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/
/
Jenaisclie Zeitselmft
für ■ » s ***
MEDICIN
und
NATURWISSENSCHAFT
herausgegeben
von der
f
medicinlsch - naturwissenschaftlichen Gesellschaft
zu Jena.
Fünfter Band.
Mit aohtiehn Tafeln.
Leipzig,
Verlag von W ilh elm K n « '• 1 "> " » »>•
1870,
Inhalt.
Seite
Jaeger, Dr. Oust, Ueber das Längenwachsthum der Knochen. (Mit
2 HolMchnitten) 1
Oegenbaur^C, Ueber das Skeletgewebe der Cyclostomen. (Taf . I) ... 43
Dohrn, Dr. A., Untersuchungen über Bau und Entwickelung der Arthro-
poden. 1. Ueber den Bau und die Entwickelung der Cumaceen.
(Taf. n u. ni) 54
Fr oel ich, Dr. Otto, Ueber die Monochlocrotonsäure und ihre Salze ... 82
B es 8 eis, Emil, Einige Worte Ober die Entwickelungsgeschichte und den
morpholog. Werth des kugelförmigen Organes der Amphipoden. (Mit
2 Hollschnitten) . 91
Pocke, Dr. W. O., Die synthetische Methode erläutert an den Blattformen
des Kubus Id&us L 102
Harting, Prof. P., Ueber eine sich durch Vererbung fortpflanzende Asym-
metrie des menschlichen Skelets HO
Schnitze, B. S., Ueber Palpation der Beckenorgane und über graph. No-
tirung des Resultats derselben. (Taf. IV) 113
Maller, Fr., Die Bewegung des Blüthenstieles von Alisma 133
Dohrn , Dr. Ant., Untersuchungen Ober Bau und Entwickelung der Arthro-
poden. 2. Ueber Entwickelung und Bau der Pycnogoniden. (Taf. V u.
VI) 138
Mahn, Dr. R., Ueber einige Zersetsungsproducte des Phosphorwasserstuffs,
des Antimonwasserstoffs und des Silicium Wasserstoffs 158
Maller, Wilh., Beobachtimgen des pathologischen Instituts zu Jena im
Jahre 1868. (Taf. VD) 167
Haeckel, Ernst, Ueber den Organismus der Schw&mme und ihre Ver-
wandtschaft mit den Corallen 2U7
— Prodromus eines Systems der Kalkschwftmme 236
Müller, Fr., Bemerkungen über Cypridina. (Taf. VUI u. IX) 255
Dohrn, Dr. Anton, Untersuchungen über Bau und Entwickelung der
Arthropoden. 3. Die Schalendrüse und die embryonale Entwickelung
der Daphnien. (Taf. X) 277
Untersuchungen über Bau und Entwickelung der Arthropoden. 7. Zur
Kenntniss vom Bau und der Entwickelung von Tanais. (Taf. XI u. XII) . 293
Reichardt, Dr. H., Ueber die Zersetzungsproducte des Traubenzuckers
bei Einwirkung starker Basen 307
lY iDhalt.
Gegenbaur, C, Ueber das Gliedmaassenskelet der Enaliosaurier. (Taf.
XIII) 332
Schultze, B. S., Eine Gebärmutter mit mindestens fünfzig Fibroiden. (Taf.
XIV) 350
Ha e ekel, Ernst, Ueber Entwickelungsgang und Aufgabe der Zoologie.
Rede, gehalten beim Eintritt in die philosophische Facultät zu Jena am
12./I. 1869 353
Schreiber, Dr. A., Ueber Diäthglyoxylsäure-Aether 371
Frey er, W., Die Verwandtschaft der Töne und Farben 376
Qegenbaur, C, Ueber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbelthiere im
Allgemeinen und der Hintergliedmaassen der Selachier insbesondere.
(Taf. XV u. XVI und 7 Holzschnittfiguren) 397
Ueber die Modificationen des Skelets der Hintergliedmaassen bei den
Männchen der Selachier und Chimären (Fig. 15—24 auf Taf. XVI) . . 448
.Vbbe, E., Ueber einen Spectralapparat am Mikroskop. (Mit 1 Holzschnitt.) 459
J) ührn , Dr. Anton, Untersuchungen über Bau und Entwickelung der Arthro-
poden. S. Die Ueberreste des Zoea-Stadiums in der ontogenetischen
Entwickelung der verschiedenen Crustaceen-Familien 471
Haeckel, Ernst, Beiträge zur Flastidentheorie.
1 . Die Flastidentheorie und die Zellentheorie 492
2. Bathybius und das freie Frotoplasma der Meerestiefen. (Taf. XVII) : 499
3. Myxobrachia von Lanzerote. (Taf. XVIII) 519
4. Die Flastiden und das Frotoplasma der Rhizopoden 527
5. Amylum in den gelben Zellen der Kadiolarien 532
6. Die Identität der Flimmerbewegung und der amoeboiden Froto-
plasmabewegung 540
7. Die Flastidentheorie und die Kohlenstofftheorie 544
Kleinere Mittheilungen.
Kocke,I)r. O. W.. Uober Kulms Leesii Babingt 127
Seh ult7.e, B. S., Pi'ssarien aus weichem Kupfcrdraht und vulcaniäirtem Gummi . . . 1.30
Mikluch o- Muülay f Ueber das Gehirn der Chimära l.']2
Reichard t , ß., ZoiM^hemischc Mittheilungen :iH\i
Hurckhard, Dr. Paul, Electroly tische Versuche 'MV.\
Analyse eines Bronce-Riogcs aus einem heidnischen Grabe bei Tirschneck, nahe
Cawihurg :i»5
lieber das Längeiwaclistliiuii der KiodieM
von
Dr. Gustav Jaeger,
Docent für Anthropologie und Zoologie in Stuttgart und Hohenheim.
Mit 2 Figuren in Holzschnitt.
Wenn man von der Ansicht ausgeht, dass die verschiedenen For-
men des Thierreiches eine Entwicklung aus anderen, ihnen vorangegan-
genen seien, so wird man genöthigt, sich nach den Ursachen umzu-
sehen, die abändernd einwirken auf den Körperbau. Lamargk war der
erste, der auf eine morphologische Kraft hinwies, von der wir experi-
mental constatiren können, dass sie selbst noch auf das erwachsene
Thier abändernd einwirken kann, nämlich Steigerung des Gebrauches;
und er baute darauf seine bekannte Lehre von der Entwicklung der
Thierwelt.
Seit Lamarge seinen Gegnern unterlag, hat man dieser morpholo-
gischen Kraft fast nur noch von Seite der ThierzUchter (Natrcsius, über
den Schweinsschädel) und in neuerer Zeit von Seite der Vertreter der
Gymnastik einige Aufmerksamkeit zugewendet. Auf diesen beiden
Gebieten macht man praktischen Gebrauch von dem Umstand, dass
gesteigerter Gebrauch eines Körpertheiles dessen anatomische Beschaf-
fenheit ändert. — Einige Untersuchungen , die ich anstellte , um die
Wirkungen des aufrechten Ganges auf den Körperbau des Menschen
präciser kennen zu lernen , sind die Veranlassung geworden , der ge-
nannten morphologischen Kraft etwas weiter nachzuspüren, als man es
seither gethan hat, und ich fand hiebei, dass selbst solche kör-
perliche Verhältnisse des Menschenleibes, die manbis-
her nicht in den Bereich der veränderlichen Merkmale
hereinzuziehen wagte, offenbar das Resultat dieser Kraft
sind. Diese Wahrnehmung veranlasste mich, meine Untersuchungen
auch auf das Thierreich auszudehnen, um zu sehen, ob hier ein allge-
meines Gesetz vorliege. Die reiche Skeletsammlung des Stuttgarter
Naturaliencabinets , deren Benutzung Herr Oberstudienrath Dr. Krauss
IM. \. t. i
2 Dr. Gostav Jaeger,
mir mit der grössten Liberalitat gestattete , bot mir hiezu Gelegenheit,
und der Güte des Vorstandes der hiesigen Thierarzneischule, Herrn
Ober-Medicinalrath Dr. v. Hering, verdanke ich die Möglichkeit, auch
Hausthiere in den Bereich meiner Untersuchungen zu ziehen. Bei der
mir kärglich zugemessenen Zeit musste ich mir jedoch manche Beschrän-
kung auferlegen. Einmal untersuchte ich nur die Wirbelsäule und die
Hauptabschnitte der Extremitäten, und für^s zweite ist die Zahl der ge-
messenen Thierarten eine nur geringe ; immerhin aber glaube ich, dass
das beigebrachte Material hinreichend gross ist, um mit annähernder
Sicherheit allgemeine Schlüsse daraus ziehen zu können. Eine Fort-
setzung meiner Messungen wird mich wohl in den Stand setzen, die-
sem Bericht, den ich als eine vorläufige Mittbeilung betrachte,
weitere folgen zu lassen. In diesen werde ich dann auch ausführlicher
über bisher in dieser Richtung von Andern gemachte Beobachtungen
berichten können. Besonders wichtig dürften in dieser Beziehung die
Untersuchungen von Herrn Professor M|tbr in Zürich sein. Die kurze
Notiz in dem Tageblatt der Frankfurter Naturforscher-Yersammlung ist
zu unvollständig, um eine voUe Einsicht zu gewinnen^ es ist nur so
viel ersichtlich, dass er auf einem ganz andern Wege zu dem Resultate
kam, dass Zug und Druck an der Formung des Skelets theilnehmen.
Für die Mittheiiung meiner Messungen habe ich den gleichen Weg
gewählt, den ich bei der Untersuchung ging.
I. Abschnitt.
Knochenwachsthnm des Xansohan.
Meine Untersuchungen begannen mit dem Knochengerüste des
menschlichen Vorderfusses. Diess unterscheidet sich bekanntlich von
dem der vierfüssigen Sohlengänger durch einige wesentliche Merkmale:
i) die Schiefstellung der Fusswurzel in der Art, dass sie
nur mit ihrem äusseren Rande den Fussboden berührt. Unter den Thie-
ren scheinen nur die Menschenafifen «ine ähnliche Stellung der Fuss-
wurzel zu besitzen. Ausser Stande, ein Skelet zu vergleichen, scfaliesse
ich diess aus den übereinstimmenden Schilderungen und Abbildungen
der Gangart dieser Thiere. Es wird nämlich ausdrücklich gesagt, dass
sie nur mit dem äusseren Fussrand auftreten , die vier äusseren Zehen
faustartig einkrümmen und die abgestellte grosse Zehe als zweiten
Stützpunct gebrauchen. Diese Gangart setzt mit Nothwendigkeit eine
schiefgestellte Fusswuj*zel voraus ^ und wenn ein Präparator einem
Orangfusse eine andere Stellung gegeben hat, so liegt «eher ein gegen
Ueber das Ltogß&wftcbstbnm der Knochen. 3
die Watarbeii verstossendes Artetact vor. Da der Mensch die schiefe
Stellung der Fusswurzel bereits mit auf die Welt bringt, wovon man
sich sehr leicht am Lebenden überzeugen kann , so müssen wir dieses
anatomische Merkmal des Fussskelets ein ererbtes nennen.
i) Die zwei anderen specifischen Merkmale des Menschenvorder-
fusses sind die Niederrollung der Mittelfussknochen und die
Verstärkung des ersten und fünften I^etatarsvts.
Da beides im Thierreich nicht vorkommt, auch nicht beim Men-
schenaffen, so lag es nahe, diese Merkmale als erworbene, dem
zuerst genannten als dem ererbten gegenüber zu stellen. Zunächst
wollte ich mit dem Ausdrack »erworben« einen Vorgang bezeichnen,
der zeitlich zusammenfiele mit der -Entstehung des Menschengeschlech-
tes ; als idi aber einen Blick auf den Fuss des Säuglings warf, sah ich,
dass das Wort »erwerben« eine viel näher liegende Bedeutung habe.
Von einer Niederrollung der MitTtel-
fussknochen ist nämlich beim Kinde nichts
zu sehen, sie liegen parallel neben einander ; der
Sohle mangelt deshalb die charakteristische GewOlbe-
bildung, sie ist fladi und liegt nicht horizontal, son-
dern bildet einen Winkel von nahezu einem halben
Rechten mit dem Horizonte (siehe Fig. 4 ) .
Aebnlich verhält es sich mit der Verstär-
kung des inneren und äusseren Mittelfuss-
knochen s. Der der grossen Zehe ist zwar bereits
etwas stärker als die mittleren^ der äussere dagegen
zeigt noch keine Spur jener beträchtlichen Verstär- ^^^' ^ *
kung seines Fusswurzelendes und der geringeren
des Gapitulums.
Nach diesem Befund lag es auf der Hand, zu sagen: diese beiden
anatomischen Merkmale der Fusswurzelknochen müsse sich jeder ein-
zelne Mensch erst nach seiner Geburt erwerben. Zufälligerweise war
mein jüngstes Kind gerade in dem Alter, wo es anfing , das Laufen zu
lernen und so konnte ich mich zunächst davon überzeugen, dass die
Niederrollung der Mittelfussknochen zuerst eine ganz
vorübergehende ist. Sitzt oder liegt das Kind, so fehlt sie gänz-
lich, erst in dem Moment, wo es sich auf die Füsse stellt, nimmt es sie
durch einen Act freiwilliger Muskelbewegung* vor und je häufigei^ es
diess tbut, um so unvollkommener kehren die Knochen in die ange-
bome parallele Stellung zurück; dieses körperliche Merkmal
des Fussskelets erwirbt sich also das Kind durch den
Gebrauch, den es von diesen Knochen macht. Wenigstens
4*
4 Dr. GosUy Jaeger,
däuchte mir diese Erklärung natürlicber, als die bisherige Anschauung:
Prädestination sei es, welche das Auftreten der Sohlenwölbung verur-
Sache und der aufrechte Gang sei erst die Folge dieser günstigen Fuss-
gestaltung. Offenbar ist das Verhäitniss umgekehrt: dadurch, dass das
Kind auf zwei Füssen sich erhebt, und zwar mit Hilfe der Klam-
merkraft seiner Hände und der Zugkraft seiner Arme,
nöthigt es seine noch frei beweglichen Mittelfussknochen mittelst Mus-
keizug sich mit ihren vorderen Enden an den Fussboden anzudrücken,
ein Act, ebenso willkürlich wie das Anschmiegen derMetacarpaiknochen,
wenn die Hand einen Gegenstand erfasst. Dass mit der Zeit die Mittel-
fussknochen diese Stellung dauernd einnehmen, hat dann dieselben
bekannten Ursachen wie die Fixirung irgend eines anderen Gelenkes,
wenn es längere Zeit in der betreffenden Stellung unthätig verharrt.
Hiebet mache ich die gelegentliche Bemerkung : die Vorbedingung des
aufrechten Ganges ist der Besitz einer Greif band , deshalb konnte sich
der Mensch nur aus den Greifhändem entwickeln.
Hatte sich nun für dieses Merkmal nicht nur klar herausgestellt,
dass es überhaupt erworben werden muss, sondern war auch das Mit-
tel dieser Erwerbung, »der Gebraucha an den Tag gekommen, so
lag es nahe, auch rücksichtlich des dritten Merkmales: der Verstär-
kung der äusseren Mittelfussknochen ähnliches zuver-
muthen: nämlich dass der Gebrauch es sei, der sie herbei-
führe.
Das, was wir über das Wachsthum des Knochens wissen, begün-
stigt offenbar diese Vermuthung ; das Dickenwachsthum geht aus von
der Beinhaut, das Längenwachsthum von den zwischen Epi- und Dia-
physe eingeschalteten Knorpelscheiben. Jede Reizung dieser zwei
Knochen producirenden Gewebe wird nun voraussichtlich eine ver-
mehrte Knochenbildung einleiten können : Zerrung der Beinhaut durch
die an sie sich heftenden Muskeln und Gelenkbänder wird das Dicke-
wachsthum befördern , der Druck auf die Endknorpel und Zwischen-
knorpelscheiben das Länge wachsthum.
Diese allgemeine Erwägung legte also die Vermuthung nahe , dass
auch bei der Verstärkung des äusseren und inneren Mitteifussknochens
der Gebrauch die eigentliche Ursache sei , zumal da auf der Hand lag,
dass bei der aufrechten Stellung diesen beiden Knochen die grösste
Arbeit auferlegt ist. Um diese Vermuthung zur Gewissheit zu erheben,
nahm ich eine Reihe von Messungen vor. Da mir leider nicht das ge-
nügende Material von Skeleten verschiedener Altersstufen zu Gebote
stand, so war ich genöthigt, die Messungen an Lebenden vorzunehmen.
Ich stellto sie in folgender Weise an : es wurde auf den Fussrücken
Ueber dM LlngenwaehsthiuD der KDOohen.
. 5
quer über die vordern Enden der Mittelfu ssknochen ein Papierstreifen
gelegt. Auf ihm markirte ich die Enden der Zehenspalten und den
innern und äussern Pussrand. So bekam ich einen Einblick in die re-
lative Breite der vorderen Enden der Mittelfussknochen.
Für den inneren Hetatarsus ist diese Messmethode ziemlich genü-
gend , für den Metatarsus der fünften Zehe leidet sie an zwei Unvoll-
kommenheiten. Einmal verdickt dieser sich an seinem vorderen Ende
weit weniger als an seinem hinteren ; insofern wären die erhaltenen
Maasse zu klein, andererseits bekam ich bei der Messung am vorderen
Ende die mit der Zeit eintretende Verdickung der Weichtheile mit in
den Kauf und somit wären die erhaltenen Maasse zu gross. Da sich
nun aber beides oompensirtj so glaubte ich es doch bei dieser Messung
vorläufig bewenden lassen zu können.
* Ich gebe im Polgenden eine Tabelle der gewonnenen Maasse in
Millimetern, und zwar zusammengestellt nach Familien.
1. Familie.
Geschlecht
4. Meta-
tarsus
No.
Alter
resp. Beschäf-
tigung
2ter
8ter
4ter
5ter
4.
8 Monate . .
Knabe
46
44
8V2
8V2
40
t.
^VsJahr .
Mädchen
46
9
8
8
40
8.
sVaJahr .
Mädchen
48
44
9
9
42
4.
5 Jahre . .
Mädchen
491/,
421/,
9
9
42
5.
6 Jahre . .
Knabe
20
48
40
44
48
6.
85 Jahre . .
Biann,
sitzende
Lebensart
88
44
45
48
25
7.
82 Jahre . .
Frau
29
45
45
42
49
S.
26 Jahre . .
Magd
80
44
45
45
24
9.
40.
9 Jahre . .
4 8 Va Jahre.
8. Familie.
Knabe
22
44
»V2
401/2
Mechaniker,
86
44
42
42
steht viel
46
26
3. Familie.
44.
42.
48.
44.
45.
46.
47.
5Vs Jahre
9 Jahre .
4 0 Jahre .
42 Jahre .
44 Jahre .
89 Jahre .
89 Jahre . .
Mädchen
Mädchen
Mttdchen
Mädchen
Knabe
turnt von
Jugend auf
Frau unge-
wöhnlich
gross
24
48
42
44
26
42
40
44
82
44
42
44
30
48
44
42
89
49
44
45
88
44
45
48
40
49
48
45
45
46
48
47
25
25
26
6
Dr. Gostav Jaeger,
4. Familie.
No.
Alter
Geschlecht
resp.Besphäf-
tigung
4. Heta-
tarsus.
2ter
8ter
4ter
5ter
48.
49.
20.
4 8 Monate .
5 Jahre . .
33 Jahre . .
Knabe, läuft
noch nicht
Knabe
läuft viel und
arbeitet ste-
hend
45
20
44
44
44
44
40
9
43
44
401/,
44
42
«♦V2
26
24.
2 Jahre . .
Mädchen
22.
48/4 Jahre .
Mädchen
23.
39 Jahre . .
Mann
5. Pami
lie.
48
44
44
40
20
42
40
40
86
45
43
47
44
46
24
Aus diesen Tabellen geht hervor, dass die grosse und kleine
Zehe, resp. das Ende ihrer Metaiarsen, mit zunehmendem Alter
stetig im Verhältniss zu den andern Metatarsen anDicke
gewinnen und die wenigen Messungen geben auch schon deutliche
Anzeichen, dass bei Individuen, die mehr stehen und gehen, die Diffe-
renz zwischen den mittleren und äusseren Metatarsalknochen eine
grössere ist als bei Leuten von sitzender Lebensweise. Man vergleiche
z. B. No. 7 u. 8. Femer bei mir, der ich von Jugend auf eine sitzende
Lebensweise führte , beträgt der Unterschied zwischen dem Mittel der
drei mittleren (16) und der grossen Zehe 22, bei meinem Freunde
No. 20, der viel auf die Jagd geht und stehend arbeitet, 29 Millimeter.
Freilich sind in dieser Beziehung die vorliegenden Messungen absolut
ungenügend ; ich muss mir deshalb vorbehalten, sie nachzuholen resp.
Andere, denen reichliches Material zu Gebote steht, auffordern, solche
Messungen vorzunehmen. Abgesehen von der theoretischen Wichtig-
keit wäre es von praktischem Interesse , das Maximum und Minimum
dieser Veränderlichkeit des Metatarsus unter dem Einfluss verschiede-
ner Beschäftigungsweisen kennen zu lernen; Einerseits zu wissen, bis
zu welcher Stärke Gymnastiker, Akrobaten und Fussgänger ihre Meta-
tarsen hinaufschrauben können und andererseits wie tief unter dem
Normalmaasse sie zurückbleiben bei Menschen , welche niemals in die
Lage kamen, durch den aufrechten Gang ihre Metatarsen zu stärken.
Nachdem ich diese Erfahrungen gewonnen, lag es nahe, zu unter-
suchen, ob nicht auch an den übrigen Skelettheilen sich
Anzeichen dafür finden lassen, dass erhöhter Gebrauch
ein stärkeres Wachsthum bedinge. Da die Untersuchung der
Dickeverhältnisse der Knochen am Lebenden nicht auszuführen ist, so
beschränkte ich mich, die Längenausdehnung zu messen. Ich sah
Dcbtr du UigMWwluttiuD dir KdiwImd. 7
hiebei sUD&chst ab voa dem durch Mufikelzusammeazi^utig auf den
KDOcheD ausgeübten Drook iD der Läogenaxe und richtete meio Augen-
merk nur darauf, ob diejenigen Knochen, welche in Folge
der natürlichen Haltung des Körpers unter dem Druck
einer grosseren Last stehen, beim Erwachsenen relativ
länger sind als beim Neugebornen.
Der erste Pnnct, in Bezug auf welchen sich diese Vermuthung be-
■tUtigte, ist das Langenverhältniss von Bein und Bunpf.
Beim Neugebornen kommen von der TotalkSrperUnge im Betrag von
90 Ctm. nach der Angabe von Louazic, mit der einige Messungen, die
ich selbst madite, ziemlich genau stimmen, 30 Ctm. auf den Rumpf,
20 auf das Bein. BeimErwachsenen kommen nach Luarmc von 175 Ctm.
Totallange 87 auf den Humpf, 94 auf das Bein. Hiebei würde die
Schosstuge als Punctum ßzum angenommen. Ich fUge dem noch foei
die Liste meiner eigenen Familie.
Aller
Geschlecht
Rompt
Bein
S Honets. .
i'/j Jahr ■ .
|i/,Jal>r. .
SJabr . . .
• Jahr . . .
SB Jahr . . .
Sl Jahr . . .
Knabe
MBdcfaen
Mädchen
Hadcben
Knabe
USDD
Frau
S8 Clm.
1,9 -
51 -
55 -
BS -
8( -
77 -
SOCttn.
17 -
(3 -
«8 -
BS -
SS -
81 -
Beinttg der Totallange
- *s'g l -
- *6,6« - -
Ulli :
Das Bein nimmt also bei fortschreitendem Alter an Länge gegen-
über dem Rumpfe zu; d. h. der tragende Kürpertheil wachst starker
in die Länge als der getragene.
Hierauf mass ich dasVerhältniss von Arm und Bein; der
Fuss ist gemessen von der Schossfuge bis zur Sohle, der Arm bei wsg-
rechter Streckung vom Akromion bis zur Fingerspitze. Die dritte Bubrik
giebt die Differenz des Wacbsthumsbetrags. Die Haasse sind Genti-
meter.
AHer
Gesohlecfat
Arm
Bein
Di Heren X
» MoiMte. .
Kuabc
ä9 Clni-
SO Ctm,
1 Ctm.
Madcben
37 -
H Jal.r. , .
Mädchen
37 -
*S -
s -
S Jahre. . ,
tu -> .
ii -
5i -
«Jahre. ,
Ktiaho
ntthn. . .
n übn. . .
Krau .
7 -
8
Dr. Gusta? Ja^r,
. Aus diesen Messungen ging der Satz hervor: das stärker be-
lastete Gliedmaassenpaar wächst stärker in die Länge
als das minder belastete.
Begreiflicherweise ging ich mit gespannter Erwartung an die Yer-
gleichung von Ober- und Unterschenkel. Denkt man sich den
Menschen in aufrechter Stellung, so lastet auf dem letztern ein grösse-
rer Druck als auf dem ersteren , und ich vermuthete demgemäss ein
stärkeres Wachsthum des Unterschenkels zu finden. Sehen wir nun,
in wieweit die folgende Tabelle hiemit stimmt. Ich gewann sie durch
Messung meiner eigenen Familienmitglieder, denen ich in No. i die
eines Skeletes vom Neugeborenen und in No. 9 die eines erwachsenen
männlichen Skeletes beigesellte. Die Art des Wachsthums stellte ich
dadurch fest , dass ich für jeden Gliedmassenabschnitt die Differenz
zwischen den zwei im Alter nächstliegenden Individuen suchte.
Oberschenkel. Unterschenkel.
No.
Alter u. Geschlecht
Ctm.
Differenz
Ctm.
Ctm.
Differenz
Ctm.
4.
Neugeb. Skelet . .
8,5
7,3
2.
8 Monate, Knabe .
15,3
von 4 u. 2
6,8
43,2
von 4 u. 2
5,9
3.
2V2 Jahr, Mädchen
49,0
von 2 u. 3
3,7
46,5
von 2 u. 3
3,3
4.
3 Va Jahr, Mädchen
24,9
von 3 u. 4
2,9
49,7
von 3 u. 4
3,2
5.
5 Jahre, Mädchen
24,7
von 4 u. 5
2,8
22,9
von 4 u. 5
3,2
6.
6 Jahre, Knabe. .
23,5
von 6 u. 3
4,5
24,9
von 6 u. 3
&,4
7.
85 Jahre, Mann . .
43,2
von 6 u. 7
49,7
38,0.
von 6 u. 7
46,4
8.
82 Jahre, Frau . .
44,8
von 5 u. 8
47,4
38,7
von 5 u. 8
45,8
9.
Erwachs. Skelet .
43,0
von 6 u. 9
49,5
39,5
von 6 u. 9
47,6
Aus dieser Tabelle geht, wenn man überhaupt aus so wenig Mes-
sungen allgemeine Schlüsse ziehen darf, hervor, dass das Tempo des
Wachsthums dieser beiden Knochen in verschiedenen Lebensabschnit-
ten ein verschiedenes ist. In den ersten Lebensjahren wächst
der Oberschenkel stärker als der Unterschenkel, dann
folgt eine mindestens bis zum 6. Lebensjahre reichende
Periode, während welcher das entgegengesetzte statt-
findet, d. h. der Unterschenkel stärker wächst als der Oberschenkel;
endlich ändert sich das Yerhältniss noch einmal: der Oberschenkel er-
langt den Yorsprung über den Unterschenkel.
Diess Verhalten ist auf den ersten Blick ein höchst eigenthümliches
und doch löst es sich in befriedigender Weise. In der ersten Lebens-
periode rutschen die Kinder nicht blos viel auf den Knien, sondern zie-
hen auch beim Stillsitzen die Kniestellung der Platznahme auf dem
Gesässe vor, hiebei ist der Oberschenkel allein belastet und der Unter-
schenkel in Ruhezustand versetzt; es darf uns also nicht wundem,
dass in dieser Zeit der Oberschenkel stärker wächst,
Oeber das LlngeDwa^sthuiii der Knochen. 9
Ebenso natürlich ist die Umkehrung in der nächsten Lebens-
periode, in welcher das des Laufens vollständig mächtige Kind mehr
steht und läuft als rutscht und kniet. Diese Periode beginnt zwischen
dem zweiten und dritten Lebensjahre und endet wahrscheinlich —
denn ihre Grenze nach oben ist aus unserer Tabelle nicht ersichtlich —
mit dem Augenblick , wo die sitzende Lebensweise beginnt (mit dem
schulpflichtigen Älter). Dass von jetzt an Ober- und Unterschenkel
nahezu gleich wachsen, möchte ich weniger in dem Schwinden der
Belastungsdifferenzen suchen als in den Unterschieden im Muskeldrucke.
Es lässt sich nicht blos aus der Masse der Muskeln , sondern auch aus
den bestehenden Änsatzverhältnissen [siehe hierüber später) darthun,
dass der Oberschenkel durch die Muskelthätigkeit einen
stärkeren Druck in seiner Längsaxe erfährt als der Unter-
schenkel; und das compensirt sich mit der grösseren Belastung des
Unterschenkels beim Stehen, somit widersprechen die gefundenen
Maassverhältnisse unserem supponirten Satze in keiner Weise. Ich
werde im zweiten Abschnitte dieser Abhandlung auf den Muskeldruck
noch einmal zurückkommen, weil die Messungen an den Thieren diese
Anschauung noch unmittelbarer einem aufdrängen.
Das nächste Object meiner Messungen war die Wirbelsäule.
Hier liest sich schon ohne Yergleichung mit dem Neugebomen auf den
ersten Blick das Gesetz ab: »vermehrter Druck steigert das
Län g en wachst hu ma.
Ich gebe nebenanstehend die Höhen Verhältnisse der einzelnen Wir-
belkörper vom Neugebomen und Erwachsenen. Die zwei ersten Hals-
wirbel habe ich weggelassen , weil die Verwachsung des Körpers des
Atlas mit dem Epistropheus und die anderweitige Function dieser bei-
den Wirbel eine Yergleichung mit den übrigen nicht zulässt. Aehnliche
Gründe hinderten mich auch , das Kreuzbein in den Bereich der Mes-
sungen aufzunehmen.
Bezeichnung
Erwachsener
Neugeborner
Differenz
8. Halswirbel
«oVsMm.
6 Mm.
4Vs Mm.
4.
^MU -
6 -
A -
5.
48
6 -
6
6.
h%
6 -
6
7.
15
6 -
9
«. Bro8twirl)el
47
6 -
44
2.
49
6 -
48
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40
6.
49
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44
7.
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8 •
^% -
10
Dr. GoflU? hdgju^
Bezeichnung
Erwachsener
Neugeborner
Differenz
8. Brustwirbel
24 Mm.
8 Mm.
43 Mm.
9.
24
8 -
43 -
40.
24
8 -
43
ii.
24
» -
42 -
42.
24
9 -
42 -
4. Lendenwirbel
22V« -
9 -
48V2 -
2.
27 -
91/2 -
471/8 -
3.
27
91/2-
4 7V2 -
4.
28 -
40 -
48 -
5.
30 -
40
20 -
Die Tabelle enthält eine doppelte Bestätigung unserer Vermu-
thung. Mit Ausnahme der sehr geringen Schwankung zwischen Stern
und 6tcm Brustwirbel , auf die ich weiter unten zurückkommen will,
ist jeder Wirbelkörper länger als sein Nachbar nach oben und kurzer
als sein Nachbar nach unten, d.h. der getragene kürzer als der
tragende; fürs zweite sehen wir aus der zweiten Rubrik , dassder
Neugeborne zwar auch am untern Ende seiner Wirbelsäule längere
Wirbel besitzt als am oberen, allein die Differenz ist eine weit
geringere. Am klarsten springt diess aus der dritten Rubrik in die
Augen; nur 4Y2 Millimeter ist die Differenz zwischen dem ßten Hals-
wirbel des Erwachsenen und dem des Neugebornen , wähk*end beim
letzten Lendenwirbel nahezu der fünffache Betrag vom Längenwacbs-
thum erscheint, nämlich 20 Millimeter.
Nicht minder bezeichnend für die supponirte morphologische Kraft
ist das stärkere Längenwachsthum der 4 ersten Brustwirbel. Beim
Neugeborenen findet sich nichts, was auf ein Angeborensein dieses Verr-
hältnisses hinweist. Es bildet sich erst nach der Geburt aus und da
diese Wirbel es vorzugsweise sind, die bei dem Gebrauch der Arme in
Qlitleidenschaft gezogen werden,' so liegt es nahe, die damit verbunde-
nen Zerrungen und Compressionen für die Ursache dieses gesteigerten
Wachsthumcs zu halten. Wir werden später bei der Untersuchung der
Wirbelsäule der Thiero diese Auffassung weiter bestätigt finden.
Mit den im Bisherigen gegebenen Messungen ist natürlich die Un-
tersuchung des menschlichen Skeletes nicht beendet ; einmal müssen
über die bisher besprochenen Verhältnisse zahlreichere Messungen un-
umstössliche Gewissheit verbreiten, fürs zweite müssen auch die übri-
gen Knochen die gleiche Behandlung erfahren und namentlich sind in
Bezug auf die Gymnastik, die durch die vorliegende Untersuchung eine
bis jetzt nicht vermuthete Bedeutung gewinnt, zahlreiche Messungen
nöthig, um zu wissen, in wieweit das menschliche Skelet plastisch ist.
AUein ehe ich mich dieser Aufgabe unterzog, war es mir Bedürfhiss,
zu untersuchen , in wieweit die Skeletverhältnisse der Thiere mit der
üeber das LänieiWadisyinni der Kooehen. 1 1
von mir beim Menschen vermutiieten skeleibildenden Kraft harmoni-
ren, ob wir es mit einem allgemeinen Gesetz zu tbun haben oder nicht.
Das Resultat dieser Untersuchung habe ich in dem folgenden Abschnitt
zusammengesteUt.
IL Abschnitt,
üeber das Knochenwachsthnm Aer TUere nach der Geburt.
An der menschlichen Wirbelsäule hatten die Verhältnisse den klar-
sten Einblick in die Ursache des Längen wachsthums gewährt . sicher
in Folge der Gleichartigkeit aller Übrigen hier in Betracht kommenden
Einflüsse. Ich zog es deshalb vor, bei meinen Messungen an den Thie-
ren mit der Wirbelsäule zu beiginnen.
Da ich anfangs keine neugeborenen Thiere mit erwachsenen ver-
gleichen konnte , so griff ich zu folgender Methode. Iq|^ mass die Höhe
der WirbelkOrper vom dritten Halswirbel angefangen bis zum letzten
Lendenwirbel. Die Schwanzwirbelsäule Hess ich bei all den, mit einem
Decken ausgestatteten Thieren unberücksichtigt, nur bei Fisch und
Delphin erstreckt sich die Messung auch über sie. Dann setzte ich den
niedrigsten Wirbel = 100 und rechnete die Höhe der andern dem ent-
sprechend um. So entstand folgende Tabelle, zu der ich nur bemerke,
dass der obere Strich Hals und Brust, der untere Brust und Lende
trennt. Beim Seewolf steht der Strich an der Grenze zwischen Rumpf
und Schwanz, und bei der grossen Wirbelzahl dieses Thieres habe ich
die gleichlangen nur einmal aufgeführt unter Versetzung ihrer Anzahl.
Aus dieser Tabelle ergeben dch vier Gruppen von Thieren.
4. Gruppe. Den niedrigsten Körper hat der oberste (dritte] Hals-
wirbel bei Mensch , Känguruh, Springmaus, Seh uppenthier und Affe,
also bei 4 Thieren, die sich vorzugsweise mit den Hinterbeinen bewe-
gen und einem kletternden Thiere. (Ich bemerke, dass nach dem Zeug-
niss Hbcglin's das Schuppenthier auf den Hinterbeinen geht, siehe
Brbui's Thierleben II. pag. 3H. Abbild, pag. 316.) Bei« den zweifüssig
gehenden Thieren ist nun offenbar der oberste Halswirbel im
Verhältniss zu den andern der getragene, und der Affe trägt sowohl
beim Klettern als beim Sitzen gleichfalls den Bumpf aufrecht.
2. Gruppe. Der Wirbel mit dem niedrigsten Körper liegt nahezu
in der Mitte der Rumpfwirbelsäule bei Hirsch , Esel , Dachshund und
Wildkatze, also bei Thieren, die sieh gleichmässig beider
•Gliedmaassenpaare bedienen. Da die Wirbelsäule der Vierfüsser
zwischen Schulter und Becken einen B#gen mit der Goncavität nach
12
Dr. Gasia? Jaeger,
Lendenwirbel
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Brustwirbel
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Halswirbel
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o»^«4cooeco g«k6
Deber das LüogeDwacliathain der Knochen. 1 3
abwärts bildet, so fst bei der vierfttssigen Aufstellung der den Schluss-
stein des Bogens bildende Wirbel im Gegensatz zu allen andern der
getragene und folgerichtig der kleinste. Von hier aus nehmen die Wir-
belkörper nach vorn und hinten an Grösse zu, entsprechend ihrer stär-
keren Belastung.
3. Gruppe. Bei Iltis, Fischotter und Hase liegt der Wirbel mit
dem niedrigsten Körper weiter nach vorn als bei der zweiten Gruppe ;
war es bei den vorigen der 7. Brustwirbel, so ist es hier etwa der erste.
Dieses Verhalten wird verständlich, wenn man in Rechnung nimmt,
class die genannten Thiere sich häufig mit eingeknickten Hinterbeinen
aufs Gesäss setzen. Bei dieser Aufstellung des Körpers nimmt der erste
Brustwirbel eine höhere Stellung ein als die andern , er ist also ihnen
gegenttber der getragene.
4. Gruppe. Bei den schwimmenden Thieren Delphin und
Fisch liegen die kürzesten Wirbel an beiden Enden und von hier aus
nehmen sie gegen die Mitte hin stätig an Länge zu. Da man beim
schwimmenden Thiere nicht von Belastung durch das Körpergewicht
sprechen kann, so bleibt hier nur der Druck der Längsmusculatur
ttbrig, der Fallt nun offenbar in der Mitte der Wirbelsäule stärker aus
als an ihren Enden und das Verhältniss lässt also den schon einmal
gewonnenen Satz ableiten: die Länge des Knochens steht in
geradem Verhältniss zur Stärke des Muskeldruckes, un-
ter dem er steht.
Wie legt sich aber der grosse Unterschied zwischen Fisch
und Seesäugethier in Bezug auf den Betrag der Verstärkung der
mittleren Wirbel zurecht? Der grös9te Wirbel des Delphins ist mehr
als zehnmal länger als der kürzeste, während beim Fisch die höchste
Differenz etwa wie 7 : 4 ist. Die Ursache liegt sicher in dem verschie-
denartigen Bau der Längsmusculatur. — Da beim Fische die Rücken-
muskeln in lauter Myocommata zerßlllt sind und keine Sehnen Muskel
und Wirbel in der Zugsrichtung verbinden , so ist offenbar bei ihnen
der Drudk auf die Wirbel gleichmässiger vertheilt. Bei den Säugethie-
ren ist bekanntlich der Extensor dorsi communis, der beim Delphin in
Folge der Abwesenheit des Beckens sich ununterbrochen bis zum
Schwanzende fortsetzt, so gebaut, dass die mittleren Wirbel unter weit
höherem Drucke stehen als die Endwirbel. Die tiefste Schichte spannt
sich zwar nur von Wirbel zu Wirbel , in der zweiten dagegen finden
sich bereits Muskeln, die einzelne Wirbel überspringen und endlich hat
der Lumbooostalis , Iliocostalis , Costaiis dorsi Faserzüge, die viele
Wirbel überspringen. Am besten wird diese Wirkung der übersprin-
genden Fasern ersichtlich aus der beigefügten Fig. 9, welche den Longus
14
ht, €a8ta? J«flg0r,
colli des Manscben schemaliscli darstellt. Bei der
Contraction dieses MuskeU werden die Wirbel
No. 4. 5. 6. 7 den Druck von sämmilichen Mus-
kelfasern auszuhallen haben, No. \ 4 nur den der
Fasern a, No. 10 den der Fasern a und b^ No. 9
den von a, b und c, Nor 8 den von a, b, c und dy
und dasselbe gilt fttr die Wirbel i . 2 und 3. Die-
selbe Anordnung hal die Husculatur der Wirbel-
säule im Ganzen und es ist deshalb klar, dass
die miuleren Wirbel einem weit höheren Muskel—
drucke unterworfen sind als die an den Enden.
Ob diese Lösung die richtige ist, kann na-
türlich nur eine sorgsame Zergliederung der
Längsmusculatur des Delphins endgültig ent-
scheiden; sie geht von der Voraussetzung aus,
dass die Delphine den gleichen Bau der geraden
Rückenmusketln haben wie die andern Säuger,
und diese Annahme sUltjEt sich auf die von mei-
nem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Rapp, gege-
bene Darstellung. (Bapp, Getaceen pag. 79.)
Bei der Wii4)elsäu)e des Fisches füllt noch
auf, dass, nachdem betreits im Bereich der Rumpf-
wirbelsäule und am vorderen Theil der Schwanzwirbelsäule die Höhe
der Wirbelkörper abgenommen hat, am siebenten Wirbel wieder eine.
Zunahme erscheint, die sich über vier Wirbelkörper erstreckt. Ich
kenne nun die Bewegungsart des Seewolfes nicht, wohl aber habe ich
seinen nahen Verwandten, den Blennius, jahrelang in Aquarien beob-
achtet und gesehen, wie gerade an dieser Stelle des Schwanzes die
grösste Beugungsfähigkeit ist. Diese Thiere können mit ihrem Schweif
die Flanken ihres Leibes peitschen gerade wie die Katsen. Bei dieser
Operation werden die an der Umbeugungsstelle liegenden Wirbel eine
stärkere Pressung erfahren als die übrigen. So lässt sich also auch
dieses Verh<niss auf die oben gewonnenen Sütze zurückführen.
