads. Chicago, Charles H. Kerr & Co., 1910. 8. 368 pp.
$ 1,50.
Spears, J. Randolph, The story of the American merchant marine. New York,
The Macmillan Company, 1910. 8. VII-340 pp. $ 1,50.
7. Finanzwesen.
Kestner, F. Gerichtsassessor, Die Reichssteuergesetze.
Textausgabe mit Anmerkungen und alphabetischem Sachregister. Leipzig
(Hirschfeld) 1909.
Diese handliche Ausgabe trägt allen Aenderungen oder Ergänzungen
Rechnung, die das Gesetz betreffend Aenderungen im Finanzwesen
vom 15. Juli 1909 und die anschließend ergangenen Bestimmungen
veranlaßten. Bekanntlich sind bei der sogenannten Reichsfinanzreform
nur die Gesetze betr. „die Erhebung einer Abgabe von Salz“ und betr.
den „Spielkartenstempel“ unberührt geblieben. Die Vereinigung der
Texte aller, der älteren neuredigierten oder veränderten, und der neuen
Reichssteuergesetze ist ein guter Gedanke, dessen Zweckmäligkeit sich
beispielsweise in der Vorlesung über Finanzwissenschaft, aber auch bei
Benutzung in der Praxis erweist. Die Erläuterungen sind knapp, meistens
ausreichend; die Einleitungen zweckentsprechend; das hier Gebotene
wird insbesondere bei einer unausbleiblichen weiteren „Reform“ mit
D
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 847
Nutzen zur Beurteilung neuer Vorschläge verwertet werden können.
Das Sachregister müßte ausführlicher sein. Es fehlen da z. B. die
Stichworte „Börsensteuer“ oder „Totalisatorsteuer“, obwohl sie im Text-
teil nicht vergessen sind. H. G.
Gemeindefinanzen. Im Auftrage des Vereins für Socialpolitik herausgegeben.
2. Bd., II. Teil. Die Gemeindefinanzstatistik in Deutschland. Ziele, Wege, Ergebnisse.
Von (Dir.) Otto Most. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8. VIII—-273 SS,
M. 6,60. — 2. Bd., III. Teil. Die Entwicklung und die Probleme des Gemeindeab-
gabenwesens in den Städten und großen Landgemeinden der preußischen Industrie-
bezirke. Von (Gemeindevorst.) Heinrich Lücker. Ebenda 1910. gr. 8. VIII—44 SS.
M. 1,20. (Schriften des Vereins für Socialpolitik. Bd. 127. Teil II. III.)
Schumann, Fritz, Die Reicbsfinanzreform von 1909. Ihre Geschichte und
ihr Ergebnis. Gautzsch bei Leipzig, Felix Dietrich, 1910. 8. 15 SS. M. 0,30. (Kultur
und Fortschritt. No. 301.)
Strutz (Ob.-Verwaltgsger.-Sen.-Präs.), Betrachtungen zur Reichszuwachssteuer.
Berlin, Carl Heymann, 1910. 8. 99 SS. M. 2.—.
Zuchardt, Karl, Die Finanzpolitik Bismarcks und der Parteien im Nord-
deutschen Bunde. Leipzig, Quelle & Meyer, 1910. gr. 8. VIII-81 SS. M. 2,20.
(Leipziger historische Abhandlungen, Heft 16.)
Aubert, G., La finance am£ricaine. Paris, Ernest Flammarion, 1910. 8. fr. 7,50.
Gautier, L., L’Ftat financier. Paris, V. Giard & E. Brière, 1910. 18. fr. 2,50.
8. Geld-, Bank-, Kredit- und Versicherungswesen.
Kraft, A., Krankenkassen und Aerzte. Zürich, Schweizerischer Grütliverein,
1910. gr. 8. 40 SS. M. 0,40. (Sozialpolitische Zeitfragen der Schweiz. Heft 8.)
Preisigke, Friedrich, Girowesen im griechischen Aegypten. Straßburg i. E.,
Schlesier & Schweikhardt, 1910. gr. 8. XVI—575 SS. M. 20.—.
Rothkegel, Walter, Der Kaufpreis für ländliche Besitzungen im Königreich
Preußen von 1895 bis 1906. Leipzig, Duncker & Humblot, 1910. gr. 8 X—146 SS.
(Bogen 1—9.) Für das ganze Werk M. 10.—. (Staats- und sozialwissenschaftliche
Forschungen. Heft 146.)
Sammlung von Versicherungsbedingungen deutscher Versicherungsanstalten.
Herausgeg. von dem deutschen Verein für Versicherungs-Wissenschaft. 3. Teil. Trans-
port-Versicherung, Hagel-Versicherung, Vieh-Versicherung. Berlin, E. S. Mittler & Sohn,
1910. Lex.-8. VI—176 SS. M. 4.—.
Thör, Rudolf, Fest- und Jahresbericht anläßlich des 75jährigen Bestandes der
Kronstädter allgemeinen Sparkasse für die Zeit von 1835 bis 1909. Festbericht, herausgeg.
vom Direktionsrat. Kronstadt, Buchdruckerei Johann Gött’s Sohn, 1910. 4. 161 SS.
Wörner, Gerhard (Prof.), Grundriß der Versicherungslehre 1. Buch: All-
gemeine Versicherungslehre. 2., verm. u. verb. Aufl. Leipzig, J. Wörner, 1910. Lex.-8.
VIII— 174 SS. M. 4,50.
Barré, Raphaël, Le crédit au travail associé et le crédit populaire à l'étranger
et en France. Suivi d’un discours sur le crédit ouvrier, par Paul Deschanel. Ville-
neuve-Saint-Georges, 1910. 12. 48 pag. (Banque coopérative des associations ouvrières
de production de France.)
Liesse, André, La Banque de France. Son rôle et sa fonction dans Porgani-
sation du crédit en France. Conférence. Suivie de quelques observations de André
Lebon. Paris, L. Larose & L. Tenin, 1910. 8. 33 pag.
McMillan, F. D., Outlines of burglary insurance. London, C. & E. Layton,
1910. Cr. 8 5/.—.
Wolff, Henry W., People’s Bank: a record of social and economic success.
3rd edition newly revised and enlarged. London, P. S. King, 1910. 8. 604 pp. 6/.—.
9. Soziale Frage.
Dr. Josef von Neupauer, Der Kollektivismus und die soziale
Monarchie. Dresden (Richard Lincke) 1909. 338 SS.
Der Verfasser des vorliegenden Buches meint, daß der Uebergang
848 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
zum Kollektivismus im Interesse der Kultur und des Fortschrittes ge-
boten sei, hierbei aber die Rechtskontinuität gewahrt und jede revolu-
tionäre Umgestaltung vermieden werden müsse. Bei seinen Vorschlägen
hat er besonders sein Vaterland Oesterreich im Auge, von dem er an-
nimmt, daß das Uebel, an dem es kranke, in der Existenz des Privat-
eigentums, um das sich schließlich alle politischen Kämpfe drehen, rube,
und das nach seiner Auffassung nur durch den kollektivistischen Staat
vor dem Untergange gerettet werden könne. Das Habsburgische
Kaisertum soll sich auf kollektivistischer Unterlage mit den beherrschten
Klassen verbinden, die bisher herrschenden Stände ihrer politischen Macht
berauben und auf diesem Wege das nationale Glück der Zukunft erstreben.