Obwohl ich weiter unten speciell auf die Differenzen eingehen
werde, die innerhalb der andern drei Gruppen sich finden, so will ich
an die Betrachtung der schwimmenden Thiere die Besprechung der
Differenz zwischen Iltis und Fischotter anreihen. Die Wir-
belkörper der letztem zeigen nttmlich geringere Längenuntersdiiede
als die des ersteren. Diess löst sich in folgender Weise. Die vierfüssige
Gangart steigert die Differenz zwischen den mittleren und den End-
wirbeln zu Gunsten der letzteren , die schwimmende Lebensweise da-
Fig. 2.
üeber das LlhigmiwMlistlimn der Knofhen. ] 5
gegen tn Gansten der ersteren , es muss also bei gemischter Lebens-
weise die Differenz geringer ausfallen.
Den Schluss der Betrachtung der obigen Tabelle bildet die Erörte-
rung eines scheinbar auffälligen Umstandes; es ist folgender: der
Mensch ist das einzige Geschöpf, bei dem der letzte Lendenwirbel die
grttssle Länge besitzt. Bei allen anderen Thieren ist der dritt- oder
viertletzte der längste. Als Erklärung möchte ich Folgendes anführen.
Der Mensch ist das einzige Thier, das seine Wirbelsäule vollständig
aufgerichtet hat. Er darf somit fast keinerlei Muskelzug aufwenden,
um den Rumpf in seiner Lage zu erhalten , während bei allen anderen
Thieren der Zug der Rückenmusculatur eine nicht unbeträchtliche Rolle
spielt. Springhase, Affe und Känguruh müssen ihre Lendenmuseulatur
spannen, um ihre Wirbelsäule in der schiefgeneigten Stellung zu er-
halten, und auch beim vierftLssigen Thiere ist der Lendenmuseulatur
eine grössere Aufgabe gestellt als beim Menschen. In Folge der eigen-
thümlichen Anordnung der Lendenmuseulatur fällt nun das Druck-
maximum des Muskelzuges nicht auf den letzten Lendenwirbel , son-
dern auf die Mittelregion der Lende und — was weiter in Betracht
kommt — auch das Maximum der Bewegung fUUt auf die mittleren
Lendenwirbel. Es stimmt also auch diese , auf den ersten Blick auf-
fallende Differenz in der Lendenwirbelsäule von Mensch und Thier mit
dem aufgestellten Satze , dass das Längenwachsthum der Knochen mit
der Höhe -des Muskeldrucks, unter dem sie stehen, zunehme. Die
grossen Unterschiede, welche trotz der oben vorgenommenen Auflösung
noch innerhalb der einzelnen Gruppen übrig blieben, spornten zu wei-
teren Messungen an. Da aber die Messung der Länge der einzelnen
Wirbelkörper nicht nur zeitraubend , sondern auch bei aufgestellten
Skeleten schwierig ist, so schritt ich zu anderen Messungsmethoden,
die rascheren Aufschluss gaben über den Zusammenhang zwischen Be-
schäftigungsgrad und Wirbelkörperlänge. Hiebei war es mir nicht
allein darum tu thun, das relative Wachsthum der einzelnen Wirbel-
sHuleabschnitte festzustellen, sondern auch das absolute Wachsthum
der ganzen Rumpfwirbelsflule, denn dass diess nicht überall gleich sei,
dafür sprachen die in der Tabelle enthaltenen Messungen.
Um das letztere zu erreichen , stellte ich eine Berechnung an , die
von folgender Voraussetzung ausging :
Bei Thieren, welche ihre Wirbelsäule angestrengt gebrauchen,
wird sich keiner der Wirbel in solcher Weise der Arbeitsleistung ent-
ziehen können , dass es ihm gestattet wäre , auf geringerer Stufe des
Wachsthums stehen zu bleiben; m. a. W. : die Wirbel werden unter
sich wenig Grösseunterschied aufweisen. Wo dagegen die Wirbelsäule
16
Dr. Gastav-Jaef^er,
weniger Arbeit zu verrichten hat, wo also die Länge derselben weniger
abhängt vom Muskelzug , sondern mehr nur von den Belastungsdiffe—
renzen, werden die Unterschiede der Wirbelkörper grösser sein. Eine
darüber belehrende Ziffer erhielt ich, indem ich mit der Länge des kür-
zesten Wirbelkörpers in die Gesammtlänge der Rumpfwirbelsäule di—
vidirte, vorausgesetzt, dass ich diese bei allen Thieren auf die gleiche
Wirbelzahl reducirte. Diess ist in der folgenden Tabelle geschehen und
der erhaltene Quotient als Nenner eines Bruches eingetragen.
Thierart
Kürzester
Wirbel
TotalläDge
der
Wirbelsäule
Nach Ab-
zug von
Bleibt
Quotient.
Springmaus
Mensch
Affe .
Hase .
Hyäne
Pferd .
Dachshund
Dromedar
Wolf .
Esel .
Dachs.
Hirsch
Bär .
Känguruh
Schaf .
Löwe.
ntis .
Ochse.
Wildschwein
Auerochse
Fischotter
4%
40
8
6
45
87
44
65
24
25
43
35
26
20
20
26
62
25
55
45
405
640
879
265
660
4660
435
2300
775
4 000
460
4200
935
675
670
885
300
4870
740
4590
475
0 Wirbel
0
2
2
3
7
3
2
3
6
3
2 ^
3
2
2
3
3
2
2
2
3
405
540
336
242
597
4330
389
2463
693
800
442
4400
890
625
620
764
267
4720
678
4455
425
Vto
V«
V42
V40
V40
Vae
/83
Vas
Vaa
Vsi
Vsi
Vst
Vsi
Vao
V»
Vas
V«
V»
Vi
25
\) Die Reihe eröffnen, wie zu erwarten war, zweifttssig gehende
Thiere , nur fällt auf, dass das Känguruh weit unten steht unter den
vierfüssigen Thieren. Ich habe nahezu drei Jahre Gelegenheit gehabt,
das Känguruh in der Gefangenschaft zu beobachten und mich hiebei
überzeugt, dass es seinen Rumpf beim ruhigen Hüpfen und Aesen
nahezu wagrecht hält, also keineswegs so, wie Mensch und Springmaus
(letztere sieht man immer mit fast senkrechtem Rumpfe abgebildet).
Um sich in dieser Stellung zu erhalten , bedarf das Känguruh offenbar
eines grossen Aufwandes von Muskelkraft, auch wenn wir in Rechnung
nehmen , dass der wuchtige Schweif eine Art Gontrebdlance für den
Rumpf bildet; seine Wirbelsäule steht also unter hohem Muskeldruck
und damit stimmt die geringere Differenz der Wirbelkörper.
%) Auf die ZweifUsser folgt Affe, Hase und Hyäne. Für den erste-
ren ist diese Nachfolge zu erwarten : ob der Rumpf aufrecht steht, oder
aufrecht hängt, oder aufrecht sitzt, immer ist dabei die Halswirbelsäule
Ueber das LSogenwachsthttin der Knochen. 17
geringer belastet und ihr kleinster Wirbel wird somit ziemlich niedrig
sein. Vom Hasen kann man nun zwar nicht sagen, dass ein Theil
seiner Wirbelsaule wenig beschäftigt sei , wohl aber, dass ein Theil
derselben ganz ausserordentlich stark in Anspruch genommen ist,
wie ich später ausführen werde. Es hat diess natürlich das gleiche
Missverhältniss , d. h. die gleiche Herabsetzung des Bruchtheiles zur
Folge. Auffallend dagegen wSre die Stellung der Hyäne , stünde nicht
auf der betreffenden Etikette des Skeletes: »Menagerie -Exemplar«.
Nun werden , wie ich von einem Hyänenhfindler weiss , diese Thiere
immer ganz jung eingefangen und im Käfig gross gezogen , sie haben
also in eminentem Sinne das, was man eine unbeschäftigte Wir-
belsäule nenniy und daher der kleine Bruch.
3) Nun folgen in der Tabelle mit Ausnahme des schon besproche-
nen Känguruh vierbeinig gehende Thiere. Die Reihe eröffnet
Pferd, Dachshund und Dromedar, eine etwas auffallende Zu-
sammenstellung. Die Kleinheit des schwächsten Wirbels beim Hunde
wi'rd erklärlich, wenn wir ihn mit dem Wolfe zusammenhalten und
wissen , dass er ein Zimmerhund war (zuerst im Besitz meines Freun-
des H., dann in meinem}, für Pferd und Dromedar müssen wir uns
nach andern Ursachen umsehen. Offenbar rührt die Kleinheit des
Bruches wesentlich von der ausserordentlichen Länge der Halswirbel
her (darüber werde ich weiter unten zu sprechen haben). Den klein-
sten Bruch besitzen Ochse, Wildschwein, Auerochse und Fisch-
otter. Für die letztere ist die nOthige Erklärung schon oben gegeben
worden. Das Wildschwein besitzt als Wühler gleichfalls eine stark
beschäftigte Wirbelsäule. Ueber Auerochse und Ochse giebt eine spä-
tere Tabelle bessern Aufschluss.
Ich ging nämlich zu einer neuen Zusammenstellung über, weil
auch die voranstehende Methode manche Verhältnisse nicht klar hervor-
treten Hess. Die nächste Tabelle giebt das Längenverhältniss
der vordem und hintern Hälfte der Rumpfwirbelsäule.
Nach Abzug der zwei ersten Wirbel theilte ich Hals, Brust und Lende
zusammen in zwei Abschnitte von gleicher Wirbelzahl. Unter der Ueber-
Schrift »natürliches Maass« findet der Leser die absolute Länge dieser
Abschnitte in Millimetern. Unter der Rubrik »Procentsatz« ist die Ge-*
sammtlänge der Abschnitte gleich 4 00 gesetzt und nun bei jedem an-
gegeben, wie viel Procent dieser Gesammtlänge er misst.
iU V. i.
18
Pr. GasUv Jaeger«
«
Naettritohes llaftss.
DieTote11änge='r460.
Thierart
Vorder-
Hinför-
Vorder-
Htnler-
hälfte
hälfte
häifte
b^fte
Springhase
24
70
25,6 0/0
74,40/0
Affe . . .
4 06Va
257
29,4
70,6
Ha^e . .
89
462
35,4
64,6
Wildkatze
425
244
36,8
63,2
Mensch .
474
2MV2
40,0
60,0
Löwe . .
3S7
492
40,6
59,4
Känguruh
263
364 Vs
42,0
58,0
Iltis . . .
449
454
44,0
56,0
Fischotter
494
229
45,6
54,5
Bär . .
385
460
45,5
54,5
Averoohse
705
840
45,6
54,4
Wolf . .
323
384
45,7
54,3
Wildschweit
1 340
375
46,7
58,3
Dachshund
484Vs
(l96Vt
48,0
52,0
Ochse . .
822
845
50,2
49,8
Schaf . .
824
346
50,3
49,7
Hyäne
295
270
52,2
47,ft
Dachs. . .
205
1 485
52,5
47,5
Esel . . .
4661/2
4441/2
53,0
47,0
Hirseii .
596
48«
55,0
45,0
Pferd . .
'865
673
56,2
43,8
Dromedar
4240
820
59,5
40,5
Dicise Tabelle lehrt Folgendem : |) Bei den kletternden und
zweibeipig gehenden Säugern ist die vordere Hälfte der
WirbelaHule kttrster als die hintere. Nur Einep Fremdling finden
wir in dieser Äbtheilung : den Hasen, dß99en hintere Hälfte sogar no4^
stärker entwickelt ist als die des Känguruhs Hier ^omm^ ofienbar der
Muskelzug in Betracht ; der Hase ist unter alF den hier aufgeführten
Thieren das gehetztestQ, und wenn es audb nicht ziyeifttssig springt
wie das Känguruh, so ist doch beim Springen die Musculatur der Lende
diejenige df s Eui^pfes, die am meisten zu arbeitep hat und die Häufig-
keit des Qehetztwerdeps thut hier offenbar die gleichen Dienste wie die
stärkere Spannung beim Känguruh. Wir dürfen also darin, dass der
Hase ähnliche VerhälU^isse zwischen vorderem und hinterem Wirbel-
säulenabschnitt zeigt wie das Känguruh, nichts unserem allgemeinen
Satze Widersprechendes . enblieken. Leider konnte ich das Skelet des
wilden Kaninchens nicht vergleichen ; aus seiner Lebensweise, und sei-
nen kürzeren Beinen nd^chte ich auf eine geringere Entwicklung seiner
Lenden Wirbelsäule schliessen. Ein zweiter Frepidllng in dieser Abtbei-
lung ist der Löwe^ der merkwürdigerweise dam Menschen am nächsten
steht. Aus dem , was über die Lebensweise dieses Thieres berichtet
wird, lässt sich nichts entnehmen, was auf eine stärkere Beschäftigung
der hinteren Körperhälfte schliessen Hesse, auch an abändernde Ein-
Süsse der Gefangenschaft kann nicht appellirt werden ; das gemessene
Ueber dM UngeiiWMhsthiiiii 4er Knocben. 19
Exemplar stammt nach der Etikette ans der Freiheit uod so müsstan
wir hier das Verbältniss als ein ererbtes betrachten , d. h. annehmen,
der Löwe stamme ab von einer kletternden Katzenart ; wir hätten also
seine Wirbelsäule zu vei^leichen mit der der Wildkatze , und da ent-
spricht dann das Verhältniss seiner Wirbelsäule dem Uebergang zur
vierbeinigen Gangart, durch welche das Mis$yerhältnis$ zwischen vor-
derem und hinterem Wirbelsäuleabschnitt, das durch die kletternde
Lebensweise hervorgebracht wird, gemildert wurde.
2) Bei den vierbeinig gehenden Thieren ist die Län-
gend! ff erenz zwischen vorderer und hinterer Hälfte ge-
ringer als bei den Zweibeinern. Doch scheiden sich hier noch
3 Untergruppen.
a) Bei Thieren, welche sich noch häufig auf^s Gesäss
setzen, wie Iltis, Fischotter, Bär, Wolf und Hund ist die
hintere Hälfte länger als die vordere; wir ünden nur zwei
Thiere unter ihnen, deren Stellung aufßlllig scheint: Auerochse und
Wildschwein. Wie wir später finden werden, rührt diess von der
Kürze ihres Halses her.
b) In fast vollständigem Gleichgewicht steht vordere und
hintere Rumpf hälfte bei Ochse und Schaf. Vergleichen wir den er-
steren mit dem Auerochsen, so dürfen wir wohl die Ansicht aussprechen,
dass beim Ochsen eine Verlängerung der vordem Hälfte eingetreten ist
durch seine Beschäftigung als Zugthier. Beim Schaf ist das Gleich-
gewicht sicher der Ausdruck seiner monotonen Beschäftigung, bei der
kein Abschnitt des Rumpfes eine hervorragende Thätjgkeit entfaltet und
somit rein nur die BelastungsverhUltnisse sich geltend machen.
c) Das Uebergewicht hajt der vordere Tbeil der Wir-
belsäule über den hinteren bei zoologisch ziemlich verschiede-
nen Thieren : bei Hyäne und Dachs wohl , weil sie grabende Thiere
sind, eine Beschäftigung, bei der der vordere Leibesabschnitt jedenfalls
mehr angestrengt ist Der grosse Unterschied zwischen Hirsch und
Schaf mildert sich , wenn wir in Rechnung nehmen , dass das Schaf-
skelet ein weibliches Thier und das des Hirsches männlichen Geschlechts
ist. In Betreff des Uebergewichts der vorderen Rumpfhälfte bei Esel,
Pferd und Dromedar ist auf das zu verweisen, was ich nachher über
die Länge ihres IMses sagen werde.
Die nXcbste Tabelle giebi in gleicher Behandlung ^ie die voran-*
gehende die Verbältnisse von 3 Wirbel5äule**Abschnitten,
die ich korsweg Hals, Brust und Lende nennen will, obwohl der
zweite und dritte Abschnitt einige Bi*ti6twirbel in sich begreift , denn
20
Dr. (tnstur Jat^r,
eine Vergleichung ist ja nur mdglich, wenn jeder Abschnitt gleich viel
Wirbelkdrper enthält.
Natürliches Maass.
Die Totallünge =
= 400.
Tliierart
Vorderes
Mittleres
Hinteres
Vorderes
Mittleres
Hinteres
Drittel
Drittel
•Drittel
Drittel
Drittel
Drittel
Springhase .
44
29
54
<^7%
80,70/0
57,6 0/0
Affe . .
74 Va
4O6V2
49SV2
20,5
29,8
50,2
Mensch .
403
447
483Va
23,8
34,0
42,2
Wildkatze .
86
94
462
25,8
26,8
47,9
Hase . .
68Vt
n%
448
25,5
29,6
44,9
Löwe . .
220
245
364
26,5
29,6
43,9
Kttngnruh
474
490V2
266
27,2
82,0
40,8
Wildschweit
1 , 495
220
270
28,4
82,4
89,5
Auerochse
450
505
590
29,0
88,0
88,0
litis . .
80
80
4091/2
29,7
29,7
40,6
Dachs. .
448
445
457
80,2
29,6
40,2
Fischotter
428
4 34
464
80,5
84,2
88,3
Btfr . .
268
287
840
84,7
28,0
40,3
Wolf . . .
224
248
270
34,7
30,4
88,2
Ochse. . .
568
589
555
84,4
82,8
33,8
Dachshund .
488
99
444
85,2
26,2
88,6
Schaf . . .
234
474
229
86,7
27,8
86,6
Hyfine . .
245
455
495
88,0
27,4
84,6
Esel . . .
8471/2
247
286V2
89,4
28,0
32,6
Hirsch . .
447
290
345
44,3
26,8
34,9
Pferd . . .
670
404
467
48,6
26,0
80,5
Dromedar .
980
548
557
45,8
26,2
27,9
Betrachte man zuerst die Lange des Halses.
4) Den kürzesten Hals haben die Thiere, die den Rumpf auf-
recht oder auf zwei Beinen halten; hier kann einfach verwiesen
werden auf früher Gesagtes und das gleiche gilt von Hase und Löwe.
2) Den längsten Hals haben Esel, Hirsch, Pferd und Dro-
medar. Diess stimmt zu dem Satze, dass stärkere Beschäftigung das
Längenwachsthum steigert ; doch dürfen wir hier zunächst nicht an die
gegenwärtige Beschäftigung denken , sondern müssen auf die Lebens-
weise dieser Thiere im wilden Zustand zurückgreifen. Bei der Nah*-
rungsaufnahme vom Boden müssen hochbeinige Thiere — und alle die
genannten sind solche — ausgiebige Bewegungen mit der Halswirbel-
säule ausführen , und nicht nur das, alle die freilebenden, heerden-
weise weidenden Thiere sind äusserst furchtsam und erheben alle Au-
genblicke den Kopf, um zu winden und zu horchen. Die Halsbewe-
gungen sind also nicht nur ausgiebig, sondern auch häufig und so
erklärt sich die Länge ihres Halses befriedigend. Dass diese Auffassung
die richtige sein dürfte, zeigt die Kürze des Halses von Auerochs
und Wildschwein. Das erstere Thier weidet nach den Angaben
der Kenner (Bmbhh, Tbierleben U. pag. 644) vorzugsweise Baumrinde,
Ueber dds LliigeiiwMhstbiim der Knochen. 2 1
Blatter und Knospen; das erfordert offenbar geringere Halsbewegungen
als die Nahrungsaufnahme vom Boden. (Beim amerikanischen Bison
dürfen wir demnach einen längeren Hals erwarten, doch kann ich hier-
über keine Messungen anstellen.) Die Kürze des Halses beim Wild-
schwein hat offenbar ähnliche Gründe, dies« Thiere führen auffallend
geringe Bewegungen mit ihrem Halse aus, namentlich fast gar keine
drehenden.
Für die Vergleichung der zwei andern Bumpfabschnitte habe ich
eine eigene Tabelle berechnet, deshalb soll hier nur noch etwas gesagt
werden über das Verhältnis s der drei Abschnitte bei einem
und demselben Thiere.
4) Bei den kletternden und zweibeinig gehendenThie-
ren ist der Hals der kürzeste, die Lende der längsteTheil,
— ganz entsprechend der Vertheilung des Drucks. Dafür, dass beim
Menschen Hals und Brust stärker ist als beim Affen und beim Spring-
hasen, kann nur angeführt werden, dass der Kopf des Menschen rela-
tiv schwerer ist als der des Affen, und wenn auch dieser Umstand zur
Erklärung des Unterschieds zwischen Affe und Springmaus nicht hin-
reicht, so verschwindet das Auflf^llige, wenn man hinzurechnet, dass
Affe und Mensch einmal ihre vorderen Extremitäten mannigfach und
häufig gebrauchen , was immerhin eine Strapazirung der zwei ersten
Rumpfabschnitte mit sich führt, und dann stehen die Hälse von Affe
und Mensch dem erwähnten Nager an Beweglichkeit vor, diess deutet
auf einen stärkeren Gebrauch in Folge höherer Intelligenz. — Die Un-
terschiede in Bezug auf die Lende sind nur scheinbare, wie die nächste
Tabelle zeigen wird.
2) Am gleichmässigsten vertheilt ist die Wirbelsäule des Ochsen.
Diess ist wieder ein Beweis für die Einwirkung der Beschäftigung auf
das Längenwachsthum, denn beim Ziehen werden die durch Belastungs-
unterschiede bewirkten Differenzen, wie ich schon früher ausführte,
vermindert.
3) Ist interessant, dass drei Faullenzer: Dachshund, Schaf
und Menagerie -Hyäne ziemlich Übereinstimmende Verhältnisse zeigen,
nämlich nahezu gloichlange Lende und Hals, und dem gegen-
über kurzen Brustabschnitt. Hier sind jedenfalls die Belastungs-
verhältnisse am ungetrübtesten zum Ausdruck gekommen, weil der
Muskeldruck eine geringere Rolle spielte.
Wenden wir uns zur nächsten Tabelle, bei der die Länge von
Brust und Lende zusammen gleich 400 gesetzt und der Anthcil jedes
dieser zwei Drittel im Procentsatz angegeben ist.
22
Dr. 6u8t*T .laeger,
Thierart
Mittieres
Drittel
Hinteres
DrHtel
Springhase .
85
65
Affe . . .
83,5
64,5
Wildkatze .
36,0
64,0
Hase . . .
88,5
!l4,5
LöWe . . .
40,2
59,8
Bär . . .
44,0
59,0
Dachs. . .
42,2
57,8
Iltis .. .
42,8
57,7
Dachshund .
40,8
59,2
Känguruh .
44,7
58,3
Schaf . . .
48,2
56,8
Thierart
Mittleres
Drittel
Hinteres
BrHtel
Wolf . . .
44.4
55,9
Hy&ne . .
44,2 •
55,8
Mensch . .
44,5
55,5
Fischotter .
44,8
55,2
Wildsehwein
44,9 ^
55,4
Hirsch . .
45,6
54^4
Auerochse .
46,4
53,9
Pferd . . .
46,2
53,8
Esel . . .
46,3
53,7
Ochse. . .
49,2
50,8
Dromedar .
49,8
5D,7
Die Reihenfolge bei dieser Tabelle ist ziemlich umgeändert, im Ali-
gemeinen aber übertrifft bei keinem der Thiere die Brust an Länge die
Lende. Die grösste Differenz zeigen auch hier ZweifÜsser
und Kletterer, mit Hase und Löwen im Bunde. Auffallend ist, dass
der Mensch in der Liste so weit hinabgcrUckt ist. Seine Brust ist rela-
tiv sehr lang und er nähert sich in dieser Beziehung dem VierfUsser.
Als Grund kann hier der Druck der Schultermuskeln bei dem mannig-
faltigen Gebrauch der Arme angeführt werden.
Sonst wäre bei dieser Tabelle zu bemerken, dass Pferd, Esel,
Ochse und Dromedar, also alle die vier Hausthiere, die mit
ihrer Wirbelsäule stärker arbeiten müssen, die relativ
längste Brust besitzen. Hier tritt also klar hervor, was ich über
den Einfluss der Beschäftigung sagte. Das gleiche tritt zu Tage bei der
Vergleichung von Schaf einerseits, Hirsch und Auerochse andererseits.
Nachdem die vorliegenden Messungen der Wirbelsäule, von denen
ich übrigens bemerke, dass ihre Zahl noch keineswegs ausreicht, nichts
nachgewiesen haben , was sich nicht auf Muskeldruck oder Belastung
zurückführen liesse, interessirte es mich, auch die Extremitätenknochen
der Thiere zu durchmustern , um zu sehen , in wieweit auch hier die
Wirkungen dieser morphologischen Kräfte sich verfolgen lassen. Hier
ergab sich nun sogleich eine Schwierigkeit. Wohl konnte man die Ex-
tremitäten utiter einander und ihre einzelnem Abschnitte vergleichen,
nicht aber die Vergleichung der Extremitäten mit dem Rumpfe vorneh-
men, ehe nicht dieser einer anderweitigen Betrachtung unterworfen
war. Zu dieser Ueberzcugung kam ich durch folgenden Umstand. Man
sdlte glauben, nach der GebuH werden auch beim vierfüssigen Thiere
ebenso wie beim Menschen die Beine stärker in die Länge' wadisen al^
der Rumpf, da ihnen (toob eine grössere Ai*bait auferlegt ist. Gleich
Ueber das Lllii|e«WMli8tlraii der Knoeheo. 23
die erste Measong bei Kalb und Ochse wies das Gegentheil nach. Setzte
ich die Wirbelsaule s 400, so bildeten Femur und Tibia zusammen-
genommen beim Ochsen 44%, beim Kalbe 60 ^o^ d. h. bei diesen
Thieren wächst die Wirbelsäule stärker als dießeine.
Dieses unerwartete Factum löste sich in folgender Weise befrie-
digend auf.
Femur und Tibia haben zusammengenommen nur acht Stellen^ an
denen das Längen wachsthum vor sich geht, die vier Gelenkknorpel
und die vier Knorpelscheiben zwischen Epi- und Diaphyse, während
eine Wirbelsäule viermal so viel Ossificationsstellen hat als es Wirbel
sind. Es muss also selbst ein kleiner Gewinn an jeder Ossiöcations-
stelle der Wirbelsäule zu einer beträchtlichen Verlängerung derselben
fuhren , während die Beine durch die geringe Zahl ihrer Ossifications-
steHen in beträchtlichem Nachtheil sich befinden , mit andern Worten :
die Längenausdehnung der Wirbelsäule wird ceteris
paribus viel mehr schwanken, als die der Beine.
Um mich über diese Verhältnisse zu orientiren, stellte ich folgende
Tabelle (siehe S. 24) zusammen. Sie giebt nebeneinander von Rind,
Schaf, Hirsch und Mensch die Längen der Wirbel- und wichtigsten
Extremitäten-Knochen bei Erwachsenen und Neugebornen. Eine dritte
Rubrik enthält bei jedem Thiere die Differenz der betreffenden Knochen,
die das Maass des Wachsthums nach der Geburt angiebt. Die Uaasse
sind Millimeter.
Aus dieser Tabelle ist zu entnehmen :
1] Jeder einzelne Wirbelkörper besitzt ein weit ge-
ringeres Längen wachsthum als der einzelne Knochen der
Gliedmaassen. Es wäre nun zwar gewiss gewagt, zu behaupten,
der gsipze Betrag dieser Wachsthumsdifferenz falle auf Rechnung der
in Rede stehenden Kraft, hier mögen noch Differenzen in der BlutzuAihr
etc. mitwirken, allein wenn wir von der Grösse der Differenz ab-
sehen, dürfen wir sicher unsere morphologische Knaft als einen Erklä-
rungsgrund anrufen. An den Extremitäten haben die Knochen fast
ausschliesslich die Last zu tragen, die Wirbel werden in dieser Aufgabe
bedeutend durch die massigen sie umgebenden Weichtheile gestützt.
Ausserdem ruht auf keinem Wirbel eine so grosse Last wie auf den
Extremitätenknochen, die letzteren sind immer die Träger, die ersteren
die Getragenen. Weiter ist die Bewegung in den Gelenken der Wirbel-
säule eine höchst geringe gegen die Bewegung an den Gfiedmaassen-
gelenken , somit ist auch der wachsthumförderndc Reiz ein weit ge-
ringerer. Femer kommt noch dazu; die Glicdtnnasscn werden viel
24
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Hirsch
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27
45
84
45
46
45
44
84
5.
80
40
20
73
27
46
34
46
45
45
44
34
6.
72
27
45
28
47
42
45
44
34
7.
43
44
29
Humerus. .
847
75
242
860
465
495
452
87
65
228
4 05
423
Radius . .
247
65
482
800
463
437
465
87
78
245
445
430
Metacarpus .
69
46
58
220
458
62
440
90
50
240
442
98
Femur . .
440
85
855
450
205
245
475
92
88
275
433
442
Tibia . . .
383
78
340
885
205
480
230
422
408
800
457
448
Metatarsus .
79
46
63
265
480
85
445
93
52
267
456
444
häufiger bewegt als die Wirbelsäule und endlich wirkt sicher die Be-
wegung auch auf die Lebhaftigkeit der Nahrungs^ufuhr ;
2) ist die Differenz im Wachsthum der Wirbelkörper zwischen
Rind einerseits, Hirsch und Schaf andrerseits belehrend. Beim erste-
ren sind alle Wirbelkörper nahezu gleich stark in die Länge gewachsen,
das Minimum (6. und 7. Brustwirbel) ist 38, das Maximum 50. Beim
Hirsch ist das Minimum S^Va? ^^^ Maximum 54 ; beim Schaf das Mini-
mum 9, das Maximum 24 . Offenbar steht dicss im Zusammenhang mit
^der Beschäftigung des Ochsen; beim Ziehen wird ein Druck in der
Längsaxe der Wirbelsäule ausgeübt, der am stärksten ist in der Mitte
der Brust, wo der Scheitel des Bogens liegt, den die Wirbelsäule zwi-
schen Schulter und Hüfte bildet. Also gerade dort, wo beim unbeschäf-
tigten Vierfüsser nach unseren früheren Auseinandersetzungen die
Wirbelkörper den geringsten Druck erleiden und somit, wie die Tabelle
zeigt, auch das geringste Wachsthum vorhanden ist.
Ueber das Lloggiwiielratliiiiii der Knochen.
25
3) Fttlltauf: das geringe Wachsihum der Wirbelkörper
beiro Schafe. Ich habe dieses Tbier schon einmal einen Faullenzer
genannt und schulde darttber noch eine Auseinandersetzung. Das Schaf
ist weder Zug- noch Lasttbier, seine Wirbelsäule darf also im Verhält-
niss zu der der andern Hausihiere eine unbeschäftigte genannt werden
mit demselben Recht, wie die eines Dachshundes und eines in der
Menagerie aufgewachsenen Thieres. Man wird einwenden , das Sdiaf
gehe den ganzen Tag weidend umher ; allein bei diesem schriltwcisen
Gehen sind die aufgewendeten Muskelkräfte gering, und namentlich
gering sind die der Längsmusculatur der Wirbelsäule. Diess letztere
ist ganz anders beim Galopp- und Carriersprung ; hier werden weit
kräftigere Gontractionen der RUckenmusculatur erfordert, einerseits um
der Fallwirkung der Körperlast auf die Wirbelsäule entgegenzuwirken
und andererseits um die bei diesen Gangarten (besonders beim Galopp)
stattfindende active Bewegung der Wirbelsäule auszuführen ; ich erin-
nere in dieser Beziehung an die lange Lende des Hasen und den langen
Rumpf der englischen Rennpferde.
4) Geht aus dem sub 3. Angegebenen unwiderleglich hervor, dass
das totale Wachsthum der Wirbelsäule bei verschiedenen
Thieren verschieden gross ist, und daraus folgt, dass Mes-
sungen, welche nur das Verhältniss von Rumpf und Bein beim erwach-
senen Tbicre feststellen, nicht im Stande sind, Klarheit über den Zu-
sammenhang von Lebensweise und Körperproportionen zu verbreiten ^) .
Um diess zu illustriren, habe ich die folgende Tabelle gerechnet; ich
setzte die Länge der Rumpfwirbelsäule zu 4 00 , berechnete mit Bezug
darauf die Länge von Femur und Tibia , und diess sowohl befm Neu-
geborenen als beim Erwachsenen.
liege TM ttwm ni TlUt Im TerkiKiln §■■ RiMpf.
Mensch
Rind
Schaf
Hirsch
Neu-
geboren
Erwach-
sen
Neu-
geboren
Erwach-
sen
Neu-
geboren
Erwach-
sen
Neu-
geboren
Erwach-
sen
86%
45«%
5«%
440/0
430/0
60 0/0
8J%
480/0
Diese Tabelle ist auf den ersten Blick ebenso unerwartet , als sie
bei genauer Betrachtung zu einem der schönsten Beweismittel für un-
I) Anm. An dieser Steile merice ich an, dass das ganze System der Körper-
messungen für ethnologische Zwecice umgeändert werden muss, soll man nicht
Gefahr laufen, Differenzen, die durch die Lebens- und Beschäfligungswcise erzeugt
sind, fiir RaccndiflTcrcnzen zu halten; namentlich taugen alle Messungen
nichts, welche die RumpflUnge als das Einheitsmaass benutzen,
den n gerade de r Ru mpf besitz t den variabelste n Wach sthumsbetrag.
26
Dr» Gtrstur JMser^
sere allgemeiDe Aufstellung und einige im Bisherigen gemachten beson-
deren Angaben wird.
Das AufiEallende liegt darin, dass bei Mensch und Schaf im
erwachsenen Zustand das Bein relativ länger ist als nach
der Geburt, während bei Hirsch und Bind das Gogentheil
eintritt. Würde man diess Verhältniss einer ungleichen Längen-
zunahme des Beines in die Schuhe schieben, so bliebe es sicher unver-
ständlich. Könnte man auch einsehen, warum beim erwachsenen Men-
schen das Bein relativ länger ist als beim Nei:^ebornen , so wäre doch
nicht einzusehen, warum das Schaf längere Beine bekommen sollte als
Hirsch und Ochse.
Eine vollständige Lösung erhalten wir, wenn wir das Wachsthuin
der Wirbelsäule und das des Beins gesondert vergleichen; oben
stehen die natttrlichen Maasse, unten sind sie prooen tisch reducirt {die
Wirbelsäulenlänge des Erwachsenen s 100.).
Mensch
Rind
S«haf
Hirsch
Wirbel-
säule
Hinter-
bein
Wirbel-
säule
Hinter-
bein
Wirbel-
säule
Htoter-
bein
1
Wirbef-
säuie
Hinter-
bein
•
g
a
•
•
s
s
6
1
•
6
S
a
•
1
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c
•
1
es
188:
83,7:
540
t
100
158:
49,8:
848
400
680:
86,3.
4870
400
440:
49:
835
8
400
490:670
73,4:400
244:
s
52,8:
405
s
4 00
855 :
29,5:
4200
400
290:
50,4:
575
400
Wie ersiditlidi , haben Mensch , Rind und Hirsch als neugeboren
eine relativ sehr kurze Wirbelsäule ; sie ist mit geringen Abweichun-
gen etwa Y3 von der Länge der erwachsenen Wirbelsäule (Mensdi
33,7%, Rind 36,3 Vo> Hirsch 29,B%>, d. h. diese Geschöpfe haben
ein sehr ausgiebiges Wirbelsäulewachsthum im Vergleich mit dem
Schafe ; beim letztem ist die Wirbelsäule des Neugeborenen über 2/3
von der des Erwachsenen (73%). Die Hochbeinigkeit des Schafes im
Gegensatz zu den zwei andern Wiederkäuern hat also ihren Grund in
dem geringen Retrage des Wirbelsäulewachsthums.
Ganz entgegengesetzt stellt sich die Sache beim Menschen heraus,
dessen Wirbelsäule hält im Wachsthum ziemlich gleichen Schritt mit
der von Hirsch und Rind, allein seine Hinterbeine übertreffen an Wachs-
thum weit die aller drei andern Thiere ; bei den letzteren ist das Rein
des Neugeborenen etwa die Hälfte so lang wie das des Erwachsenen
(Rind 49%, Hirsch 50,4%, Schaf 52,8%) , beim Menschen dagegen
hat das Rein des Neugeborenen nicht ganz 75 von der Länge des fer-
tigen Reines; die Hochbeinigkeit des Menschen rtthrt also
Ueber dns Lliis«nw«cli0tlinn der Knoeben. 27
von dem beirächtlicheren Wacbsihaoi des Beineis, die
des Schafes von dem geringen Wacbsthuni der Wirbel-
sttale her.
Darin liegt offenbar eine Bestätigung unserer Sätze :
4) Die Wirbelsaule des Schafes wachst deshalb so gering., weil
dieses Organ lange nidit in der Weise beschäftigt ist, wie bei den an*^
deren Thieren (siehe oben) .
2) Das Hinterbein des Menschen wächst deshalb so ausserordent-
lich , weil der Mensch zweifUssig geht , also das Bein die Hälfte , beim
Vierfttsser nur ^4 der KOrperiast trägt.
Uebrigens knüpfen sich an die obige Tabelle noch einige Bcmer-
kMngen Über die Wirbelsäule. So natürlich der grosse Unterschied
zwischen Schaf einerseits, Rind und Hirsch andererseits aus der Lebens-
art dieser Thiere sich erklärt, so natürlich es uns weiter erscheint,
dass die Wirbelsäule des Hirsches stärker wächst als die des Rindes,
da der Hirsch schon in der Jugend rennen und laufen muss , das Rind
erst später zum Ziehen verwendet wird , so befremdlich erscheint uns
das starke Totalwachsthum der menschlichen Wirbelsäule, wodurch sie
zwischen Hirsch und Rind zu stehen kommt; es ist diess um so be-
fremdlicher , als wir in der TabeUe pag. 20 das geringe Wachsthum
des menschlichen Halses constatirten. Hierüber klärt uns eine Verglei-
chung des Wachsthumsbetrags der einzelnen WirbelkOrper auf.
Nehmen wir den längsten Wirbel (beim Menschen den letzten
Lenden-, bei Rind und Hirsch den 3. Halswirbel, siehe Tabelle p. 24),
setzen die Länge desselben beim Erwachsenen = 1 00 und bestimmen
den Procentsatz desselben beim Neugebornen, so erhalten wir für
Mensch Rind Hirsch
^ 33,3% 37,50/, 28,90/^.
Die hohe Belastung bringt also bei dem Lendenwirbel des Menschen
denselben Effect hervor, wie der Muskelzug bei den Halswirbeln der
Wiederkäuer. Weiter sehen wir aus der Tabelle pag. 24, dass sieh
die WiriLung der grösseren Belastung schon an dem starken Waobs-
thume der Bmsiwirtiel bemerklich macht, und so ersetzt der Umstand,
dass eine verhältnisemässig grosse Zahl von Wirbeln relativ stärker be-
lastet ist als beim Vierfüsser, und der vielseitige Gebrauch der Arme
auch auf die Brust verUlngernd wirkt, den Naebtheil, den ihm der min-
der energisdie Kampf ums Dasein l>ringen wtlrde ; denn man vergesse
nicht, dass diese stärkere Belastung der Loodenwirbelsäulc beim Still-
sitzen nicht minder besteht als beim Gehen.
Werfen wir einen Blick auf die Untersohtode im Waohstbuip der
28
Dr. Gustav J«e^,
Beine bei den drei VicrfUssern, so stimmt auch hier die gefundene
Scala mit der Beschäftigung. Det* Hirsch , der offenbar seine Beine am
meisten gebraucht, hat das stärkste Wachsthum (29,5%), das Rind
folgt mit 36,3; seine Beschäftigung als Zugtbier kommt dem LiSngc-
wachsthum des Beines zu gut, allein doch erreicht es nicht das des
Hirsches. Diesen beiden steht gegenüber das Schaf mit dem ge-
ringsten Beinwachsthum (52,8%), wie diess bei der Beschaff
tigungslosigkeit dieses Thieres nicht anders zu erwarten ist.
An die vorstehende Betrachtung schiiosse ich eine Tabelle an , die
das Verhnltniss von Wirbelsäule und Hinterbein (Tibia plus femur) hei
einer Reihe von andern Thieren darstellt, bei denen es mir vorläufi|z
nicht möglich war, Neugebornes und Erwachsenes zu vergleichen.
Unter Wirbelsäule verstehe ich wie oben nur Hals, Brust und Lende
zusammengenommen. In der Tabelle ist diese Länge überall gleich 1 00
gesetzt und procentisch die Länge des Beins angegeben.
Verhältniss von Rumpf und Hinterbein
(Tibia und Femur) .
Mensch . .
1520/^,
Wildschwein 51 %
Springhase
438-
Hirsch ... 48 -
Känguruh .
104-
Dachs. ... 47 -
Affe ....
80-
Ochse. ... 44 -
Hase . . .
75-
Esel .... 43,5 7o
Löwe . . .
66-
Dachshund . 43%
Bär ... .
66-
Pferd .... 42 -
Schaf . . .
. 60-
Dromedar . . 39 -
Wolf . . .
60-
Iltis 37-
Hyäne. . .
58-
Fischotter. . 36 -
Auerochs .