In diesem Sinne ist der Inhalt des Buches aufzunehmen, der die
Verfassung des kollektivistischen Staates, die Monarchie und den Adel,
die Beamtenorganisation, die Volksvermehrung, die Produktion, Ver-
teilung und den Verschleiß der Güter, die wahrscheinlichen Kulturfort-
schritte usw. betrifft. Neupauer meint, daß die Besitzenden, welche
durch den Mißbrauch ihrer Macht Reichtümer angesammelt und die
Armut der Massen herbeigeführt haben, sich nicht darüber beschweren
können, wenn der Staat nun auch seinerseits ihnen gegenüber das ihm
zustehende wirtschaftliche Uebergewicht zur Geltung bringt und sie in
gleicher Weise expropriiert, wie sie andere expropriiert haben. Der
Staat kann die Eigentumsgesetze, die er geschaffen, und auf denen die
Besitztitel ruhen, ändern. Wie die allgemeine Wehrpflicht, so soll
zwangsweise auch die allgemeine Arbeitspflicht eingeführt werden (S. 9),
dem Staat fallen die Produktionsmittel zur individuellen Verteilung zu,
und jeder hat das Recht auf die gesetzlich verbürgte Befriedigung
seiner Bedürfnisse. Mittel zum Zweck des zu organisierenden Kollek-
tivismus ist die Verstaatlichung der Eisenbahnen, des Großgrundbesitzes,
des Geld- und Kreditwesens, der hervorragendsten Industriezweige,
sowie der Volksschulen und teilweise des Erziehungswesens (S. 334 ff.).
Der Kollektivstaat, richtig organisiert, meint Neupauer, wird die Kunst
und Wissenschaft bei weitem mehr pflegen, als dies der heutige Staat
zu tun vermag, er würde das Elend beseitigen, das Volk veredeln, die
sanitären Verhältnisse vervollkommnen, Verbrechen, erbliche und an-
steckende Krankheiten unterdrücken und einen bisher ungeahnten Auf-
schwung der gesamten Kultur herbeiführen (S. 317).
Das Buch enthält eine Reihe von Vorschlägen, die ernstlich kaum
in Betracht gezogen werden können. Zu den Aufgaben der Aerzte
zählt nach der Ansicht Neupauers auch die Ermittlung der Vererbungs-
gesetze, nicht nur in Bezug auf die normale physische Konstitution der
Menschen, sondern auch auf deren ethische und intellektuelle Anlagen.
Demgemäß sollen die Aerzte die zur Fortpflanzung bestimmten Per-
sonen auswählen und auch für die zweckmäßige Paarung Gesetze zu
ermitteln trachten (S. 55). Der Staat hat von der Geburt des Kindes
an sich mit dessen Erziehung zu beschäftigen, die Eltern zu unter-
weisen, für Ersatz zu sorgen, wenn sie pflichtvergessen sind, und
eventuell Kinderpflegerinnen und Erzieherinnen zu bestellen (S. 161).
In unmittelbarer Nähe der Wohnungen dürfen weder Werkstätten noch
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 849
Stallungen, Scheunen oder Fabriken stehen (S. 262), und die ganze
Bevölkerung ist mit Arbeits-, Gesellschafts- und Festkleidern zu ver-
sorgen (S. 275) usw.
Ein neuer Staatsroman mit mehr oder weniger leisen Anklängen
an Marx, Lassalle, Fourier und Blanc liegt vor. Im Zeitalter eines
strengen, auf allen Gebieten des Staatslebens sich außerordentlich be-
merkbar machenden Rationalismus werden derartige Publikationen be-
rechtigten Bedenken unterliegen, und um die in dem Buche nieder-
gelegten Ansichten zu teilen, muß man die gleiche Weltauffassung wie
der Verfasser haben. Das wird nicht jedermanns Sache sein. Der
Idealstaat mit der Normalaichung der individuellen Tugend und der
Beseitigung aller menschlichen Schwächen, Irrungen und Leidenschaften
wird nie entstehen. Auch sind von Neupauer nur die vermeintlichen
Vorzüge, nicht aber die tatsächlichen Nachteile, die sich mit dem
Kollektivismus ‚verknüpfen, genügend hervorgehoben. Doch trotz der
Bedenken mannigfachster Art, die gegen Inhalt und Tendenz des vor-
liegenden Buches geltend gemacht werden können, ist dasselbe als das
Werk eines von den lautersten Bestimmungsgründen geleiteten Mannes
zu bezeichnen, dessen Wunsch und Lebensziel es ist, den Menschen
zu nützen, und dem nur das Gesamtwohl und die Förderung nament-
lich seines engeren Vaterlandes am Herzen liegt. In diesem Sinne
sei die Aufmerksamkeit auf den Verfasser gelenkt.
Berlin. Otto Warschauer.
Broda, R., und Julius Deutsch, Das moderne Proletariat. Eine sozialpsycho-
logische Studie. Berlin, Georg Reimer, 1910. 8. V—226 SS. M. 5.—.
Haff, Karl (Priv.-Doz.), Die Bauernbefreiung und der Stand des Bodenzins-
rechtes in Bayern. Leipzig, A. Deichert Nachf., 1910. 8. VIII—40 SS. M. 0,60.
Hartmann, K. A. Martin (Prof.), Der neuere Stand der Anti-Alkoholbewegung
in der nordamerikanischen Union. 2. verb. u. verm. Ausg. Dresden, O. V. Böhmert,
1909. gr. 8. 60 SS. M. 1.—.
Heller, Marie, Der Wandel in der Frauenarbeit Deutschlands seit 1895.
Gautzsch bei Leipzig, Felix Dietrich, 1910. 8. 10 SS. M. 0,30. (Kultur und Fort-
schritt. No. 300.)
Kahlden, v., Die Landarbeiterfrage. Vortrag. Leipzig, Fritzsche & Schmidt,
1910. gr. 8. 36 SS. M. 0,80.
Kalckstein, W. v., Oeffentliche und gemeinnützige Arbeitsnachweise im Aus-
land. Gautzsch bei Leipzig, Felix Dietrich, 1910. 8. 51 SS. M. 0,90. (Kultur und
Fortschritt. No. 294—296.)
Krukenberg, Elsbet, Die Frau in der Familie. Leipzig, C. F. Amelang,
1910. 8. VIII—-364 SS. M. 5.—. (Die Kulturaufgaben der Frau, herausgeg. von
(Prof.) Jakob Wychgram.)
Mahling, Friedrich (Prof.), Die soziale Bedeutung der christlichen Gemeinde
und die daraus sich ergebenden Folgerungen für ihre Arbeit. Berlin, Vaterländische
Verlags- und Kunstanstalt, 1910. 8. 90 SS. M. 0,75. (Hefte der freien kirchlich-
sozialen Konferenz. Heft 44.)
Menger, Anton, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher
Darstellung. 4. Aufl. Stuttgart, J. G. Cotta Nachf., 1910. gr. 8. X—172 SS. M. 3.—.
Pieper (Magistr.-Assessor), Die öffentliche und private Armen- und Wohlfahrts-
pflege in Dortmund. Im Auftrage der Verwaltung des Armenwesens. Dortmund, Max
Thomas, 1910. 8. X—85 SS. M. 1,20.
Reichel, Charlotte, Der Dienstvertrag der Krankenpflegerinnen unter Berück-
sichtigung der sozialen Lage. Jena, Gustav Fischer, 1910. 8. IV—102 SS, M. 1,40.