54-
Nach dem früher Auseinandergesetzten dürfen wir diese Liste
nicht einseitig auffassen als Aufschluss gebend über die Länge der
Beine; wir haben immer die doppelte Frage uns vorzulegen, ob Diffe-
renzen im Wachsthum der Wirbelsäule oder solche im Wachsthum der
Beine vorliegen. Von diesem Gesichtspuncte ausgehend müssen wir
sagen: die Liste eröffnet mit den langbeinigen Thieren
und schliesst mit den langrumpfigen, und wenn diess zu
unserem supponirten Gesetze passen soll , so müssen die erstem eine
Lebensweise zeigen, welche die Trag- und Sprungkraft der Beine mehr
in Anspruch nimmt, während bei den letzteren an die Wirbelsäule ge-
steigerte Anforderungen gestellt werden. Dass diess zutrifft, lehrt die
Vergleichung dieser Tabelle mit den vorangehenden Untersuchungen
' Ueber das Uiigeiiwachstliom der Knoehen. 29
über das Wachsthum der Wirbelsäule , sowie die Betrachtung der Ta-
belle an und für sich. Die drei Zweibeiner eröffnen die Liste mit dem
längsten Fuss; ihre Langbeinigkeit rührt unstreitig von stärkerem
>Vachsthum der Beine her und mag noch gesteigert sein durch das
kümmerlichere Wachsthum des Halsabschnitte^ der Wirbelsäule.
Schwieriger ist zu beurtheilen , warum der Affe langbeiniger ist
als die übrigen, ihre Extremitäten gleicbmässig gebrauchenden Thiere ;
jedenfalls trägt hier, wie aus der Tabelle pag. 20 hervorgeht, das ge-
ringere Wachsthum der Halswirbelsäule dazu bei , das Bein länger er-
scheinen zu lassen. Fürs Zweite dürfen wir aber wohl an ein gestei-
gertes Wachsthum der Beine denken, da die Affen von einer
ausserordentlichen Beweglichkeit sind; es giebt ja wenig
Thiere, welche ein unsteteres und unruhigeres Gebahren aufweisen als
sie und so darf uns die Langbeinigkeit derselben nicht überraschen.
Von dem Hasen gilt fast genau dasselbe; er ist langbeinig, weil er viel
läuft.
Betrachten wir das Ende der Tabelle , so treffen wir hier alle die
Thiere beisammen, von denen wir schon aus anderweitigea Messungen
feststellen konnten, dass sie ihre Wirbelsäule mehr Strapa-
ziren als andere Vierfüsser; es sind einmal die Hausthiere,
Ochse, Esel, Pferd und Dromedar, dann die zwei marderartigen Thiere:
Iltis und Fischotter, unci unter ihnen figuHrt nur Ein Thier, dessen
Kurzbeinigkeit vielleicht anders angesehen werden muss , nämlich der
Dachshund. Hier liegt kein Grund vor, ein stärkeres Wachsthum der
Wirbelsäule anzunehmen, um so mehr, als die Dachshunde zu den klei-
neren Hunderacen gehören. Man kann die Sache wohl nur so auffas-
sen, ohne sich in gewagte Vermuihungen zu verirren, dass beim Dachs-
hunde Rumpf und Bein gleicbmässig im Wachsthum zurückbleiben,
denn soweit ich ohne Messungen, zu denen ich noch keine Gelegenlieit
hatte, aus Erinnerung und Augenmaass entnehmen kann, kommen
selbst die langbdnigen^Hunderacen mit relativ kurzen Beinen auf die
Welt.
lieber die Thiere , welche die Mitte der Tabelle einnehmen , lässt
sich Folgendes sagen : . die Kurzbeinigkeit des Dachses dürfte auf ein
geringeres Beinwacbsthum zu setzen sein, da. diese Thiere, namentlich
zur Winterszeit, viel schlafen, überhaupt keine Freunde vpn unstetem
l^benswandel sind. Weiter ist interessant Wolf und Schaf mit gleichen
Procentverhältnissen neben einander stehen zu sehen. Die Wulfe kom-
men, wie ich aus eigeaer Anschauung weiss, so kurzbeinig auf die
Welt wie die Humle, während das Schaf sehr lange Beine zur Welt
bringt. DasSchaf*^*" '- ^ wir früher ^eigien konnten,
90
Dt« uNOiiHr Jifpcff
langbeinig in Folge des geringen Wachsthums fteiner
Wirbelsäule, der Wolf wird langbeinig inFolge des ge-
steigerten Wachsthums seiner Beine, das er seiner unsteten
Lebensweise verdankt. Die Langbeinigkeit der Hyfine dftrfte bei dem
Umstände, dass sie in einer Menagerie aufwuchs, wo weder Fuss Bocdi
Wirbelsäule Gelegenheit sur Uebung haUen, darauf htnweifleB, dass die
Hyänen bereits langbeinig zur Welt k^^mmen. ~ Erfahrungen mangeln
mir hierüber.
Diese Betrachtungen, die natürlich ohne vergleichende Messungen
des neugebomen Thieres mehr hypothetischer Natur sind, werden
jedenfalls genfigen, um dartutbun, dass auch diese Tabelle als eine
Bestätigung des vermutheten Knochenwaehsthums-r Gesetzes aufzufas-
sen ist.
Die nächste Tabelle vergleicht bei vier Säugern dasVerhältniss
von Vorder- und Hinterbein des neugebomen und erwachsenen
Thieres. Ich habe hiebei die Länge von Femur plus Tibia gleich 4 00
gesetst. Die Zahl der Tabelle giebt nun an, wie sieh die sunmirte
Länge von Humerus und Radius zu der von Femur plus Tibia verhält.
Yerhältniss von Vorderbein zu Hinterbein
(letzteres Überall ^ 400).
Mensch
Rind
Schaf
Hirsch
neu-
geboren
erwach-
sen
neu-
geboren
erwach-
sen
nen-
g^oren
erwach-
sen
neu-
geboren
erwach-
sen
SSV«
1 ■ ii' ' '
bei 3 Ind.
gemeM.
49P
80
*
78
78
76
8i
Hieraus ist ersichtlich, dass beim Menschen die Beine stär-^
ker wachsen als die Ar m e , Übereinstimmend mit den Unierscbie-
den ihrei^ Belastung, wovon schon frtther die Rede war. Beim Rinde
wächst das Hinterbein länger als das Vurderbein. Diess
stimmt damit, dass das Ziehen eine grössere Anstrengung seitens der
Hinterbeine erfordert als Iseitens der Verderbeine. Dass diese Vertnu-
thung nicht ohne Grufid ist, lehrt die Vergleichung des Rindes mit dem
Auerochsen ; bei ihm verhall sich Vorderbein zu Hinierbein wie 83 : 400.
Bei ihm ist also, wie unser Gesetz erwarten lässt, die Differenz zwischen
Hinter-^ und Verderbein geringer als beim Ochsen. Beim Schaf sind
die Verhältnisse im neugebomen und erwachsenen Zu*
Stande gleich; es lässt sich a«ch in der That bei der monotonen
Lebensweise des Schafes nicht anders erwarten. Sobald ich Übrigens
Gefegetiheit finde, werde ich die betreffenden Verhältnisse bei dem
Ueber das Unf^MrAelistliaiii der Koocben.
31
Widder uniersudien, (das Scbaf uoserer Tabellen iat ein weibliches) .
Bei iboi lässt nämlich die grössere Belastung der Vorderbeine durch
den gewiehiigen Kopf vermuthen, dass die VorderbeiiLe sUIrker wach-
sten als die HinterbeiBe, und schwerlich wird diess dadurch ausgeglichen
werden, dass das Hinterbein beim Stossen stärker in Anspruch genom-
men wird als das Vorderbein.
Beim Hirsch treffen wir im Gegensatz zu allen andern ein ge-
steigertes Wachsthum der Vorderbeine^ es musste erst eine
vergleichende Messung beim weiblichen Thiere (das gemessene ist ein
männlicher Hirsch) voi^enpmmen werden, um entscheiden zu können,
ob die st$lrkere Belastung der Vorderbeine durch das Geweih und den
mi^siveren Sefcddel diesen Wacbstburosunterschied hervorbringt, und
zwar, idt» dieser Umstand die alleinige Ursache ist oder nur eine der-
selben» denn ich.wagiB nicht zu entscheiden, ob beim Scbnelllauf eine.
Ungleichheit in der Arbeitsleistung zwischen Vorder- und Hinterbein
besteht.
In d^ folgenden Tabdle habe ich nadi dem gleichen Princip
Vorder- und Hinterbein von einer Reihe erwachsener Thiere ver^
glichen, um zu sehen,, in wieweit die bestehenden Verhttltnisse mit der
Lebensweise der Thiere Übereinstimmen.
Verhältniss von Vorder- und Hinterbein
(letzteres unverändert = 100).
Springmaujs
Känguruh .
Mensch . .
Hase. . , f
Uüs ....
Schaf . . .
Fischotter .
■
Ochse . . .
Hirsch . . .
Auerochse .
Wildschweii
Affe .... 87 -
Wie zu erwarten war, er(vtben die zweifOsaig g^enden die Reihe
mit dem längsten Hinterbein und dem kürzesten Ära. Die groasan Dif-
ferenzen, die trotzdem unter diesen Zweibaioem besteben, lege lob mir
auf folgende Weise zurecht. Die Springmaus steht auf den zwei Hin-
terfüssen allein, das Känguruh stützt sich ausserdem noch auf seinen
mächtig entwickelten Schwanz, darum sind die Hinterbeine der Spring-
35%
Dad» . . .
90 o/o
60-
Esel ....
90-
68,5»/«
WildkaUe .
94 -
75% ,
Wolf . . .
9«, 4%
75-
. Him4 . . .
9<,5-
78-
Dromedar .
94,7-
79-
Lowe . . .
92«/,
80-
Pfend . . .
92-
82-
Bar ... .
96-
83-
Uyttne ....
400-
85-
Elepbant. .
403-
32 ' ^r« Custav Jaeger,
maus grösser als die des Kanguruh's. Ausserdem sind auch die Vorder^
beine der Springmaus im Verhallniss zum Köi*per kleiner als die beim
Känguruh; in dieser Beziehung weiss ich nur, dass das Känguruh nicht
ausschliesslich auf den Hinterbeinen geht, sondern zuweilen auch auf
allen vieren , und dass es seine Vorderbeine beim Kämpfen als Waffe
gebraucht. Springmäuse habe ich lebend noch nicht beobachtet und
finde auch nichts darüber angegeben. — Dass der Mensch, der in Bezug
auf die Gangart auf zwei Füssen der Springmaus näher steht als dem
Känguruh, doch erst nach diesem kommt, erklärt sich einfach durch
den ausgedehnten Gebrauch, den er von seinen Armen macht, sie sind
deshalb verhällnissmässig länger als bei den andern Zweifüssern.
Weiter zeigt die hohe Zahl des Elephanten auf einen Einfluss der
Belastung durch den mächtigen Kopf. Die geringe Armlänge bei Hase,
litis und Fischotter steht im Zusammenhang mit dem häußgen Aufrich-
ten dieser Thiere auf die Hinterbeine, über das uns schon die Verhält-
nisse der Wirbelsäule dieser Thiere belehrten.
Im Allgemeinen geht aus <ler Tabelle hervor, dass beidenmei-
s'ten Yierfüssern das Hinterbein länger ist als das Vor-
derbein, allein es wird, wie uns die Tabelle S. 30 zeigt, ohne Ver-
gleichung von Neugebornem und Erwachsenem schwierig sein, zu be-
stimmen, wie wir diess Verhältniss aufzufassen haben, da eine so
grosse Differenz schon bei der Geburt vorhanden ist. Während das
Rind mit gleich langen Armen und Beinen geboren wird, kommt Scha
und Hirsch kurzarmig zur Welt, und trotz dieser Differenz treffen wir
im erwachsenen Zustande Hirsch und Ochse neben einander; beim
Ochsen musste also das Hinterbein länger wachsen , beim Hirsch das
Vorderbein. Um nun zu entscheiden, ob bei den Thieren unserer Liste
das Eine oder das Andere erngeti'eten ist, müssten wir zu den gewag-
testen Vermuthungen schreiten.* Wir haben uns also voriäufig mit dem
Resultate zu begnügen, dass bei den vierfüssig gehenden Thieren die
Differenz zwischen Vorder- und Hinterbein eine geringere ist, als bei
den zweifttssigen, was mit unserer Vermuthung über die Ursache des
Knochenwachsthums übereinstimmt.
Auf ähnliche verwickelte Verhältnisse stossen wir bei der Verglei-
chung von Oberarm und Vorderarm, Oberschenkel und Unterschenkel.
Die foigende Liste giebt das Verhältniss von Femur und
Tibia in neugebornem und erwachsenem Zustande, wobei die Tibia
überall gleich 4 00 gesetzt ist.
Ueber das LAngMiwiielisihiim der Knochen.
33
Verhftlliiiss von Femor and Tibia
(letztere Überall s 400).
Mensch
Rind
Schaf
Hirsch
neo-
erwach-
neo*
erwach-
neu-*
erwach-
neu-
erwach-
geboren
sen
geboren
sen
geboren
sen
geboren
sen
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H
H
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400
446
400
440
400
44H)
400
447
4 00
97
400
84,7
400
85
400
94
Bei Mensch und Schaf ist also dieTibia rascher ge-
wachsen als der Oberschenkel; bei Rind und Hirsch ist
es umgekehrt. Diesen Befund glaube ich in folgender Weise zu-
recht legen zu können. Wenn einfach die Belastung wirksam ist, so
muss die Tibia , weil stärker belastet als der Schenkel , ein rascheres
Wachsthum zeigen; in diesem Falle sind Mensch und Schaf, weil kei-
nes dieser Geschöpfe zu seinem Lebenswandel eine grössere Thatigkeit
der Beinmuskeln bedarf, der Mensch deshalb nicht, weil Ober- und
Unterschenkel senkrecht aufeinanderstehen, eine Lage, zu deren Erhal-
lung weniger Muskelkraft erforderlich ist, als wenn Ober- und Unter-
schenkel wie beim Vierfttsser in winkliger Knickung festgehalten wer-
den sollen. Damit erklart sich zugleich der geringere Betrag der Diffe-
renz beim schlecht arbeitenden Schafe, vorausgesetzt, dass wirklich
gezeigt werden kann, wie die Wirkung des Muskelzugs auf den
Oberschenkel starker ist als die auf den Unterschenkel.
Ohne naher die Kräfte der Ober- und Unterscbenkelmuskeln einzeln
zu analysiren und zu vergleichen , geht diess schon einfach aus dem
grösseren Querschnitt der Schenkelmusculatur hervor und so werden
wir es ganz natürlich finden, dass bei Thieren, die ihre Beine
viel gebrauchen, das Prae an Wachsthum, das die Tibia
durch ihre grössere Belastung besitzt, nicht nur com-
pen'sirt, sondern ins Gegentheil verwandelt wird, d. h. in
ein gesteigertes Wachsthum des Oberschenkels, und das ist der Fall bei
Bind und Hirsch.
Die folgende Tabelle giebt in gleicher Weise das
M v. 1.
3
34
Dr. (kaUf Jaifit,
Verhältniss von Radius und Humerus
(letzterer Überall » 1 60) .
Mensch
Rind
Schaf
Hirsch
nea-
erwach-
neu-
erwach-
neu-
erwach-
neu- J erwach-
geboren
sen
geboren
sen
geboren
sen
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400
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400
97
4 00
92
400
94
4 00
93
Es ist höchst bezeichnend und bestätigend für unsere AuflEassung,
dass in dieser Tabelle der Mensch aus der bisher mehrfach getroffeneo
Verbindung mit dem Schafe heraustritt und Rind und Hirsch sich bei-
gesellt. Das Schaf ist das einzige unserer vier gemessenen Geschöpfe,
bei dem der Oberarm ebenso im Wachsthum hinter dem Vorderarme
zurückbleibt, wie wir diess rücksiclitlich der hintern Extremität bereits
gefunden ; bei Mensch, Rind und Hirsch wächst der Oberarm stärker
als der Vorderarm. Diess zeigt, dass Schaf und Mensch zwar
gemeinschaftlich mit den Hinterbeinen faullenzen, bei
der vordem Extremität aber das Schaf allein dies es Vor-
recht geniesst, der Mensch sich dagegen den arbeitenden Geschö-
pfen anschiiesst. Eine ähnliche Betrachtung der Musculatur zeigt uns
nämlich, dass auch der Oberarm unter stärkerem Muskeldruck steht
ais der Vorderarm.
Ich habe versuchsweise bei einer grösseren Anzahl von Thieren
die in Rede stehenden zwei Hauptabschnitte der Gh'edmaassen gemes-
sen, allein mich überzeugt^ dass ohne Vergleichung mit dem Neugebo-
renen keine Auflösung der Liste möglich ist; ich will deshalb nur einen
Irrthum berichtigen, der sich bis in die neuesten Handbücher forlzielu
(Hthtl, Anatomie des Menschen 4863], dass nur bei Mensch und eini-
gen Affen der Oberschenkel länger sei als der Unterschenkel. Von 22
gemessenen Thieren besitzen 1 4 also % ^inen längeren Oberschenkel,
Durchsichtiger sind die Verhältnisse des Metatarsus und
Metacarpus. Ich setzte hiebei die summirte Länge von Tibia und
Femur einerseits , die von Humerus und Radius anderseits gleich 4 00
und rechnete die betreffenden Zahlen von Metatarsus und Metacarpus um.
Ueber das Llbi^wiidiBilioiii der KnoebeD.
as
VerhdItnisB von Metatarsus zu Femur und Tibid
(die Sumsie überall »400).
Mensch
Kind
Schaf
Hirsch
neu-
geboren
erwach-
neu-
«8boi»w,
efwach-
seiB
neu-
geboren
erwach-
sen
neu-
geboren
erwach-
sen
Meta-
tarsos
s
U* ■
S5
0
Ca«
Meta-
tarsus
m
Cß
0
Meta-
tarsus
Fuss
Meta-
tarsus
oo
Meta-
tarsus
bm
A3
«o
Meta-
tarsus
CO
40,4:400
9,4: 400
48 : 400
3» : in
44 :
400
86,8:
400
54 : 400
46 : 400
Hier zeigt sidi , dass überall der Hetatarsus beim neugeborenen
relativ langer ist als beim erwachsenen Thiere. Diess ist wohl 60 auf-
zufassen | dass Ober- und Unterschenkel zusammengenommen starker
waebsen als der Metatarsus und diess hat offenbar seinen Grund in der
Vertheilung des Muskelzuges. Die Musculatur des Vorderfusses ist eine
äusserst geringe, und da die Muskeln, welche die Zehen bewegen, am
Unterschenkel liegen, somit bei ihrer Contraction auch eine Verlänge-
rung des Unterschenkels anstreben , so erklärt sich das Uebergewicht
im Wachsthura seitens des Ober- und Unterschenkels vollkommen.
Diess springt um so deutlicher in die Augen, wenn wir uns zum Meta-
carpus wenden.
Verhaltniss von Metaearpus zu Humerus und Radius
(die Summe überall = 400).
Mensch
Rind
Schaf
Hirsch
neu-
geboren
erwach-
sen
neu-
geboren
erwach-
sen
neui-
geboren
erwach-
sen
1
neu-
geboren
erwach*
sen
Meta-
carpus
<
Meta-
oarpus
<
1 Meta-
. carpus
' Arm
83 :'t00
iMeta-
carpus
Arm
iMeta-
carpus
S
u
<
Meta-
carpus
1
Meta-
carpus
g
<
44,4:
400
4S,5:
400
48 : 4t€
5a : 400
44 : 400
64 : 400
50 :40l
Während bei Rind, Schaf und Hirsch der Meiacarpua
sich gerade so verhalt wie der Metatarsus, macht der
Mensch eine Ausnahme. Der Metacarpus des Erwachsenen ist
relativ langer als der des Neugeboreen. Diess hangt offenbar ab von
der reicheren Muskelentwicklung der mensohiichen Hand und dem aus-
gedehnten Gebrauch, den der Mensch von diesen Werkzeug macht.
Dieser Unterschied fällt um ao grösser aus , wenn wir die Liste
pag. 34 zu Bathe ziehen, die uns zeigte, dass auch Oberarm und Vor-
derarm des Menschen ein beträchtliches Wachsthum aufweisen.
Höchst charakteristisch ist die vergleichende Messung von Thieren,
36
Br. GnstftY Juegw,
die ich in der folgenden Liste zttsaniinengestellt habe. Unter der
Zeichnung »Arma versiehe ich wieder Humerus plus Radius, unter der
Bezeichnung »Fussa Femur plus Tibia.
Verhältniss von Melacarpus zu Humerus + Raclius, und Yerhältniss vou
Metatarsus zu Femur + Tibia (die Summe überall sss 100).
Meta-
carpus
Känguruh
Elephant
Affe . . .
Mensch .
Bär . . .
Hase . .
Pachs . .
Fischotter
Löwe . .
Iltis . . .
Hyäne. .
Wolf . .
Dachshund
Rhinoceros
Schwein
Auerochse
Ochse . .
Esel. . .
Pferd . .
Dromedar
Schaf . .
Hirsch. .
8,6
H,5
42,6
42,5
42,6
45,4
45,5
47,6
48,5
20
24
24
23
23
28
28,8
83,0
35,7
86,4
39,5
44
50
Arm
400
4 00
4 00
400
400
400
400
400
400
400
400
fOO
400
400
4 00
400
400
400
400
400
4 00
400
Elephant
Mensch
Bär . .
Affe . .
Dachs .
Hase .
Löwe .
Iltis. .
Rhinoceros
Wolf . .
Schwein
Känguruh
Hyäne .
Fischotter
Dachshund
Auerochse
Ochse . .
Schaf . .
Dromedar
Pferd . .
Esel. . .
Hirsch. .
Meta-
tarsus
8,6
9,4
42
44,7
46,7
49,0
49,6
20,0
20,0
34,0
24,7
22,0
2St,0
22,0
22,0
28,7
32,0
36,8
88,4
38,6
44,0
46,0
Fuss
4 00
400
400
400
400
400
400
400
400
4 00
400
400
400
400
400
400
4 00
400
400
400
400
400
Betrachten wir zuerst die Verhältnisse des Metatarsus.
Wenn ^ir vom Elephanten absehen, so besitzen den kürzesten Me-
tatarsus die Sohlengänger: Mensch, Bär, Affe und Dachs. Auf
sie folgen die Zehengänger, und zwar die, welche mehrere
Metatarsalknochen besitzen; zuletzt konnmen die Wie-
derkäuerund Einhufer, die auf einem Metatarsalknochen
gehen , und zwar trennt ein scharfer Sprung diese letztern von den-
jenigen Thieren, die mehrere Metatarsen besitzen. — Diese Reihenfolge
stimmt ganz genau mit den obwaltenden Belastungsverhältnissen über-
ein. Bei den Plantigraden sind die Metatarsalknochen am wenigsten
belastet, weil das Körpergewicht auf der Fusswurzel ruht und der Un-
terschied zwischen den Digitigraden und den Ein- und Zweihufern
rührt einfach daher, dass, wo vier und fünf Knochen an jedem Fuss
sich in die Last theilen , auf einen Knochen weniger Gewicht fällt als
da, wo nur ein Knochen die Last trägt. Dass diese Auffassung die ridi-
tige ist, lehrt namentlich schön die Vergleichung von Elephant und
Rhinoceros; der erstere, derauf 5 Metatarsalknochen geht^
Uei)er das L&BgeiivaclistlHim der Kuocbeu. 37
bal einen kürzeren Metatarsus als das Rhinoceros, des-
sen Meiatarsus aus 3 Knochen besteht. Dass übrigens der
Elephant einen kürzeren Metatarsus besitzt als selbst die Sohlengänger,
weist darauf hin, dass noch andere Umstände hier in Betracht kommen,
vor allem die längere Tragzeit dieser Thiere (siehe hierüber später) . —
Weiter wäre aus der Liste noch herauszuheben der Unterschied zwi-
schen Auerochse und Ochse ; entweder deutet diess auf ein stärkeres
Wachsthum von Ober- und Unterschenkel beim Auerochsen, was übri-
gens nach unserer Tabelle p. 33 unwahrscheinlich ist, oder darauf, dass
beim Ochsen der Metatarsus wirklich stärker wächst; ohne Unter-
suchung des neugcbomen Auerochsen wird sich diese Alternative nicht
entscheiden lassen.
Die hohe Zahl des Schafes findet wohl darin ihre Erklärung , dass
Ober- und Unterschenkel nicht in dem Maasse wachsen , wie bei den
andern Wiederkäuern. «Wie wir aus der Tabelle pag. 35 enioehmen,
beträgt der Unterschied zwischen Metatarsus des Erwachsenen und
Neugebornen beim Rind 16%» b«im Schaf nur 8,2%. — Die hohe
Ziffer beim Hirsch ist, wie aus Tabelle pag. 35 hervorgeht, schon daraus
erklärt, dass der Hirsch einen sehr langen Metatarsus zur Welt bringt,
allein auch hierin könnte man eine Fortvererbung eines erworbenen
Charakters erblicken ; der Hirsch hat nämlich einen sehr dünnen Meta-
tarsus im Verhältniss zu dem der andern hier angeführten Wieder-
käuer; jekleiner aber der Querschnitt eines Knochen, um
so'grösser ist die Last, die auf der Flächeneinheit dessel-
ben ruht. Voraussichtlich werden die schlankbeinigen Antilopen ähn-
lich lange Metatarsen aufweisen.
Wenden wir uns zu den Verhältnissen des Metacarpus, so fin-
den wir bei den vierfüssig gehenden Thieren eine fast minutiöse Ueber-
einstimmung mit denen des Metatarsus. Grössere Differenzen weisen
die Thiere auf, welche Vorder- und Hinterbein in heterogener Weise
benutzen : Mensch, Känguruh, Affe und Hase. Den grösslen Unter-
schied zeigt das Känguruh; sein Metatarsus hat die Verhältnisse der
Digitigraden , sein Metacarpus die der Plantigraden ; diess entspricht
genau dem verschiedenartigen Gebrauch , den es von seinen Extremi-
täten macht. Es wäre nur das Eine auffallend , dass der Metatarsus,
von dem nur ein Knochen functionirt , nicht die Verhältnisse der Ein-
und Zweihufer zeigt, sondern die der Vierhufer, wenn wir nicht wüss-
ten, dass das Känguruh nur im Sprung Digitigrad ist, in der
Ruhe dagegen Plantigrad.
III. Abschnitt
U^ber das L&ngdnwaehflthnm vor der Oebtirt und Schlnss-
folgeningen.
Die bisher initgeiheiHeD HessuDgen dürften hinreichend sei» , uni
einige allgemeine Sätze über das Längenwachsthum zu formuliren.
Der Hauptsatz lautet:
Unter sonst gleichen Umständen steht das Längen-
wachsthum eines Knochens in geradem Verhältniss zu
seiner mechanischen Leistung.
Aus dem leiten sich folgende secundäre Sätze ab :
1) Das Längenwachsthum steht (unter sonst gleichen Um-
ständen) in geradem Yerhältniss zur Höhe derBela-
stung des Knochens durch c^as Körpergewicht.
2] Das Längenwachsthum steht (unter sonst gleichen Um-
ständen) in geradem Yerhältniss zur Stärke und Häu-
figkeit des in der Längsaxe geübten Muskeldruckes.
3) Steht das Totalwachsthum des Skeletes in geradem
Yerhä.ltniss zur Höhe der Muskelarbeit.
Yon diesen Sätzen aus können die Untersuchungen auch ausge-
dehnt werden auf die Wachsthumsvorgänge vor der Geburt.
Bekanntlich bewegt sich der Fötus in der zweiten Hälfte der Schwan-
gerschafty und wenn die Muskelarbeit das Längenwachsthum nach der
Geburt fördert, so ist kein Grund abzusehen, warum die Muskelarbeit
des Fötus nicht die gleiche Wirkung haben sollte.
Bekanntlich werden die Fötalbewegungen vorzugsweise von den
Gliedmassen ausgeübt, während der Bumpf, wenn auch sicher
nicht ganz unbeweglich, so doch mindestens seltenere und weniger
ausgiebige Bewegungen vollführt. Damit stimmt, dass die Glied-
massenknochen beim Neugebornen bereits alle andern
an Länge übertreffen. Es wäre gewiss eine voreilige Behaup-
tung, dass die Ausgiebigkeit und Häufigkeit der Gliedmassenbewegun-
gen gegenüber den Bewegungen des Rumpfes die alleinige Ursache
des stärkeren Wachsthums der Gliedmassenknochen seien. AUein an-
dererseits ist doch auch folgende Erwägung gerechtfertigt. Wenn Mus-
kelarbeit das Längenwachsthum steigert,, so kann sie dasselbe auch ver-
anlassen. Wir hätten nur dann uns nach andern Ursachen umzusehen,
wenn durch Beobachtung ausser Zweifel gestellt wäre, dass die Glied-
massenknochen beim Fötus bereits ein vorgeschrittenes Längenwachs-
Ueber das LäBgeawftcMhuni der Koocheii. 39
thum I6q;en, bevor die Gliedmassen irgendwelche aclive
oder passive Bewegungen ausgeführt haben. Daraus, dam
die activen Bewegungen des Fötus beim Menschen erst awisehen dem
vierten und fünften Monat von der Mutter gefüUt werden, folgt jeden*^
falls nicht, dass vor dieser Zeit keine derartigen vorhanden sind. Doch
dem sei wie ihm wolle. Da nach den übereinstimmenden Zeugnissen
der Embryologen die Pdtalbewegungen vorzugsweise von den Glied-
massen ausgeführt werden, so erklärt sich aus unsern allgemeinen
Sätisen mindestens der Umstand, dass Thiere von kurzer Träch-
tigkeitsdauer kurzbeinige Junge gebüren, solche mit
langer Trächtigkeitsdauer dagegen hochbeinige. Die Ratze
gebt 55 Tage trächtig, der Hund 63 und ihre Jungen sind^kurzbeinig ;
das Schiff geht 450, das Rind 285, der Hirsch c. 240 Tage trächtig und
ibrO Jungen kommen hochbeinig zur Welt. Selbst innerhalb dieser drei
Wiederkäuer stimmt die Beinlänge des Neugebornen mit der Trächtig-
keitsdauer des Schafes, das die kürzeste hat, bringt laut Tabelle pag. 25'
unter den genannten Thicren das kürzeste Bein zur Welt (43% ^^^
Rumpflänge, bei Rind 59%, bei Hirsch 82%). Dass das Rind trotjB
seiner längeren Tragzeit ein kurzbeinigeres Junges wirft als der Hirsch,
leitet uns auf einen neuen Umstand. Der Effect der P^^talbewegungen
auf das Längenwachsthum hängt ja nicht allein von der Dauer der
Trächtigkeit ab, sondern auch von ihrer Häufigkeit und Heftigkeit. Jede
Frau wird es nun bezeugen können, dass in dieser Beziehung die FdValr^
bewegungen Hand in Hand gehen mit Häufigkeit und Heftigkeit der
Bewegungen der Mutter. Es fände also auch der genannte Unterschied
zwischen neugebomem Hirsch und Bind aus unsern allgemeinen Sätzen
seine befriedigende Lösung. Der gleiche Umstand trägt wohl auch die
Schuld, dass die Differenz zwischen Rind und Schaf trotz dem .grossen
Unterschied in der Dauer der Trächtigkeit in Bezug auf die Beinlänge
keine grössere ist. Denn das trächtige Schaf, das auf die Weide geht,
hat offenbar mehr Muskelarbeit zu leisten als die trächtige Kuh , die
man in den Stall stellt.
Wir hätten also aus dieser Vergleichung der Beinlänge neugebore-
ner Thiere weitere allgemeine Sätze über das Längenwachsthum der
Knochen gewonnen.
1) Die fötalen Bewegungen sind derartig, dass sie das
Längcnvcrhältniss von Rumpf und Glied niassen zu Gun-
sten der letzteren verändern.
Daraus leiten sich folgende Sätze ab :
2) Bei gleiob langer Trächtigkeitsdauer und sonatglei^
3S Dr. GuslftT JMgert
eben Umständen siebt die Hochbeinigkeii des Neugebornen
in geradem Verhaltniss zur fötalen Muskelarbeit.
3) Die Fötal bewegungen stehen unter sonst gleichen Um-
ständen in geradem Verhaltniss zur Muskelarbeit der
trächtig gehenden Mutter.
i] Bei sonst gleichem Tempo der Fötalbewegungen
steht die Hochbeinigkeit des Neugebornen in geradem
Verhaltniss zur Trächtigkeitsdauer.
Mit diesen Sätzen, die freilich, um zur UnumstössUchkeit zu ge-
langen, weiterer vergleichender Messungen bedürfen, haben wir an das
Gebiet getastet, auf welchem bisher die Lehre von der Fortvererbunt:
fasV ausschliesslich das Feld behauptete. Der würde durch diese Sätze
ein gut Stück entzogen. Die Fortvererbung eines bestimmten Veiiialt-
nisses zwischen Bein und Rumpf beruhte somit wesentlich da^auf, dass
die Mutter während der Trächtigkeitsdauer die gleiche Summe von Mus-
kelarbeit leistet, die ihre eigene Mutter leistete, als sie mit ihr trächtig
ging. Wo Elun eine Abweichung von der Beinlänge der Vorfahren ein-
tritt, hätten wir — andere Ursachen sollen natürlich nicht ausgeschlos-
sen sein — an die Möglichkeit zu denken, dass das trächtig gehende
Thier aus irgend einer mit dem Kampf um^s Dasein zusammenhängen-
den Ursache ein Plus oder Minus von Muskelarbeit leistet gegenüber der
Grossmutter. Setzen wir den Fall, dass es ein Plus ist, so wird das
Junge langbeiniger zur Welt kommen als es bei seiner Mutter der Fall
war. Dieser Gewinn erleichtert dem Thiere die Ortsbewegung ; und
wenn es Veranlassung dazu findet, so wird es der Anregung, die seine
Mutter empfing, nicht nur leichter Folge geben können, sondern es
auch in ausgedehnterem Masse thun, und diess wird wiederum ein Plus
von Beinlänge bei der nächsten Generation erzeugen.
Es wird nun nicht geläugnet werden können, dass auf diese Weise
eine Gumulation zu Stande kommt und eine solche Thierrace von Gene-
ration zu Generation langbeiniger werden muss. Umgekehrt wird ein
Thier, welches durch viele Generationen während der Tragzeit zur
Unthätigkeit verdammt ist, immer kurzbeinigere Jungen zur Welt
bringen. Ich wiederhole, dass hierait nicht gesagt ist, es sei die Mus-
kelarbeit während der Trächtigkeitsdauer und diese selbst die aliei-
nige Ursache solcher Racenbildungsvorgänge. Sicher aber wird ein
Theil derselben daraus seine Erklärung finden können, z. B. die Lang-
beinigkeit der Windhunde und die Kurzbeinigkeit der englischen
Schweine gegenüber den polnischen und ungarischen. Als weitere
Bestätigung des Gesagten bemerke ich, dass bei den kurzbeinigen
Southdownschafen die Tragzeit um einige Tage kürzer ist als bei den
lieber das Lüngeuwiichsthiiai der KNOcbeii. 4 ]
hochbeinigen Schafracen, und das gleiche VerbdHniss besteht zwischen
<i rabischem und dem hochbeinigen eagtischen Pferd.
Indem ich zunächst darauf verzichte, durch eine Analyse der be-
kannten Abweichungen unserer Hausthiere von der wilden Race neuen
Beweisstoff für das aufgestellte Längen wachslhumsgesetz beizubringen,
möchte ich durch einige Bemerkungen die Aufmerksamkeit der Fach-
physiologen auf den vorliegenden Gegenstand lenken. Es ist aus der
Literatur der letzten Jahre klar ersichtlich, dass fast nur Zoologen, ver-
gleichende Analomen und Botaniker sich auf das durch die DARwiN^sche
Theorie aufgeschlossene Beobachtungsgebiet bogeben haben , und mit
welchem Erfolg, beweisen die sich häufenden Entdeckungen der über-
raschendsten Art. Die eigentlichen Physiologen verhalten sich vorläufig
noch gänzlich cxspectativ und doch liegen für sie auf dem erschlosse-
nen Gebiete nicht minder reiche Schätze begraben als für die andern
Disciplinen, die sich mit den Organismen beschäftigen; ja es muss
geradezu behauptet werden , so lange sich nicht die Expertmentalphy-
siologie ernstlich damit beschäftigt, den Ursachen der indivi-
duellen Variation nachzuspüren, können die Bemühungen der
Zoologen nur von halbem Erfolg begleitet sein, und doch haben diese
Fragen nicht nur eine hohe wissenschaftliche Bedeutung, sondern sie
sind bestimmt, zur Richtschnur für den Thierzüchter und die zweck-
mässige Erziehung des Menschenleibes zu werden.
Vor allem ist es das zuletzt genannte praktische Gebiet , das das
grösste Interesse an dem Nachweis der genannten Ursachen hat. Der
Thierzüchter besitzt an der Zuchtwahl , d. h. an der Benutzung der
ohne sein Zuthun entstandenen individuellen Variation ein ausseror-
dentlich wirksames Mittel zur zweckmässigen Umgestaltung des Thier-
körpers; allein auf den menschlichen Leib kann dieses Mittel nicht an-
gewendet werden. Gelingt es nun, die Ursachen der individuellen
Variation festzustellen, so werden zum erstenmal Mittel gewonnen, um
eine systematische Erhöhung der physischen Leistungsfähigkeit des
Menschenleibes anzustreben.
Im vorliegenden Falle handelt es sich von Seite der Experimental-
Physiologie um die Analyse des wachsthumfOrdernden Einflusses der
Bewegung und Belastung auf das Knochengerüste. Wenn ich mich
unterfange, einiges darüber zu bemerken, so geschieht es mehr in der
Absicht anzuregen, als in dem Glauben, es lasse sich hierüber Er-
schöpfendes sagen.
42 I^r. Gostav J«^ger, Ueber daa Llogeuwachsthan der Kuoohen.
1] denke ich, die Wirkung der Belastung und des MuskeldrucLe-^
auf das Längenwachsthum der Knochen sei ein gans ähnlicher Vorgans,
wie die Schwielenbildung an der Epidermis. Es liegt Id beiden
Fällen ein mechanischer Reiz vor, der die Zellen zu Vermehrung durch :
Theilung veranlasst ;
2) dürfte wohl der Wechsel zwischen Gompression und Re- ',
laxation ein wesentliches Moment sein, denn eine Reihe von paihokn
gischen Processen thut dar, dass anhaltende Gompression zun j
Schwund der organischen Gewebe führt; *
3) muss untersucht werden, wie sich bei einem solchen Wechsel :
von Gompression und Relaxation der Gewebe dieBxnährungsver- |
häl tnisse gestalten, vor allem die Blutzufuhr. Hiebet ist wieder wei- ;
ter zu untersuchen, ob die gesteigerte Blutzufuhr nur zurttokzuftthren \
ist auf den Rhythmus des Herzschlages oder die erhöhte Blul-* luid |
Lymphcirculation, ob man es weiter mit einer bleibenden Erweileruni;
der zuführenden Arterien und einor reicheren Entwicklung von Capil-
largefdssen zu thun hat etc. ;
4) wären Experimente darüber anzustellen, ob neben dem phy-
siologischen Effect von Druck und Belastung nicht auch ein einfach
mechanischer vorliegt. Der Umstand, dass in alten Hühneraugen
phosphorsaure Kalkerde sich niederschlugt (Hyrtl, Handbuch der Ana-
tomie 1863. pag. 521), dass die Knochen wilder Thiere mehr Kalk im
Verhältniss zur leimgebenden Substanz haben als die der unbesdiäf-
tigteren Hausthiere (siehe Rütiheyer), lässt immerhin den Gedanken
aufkommen , die Verknöcherung des osteogenen Gewebes sei ein che-
misch-mechanischer Vorgang. Ein Versuch, den Herr Professor
Marx in seinem Laboratorium anzustellen die Güte hatte (es wurde eine
salzsaure Lösung von phospborsaurem Kalk durch eine Schweinsblase
gepresst und die Goncentration der durchpassirten Flüssigkeit mit der
in der Blase zurückgebliebenen verglichen), gab zwar ein negatives
Resultat, allein daraus ist noch nichts zu schliessen.
Mit diesen Bemerkungen glaube ich meine Mittheilungen vorläufig
abschliessen zu sollen , indem ich mir vorbehalte , die Ergebnisse der
Fortsetzung meiner Untersuchungen später zur Kenntniss zu bringen,
sowie ein für alle Organismen und Gewebe gültiges morphologisches
Gesetz zu begründen, welches ich vorläufig so formulire:
Während auf unorganische Körper derReiz verklei-
nernd wirkt, wächst der organische dem Reiz entgegen,
indem an der von ihm getroffenen Steile Zellvermehrung
eintritt.
Heber das Skeletgewebe der Cyclostomen.
Von
C. Oegenbaur*
Mit Tafel I.
Die durch das Fortbestehen einer mächtigen Chorda dorsalis aus-
gezeichneten Axenskelete der Cyclostomen werden stets an den Anfang
einer Entwickelungsreihe gesetzt, an die sich die Axenskelette der
Chimären und Dipnoi, auch jene der Störe, anschliessen. Sie begrün-
den ein Recht auf diese Stelle nicht nur durch das Verhalten der Chorda,
sondern auch durch die Beziehungen der skeletbildendetf Schichte.
Indem bei Myxinoiden eine Gliederung in Wirbelabschnitte am Skelete
selbst gänzlich fehlt, indess sie bei den Petromyzonten durch knorpelige
Bogensttlcke angedeutet wird , sondern sich die beiden Abtheilungen
der Cyclostomen wieder auf zwei Stufen , von denen eine an höhere,
die andere an niedere Verhältnisse den Anschluss bietet. Ungeachtet
dieser Verbindung , welche das Verhalten des Rückgrates der Cyclo-
stomen zu gestatten scheint, bestehen an ihm doch so manche und
nicht unwichtige Eigenthümlichkeiten , dass die Erwägung derselben
uns darin nur der Besonderheit der übrigen Organisation entsprechende
Verhältnisse sehen lehrt.
Sehen wir zunächst nach den verschiedenen Auflassungen, welche
dieTbeile des Axenskeletcs bei verschiedenen Autoren gefunden haben.