Dritte Folge Bd. XXXIX (XCIV). 54
850 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslande.
Richert, Jeanne, Das Familienheim zu Guise. Eine Studie zur Tilgung
der Armut. Groß-Lichterfelde, A. Troschel, 1910. Lex.-8. 62 SS. mit Abbildungen.
M. 1,20.
Sonnenschein, Carl, Die sozialstudentische Bewegung. 3. Aufl. 5.—7. Tausend.
M.-Gladbach, Volksvereins-Verlag, 1910. kl. 8. 50 SS. M. 0,40. (Studenten-Bibliothek.
Herausgeg. vom Sekretariat sozialer Studentenarbeit. Heft 1.)
Weicker, Hans, Fürsorge für die schulentlassene männliche Jugend, nament-
lich im Anschluß an die Fortbildungsschule. Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8.
Iv—44 SS. M. 0,30. (Flugschriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Heft 3.)
Avenel, Vicomte Georges d’, Découvertes d’histoire sociale, 1200—1910.
Le socialisme d’hier. La terre aux laboureurs. Les salaires à travers les äges. Dépenses
de l’ouvrier et du paysan. Impuissance constante de PÉtat et des syndicats sur les
prix de vente, etc. Paris, E. Flammarion, 1910. 18. 338 pag. fr. 3,50. (Bibliothèque
de philosophie scientifique.)
Delvaux de Fenffe, Henry, Les habitations ouvrières. Discours prononcé au
conseil provincial de Liége à la séance d’ouverture du 6 juillet 1909. Liége, M. Thone,
1909. 8. 267 pag.
Duret, Henry, De l’intervention des municipalités en matière d’habitations
ouvrières. La question devant le conseil municipal de la ville de Lyon. Thèse. Paris,
Arthur Rousseau, 1910. 8. XX—354 pag.
Pawlowski, Auguste, La Confédération générale du travail. Les origines —
Son organisation — Bes tendances — Ses moyens d'action et son avenir. Préface de
J. Bourdeau. Paris, Félix Alcan, 1910. 8. VII—155 pag. fr. 2,50.
Cullen, Alexander, Adventures in socialism; new Lanark establishment and
Orbiston Community. New York, The Macmillan Company, 1910. 8. XV—330 pp.
$ 2.—.
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Green & Co., 1910. 8. VII—149 pp. $ 0,90.
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dustry, by John Golden. — The cotton mill a factor in the development of the South,
by Mrs. J. Borden Harriman. — The mill or the farm, by A. J. McKelway. — The
Federal Children’s Bureau, by Owen R. Lovejoy. — Enforcement of child labor laws,
by Homer Folks. — Child labor statistics, by Fred S Hall. — The Massachusetts
Bureau of Statistics. — Child labor in home industries, by Mary Van Kleeck. —
Reports from State and Local Child Labor Committees. — etc.)
Jones, H., The working faith of the social reformer, and other essays. New York,
The Macmillan Company, 1910. 8. XII—308 pp. $ 2,40.
Tocco, Felice (prof.), La quistione della povertà nel secolo XIV, secondo nuovi
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Biblioteca di letteratura, storia ed arti. IV.)
Beneditty, N. de, Ouderlijke macht en Kinderbescherming. (Proefschrift, univ.
Amsterdam.) Amsterdam, Joh. Jesse, 1910. gr. 8. VIII—136 blz.
10. Gesetzgebung.
Böhm, Walter, Ueber Aktionärschutz nach deutschem, englischem und fran-
zösischem Recht. München, J. Schweitzer Verl., 1910. gr. 8. IX—114 SS. M. 3.—.
Heyne, Curt, Die Versicherung gegen Brandschaden und die Brandschaden-
regulierung nach dem Reichsgesetz vom 30. V. 1908 und den allgemeinen Versicherungs-
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Duncker & Humblot, 1910. kl. 8. XIV—193 SS. M. 4.—.
Köhler, August (Prof.), Studien zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetz-
buches. Nürnberg, U. E. Sebald, 1910. gr. 8. 47 SS. M. 1,50.
Kretzschmar, Ferdinand (Ober-Landesger.-R.), Das Erbrecht des deutschen
bürgerlichen Gesetzbuchs. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, 1910. gr. 3.
V—568 SS. M. 12. —.
Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes. 851
Marquard, Otto, Die öffentlichen Wassergenossenschaften des neuen bayerischen
Wasserrechts. Nürnberg, U. E. Sebald, 1910. Lex.-8. VI—81 SS. M. 2.—.
Noest, Bernard (Rechtsanwalt), Vorschläge zur Verbesserung unseres Prozeß-
verfahrens. Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8. 36 SS. M. 1.—.
Silbernagel, Alfred (Zivilger.-Prüs.), Das schweizerische Zivilgesetzbuch und
die Jugendfürsorge. Bern, A. Francke, 1910. 8. 88 SS. M. 1,20.
Ulrichs, Otto (Gewerbeinspekt.), Das Recht der Zurückbehaltung und Auf-
rechnung beim gewerblichen Arbeitsvertrag. Berlin, Carl Heymann, 1910. gr. 8.
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Kleine Marcel, Les tribunaux pour enfants en Allemagne. Paris, Arthur
Rousseau, 1910. 12. 77 pag. fr. 2.—.
Leray, René, Contribution au problème de la réglementation du travail. La
limitation légale du travail aux États-Unis. Thèse. Paris, G. Crès et Ce, 1910. 8.
179 pag.
Grant, James, A treatise on the law relating to bankers and banking com-
panies. 6th edition. London, Butterworth, 1910. Roy.-8. CV—967 pp.
Jandoli, Antonio, Infortuni del lavoro (legge e regolamento): note di dottrina
e giurisprudenza. Napoli, A. Tocco e A. Salvietti, 1909. 8. XXXIX—732 pp. 1. 10.—.
Pateri, Giovanni, Gli infortuni sul lavoro: studio teorico-pratico della legge
31 gennaio 1904, n° 51 e del relativo regolamento 13 marzo 1904, n° 141, con appen-
dici. Torino, fratelli Bocca, 1910. 8. VII—616 pp. l. 16.—. (Nuova Collezione di
opere giuridiche. No. 159.)
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Backhausen, Alfred (Reg.-Assessor), Die japanische Verwaltung in Korea und
ihre Tätigkeit. Berlin, Dietrich Reimer, 1910. gr. 8. IV—79 SS. M. 2.—.
Bursian, Alexander, Die Häuser- und Hüttensteuer in Deutsch-Östafrika.
Jena, Gustav Fischer, 1910. gr. 8. VIII—77 SS. mit 2 Tabellen. M. 2,50. (Ab-
handlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Jena. Bd. 8. Heft 2.)
Geller, Leo, Bosnisch-hercegovinische Verfassungs- und politische Grundgesetze.
Mit einer staatsrechtlichen Einleitung. Wien, Moritz Perles, 1910. kl. 8. IV—136 SS.
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Hamel, J. A. van (Adv.), Staats- und Verwaltungsrecht des Königreichs der
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des öffentlichen Rechts. Bd. 18.)
Palme, Anton, Die russische Verfassung. Berlin, Dietrich Reimer, 1910. gr. 8.