Nach C. S. ScBULTZB ^) ist bei Petromyzon fluviatilis die Bildung fol-
gende: »Eingesenkt in eine gallertige Masse verläuft der Länge nach
durch den ganzen Körper ein aus Faserknorpel bestehendes Rohr,
dessen Höhle mit derselben Gallerte ausgefüllt ist. Auf diesem Rohre
1) D^ Physiologie. Bd. IV. 4648. p. Bift.
44 C* GegMbaw,
liegt das bandförmige Rückenmark in einem Ganale, der durch (k
nngsumliegende feste Galle rtc gebildet wird, in welcher sich su bei-
den Seiten des Rohres convergirende Knorpelstreifen , um es zu be-
decken , erheben. Diese Streifen sind milchweiss , spröde , undurcb-
sichtig, wodurch sie sich von dem elastischen durchsidiligen Robit.
an welches sie durch kurzes Zellgewebe geheftet sind , unterscheidee.
Sie stehen in der Nahe des Schädels ziemlich weitläufig, senkred
auf dem Rohre, und haben eine zweigespaltene Wurzel. Nach dtv
vorderen Spitzlhcil des Körpers verändern sie ihre Richtung, indec
sie sich etwas nach hinten legen, und werden zugleich zahlreicher
aber kürzer, so dass sie fast verschwinden. Im hinteren Theile end-
lich , besonders da wo die Rückenflossen entspringen , liegen sie didi»
neben einander, sind am längsten und berühren sich von beideii
Seiten unter einem spitzen Winkel, von wo sich die knorpliges
Flossen strahlen, jedoch ohne mit ihnen verbunden zu sein , erheben
Diesen entspricht im vorderen Theile der W^irbclsäule , da sie zugleich
die Dornfortsätze darstellen, eine in der Mittellinie des Rückens zwischen
den Muskeln verlaufende Gallertschicht. In der Schwanzspitze ver-
schwinden die Knorpelstreifen , der Ganal und das Rückenmark ganz- \
lieh, und das Knorpelrohr endet fadenförmig.
»Dass das Knorpelrohr den Körpertheil der Wirbel, die hier noch
nicht als einzelne Knochen vorhanden sind, darstellt, wird auch da-
durch bewiesen , dass sich schon eine Spur der Eintheilung findet , in-
dem das ganze Rohr aus einer unzähligen Menge dicht aneinander
liegender Ringe besteht, die besonders im trockenen Zustande, und an
der inneren Fläche deutlich zu sehen sind.«
Rathke 1) äussert sich für die Pricke folgendermaassen : i>An das ■
Schädelende setzt sich ein massig dickwandiges , anfänglich von oben
nach unten etwas plattes, bald aber in die Cylinderform übergehendes
Rohr, welches eine Strecke an Weite zunehmend, als der hauptsäch-* }|
liebste Tbeil des Rückgrates in gerader Linie nach hinten verläuft. I|
Die Wand desselben besteht aus einem Faserknorpel, dessen dUnnc j|
aber feste Fibern dicht an und übereinander liegende Ringe bilden.
Sehr deutlich erscheinen diese Ringe auf der Rinnenfläche des Rohres,
undeutlich aber auf der Aussenfläche. Die Höhle des Rohres ist mit
einer bläulichweissen und festen Gallerte erfüllt. Diese Gallerte nun
füllt das ganze Rohr vollständig aus, scheint aber von aussen nach
innen immer weicher, zu werden, ganz in der Mitte aber wiederum
eine etwas grössere Härte anzunehmen.«
1) Bemerkungen über den inneren Bau der Pricke. Oanzig, 4815.
Geber das Sketetgewebe der Cyclosiomen. 45
»An die Seilen des beschriebenen Rohres , jedoch nur an den vor-
leren platten Theii desselben , legen sieh vier Paar kleine Knochen-
Stuck chen, und das in einiget Entfernungen von einander, platt an,
sind mehr oder weniger glasartig spröde, nehmen einzeln von vorne
nach hinten an Grösse immer mehr ab , ragen mit ihren) oberen Ende
eine grössere Strecke als sie dem Rohre ansitzen über diesem hervor,
gehen etwas convergirend paarweise gegen einander, und nehmen den
fibrös häutigen Ganal des Rückenmarkes zwischen sich. Das erste
dieser Stücke jedweder Seite ist am breitesten und befindet sich dicht
hinter der Ohrkapsel. Diefalgenden Stücke haben ungefähr die Gestalt
der vordersten Fingerphalangen. Auf diese Knochenstückchen folgen
Mreiter nach hinten , und gleichfalls in massigen Abständen von einan-
der, eine Menge fester und nur schmaler Rnorpelstücke , welche zwar
dieselbe Stellung als die vorderen Rnochenstücke haben , jedoch fast
nur allein dem fibrös häutigen Ganale des Rückenmarkes, dorn sie innig
angewachsen sind, angehören, und nur ein wenig nach aussen hervor-
treten. Bis auf die Mitte des Rumpfes nimmt die Höhe desselben mehr
%u als ab. Darüber aber hinaus werden sie immer kürzer, rücken zu-
gleich immer dichter bei einander, und verschwinden zuletzt, gegen
das Ende des Schwanzes gänzlich.«
»Diese beschriebenen Knorpel und Knochenstückchen nun, die
den fibrös häutigen Ganal, in welchem das Rückenmark eingeschlossen
liegt, zwischen sich nehmen , und eben noch nicht, je Paar für Paar,
mit einander zur Vereinigung gelangt sind , stellen die halben Wirbel-
bogen am RUckgrate höherer Thiere dar. Auf ihre Enden endlich und
jenen Ganal sieht man eine senkrecht stehende, halb gallert- und halb
zellgewebartige Platte aufgesetzt, die schmal und dünn hinter dem
Kopf beginnt, gegen die Mitte des Rumpfes aber allmählich höher und
dicker wird.a
»Die Schenkel der Rttckgnitshöhle , die in dem Brusttheile noch
ziemlich weit von einander standen , rücken allmählich immer näher
zusammen , werden etwas höher und stellen jetzt nur dünne , gerade
Streifen vor, die immer mehr die knochenartige Beschaffenheit ver-
lieren, indem sie immer knorpelartiger werden. Zugleich rücken sie
mehr hineuf, so dass sie in dem Bauch- und Schwanzlheile der Pricken
weniger als in dem Brusttheile , dem Hauptstücke des Rückgrates an-
liegen, sondern nur aHein dem faserknorpeligen Rohre angehören,
welches das Rückenmark umgiebt, und in dessen Settenwände sie
immer mehr hineintreten , so dass sie (schon in der hinteren Hälfte des
Bauchstückes) in diese Wände ganz eingesenkt sind , anstatt dass sie
im B ^igslens die vordersten derselben , ihnen nur an-
46 C. Giigeftkatir,
lagen. Die gallertariige Platte^ welche dexk Schenkeln, des Rflekgrau^
aufgesetzt ist , behielt bis fast dicht vor dem Schwänzende ^ne noc^
ziemliche Höhe , scheint aber , je weiter nach hinten , sich desto meiif
zu verdünnen. In ihr nun sind die Anfiinge derSUrablen em^e^vBchBcn
welche' die beiden Rückenflossen unterstüUen»«
Hören wir ferner J. Müllbr ^) : »Bei d^ Petroinyzen besieht d»s
Rückgrat aus dem Gallertrohr und dem fibrösen Ueberzug, mreichf
über der Säule in das Dach für das Rückenmark und für das über des
letzteren liegende , zellgewebartige , schwärzliche Fettzellgewebe über-
geht. Es besteht ferner aus den am häutigen Bogentheil des Rück-
grates anliegenden niedrigen, knorpeligen Schenkebi, die bis zuoi
Schwanzende des Thieres Vorkommen , den Canal d^ RüdLenmarke
seitlich schützen , ohne am vorderen und mittleren Theit 4es Körpern
ganz an dem Dach hinauf zu reichen oder sich an beiden Seiteo zu
vereinigen. Die Knorpelschenkel liegen in der fibrösen oder Skelet-
Schicht. Merkwürdig ist, was ich noch von Niemand angegeben Gnde.
(Jass ihre Zahl nicht mit derjenigen der Ligamenta inteitnuscularia des
Rumpfes, die sich an das Rückgrat ansetzen, übereinstimmt, indem
mit Ausnahme des Anfangs des Rückgrates auf zwei Knorpelschcnkei
nur ein Ligamentum intermusculare kommt. Da nun bei den übrigen
Cyclostomen auf ein Ligam^tum intermusculare immer ein Rücken-
marksnerv kommt, so sollte man schon hieraus vermuthen, dass die
Zahl der Knorpelschenkel auch nicht mit der Zahl der Spinalnerven bei
den Petromyzen übereinstimmt. So viel ich an in Weingeist aufbe-
wahrten Exemplaren von Petromyzon marinus sehen konnte, ist dies in
der That der FalL Die Zahl der Spinalnerven stimmt mit den Ligamenta
intermuscularia , aber nicht mit den dicht aufeinander folgenden
Kaorpelschenkeln am Rüokenmarksrohr , indem auch wieder zwischen
den Austrittsstellen von zwei Spinalnerven zwei Bogenschenkel liegen.
Diese erinnert an die Wirbelsäule der Haifische , wo auf jeden Wirbel-
körper zwei hintereinander« liegende Bogen kommen , and an jene
überzähligen Stücke , welche an dem Rückgrat der Chimären und der
Störe vorkommen. Bei Petromyzon fehlen die Basilarstücke der Wirbel
am unteren Umfang der Gallertsäule, jene Rudimente, die wir bei
Accipenser und Chimära antrefien, ganz, bis auf einen dUniicn, hinten
verschmälerten , zuletzt etwas zerstückelten , doppelten , kooipeligon
Streifen an der unteren Fläche des vorderen Theiles der Wirbelsäule.«
Alm übrigen Theile der Wirbelsäule bildet die fibröse Haut , welche die
äussere Schichte des Rückgrates ausmacht, nur an den Seiten einen
i) yerigletchende Anatomie der Myxinoidea. I. Theil. p. 88.
üeber das SkeMgev^ der Cyclostomen. 47
kantigen Längsstreifen , wo die Seitenwände des Leibes abgehen ; eine
Art zusammenhängenden fibrösen Querfortsatzes in der ganzen Länge
des RUekgrates. Am Schwänze nähern sich beide Kanten , und bilden
durch Vereinigung einen untieren Bogen für die Arteria und Vena cau-
dalis , gerade wie sonst die unteren Dornfortsätze der SchwaDzwirbel
der Fische thun. Am Rumpftheile des Körpers stellt die Kante offenbar
die noch ungetlieilten Querfortsälze dar. Diese Kante, die schon Megkel
kannte , enttiält keine Knorpel , ist aber sehr fest und dem Zustande
der Verknorpelung sehr nahe. Am Sohwanztheile des Rtlckgrates sehr
grosser Petromyzon mamius bemerkt man schon eine unregelmässig
eingesprengte, knorpelige Substanz an diesen fibrösen Kanten, nämlich
an der unteren Fläche der Gallertsäule in der äusseren fibrösen Scheide
derselben^ da wo die Kanten abgehen.«
Diese Darstellungen, an welche sich mehr oder minder genau auch
noch spätere anschliessen , vereinigen sich sämmtlich in der Angabe
oiner die Chorda dorsalis umsdiliessenden , von da alsdann den Rück-
gratcanal umfassenden, Oewebschichte , die bald als i^fesleGallerte«,
bald als »fibrös« bezeichnet wird. Diese skeletogene Schichte ist es,
welche ihres Gewebes wegen genauere Beachtung verdient, zuvor aber
seien bezüglich der Chorda und der Chordascheide von Petromyzon
einige kurze Bemerkungen gemacht.
Was die Chorda betriA, so finde idi dieselbe bei Petromyzon
marinus mit ziemlich reichlicher Intercellularsubstanz ausgestattet,
welche bei der langgestreckten Zelleuform ansehnliche mit der Längsaxe
radial gestellte Maschen darbietet. Die Zellen sind meist geschrumpft,
überhaupt schwer wahrnehmbar. Nach aussen zu folgt eine kleinzellige
Schichte, mit spärlicher Interceliularsubstanc (Fig. 4 Chb), In dieser
Schichte, die in die grosszellige continuirlich übergeht, sind die Zellen
viel leichter unterscheidbar. Daran sdiliesst sich wieder ohne scharfe
Abgrenzung eine dritte Schichte {Che) , die ich bereits früher als
Chorda-^Epithei bezeichnet habe und der ich die Abscheidung der
Chordascheide zuschrieb ^). Ich habe keine Ursache, diese Deutung zu
imdem, finde sogar bei Peitromyzon Bestätigung. Die Zellen der
Fipitheiscfaicbte sind von der Form , die man gewöhnlich cylindrisch zu
nennen pflegt, denn sie stellen langgestreckte Kegel oder Pyramiden
vor, die breitere Basis gegen die Oberfläche geriditel, die Spitze nach
innen. Nicht unschwer ist , zu sehen , wie diese Spitze zwischen zwei
andere Zellen ragt, <iie theilweise eine dttnne Lamelle Intercellular-
substanz zwischen sich besitzen und diese im Zusammenhang mit der
4) Di«M Zeitschrift. Bd. ni. p. n%.
48 ^ GegenbMir^
oben erwähnten kleinmaschigen likieroelluiarsubstaoz genau nach
weisen. Nach innen von der Epiihelschiobte endigi also das iuU:
cellulare Siülzwerk des Gbordagewebes. Jene äussere kleinzelii^
Schichte stellt sich als indifferent dar, von der die Volumszunahme d^
Chorda ausgehen muss. Durch sie werden an der Peripherie n«^
Massen von Chordazellen angesetzt.
Von der Epithelschichte ist die Gbordascbeide sehr deuttiu
und scharf abgesetzt. Zu den bereits bekannten Zuständen dirs^
starken, als Cuticularbildung aufzufassenden Rohres erwähne ich nof'
eine eigen thümliche radiale Faserung oder Streifung (Fig. 4 Chs) , df^
nach innen zu am deutlichsten ist. Die Entfernung der in Curven ver-
lautenden Streifen von einander entspricht neben dam Innenrandr
ziemlich der Breite , resp. Dicke der Zellen des Chordaepith^s , da dk
Streifen von da ausgehen, wird man sie zu letzterem in BeKiehunL
bringen dürfen , und wird für nicht unwahrscheinlich halten . dass sk
bei der Differenzirung der CLordascheide entstandene Bildungen sind.
Die Verbreiterung nach aussen zu, die mehr unregclmüssigeÄnordnunL'
daselbst, sowie das Interferiren der Streifen, mag daher rühren , das«
hier die ältesten Schichten der Chordascheide zu suchen sind , die bei
dem mit der Chordascheide zunehmenden Wachsthume der Chorda
unmöglich in ihren früheren Verhältnissen bleiben konnten , sondern
gleichfalls ein Wachsthum (da man doch nicht blos von einer Dehnung
wird sprechen dürfen) eingehen mussten.
Was die skeletogene Schichte betrifft, so haben wir zunäcbsl
deren Ausdehnung etwas anders zu bestimmen , als dies von Seile der
früheren Untersucher geschehen. Sie umschliesst nicht nur die Chorda-
scheide (Fig. \ Chs) und setzt sich in zwei ventrale leistenartige Vor-
sprünge (v) fort, (dieselben »kantigen Längsstreifen«, die am Caudalen-
abschnitte convergiren und den Caudalcanal umschliessen) , sondern
sie streckt sich auch aufwärts (a) den Bückgratcanal (c) seitlich uoi-
schliessend und über demselben ein hohes , aber solides Dach (/) vor-
steUend. Von diesem Dache, aus erhebt sieh noch eine senkrechte Leiste
[s] die zwischen die lateralen Muskelniassen trennend sich fortsetzt.
Die äussere Schichte dieses Gewebes ist durch dunkles Pigment aus-
gezeichnet, 30 dass die Contourlinie der skeletogenen Schichte sieb
auf dem Querschnitte im Zusammenhange verfolgen lässt (Fig. 4 p).
Ausser dieser Continuität ist noch Folgendes «hervorzuheben : das über
dem Bückgratcanal liegende massive Dach bildet nur einen Ab-
schnitt der skeletogenen Schichte, eine Verdickung der-
selben, und das von J. Müller als schwärzliches Fettgewebe be-
zeichnete Gewebe hängt continuirlicli mit den übrigen zusammen.
Ueber das Sketelgewebo dor Cyclostomen. 49
^Wenn dither Megkbi ^) in dem Bogentheile des Rückgrates »zwei über-
einanderliegende GUnge« anniiDiht , einen unleren zur Aufnahme des
Rückenmarks dienenden, und einen zweiten über diesem verläufenden,
so isl er sicher im Irrthume. Dasselbe gilt voii SxAimios *) . Wenn er
anfuhrt: »Diese Schicht — höufig als äussere Scheide der Chorda be-
zeichnet — verlängert sich jederseits aufwärts zur Bildung eines das
Rückenmark umsohliessenden Rohres , worauf sie einen zweiten über
jenem gelegenen, mit fetthaltigen Gewebslheilen erfüllten Canal bildet«,
so ist unter »Canak keineswegs ein bestimmt abgegrenzter Hohl-
raum zu denke», sondern nur eine Binnenstrecke der skeletogenen
Schichte, an der das Gewebe etwas modificirt erscheint. Die genauere
Untersuchung'dteses Gewebes ist am besten im Stande , sowohl diese
Beziehungen klar zu machen , als auch die verschiedenartigen Angaben
über darin vorkommende Knochen- oder Knorpelstttcke aufzuhellen.
Auf feinen Schnitten der skeletogenen Substanz bemerkt man ein
grossblasiges Gewebe, an dem man sehr bald Räume unterscheidet,
die mit Zellen erfüllt sind, sowie eine diese Räume, somit auch die
Zellen von einander scheidende , festere Masse , Intercellularsubstanz.
Die Zellen sind von sehr verschiedener Grösse. Sie bestehen aus
gleichartigem, nur wenig Molekel umschliessenden Protoplasma. In
den grossen Räumen füllt das letztere nur einen Theil aus , so dass ich
annehmen muss, dass die Zellen, vielleicht durch Austritt einer Flüssig-
keit collabirt seien. Vollständig werden die kleinen Räume ausgefüllt.
Die meisten besitzen mehr oder minder sphärische Oberflächen, wodurch
die Intercellularsubstanz an den Puncten , wo mehrere Zellen sich nahe
kommen, reichlicher vorhanden sein muss. Die Kerne der Zellen
messen gegen 0,0025—0,0036"'. Wenn die Zellen ausser den Grösse-
verschiedenheiten keine Differenzen aufweisen , so ergeben sich solche
an der Intercellularsubstanz. Diese erscheint bald nur in der Form
von untereinander zusammenhängenden Zellmembranen (Fig. 3^), bald
wird sie durch breitere Züge gebildet (Fig. 3 a). Die letzteren sind auf
Durchschnittsbildern häufig auf grosse Strecken hin verfolgbar, geben
seitliche, schmälere Zweige ab, die dann in noch feinere intercellulare
Ramificationen übergehen. Die breiten Züge bieten im Bilde einer
LäDgsstreifung den Ausdruck einer Faserung dar. Nicht selten gaben
concentrische Schichten ein Bild von Dickwachsthum der Substanz.
Sowohl gegen Säuren als gegen Alkalien leistet diese Intercellular-
substanz Widerstand. Im Ganzen macht dieses Gewebe den Eindruck
U System der vergl. Anat. 11. p. 472.
t, Handbuch der Zooloinic. 2. Aufl. p. 15.
Bd. V. 1. ♦
50 ^- GegenlMiir,
eines pflanzlichen Gewebes. Nach unten hin lagert sich Ober dics«^
Gewebe ein faseriges Bindegewebe , in welchem zagleich die dunit^
gefärbte Lage vorkommt.
An dem Dache des Rttckgratcanaby d. h. des einsig bestebendec
das Rückenmark umschliessenden , geht jenes Gewebe VeräDderun^
ein. Man sieht zwar das intercellulare Gerüste unverändert in die a*
»Fettgewebe« bezeichnete Substanz sich fortsetzen ^ allein der Inlu^
der Hohlräume ist ein anderer geworden. Die blasigen Rdume uis-
schliessen gelblich gefärbte Fetttropfen. An jungen Exemplaren voc
Ammocoetes ist dieses ganze Dach aus Zellen gebildet , die von den»
anderer Theile der skeletogenen Schiebte nicht verschieden sind-
Aeltere Exemplare lassen einen Grössenunterschied dieser Zellen wahr-
nehmen , sie sind viel umfänglicher als die anderen , und zugleich bt
sich in ihnen Fett zu entwickeln begonnen, welches in Form vor
kleinen Tröpfchen bemerkbar ist. Von da an findet man leicht An-
schlüsse an das Verhalten der ausgewachsenen Petromyzonten , bei
denen übrigens das intercellulare Gerüste sehr leicht nach den periphe-
rischen Theilen in continuo verfolgt werden kann. Der als supra-
spinales Fettgewebe bezeichnete Strang ist also nur ein Theil der
skelelbildenden Schichte, die in ihren Formelementen verändert ist.
Diese skelelogene Schichte rechtfertigt ihren Namen auch bei deo
Gyclostomen, indem bei Petromyzon festere Skelettheile aus ihr hervor-
gehen, und dann noch in sie eingebettet bleiben. Es sind die von
C. S. ScHULTZB , Rathks u. a. geschilderten Rudimente oberer Bogen,
die bald als knöcherne, bald als knorpelige Theile aufgefasst worden
sind. Ich habe das erste Auftreten dieser Gebilde bei der Querderform
beobachtet, und will den Befund vor jedem Urtheü über den histiolo-
gischen Werth dieser Gebilde mittheilen. Auf Querschnitten durch das
Rückgrat jener jungen Petromyzonten bemerkt man an bestimmten
Stellen der skeletogenen Schichte hin und wieder eine Veränderung
der Intercellularsubstanz. Die Stellen liegen unmittelbar an der Chorda-
scheide ; da , wo spater die fraglichen Bogenrudimente vorkommen.
Man sieht da die Intercellularsubstanz gelblich tingirt, und stärkere
Massen zwischen relativ kleinen Zellen vorstellen , als dies am Gewebe
der übrigen skeletogenen Schichte der Fall ist. Längsschnitte im Niveau
dieser Stellen zeigen , dass man es hier mit den Anfängen der Bogen-
bildungen zu thun hat. Aus der Yergleicbung dieser Anfänge mit
älteren Zuständen oder mit dem Befunde an ausgewachsenen Lampreten
geht hervor, dass jene Bogenbildung durch eine von be-
stimmten Stellen ausgehende Veränderung der Inter-
cellularsubstanz der skeletogenen Schichte ihre Ent-
lieber das Skelet^webe der Cyelostomeii. 51
. siehung nimmt, die Intercellularsubstanx wird allmählich dicker,
, und indem der Process von der Ursprungsslelle aus allmählich peri-
pherisch fortschreitet, ergreift er immer neue Parthien des skeletogenen
.. Gewebes und lässt es in die fiogenanfilnge übergehen. In Fig. 2 ist
dieses Verhalten dargestellt. Es betrifft das Object ein Stück eines
auf der Scheide der Chorda aufsitzenden Bogentheiles von Petromyzon
marinus. Die Intercellularsubstanz gewinnt ausser der Verdickung
noch andere Eigenschaften. Sie wird nämlich fester, derber, ohne
dass eine Kalkimprägnalion daran betheiligt wäre, und übertriSl
damit vielfach das gewöhnliche hyaline Rnorpelgewebe. Ihr Aus-
sehen ist dabei glänzend, nicht selten mit Andeutungen concen-
irischer Verdiokungsschichten. Ausser den oberen Bogonstücken , die
von den früheren Autoren bereits genau beschrieben sind, giebt es
aber auch noch untere. Sie liegen in der unteren seitliehen Längs-
kante (von der J. Müller besonders erwähnt, dass sie keinen Knorpel
enthielte), da wo dieselbe zur Begrenzung des Gaudalcanals dient, und
liier trifft man die erwähnten Stücke wieder dicht an der Chorda-
scheide, zur unmittelbaren Begrenzung jenes Canals beitragend^). Ich
habe das Gewebe dieser Stücke bis jetzt als Knorpel gelten lassen,
muss aber, auf die oben erwähnten EigenthUmlichkeiten zurück-
kommend, es, von ^ dem sonst die knorpeligen Theile der Wirbel-
Segmente zusammensetzenden Knorpelgewebe, sehr verschieden er-
klären. Seine Festigkeit macht verständlich, dass man jene Bogen-
rudimente, da wo sie etwas stärker entwickelt sind , für i>Knochena hat
ansehen können. Aber auch in der Entstehungsweise bieten diese
Bogenstttcke von jener bei anderen Wirbelthieren EigenthUmlichkeiten.
Die knorpelige Anlage dorsaler Bogen ist viel schärfer gegen die be-
nachbarten Gewebe der skeletogenen Schichte abgegrenzt. Es besteht
eine perichondrische Grenzschichte, die einerseits in Knorpel, anderer-
seits in Bindegewebe übergeht. Indem von letzterem in die Grenz-
schichte eingeht, und in Knorpelgewebe sich umwandelt, andererseits
aber auch eine Vermehrung der Knorpelzellen und der bezüglichen
Intercellularsubstanz stattfindet,, wächst der knorpelige Bogen. Anders
ist es bei Petromyzon der Fall. Eine Grenzschichte fehlt, und ebenso
fehlt bei Volumzunahme der Bogenstücke jegliche Betheiligung der be-
reits ihm angehOrigen Zellen. Diese bieten beim Wachsthumc des
4) Dass Mbciel diese Theile nicht meint, wenn er von »deutlich vorhandenen
Rndtmonten der QuerfortsKtze« spricht (System der vergl. Anat. Bd. 11. p. 4 74),
ist kaum zweifelhaft. Auch Job. MtJLLcn bezieht die Aeusserung Meceel's auf die
seitlichen unteren I^ngskanten der skeletogenen Gewebsschifhte. (Siehe das oben
gpgel)eiie Cilat.)
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lieber das Skeletgewebe der Cyclostomen. 53
*^^igkeit des Aufslellens eines Kriteriums zu erkennen, für welches
YerhäUnisse zum Umfange der Zellen geringe Intercellular-
'^^z noch am passendsten in Betracht gezogen werden mag.
-''= darin auch nur ein quantitativer Unterschied liegt , so werden
™ ' doch Eigenthttmlichkeiten sich begründen , die besonders be-
- zu ^Verden werth sind.
- ^ne Form des skeletbildenden Gewebes hat aber noch eine an-
1=^ vicbtige Beziehung. Sie drückt eine Form der Bindesubstanz aus,
i Wirbellosen in, grosser Verbreitung, und in mannigfacher Ver-
:. ing vorkommt. Ihr Bestehen bei den Cyclostomen zeigt uns, dass
1 der niederen Form der peripherischen Elemente des Nerven-
Q^ auoh in den Skeletgeweben sich ein niederer Zustand erhalten
*4r den bei den übrigen Wirbeithieren nichts ähnliches besteht.
IrkUiUDg der Abbildnagen.
Tafsl L
' I. Querschnitt durch das Rückgrat von Am mocoetes.
CA Chorda dorsalis.
Chs Ghordascheide.
V ventrale \ portsÄtxe der skeletogenen Schichte.
d dorsale j
p dunkles Pigment.
c Rttckgratcanal.
N Rückenmark.
f Fettmasse.
s Septum Ewiscben den Muskeln.
b Blutgefäss.
. S. Verhalten der skeletogenen Schichte Ä. zum Knorpel der Bogen B. von
Petromyzon marinus.
. 3. Gewebe der skeletogenen Schichte von demselben.
a Breiter Zug von Intercellularsubstanz.
6 Feinere, von den breiteren Streifen abgebende Verzweigung der
Intercellularsubstanz zwischen Zellen.
c Kerne von Protoplasma umgeben.
{. 4. Stück eines Querschnittes der Chorda von Petromyzon.
CA Chorda dorsalis.
a Grossmaschige Intercellularsubstanz. Von den Zellen sind nur
noch Reste bemerkbar.
b engmaschige Rindenschichte der Chorda.
c Epitbelscbichte.
Chs Chordaiicbeide.
llntersHrhnngm aber Bas nn^ EntifklMhog 4er kttkropmin.
Von
Dr. A. Dohrn.
Mit Taf. II. u. III.
1. üeber den Bau und die Entwickelang der Cnmaceen. <)
Durch die freundliche Unterstützung der Faunisten der Kieler
Bucht, Dr. Meykr und Prof. Möbius, kam ich während meiner An-
wesenheit in Kiel und Hamburg in den Besitz zahlreicher Exemplare
der schönen Guma Rathkei Kröyer. Da ich bisher keinen Ver-
treter dieser problematischen kleinen Familie gekannt hatte , aus den
verschiedenen Angaben und Meinungen der Zoologen über dieselbe
aber keine feste Anschauung zu gewinnen war, machte mir die erste
Untersuchung der Anatomie und Embryologie grosse Schwierigkeiten
und ich gelangte zu keinem erspriasslichen Resultat, da die Embryonen
der Guma Rathkei schon im Mai den Brutsack verlassen und ich
i) Diese Abhandlung ward gleich nach den Beobachtungen an Ort und Stelle
niedergeschrieben. Ich kannte damals noch nicht die ausgezeichnete Arbeit von
G. 0. Sabs über die Cumaceen (Om den aberrante Krebsdyrgruppe Cumacea op
detis nordiske Arter. Vid.-Selskab. Forhandlinger for 4864). Als ich sie spttter durch
die zuvorkommende Freundlichkeit des Verfassers erhielt, machte es mir viel
Mühe, sie des fremden Idioms halber zu lesen. Da ich aber ausserdem meine Be-
obachtungen nicht noch einmal anstellen konnte , zqg ich es vor, sie so zu geben,
wie ich sie vorher gemacht hatte. Es finden sich nur einige Abweichungen in den
Angaben des norwegischen Forschers, die nicht unwichtig sind, so besonders über
die Auffassung der Kieme und ihrer Function, sowie über den Blutlauf. Da ich aber
hierauf meine Beobachtung sehr speciell gerichtet halle, glaubte ich um so weniger,
mit meinen Angaben zurückhalten zu dürfen, als vielleicht durch diese Ab>
weichungen ein dritter Forscher bew ogen werden könnte , die fraglichen Puucle zu
unterscheiden.
1
Uiitersucbungen Qber Bau und EiKwickelnug der Arthropoden. 55
später vergeblich nach trächtigen Weibchen sachte. Ich verschob die
Vollendung meiner {begonnenen Untersuchung der merkwürdigen
Thiercben auf den nächsten Frühling und verliessKiel im Juli, um nach
Schoitland zu gehen und dort meine Arbeiten über die Embryologie
der Crustaceen fortzusetzen. Dem freundlichen Rath des Dr. Baihd vom
British Museum in London folgend , ging ich nach Millport, dem auf
der Insel Great Cumbrae in dem Firth of Clyde gelegenen Bade-
Orte an der Westküste Schottlands in der Nahe Glasgow^s.
* Dr. YouNO, Professor of Natural History an der Glasgower Univer-
sität, verpflichtete mich durch seine freundliche Einführung bei Mr.
RoBBKTSON, dem durch seine unermüdlichen faunistischen Nach-
forschungen bekannten Zoologen.
Zq meiner grossen Freude zeigte mir Mr. Robertson gleich bei
oi^hiem ersten Besuche eine Anzahl von Cumaarten, die er alle in
M i 1 1 p o r t gefangen hatte. Er versicherte mich zugleich , dass ich sie
in Menge selbst fangen konnte , und dass die meisten Weibchen gerade
jetzt Eier haben würden. In der That war das auch der Fall ; ich habe
nidit weniger als sieben verschiedene Arten G u m a und mehrere der
sogenannten Gattung Bodotria gefangen; sämmtliche Cuma arten
waren trächtig , — dagegen keine Bodotria, — aus Gründen, die
dem Leser sehr bald einleucAiten werden.
Die Stellung der kleinen Familie im System ist bisher so schwan-
kend gewesen, dass ich grosses Verlangen trug, zur Aufklärung und
Feststellung derselben das meinige beizutragen. Die gewöhnliche An-
sicht ist, dass wir in Cuma einen» sehr niedrig organisirten Zweig der
Decapoden vor uns haben, der in gewissen Beziehungen zu Mysis
steht. Die auffallende Stellung des einen Auges vom auf der Stirn
und die Abwesenweit eines Augenstieles Hessen femer Yermuthungen
über grossere oder geringere Verwandtschaft mit den Edriophthal-
men und den Gopepoden aufkommen, aber nur ein Forscher kam
dicht an die Wahrheit der thatsächlich bestehenden Verwandtschaft der
Cumaceen heran, — Fritz Müller^), derselbe sichere Beobachter
und fruchdoare Denker, der uns schon früher in seiner Abhandlung
vPttr DARwm« den Weg gewiesen, den die Crustaceenkunde von nun an
zu gehen hat. Fritz Müller spricht es in seinem Aufsatz aus, dass die
ersten Stände der Guma^enembryonen den Isopoden gleichen. Es ist
mir eine grosse Genugthuung, dass ich dieser Meinung des hoch-
geachteten Forschers völlig beistimmen kann. Die nähere Auseinander-
setzung und Begründung dieser Ansicht schliesse ich hieran.
4) Archiv fttr Naturgeschichte 4865 p. 144.
56 ^r. Ä, DohrD,
Meine Beobachtungen machte ich an folgenden ArteD: Cum 3
Ratbkei, Cuma trispinosa, Cuma plicata, Gutna Goodsiri ^)
und drei anderen Arten , deren Namen ich nicht feststellen konnte , da
mir ein Theil der nothwesdigen Literatur fehlte. loh war fernerhin so
glücklich , alle Stadien der Entwickelung und sogar den Act des Et-
legens einer Cuma Goodsiri unter dem Mikroskop verfolgen zu
können.
Die Eier der Cumaceen sind von derselben Grösse udcL Be-
schaffenheit wie die Eier der Amphipoden und Isopodeo. Das
Chorion ist völlig durchsichtig. Ob eine inaere Eihaut vorhancien ist,
kann ich leider nicht mehr entscheiden, da ich früher, in der MemuDg,
die beim Asellus von mir als Larvenhaut beschriebene Metnbraa sei die
von Fritz MütLEA gemeinte Larvenhaut, dieselbe Bildung axuih bei
Cuma als Larvenhaut in meinem Manuscript beschrieben habe; seit
aber durch Clapar^db und Andere als Larvenhaut richtiger die noch
vor dem Entstehen des sogenannten Mikropylapparates gebildete Mem-
bran angesehen wird, die ich bei Asellus als innere Eihaut, bei den
Amphipoden aber als Larvenhaut beschrieben habe, muss auch bei
den Cumaceen das entsprechende Gebilde als Larvenhaut, jene spätere
Membran dagegen anders benannt werden.
Die Furchung habe ich an den Cumaeiern nicht beobadiitet.
Die Aehnlichkeit mit den Eiern der Isopoden und Amphipoden
zeigt sich nun schon bei der ersten Bildung des Keimstreifs. Der-
selbe Apparat, dessen Anlage und Ausbildung ich in
einem früheren Aufsätze^} geschi Idert habe, der fälsch-
lich sogenannte Mikropylapparat, erscheint auch als
eine derersten Bildungen des Cumaeies. Umgeben ist er
von den Keimzellen , welche sich auf der ihm entgegengesetzten Peri-
pherie des Eies und um die grössrere U£llfte des ganzen Ovales herum
theilen, stark vermehren und dadurch den Embryo anlegen. Die
Schicht der Keimzellen bleibt einfach in der Umgebung des genannten
Organes, so dass hier dieselbe Formation zu Stande kommt, wie ich
sie von Idothea beschrieb, nämlich der Verschluss des Dotters durch
eine einfache Lage von Zellen und den rätbselhaften Apparat. Kopf-
4) Das Männchen dieser Art Ist als Bodoiria 6oodsiri von var Bbreder
(Mdmoires de l'Acad^mie des Sciences de Belgique Tom. XXXIII. p. 76. tab. XIII.
Fig. 4—16.) beschrieben I da aber die Gattung Bodo tria eingehen n>uss, weil sfe
nur die Männchen der Gattung Cuma umfasst, übertrug ich den Speciesnamen
des Männchens auch auf das Weibchen , dessen Beschreibung ich an anderer Stelle
zu geben beabsichtige.
2} Zur Embryologie der Arthropoden. Habilitationsschrift 4868.
Uiitersuchiingeii fiber Bau und Eutwickeluog der Artbropodcn. 57
ind Scbwancende.des Reimstreifes sind von gleicher DicJLe und ebenso
liek wie das HiiCelstück. Nach einiger Zeit erfolgt ein Vorgang, der
las Cumaoeenei vollkommen zu einem Isopodenei stempelt: die Ein-
renkung eiaer Falte dicht hinter dem Haftapparat der
[\ tlokenkeimhaut bis ungefähr zur Mitte des Dotters
(Taf. II. Fig. 4 u. 2), Wir kennen diese Falte an den Embryonen des
A^sellus aquaticus und der meisten andern Isopoden und wissen , dass
ihre Bildung. gleidiBeitig oder wenigstens in naher Aufeinanderfolge mit *
der Bildung einer neuen UmhttUungshaut geschieht. Auch bei Cuma
beoaerken wir sofort nach der Einrenkung dieser Falte
diese Haut, welche sich deutlich überall von der Peri-
pherie des Keimst reifes abhebt, undnuranfdem Rücken
in enger Berührung mit dem Dotter und der ihn bedecken-
den^Schicht der Keimhautzellen bleibt, ja möglicher-
weise, — dieBeobachtungerlaubtmirhier keine Sicher-
heit, — noch gar nicht gebildet ist. Diese beiden Thatsachen
allein würden genügen, die nahe Verwandtschaft von Cuma mit den
£ driophthalmen nachzuweisen. Aber die Anlage der Gliedmaassen
setzt die Aehnlichkeiten fort.
Das nächste Stadium, das ich beobachten konnte, zeigte folgenden
Befund. Der Keimstreif hatte sich an der vorderen und unteren Peri-
pherie verdickt und dadurch Kopf- und Schwanzende deutlich gemacht.
Das Kopfende legt sich, wie bei Asellus', mit zwei verbreiterten,
scbmetterlingsflügelfOrmigen Kopf Wülsten um dei^ Dotter, ist aber von
oben (dem Rücken aus) betrachtet, keilförmig durch den dazwischen
tretenden Dotter getrennt. Der Schwanztheil oder das Postabdomen
schlägt sich auf den Rücken hinüber , kommt aber nicht in so nahe
Berührung mit dem Kopfende wie bei Asellus An seiner inneren
Seite , ziemlich auf der Spitze des von ihm gebildeten Ovales entsteht
eine Einsenkung der Keimhaut. Derselbe Vorgang erfolgt am Kopf-
ende, ebenfalls an der vorderen Spitze, es ist unschwer, in beiden
Einstülpungen die Anlage des Afters und der Hundöffnung
zu gewahren.
Die Anlage der Gliedmaassen ist gleichfalls schon zu einem
g. wissen Stadium fortgeschritten. Man gewahrt 8 Paar Antennen,
3 Paar Mundwerkzeuge und 7 Beinpaare (Taf. II. Fig. 4).
Das erste Paar der Antennen ist weitaus die grtfsste Extre-
mität, die der Embryo aufweist. Ihre Insertion ist dicht über der Ein-
stülpung der Mundtfffnungy die Richtung ihrer Längsaxe ist schräg
nach unten und hinten. Das zweite Paar der Antennen ist viel
kleiner; seine Insert* - « • «.^^ H^l^^ ^^^ ^^^ MundOffnung,
5S ^r* A. Dohrii)
eher ein wenig unterhalb derselben. Es wird zum Theil von det
oberen Paare verdeckt. Seine Richtung ist die gleiche. Dicht neb«c
und unterhalb desselben ist die Anlage der spateren Mandibelo
Diese drei Extremitätenpaare stimmen in einer charaklerisiiscbeB
Eigenschaft überein : sie lösen sieh sämmtiich an ihrer äusseren , d. l
an der nach der Seitenwand des Embryo's zu gewendeten Seite \oc
Keimstreif ab und ihr Wacbstbum geht anfängiidi auch nur na(Si dieser
Richtung. Ich machte auf die gleiche Thatsache aufmerksam in der
Entwickelungsgeschichte des Aseiius (1. c. p. SS9).
Die folgenden beiden Extremitätenpaare sind einfache, abgerundetf
Platten; das erste ist bis auf einen geringen Raum von dem Keimstreif
abgesetzt, die Verbindung besteht an dem oberen Rande. Das Wachs-
thum geht nach der Mittellinie des Reimstreifes zu. Wir ei^enneo
darin das erste Maxillenpaar des Asellus. Das zweite Ma xi II en-
paar ist ebenfalls nur mit schmalem Stücke an der oberen Seite io
Zusammenhang mit dem Keimstreif, der weitaus grösste Theii ist ab-
gesetzt, das Wachsthum folgt der Richtung der ersten Maxillen. Bis
dahin ist Alles im Einklang mit den gleichen Verhältnissen 4es
Asellus.
Mit der Bildung des folgenden Extremitätenpaares beginnt aber
die Abweichung. Während bei der Assel das dritte Maxillenpaar
in der ursprünglichen Anlage völlig den beiden andern gleicht,
gehört die Bildung der homologen Extremität bei Guma zu dem Typus
der Beinbildung. Wie sämmtliche folgenden 6 Extremitätenpaare wird
es gleich anfangs an seinem äusseren , hinteren Bande gespalten und
lässt einen inneren grösseren und einen äusseren kleineren Ast wahr-
nehmen. Bei Aseiius kommt die Anlage des Tastertheils später zum
Vorschein und erinnert dann an das hier geschilderte Verhältniss
(vergl. 1. c. p. 237).