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Perels, Kurt (Prof.), Das Bergrechtsabkommen vom 17. Februar/2. April 1908
und die bergrechtliche Stellung der deutschen Kolonial-Gesellschaft für Südwest-Afrika
unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsverhältnisse im Lüderitzbuchter Diamant-
sperrgebiet. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1910. gr. 8. IV—25 SS. M. 0,75.
Seignobos, Ch. (Prof.), Politische Geschichte des modernen Europa. Entwicklung
der Parteien und Staatsformen 1814—1896. Preisgekrönt von der Académie française.
Deutsch nach der 5. Aufl. des Originals. Leipzig, Dr. Werner Klinkhardt, 1910. Lex.-8.
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Baffeleuf, Antoine, Les impöts en Annam. These. Paris, V. Giard & E.
Brière, 1910. 8. 192 pag.
Bonneau, Jacques, Les législations françaises sur les tabacs sous l’ancien régime.
Paris, L. Larose & L. Tenin, 1910. 8. 166 pag.
Lamouzöle, Edmond, Essai sur l’administration de la ville de Toulouse à la fin
de l’ancien régime (1783—1790). Paris, V.Giard & E. Brière, 1910. 8. 138 pag. fr. 2,50.
Moch, Gaston, La représentation vraiment proportionnelle. Paris, Édouard
Cornély et C', 1910. 16. 80 pag. fr. 1.—.
Teissié-Solier, Raoul, L’indemnit& parlementaire en France. Historique et
régime actuel. Thèse. Paris, A. Pedone, 1910. 8. 206 pag.
Booth, C., Poor law reform. London, Macmillan and Co., 1910. Cr. 8. 1/.—.
Boyce, Sir Rubert W., Health, progress and administration in the West Indies.
New York, Dutton, 1910. 8. XVI—320 pp. $ 3,50.
54*
852 Uebersicht über die neuesten Publikationen Deutschlands und des Auslandes.
Chesterton, Cecil, Party and people. A criticism of the recent elections and
their consequences. London, Rivers, 1910. Cr. 8. XX—190 pp. 2/.6.
League of American municipalities. The book of American municipalities, in
reference to what is what in our cities; an authentic summary of civic progress and
achievements. Chicago, Municipal Information Bureau, 1910. 4. 128 pp. $ 3,50.
Macmovian, H.C., and E. J. Maldrett, The Public Health (London) Act,
1891. New edition. London, Butterworth, 1910. Cr. 8. 563 pp. 20/.—.
12. Statistik.
Allgemeines.
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ministeriums durch die k. k. Statistische Zentralkommission. Wien, W. Frick, 1909.
Lex.-8. XIV—284 SS. M. 12.—.
Ritters geographisch-statistisches Lexikon. 9. revidierte Aufl. 2 Bde. Leipzig,
Otto Wigand, 1910. Lex.-8. VII—1248, IV—1339 SS. M. 50.—.
Deutsches Reich.
Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern. Herausgeg. vom Königlichen
Statistischen Landesamt. 75. Heft. Die bayerischen Distriktsfinanzen. München, J. Lin-
dauersche Buchh., 1910. Lex.-8. X—94—156 SS. M. 4.—.
Beiträge zur Statistik der Stadt Halle a. S. Herausgeg. vom Statistischen Amt
der Stadt Halle a. S. 10. Heft. Statistische Jahresübersichten für Halle a. S. 1909.
Halle a. S., Gebauer-Schwetschke, 1910. gr. 8. 77 SS. M. 1,50.
Handbuch, Statistisches, für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin. Heraus-
geg. vom Großherzoglichen Statistischen Amt. 2. verm. Ausg. Schwerin, Kommissions-
verlag von Ludwig Davids, 1910. 8. XII—404 SS. M. 3.—.
Mitteilungen des statistischen Amtes der Stadt München. XXII. Bd., 3. Heft.
Die gewerblichen Betriebe Münchens 1907. Ergebnisse der gewerblichen Betriebszählung
vom 12. Juni 1907. München, J. Lindauersche Buchh., 1910. 223 SS. mit 4 Taf. M.3.—.
Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 212, 2a. Berufs- und Betriebszählung vom
12. Juni 1907. Landwirtschaftliche Betriebsstatistik. Herausgeg. vom Kaiserlichen
Statistischen Amte. Teil 2a. Viehstand — Maschinen — Nebengewerbe — Haupt-
beruf der Betriebsleiter — Weinbau- und Forstbetriebe — Kleinere Verwaltungsbezirke.
Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht, 1910. Imp.-4. 4—368 SS. Für den Gesamtbd.
M. 12.—. — Bd. 231, II. Auswärtiger Handel im Jahre 1909. Spezialhandel und
Gesamteigenhandel nach Warengattungen und Ländern, Durchfuhr, Niederlage- und
Veredelungsverkehr, Zollerträge usw., Seefischerei einschl. der Bodenseefischerei. Heft II.
Spezialhandel nach wichtigeren Herkunfts- und Bestimmungsländern. Ebenda 1910.
Imp.-4. 104 SS. Für den Bd. M. 6.—. — Bd. 239. Streiks und Aussperrungen im
Jahre 1909. Ebenda 1910. Imp.-4. 62 SS. M. 1.—.
Statistik, Wiesbadener. Herausgeg. vom Städtischen Statistischen Amt. 5. Heft.
Wiesbadens bewohnte Wohnungen sowie die nicht Wohnzwecken dienenden Räume auf
Grund der Zählung vom 15. Oktober 1907. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1910. Lex.-8.
18 SS. mit 1 eingedruckten Plan. M. 0,80.
Oesterreich- Ungarn.
Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Herzogtums Bukowina. Ver-
öffentlicht vom statistischen Landesamte des Herzogtums Bukowina. XIV. Statistisches
Jahrbuch des Herzogtums Bukowina für das Jahr 1907. I. Jahrg. Zusammengestellt
und veröffentlicht vom statistischen Landesamte des Herzogtums Bukowina. Czernowitz,
Heinrich Pardini, 1919. Lex.-8. XVI—380 SS. M. 6.—.
Protokolle über die Expertise, betr. das Arbeitsverhältnis der Automobilführer,
abgehalten am 2. und 3. Dezember 1909 im k. k. Handelsministerium. Herausgeg.
vom k. k. Arbeitsstatistischen Amt im Handelsministerium. Wien, Alfred Hölder, 1910.
Lex.-8. VIII—112 SS. M. 1,80.
13. Verschiedenes.
Auslandspolitik, Deutsche, und ihre Verleumder im Lichte historischer Tat-
sachen. Von einem aktiven Diplomaten. Leipzig, Dieterichsche Verlagsbuchh., 1910.
8. 66 SS. M. 1.—.
Die periodische Presse des Auslandes, 853
Martin, Rudolf, Deutsche Machthaber. 1.—3. Aufl. Berlin, Schuster & Loeffler,
1910. 8. VII—561 SS. M. 6.—.
Naumann, Friedrich, Die politischen Parteien. 1.—5. Tausend. (4 Vor-
träge, im Januar und Februar 1910 in der Philharmonie in Berlin gehalten.) Berlin-
Schöneberg, Buchverlag der Hilfe, 1910. 8. 111 SS. M. 2.—.
Sachs, Jos., Hochschulfragen. Regensburg, Verlagsanstalt vorm. G. J. Manz,
1910. gr. 8. VII—93 SS. M. 1,50.
Staatsbürger, Der. Halbmonatsschrift für politische Bildung. Herausgeg. von
(Priv.-Doz.) Hanns Dorn. Jahrg. 1. April—Dezember 1910. 18 Nm. (Nr. 1 u. 2.
100 Sp.) Leipzig, F. W. Grunow. gr. 8. Vierteljährlich M. 2.—.
Wahl, Adalbert, Beiträge zur deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert.
München, R. Oldenbourg, 1910. gr. 8. 62 SS. M. 1,50.
Sighele, Scipio, Le crime à deux. Essai de psycho-pathologie sociale. Paris,
V. Giard & E. Brière, 1910. 8. 239 pag. fr. 4.—. (Bibliothèque sociologique inter-
nationale. XLIV.)
Crime and criminals. Los Angeles, Cal., Prison Reform League, 1910. 8.
X—320 pp. $ 1.—.
Metchnikoff, Élie, The prolongation of life; optimistic studies. The English
traduction edited by P. Palmers Mitchell. Popular edition, with an introduction by
C. S. Minot. New York, Putnam, 1910. 8. XXVIII—343 pp. $ 1,75.
Overlock, Melvin G., The working people; their health and how to protect it.
Worcester, Mass., Melvin G. Overlock, 1910. 8. 293 pp. $ 2.—.
Gatti, Francesco, La lotta sociale antitubercolare in Italia. Milano, Ulrico
Hoepli, 1910. 8. 198 pp. 1. 3,50.
Die periodische Presse des Auslandes.
A. Frankreich.
Bulletin de statistique et de législation comparée, 34° année, mars 1910: France:
Produits des contributions indirectes pendant Donnée 1909. — Les produits de len-
registrement, des domaines et du timbre constatés et recouvr&s en France pendant lexer-
cice 1908. (Suite et fin.) — Italie: L’expos& financier du Ministre du Trésor. — ete.
Journal des Economistes. 69° année, avril 1910: Les arguments protectionnistes
en France et aux États-Unis, par Yves Guyot. — Les clauses sur la valeur du sol du
budget anglais de 1909 sont-elles économiquement justifiables, par L.-L. Price. — Les
industries françaises au début du XX: siècle. La brasserie, par Germain Paturel. —
Étude et tableaux relatifs aux modifications apportées par le Sénat à la loi douanière
votée par la Chambre des députés, par Édouard Cohen. — ete.
Journal de la Société de Statistique de Paris. 51° année, No. 4, avril 1910:
Statistiques relatives à la tuberculose et à Palcoolisme au chemin de fer du Nord, par
Bernard. — Influence des variations des prix sur le mouvement des dépenses ménagères
à Paris, par Lucien March. — ete.
Réforme Sociale, La. 30° année, N° 104, 16 avril 1910: Les abus dans l’appli-
cation de la législation sur les accidents du travail, I, par Pierre Hans. — Société
d’economie sociale: L’action sociale du missionnaire et les dominicains francais en Tur-
quie d’Asie, I, communication du R. P. Bert, — D’école de la paix sociale, sa vie,
ses oeuvres, par F. Auburtin. — ete. — N° 105, 1 mai 1910: La réunion annuelle de
1910: Les classes moyennes dans le commerce et Pindustrie, par F. Lepelletier. —
L’action sociale du missionnaire et les dominicains français en Turquie d’Asie, fin de la
communication du R. P. Berré et observations de Gaston Bo.dat, Hubert-Valleroux,
Béchaux, Outrey et Blondel. — Les abus dans l’application de la législation sur les
accidents du travail (dernier article), par Pierre Hans. — La rémunération du per-
sonnel agricole, par Robert Dufresne. — Enquête sur l’exode rural. Halinghem et sa
population, par Jules Fourdinier. -— ete. `
Revue générale d'administration, 33° année, février 1910: Étude sur la r&organi-
sation de la police rurale, par Gabriel Desbats. — La ville et l'État (suite), par Jules
d’Auriac. — ete. — mars 1910: La réforme des conseils de préfecture, par Henry
Berton. — La ville et l’État (suite), par Jules d'Auriac. — ete.
854 Die periodische Presse des Auslandes,
Revue d’feonomie Politique. 24° Année, N° 4, Avril 1910: Aperçu de l’histoire
des monnaies et du commerce d’argent en France (suite et fin), par E. Levasseur. —
La réalité des surproductions générales. Réponse à quelques objections, par Albert
Aftalion. — J.-B. Say et les origines de l’industrialisme, par Edgar Allix. — Une
theorie négligée. De l’influence de la direction de la demande sur la productivité du
travail, les salaires et la population, par Adolphe Landry. — ete.
Revue international de sociologie. 18° Année, N° 3, Mars 1910: Pourquoi le libre-
échange mest pas. populaire, par L.-M. Billia. — L'évolution de la fortune de l’État.
par A. Bochard. ~: Société de Sociologie de Paris, séance du 9 février 1910: La nation
armée. Communication du général Bazaine-Hayter. Observations de Léon Philippe,
ete. — ete.
B. England.
Century, The nineteenth, and after. No. 399, May 1910: England and Germany:
How not to make the crisis, by Thomas Hodgkin. — Epochs of Japan, II, by Joseph
H. Longford. — Compulsory insurance against unemployment: a Swiss scheme, by
Fdith Sellers. — From art to social reform: Ruskin’s ‚Nature of Gothic“, by William
Scott Durrant. — The insufficiency of official statistics, by A. L. Bowley. — etc.
Edinburgh Review, The. N° 432, April 1910: English waterways. — The
work of reform: Mary Wollstonecraft — Caroline Norton. — The English peasant. —
The New Parliament and the House of Lords. — etc.
Journal of the Institute of Actuaries. Vol. XLIV, Part II, No. 240, April 1910:
On the mortality of female assured lives, with graduated tables deduced from the British
Offices’ experience, 1863—1893, by Charles William Kenchington. — Some points of
interest in the operations of friendly societies, railway benefit societies and collecting
societies, by Alfred W. Watson. — etc.
Journal of the Royal Statistical Society. New Series. Vol. LXXIII, Part IV,
April, 1910: Notes on the financial system of the German Empire, by Wynnard Hooper.
— The increased yield per acre of wheat in England considered in relation to the
reduction of the area, by H. D. Vigor. — The statisties of wages in the United King-
dom during the nineteenth century. (Part XVIIL) The cotton industry. Section IV,
by George Henry Wood. — etc.
Review, The Contemporary. No. 532, April, 1910: Perfect health, by Upton
Sinclair. — The libraries’ censorship, by Charles Tennyson. — ete. — No. 533, May
1910: Second Chambers, by (Prof.) J. H. Morgan. — Mistress and maid, by Lady
Bunting. — etc.
Review, The Economic. Published for the Oxford University Branch of the
Christian Social Union. Vol. XX, No. 2, April 1910: Some aspects of tariff reform,
by L. L. Price. — Social conditions and the principles of 1834, by Ruth Kenyon. —
The taxation of salt in India, by D. A. Barker. — Indian land tenure and the manor,
by F. W. Bussell. — ete.
Review, The Fortnightly. N° 521, May, 1910: Theodore Roosevelt, by Archibald
R. Colquhoun. — The bankruptey of liberalism, by Sydney Brooks. — Shall women
work? By Elisabeth Robins. — etc.
Review, The National. No. 327, Mai 1910: The real crisis, by H. W. Wilson.