Die Anlage der Oberlippe und der Unterlippe in meiner Be-
schreibung der Aseliusembryologie als accessorische Mundtheile i>e-
zeichnet) erfolgt völlig in der gleichen Weise wie bei Asellus.
Die Segmentation des Körpers ist gleichfalls deutlich wahr-
zunehmen. Jeder Extremität, mit Ausnahme der Antennen , entspricht
ein Segmentabschnitt , die Profiliinie des Keimstreifs zeigt somit zehn
Wölbungen , deren erste drei bedeutend grösser sind als die folgenden.
Auf das letzte Segment folgt ein grosser Abschnitt des Keimstreifs,
ohne irgend welche Andeutung von Segmenten oder Giiedmaassen.
Es ist das Postabdomen. Es krümmt sich in das Innere des Dotters
hinein und zeigt an der Spitze die schon beschriebene After-
öffnung.
UnteraacbuuijreD über ßan oiid Eutwi«keloug der Artbropoden. 59
Oberhalb des ersten Blaxillenpaares ist die Anlage derLeber
eu erkennen* Sie gleicht bis auf das Kleinste der gleichen Bildung bei
^ sellus, und besteht aus einer mfissig gewölbten kuppelförniigen Er-
h<»buDg, deren Basis ringformig eine Oeffnung umschliesst, durch
'welche die Gomniunication des Lebersackes mit dem Dotter , — später
mit dem Darme stattfindet.
Dicht anter der Anlage des Lebersackes gewahrt man bei vor-
sichtiger Hebung des Tubus einrxarte Contour, die sich an der den
Beinen zugewendeten Seite leicht nach oben krümmt und dann ver-
schwindet. Auf der anderen Seile bildet sie einen etwas spitzeren
>ViDkeI y krümmt sich um denselben gleichfalls nach oben und ver-
schwindet in gleicher Höhe auch hier. Diese Contour ist die erste An-
deutung des seitlichen Panzers des Gephalothorax.
Der Embryo in diesem Stadium ist noch umhüllt von der Larven-
haut; das Chorion ist-schon entfernt.
Das folgende Stadium, das ich zu beschreiben habe, entbehrt auch
der Larvenhaut I ist^aber noch von der dicken Haut umschlossen. Es
zeigt noch ebenso wie das vorige den Isopodentypus , freilich mit be-
deutsamen Abweichungen (Taf. U. Fig. 3).
Die Rückenfalte hat sich weiter in den Dotter hineingeschlagen
und zu gleicher Zeit nach hinten zu mehr gerundet. Dadurch ist die
Bildung des Rückens vollendet. Das Rückenorgan hat sich scheiben-
förmig ausgebreitet, seine Fortsetzung bildet die Hypodermis des
Rückens , welche sich bereits vom Dotter abgehoben hat und auf der
einen Seite an die KopCscbeiben , auf der anderen an die Wülste von
embryonalen Zellen anschliesst, welche zum Aufbau des Darmrohres
dicht unter der BückenzeUschidit liegen.
Die Kopfscheiben haben sich stark verdickt, mehrere buckel-
artige Abschnitte sind in ihnen zu unterscheiden. Yersebiedene braune
Pigmentflecke deuten die erste Anlage der Augen an, welche,
wie die Augen der Edriophthaknen seitlich sich befinden.
Die oberen Antennen haben ihre Lage und Gestalt im Ganzen
nicht verändert. Nur an der unteren Seite ist ein Vorgang von Be-
deutung zu bemerken. Die Gliederung sämmtlicher Gliedmaassen ist
bereits angedeutet; so auch bei den Antennen. An dem solchergestalt
angedeuteten vorletzten Gliede derselben findet sidi nun eine Auf-
treibung, welche die erste Spur der spiteren Nebengeissel bildet.
An den unteren Antennen ist keine Neubildung von Bedeutung
wahrzunehmen.
Die Mandibeln haben die Richtung ihres Wachstknms völlig
verändert und folgen derselben Bildung^ weise , wie die Maxillen. An
60 ^^ A. Dobrn,
ihrem äusseren, der Hundöffnung zugekehrten Rande haben sie sich i:
zwei gleich grosse Kuppeln geschieden und bedecken von deo Sdlei
her die Mundöffnung und die Unterlippe.
Die Maxillen haben sich ebenfalls stark verändert. Das erst:
Paar hat einen Fortsatz an der inneren Seite getrieben und gleicht der
Gestalt der Mandibeln. Das zweite Paar hat an seinem hinterec
Rande sogar zwei kuppeiförmige Fortsätze , die beide aber kleiner sim
als die vordere Kuppel. Das drrtte Paar endlich bat sich völlk
ebenso entwickelt, wie die gleiche Extremität der Asellusembryonen.
der äussere Ast hat sich zu einer langen, nach hinten gerichteten bein-
förmigen Walze umgewandelt , der innere ist nach Vom gerichtet udq
ist im Wachsthum zurückgeblieben. Sämmtliche Gliedaieassen sinu
nun schon weit über die Rauchfläche des Embryo herUbergewachsec
und begegnen sich in der Mitte derselben.
Die Oberlippe und die Unterlippe haben sich v^ie hei
Asellu^ gestaltet; zwischen ihnen steigt der Vorderdarm in die Höhe.
In der Bildung der Beine haben wir nun schon jetzt zwiscbcD
generellen, speciellen und sexuellen Bildungen zu unterscheiden. Da
das vorderste Beinpaar bereits deutlich sich zu einer Maxille um-
zugestalten beginnt, will ich fortan die Betrachtung desselben, wie
bereits geschehen, bei den Mundwerkzeugen vornehmen, dasselbe
wird der Fall sein mit dem zweiten Beinpaare im nächsten Stadium
der Entwickelung. Die Unterschiede in der Bildung der Beine betreffen
die Ausbildung des äusseren Astes, der bei dem ersten
Beinpaare, — der dritten Maxille, — wie bereits erwähnt, zu einer
langen, beinförmigen Walze sich ausbildet, bei dem zweiten Paare
völlig in seiner ursprünglichen geringen Entwickelung beharrt, bei
dem dritten und vierten wie bei dem ersten sich zu einer langen
Walze entwickelt und bei dem fOnften, sechsten und siebenten
nur geringe Vergrösserung über die ursprüngliche Anlage hinaus er-
fährt. Die inneren Aeste sämmtlicher Paare, — mit der erwähnten
Ausnahme des ersten Paares — wachsen in lange Walzen aus und
bilden den Hauptast der Beine, während die äusseren Aeste theils
völlig verschwinden, theils rudimentär werden, theils zu starken
Schwimmbeinen sich entwickeln. Bei der Beschreibung des ausge-
wachsenen Thieres werden wir sehen, dass in der Entwickelung dieser
äusseren Aeste sexuelle Verschiedenheiten existiren, die auf ver-
schiedene Lebensweise des Geschlechtes schliessen lassen.
Die Segmentation des Körpers ist weit vorgeschritten. Man
kann die Zahl der Segmente am leichtesten erkennen , wenn man die
in abgerundete Kuben eingetheilten Bauchwülste zählt, welche in ihrer
Dutersochnngeii Aber ßan nud Gntwiekelang der Arthropoden. 61
dicken Masse von Embryonal zeUen das Nervensystem und viele Mus-*
kein und andere Bildungen implicite enthalten. Ich zähle, den Kopf
vor dem Vorderdann als ein Segment gerechnet, — 48 Segmente, —
Ilmenau dieselbe Zahl wie bei Asellus« Die letzten W Segmente zeigen
bereits die Segmentation am Rücken und den Seitenwänden des
EmbryonalkdrperSy — die letzten 7 sind ohne Extremitäten mit Aus-
nahme des letzen Segmentes. An diesem finden wir jederseits
ein Paar mächtige Anhänge , deren jeder in zwei lange Aeste gespalten
ist und über die Seitenwandungen des Postabdomens hinweghängt.
Es sind dies die sogenanAten Sbhwanzanhänge, — caudal appen-
dages der englischen- Beschreiber.
Das Postabdomen ist stark nach innen, fast Schneckenhaus-
förmig eingerollt, so dass die Afterdffnung nicht zu erkennen und
überdies völlig von dem Busalgliede der Schwanzanhänge verdeckt ist.
Die Anlage des Hinterdarms ist noch nicht von dem Zellenwulst
differenzirt, der die Rücken wandung des Postabdomen ausmacht.
Wohl aber ist der Dotter bereits im Zurückweichen aus diesem
Körpertheil begriffen, — ein Vorgang, der nicht in völliger Analogie
mit den gleichen Verhältnissen bei Asellus steht. Dort weicht der
Dotter zurück, indem er die bereits ausgebildeten Darmwandungen
frei macht , — hier weicht er zurück und lässt nur einen leeren , —
mit gelblicher Flüssigkeit gefüllten länglich dreieckigen Raum zwischen
der Spitze , Bauch- und Rückenfläche des Postabdomen zurück.
Die Leber hat sich, wie bei Asellus, zu einem Schlauch umge-
wandelt; die histologischen Verhältnisse scheinen völlig die gleichen.
Bemerkenswerth ist, dass schon sehr früh das Auswachsen eines
unteren, kleineren Schlauches stattfindet, — später entsteht auf der
Oberseite ein dritter noch kleinerer.
Zwischen dem Dotter und der Rückenwand, — natürlich auch
dem Zellenapparat des Rückens , — hat sich ein freier Zwischenraum
gebildet, in dem freie Zellen flottiren, —offenbar bestimmt zur Bildung
der Bluträume und Blutkörperchen. Da mich aber die wichtigen
morphologischen VerlUtltnisse der Cumaceen fast ausschliesslich in
Anspruch nahmen , habe ich in histogenelischer Beziehung fast keine
nennenswerthen Aufklärungen gewonnen, kann also auch über die
Bildungsweise der Girculationsorgane keine bei Cuma gewonnenen
Angaben machen.
Der Dotter selbst besteht aus den gewöhnlichen Dotterkugeln,
die bei der vorliegenden Art, — Cuma Goodsiri van Bknedbic , —
gelb gefUrbi sind. (Bei Cuma Ralhkei ist der Dotter rosenroth , bei
Cuma plicata hellgrün, bei allr ' * untersuchten gelb.)
g2 Dr« A. Dohrn,
Die weitere Ausbildang des Cephalolhorax macht uns im
einer höchst bemerkenswerthen Neubildung bdcannt. Unter der nws
nach vorn zu auswachsenden vorderen Spitze entst^t nUmlich ?<'
kleiner Anhang, der dem Unterrand des Gephalothorax paraü
gerichtet ist. Dieser Anhang ist die erste Andeutung des grosso'
Kiemenapparates, der unter dem Gephalothorax sich jetzt eci-
wickelt. Leider entzieht sich diese Entwickelung völlig der Beobadh
tung , es sind nur histologische Vorgänge zu beschreiben , Vielehe es
Licht auf jene werfen. Dieselben bestehen in einer Trennung d?'
Gephalothorax wände und einer gitterartigen Verknöpf ud:
derselben durch die einzelnen auswachsenden Zellen.
Das eben beschriebene Stadium des Gumaerobryo hat im Habiu
durchaus die grösste Verwandtschaft mit den Isopoden-enibryonen.
obschon eine bedeutende Zahl einzelner Abweichungen nachgewiese?
worden sind. Das nächste Stadium dagegen gleicht den Isopoder
gar nicht, — es hat vielmehr das Aussehen eines Decapoden-
embryo's.
Sobald die dritte Haut gleichfalls von dem heranwachsender.
Embryo durchbrochen wird, erfolgt die Streckung des Post-
abdomen. Dasselbe bleibt aber nicht in gestreckter Lage stehen,
sondern schlägt sich langsam unter den Bauch des Embryo. 0ie Ab-
bildung zeigt den Embryo gerade im Begriff, diese Umwandlung vor-
zunehmen (Taf. IL Fig. 4).
In der ganzen ferneren Entwickelung finden sich nun bedeutende
Unterschiede von der Asellusentwickelung. Die Streckung des
Rückens geht Hand in Hand mit der gewöhnlichen Verkürzung und
Verringerung des Zellenmaterials , das den Kopf zusammensetzt. Der-
selbe kehrt sich mehr nach oben^ und zwischen den Kopfplatten und
dem Rücken , an dem vom »Mikropylapparat« fast nichts mehr wahr-
zunehmen ist, bildet sich eine tiefe Furche. Die Segmentation des
Körpers hinter dieser Furche ist nicht eher wahrzunehmen, als bei
dem siebenten Segment hinter der Mundöffnung. Dasselbe ist von dem
vorhergehenden Theil durch eine leichte Furcht getrennt, und man
kann auch in den Seitenwandungen die Trennungslinie bis auf die
halbe Höhe der Wandung verfolgen. Dann tritt der Gephalothorax ein
und verdeckt die weitere Gliederung. Die nachfolgenden zehn Seg-
mente sind deutlich in ihrem ganzen Umfange von einander ge-
schieden.
Der Dotter ist aus dem Postabdomen völlig zuiilckgetreten , das
Darmrohr hat sich bereits entwickelt, Muskelbildungen sind
aufgetreten, das Herz ist gebildet, bewegt sich aber noch nicht, die
Untersnchungen ilber Bau nnd Entwickelanft der Arthropoden. 63
L.eberii wachsen immer weiter aus nnd in den Bauchzellwttlsten
machen sich Dififerenziningen bemerkbar, die zur Ausbildung des
Nervensystems zu führen geeignet sind.
Mit den Gliedmaassen sind grosse Veränderungen vor sich
gegangen.
Die oberen Antennen haben sich nach vom gekehrt und
zeigen eine deutliche Gliederung. Die Nebengeissel auf dem vor-
letzten Gliede ist sehr klein, und zeigt schon jetzt die Tendenz, rudi-
mentär zu werden ^). Die unteren Antennen bleiben nach wie vor
ohne Irgend eine auffallendere Veränderung.
Die Mandibeln haben sich stark verlängert, der hintere Ast ist
dünner geworden und hängt sich hinunter.
Die Maxiiien haben sich sämmtlich ansehnlich vergrtfssert. Das
erste Paar zeigt keine bemerkenswerthe Veränderung, wenigstens
gelang es mir nicht , eine solche wahrzunehmen. Das zweite Paar
ist bemerkenswerth wegen der verschiedenen Ausbildung , welche die
beiden hinteren kuppelfOrmigen Fortsätze erlangt haben. Während der
vordere derselben wie der Hauptast abgerundet ist, sprossen aus
dem hinteren zwei Borsten hervor, eine Tbatsache, die um
so auffallender ist, als noch kein anderer der Mundtheile sich mit
irgend einem Dom oder einer Borste ausgerüstet zeigt. Wir werden
später sehen, dass diese Borsten und der sie tragende Forlsatz auch
zu ganz eigen Ihümlichem Zweck verwendet werden. Das dritte
Maxillenpaar hat äusserlich völlig die Gestalt eines Beines ange-
nommen ; es entspricht aber , wie ich vorher schon erwähnte , nicht
dem inneren, sondern dem äusseren Aste der Übrigen Extremitäten
von Cuma, oder dem Taster desselben Organs bei Asellus. Nur
das Basalglied begreift den inneren Ast der beiden ursprünglich im
Embryo angelegten Aeste in sich und, wenn man will, kann man das
Basalglied auch als den wirklichen Stamm der Maxille
und die übrigen Glieder als den Tastertheil ansehen, —
ja die nach Homologieen suchende strenge Morphologie muss das so-
gar thun. ^
Genau entgegengesetzt ist der Entwickelungsgang *der nächsten
Extremität. Da sie schon jetzt beginnt in ihrer Entwickelung sich als
JMundlheil zu benehmen , so wollen wir sie auch von den Beinen los-
machen und ihr einen neutralen Platz zwischen diesen und den
MaxtUen anweisen. In ihr gelangt ausschliesslich der innere
4) In Cuma Goodsiri erlangt die Nebengeissel tiberbaupt nicht eine solche
Grösse, wie z. B. in den Embryonen von C. Rathkei oder C. plicata, wo sie
beinahe ebenso lang ist, als das letzte Glied der Antennen.
64 ^r« A. Hohrn,
Ast zur Forlbildung, der äussere verschwindet völlig, nachdem er eine
Zeitlang auf der ursprünglichen Grösse und Ausbildung verharrt hat.
In der äusseren Conformation gleicht diese Extremität völlig der vor-
hergehenden und beweist somit die Gleichwerthigkeit der
beiden Aeste, da aus beiden dieselben Gestalten hervorgehen
können. Später machen sich freilich Unterschiede bemerkbar, die-
selben sind aber mehr specieller Natur als genereller.
Die beiden folgenden Extremitätenpaare sind ebenfalls
nach ein und demselben Typus weher gebildet. Ihr innerer Asi
entwickelt sich zu einem langen Bein, dessen Eigenthttmlichkeit aber
in der unverhältnissmässigen Länge des Basalgliedes im Vergleich zu
den folgenden fünf kleineren Gliedern zu finden ist. Diese Ausbildung
und die spätere Lage unter dem Leibe, — sie sind im-«rwachsenon
Thiere ganz horizontal nach vorn gerichtet und bedecken sämminche
vor ihnen liegenden Gliedmaassen von unten her, — unterscheiden sie
wesentlich von den folgenden Beinpaaren. Ihr äusserer Ast ist
wesentlich kürzer, erlangt aber dennoch seine volle Ausgestaltung als
Schwimmanhang. Sein Basalglied ist von nicht ungewöhnlicher
Grösse, aber etwas stärker als man es erwarten dürfte, — sichtlich
aus dem Grunde, um eine reichere Musculatur für das ihm obliegende
Geschäft des Schwimmens aufnehmen zu können. Die folgenden Glie-
der sind sehr ungleich; das nächste ist länger als die andern zusammen
genommen , aber man bemerkt an seiner Spitze schon die Ausbildung
fernerer Glieder , die sich also hier als Abschnürungen mitten in der
Extremität bilden. Zugleich wird man gewahr, dass aus der Spitze
jedes Gliedes vom und hinten je eine Borste hervorspriesst , — be-
stimmt, später eine grosse Länge zu erreichen und als Schwimm-
borste zu dienen.
Die drei letzten Extremitätenpaare könnte ich nun dreist
Beine nennen, wenn nicht auch hier wieder Verschiedenheiten ent-
ständen, die zu Missverständnissen und Unklarheiten Anlass gehen
könnten. Jedenfalls haben sie aber in dem vorliegenden Stadium das
gemein, dass ihr innerer Ast zu einem Bein^von ähnlicher Gestall
wie das erst^ Beinpaar entwickelt ist, dessen spätere functionelle Um-
wandlung mich bewog , es zwischen Mundtheile und Bewegungswerk-
zeuge zu stellen. Die Gliederung dieser inneren Aeste der drei letzten
Extremitätenpaare ist noch nicht völlig ausgebildet, doch erkennt man
an ihnen schon ziemlich gut, dass das vorderste Paar um ein Glied
zurückbleibt , — eine Thatsache , die vielleicht in Zusammenhang mit
seiner späteren Annäherung an die Bildung und Function der beiden
vorhergehenden Gliedmaassenpaare steht. Die äusseren Aeslc er-
üiitersncbnngen über Baa an4 Cntwiekeloag der Arthropoden. 65
leiden aber das Geschick , theils vOUig zu verschwinden, — wie an
dem letzten Beinpaare , an dem auch keine Spur derselben mehr nach-
zuweisen ist, — theils zu liliputanischen Dimensionen zusammenzu-
schrumpfen und in dieser winzigen Gestalt ein völlig nutzloses Dasein
an der Aussenseite des zweiten , grössten Segmentes der inneren Aeste
zu fuhren. (Ich muss aber sofort hinzusetzen , dass dies Zusammen-
schrumpfen nicht die ausnahmslose Regel bei allen Cumaarten ist;
bei Guma Rathkei z. B. bildet sich der äussere Ast des vordersten
dieser drei letzten Extremtt&tenpaare zu einem d)enso grossen
Schwimmanhang aus , wie bei den beiden vorhergebenden Extremi-
täten; dasselbe ist der Fall bei zwei Arten, die ich noch nicht be-,
nennen konnte, da sie wahrscheinlich unbeschrieben sind. Bei den-
selben Arten ist auch der äussere Ast des letzten Extremitätenpaares
nicht völlig verschwunden, sondern in rudimentärer Gestalt durch das
ganze Leben erhalten.)
Es bleibt mir noch die Schilderung der Oberlippe, der Unterlippe
und der Schwanzanhänge in diesem Stadium des Embryo übrig.
Die Oberlippe und die Unterlippe verlängern sich, werden
aber zugleich in dem Dickendurchmesser kleiner. Die Oberlippe
krttmmt sich nach oben , die Unterlippe nach unten.
Die Schwanzanhänge verändern ihre Richtung mit dem sich
abwärts wendenden Postabdonien , und stehen nach hinten ab von
dem letzten Postabdominalsegroent.
Das seitliche Cephalothoraxschild bat sich nach unten
und vom verlängert, es ragt mit seiner vorderen Spitze über die
Mundspalte hinweg und sein unterer Rand bedeckt beinahe die Spitzen
der Mundtheile. Der kleine Anhang, den ich im vorigen Stadium
als erste Andeutung der Kieme beschrieb , hat sich vOUig abgelöst von
dem Schilde und ist zur äussersten Spitze |des langen Ganais
geworden , der sich an die mittlerweile unter dem Schilde entstandene
nRiemec anschliesst und als Egestionscanal des Wasserstromes dient,
der durch die Bewegung der spater zu beschreibenden Kieme unter
dem Schilde erregt Vird. Dieser Canal oder Kiemenstiel hängt in
diesem Stadium aus dem Rande des Gephalothoraxscbildes hervor,
völlig den Sdiein erweckend, als hätten wir es mit einem Gliedmaassen-
paare zu thun. Seine Insertion oder Verknüpfung mit der sogenannten
Kieme oder mit dem Cephalothoraxschild ist nicht zu erkennen, —
wie denn überhaupt die Bildung der Kieme sich gänzlich der Beobach-
tung entzieht.
Von grosser Bedeutung ist femer, da^'^ Stadium die
Verschmelzung der Augen stattfindr rossen Ver-
I. v. 1.
gg Ür. A. Dohrn,
kttrzung und Verschiebung, welche die einseinen Theile des Kopfes
erfahren, nach vom zusammengeschoben werden und durch Ihre Ver-
wachsung das eine Äuge hersielleh , . über das schon so viel gesiritten
ist. Von mehreren Seiten ist nämlich behauptet , das Auge sei gestielt,
während Andere gerade in dem Mangel des Augenstieles den grossen
Unterschied zwischen Guma und den Podophthalmen sehen
wollen. Sonderbarerweise haben beide Parteien Recht, — wie bereiu
vor mir Hbnht Goodsir es aussprach »the eyes are pedunculated bm
sessile.a In der That ist das Auge getragen von einem kleinen abwärts
gebogenen Stiel, der besonders deutlich bei den Embryonen von Cnma
Rathkei von mir wahrgenommen wurde. Später iimgiebt aber das
Kopfschild das Auge und schliesst es valiig bis zu einem Grade ein,
der sogar manche Autoren bewog, den Mangel der Augen alsCharacte-
risticum der Cumaceen anzusehen. Da aber meine UntersuchuBgea
über die Bildung und Umbildung der Augen noch zu keinem Abscbluss
gekommen sind, so übergehe ich fernerhin diese Organe in meiner
Darstellung.
Das folgende Stadium des Embryo (Taf. H. Fig. 5) hat vollständig
den Habitus eines Decapoden. Das Postabdomen ist vttllig unter
den Vorderleib geschlagen, die Schwanzanhänge sind in derselben
Richtung lang ausgestreckt, Kopf und Vorderleib ist bis zu dem
achten Segment von dem Gephalothoraxschild bedeckt, die
Gl ie dm aa SS en zeigen alle deutliche Gliederung, an mehreren der-
selben sind Zahn- und Haarbildungen zu erkennen , die beiden Aeste
der Schwanzanhänge haben sich ebenfalls gegliedert; der Ge-
phalothorax zeigt eine Bildung, die durchaus an Decapoden er-
innert; seine seitlichen Stücke haben sich höher gerichtet, ihre vordere
Spitze ist in einer Hdhe mit der Insertion der oberen Antennen , der
untere Rand dieser Stücke ist gerundeter. Die Kieme ist der ver-
änderten Lage dieser Theile gefolgt und ihr langer Stiel ist horizontal
nach vom gerichtet.
Die Ausbildung der inneren Organe ist gleicherweise vorge-
schritten. Die Darmwandungen sind jetzt tleutlich zu erkennen
von der Mundöffnung bis zur Afterspalte. Mitten im Gephalothorax in
seinem oberen Theile bemerkt man den letzten Ueberrest des Dotters,
umgeben von den Darmwandungen. Auf letzteren erkennt man deut-
lich die kleinen cubischen Zellen , deren Umwadisen des Darmrohres
die Ringmusculatur hervorbringt , ein Vorgang , der absolut identisch
bei As e Uns erfolgt (vergl. 1. c. p. 269). Der Zerfall der Bauch-
wttlste ist fernerhin bemerkenswerth ; es bilden sich Muskelstränge
und Ganglien aus; um den Darm entstehen Hohlräume für die-Be*
üiitersnchmigen Aber Bau nnd Eutwiekelung der Arthropoden. 67
wegUDg des Blutes und in dem 7. und 8. Segment liegt das Herz,
dessen Pulsationen das Blut, in dem man aber noch keine Blutkörper-
chen unterscheiden kann , umhertreibt. Auch Blutgefässe sind zu
erkennen; eine Aorta, die über dem Darm sich zu den Zell Wülsten
des Kopfes, — der späteren Gebirnganglien begiebt und sich dort theilt.
Una das Hers herum bildet sich ein deutlicher Pericardialsinus;
umgeben wird derselbe von einer grossen Zahl kugeliger Fettzellen, —
die vielleicht ein ähnliches Gewebe herstellen , wie wir es um das Herz
eines Palaemonerobryo vortrefflich erkennen können.
Da es nicht meine Absicht ist, an dieser Stelle eine genaue, in
das histogenetisdie Detail eingehende Entwickelungsgeschichte der
Cumaceenzu geben , sondern nur die morphologischen Beziehungen
dieser Tbierchen zu den anderen Grustaoeen ins rechte Licht zu setzen,
so kann ich mit der Bemerkung meine Auseinandersetzung der Embryo-
logie schliessen, dass das nächste wichtigere Veränderungen auf-
weisende Stadium bereits völlig den erwachsenen Thieren gleicht
(Taf. H. Fig. 6) ; und dass die Unterschiede, die es als unausgewachsenes
Junge nothwendig von dem Erwachsenen scheidet, solcher Art sind,
wie sie bei den meisten Grustaceen bestehen , — somit also am besten
der anatomischen Beschreibung eines ausgewachsenen Thieres beigefügt
werden.
Die Angaben, die ich über die Anatomie zu machen habe, wurden
theils an Cuma trispinosa theils an Cuma Goodsiri gewonnen;
auch in ihrer Darstellung werde ich mich grOsstentheils nur an das
morphologisohe Element halten.
Die Körpergestalt des erwachsenen Thieres gleicht durchaus mehr
den Decapoden als irgend einer anderen Glasse der Grustaceen, und
so wurden sie in der systematischen Eintheilung auch immer zu diesen
gerechnet.
Der Erste, den wir als Beschreiber einer G um a finden, ist La-
TBBaLB. Er beschreibt sie unter dem Namen Gondylurus D'Or-
bigny i. Muni-Edwaids, der in seiner »Histoire naturelle des Grustaoes«
Tom.lU. p. 554 diese Beschreibung reproducirt, macht mit Recht darauf
aufmerksam, dass der Name Gondylurus bereits bei den Mammalien
angewandt ist und somit der von ihm selbst gegebene und allgemein
angenommene G u m a das Vorrecht hat. Latrbillb's Beschreibung lässt
mit Sicherheit erkennen, dass er eine Guma vor sich hatte, — welcher
Art aber jetzt der Nar^*' -i'rk-Kx-^vi mit Recht zugesprochen werden
muss , lässt $ich wo) eilen , als bis die Küste von L a
Rochelle nach G htist.
Ham EnwAur eigenüiche Begründer der Fa-
5*
68 Dr. A. Dohni«
milie anzusehen ist, missverstand aber die Natur derselben. Die Epoche
der Zoologie , in der sein grosses Werk entstand , nahm nar geringe
Notiz von denOrganisations-undLebenseigenthUmlichkeilen derThiere,
und , wennschon in Deutschland die Embryologie ihr reformatorisches
Werk begann, so konnte diese neue Bahn doch nicht so schnell und
allseitig beschritten werden , tim der Zoologie durch und dorc^ eine
neue Gestalt zu geben. So ist es also leicht erklärlich, dass der be-
rühmte Monograph mit den Worten »et je soupfonne m^me qne cel
animal n'est autre chose que quelque Larve de Grustac^ D^capodea,
das Interesse , das man vielleicht an der Aufhellung der Organisation
hätte nehmen können , beseitigte , denn Larven waren eben nicht sehr
angesehen unter den damaligen Forschern.
Nach wenigen Jahren veröflentlichte aber Heitrt Goodsir im »Edin-
burgh New Philosophical Journal« einen Aufsatz über dieselbe FamiHe,
in welchem er vor allen Dingen feststellte, dass sie keine Larven seien,
sondern wahrscheinlich »niedere« Decapoden. Er stellte neben Guma
noch Bodotria und Alauna als neue Gattungen auf und gab von
Guma Edwardsi eine ziemlich ausführliche Beschreibung.
Zu gleicher Zeit hatte KrOtbr in »Naturhistorisk Tidskrift« HL p.
503. tab. y. und VI. mit seiner ausgezeichneten Scharfe und Genauig-
keit vier neue Arten Guma beschrieben. In demselben Aufsatze ver-
sprach er, demnächst die Ehtwickelungsgeschichte der Gattung zu
veröffentlichen.
Danach ruhte die Theilnahme an den merkwürdigen , kleinen Ge-
schöpfen und, -^ wie van Brnbdbn in seiner historischen Uebersicht
(Recherches sur les Crustac6s du Littoral de Belgique , dans M6moires
de FAcad. roy. de Belgique tom. XXXIII. p. 25) mit Beoht bemerkt,
»il semblerait que la question des Guma düt ^tre tranch6e apr^s cela.«
Allein wunderbarer Weise behauptet Agassiz, selbst nach Krötbr's
entscheidenden Arbeiten, dass Guma die Jugendform einer Hippolyto
oder eines Palaemon sei, Dana folgt ihm darin, Milnb-Edwards des-
gleichen. Spbngb-Batb, Lilljbborg und van Bbnbdbn widersprechen,
— aber leider beschrdnken sich die Erstgenannten in ihren Arbeiten
nur auf das systematische Feld und Letzterer giebt in seinem schon
citirten Aufsatz zwar anatomische Details , aber zum Theil unrichtige,
so dass durch sie die Verwirrung nicht gehoben wurde.
Es ist nicht zu verwundern , dass bei diesem Stande der Dinge
die zoologischen Handbücher mit Guma nichts anzufangen wussten;
so finden wir sie also gar nicht erwähnt in Troscrbl^s Handbuch der
Zoologie, GbrstXgkbr giebt zum Theil richtige, zum Theil schwankende
und unrichtige Notizen, und Glaus bemerkt nur, dass die Cumaceen
UiitersocliuDgen fiber Bau und Entwiekcluug der Artliropodcii. 69
eine vermitlelnde Stellung zwischen Gopepoden und Garneelen
einnebmen, was indess von der Wahrheit ziemlich weit entfernt ist.
Nur Fritz Müllbr sprach in der immer wieder anzuführenden
Schrift »Für DARwm« p. 54, 55 einige Worte ttber die Gumaceen,
welche auf ein richtige» Yerständniss derselben, — soweit es ohne
genaue Kennlniss der Embryologie möglich war, — hindeuteten.
Welche Stellung die Gumaceen aber in unserem System, —
das in meinen Augen mit dem Stammbaum der Thiere identisch ist,
oder sein soUte, — einnehmen müssen, wird klar werden, wenn ich
zu den bisherigen Angaben der Entwickelung noch einige anatomische
Details hinzufüge«
Vor allen Dingen habe ich zu bemerken, dass die Meinung sämmt-
licher IrQheren Autoren über die Scheidung von Männchen und Weib-
chen innerhalb der kleinen Familie irrthümlich ist. Der verzeihliche
Irrthum Goonsn^s, der das Männchen einer G u m a unter dem Gattungs*
namen Bodo tria beschrieb, scheint die Erkenntniss der wirklichen
Geschlechtsunterschiede erschwert zu haben. Der günstige Umstand,
dass ich in Millport eine der best gekannten Grustaceenfaunen traf,
und in meinem verehrten Freunde Robertson einen ganz besonders
eifrigen und unterrichteten Grustaceologen zur Hilfe gewann, ermöglicht
es mir mit grösster Bestimmtheit zu erklären, dass sämmtlicbe, unter
dem Namen Bodo tria beschriebenen Gumaceen nichts als die
Männchen der Gattung G u m a sind, die, in mehrere Gattungen zu zer-
spalten, ich, vorläufig wenigstens, gar keinen Grund sehe.
Der Charakter, auf welchen Goonsn die Gattung Bodotria grün-
dete, ist einzig und allein die Anwesenheit von gespaltenen Schwimm-
fttssen an den Segmenten des Postabdomen. Das Vorhandensein von
Schwimmanhängen an den drei Paaren der vorderen Beine bewog ihn,
die Species rostrata von Guma abzutrennen und daraus die Gattung
AI au na zu bilden. Aehnliche Charaktere benutzt Spbugs Batb und
die übrigen Beschreiber bei der Aufstellung der neuen Gattungen.
Es ist aber nadi meinen Erfahrungen und Untersuchungen eine
Thatsache , dass die beiden Geschlechter bei G u m a sich durch nichts
leichter unterscheiden lassen , als durch die langen unteren Antennen
der Männchen, durch den Mangel der Schwimmfüsse an dem Post-
abdomen der Weibchen und die immer bedeutendere Zahl von Abdo-
roinalfüssen mit Schwimmanhängen bei den Männchen.
Wenn somit diese Charaktere nicht einmal in Männchen und
Weibchen die gleichen sind, so ^' wiss nicht zur Aufstellung
von Gattungen verwandt werr'
Es ist wesentlich das ^ i Cephalothoraxschildes
70 Dr- A* Dobn»,
und des lang ausgezogenen Postabdomens , das die Meinung erweckt
bat, dieCumaceen seien den Decapoden am nächsten verwandt.
Allein bei den Decapoden bedeckt das Rttckenschild sämmtliche
Segmente bis zum Beginn des Postabdomens , bei Guma ersiredLt es
sich nur bis zum siebenten Segment und lässt fttnf Segmente vor dem
Beginn des Postabdomens völlig frei. Die Sch-vianzanhänge zeigen
ferner eine weit grössere Uebereinstimmung mit den gabelförmigen
Anhängen der Isopoden und Amphipoden, als mit irgend einer
Gestaltung dei* homologen Theile im Bereich der Decapoden.
Die Bildung der inneren Organe deutet aber mit grösster Be-
stimmtheit auf die nächste Verwandtschaft mit den Edriophthalnien
hin. So ist vor allem die Bildung der Lebern verschieden von denen
der Podophthalmen , und ahmt die Schlauchform der Isopoden und
Amphipoden nach. So zeigt das Herz keinerlei Balkenbildung, son-
dern besteht aus einem muscultfsen Sack mit einem Spaitenpaar. Und
so ist vor Allem die Bildung einer Bruttasche an den Beinen des
Abdomens durdiaus abweichend von der Organisation der Decapoden
und hat ausser den Edriophtbalmen nur in Mysis und Lophogastcr
ein Homologen.
Ich habe bereits in der Darstellung der Entwickelung von der
Kieme gesprochen, nicht von den Kiemen, denn Guma besitzt jeder—
seits nur eine Kieme oder vielmehr eine sogenannte Kieme. Es ist
ausserordentlich schwer, die Structur derselben zu erkennen, denn
während des Lebens ist sie in fast beständiger Bewegung, und ausser-
dem lässt die Undurchsichtigkeit des Gephalothoraxschildes kaum die
äusseren Umrisse des ganzen Organs erkennen. Bei der Präparation
wird aber der Zusammenhang , in dem das Gebilde mit der Körper-
wand und der inneren Wandung des Gephalothoraxschildes steht, zer-
rissen und dadurch gerade die Möglichkeit abgeschnitten, völlig klar
ttber diesen Zusammenhang zu werden. Ja, was sehr zu bedauern ist,
— ich habe nicht bis zur Evidenz constatiren können , ob innerhalb
der sogenannten Kieme und ihrer zwanzig oder mehr Blätter auch in
der That kein Gasaustausch des Blutes bewirkt wird , und ob das
Ganze blos ein mächtiger Apparat zur Erneuerung und Bewegung des
Wassers unterhalb des Gephalothoraxschildes ist.
Die Gestalt der Kieme (Taf. III. Fig. H) gleicht einem langen
schmalen Kahn , dessen vorderes Ende weit nach vom ausgezogen und
allmählich in die Höhe gebogen ist. Das hintere Ende ist weniger lang
ausgezogen, aber stärker in 'die Höhe gekrümmt. Die Wände des
kahnfbrmigen Gebildes sind völlig durchsichtig und steil in die Höhe
gebogen. Die Aussen wand , welche dem Cephalothoraxschild zunächst
Cnlersuchuiigeii Ober Bau niid F^ntwiekeluiig der Aitliropoden. 7 1
liegt, trägt eine Anzahl einzelner , ovaler Blätter (bei Cuma trispi-
nosa 22 — 24) , welche schräg gestdlt sind und einander dachziegel-
formig decken. Die Structur dieser Blätter lässt es möglich erscheinen,
dass in ihnen in der That eine Gireulation des Blutes stalt6ndet, denn
ich glaube an ihnen dasselbe Auswachsen der Zellen beider Wände
bemerken zu können, was den Riemen der Amphipoden und iso-
poden die zu ihrer Function nothwendige Bildung verleibt. Den
juugen Thieren fehlt übrigens die Ausbildung dieser grossen Zahl von
Kiemeoblättern; bei den Jungen derC. trispinosa undG. Goodsiri
erkannte ich nur drei kurze abgerundete Lappen an der Stelle, wo
später die Blätter 4»eginnen.
Die Befestigung der Kieme an der Leibeswandung scheint
durch einen kürzeren Strang bewirkt zu werden , welcher aus einer
runden Oeffnung der Leibeswand oberhalb des vorderen Paares der
beiden grossen Extremitäten hervortritt und sich an einen ringartigen
Wulst der Kieme begiebt, den man durch das Gephalothoraxschild
hindurch erkennen kann. Dieser Strang gleitet bei den Bewegungen
der Kieme hin und her, aber sein unteres Ende bleibt in der Leibes-
Öffnung fixirt. Ich wage nicht zu entscheiden , ob eine doppelt con-
lourirte Rühre , die ich im oberen Theile dieses Stranges zu bemerken
glaubte, ein Blu^efttss darstellt, ja, ich bin sogar unsicher darüber,
ob ich in der That jene doppelten Contouren auf eine Röhre zurück-
führen darL Ich glaubte freilich , beobachtet und erkannt zu haben,
dass an dem Strange vorbei , innerhalb der Leibeswand , ein breites
Blutgefäss verliefe, weiches einen kleineren Ast in den Strang abgäbe.
Ebenso glaubte ich auch in dem oberen Gefässe ein unteres in dem
Strange unterscheiden zu können, das gleichfalls durch die runde
Leibesöffnung austrete, — ich würde aber der Glaubwürdigkeit der
übrigen von mir gemachten Angaben schaden , wenn ich diese Notizen
für gleich gesichert mit den übrigen hielte; Vielleicht gelingt es bei
wiederholten Versuchen , klarer über diese wichtigen Puncte zu wer«^
den, oder aber geschicktere Hände und schärfere Augen vollenden,
was mir bisher unmöglich gewesen ist.
Ausser dieser Befestigung findet sich aber noch eine andere , sehr
wesentliche. Mittelst mehrerer Chitinleisten ist der Apparat nämlich
an das dritte Maxillenpaar, — oder wenn man des ersten Embryonal-
stadiums gedenkt, — an das erste Beinpaar befestigt. Durch die Be-
wegungen dieser Extremität wird der ganze Apparat in Bewegung
gesetzt und schläfl^^» '*«*>* ^Ctemenhöhle auf und ab, was man ganz
deutlich schon nn erkennen kann. Die Kiemenblätter
scheinen nun >ben, bei dem Sichemporrichten des
72 ^f' A. Dohru,
Apparates das Wasser vorwärts zu bewegen, so dass es von hmten io
die Cephalothoraxspalte unter das Schild eintritt; bei dem Niedergang
der Kieme legen sich die schräg gestellten Blätter dann mit d^i breiten
Flachen dicht an einander , so dass sie dem Wasser keinen Widerstand
bieten und den von hinten nach vorn gebenden Strom nicht uoter-
brechen.