— Mr. Lloyd George as financier, by A. H. D. Steel-Maitland. — Mr. Fielding, by M.
— etc.
Review, The Quarterly. No. 423, April 1910: Society and politics in the nine-
teenth century. — Socialism: I. Its meaning and origin. — The economic position of
Germany, by Edgar Crammond. — Revolution or reform. — etc.
C. Oesterreich-Ungarn.
Handelsmuseum, Das. Herausgeg. von der Direktion des k. k. österr. Handels-
museums. Bd. 25, 1910, Nr. 14: Rumänische Industrieförderung. — Französische Ge-
schäftsverhältnisse. — Britische Zolltarifreform. — ete. — Nr. 15: Gleichgewicht zwischen
Landwirtschaft und Industrie. — Ekuador. — ete. — Nr. 16: Die deutschen Einfuhr-
scheine, von Siegmund Schilder. — Türkische Wirtschaftspolitik, von Gustav Herlt. —
Nr. 17: Serbiens Ausfuhrhandel. — Türkisches Handelsrecht. — ete. — Nr. 18:
Aegyptische Geschäftsverhältnisse. — ete.
Mitteilungen, Volkswirtschaftliche, aus Ungarn. Herausgeg. vom königl. ung.
Die periodische Presse des Auslandes. 855
Handelsministerium. Jahrg. V, Heft III, März 1910: Die Großindustrie Ungarns von
1896 bis 1906. Aus der Denkschrift des kgl. ungarischen Handelsministeriums über
die Industrieförderung. — Die wirtschaftliche Hilfsaktion in Oberungarn und dem ehe-
maligen Siebenbürgen im Jahre 1908. — Entwicklung des Post-, Telegraphen- und
Telephonwesens vom Jahre 1868 bis 1908. — etc.
Rundschau, Soziale. Herausgeg. vom k. k. Arbeitsstatistischen Amt im Handels-
ministerium. Jahrg. XI, Nr. 3, März 1910: Sozialversicherung (Oesterreich). — Er-
richtung von Arbeitsnachweisen (England). — Gemeindeanstalt für Kleinwohnungen
(Triest). — ete. — Nr. 4, April 1910: Bekämpfung der Arbeitslosi; Lait bei Vergebung
von öffentlichen Arbeiten (Oesterreich). — Sozialversicherung (Oesterreich). — Schul-
ärztlicher Dienst an den gewerblichen Fortbildungsschulen (Wien). — Die Errichtung
eines ständigen staatlichen Einigungsamtes (Basel-Stadt). — ete.
F. Italien.
Rivista internazionale di scienze sociali e discipline ausiliarie. Anno XVIII,
1910, Marzo: La dottrina del Vico nella storia economica, di Ettore Arduino. — „Il
capitalismo“ di A. Labriola, di Raffaele Guariglia. — ete. — Aprile: Le leghe sociali
di compratori, di Ugo Guida. — I conflitti di lavoro e loro pacifica risoluzione, di
Giuseppe Menotti De Francesco. — L’odierno problema della famiglia nell’ aspetto
sociale, di G. Toniolo. — ete.
G. Holland.
Economist, De, opgericht door J. L. de Bruyn Kops. LIX* jaarg., 1910, a, il:
Volksverzekering door spaarbanken, door H. J. Hagelen. — Gedwongen pensionneering
van ambtenaren op vooraf bepaalden leeftijd, II, door (Prof.) P. van Geer. — Het
vraagstuk der economische organisatie, II, door J. J. M. H. Nyst. — etc.
H. Schweiz.
Bibliothèque universelle et revue suisse. N° 173, Mai 1910: L’Alsace-Lorraine
et autonomie, par Ed. Rossier. — etc.
Blätter, Schweizerische, für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Jahrg. XVII, 1909,
Heft 22/23: Geschichte und Organisation der amtlichen Statistik in der Schweiz, von
(Prof.) N. Reichesberg. — Grundprobleme der Auswanderungspolitik, von Sigismund
Gargas. — ete.
Monatsschrift für christliche Sozialreform. Jahrg. 32, April 1910: Die Lage
der Fabrikarbeiterinnen in Deutschland, von F. Imle. — Oesterreichs wirtschaftliche
Großmachtstellung, von Friedrich St. Guschelbauer, — etc.
I. Belgien.
Revue Économique internationale. 7° Année, Vol. II, Avril 1910: L’eau potable.
— L’eau d’egout. — La briquette allemande, par Bruno Heinemann. — etc.
M. Amerika.
Annals, The, of the Academy of Political and Social Science. Vol. XXXV, No. 2,
March, 1910: Public recreation facilities: The parks and recreation facilities in the
United States, by John Nolen. — Our national parks and reservations, by William
Eleroy Curtis. — National forests as recreation grounds, by Treadwell Cleveland, Jr. —
Play and social progress, by Howard S. Braucher. — Public provision and responsa-
bility for playgrounds, by Henry S. Curtis. — The playground as a social center, by
Mrs. Amalie Hofer Jerome, — Educational value of public recreation facilities, by
Charles Mulford Robinson. — Our recreation facilities and the immigrant, by Victor
von Borosini. — The social significance of play, by Otto T. Mallery. — The ‚Heide
Park“ of the Society for the advancement of the common weal in Dresden, by Wilhelm
Böhmert. — etc. — Supplement, March 1910: Child employing industries.
Journal, The, of Political Economy. (The University of Chicago Press.) Vol. 18,
No. 4, April 1910: The futility of marginal utility, by E. H. Downey. — Pioneer
industry in the West, by Isaac Lippincott. — Food prices and the cost of living, by
J. D. Magee. — etc.
Magazine, The Bankers. 64% Year, March 1910: Poverty — the crime of society,
by John Haynes Holmes. — Canadian banking and commerce, by H. M. P. Eckardt.
856 Die periodische Presse Deutschlands.
— The United States Treasury, III, by William Henry Smith. — The unequal incidence
of the New York savings bank tax, by Richard Ferris. — The Pan-American railway,
by Howard S. Williams. — ete. — April 1910: The United States Treasury, IV, by
William Henry Smith. — The Stilwell international trans-continental railroad, by Landen
Gates. — etc.
Publications, Quarterly, of the American Statistical Association. New Series,
No. 89, March, 1910: The findings of the Massachusetts Commission on old age pen-
sions, by F. Spencer Baldwin. — Professor Fisher’s formula for estimating the velocity
of the circulation of money, by David Kinley. — Proceedings of the seventy-first Annual
Meeting of the American Statistical Association, New York, December 27—30, 1909:
The outlook for American statistics, by Walter F. Willcox. — Changes in census
methods for the census of 1910, by E. Dana Durand. — The statistical basis of budget-
making, by Herman A. Metz. — etc.
Die periodische Presse Deutschlands.
Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
schaft. Jahrg. 43, 1910, Nr. 4: Die militärische Verpflegungswirtschaft im Frieden, I,
Oesterreich-Ungarn, von Fritz Roeder. — Die Korbwarenindustrie in Oberfranken
(Schluß), von Hans Heine. — etc.
Arbeiterfreund, Der. Jahrg. 48, 1910, Vierteljahrsheft 1: Wandlungen der
deutschen Volkswirtschaft 1882—1907. Ein Blick auf die Ergebnisse der Berufs- und
Betriebszühlungen, von Wilh. Böhmert. — Die Gewinnbeteiligung und sonstige Arbeits-
verhältnisse bei der Firma Carl Zeiß, Jena, von Fr. Schomerus. — Die Feinsteingut-
fabrik von Max Roesler in Rodach, ihre Lohnzahlungen aus dem Reingewinn des Jahres
1909 und die Umwandlung der Fabrik in eine Aktiengesellschaft für das Fabrikpersonal,
von (Prof.) Viktor Böhmert. — Zum Entwurfe der Reichsversicherungsordnung, voR
Georg Schmidt. — Die Internationale Hygiene-Ausstellung in Dresden, von Johannes
Corvey. — ete.
Bank, Die. 1910, Heft 5, Mai: Die Bank im Dienste der nationalen Wirtschaft,
von Alfred Lansburgh. — Unlautere Geschäftsformen im Bankiergewerbe, 1, Das bucket-
shop-System, von (Rechtsanwalt) A. Nussbaum. — Gedanken zur Reichszuwachssteuer,
von A. L. — Aktienrecht, von Ludwig Eschwege. — Sind unsere Staatsanleihen bit:
lär? Von Fritz Lennert. — etc.
Blätter, Kommunalpolitische. Jahrg. 1, Nr. 4, April 1910: Das Zentrum in den
Kommunen der Rheinprovinz, von Jos. Jörg. — Die Grundsätze der Eingemeindungen,
von (Verwaltungsgerichts-Dir.) Linz, — ete. — Nr. 5, Mai 1910: Ein Wort über die
Wohlfahrtspflege der Landgemeinden, von (Prof.) Fassbender. — Die Grundsätze der
Eingemeindungen, II, von Linz. — ete.
Blätter, Volkswirtschaftliche. Jahrg. IX, 1910, Nr. 6: Die wirtschaftliche Lage
der praktischen Volkswirte und Vorschläge zur Verbesserung ihrer Tätigkeitsbedingunged,
von Krueger und Hager. — ete. — Nr. 7: Die Ablösung der Gewerbe von der Haus-
wirtschaft, von Heinz Potthoff. — Kommunalkredit, von Fritz Schumann. — Die
Reichsversicherungsordnung, von M. Wagner. — etc. — Nr. 8: Die monograpbische
Darstellung der Aktiengesellschaften, von (Prof.) Otto Warschauer. — Auch ein In
dustriejubilium, von Franz Bendt. — Studien über soziale und wirtschaftliche Ver-
hältnisse geschlossener Gebiete, von Daudert. — Das Genossenschaftswesen in Japan,
von A. Nishigali. — etc.
Export. Jahrg. XXXII, 1910, Nr. 16: Die deutschen Banken im Jahre 1909,
von R. Jannasch. — ete. — Nr. 17: Die Entwicklung der deutschen Treuhandgesell-
schaften. — ete. — Nr. 18: Englands Finanzkräfte in Lateinamerika. — Deutschlands
Seefischerei und der Deutsche Seefischerei-Verein. — ete. — Nr. 19: Die Handels-
verträge des Deutschen Reichs. Mai 1910. — ete. — Nr. 20: Rooseyeltsche Welt-
anschauung. — ete.
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich.
Jahrg. 34, 1910, Heft 2: Die Wanderungen der Großindustrie in Deutschland ig
den Vereinigten Staaten, von Hermann Schumacher. — J. Bentham und Ad. Smt,
Die periodische Presse Deutschlands. 857
von Friedrich Hoffmann. — Fürst Bismarck und das Bankwesen, von Heinr.
von Poschinger. — Die Kaffeevalorisation, von F. Altschul. — Das Persönliche im
modernen Unternehmertum, II, von Kurt Wiedenfeld. — Autonomie der französischen
Häfen, von Hermann Büchel. — Reichsarbeitsnachweis und Arbeitslosenversicherung in
England, von Georg Huth. — Die Pensionsversicherungspflicht der Privatangestellten
nach der österreichischen Gesetzgebung, von Heinz Post. — Innere Kolonisation und
Landarbeitersiedlung, von Otto Gerlach. — Die Produktivität der industriellen Arbeit,
von Karl Ballod. — Bericht über die 29. Jahresversammlung des Deutschen Vereins
für Armenpflege und Wohltätigkeit, von Emil Münsterberg. — etc.
Jahrbücher, Preußische. Bd. 140, Heft II, Mai 1910: Aus der Geschichte der
preußischen Volksschule, von (Prof.) Max Lehmann. — Die Ehereformbestrebungen der
Gegenwart, von (Prof.) Adolf Matthaei. — etc.
Industrie-Zeitung, Deutsche. Jahrg. XXIX, 1910, Nr. 17: Der Kampf im
Baugewerbe, von Alfred Kubatz. — Der Kampf gegen die Wohlfahrtseinrichtungen in
Großbetrieben. — etc. — Nr. 18: Die Reichswertzuwachssteuer. — ete. — Nr. 19, 20:
Ueber Industriepolitik. Offenherzige Betrachtungen, von Arnold Steinmann-Bucher.
— ete.
Kartell-Rundschau. Jahrg. 8, Heft 4, April 1910: Ersatz für Kartellsola-
wechsel, von Ernst Schmid. — Die Besteuerung von Kartellen in Preußen, III, von
Leo Vossen. — Verpflichtungsscheine der Kartelle zwecks Herbeiführung einer Kund-
schaftsbindung, von Karl Hirsch. — etc.
Kultur, Soziale. Jahrg. 30, Mai 1910: Das Judentum im 19. Jahrhundert, von
Hans Rost. — Das ländliche Erbrecht des neuen schweizerischen Zivilgesetzbuchs, von
Hans L. Rudloff. — etc.
Medizin, Soziale, und Hygiene. Bd. V, 1910, Nr. 4: Das Problem der ärzt-
lichen Versorgung des flachen Landes, von Eisenstadt. — Tuberkulosebekämpfung im
Landkreis Worms, von Marie Kröhne. — etc.
Mitteilungen des Handelsvertragsvereins. 1910, Nr. 8: Weltpennyporto und
Weltpostbureau. — ete. — Nr. 9: Keine Repressalienpolitik. — Belgische Tarifrevision.
— Tarifreformtaktik und Schutzzollpropaganda, von Fr. Glaser. — etc.
Monatshefte, Sozialistische. 1910, Heft 9: Die geplante Reichsversicherungs-
ordnung, von Paul Umbreit. — Die Stellung der Arbeiter- und der Unternehmerorgani-
sationen zum Projekt der Reichsversicherungsordnung, von Karl Severing. — Austral-
asiatische Rätsel, von Gerhard Hildebrand. — Die gelben Gewerkschaften, von Georg
Schmidt. — ete. — Heft 10: Positive Kritik des Marxschen Wertgesetzes, von Conrad
Schmidt. — Die Baumwollfrage, von Gerhard Hildebrand. — Ueber gewerkschaftliche
Statistik, von Rudolf Wissell. — Sozialreform für das Gesinde, von Friedrich Kleeis.
— ete.
Oekonomist, Der Deutsche. Jahrg. XXVIII, 1910, No. 1425: Reichs-Wert-
zuwachssteuer. — ete. — No, 1426: Handelspolitik einiger Großmächte in Ostasien. —
Reichs-Wertzuwachssteuer. — ete. — No. 1427: Tantiemen. — ete. — No. 1428: Die
Erschütterung der herrschenden Handelspolitik in Nordamerika. — etc.