Diesen Bewegungen des hinteren grösseren Stfkckes des ganzen
Organes und seiner einzelnen Blätter, — die ich nun einmal nicbl
besser bezeidinen kann , als durd^ den Namen der Kiemenbläiter, —
entspricht vom an dem äossersten Ende des langen Schnabel», —
wenn ich das Bild eines Kahnes oder Schiffes beibeiialte, — das Auf-
und Zuklappen eines kleinen gerundeten GhitinstOck-
chens (Taf. III. Fig. 4 5], das gerade unter der vordersten Spitze der
seitlichen Verlängerungen oder Vorragungen des Cephalothoraxschildes
gelegen ist. Um es zum Zweck des vollständigen Yerschltessens der
Ausgangsöffnung noch besser auszurüsten , bat sidi von dem inneren
Rande des lanzettförmigen Stückchens eine — anscheinend — strac-
turlose Membran gebildet , welche die Wölbung jenes Stückchens fort-
setzt und zu gleicher Zeit nach vom vorragt. Etwas verdickte Ränder
und oben und unten je ein verdickter, das Licht stark brechender, wie
ein spitzer Dorn aussehender Pfeiler in dieser Membran geben der-
selben mehr Halt, so dass sie sich vollkommen aasstreckt und die
Rinne des Kiemenschnabels fortsetzt, wenn die Bewegung des hinleren
Theils das Wasser nach vorn hinaustreibt, — sidi aber in dichte Falten
zusammenschlägt und vollständig unter die Spitzen des Cepbalothorax-
Schildes zurückkehrt, wenn der hintere Theil wieder niedergeht und
in Folge dessen das kleine lanzettförmige Stückchen vorn am Kiemen-
schnabel sich eng vor die Ausgangsöffnung legt «und einen festen und
dichten Verschluss derselben bildet.
In diesem kleinen Yerschlussstückchen erkennen wir einen alten
Bekannten, — den bereits erwähnten kleinen Anhang des Gephalo-
thorax im zweiten Stadium des Embryo.
Ausser dem bisher beschriebenen , complicirten Apparat birgt die
Höhle unter dem Gephalothoraxschilde aber noch einen beweglichen
Anhang des zweiten Maxillenpaares (Taf. III. Fig. 7 o).
Wenn wir uns an die Entwickelung dieses Extremitätenpaares erin-
nern und seine erste Anlage mit der ausgebildeten Gestalt in dem
erwachsenen Thiere vergleichen, muss es uns auffallen, dass, während
dort drei abgerundete Kuppeln existiren, hier nur zwei mit Zähnen
bewafihete Platten an dem Geschäft des Kauens sich betheiligen. In
der That hat mich die Schwierigkeit , die richtige Lösung hierfür zu
HiitersucboDgeD Aber Ban uud Entwickeloog der ArthrO|Mkleu. 73
Gnden, lange Zeit von dem Versiändniss der Extremitäten und ihrer
lilniwickelung zurückgehalten. Da bemerkte ich aber in dem dritten
Stadinm des Embryo an der unteren Kuppel des in Rede stehenden
MaxiUenpaares das Auswachsen zweier haarartiger Fortsätze zugleich
mit einer grosseren Schmächtigkeit des sie tragenden Astes der Extre-
Diitüt , — und ich wusste nun , wie die Schwierigkeit zu lösen war.
In derThat befindet sich ein langer, schmaler Anhang als Verlängerung,
wie ich anfimgüch annahm , des oberen Astes der zweiten Maxille an
der Wurzd dieser Extremität. An seiner Spitze trägt dieser Anhang
ein Iflngei'es und ein ktlrzeres Haar, die beide mit kleineren Härchen
besetzt sind. Merkwürdigerweise sind diese kleineren Härchen auf
der basalen Etttfte der beiden Haare nach unten , auf der andern Hälfte
nach oben gerichtet. Dieser Anhang ist nun jener dritte Ast des
Eodyryo, aus dem die beiden haarartigen Fortsätze auswachsen; er
ist somit nicht eine Verlängerung des oberen Astes , wie ich anfänglich
glaubte, sondern den beiden andern Aesten morphologisch gleich-
werthig und wie sie frei an dem gemeinschaftlichen Basalstück durch
einen eigenen Muskel beweglich. Die Function dieses Anhangs ist
aber, wie mir scheint, die Reinigung , und wenn ich so sagen darf, die
Oberaufsicht über den complicirten grossen Kiemenapparat , denn ich
sah ihn niemals in rhythmischer Bewegung wie diesen, sondern nur
bin und wieder damit beschäftigt, mittelst der beiden Haare die
Kiemenplatten förmlich zu fegen und sie, sobald sie in Unordnung ge-
riethen, was oft vorkommt, wieder in die richtige Lage zu bringen.
Er war fast immer in Thätigkeit, wenn der grosse Apparat ruhte ; man
konnte deutlich erkennen , wie der dünne Anhang sich dann in der
Mitte völlig zurückbog, wie ein Fischbein, und mittelst der beiden
Haare die Kiemenblätter reinigte , bei welchem Geschäft sicherlich die
zwiefache Richtung der kleinen Härchen von Nutzen und Bedeu-
tung ist.
Wie dieser Apparat zur Bewegung und Erneuerung des Wassers
nun zu einer hohen Stufe der Vollkommenheit gelangt ist, so entspricht
ihm nicht minder die Einrichtung, welche bestimmt ist, das Blut in
Contact mit dem so immer erneuerten Wasser zu bringen. Das Ver-
ständniss des Blutlaufs ward mir erst möglich, als ich es an einem
trächtigen Weibchen versuchte, durch die stark ausgedehnten KOrper-
wandungen bindurchzusehen.
Au9 dem Herzen geht jederseits eine breite Arterie rechtwinkelig
nach den Seiten des Körpers ab (Taf . II. Fig. 7) . Nach kurzem Lauf
giebt dieser Stamm einen nach *en grossen Ast ab,
dessen Lauf ich nicht weiter a^ ^chsten beiden Seg-
74 t^r» A. Dobrn,
niente verfolgte. Dann geht der Stamm in gerader Richtung weiter
nach der Bauchseite zu. Hier, oberhalb der Insertion derOliedmaassen
tbeilt er sich von Neuem , — der eine Ast geht nach unten und hinten,
— der andere grössere nach vorn an den Rand des Gephalothorax^
Schildes. Dicht vor diesem Rande erfolgt wieder eine Rifurcation dieses
grösseren Astes. Der obere Ast setzt den Lauf des Stammes fort, der
untere grössere geht nach unten , folgt der Krümmung des Cephalo-
thoraxschildes und spaltet sich in eine Anzahl grösserer und kleinerer
Zweige, welche sich durch den Cephalothoraischild in Anastomosen
und vielfach geschiängeltem Lauf hindurchwinden und, — darin öffnen.
Dasselbe thut der obere Ast in noch reicherem Maasse. Ich konnte
sogar deutlich schmale Gefässe erkennen , welche von fbm aus bis auf
die Rttckenhöhe sich zogen und dort den Blulstrom frei in die Hohl-
räume des Cephalothoraxschildes ergossen.
Aus dem Herzen geht nach vorn zu die Aorta ab. Sie theilt sich
über dem Magen und bildet mehrere Ringe um einzelne Theile des
Gehirns , sendet Ströme , — ob wandungslos , konnte ich nicht genau
feststellen , — in die Antennen , und mündet mit ihrem grossen Blut-
strom von der anderen Seite und durch eine gleiche Zahl enger Blut-
räume , — deren Wandungen ich nicht erkennen konnte , und somit
auch nicht behaupten kann, dass überhaupt welche vorhanden waren,
— in das Gephalothoraxschild.
Dies bildet sonach den Sammelpunct des sauerstofflosen Blutes.
Seine Structur befähigt es aber in ganz vorzüglicher Weise, für die
Erneuerung des Sauerstoffs zu sorgen. Zwei dünne Wände , verbun-
den durch zahlreiche Querbaiken , — die erhärteten Fortsätze ausge-
wachsener Zellen , — und ein grosser, breiter Ganal am Aussenrande,
der oben an der Einfügung des ganzen Sdiildes mit runder Oeffnung
direct in den Pericardialsinus mündet, — beweisen uns, dass die
cellulare Structur der Kiemen bei den Crustaceen überall dieselbe ist
und dass nur Ort und Befestigung derselben wandelbar sind.
Und so sehen wir das Blut durch einen reichen GefUssapparat
vom Herzen durch den Körper in die gegitterten Schilde befördert.
Schon in den letzten engen , an die Gapillaren der Vertebraten erin-
nernden Gefässe wird der Lauf des Blutes verlangsamt, noch mehr
aber durch die gegitterte Structur der Kieme; dadurch werden die
Blutkörperchen befähigt, den Gasaustausch zu vollenden. Das Pump-
werk des Herzens steht aber nicht still; rastlos saugt es dieselbe
Flüssigkeit wieder ein, die es vor wenigen Augenblicken erst ausstiess
und so bringt es einen neuen Strom hervor, welcher die absterbende
Bewegung des Blutes wieder belebt und die Blutkörperchen alle in deu
Uulersocltuiigeu ßber Bau und Eiitwieloilaiig der Arthropoden. 75
grossen Randcanal des Gephalothorauefaildes lockt; dann fassl sie der
nun ohne Hmdernisse fliessende Sirom und führt sie, neu gestärkt zu
der immer gleidien und immer weohselnden Thfttigkeit zurück. —
B^ den Männchen der Cumaceen finden sich, sobald sie aus-
gewachsen sind, sehr häufig gespaltene Schwimmfüsse an jedem Seg-
ment. Die Gattung Bodotria wurde auf diesen Charakter gegründet.
Die B^iwiekelung dieser Extremitäten erfolgt erst, wenn das Thier
lange Zeit (vielleicht Wochen oder Monate?) aus dem Brutsack der
Mutter ausgeschlüpft ist und steht möglicherweise in Zusammenhang
uiit der Geschlechtsreife^ Ich beobachtete öfter junge Männchen ton
G uma Goodsiri , die noch keine Spur von Anhängen. ausserhalb der
Segmentwandungen erkennen Hessen , wohl aber ganz deutUch ihre
Anlage innerhalb derselben. Die Unterseite der Segmente solcher un-
erwachsenen Männchen war dann sehr stark gewölbt und liess im
Innern bereits die Formation des neuen Segments erkennen, das nicht
so gewölbt, im Gegentheil in der Mitte concav war. Zwischen dieser
Concavität des inneren neuen Segments und dem gewölbten Theil des
alten Hegen dann die bereits gespaltenen Extremitäten (siehe Taf. III.
Fig. 17). Bei der nächsten Häutung werden diese neu angelegten
Thelle frei und man erkennt deutlich , da'ss die so gewonnenen Extre-
mitäten der Locomotion dienen. Sie haben aber noch nicht die volle
Ausbildung zu diesem Geschäft erreicht, denn noch ist keine Spur von
Schwinimhaaren an ihnen zu erkennen. Bei einer der nächsten Häu-
tungen, — welche ausserordentlich oft erfolgen, — ist es aber schon
mögHch, die Anlage der Schwimmhaare unter der alten Cuticula zu
entdecken. Wird diese dann abgestreift, so haben wir das vollständig
ausgebildete Cumamännchen vor uns. Die Unbekanntschaft mit
diesem Entwickelungsmodus hat manche Zoologen veranlasst, die mit
Schwimmliaaren versehenen Cumamännchen als Bodotriamännchen
anzusehen und den vorhergehenden Entwickelungszusland , der diese
Theile noch entbehrte, als die Bodotria weibchen zu betrachten und
hat sie dadurch gehindert, die wahren Beziehungen von Bodotria
und C uma zu erkennen. Bestärkt wurden sie noch in diesem Irrthum
durch die grosse Verschiedenheit der Antennenentwickelung bei Männ-
chen und Weibchen^ von Cuma. Wahrend letztere nur ein ganz rudi-
mentäres unteres Antennenpaar erkennen lassen , das bei oberfläch-
licher Untersuchung überhaupt kaum wahrzunehmen ist, entwickelt
sich dieselbe Extremität bei den Männchen zu ausserordentlicher
Lunge, die manchmal (z. B. Cuma anomala mihi i. 1.), sogar die
Llnge des Körpers übertrifilt. Da aber diese Entwickelung ebenso
stufenweise erfolgt , wie die Entwickelung der Extremitäten des Post-
76 Dr. A. Dobm,
abdomen , so hielt man das Stadium , welches den schwiminhaarlosrr
Gliedmaassen des Postabdomen entspricht, ebenfalls für die ^^eiblicb
Ausbildung der Antennen, in diesem Stadium sind die Antenn'>£
kürzer und breiter als später, und die charakteristische Behaarung:
wahrscheinlich im Zusammenhang mit nervösen Bildungen , — febu
gänzlich und wird erst im letzten Stadium entwickelt.
Sämmtliche Gumaceen leben auf dem Gmnde des Meeres, d»
meisten nahe am Strande , eine nicht unbedeutende Zahl aber auch \t
grösseren Tiefen. Am Tage liegen sie bewegungslos wenige Linier
tief im Sande oder im Slick (holsteinischer Ausdruck fttr ein Compi^
situm aus Morast , Seepflanzen , Muschelschalen und kleinen Sleinen.
— der englische Ausdruck ist Mudd). Höchst auffallend ist die merk-
würdige Abgrenzung der einzelnen Arten in ihren Aufenthaltsorten.
Mr. Robertson beobachtete das folgende Factum bereits jahrelang , und
ich hatte ausreichende Gelegenheit , mich von der völligen Richtigkeit
seiner mir erst sehr problematisch erscheinenden Angaben zu über-
zeugen.
An dem inneren Strande der kleinen Ramesbai, welche einen
Halbkreis aus dem südlichen Theil von Great Gambrae berau^»-
schneidet, tritt die See bei der Fluth auf ungeföhr 150 Schritt Ent-
fernung von dem Hause meines Freundes hinauf auf den sandigen
Strand. Bei niedriger Ebbe legt sie dann einen Raum von vieliciciii
200 Schritten bloss, — gleichfalls sehr feinen Sand, auf dem nur wenip
grössere Steine sich finden. Die ersten 100 Schritte dieses Räume»
werden bewohnt von Guma Goodsiri, die binnen einer Viertel-
stunde zu Dutzenden gefangen werden können ^) . Dann folgte auf der
nächsten Zone, deren Breite gleichfalls nicht bedeutender ist, in ebenso
zahlreicher Menge Guma anomala mihi i. 1. Darauf in weiter Aus-
4) Die Fangmethode, welche Mr. Robertson anwendet, ist ebenso einfach wie
sinnreich. Er nimmt eine gewöhnliche weisse Untertasse , sucht hinter einem der
Steine oder mitten auf dem freien Sande irgend eine kleine Vertiefung , in der nocii
etwas Seewasser stehen geblieben ist, und schöpft mittelst der Untertasse eine
geringe Quantität, — etwa so viel, um die Hälfte der Untertasse damit zu bedecken
— des oberflächlichen Sandes zugleich mit etwas Wasser in die Tasse. Dadurth
werden die im Sande befindlichen Cuma's (auch eine Anzahl seltener Ampbi-
poden) aus ihrer Ruhe aufgestört und schwimmen in der geringen Quantität des
Wassers auf der Tasse herum. Mit einem Pinsel kann man sie dann leicht nuf-
lischen und in kleine Fläschchen bringen , die mit Seewasser gefüllt sind. Bringt
man die Thierchen dann auf einen flachen Teller, dessen Boden 2 Linien hoch
mit Seesand bedeckt ist , so kann man sie bei kühl erhaltener Temperatur —
vor Allem ausserhalb des Sonnenscheins, — leicht 8 — 40 Tage lebendig er-
bdltcu.
Uiitcrsnctiiingen über Bau nnd Eutwickelang der Arthropoden. 77
>reitung C uma Irispinosa ^). An einer ähnlichen kleinen sandigen
)achi, auf der kaum eine Yiertelmeile entfernten Insel Liiile Cum-
> ra e fanden wir nur Guma plicata in grosser Zahl; Mr. Robbetson
versichert mich indess , dass sie auch an anderen Platzen am Strande
von Great Cumbrae und an der gegenüber liegenden schottischen Küste
von ihm zahlreich gefunden sei, niemals aber auch nur ein einziges
Exemplar dieser Art in der Kamesbai. An den Wurzeln der L a m i -
naria saccharina fanden wir femer zwei Gumaarten, Guma
unguiculata und eine neue Art; diese sind immer mit Schmutz be-
laden y leben mithin im »Hndd.« Wir fingen sie mittelst des Grund*
netzes. ßbenso erhielt ich eine reichliche Zahl von Guma Rathkei
in Kiel , die im «Siicka vielleicht 45 — 20 Faden tief vorkommt.
Guma longipes dagegen habe ich nie anders als Nachts mittelst
OberflSchenfischerei mitten auf der Kamesbai und ausserhalb derselben
{gefangen. Sie mag vielleicht am Tage in Strichen residiren , welche
unsere Grundnetze nicht durchfurcht haben.
Die Thatsache aber, dass Guma Nachts, — wie so viele andere
Crustaceen, — äusserst lebhaft herumschwimmt, erklärt das Vor-
handensein der zahlreichen Schwimmanhange, erklärt ferner auf mög-
licher Weise die bessere Schwimmausrüstung und die langen Antennen
der Mannchen. Das Stillliegen der Weibchen im Sande zwingt offen-
bar die Mannchen, sie erst auszuspüren, — mittelst der Antennen. Je
langer und nervenreicher diese sind, — falls wir mit Recht annehmen,
dass sie einen näheren Bezug zu den Surrogaten derGeruohsorgane bei
den Arthropoden haben , — desto besser werden sie ihren Träger zur
erfolgreichen Anwendung befähigen , — und je stärker und zahlreicher
seine Schwimmapparate sind^ um so schneller wird er das gesuchte
Weibeben erreichen können.
Auf der anderen Seite erklärt aber das Stillliegen am Tage, wess-
haib bei den Weibchen , — und auch bei den Männchen jener Arten,
welche Nachts sich nicht herumtummeln, — die Ausbildung der
Schwimmbeine am Postabdomen unterblieben ist« Zwar ist die Schizo-
4) Diese grössere Art kommt niemals , — oder nur sehr vereinzelt , — in den
Strichen vor, weiche bei der Ebbe blossgelegt werden. Zu ihrem Fange benutzt
Mr. RoftüTSOir einen leinenen Sack , — einen etwas derber construirten Schmetter-
Imgssack, -«• der mittelst eines sehr langen Stieles von ihm zur Abschöpfung eines
Theiles des feinen aber unter Wasser befindlichen oberflächlichen Sandes benutzt
wird. Es geschieht das natürlich im Boot. Der in den Sack gleitende Sand wird
dann in ein feinmaschiges Sieb gethan und so lange im Wasser geschüttelt , bis alle
Sandkörner ans dem Siebe heraosgeglitten sind. Dann werden wieder mittelst
eines Pinsels die zurückgebliebenen Cuma ^ Q aufgelesen und wie die übrigen
behandelt.
7S Or* A. DAtirnt
podennatur der Familie durch die Anlage der Gliedmaassen ain M iUei-
leibe hinreicbend deutlich in den ersten Embryonaistadien aosgebilde
und dadurch ihre Yetterschaft mit M y s i s klar ausgedrückt ; doch abf '
leigt die Respirationsweise und ein sonderbares Factum , das sich au*
die Bruttasche und ihren Inhalt bezieht, wie schon in sehr frttfaer It
Guma und ihre Vorfahren den behaglichen und sichern Aufenthalt in
Sande dem immer mühsamen und gar so gefährlichen Uniher-
schwimmen vorzogen. Beobachtet man nämlich ein trächtiges Weib-
chen unter schwacher Vergrösserung , so fällt es augenblicklich auf i
dass die Eier in ihrer Bruttasche in beständiger, unregelmässig rotirec-
der Bewegung sind. Es ist jedem Embryologen , der sich mit Crusta-
ceenembryologie beschäftigt hat, bekannt, wie fast älk» Bier , die am
der Bruttasche genommen sind, oder von den Hinterleibsanhanger
der Krabben entfernt wurden , sehr schnell verderben , weil ihnen der
Strom frischen Wassers fehlt, der sie in ihrer normalen Situation ic
Folge der Bewegung des Mutterthieres mit frischem , w*echselnden;
Wasser bespült ^) . Nun ruht aber der Körper des Thieres im Sande.
wo wohl nur geringe Veränderung des Wassers eintreten würde, wenr
nicht durch die Bewegung des Strudelapparates das Wasser unter den
Gephalothoraxschilde fortwährend erneuert würde. Ob nun die Be-
wegungen dieses Apparates die Botation der Eier hervorbringt, oder
ob es auf andere Weise geschieht, vermag ich gegenwärtig nicht fest-
zustellen ; ich möchte es aber fast bezweifeln , da ich glaube , dass die
Bruttasche mit einer fettigen Flüssigkeit erfüllt ist, die bei ihrer Ver-
letzung ausströmt und sich nicht mit dem Wasser vermischt. Vielleicht
werden die Eier durch die Botation irgend einer Stelle der Bruttaschc
genähert, die besonders geeignet zur Bespiration ist, — möglicher-
weise steht auch die Botation ganz still, wenn das Thierchen schwimmt.
— ähnlich wie bei Mysis die beiden Klappen der Bruttasche sich
rhythmisch auf- und abbewegen, wenn sie ruht, dagegen stille stehen^
wenn sie ihr pfeilschnelles Schwimmen ausübt. Jedenfalls habe ich
bei keinem Isopoden oder Amphipoden eine ähnliche Bewegunc;
wahrgenommen , — obschon sie doch zahlreich genug im Sande leben
und auch nicht alle sehr muntere Schwimmer sind. ^)
In Bezug auf die Generationsorgaae der Gumaceen habe
ich folgende Beobachtungen gemacht. Sowohl Hoden als Ovarien liegen
in dem 8. und 9. Segment, in letzterem münden sie beide an der
4) Merkwürdigerweise entwickeln sich die Eier des Asellus aquaticus so-
gar auf dem ObjecUräger ungestört weiter, sobald sie von einem Tropfen Wasser
umgeben sind.
i) An Neba I ia beobachtete ich eine ähnliche Rotation der Eier.
niitorsnchnngcn flbf r ßaii nud Hiitwickeluiig der Arlbro|iodpn. 79
Unterseite des Segments , erstere in kleine, chitinOse sackartige Penis,
letitere frei in die Brattascbe. Beidier Gestalt und histologische Structnr
ist einfach nnd durchaas nicht abweichend von der der Edrioph-
tbalmen. Die Ovarien sind einfache Sacke, deren feine Wandungen
innen von grossen Epithelzellen ausgekleidet sind , die , — soviel ich
zu sehen vermag, — sich aiimnhlicb in die Eier umwandeln. Das Ab-
legen der Eier geht anscheinend sehr langsam vor sich ; ich beobachtete
ein Weibchen von Guroa Goodsiri wahrend dieses Processes und
fand , dass fast 20—30 Minuten vergehen , ehe ein Ei glücklich in die
Bruttasche gelangt. Das kleine Geschöpf liegt dabei ganz still. Ich
nahm die Eier sofort aus der Bruttasche und untersuchte sie auf das
Keimbläschen, fand aber keines. Merkwürdig ist es, dass ich unter
sümrotUehen 20 — 30 Embryonen, die gewöhnlich in der Brutlasche zu
ßnden sind, fast regelmassig 2 oder 3 antraf, die den Uebrigen in der
Entwickelung ^eit voraus waren. Ob sie eher aus den Ovarien ent-
l«issen wurden, oder in günstigere Emahrungs- und Wärmebedingun-
gen geriethen, vermag ich natürlich nicht zu entscheiden.
Die Hoden sind Säcke mit drei bis vier kleineren Aussackungen
an dem oberen Ende (so fand ich sie wenigstens bei Cuma trispi-
nosa). Sie waren von oben bis unten gefüllt mit Samenzellen und
Spermatozoon in verschiedenen Entwickelungsstadien. Die reifen Sper-
matozoon bilden einen langen dünnen Faden.
Mehrfach hatte ich Gelegenheit Cuma nnomalain Copula anzu-
treffen , und ich konnte sogar durch das Mikroskop untersuchen , in
welcher Weise das Männchen das Weibchen festhält. Es geschieht
mitteist der beiden grossen Extremitäten des 6. und 7. Segments. Die
Klauen dieser Gliedmaassen heften sich fest unter die Einbuchtungen
des Gephalothoraxschildes der Weibchen; mit den übrigen Extremitäten
sucht das Männchen das Postabdomen des Weibchens festzuhalten.
Bei alledem ist nicht zu begreifen, wie eine Befruchtung stattfinden
kann, wenn das Männchen auf dem Rücken des Weibchens sitzt; die
kleinen Penis sind nicht verlängerbar und würden niemals dieOvarial-
Öffnung erreichen, wenn nicht das Männchen mit seiner Bauchseite die
Bauchseite des Weibchens berühren könnte. In der That habe ich
auch einmal gesehen , dass ein Männchen sich langsam um das Weib-
chen herum schlich und endlich Bauch gegen Bauch lag. Leider war
diese Beobachtung nicht unter dem Mikroskop, sondern auf einer
weissen Untertasse gemacht, so dass ich nicht bemerken konnte, ob
etwa Anstrengungen folgten , die Ovarialöffnung mit dem Penis zu er-
reichen , oder ob etwa gar eine Ejaculation erfolgte. Ich bin durchaus
abgeneigt, an eine Ausstreuung des Samens zu glauben , der sicherlich
gQ Dr. A. Dohrn«
im Wasser nicht seine Bestimmung erreichen würde, — mir scheint €>
ein unumgängliches Postulat zu sein, dass die Einführung oder i^enis-
stens eine grosse Annäherung der PenisOffnung an die Mündung der
Ovarien stattfände.
Ich darf noch als eine möglicherweise zur Geschlechtsfunction ge>
hörende Bildung die sonderbare Gestaltung der Seitentheile des ffl.
Segments bei den Cumamännchen betrachten. Dieselben sind häutif
an ihrem unteren vorderen Winkel in lange Fortsätze ausgezogen , dK
Seiten abgerundet, abwechselnd convex und concav. Ich habe keiot
Muthmaassung über die Bedeutung dieser Gestaltung. Bei Cum^
an 0 mala bemerkte ich nichts der Art; die Art scheint überhaupt für
Ausnahmen gesorgt zu haben und verdient den ihr von mir vorläufig
gegebenen Namen durchaus. —
ErkUmng der Abbildungen.
Tafel n.
4^7 Curoa GoodsirL
Fig. 1 und 2. Frühes Stadium. Isopodengestalt. Zahlen und Buchstaben gelU^n
überall gleich. I , H und HI sind erste und zweite Antenne und Maqdibel.
Sie sind braun und repräsentiren als Einheit die Naupliusgliedmaassen.
IV und V sind die beiden Maxillen, sie sind mennigroth. VI — XU die
sieben typischen zweiästigen Gliedmaassen des mittleren Körperabschnittes.
Sie sind g rü n > der Schwimmast ist ca rm inro th. a und b sind Oberlippt^
und Unterlippe. Sie sind wie die Körpercon teuren und der Darmcanal blau.
c ist das rudimentäre Rückenorgan, gelb; d ist .die Leberanlage, 0 die erste
Andeutung des Zoönschildes , gleichfalls gelb. Der Embryo ist zunächst
von einer orangegelben Linie umschlossen, welche die Larvenhant.
dann von einer dunkelrothen, welche das Chorion repräsentirt.
Fig. 3. Späteres Stadium. Bezeichnung dieselbe. Neu sind XIX, die gabelförmigen
Anhänge des letzten Postabdominalsegments, f der kleine Anhang des
Kiemenapparates. Das Chorion ist bereits abgestreift.
(NB. Gliedmaasse VI ist unrichtigerweise ganz grün angegeben. Es
hätte vielmehr der lange äussere Ast roth sein müssen , da er
dem Schwimmast homolog ist.)
Fig. 4 und 5. Spätere Stadien, in denen die Lagerung des Embryo sich wesentlich
dem Decapodentypus genähert hat. h Herz, t Darmcanal. k Auge, l Drüse
an der Basis der unteren Antennen. Die Larvenhaut ist gesprengt, das
Rückenorgan verschwunden.
Fig. 6. Zum Verlassen des Brutsackes reifer Embryo, g bedeutet die Stelle, wo
der grosse Kiemenapparat am Körper mittelst eines Stranges befestigt ist.
Fig. 7. Herz und Gefässe einer Cuma. Q
Uiitersaeliuiigeii fiber Bau und Eutwiekelong der Arthropoden. 81
TaM m.
Fig. 1. Cluina (Bodotria) longipes (J.
Flg. % bis 45. Cuma trispinosa Q.
9 erste , 8 zweite Antenne , 4 Unterlippe , 5 Mandtbel , 6 und 7 erste
and zweite Maxille , letztere mit dem nach hinten gerichteten und als
Kiemenfeger wirl^endea Aste a. fl und 9 erste und zweite Maxilli-
peden , 4 0 und 4 4 die beiden grossen nach vorn gerichteten und in
den Dienst des Mundes gezogenen Gnathopoden. 42 und 48 die bei-
den nKchsten Extremiftftten mit den dazugehörigen Segmenten. 44 der
grosse Kiemen- oder Strudelapparat. 45 Das kleine, bewegliche Stück
desselben an der Spitze des langen Canals. b harte Wandung,
a fonenrand, c und d zusammenzuhaltende Membranen.
Fig. 46. Die unteren Antennen von Cuma Goodsiri Q.
Fig. 47. Postabdominalsegment von Cuma Goodsiri ^, mit der Anlage der
Schwimmbeine.
a Die beiden Aoste der Schwimmbeine, c die alte Guticula, b die neue
Hypodermis.
Bd. V. !. 6
Heber die HonoehlorcrotoHsfture and ihre Salze«
Von
Dr. Otto Froelich.
Das bei der Einwirkung von Phosphorsupercblorid (2 Mgt.] auf
Aethyidiacetsäure (1 Mgt.) entstehende Product liefert — in kalt se-
haltenes Wasser gegossen — zwei neue chlorhaltige Säuren , beide
krystallisirt und unter sich isomer, und ausserdem ein Oel, das sich
der Hauptsache nach als der Aethyläther jener erweist. Die eine de:
SSiuren besitzt den Schmelzpunkt 94<), ist in Wasser sehr leicht löslich
und destillitt mit Wasserdampfen nur schwer über; die andere schmil^i
bei 59^,5, ist in Wasser nur wenig löslich und geht mit Wasserdämpfen
sehr leicht über.
Die letztere Säure, welche allein bis jetzt einer eingehenderen
Untersuchung unterworfen worden ist , hat Herr Professor Gbother mii
dem Namen »Monochlorcrotonsäurea belegt, da dieselbe die empirische
Zusammensetzung C^HHÜlO^ ^) besitzt und mit Natrium-Amalgam he-
handelt, die von Schlippe aus CrotonOl erhaltene Crotonsäure liefert.
Durch wiederholte Destillation mit Wasser wird die rohe Mono-
chlorcrotonsäure von anhängendem Farbstoff befreit und stellt dann
weisse, sehr leichte, nadelfbrmige Krystalle dar. Aus cpncentrirter.
wässeriger Lösung scheidet sie sich in farblosen , durchsichtigen , vier-
seitigen Prismen mit schief angesetzter Endfläche aus. Vollständig rein
wird sie durch Destillation für sich erhalten , wobei sie nicht im Min-
desten eine Zersetzung erleidet und geringe Spuren von einem harz-
artigen Körper hinterlässt.
4) G a 42, Oa 46.
Ueber die Monoehlorcrotonsliore niid ihre Salze. S3
I. Analyse der mit Wasserdanipfen wiederholt destillirlen Saure.
0,2140 Grm. der über Schwefelsäure getrockneten Rrystaiie
lieferten bei der Verbrennung mit Kupferoxyd 0,3061 Grm.
Kohlensäure, entsp. 0,083482 Grm. == 39,0 Proc. Kohlenstoff
und 0,0864 Grm. Wasser, entspr. 0,0096 Grm. = 4,5 Proc.
Wasserstoff.
Ferner gaben 0,2028 Grm. der über Schwefelsaure getrockneten
Säure mit Aetzkalk verbrannt und in salpelersaurer Lösung mit Silber-
nitrat gefällt e,2426 Grm. Chlorsilber, entspr. 0,060016 Grm. = 29,5
Proc. Chlor.
II. Analyse der durch Destillation für sich gereinigten Säure.
0,S7S4 Grm. der über Schwefelsäure getrockneten Saure
gaben 0,4010 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,409364 Grm. =r
39,7 Proc. Kohlenstoff und 0,1072 Grm. Wasser, entspr.
0,0H9i< Grm. = 4,3 Proc. Wasserstoff.
her. gef.
I
II
C< — 48
39,8
39,0
39,7
H&— 5
4,4
4,5
4,3
Gl = 35,5
29,5
29,5
02=32
26,6
420,5 400,0
Die reine Monochlorcrotonsäure schmilzt bei 59^5 zu einer farb-^
losen Flüssigkeit, die bei 55<>, 5 wieder krystallinisch erstarrt. Ve^t
ihren Schmelzpunkt erhitzt, sublimirt sie zum Theil und geräth ini
Sieden bei 194<),8 (corr.) ; das flüssige Destillat erstarrt sehr rasch zti
einer weissen, dichten Masse von krystallinischer Structur. Sie besitzt
einen schwachen, etwas stechenden Geruch und sauren Geschmack;
der anfangs angenehm, aber schliesslich kratzend und widerlich ist;
Fluchtig ist' sie in bedeutendem Maasse : in verschlossenen Gef^ssen
aufbewahrt, sublimirt sie schon bei Zimmertemperatur. In Wasser ist
sie in nicht grosser Menge löslich: bei 7^ lösen 79 Gewichtstheile»
Wasser 4 Gew. Säure. Dagegen von Alkohol und Aether wird sie sehr
leicht und in bedeutender Quantität aufgenommen.
Sie ist eine ziemlich starke Säure: die kohlensauren Salze zersetzt
sie sehr rasch, meist schon in der Kälte, doch ist sie schwächer als
Essigsäure, wie der Umstand beweist , dass das in Wasser sehr schwer
lösliche Kupfersalz der Monochlorcrotonsäure von Essigsäure leicht ge-
lost wird und dann beim Abdunsten die erstere Säure neben Kupfer-
iskrystallisirt. Ihrer Basicität nach ist sie unter die einbasische^
6*
.g4 ^^* OttoFroelicb,
Säuren zu stellen , denn sie giebt mit derselben Basis im AUgemeincn
nur ein Salz. Ein saures Natronsalz konnte wenigstens nicht erhalten
werden, da die zu der Auflösung des neutralen Natronsalzes gefugte,
sich dafür berechnende Menge Säure beim allmählichen Abdunsten der
Lösung über Schwefelsäure allein auskrystallisirte. Dagegen scheirit
das Ammoniak den unten angeführten analytischen Resultaten gemäss
ein saures, also richtiger bezeichnet: ein sogenanntes übersaures Salz
zu bilden.
Die Salze der Monochlorcrotonsäure sind meist beständig und
krystallisirbar und enthalten alle bis auf das Silbersalz Erystallwasser;
sie lösen sich fast sämmtlich in Wasser, grossentheils auch in Alkohol
Zu ihrer Darstellung kann ohne Weiteres die mehrmals mit Wasser-
dämpfen destillirte Säure angewendet werden, da der beigemen^tt'
harzartige Körper sich beim Neutralisiren mit irgend welchem Carbonai
abscheidet.
Monochlorcrotonsaures Kali, C*H^C102,K + H2O.
Wird durch Neutralisiren der Säure mit kohlensaurem Kali um!
durch allmähliches Abdunsten der Lösung über Schwefelsäure in
kleinen farblosen Tafeln und Nadeln erhalten , die dem rhombischen
System anzugehören scheinen. Die Krystalle sind sehr leicht löslich
und werden bei längerem Liegen an der Luft feucht ; andererseits ver-
wittern sie im Exsiccator über Schwefelsäure sehr rasch.
0,3363 Grm. der auf Fliesspapier an der Luft getrockneten
Krystalle verloren über Schwefelsäure 0,034 6 Grm. = 9,5 Proc. unJ
im Luftbad bei 4 00 — 4 OS^ im Ganzen 0,0345 Grm. s: i 0,3 Proc. Wasser.
Die getrocknete Salzmasse gab 0,4663 Grm. Kaliumsulfat, entspr.
0,074759 Grm. = 22,2 Proc. Kalium.
Die Formel verlangt 10,2 Proc. Krystallwasser und 22,2 Proc.
Kalium. Für das entwässerte Salz berechnet sich der Kaliumgehalt auf
24,7 Proc. [gef. 24,6 Proc.].
Monochlorcrotonsaures Natron, 2[C*H*C102,Na] -«- H^.
Analog dem Kalisalz dargestellt, bildet dasselbe atlasglänzende,
concentrisch gruppirte, oder auch federförmig an einander gereihte
Krystalle von weisser Farbe, ebenfalls in Wasser und Alkohol sehr
leicht löslich , Über Schwefelsäure langsam verwitternd.
0,3772 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren im Luftbad
bei 4 00— 1030 0,0253 Grm. =6,7 Proc. Wasser und lieferten
0,1764 Grm. Natriumsulfat, entspr. 0,057441 Grm.s=15,{
Proc. Natrium.
Die Formel verlangt 45,2 Proc. Natrium und 6,0 Proc. Krystall-
wasser.
Ueber die MoiioehtorcrotonsÜiire und ibre Salze, g5
Monochlorcrotonsaures Ammoniak, C^H^CIO^ (H^N) -i-
C4H4C102,H -^H20.
Die Lösung der Säure in überschüssigem Ammoniak scheidet,
tlber Schwefelsäure gestellt, nach und*nach ein Salz in weissen,
krystaHinischen Krusten ab.
0,3602 Grm. des lufttrockenen Salzes verloren im Exsiccator
tlber Schwofelsäure 0,0264 Grm. =7,3 Proc. Krystallwasser;
die Formel verlangt 7, 4 Proe.
Ferner gaben 0,2970 Grm. des entwässerten Salzes bei der Ver-
brennung 0,4093 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,144627 Grm. =: 37,6
Proc. Kohlenstoif und 0,1395 Grm. Wasser, entspr. 0,0155 Grm. =:
5,2 Proc. Wasserstoff.
ber.
gef.
C» —96
37,2
37,6
H'' — 13
5,0
5,2
CP —7t
27,6
N — 14
5,4
—
0* —64
24,8
258 100,0
Monochlorcrotonsaurer Baryt, CWClO^jBa-f-H^O. Wird
erhalten durch genaues Neutralisiren mit Barytwasser oder durch Zer-
setzen von kohlensaurem Baryt: die erste Methode liefert bei Anwen-
dung der nur mit Wasserdämpfen destilltrten Säure gelb gefärbte ; die
letztere hingegen farblose und durch starken Glanz ausgezeichnete
Krystalle. Dieselben stellen meist vierseitige Prismen mit schief ange-
setzter Endfläche dar, erscheinen aber auch mitunter abgeplattet in
Tafelform, in Wasser leicht löslich. Lassen über Schwefelsäure ge-
stellt, keine Verwitterungsstellen wahrnehmen.
0,5823 Grm. des lufttrockenen Salzes verloren bei 100 — 105®
0,0534 Grm. =9,2 Proc. Wasser und gaben 0,3254 Grm.
Baryumsulfat, entspr. 0,19133 Grm. = 32,9 Proc. Baryum.
Die Formel verlangt 8,8 Proc. Krystallwasser und 33,3 Proc.
Baryum.
Monochlorcrotonsaurer Kalk, 2[Cm^ClO^,Ca] + SEK^.
Stellt mittelst kohlensauren Kalks gewonnen einfache tetragonale,
meist hohle Prismen dar, die anfangs farblos und durchsichtig sind,
aber in Folge der Verwitterung sehr rasch matt und weiss werden.
In Wasser leicht löslich. Ueber Schwefelsäure gestellt, verlieren sie
das Krystallwasser vollständig.
gg Dr. Otto Froelich,
0,3250 Grm. der lufUrockfinen, nur an einigen wenigen Stellen
eben erst verwitterten Krystalle verloren bei 400 — 104®
0,0537 Grm. = 46,6 Proc. Wasser [ber. 4 6,2 Proc.]. Ferner
lieferten 0,2930 Grth. des entwässerten Salzes mit Oxalsäure
gefällt und vor dem Gebläsefeuer geglüht 0,0581 Grm. Kalk
entspr. 0,0415 Grm. = 14,2 Proc. Calcium [ber. 14,4 Proc.].
Monochlorcrotonsaure Magnesia, 2[C*H^C102,Mg] + 5H20.
Krystallisirt, dem Kalksalz analog dargestellt, in farblosen, durch-
sichtigen , dünnen Tafeln , die dem monoclinen System angehören, bi
Wasser sehr leicht löslich. Verwittert allmählich selbst in gut ver-
korkten Gefdssen , sehr rasch über Schwefelsäure.
0,3690 Grm. der lufttrockenen, nur an einzelnen Stellen eben
erst verwitterten Krystalle verloren bei "100 — 105<> 0,0971
Grm. =26,3 Proc. Wasser [ber. 25,5 Proc.]. Der hiertm
gebliebene Salzrückstand löste sich bis auf eine geringe Spur
schon in kaltem Wasser auf; eine etwa vor sich gegangene
Zersetzung — Verflüchtigung von Säure — kann demnach
nur unbedeutend gewesen sein.
Vom Eisen selbst konnte kein wohl charakterisirtcs Salz erhalten
werden , dagegen sehr schön krystallisirende von den übrigen Metallen
der Eisengruppe mittelst der betr. Carbonate.
Monochlorcrotonsaures Nickeloxydul, (G^H^GlO^j^NiH-
6H^0. Krystallisirt in regelmässig ausgebildeten rhombischen Tafein
von hellgrüner Farbe , die sich in Wasser sehr leicht lösen und über
Schwefelsäure rasch verwittern, eine weisslicb grüne Färbung an-
nehmend.
0,3157 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren bei 100 bis
103« 0,0856 Grm. = 27,1 Proc. Wasser [ber. 26,6 Proc.].
Monochlorcrotonsaures Kobaltoxydul, (C^H^CIO^) ^Co +
6H^. Bildet ebenfalls einfache rhombische Tafeln , die eine pfirsich-
blüthrothe Farbe und starken Glanz besitzen. Leicht löslich in Wasser.
Ueber Schwefelsäure verwittern die Krystalle sehr rasch , indem ihre
Farbe in Violett und Blau übergeht.