Plutus. Jahr 7, 1910, Heft 17: Fürs Reich. — ete. — Heft 18: Kartellstatistik,
von Ludwig Silberberg. — ete. — Heft 19: Amerikanische Eisenbahnkönige, von Ernst
Schultze-Großborstel. — ete. — Heft 20: Neugründungen und Kapitalserhöhungen, von
Richard Calwer. — ete. — Heft 21: Unsere Großbanken, von G. B. — etc.
Rechtsschutz, Gewerblicher, und Urheberrecht. Jahrg. 15, Nr. 4, April 1910:
Ueber die Teilung von Patentanmeldungen, von (Geh. Reg.-R.) W. Dunkhase. — Er-
sparnisse im Warenzeichenwesen, II, von (Reg.-R.) Pflug. — etc.
Revue, Deutsche. Jahrg. 35, Mai 1910: Die Idee der Volkssouveränität, von
Karl v. Stengel. — Der Arzt als Erzieher, von Wilhelm His. — Die Stellung Ruß-
lands, Japans und der Vereinigten Staaten in Ostasien, eine Gefahr für den Weltfrieden,
von M. v. Brandt. — etc.
Revue, Politisch-Anthropologische. Jahrg. IX, No. 2, Mai 1910: Die sozial-
biologische Funktion der Religion, von O. Schmidt-Gibichenfels. — Das Willensproblem,
von L. M. Wigand. — Gelten die Mendelschen Regeln für die Vererbung menschlicher
Krankheiten? Von Fr. von den Velden. — etc.
Revue, Soziale. (Essen-Ruhr.) Jahrg. X, 1910, Quartalsheft 2: Der Tarifvertrag
und der Dienstvertrag der Privatbeamten, von Wilhelm Tewes. — Das Recht auf Arbeit,
von Hackmann. — Eine Studienreise der Berliner technischen Hochschule nach Eng-
858 Die periodische Presse Deutschlands.
land, von Otto Schwarzweber. — Der Entwurf zur Reichsversicherungsordnung, von
G. J. — Wohnungsverhältnisse der Lohnarbeiter in Spanien, von Ludw. Loydold. — eu.
Rundschau, Deutsche. Jahrg. 36, Heft 8, Mai 1910: Rudolf von Bennigsen.
— etc.
Rundschau, Koloniale. Jahrg. 1910, Heft 5, Mai: Quellen der Kraft im tro-
pischen Afrika, besonders im deutschen Schutzgebiet Kamerun, von Guillemain. — Die
französischen Kolonien im Jahre 1909, I, Einleitung und Indochina, von (Wirkl. Geh.
Legations-R.) B. von König. — Die Diamantenregie (Schluß), von W. Regendanz. — ete.
Rundschau, Masius. Blätter für Versicherungswissenschaft. Neue Folge.
Jahrg. XXII, 1910, Heft V: Privatbeamten-Versicherung. — Was macht den Aufent-
halt in den Tropen so gefahrvoll? — Private oder staatliche Mobiliarfeuerversicherung
in der Schweiz? — etc.
Sozial-Technik. Jahrg. IX, Heft 9, 10, Mai 1910: Aus den Erfahrungen
eines technischen Aufsichtsbeamten, von Wilhelm Schirmer. (Forts.). — Die Entwicke-
lung der Berliner Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft vormals L. Schwartzkopff, insbe-
sondere die Arbeiterfürsorge und Wohlfahrtseinrichtungen in ihren Betrieben, von Aug.
Weickert. — Unfallverhütung in englischen Bergwerken, von H. Walter. — etc.
Wirtschafts-Zeitung, Deutsche. Jahrg. VI, 1910, Nr. 8: Zur Reichsversiche-
rungsordnung, von Meesmann. — Zur deutschen Sozialpolitik im Jahre 1909, von Her-
mann Schultze. — Schutzzoll und Luftschiffahrt, von (Rechtsanwalt) Paul Marcuse. —
Die Ein- und Auswanderungsbewegung der Vereinigten Staaten von Nordamerika im
Jahre 1908/09, von Ludwig Loydold. — Die Lage auf dem Arbeitsmarkt, von Georg
Sydow. — etc. — Nr. 9: Die Wertzuwachssteuer, von Georg Haberland. — Die wirt-
schaftliche Ausbildung des Ingenieurs, von (Prof.) W. Kähler. — Das Problem der neu-
zeitlichen Großstadt, von Walter Lehwess. — Das Versicherungswesen im Jahre 1909,
von Otto Meltzing. — etc. — Nr. 10: Eine Auskunftsstelle für den deutschen Außen-
handel, von Brandt. — Die wirtschaftliche Ausbildung des Ingenieurs, von (Prof.)
W. Kähler. — Das Versicherungswesen im Jahre 1909, von Otto Meltzing. — etc,
Zeit, Die Neue. Jahrg. 28, 1909/10, Nr. 30: Die Aussichten einer Arbeiterpartei
in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, von L. B. Boudin. — ete. — Nr. 31:
Reformversuche vor der französischen Revolution, von Hermann Wendel. — ete. —
Nr. 32: Die Entwieklung der Produktionskräfte und der Arbeitslohn, von P. Masslow.
— ete. — Nr. 33, 34: Die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen der persischen
Revolution, von Arschavir Tschilinkirian. — etc.
Zeitschrift für Handelswissenschaft & Handelspraxis. Jahrg. 3, Heft 2, Mai
1910: Die Notenausgabe der Wiener Bank im Jahre 1762, von A. Boerner. — Das
moderne Einkaufsbureau, von Carl Redtmann. — etc.
Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft, Jahrg. XII,
Heft 4, April 1910: Indiens Stellung im britischen Weltreich, von Lord Curzon. —
Kolonialverfassung und koloniales Verordnungsrecht, von Sassen. — Bergbau in Deutsch-
Ostafrika, von Gallus. — Plantagenbetrieb und Eingeborenenkultur im Kakaoanbau und
der englische Thom&-Boykott, von (Konsul) Carl Singelmann. — ete.
Zeitschrift für Socialwissenschaft. Neue Folge. Jahrg. 1, 1910, Heft 5: Die
voraussichtliche Entwicklung der Volkszahl im Deutschen Reich, von F. Prinzing. —
Politik und Nationalökonomie, IV, von L. Pohle. — Beiträge zur Theorie des Kapital-
zinses, V, von H. Oswalt. — Die Verwaltung der Freien Gewerkschaften in Deutsch-
land, II, von Bernhard Schildbach. — etc.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jahrg. 66, 1910, Heft 2: Marx
oder Kant? Von Johann Plenge. — Technik und soziale Entwicklung, von Max Ried.
— Die Ursachen der industriellen Revolution in Belgien, von Jan St. Lewinski. — Die
finanzpolitischen Besteuerungsprinzipien in Literatur und Theorie, I, von Emanuel Hugo
Vogel. — Ursprung und Lage der Landarbeiter in Livland, II, von Alexander Tobien.
— Kritik darüber, von A. Agthe. — ete.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Bd. 30, Heft 7, 1910:
Weiteres zur Geschichte der ältesten Zucht-Häuser zu Amsterdam, von (Staatsanwalt)
Ernst Rosenfeld. — ete.
Frommaunsche Buchdruckerei (Hermann Pohle) in Jena — 3663
IN | Lull
32101 06787342