0,3677 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren bei 100 bis
104» 0,0989 Grm. = 26,8 Proc. Wasser [ber. 26,6 Proc.].
Monochlorcrotonsaures Manganoxydul, (C^H^CIO^) *Mn+
2HK). Scheidet sich aus der wässerigen Lösung in farblosen , rhom-
bischen Krystallen aus ; es sind meistens dicke Tafeln , die namentlich
auf der Basis stark glänzen. In Wasser sehr leicht löslich. Verwittert
über Schwefelsäure sehr langsam, einen schwach röthlichen Schein
annehmend.
Ueber die MouochlortrotoDgiure und ihre Salze. 87
0^3876 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren bei 400 bis
405» 0,0425*Grm. = 10,9 Proc. Wasser [ber. 4<,0 Proo.].
Monochlorcrotonsaures Zinkoxyd, ^[(C^H^GlO^j^Zn] +
bUm, Stellt farblose, glänzende rhombisAe Krystalle dar, meist in
TafeUbrm. In Wasser ziemlich leicht löslich. Verwittert nicht an der
Luft , selbst nicht über Schwefelsäure.
0,428S Grm. des über Schwefelsäure getrockneten Salzes
verloren bei 100 — 4050 0,0550 Grm. = «2,8 Proc. Wasser
[ber. 12,9 Proc] und gaben 0,1010 Grm Zinkoxyd, entspr.
0,081099 Grm. = 19,0 Proc. Zink [ber. 18,7 Proc.].
Monochlorcrotonsaures Thalliumoxydul. Neutraiisirt
man die mit Wasser übergossene Säure unter Erwärmen mit kohlen-
saurem Thalliumoxydul, so scheidet sich schon während des Erkaltens
cia weisses, fein krystallinisches Pulver aus; bei weiterem Abdunsten
der Lösung schiessen schliesslich farblose, langgestreckte Tafeln an,
die dem monoclinen System angehören. Ob die beiden Formen ver*
schiedene Zusammensetzung haben, ist nicht entschieden worden;
der letzteren kommt gemäss der vorgenommenen Wasserbestimmung
die Formel : (C^H^ClO^jaTh + H^O zu.
0,1952 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren nicht an
Gewicht über Schwefelsäure, dagegen im Luftbad bei 104<^
0,0049 Grm. = 2,5 Proc. Wasser [ber. 2,7 Proc.].
Monochlorcrotonsaures Bleioxyd, (CWC103)2pb-H4H20.
Durch längeres Digeriren von Bleiweiss mit den Säurekrystallen in
Wasser erhalten, stellt dasselbe weisse, seidenglänzende , concentrisch
gruppirte Nadeln dar , die ziemlich schwer in Wasser sich lösen und
über Schwefelsäure allmählich verwittern.
0,3212 Grm. der lufttrockenen Krystalle verloren bei 100 bis
1030 0,0407 Grm. = 12,7 Proc. Wasser [ber. 13,9 Proc.] und
lieferten 0,1876 Grm. Bleisulfat, entspr. 0,128162 Grm. =^
39,9 Proc. Blei [ber. 40,0 Proc]
Monochlorcrotonsaures Kupferoxyd. Erwärmt man frisch
gefülltes kohlensaures Kupferoxyd mit den Säurekrystallen in Wasser,
so nimmt dieses nur eine ganz schwachbläuliche Färbung an, dagegen
bildet sich ein sehr schwer lösliches, krystallinisches Kupfersalz. Aus
der kochend heiss filtrirten Lösung scheiden sich beim allmählichen
Abdunsten über Schwefelsäure zweierlei Arten von Krystallen aus:
rhombische Prismen von blauer Farbe und tetragonale Gombinationen
von Prisma und Pyramide, dunkelgrün gefttrbt. Die erstere Art nimmt
im Luftbad schon bei SO^ die grüne Farbe der anderen an; umgekehrt
wird letztere, mit Wasser erwärmt, allmählich blau: beide unter-
gS I^. Otto Froelich,
scheiden sich demnach wahrscheinlich nur durch einen verschiedenen
Gehalt an Krystallwasser. Die Entstehung der rerschiedenen Formen
hängt — soweit die Untersuchungen reichen — von der Temperatur
allein ab: bei der einen Darstellung im Frühjahr krystallisirten beide
zusammen , bei der zweiten im Sommer nur die grüne aus unter
gleichen Bedingungen bereiteten Lösungen. Ueber Schwefelsäure ver-
wittern sie allmählich.
0,3035 Grm. der lufttrockenen grünen Kryslalle verloren
bei 100 — 1020 0,0235 Grm. = 7,7 Proc. Wasser und gaben
0,0740 Grm. Kupferoxyd, entspr. 0,0590S8 Grm. = 10,5 Proc.
Kupfer. Ihnen kommt demnach die Formel :
2[(C4H4C102)2Cu] + 3H20,
zu, welche 8,2 Proc. Krystallwasser und 19,2 Proe. Kupfer
verlangt.
Beim Versetzen einer Lösung von monochlorcrotonsaurem Natron
mit neutraler Lösung von Kupfersulfat oder Kupferacetat entstehen
krystallinische Niederschläge, die, ausgewaschen und getrocknet, im
ersteren Falle ein blaugrünes , im letzteren ein hellblaues Pulver dar-
stellen. Ueber Schwefelsäure verwittern beide Salze, indem ihre Farbe
immer lichter wird; im Luftbad bis 100<* erwärmt, nehmen sie die
Farbe des Seh weinfurter Grün an. Auf dem Platinblech erhitzt, zer-
setzen sie sich unter schwacher Explosion und Ausstossung eines sauren
und stechend riechenden Dampfes. Im Röhrchen schwach erwärmt,
geben sie Wasser und ziemlich viel unzersetzte Säure ab.
Die Quecksilbersalze derMonochlorcrotonsäure schei-
nen ebenfalls wohl charakterisirte Verbindungen zu sein. Die Säure
löst gefälltes Quecksilberoxyd allmählich auf unter gleichzeitiger Ab-
scheidung eines weissen, feinen Kryslallpulvers , das nur in vielem
heissen Wasser löslich ist. Beim Versetzen einer neutralen Lösung von
unserem Natronsalz mit einer solchen von salpetersaurem Quecksilber-
oxydul föllt sofort ein ebenfalls fein krystallinischer Niederschlag von
weisser Farbe , in heissem Wasser nur wenig löslich.
Mono chlorcro tonsa ures Silberoxyd, (G^H^CIO^) 2Ag,
Durch Fällung des Natronsalzes mit Silbernitrat gewonnen , stellt das-
selbe einen weissen, krystallinischen Niederschlag dar, der in kaltem
Wasser fast unlöslich ist. Beim allmählichen Abdunsten einer heiss-
gesättigten Lösung setzen sich atlasglänzende, am Lichte sich rasch
schwärzende Blättchen , meist federförmig an einander gereiht , an den
Gefässwandungen ab. Das lufttrockene Silbersalz verliert weder über
Schwefelsäure noch bei einer Temperatur von 100 — 105* an Gewicht;
es enthält demnach kein Krystallwasser.
. T
Uebcr die Monoeblorerotonsäiire ntid ihre Salze. 89
Monochlorcrolonsäure-Aelhyläther, C^H*C10^(C2H*).
Wird dargestellt, indem man die Säurekrystalle mU etwa der doppelten
Menge absolutem Alkohol , der mit Salzsäüi ogas gesattigt worden ist,
Ubergiesst und das Gemisch gut verschlossen mehrere Tage bei gelin-
der Wärme digcrirl. Nach mehrmaligem SchUlteln löst sich die Säure
auf und es bildet sich eine homogene Flüssigkeit, aus der sich auf
Zusatz von Wasser ein ziemlich schwerflüssiges, zu Boden sinkendes
Gel ausscheidet. Mit einer verdünnten Lösung von kohlensaurem
Natron gewaschen und schliesslich mit Chlorcalcium entwässert,
destiliirt dasselbe fast vollständig zwischen 4 58 und 159^ über.
Von der Fraction, 158—1590. gaben 0,2175 Grm. bei der
Verbrennung 0,3875 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,1 05656 Grm.
= 48,6 Proc. Kohlenstoff und 0,1198 Grm Wasser, entspr.
0,013311 Grm. == 6,1 Proc. Wasserstoff.
Ferner lieferten 0,1558 Grm. nach der Verbrennung mit
Aetzkalk 0,1561 Grm. Chlorsilber, entspr. 0,03859 Grm. =
24,7 Proc. Chlor.
ber.
gef.
C» = 72
48,5
48,6
H9=r 9
6,1
6,1
Gl — 35,5
23,9
24,7
02—32
21,5
148,5 100,0
Der Monochlorcrotonsäure ' Aethyläther ist eine farblose, ölige
Flüssigkeit von angenehm aromatischem Geruch und kühlendem Ge-
schmack. Er besitzt den corr. Siedepunkt 161^,4 und bei 15^ das
specifische Gewicht 1,113. in Wasser nur wenig löslich, dagegen
leicht in Alkohol und Aether. Reagirt nicht auf Pflanzenfarben , weder
für sich, noch mit Wasser. Mit einer Lösung von kohlensaurem Natron
wird er beim Erwärmen umgesetzt in Natronsalz und Alkohol.
Monochlorcrotonsäure-Methyläther, G*H4C102(CH3).
Analog dem vorigen erhält man beim längeren Stehenlassen von Säure-
krystallen und von mit Salzsäuregas gesättigtem Methylalkohol eine
ölige Verbindung, die bis auf unbedeutende Mengen zwischen 1 39 und
1 4 1 0 überdestillirt.
Von dieser Fraction lieferten 0,2848 Grm. bei der Verbren-
nung 0,4642 Grm. Kohlensäure, entspr. 0,1266 Girm. =
44,4 Proc. Kohlenstoff und 0,1403 Grm. Wasser, entspr.
0,015589 Grm. =5,5 Proc. Wasserstoff.
90 Dr. Otto Froelich, Ueber die Moiiocbiorcrotons&ure und ihre Salze.
Die analysirte Verbindung ist also der reine Metbyläther unserer
Säure :
ber.
gef.
C*— 60
44,6
44,4
H'— 7
5,2
5,5
Gl — 35,5
26,4
0' — 32
23,8
134,5 100,0
Der Monochlorcrotonsäure-Methyläther i'^ ebenfalls eine farblose,
ölige Flüssigkeit von durchdringendem ätherischen Geruch und stark
kühlendem Geschmack; er siedet bei 142^,4 (corr.) und hat bei 15^
das specifische Gewicht 1,143. In Alkohol weniger löslich als der
Aethyläther , in Wasser fast unlöslich.
Jena, 22. Decbr. 1868.
Einige Worte über die Entwidieluiigsgeschielite uiid den
morpliologischeii Werth des Imgelförmigeii Organes der
Amphipoden«
Von
Emil Bessels.
Eine der Anforderungen, welche die Descendenztheorie an die
Entwickelungsgeschichte stellt, besteht darin, zu untersuchen, ob sich
bei Mitgliedern einer Thierclasse , die das Ei dem Mutterthiere an Ge-
stalt ähnlich verlassen, während andere eine Metamorphose durch-
machen , nicht noch Spuren einer ehemals stattgehabten Metamorphose
aufOnden lassen, um auf diese Weise die Abstammung von einem ge-
meinsamen Urahnen festzustellen.
Beim Studium der Embryologie der Amphipoden, drängte sich
mir die Vermuthung auf, ob nicht etwa das seit längerer Zeit bekannte
kugelförmige Organ ein solches Residuum sei, indem z. B. während
der ersten Zeit der embryonalen Entwickelung der Spinnen ein ähn-
liches Gebilde auftritt, das gleichfalls nur kurze Zeit persistirt. ^)
Während eines kurzen Besuches in Jena theilte ich Herrn Dr. Dohrn
diese Ansicht mit. Ich war in hohem Grade erfreut, als mir derselbe
sagte, er sei zu einer ähnlichen Auffassung gelangt, die ich in Folgen-
dem mittheilen will, und habe bereits über diesen und andere Puncto
einen kleinen Aufsatz veröffentlicht. ^ Diese Publication war mir
4) In seinen: »Recherches sur rövolution des Araignöes« sagt Clapabbde : »Je
u'ai pu lire le travail de Mr. oe la Valette sans ötre frappö de Tidentil^ de position
de cet Organe (kugelf. Organ) avec le cumulus primitiv des araign^es«. — Und
welter : »II serait interessant de rechercher jusqu' ä quel point le cumulus primitiv
des Araign^es ne pourrait pas 6tre considerö comme le nidiment d'un organe bien
plus döveloppä chez les Amphipodes« (p. U).
2) On the morphology of ^he Arthropoda im Journal of anatomy and physiology.
Vol. II. p. 80.
92 Binil Bessels,
entgangen ; auch war ich nur kurze Zeit nach dem Erscheinen dieser
geistvollen Arbeit in Jena. —
Dass ich diese Zeilen erst jetzt publicire, hat seinen Grund darin ^
dass mir vor etwa 8 Monaten , wahrend meiner Rückkehr von der
Nordsee, eine Mappe gestohlen wurde, die meine ganze wissenschaft-
liche Ausbeute enthielt, worunter sich auch dieser Aufsatz, fertig
niedergeschrieben, in etw^as erweiterter Form und die betreffenden
Abbildungen befanden. Während des Sommers erlaubte mir meine
Zeit nicht, die Untersuchung über diesen Gegenstand an unseren
Süsswasser-Amphipoden wieder aufzunehmen. Jetzt, wo mir dies
vergönnt wäre, fehlt es mir an Material, indem sonderbarerweise
sämmtlicheGammarusarten das Fortpflanzungsgeschäft eingestellt haben.
Um nun die Veröffentlichung dieses Aufsatzes nicht noch weiter hinaus-
zuschieben, sehe ich mich genöthigt, denselben ohne die zur Erlllitte-
rung dienenden Abbildungen zu publiciren. Nur zwei Figuren in
Holzschnitt, die unbedingt nothwendig sind, wurden beigegeben.
Um mich dem gewohnten Herkommen zu fügen, will ich nun kurz
den geschichtlichen Theil unseres Gegenstandes zu entwickeln suchen.
Rathke, 1} dem wir die erste und bis jetzt einzige Arbeit über
die Embryologie der Amphipoden verdanken, hat das in Rede stehende
Organ nicht gekannt, was wohl den mangelhaften optischen Hülfs-
mitteln der damaligen Zeit zuzuschreiben ist.
Erst Meissner thut dessen Erwähnung, bei Gelegenheit seiner
hübschen Arbeit »über das Eindringen der Samenelemente
in den Dottera^), und glaubt dasselbe als Micropyle beanspruchei^
zu müssen, obschon er sagt, dass »das Chorion überall ge-
schlossen sei und sich die Micropyle nur in der Dotter-
haut befinde.« Er vermeint aus diesem Umstände folgern zu dürfen,
dass »das Eindringen der Samenelemente früher ge-
schehen muss, als sich das Chorion bildet.« Wenn unser
Autor die Micropyle »an einen der Pole (wahrscheinlich den
unteren] des ovalen Eies« verlegt, so beruht dies auf einem
Missversiändniss.
' DB LA Valette machte hierauf zuerst aufmerksam in seinen »Stu-
dien über die Entwickelung der Amphipoden«^), in wel-
4) Zur Morphologie, Reisebemerkungen aus Taurien, p. 72.
%) Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. Vi. p. S84.
5) Abhandlungen der naturforschenden Gesellschaft zu Halle. Bd. V. p. 163.
Eiaige Worte Ober EntwickelniijErsgeschicIite und morphologischen Werth etc. 93
eher Abhandlung er dem kugelförmigen Organ eine grössere Aufmerk-
samkeit schenkt, das er indessen, ebenso wie sein Vorgilnger, als
Mieropylapparat anspricht. — Weiter unten werden wir noch mehr-
mals von dieser Arbeil zu reden haben.
In seiner geistreichen Schrift »Für Darwin« macht Fritz Müller
auf den Unterschied aufmerksam, der zwischen genanntem Organ und
einem Micropylapparate besteht, sich namentlich auf die Thatsache
stützend, dass bei dem Amphipodenei das Chorion keinerlei Durch-
bohrung zeige. Auch »vermochte er sich nicht zu Überzeugen,
dass überhaupt die sogenannte »innere Eihaut« wirklich
eine solche sei und nicht etwa eine erst nach der Be-
fruchtung gebildete früheste Laryenhaut, wie man im
HinbHek auf Ligia, Cassidina und Philoscia annehmen
Diöchte« (p. 50). Ich glaube nun, dass van Benbdbn und ich hierzu
den Beweis lieferten , indem wir zeigten , dass das in der Furchung
begriffene Ei von Gammarus locusta nur von einer einzigen Mem-
bran, vom Chorion umgeben ist. *)
Das ganze Organ erinnerte unseren trefflichen Forscher an die
Verbindung der jungen Asseln mit der Larvenhaut und an das unpaare
üaftorgan in dem Nacken der Wasserilöhe« Wir meinen indess , dass
man in dem Vergleiche noch etwas weiter gehen kann, und wollen
das jetzt versuchen. Dabei wird es freilich nöthig sein, einige embryö-
logische Daten aus der Entwickelung der Amphipoden mit ins Augo
zufassen, die, strenggenommen, nicht zur Sache gehören.
Wenn die Eier der Amphipoden in das Marsupium des Mutter-
thieres gelangt sind , so beginnen sie ihre Entwickelung. Bei einigen
Arten nimmt dieselbe mit der Furchung ihren Anfang, bei anderen
wird dieser Process geradezu übersprungen, so dass die erste Ver-
änderung in einer Zerklüftung des Dotters besteht, der eine Theilung
des Keimbläschens in ebenso viele Parthieen vorangeht, als Dotter-
schollen vorhanden sind. Die einzelnen Theile des Keimbläschens ge-
langen nach der Peripherie, treten aus dem sie bisher umgebenden
Dolter hervor und vermehren sich durch Theilung, bei welchem Process
sie sieb auf Kosten des unterliegenden Dotters noch etwas vergrössern.
4) R^sumö d'un memoire sur le mode de formation du Blastoderme dans quel-
ques groupes de cmstacös ; per E. yah Bbnbdeit et E. Bbssbls. BulIeUn de racademie
royale de Belgique. Sme sörie, tome XXV, No. 5, p. 443. 4868.
94 EmilBessels.
Nicht an allen Stellen der Eioberfläche treten die Blastodennzellen
gleichzeitig hervor, was man sehr deutlich bei Gammarus pulex,
Gammarus puteanus und Gammarus Roeselü bemerken kann; bei
Gammarus locusta, dessen Entwickelung eine totale Furchung voran-
geht, ist dies weniger leicht ersichtlich. Wenn ich mich nicht täusche,
80 können wir wohl sagen, dass da, wo die erten Blastodermzellen
auftreten, sich das kugelförmige Organ entwickelt. Wenigstens glaube
ich mich bei einem Ei hiervon überzeugt zu haben , . das ich vermittelst
eines Coconfadens in bestimmter Lage auf einem Objectträger festhielt.
Nie bemerkt man das Auftreten der ersten Eeimhautzellen an einem
der Pole, sondern immer an einer Stelle , die der ktemen Axe des Eies
näher liegt als diesen.
Nachdem die Blastodermzellen in gedrängt gelagerter, Binfacher
Schichte den Dotter vollständig umhüllen, platten sie sich an ihri»n
Berührungsstellen unregelmässig gegen einander ab, die halbkugeligen
Erhebungen, die sie anfangs darstellten, werden undeutlicher, ihre
Oberflächen ebnen sich.
Alsbald gewahrt man, wie sich von der Oberfläche des Blastoderm
eine Membran abhebt , sich an der Peripherie des Eies als feine Linie
zeigend , an welcher man in der Mehrzahl der Fälle noch die einzelnen
Biegungen der Keimhaut bemerken kann, die sich ihrerseits nach
diesem Vorgänge etwas zusammenzieht. Diese Membran ist die
Larvenhaut, die sogenannte »innere Eihaut« der Autoren. Sie hat, wie
dies LA Yalettb schon bemerkt, ein etwas chagrinirtes Aussehen,
hervorgerufen durch die ihr Ursprung gebende Matrix. Beiläufig sei
hier bemerkt, dass, wenn man bei ziemlich weit entwickelten Eiern
nur eine Eihaut wahrnimmt, diese in allen Fällen das Chorion dar-
stellt, wie dies Meissner meint, und nicht, wie la Valette glaubt, die
Dotterhaut, welche wir, wie eben bemerkt, als Larvenhaut aufzufassen
haben. ^)
Nur an einer Stelle löst sich die Larvenhaut nicht von ihrer
Matrix ab : da , wo sich das kugelförmige Organ bildet. (Beim Embryo
kommt das Organ in das vierte vordere Segment zu liegen ; Kopf als
erster gerechnet) . Auch vermehren sich hier die Blastodermzellen bis
jetzt nicht so stark , als an den übrigen Puncten des Eies ; obschon
sich dieser Theil der Keimbaut zuerst bildet, persistiren hier die
Primaerzellen am längsten. Nach und nach wird die Larvenhaut glatt,
wobei sie sich nicht selten dem Chorion innig anschmiegt , was wohl
- j
•mivM Wie mir Dohbn brieflich inittbeiU, fand er bei einem Ampbipoden der Kieler
Bucht gleichfalls die Larvenhaut
Eioige Worte fiber EntwickelQngsgescbjcbte und morpbologiscben Wertb etc. 95
öfter dazu beitragen mag, ihr Auffinden etwas 2u erschweren. Geht
man Indess von der Bildungsstätte des kugelförmigen Organs aus^ so
wird man dieselbe immer zu erkennen vermögen.
Was nun die Weiterentwickelung des Organs anlangt, so nimmt
dieselbe einen so unregelmSssigen Gang, dass es schwer hält, in
kurzen Worten ein Bild davon zu entwerfen. Wir haben dieselbe bei
verschiedenen marinen Amphipoden verfolgt, sowie bei den Gammaren
des sttssen Wassers. Leider sind urir, wie vorher schon bemerkt, alle
Zeichnungen über diesen Gegenstand abhanden gekommen, und einige
kurze Bemerkungen y die sich nicht in der Mappe befanden, sind mir
nocb geblieben^ ifit Hülfe dieser und des Gedächtnisses will ich den
weiteren Eatwickelungsgang nun schildern. In Bezug auf die Be-
schreibttifg des fertig gebildeten Organs, verweisen wir auf la Yalstte's
imd Meissner's Arbeiten. ^)
An dem Theile der Eioberfläche , welcher zur ventralen Seite des
Embryo wird, verdickt sich das Blastoderm beträchtlich, um den
Keirostreif darzustellen, während sich dasselbe an allen übrigen Stellen
bedeutend verjüngt. Nur da , wo die Larvenhaut noch mit der unter
ihr liegenden Matrix in Verbindung steht, nehmen die Zellen an Masse
nicht ab , sondern sie vermehren sich im Gegentheil durch Theilung,
bis sie ein mehr oder minder rundliches Gebilde darstellen, dessen
untere Hälfte in den Dotter hineinragt , während die obere etwas ab-
geplattet nach aussen vorspringt. Etwas später wächst das Blastoderm
an der Bauchseite in den Dotter hinein, diesen in zwei ungleiche Theile
spaltend, wovon der grössere zum Kopftheil des Embryo wird, wäh-
rend sich der andere zum Hinterende heranbildet. Sobald die Extre-
mitäten als kleine Wülste hervorzusprossen beginnen, gewahrt man im
Innern des bisher massiven Zellenhügels , dessen Emährungsverhält-
nisse sich nun allem Anscheine nach verändern , einen Zerfall der ihn
zusammensetzenden Zellen, indem sich dieselben in eine fein granulirte
Masse auflösen , die sich dann allmählich ^terflüssigt. Auf diese Weise
kommt ein mit Flüssigkeit erfüllter Ganal zu Stande, der sich schliess-
lich nach aussen öfinet, indem die hier ihrer Matrix noch aufliegende,
wenig derbe Cutieula resorbirt wird. Im Lumen des Ganais , der die
Autoren veranlasste, das kugelförmige Organ als Micropyle zu be-
trachten, bildet sich jetzt ebenfalls eine Cuticula, gleichsam eine Fort-
setzung der Larvenhaut darstellend, welche letztere um 4.en Rand der so
entstandenen Oeffnung eine wulstige Verdickung erfährt. Wahrscheifl»^
lieh entsteht dieser verdickte Rand aus dem in dem Canaii cMialtenen
i) a. a. 0. '» 'J *• '
96 £mil fiesseU,
Plasma, das beim sich Oeffnen desselben hervorquillt und hier ei bdrlet.
. Nicht selten bildet sich ein zapfenartig^s Gebilde an der nach aussen
gerichteten Oeffnung, dessen Entstehung sieh auf dieselbe Weise er-
klären lässt. Das nach aussen gerichtete Ende des Zapfens variirt
ungemein in seinem Verhalten. Bald ist dasselbe biscuitartig gestaltet,
von zwei oder mehreren Ocßhungen durchsetzt, bald bildet es eine
schmale, kaum zu gewahrende Drücke über die Oeflhung des Canals,
oder endlich besitzt es eine unregelmässig kugelige Form.
Häufig bildet sich gar kein Canal, sondern es entsteht auf der
ganzen in den Embryo ragenden Oberfläche des Gebildes eine Cuticula,
worauf sich dann die im Innern befit'.dliche Zellmasse in eine fein
granulirte Substanz auflöst.
Ein anderer Fall, der eintreten kann, ist der, dass jedd der das
Organ constituirenden Zellen eine dicke Membran abscheidet. SpStor
diffiindirt der Zellinhalt durch die Wandung der Zellen, und die leeren,
etwas geschrumpften Zellmembranen sind dann in das ausgetretene
Plasma eingebettet. Beim ersten Anblick macht dann das Organ den
Eindruck des reticulären Bindegewebes. (Dieser Fall wurde mehrmals
bei Gammarus locusta beobachtet.)
Kurze Zeit ehe der Embryo das Ei verlässt , obliterirt das ganze
Organ. Indess sieht man nicht seilen ausgeschlüpfte Thierchen, bei
welchen dasselbe noch sichtbar ist.
Es ist hier am Platze, noch eine weitere Frage zu berühren.
LA Valbtte behauptet, das kugelförmige Organ rage ins Herz des
Embryo. ^) Ich muss gestehen , dass ich mich hiervon nicht zu über-
zeugen vermochte. Sicherlich ruht das Organ nur auf der oberen
Wandung des Herzens. Einmal konnte ich dies mit aller Bestimmtheit
beobachten, indem dasselbe durch die Pulsation des Herzschlauchs be-
ständig aus seiner Lage verschoben wurde.
Wie wir am Schlüsse zeigen werden, sprechen zwei Gebilde
mit aller Entschiedenheit dafür, dass die Amphipoden eine bedeu-
tende Geschichte hinter sich haben. Es sind dies die Larven-
haut und das kugelförmige Organ.
Die Larvenhaut entspricht morphologisch einem Embryo: dem
Nauplius , von welchem hier nur noch eine Cuticula als einziger Rest
übrig geblieben ist. Indess geht die Verkümmerung nicht überall so
NN cit, sondern die Larvenhaut zeigt dann und wann bei den Crustaceen
4) a. a 0.
Riaige Worte über Eutwickelungsgesoliiehte und morphoiogischeu Werth etc. 97
Doch zellige Struciuren , was Dohrn beispielsweise von derjenigen des
Oniscus murarius anführt. ^)
Id weit höherem Grade ist dies bei dem sogenannten Dinsecten-
amnion« der Fall, welches wir als Homologon der Larvenhaut auf-
fassen müssen. ^) Nebenbei sei bemerkt, dass das Wort Amnion so
ungltLcklich gewählt ist, als nur irgend denkbar. Glücklicherweise
sind wir jetzt der Zeit entronnen, da man bemüht war, Homologien
zwischen den Vertebraten und Arthropoden herauszuklauben. Ich
möchte mir hier erlauben, statt dieses Wortes ein anderes vorzu-
schlagen, an welches steh kein so bestimmter Begriff knüpft. Es dürfte
wohl besser sein^ dals Gebilde Vorschichte zu nennen; wenigstens
führt diese Bezeichnung zu keinerlei Begriffsverwirrung.
Ich habe diese Yorschichte bei verschiedenen Insectenfamilien
au%i»fonden, deren Embryologie bis jetzt noch im Dunkeln liegt.
Unter den Schmetterlingen stiess ich auf höchst eigenthümliche Ver-
hältnisse bei einer Pyralide, deren Name uns hier weiter nicht in-
teressirt. Hier bildet sich ein regelrechtes Blastoderm , das aber nicht
dem Embryo Ursprung giebt, sondern sich sehr bald vom Dotter
cmancipirt, um eine vollständig geschlossene Hülle um den später in
4) Die embryonale Entwickelung des Asellus aquaticos in Zeitschr. f. wissensch.
Zoologie. Bd. XVII. p. 276.
2) Diese Ansicht sprach ich schon auf der 41. Versammlang deutscher
Naturforseher und Aerzte zu Frankfurt a. M. aus.. Leider ist aber in
dem etwas ungeniessbaren ProtocoU hierüber Nichts erwähnt. Auch finden sich
dort noch andere Irrthünier, neben den sinnstörendsten Versetzungen.
Ich versuchte damals einige Erklärungen über die Abstammung der Insecten
zugeben, indem ich einen Vortrag anzeigte : »Der Insectenflügel und sein
Homologon.« Beim Einzeichnen in die Liste hatte ich diese Anzeige anfangs
unter anderem Titel eingeschrieben, nachträglich aber abgeändert. Wie mir scheint,
wurde dadurch die Schrift etwas undeutlich — woran ich freilich selbst die Schuld
trage — und der Setzer schrieb Analogen statt Homologon, welcher Fehler am
nächsten Tage mit in das ProtocoU überging. Da ich meine Mittheiluug in der
letzten Sitzung gemacht hatte, war es mir nicht mehr vergönnt, die Correctur zu
sehen ; erst als die betreffende Nummer schon gedruckt war , bemerkte ich den
Fehler, aufweichen ich meinen Freund Seidlitz sogleich aufmerksam machte, der
sich dessen , beim Lesen dieser Zeilen , wohl erinnern wird.
Das ProtocoU lautet :
»Dr. Bbssels spricht sich dahin aus, dass ihm die Insecten aus den Crustaceen
hervorgegangen zu sein scheinen , dass das Flugvermögen ein erworbenes sei und
macht auf das Analogen (statt Homologie 1] zwischen Flügel und Kieme, aus wel-
cher sich ersteres entwickelt, aufmerksam. Weiter erwähnt er, dass die Existenz
der Insecten während der Silurzeit unmöglich gewesen sein müsse — diese Ansicht
habe ich aufgegeben — «und dass sie sich in einem Zeiträume, der zwischen Silur
und Steinkohle (also wahrscheinlich Devon) liegt, entwickeln.«
Bd. V. 1. 7
98 ^viW Bpssels,
ihm durch MetageDesis entstehenden Embryo darzustellen, dann aber,
noch ehe die Raupe vollständig entwickelt ist, wieder resorbiit wird.
Ein ähnliches Gebilde fand Wsishann (nach einer brieflichen Mittheilung
an Mbgknikow) bei der Biene. ^) Ich' habe mich von der Richtigkeit der
Beobachtung unseres trefflichen Forschers überzeugt. Die von mir
aufgefundene Vorschichte ist von der WBisMANN^schen etwas verschieden.
Ich kann Megknikow durchaus nicht beistimmen, wenn er sagt, dass
sein »Insectenamnion« und die von Wbisma^n entdeckte Embryonalhüile
»zwei ganz verschiedene Gebilde darstellena, ') Sicherlich sind diese
zwei Gebilde vollkommen identisch! Bei «inem anderen Schmet-
terling entdeckte ich eine Zwischenform, die beide» aufs Schönste ver-
bindet.
Eine sich äusserst eigenthttmlich verhaltende EmbryonaUUlUe fand
ich bei einigen Ataxarten aus Unio und Anodonta. Ein solches Gebilde
war bis jetzt bei den Milben noch nicht bekannt. Bei oberflächlicher
Betrachtung könnte man versucht sein, genannte Hülle, die cuticularer
Natur ist, für eine Membran zu halten, in welche in unregelmässigen,
grossen Abständen Zellen eingelagert sind. Beobachtet man aber län-
gere Zeit , so wird man finden , dass diese Zellen nur an der Innen-
fläche der Membran kleben und die schönsten amöboiden Bewegungen
zeigen. Die Entwickelungsgeschichte zeigt uns, dass diese zeUigen
Elemente Blutkörperchen sind (und zwar von ganz gesetzwidriger
Abstammung) , worüber ich bei der Embryologie einiger Milben Mit-
theilung zu machen gedenke. Endlich sah ich noch eine Embryonal-
hülle bei gelben, runden Spinneneiern unbekannten Ursprungs, die ich
im Monat Juni unter Moos sammelte.
Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, nach Erfahrungen, die
ich bisher über die Vorschichte gemacht, dass man im Laufe der
Zeit, wenn man die Embryologie von mehr Insectenfamilien kennt,
als dies bisher der Fall ist, solche Vorschichten finden wird, an welchen
vorübergehende Spuren von Extremitäten oder anderen
Organen auftreten: Dann wird sich wohl ein helleres Licht über
das so überaus interessante Gebilde verbreiten.
Aber bis dahin wollen wir einstweilen wieder zu unserem kugel-
förmigen Organe zurückkehren, das wir etwas aus den Augen ge-
lassen.
Bei Betrachtung desselben, müssen wir uns, wie bei der aller
übrigen Organe , zwei Fragen vorlegen :
4) Zeitschrirt für ^issf^aschaftliche Zoologie. Bd. XVI. p. 490.
2) a. a. 0.
Einigt Woric aiwc F.ntwickeliiiigiiinBehielile iind moFptioIciKisnlieii Werth elc 9!)
Ist daäselbe ledigÜdi desh.ilh vorhanden, ncil es von ikn Vof-
fahreo sof die Nachkommen vorerbt wurde? Oder ist es aucl» noch
deshalb da, weil es nolhwendig ist für die Existenz des Indi-
vidnums?
Ist das Letztere der Fall, so wird durch den Kampf ums Dasein
immer nur eine, und ewar die hücbstc Knlwicketungsform des Organs
übrig bleiben. Öas muss dahin führen, dass die individuelle Variation
in tnUgliiAst enge Grenzen gebannt wird. Umgekehrt, wo das Organ
Rieht mehr gebraucht wird, wo es von keiner Wichtigkeit für die
Existenz des Thieresaiehr ist, hat die individuelle Variation grUsseren
Spiel r&mn.
Doss nnsw Organ grosse individuelle Variationen zeigt, hdMn wir
bereits frnber gesagt : schon das deutet daranf hin , dass hier nur die
Vererbung wirksam sein kann.
Es fragt sich nun weiter, ob es auch den Charakter eines ver-
kUmmerten Organes trägt?
Um das CesUustellen , müssen wir uns bei andt^ren Crustaceen
uiDsehren, ob nicht bei ihnen an der gleieben Stelle des KOrpers ein
Organ von häherer AusbiMung vorkommt- und das finden wir
bei den Zofinformen verschiedener Krebse als BUcken-
stacbel (vergl. Fig. t).
Flg. < .
r,^. 1
Halten wir das fest, so mUssen wir uns weiter fragen: Warum
verkümmerte das Organ ?
OSenbar kann es nur dann vorkUmmem wenn es ftir den Kampf,
100 ^<Dil Bessels,
ums Dasein werthlos wird. ^) Solcher Umstände sind mehrere
denkbar.
\ . Geringere Anzahl von Feinden.
2. Grössere Fruchtbarkeit, wobei die Verheerung seitens der Feinde
weniger ins Gewicht fi&Ut.
3. Eine Lebensweise , welche das Individuum vor der Nachstellung
der Feinde in höherem Grade sichert.
Bei den Amphipoden liegt offenbar der letztere Fall vor , indem
die Jungen, sofort nach dem Verlassen der Bruttasche des Hutterthieres,
geschützt ihr Leben zubringen. Die Süsswasserformen leben unter
Steinen oder zwischen Laub, die Meeresbewohner setzen sich an See-
tang fest, mit welchem sie sich oft auf hoher See treiben lassen,
klammern sich vorübergehend an Fische , verfertigen sich' Gehäuse,
stecken in Steinritzen u. s. w.
Durch Vorstehendes wäre nun die Entwickelungsgeschichte der
Amphipoden in Verbindung gebracht mit der anderer Crustaceen , bei
welchen noch heutigen Tages eine doppelte Metamorphose vor-
kommt.
In diesem Falle haben wir es mit 2 aufeinander folgenden Ab-
hebungen von Zellenlagen zu thun.
\ . mit der Abhebung der Zoöa vom Nauplius,
2. mit der des definitiven Crustaceums von der Zoöa.
Bei den Amphipoden findet nur eine derartige Abhebung statt: es
wird sofort das definitive Grustaceum von einer Cuticularschichle und
einem an ihr* haftenden Zellhaufen abgehoben. In diesen zwei letzteren
Gebilden muss offenbar Nauplius und Zoöa enthalten sein : nur dass
sie sich zu keiner Zeit von einander trennen. — Die Gelegenheit dazu
wäre geboten , da das kugelförmige Organ aus mehreren Zellschichten
besteht. — Fragen wir uns nun , warum nur an dieser Stelle ein Rest
früherer Scheidungsvorgänge sich erhalten hat, so ist der Grund ein-
fach der : Es ist eine Folge der ursprünglich dort etablirten Tendenz
zur Zellvermehrung, die in der Entwickelung des ZoSastachels gipfelte.
Ich kann diese Zeilen nicht besser schliessen, als mit den trefflichen
Worten Fritz Höller^s : »Die in der Entwickelungsgeschichte erhaltene
K) Mit Fritz Müller betrachten wir den Stachelfortsatz der Zoöa als eine im
Kampfe ums Dasein erworbene Waffe. Auf dieselbe Weise mnss man die Entstehung
der Stacheln der Raupen auffassen, die z. B. bei einigen afrikanischen Bombyciden,
so mächtig auftreten , wie beim Igel.
Einige Worte Aber Entwickelnngsgesclüchte und morphologischeo Wertk etc. 101
geschichiiiche Urkunde wird allmühlich verwischt, indem die Eni-
Wickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum ferligen Thiere
einscfaUlgt, und sie wird häufig gefälscht durch den Kampf ums Dasein,
dea die freilebenden Larven zu bestehen haben«.
Die Wahrheit dieses Satzes bewiJbrt sich auch bei den Amphi-
{KKlen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir es hier mit einer ab-
gekürzten Entwickelung zu thun haben :
Nauplius- und Zo6astadium sind in das Embryonal-
leben zurückverlegt!
Stuttgart, im November 4 868.
Die synthetische Methode in der Krj^nc^in««!»,
eiiautcrl an den Blallformcn des Rubus Idaeus L.
Von
Dr. W. O. Focke.
Die systematische Botanik der LiNNfi^schen Schule betrachU;te es
als ihre höchste Aufgabe , die Species von einander zu unterscheiden,
und suchte daher auf analytischem Wege die grossen Gruppen ahn-
licher Formen in die componirenden Elemente zu zerlegen. Als diese
Elemente betrachtete man nlimlich die Arten oder Species ; alle Indi-
viduen einer und derselben Species hielt man für gleichwerthig. Bald
bemerkte man indess, dass viele dieser zunächst erkannten Arten aus
einer Reihe verschiedener gut charakterisirter Formenkreise bestehen,
und glaubte nun in diesen letzteren die eigentlichen Arten zu er-
kennen. Allmählich machte dieser Process der Vermehrung der in den
systematischen Werken aufgezählten Species immer weitere Fort-
schritte ; mit Schrecken sahen die Conservativen der alten Schule die
Zahl der Arten nicht etwa durch wirklich neu entdeckte Typen , son-
dern durch Spaltung der »alten guten Species« sich gewaltig vermehren.
Vergebens suchten sie durch manch' wuchtiges Quos ego die unbe-
([uemen Speciesfabrikanten einzuschüchtern, vergebens triumphirtcn
sie, wenn einmal eine neu aufgestellte Species bei näherer Prüfung als
unbeständige Form erkannt wurde. — Die Zahl der Arten wuchs trotz-
dem von Jahr zu Jahr mächtig an , und es stellte sich in immer mehr
Fällen heraus, dass nicht allein der Ehrgeiz der Botaniker, sondern
wirklich die Natur selbst die »neuen« Arten geschaffen zu haben schien.
Gegenwärtig gehen nun mehrere Richtungen in der systematischen
Botanik neben einander her: die eine analysirt weiter und sucht
innerhalb der umfassenderen Typen neue Arten zu unterscheiden,
eine andere will dagegen die durch gar zu minutiöse Unterschiede ge-
Die synthetische Methode iu der Systematik. 103
trennten Arten nicht anerkennen, sondern subsiunirt sie als Varie-
täten, Unterarten oder Rassen unter die alten bewährten Speciesnamen.
Es ist neuerdings nicht ohne Erfolg der Versuch gemacht , beide Auf-
fassangsweisen zu oombiniren. Man lässt den Racen oder Unterarten
die Nomendatur , auf welche sie als selbständige Species Anspruch
haben wttrden, vereinigt aber die enger zusammengehörigen unter
einem Speciesnamen höherer Ordnung. Die Stieleiche , die Trauben-
eidie nnd die flaumblättrige Eiche bilden z. B. drei wohlcharakterisirte
Subspecies, welche gemeinschaftlich den Typus der Quercus Robur L.
darstellen. Für den unbefangenen Beobachter, welcher den alten
Speciesbegriff nicht als den Eckstein der systematischen Wissenschaft
verehrt, ist die Frage nach den Abgrenzungen, welche man zwischen
Arten und Unterarten vornimmt, ziemlich gleichgültig. Ob unsere
Nachkommen dermaleinst in ihren systematischen Werken eine Viertel-
uiillion oder eine Million oder auch 5 oder 4 0 Millionen Pflanzenarten
aufzählen werden, ist für die Wissenschaft wirklich ganz gleich-
gültig. Es handelt sich bei den vielen kindischen Streitigkeiten über
das sogenannte »Artrecht« einer Pflanzenform in Wirklichkeit nur
darum , die beste Methode zu finden , wie sich die Formenkreisc am
Übersichtlichsten ordnen und wie sich ihre verwandtschaftlichen Be-
ziehungen am einfachsten darstellen und zum Bewusstsein bringen
lassen.
Neben der Analyse del* verschiedenen natürlichen Pfianzengruppen
ging stets ein synthetisches Verfahren einher. Indem man die Species
als Einheit, gleichsam als eine ideelle Individualität auffasste, ordnete
man sie nach gewissen übereinstimmenden Merkmalen im Bau der
Bittthc und der Frucht in Gattungen ein. Niemand zweifelte daran,
dass diese Gattungen zum Theil völlig künstlich und willkürlich seien.
Für die weitere übersichtliche Ordnung der Gattungen construirte Linn«
sein bekanntes Sexualsystem, dessen Classen grosscntheils sehr
heterogene Gewächse voreinigten. Als man nun natürlichere Gruppen
zu bilden versuchte, als Jussuu und D£ Candollb die Grundzüge einer
auf den wirklichen Verwandtschaftsverhältnissen der Gewächse basirten
Ueborsicht des Pflanzenreiches entworfen hatten , da dachte man wohl
mitunter ernstlich an die Bildung natürlicher Gattungen, entsehloss
sieb aber im Allgemeinen sehr selten dazu , dieselben nach andern als
den hergebrachten Principien zu umgrenzen. Im Allgemeinen ist es
gewiss räthlich, vorläufig keine zu grossen Aenderungen in der Auf-
fassung der Gattungen vorzunehmen. Erst wenn sämmtliche wich-
tigeren vorhandenen Formen bekannt sind , wird es in vielen Füllen
möglich sein, zu entscheiden, wo sich eine natürliche Kluft zwischen
1 04 I^r* ^* 0. Forke,
den verschiedenen Formenkreisen findet, die man zur Abgrenzung des
Genus benulzen kann.
Bekanntlich herrscht unter den Botanikern der Gegenwart ein
leidliches Einvernehmen in Betreff der meisten Gattungen und Familien,
welche sie annehmen. Auch die weitere Gruppirung der Familien zu
höhereu Classen ist bei den Cryptogämen und Gymnospermen , zum
Thcil selbst bei den Monocotyledonen , nicht besonders schwierig ; bei
den Dicotyledonen ist noch kein consequent durchführbares natttrliches
Eintheilungsprincip gefunden. Der Grund davon liegt höchst wahr-
scheinlich darin, dass bei den niederen Pflanzen bereits viel mehr
Mittelglieder in der gegenwärtigen geologischen Epoche völlig aus-
gefallen sind, als bei den Dicotyledonen, unter welchen sich zahlreiche
Zweige zum Theil in analoger Richtung fortzubilden streben. Wenn
man nun auch ohne Zweifel bereits eine ganze Reihe natürlicher Gat-
tungen , Familien und Classen richtig erkannt und umgrenzt hat, so
ist doch eine wahrhaft wissenschaftliche Begründung eines natürlichen
Systems in der Botanik erst dann möglich, wenn vermittelst des
synthetischen Verfahrens die wirkliche Zusammengehörigkeit und Ver-
wandtschaft der verschiedenen Typen einer Gattung und der verschie-
denen Genera einer Familie nachgewiesen ist. Alle Arten einer natür-
lichen Gattung sind Modificationen eines und desselben Urtypus,
welcher sich in concreter Gestalt nicht mehr reconstruiren lässt. Wohl
aber ist es möglich, die Bildungsgesetze kennen zu lernen, unter deren
Einflüsse die verschiedenen Formen entstanden. Bei sUmmtlichen Arten
einer Gattung müssen sich in allen Organen die wirklich vorhandenen
Gestalten auf die gleichen biegsamen Grundformen eines Urtypus
zurückführen lassen. Ausserordentlich lehrreich ist es nun, die
Wandelbarkeit der Formen innerhalb der Grenzen einer einzelnen
Art zu untersuchen. Man wird häufig finden , dass die wirklich vor-
kommenden Variationen grösser sind, als die Unterschiede zwischen
den Normaltypen differenter Species einer und derselben Artengruppe.
Ein Beispiel wird dies am besten klar machen , während andererseits
die wissenschaftliche Bedeutung der Untersuchung des zu besprechen-
den concreten Falles durch die vorstehenden Betrachtungen hervor-
gehoben worden ist.
Die Gattung Rubus ist eine ziemlich umfangreiche. Sie um-
schliesst Formen mit holzigem und solche mit krautigem Stamm,
mit ungetheilten, gelappten, gefingerten und fussförmig
geschnittenen Blättern, mit eingeschlechtigen und zwitte-
rigen, mit kronenlosen und grosskronigen Blüthen, mit krug-
förmigen und radförmigen Kelchen, mit zahlreichen und
Die synihetische Nettiode in der Systematik. )05
wenigen Sleoipeln, mit saftigen und safllosen Früchten u. s. w.
Würde eine Anzahl von intermediären Arien ausfallen , so würde die
(vattung bequem in mehrere sehr natürliche kleine Genera zerlegt wer-
den können. Bia zum Jahre 48^6 erschien eine ganze Reihe von Dar-
stellungen der Gattung Rubus namentlich in den grossen systematischen
Werken; das seitdem angesammelte Material harrt aber noch einer
wissenscbaftlicben Bearbeitung. Jene früheren Uebersichten der Rubi
summen meistens in den wesentlidisten Eintheilungsprincipien über-
ein: man unterschied krautige und strauchige Formen, unter
beiden dann wieder solche mit einfachen und solche mit zu-
sammengesetzten Blättern. Unter den strauchigen Arten mit
!:etheilter Blattfläche pflegte man dann die fingerblätterigen und
die ficd er blätterigen Typen zu unterscheiden. Es würde zu weit
rubren, das Ungenügende einer solchen ^lintheilung auseinander zu
setzen, aber es muss anerkannt werden, dass einige natürliche Gruppen
l)ei derselben ziemlich deutlich hervortreten. Man wird sich überhaupt
so lange an dieselbe anlehnen müssen , als man Blüthen und Früchte
\ ieler Arten noch nicht genau genug kennt.
Bei der Mannigfaltigkeit der Blattformen, welche die Gattung
Rubus umfasst, dürfte es zunächst von Interesse sein, den Zusammen-
hang derselben untereinander nachzuweisen.
Die Grundform des Rubusblattes ist die eiförmige, mit ge-
raden, randläufigen, unter einem Winkel von 45^ ab-
gehenden Secundärnerven, von denen die unteren Paare
verästelt sind. Diese Form findet sich insbesondere an den Keim-
pflanzen der Rubi.
Wenn sich ein solches Blatt weiter entwickeln und gliedern soll,
so sind mehrere Wege möglich , nämlich 1 ) Verlängerung des Mittel-
nerven, 2) Verstärkung und Verlängerung der Secundärnerven, 3) Ver-
grösserung der Winkel, unter denen sich die Secundärnerven ab-
zweigen.
Bei einer einfachen Verlängerung des Mittelnerven rücken die
Secundärnerven weiter auseinander, bis endlich eine Theilung der
Blattsubstanz zwischen den Secundärnerven zu Stande konunt. Das
Blatt kann nun auf der Stufe des fiederschnittigen stehen bleiben,
in der Regel wird aber die Sonderung der zu jedem Secundärnerven
gehörigen Blattflächen bei den Rubusarten leicht eine vollständige , so
dass gefiederte Blätter entstehen, welche den Rosenblättern ähnlich
sind. Solche gefiederte Blätter finden sich vorzüglidi bei einer Reihe
von Rubusarten , welche in den Ländern heimisch sind , die den in-
dischen Ocean umgeben.
\m Df . W. 0. Foeke,
Ganz anders ontwickeU sich das Blatl , ^weon jene Anlage , iwelcho
durch Verästelung des unteren Secundärnervenpaares bei der Grund-
form angedeutet isl, zu weiterer Ausbildung gelangt. Das untere
Socundärnervenpaar erhält dann den Raum seitlicher Hauptnerven , so
dass das Blatt strahlnervig wird. Die weitere Ausbildung dieses
strahlnervigen Typus führt zur Entstehung 5strahliger und 7strahliger
Blätter. Da die Seitenstrahlen des strahlnervigen Blattes sämmtHch aus
verstärkten Secundärnerven hervorgegangen sind, also ur^rQnglicb
Winkel von 45<^ zu einander bilden, so kann die Zahl der Hauptnerven
des strahlnervigen Rubusblattes niemals 7 überschreiten; denn 8
Strahlen würden schon den Kreis sohliessen.
Das einfache strahlnervige Rubusblatt ist nun zunächst halb-
kreisrund oder fast kreisrund mit einem Ausschnitt, der den
Blattstiel aufnimmt, oder es ist mehr oder weniger gelappt. Derartige
Blätter finden sich bei sehr vielen R üb us arten. Wird die Theilung
der Blattfläche vollständig, so dass jeder Hauptnerv einem isolirtcn
Blättchen entspricht, so entsteht das Fache rblatt, welches aus un-
gestielten, strahlig (fingcrig) gestellten Blättchen besteht. Dieser Blatt-
lypus scheint in der Gattung Rubus nur auf den Sundainseln vertreten
zu sein. Seine Entstehung aus dem einfachen, strahlnervigen Blatte
lässt sieh vielleicht auf eine Tendenz zur Vergrösserung der Neigungs-
winkel zwischen den Nerven zurückführen.
Ungleich häufiger kommt bei dem strahlnervigen Blatte eine Ver-
längerung des Mittelnerven neben einer Tendenz zur Vergrösserung
der Neigungswinkel der Hauptnerven vor. Beide Processe begünstigen
die Theilung der Blattfläche. Es entsteht aus dem 3strahligen Blatte
zunächst das 3zählige mit langgestieltem Mittelblättchen.
Genau dieselbe Form entsteht als Uebergangsstufe vom einfachen zum
gefiederten Blatte , sie kommt daher sehr häufig in der Gattung Rubus
vor. Bei der freien Bewegliefakeit isdirterBiätlchen beträgt der Winkel,
in den sich die Blättchen stellen, gewöhnlich 90^; er kann bei der
Tendenz nach möglichster Ausbreitung noch grösser (bis 180^) werden,
sobald der Blattstiel nicht in der Ebene der Blattfläche liegt. Ausser
dem 3zdbligen kommt auch das 5zahlige gefingerte Blatt mit gestieltem
Endbiättchen häufig in der Gattung Rubus vor, die Blättchen stellen
sich in Wt&kehi von 60<^ (resp. bis 7%^) zu einander. Da ohne Ver-
grösserung des ur^rüngltchen normalen Neigungswinkels (45<^) kaum
eine Theilung der Blattfläclie bei den Rubusarten vorkommen dürfte,
so ist es auch nicht wahrscheinlich, dass es gefingerte Blätter in dieser
Gattung giebt, welche mehr als 5 Blättchen haben. Beim Vorhanden-
Die synthetische Metbede in der Systematik. ] 07
sein von 7 Blälichen wttrde keine Yergröfisening jenes Winkels sUiU
finden.
Eine Cofflbinaiion des gefingerten und gefiederten Typus findet
sich bei einigen Rubusaiien nicht selten; das langgesiielte End-
hlailchen des 5fingerigen Blattes iM dann 3zKhlig.
Vergleichen wir nun die beschriebenen Hauptformen des Rubus-
iilat4es mit denen, die wirklich an einer einzelnen Art vorkommen.
Wir wählen dazu die gewöhnliche Himbeere , Rübus Idaeus L. Der
normale Entwickelungsgang der BUitter dieser bekannten Pflanze ist
folgender.
Aus den ersten Blättern der Keimpflanze, welche dem Grund-
typus des ftubusblattes entsprechen, entwickelt sich zunilchst das
3zäblige Blatt mit langgestieltem Endblüttchen, daraus
das gefiedert ozäfalige, daraus das Tzählige mit gemischtem
gefingert- gefiedertem Typus. Ausnahmsweise findet man
aber auch einzelne einfach 5fingerige und noch seltener rein
^cfiedert-7zählige Blätter. Somit sehen wir die Blattformen des
U. Idaeus L. zwischen dem gefiederten und gefingerten Typus schwan-
ken ; bald überwiegt die Tendenz zum einen , bald zum andern. Bei
vielen analogen Arten sind die Blatiformen freier in einer oder der
andern Richtung entwickelt, so dass z. B. einige nächst verwandte
amerikanische Arten gefingerte, die asiatischen dagegen gefie-
derte Blätter haben; die Verwandtschaft dieser Typen wird somit
durch unsern europäischen R. Idaeus L. vermittelt.
Die angeführten Blattformen finden sich sämmtlich bei dem
Normaltypus des Rubus Idaeus L. ; es giebt indess eine eigen thümliche
Modtfication desselben, welche wir mit Babington R. Leesii nennen
wollen , und wekfae sich einzig und allein in den Blättern vom nor-
malen R. Idaeus L. unterscheidet. Die Blätter des R. Leesii am Blüthcn^
zweig und am Grunde des Schüsslittgs sind in der Regd fast kreis-
rund mit einem Ausschnitt für den Blattstiel, meistens ungetheilt,
zuweilen gelappt. Die späteren Schö8slingd[>lätter sind 3zählig, mit
sitseodem oder sehr kurz gestieltem EndUättohen. Der R. Leesii zeigt
in diesen Blattformen eine unverkennbare Annäherung an die strahl-'
nervigen Blätter mit ungetheilter Blattfläcbe. Er unterscheidet sich
von denselben durch die entschieden hervortretende Tendenz aur Ver-
grösserung der Neigungswinkel der seitKcben Strahlnerven. Während
bei dem normalen Rubus Idaeus L. das Blatt sich in allen drei Rich^
tungen entwickelt, durch Verlängerung des Mittelnerven , durch Ads-
biklung der seitlichen Sirabinerven und durch VorgrOsserung des
Neigungswinkels derselben, ist bei R. Leesii Bebingi« die eine dieser
108 Dr. W. 0. Focke,
Tendenzen, nämlich die zur Verlängerung des Miiielnerven , völlig
verschwunden. Somit nähert sich die Blattform des R. Leesii Bab.
derjenigen , welche weit entfernten Verwandten des R. Idaeus L. zu-
kommt , allein sie behält doch in der Tendenz zur Vergrösserung der
Neigungswinkel ihrer Nerven ein deutliches Merkmal ihres Ursprungs
aus einem besonderen Typus. Es handelt sich somit um eine Art von
RttdLSchlag, der die Urform nachahmt, aber doch das besondere Ge-
präge, welches ihm durch eine lange Reihe von Vorfahren vererbt iisl,
nicht völlig verschwinden lässt.
Die Betrachtung der Blattformen, welche bei R. Idaeus L. vor-
kommen , weist somit auf einen bestimmten Zusammenhang mit zahl-
reichen anderen Rubusarten hin, allein dieser Zusammenhang lässt
sich auch bei Untersuchung anderer Theile nachweisen. Man unter-
scheidet, wie vorhin erwähnt, die zwei Hauptgruppen der krautige»
und der strauchigen Rubi. Die krautigen Arten treiben beblätterte
Blttthenzweige aus dem Rhizom, die strauchigen aus einem zwei-
jährigen oder perennirenden Stengel. Bei R. Idaeus L. entwickeln sie
sich in der Regel aus dem Stamm, mitunter aber auch aus dem
Rhizom, so dass die Pflanze also gelegentlich in die Gruppe der krau-
tigen Species hinüberspielt. Femer kommen innerhalb der Gattung
Rubusarten mit schwarzen , mit rothen und mit gelben Früchten vor.
Die Früchte von R. Idaeus L. sind in der Regel roth, doch giebt es
bekanntlich eine gelbfrttchtige Varietät, die häufig cultivirt wird.
Nach Arbheniüs ist aber auch eine schwarzfrüchtige Abänderung in
Schweden beobachtet, so dass bei dieser einen Art alle 3 Farben vor-
kommen.
Es nähert sich der Rubus Idaeus L. also in seinen gelegentlichen
Abänderungen bald der einen , bald der andern näher oder entfernter
verwandten Art. Durch die sorgfältige Beachtung dieser Modificationen
vermag man die wahren Beziehungen zwischen den verschiedenen
Arten einer und derselben Gruppe kennen zu lernen , und man wird
nothwendig dahin gelangen , jeden Normaltypus der einzelnen Art nur
als eine bestimmtere Erscheinungsform des Gattungstypus aufzufassen.
Die Formenkreise der einzelnen Arten liefern durch Synthese den
Formenkreis der Gattung. Das Wesen der Gattung besteht aber nicht
darin , dass alle Arten derselben im Bau des Kelches und der Frucht
übereinstimmen, sondern darin, dass in allen Organismen, welche
einer Gattung angehören , dieselben Bildungsgesetze walten , so dass
diese auf einen gemeinsamen Ursprung aller einzelnen Individuen hin-
weisen. Nur durch Induction und Synthese lässt sich die Idee der Art
aus den Individuen , die Idee der Gattung aus dcr*Artidee herleiten,
Die synthetische Methode in der Systematik. 1 09
and diese Ideen werden von den Forschern nur dann klar und richtig
aufgefasst, wenn sie genau der Schöpfungsgeschichte der betreffenden
Arten und Gattungen entsprechen. Der Artbegriff ist ein anderer
Ausdruck für die historische Entwicklung der Art nach Inhalt und
Form; die Idee eines Organismus ist seine und seiner Vorfahren
Geschichte.
lieber eine sich Anreh VererbuHg fortpflanzeHde Asyametrie
des menschiieheH Skeiets.
Von
Prof. P. Harting
in Utrecht.
Es ist längst bekannt, dass der rechte Ann gewöhnlich den linken
in Umfang übertrifft. Dieser Unterschied wird ohne Zweifel ganz
richtig erklärt durch den grösseren Gebrauch des rechten Arms bei
den meisten Personen. Wirklich finde ich denn auch bei solchen , die
gewohnt sind, ihren linken Arm am meisten zu benutzen, gerade das
Gegentheil. Hier ist der linke Arm der dickste.
Die Frage entsteht jetzt: ob diese grössere Dicke des einen Arms
nur den musculösen Theil oder auch den Knochen trifft. Die folgenden
Messungen an einigen Skeletten im hiesigen Museum geben darauf
Antwort.
Umkreis in Millimeter
Männer .
Europöer *
No.
i
8
4
5
6
7
Weilier ^ g
9
Männlicher Neger 4 0
Clavicula.
numerus.
Rad
ius.
Ulna.
d s
d
s
d
s
d s
47
42
84
75
44
44
45
44
40
38
69
65
88
34
36
40
40
38
73
72
48
44
44
39
40
37
84
80
42
40
87
36
33
33
75
72
39
39
78
70
89
39
84
84
44
43
42
42
33
33
68
64
35
34
36
35
82
34
58
56
44
44
67
65
46
4^
39
39
Debcr eine sieh durch Vererbung fortpflaozeode Asymmetrie 4^8 meuschl. SIeletg. 1 1 ]
Da diese Messungen immer an genau correspondirenden Puncien
der rechten {d) und der linken {$) Knochen gethan sind, so sind sie
unter sich vergleichbar. Bei No. 5, 6 und 9 könnten der Radius und
die Ulna nicht" gemessen werden, wegen der Gegenwart des Liga-
mentum interosseum.
Es folgt aus diesen Messungen, dass in der Regel bei europaischen
Männern und Frauen, am meisten aber bei erstem, die Knochen am
rechten Arm etwas dicker sind als am linken. Das einzige Skelet des
Negers zeigte fast gar keinen Unterschied.
Diese Differenz zwischen den beiden Armen wird noch äugen -
fälliger, wenn man die Knochen wägt, statt sie zu messen. Die
folgenden Wägungen betreffen No. 4 der vorigen Tabelle.
Gewicht in
Grammen.
d
S
Scapula
68,98
66,45
Glavicula
24,34
23,80
Humerus
4 55,32
U4,30
Radius
54,45
48,93
Ulna
57,26
53,05
357,29
336,53
Das Yerhältniss zwischen dem Gesammtgewichte der Knochen dos
rechten und des linken Arms (ohne die Handknochenj ist 106,2 : 400.
Eine zweite Frage bot sich jetzt dar: ist diese Asymmetrie des
Skelettes erst nach der Geburt entstanden, oder ist sie erblich?
Schon seit vielen Jahrhunderten wird der rechte Arm von den
Europäern mehr in Gebrauch gezogen als der linke. Das Wort d e x -
ieritas in der lateinischen Sprache zeugt für das Alter dieser Ge-
wohnheit.
Bei 42 neugeborenen Kindern wurden in der Entbindungsanstalt
auf meine Veranlassung vom Candidat Herrn Bontin die Ober- und
Unterarme gemessen. Die Resultate dieser Messungen zeigten aber
keinen deutlichen Unterschied im Umkreise der beiden Arme. Die
Mittelzahlen sind fast genau gleich.
Die Messungen des Humerus und des Radius an drei Skeletten
von Neugeborenen zeigten wohl eine Differenz , welche aber zu klein
war, um daraus mit Sicherheit einen Schluss zu ziehen. Auch hier
zeigte sich das Wagen besser als das Messen. Von zwei dieser Ske-
lete wurden die vorderen Extremitäten , mit Einschluss der Clavic|ila
und Scapula, gelöst, soi^(ältig gereinigt, dann getrocknet und gewogen.
Ihr Gewicht war :
112 Prof. P. Harting, Ueber eine sich dnrcb Vererbtiii^; Tortpflanzende Asymmetrie ete.
Fechter
linker
No. 4
4 0,68 Gram.
4 0,14 Gram.
» 2
12,28 »
12,04 »
Es scheint also, dass schon bei der Geburt die Knochen des
rechten Arms etwas schwerer sind , als die des linken , und dass man
Ursache hat, diesen Unterschied als einen vererbten zu betrachten.
lieber PalpafJM der Beekemoi^ane ud aber graphische
NetiruBg de» Resultats derseihea.
Von
B. S. Schultse.
Mit Tafel IV.
Es ist von ziemlich allen Gynäkologen anerkannt, däss die Er-
kenntniss der meisten für die arztliche Diagnose wichtigen Eigen-
schaften der im Becken des Weibes gelegenen Organe weit vollständiger
zu erlangen ist durch das gleichzeitige Tasten von der Yaglna und von
der Bauchwand her (die sogenannte combinirte Untersuchung) , als da-
durch, dass wir nur einzeln zuerst von der Bauchwand aus, dann von
der Vagina aus tasten; und welcher Arzt diese combinirte Unter-
suchungsmethode noch nicht geübt hat , kann sich bei der ersten Pa-
tientin , deren Beckenorgane palpirt werden sollen , von den grossen
Vortheilen dieser Untersuchungsmethode überzeugen.
In einer Recension meiner Arbeit: »Ueber Palpation normaler
Eierstöcke etc.« ^] in British and foreign medical review ^) wurde ver-
misst, dass ich über die zweckmässige Lagerung der Patientin für
combinirte Untersuchung mich nicht eingehend genug ausgesprochen
hatte. Ich hatte das deshalb nicht für nothwendig gehalten , weil in
Deutschland wenigstens die Gynäkologen von Fach die combinirte
Untersuchung seit einer Reihe von Jahren ziemlich allgemein üben und
also die entsprechende Lagerung als bekannt vorausgesetzt werden
konnte; in England scheint es fast, dass erst durch das vortreffliche
Werk von Marion Sims ^) die allgemeine Aufmerksamkeit auf die .Vor-
theile der combinirten Untersuchung gerichtet worden sei. ich will
i) Diese Zeitschrift. Bd. I. 4S64. p. S70.
S) British and foreign medical Review. October 4867.
8) Clinical notes on uterine surgery. By J. llAaioir Sims. London 4866.
B4. V. 1. 8
114 B. S. Scbtiltze,
daher hier Über die Lagerung der Patientin und über die Stellung des
Untersuchenden , wie ich beide für am zweckmässigsten halte , kurz
das folgende bemerken.
Die combinirte Untersuchung kann nur in der Rückenlage der
Patientin und zwar auf einer müssig festen Unterlage, Matratze, Sopha,
Tisch, mit Vortheil vorgenommen werden. Sras zieht einen eigens
dazu construirten Tisch als Unterlage jeder andern vor. Die der P^al-
pation häufig sogleich nachfolgende Application des Speculum in
Seitenlage wird in der That auf dieser Unterlage am besten vor-
genommen und will man die Application des SiMs'schen Speculum so-
gleich folgen lassen, so ist es natürlich vortheilhaft, beide Unter-
suchungen auf demselben Lager vorzunehmen. Nun bedarf es der Er-
wähnung kaum , dass mit Zuziehung der nöthigen Assistenz auch auf
Sopha oder Bett die Application des SiMs'schen Speculum sehr gut
auszuführen ist. Aber erstens nehmen wir häufig die Palpation. vor,
ohne dass wir die Application des Speculum wollen nachfolgen lassen.
Zweitens sind wir deutschen Aerzte, weil die deutschen Frauen viel-
fach einen entschiedenen Widerwillen dagegen haben, zu jeder Unter-
suchung Assistenten zuziehen zu lassen , sehr häufig in der Lage , mit
dem röhrenförmigen Speculum , am besten dem Fbrousson -sehen voll-
komn^en auszukommen , und auch das lässt sich bei der Lagerung auf
Bett oder Sopha sehr gut appliciren. Drittens nehmen wir ja sehr
häufig eine genaue Palpation der Beckenongane vor unter Umständen,
die es vortheilhaft oder nothwendig erscheinen lassen , jede bedeuten-
dere active oder passive Bewegung der Kranken , wie die Placirung auf
ein besonderes Untersuchungslager, zu vermeiden. Aus diesen Grün-
den nehme ich die combinirte Palpation der Beckenorgane verhäHniss-
mässig selten auf dem Tisch, sehr viel häufiger auf dem Bett oder Sopha
vor. Die Lagerung der Patientin muss vor allen Dingen bequem sein,
damit ihre Musculatur erschlaffe. Der Kopf und auch die Schultern
seien massig erhöht , nur selten ist es nöthig , auch den Steiss duroh
eine Unterlage massig zu erhöhen, nämlich nur dann, wenn durch
organische Bildung oder durch nicht zu beseitigende Willkür oder Un-
künde der Patientin die Stellung des Beckens zum Rumpf eine allzu
geneigte ist. Die meisten Patientinnen sind im Stande, auf G^heiss des
Arztes die Genitalöffnung durch Beugung der Lendenwirbel hinreichend
weit nach vorn und oben zu schieben , um der palpirenden Hand auch
auf vollkommen gerader Unterlage freien Spielraum zu bieten, i) Durch
4) Vergleiche über die Grösse der Bijegsamkeit der unteren Wirbelgelcnke
meinen Aufsatz »Erleichterung der Geburt durch Verminderung der im Becken ge-
gebenen Widerstände« im III. Band dieser Zeitschrift. 4867. p. S73.
üeber Palpiücn der Becktnorgsuie etc. 115
die genanBte willkürliche Stellung des Beckens werden gleichzeiiig die
Ansatiponkte der Bauchmuskeln einander in einer für die Erschlafiung
der Bauchdecken höchst vortheilhaften Weise genähert. Die Ober-
und Unterschenkel der zu Untersuchenden werden massig flectirt ge-
sIeHty so dasa die Fersen etwa auf UnterschenkeUänge vom unteren
Rümpfende entfernt auf dem Lager stehen.
Die Fersen müssen dabei so weil von einander entfernt bleiben,
dass der Arm des Untersuchenden zwischen denselben freien Spiel-
raum hat. In dieser Stellung müssen dann die Rniee einfach durch
vollständige Erschlaffung der Oberschenkelmus<»ilatur auseinander
fiallen.
Bei Untersuchung auf einem Tisch mag der Untersuchende je nach
der HÖh&dbesselben vor den gespreizten Schenkeln der Patientin sitzen
oder stehen ; bei der Untersuchung auf Bett oder Sopha ist die dnzig
richtige Stellung des Untersuchenden die, auf dem Band des Lagers
oder wenn die Patientin ganz am Band des Lagers liegt, auf einem
daneben stehenden dem Lager gleich hohen Sessel neben den Füssen
der Patientin bequem zu sitzen.
Neben dem Bettrand stehend zu untersuchen, wie man es häufig
siebt, nimmt die Musculatur des gesammten Körpers viel zu sehr in
Anspruch , als dass diejenige Feinheit der tastenden Bewegungen mög-
lich wäre, welche allein zu einem genauen Besultat führen kann.
Dass der Gynäkolog amphidexter sein soll, ist eine alte Begel, von
welcher eine Ausnahme zu machen zunächst höchst unbequem ist, weil
nicht jedes Bett von jeder Seite zugänglich ist. Ich zi^e im Allge-
meinen vor, die linke Hand für die Vagina^alpation-zu verwenden,
weil die Finger der linken Hand etwas schlanker zu sein pflegen ;
übrigens habe ich schon früher darauf aufmerksam gemacht, dass nach
dem linken Ovarium und überhaupt gegen die linke Beckenseite hin
erfolgreicher die linke, nach dem rechten Ovarium und der rechten
Beckenseite erfolgreicher die rechte Hand per vaginam tastet; während
die Fingerspitzen der anderen Hand von den Bauohdecken her entgegen
tasten.
In bis dahin unbekannte Genitalien wird man stets nur den
Zeigefinger der untersuchenden Hand einführen. Für den , der massig
schlanke Pinger hat , ergiebl sich dann in der Mehrzahl der FäUe , dass
auch die Einführung des Zeige- und Mittelfingers ohne alle lästige
Spannung geschehen kann, und für das Resultat der Untersuchung er-
wäofafit daraus für viele Fälle ein grosser Vortheil , weniger dadurch,
dass wir mit dem Mittelfinger etwa einen Gtm. weiter tasten , als mit
dem Zeigefinger, sondern mehr noch dadurch, dass zwei
8*
116 B. S. Scboltze,
an auseinanderliegenden Stellen gleichzeitig tastende
Flächen die Lagerung der Beckenorgane zu einander weit
sicherer erkennen lassen, als ein einzelner zuerstida —
hin, dann dorthin tastender Finger. Dieser letztgenannte
Vortheil tritt namentlich dann ganz eklatant hervor, wenn wir die' vier
Fingerspitzen der andern Hand vom Bauch her entgegentasten lassen.
In Betreff ^er für richtige Deutung des Palpirten unerlasslichen
Cautelen kann ich nur auf das verweisen, was ich an der citirten
Stelle über Palpation der normalen Ovarien gesagt habe; ich halte
meine Schüler in Betreff der Technik der Beckenpalpation dann für
ausgelernt, wenn sie unter nicht allzu schwierigen Verhältnissen
normale oder wenig vergrösserte Ovarien genau palpiren können.
Nur ein Httlfsmittel, welches ich dort nicht erwähnt habe, muss
ich als sehr wichtig hier nennen, das ist die Palpation des
Psoas, welche für die gesammte Orientirung im Becken und speciell
für die Tastung der Ovarien die vom Bauch her tastende Hand erfolg-
reich leitet. Bei der vorhin beschriebenen Lage der Kranken ist ihr
Psoas erschlafft und nicht zu palpiren. Man lasse die Patientin den
Schenkel kurze Zeit activ flectiren, während der in der Vagina liegende
Finger in der Richtung zum Eierstock hin , die von aussen tastenden
Finger über die Stelle , wo der Psoas den Beckeneingang begrenzt, ge-
lagert sind. Man fühlt momentan den sich spannenden Bauch des
Psoas, unter dessen nun bereits wieder erschlafftem Innenrand der
normal gelagerte Eierstock den gegeneinander tastenden Fingern nicht
entgehen kann. Der Innenrand des Psoas leitet auch den tastenden
Finger in seinem oberen Theil mit grosser Sicherheit auf die sperma-
tischen Stränge, längs deren Venenplexus nicht allein bei frischen
Puerperalaffectionen wichtige acute Krankheitsprooesse verlaufen, son-
dern längs deren auch bei nachbleibenden chronischen Leiden der
untersuchende Finger diagnostisch wichtige Schwellung und Schmerz-
haftigkeit noch nach Jahren aufzufinden im Stande ist.
Es ist allgemein bekannt, dass die Digitaluntersuchung per
rectum die Digitaluntersuchung per vaginam, wo dieselbe durch
irgend welche Umstände sich verbietet, bis zu einem gewissen
Grade zu ersetzen im Stande ist. Weniger gebräuchlich ist es, in
diesen Fällen auch die Rectumuntersuchung mit der Pal-
pation von der Bauchwand her zu combiniren.. Ich kann
versichern, dass diese Combination unter nicht allzu schwierigen
Umständen ziemlich vollständigen Ersatz für die combinirte Vaginal-
und Abdominaluntersuchung zu geben im Stande ist. Ich habe die-
selbe namentlich in Fällen von narbiger Starrheit und theil weiser
Ueber PalpatioQ der Beekenorgane etc. j| }7
UnzugäDglicbkeit der Vagina oder bei Mangel derselben erfolg-
reich gefunden. Ich erinnere in dieser Beziehung an den Hernia-
pbrodilen Hohmann *) , bei welchem ich durch die combinirte Recto-
Abdominalpalpation die Abwesenheit der Prostata und die Existenz des
ganz rudimentären Uterus, sowie der im Becken gelegenen rudimen-
tären linken Keimdrüse zu constatiren im Stande war.
Ich möchte die combinirte Rccto-Abdominaluntersuchung
auch fttr die Diagnose krankhafter Zustände der männ-
lichen Beckenorgaüe empfehlen, wo dieselbe, so viel mir be-
kannt, nicht angewendet wird. Es ist a priori wahrscheinlich, dass
die combinirte Pdipation der Prostata in vielen Fällen weit ergiebiger
sein wird, als die isolirt vom Rectum aus vorgenommene.
Ich muss schliesslich der combinirten Recto-Yaginal-
untersuchung Erwähnung thun, welche meines Wissens bis dahin
nicht geübt wird , und welche meiner Erfahrung nach für Erkennung
pathologischer Zustände des DouGLAs'schen Raumes Resultate liefert,
welche an Sicherheit die durch isolirte Untersuchung per rectum oder
vaginam gewonnenen weit übertreffen. Wenn man den Zeigefinger
möglichst hoch ins Rectum hinauflegt, reicht man bequem an die obere
Grenze des DouGLAs'schen Raumes und kann daselbst dieDoucLAs'schen
Falten sowohl im normalen , als auch noch viel deutlicher im Zustand
exsudativer Verdickung palpiren; selbstverständlich, dass es auch für
diese Palpation sehr hülfreich ist, den Uterus gleichzeitig vom Bauch
her zu fixiren. Wenn man nun den Daumen der per rectum
untersuchenden Hand über den Damm in die Vagina schiebt, gelingt
es fast ausnahmslos bei gleichzeitig nicht unterbrochener Palpation
mit der andern Hand von aussen den DouGLAs'schen Raum fast in
ganzer Ausdehnung zwischen die Finger zu fassen. Im normalen Zu-
stande palpirt man gewöhnlich nichts als die aneinanderliegenden
Wände des Rectum und der Vagina , aber nicht ganz selten fassen die
Finger eine schnell entschlüpfende Darmschlinge, in andern Fällen liegt
daselbst für die Finger zugänglich ein Ovarium, in noch anderen Fällen
ist es höchst wichtig, daselbst gelegene, peritonäale Exsudate oder
Blutergüsse durch die genannte Art der Untersuchung zu constatiren
und in ihrem Verlauf zu controliren. ^)
i) ViicHOw'8 Archiv. Bd. XUII. 4868. p. 8t9.
2) Dass im DouoLAs'schen Raum , d. h. in demjenigen Theil der Peritoneal-
höhle, welche, abwärts von den DouoLAs'schon Falten gelegen, vom Rectam, dem
hinteren oberen Theil der Vagina und einem kleinen Theil der hinteren Uterus-
l\^ B« S. Sehultie,
Ich habe im Vorausgehenden fast nur von der combiniiien Pal-
pation der Beckenorgane, von der gleichzeitigen Palpation von der
Vagina (oder dem Rectum) und von der Bauchwand her gesprochen ;
es ist wohl kaum nöthig, mich gegen das Missverständniss zu wahren,
als ob ich diese Art der Palpation für die einzig ergiebige in Bezug auf
den Befund der Beckenorgane hielte. Ich würde es im Gegentheii für
sehr einseitig und unzweckmässig erklären mttssen , in irgend einem
Krankheitsfalle die Palpation ausscWiesslich combinirt vorzunehmen.
Die isolirl äussere sowohl , als die isolirt riiDere Untersuchung bieten
jede ihre besonderen Vortheile , liefern jede ihre eigenthttmlichen Re-
sultate, welche sich der Gynäkolog nicht darf entgegen lassen. Ich
nehme fast jedes Mal , ausnahmslos aber bei jeder ersten Untersuchung
eines Falles , zuerst die äussere , dann die innere und erst dann die
combinirte Untersuchung vor.
Die Inspection des Unterleibes darf man sich und der Patientin
in der weitaus grössten Anzahl der Fälle schenken, aber die Per-
cussion des Unterleibes halte ich im Gegensatz zu Veit ^) für viel zu
wichtig für die Diagnose von Erkrankung der Beckenorgane , als dass
ich sie in irgend einem Falle als Einleitung der ersten, in vielen
Fällen auch einer jeden nachfolgenden Untersuchung jentbehren
möchte. Schon wegen Beurtheilung des zu erwartenden Resultates
der nachfolgend vorzunehmenden Palpation, ist es nicht unwichtig,
zuvor bekannt zu sein mit denjenigen Percussionsbefunden, welche uns
aber den Fttllungszustand des Darmes und der Blase einigen Aufschluss
geben. Dann aber giebt es ja so schlaffe, von den Genitalorganen
ausgebende Geschwülste , dass dieselben der blossen Palpation zu ent-
gehen im Stande sind , wenn wir nicht durch vorausgeschickte Per-
cussion auf dieselben besonders aufmerksam gemacht worden sind,
und auch ob ein Tumor , den die Palpation nachher ermittelt, der vor-
wand begrenzt wird , in der Melirzah) der Fälle keine Darmschlinge gelegen ist,
darin stimme ich auf Grund meiner Untersuchungen an der lebenden Frau mit
Claudius überein. (Claudius. Uober die Lage des Uterus in Hbklb und Pfeüffek*»
Zeitschr. f. rat. Med. III. XIII. p. 249). Den ebendaselbst ausgesprochenen colos-
salen Irrthum, dass der Uterus im gesunden, lebenden Weibe unbewegt im Becken
ruhe , seine hintere Wand dem Rectum und der Beckenwand anliegend , die Be-
hauptung, dass es Thatsacbe sei , dass derselbe unter normalen Verhältnissen keine
Locomotionen ausführen könne, will ich hier nicht und brauche ich Ülferhaupl
wohl nicht zu widerlegen. Was können Sectionsbefunde und Durchschnitte an
gefromen Leichen für den Zustand im Leben da beweisen, wo directe Sinnes-
Wahrnehmung an der Lebenden das Gegentheii zeigt?
i) VmcHow's Pathologie und Therapie. Bd. VI. Abth. 9. t. Heft. t. Aufl.
4867. p. t64.
Deber Pftlpation der Beekenorgane etc. 119
deren fiauc^wand urspiünglich anlag oder durch Darmschlingen von
derselben getrennt war, idt in manchen Fällen zu wissen wichtig. Der
Percussion hat dann in allen Fällen die Palpation nachzufolgen.
Ich will die möglichen anomalen Hesultato derselben nicht einzeln
anfuhren ; von grosser Wichtigkeit schon ist das in den meisten Fällen
sich ergebende Resultat, dass etwaig Anomales oberhalb des Beckens
weder zu percutiren, noch zu palpiren ist. Die dann isolirt vorzu-
nehmende Vaginalpalpation informirt uns über den {nhalt, über die
Gestalt und Über die Oberfläche der Vulva und Vagina, speciell des
Scheidengewöibes und über die Gestalt- und Consistenzverhältnisse
der VaginalporVkm viel vollkommener, als wenn wir schon gleichzeitig
von aussen gegenpalpiren. £s ist ein viel leiseres Tasten erforderlich,
um über die Beschaffenheit der Oberfläche der Vagina und Vaginal-
porlton uns zu informiren , als wie nachher angewendet werden muss,
um die zwischen Soheidengewölbe und Bauchwand gelegenen Gebilde
zu umtasten. Weiche Hervorragungen an der Oberfläche , welche sich
durch abweichende Consistenz nicht unterscheiden, selbst kleine
Schleimpolypen am Eingang des Muttermundes entgehen dem in der
Vagina tastenden Finger , wenn demselben von vornherein die andere
Uand von der Bauchwand her entgegentastet.
Also erst nachdem die Percussion und Palpation des Unterleibes
und erst nachdem die isolirte Palpation von der Vagina aus vor-
genommen wurde, ist die combinirte Untersuchung nachzuschicken,
wenn wir zu einem vollkommenen Resultat gelangen wollen.
In manchen Fällen reicht bekanntlich die Digitalpalpation nicht
aus zur Orientirung über die Form- und Grössenverhältnisse der
Beckenorgane und wir haben behufs derselben noch die Höhle der Ge-
bärmutter mit der Sonde zu palpiren. Wir bedürfen allerdings der-
selben um so seltener zur Gonstatirung der Richtung der Uterushöhle,
je mehr wir geübt sind in der combtnirten Digitalpalpation , aber es
giebt in der That auch für den Geübten noch zahlreiche Fälle , wo,
namentlich bei Anwesenheit von Tumoren neben dem Uterus, der
Fundus uteri als solcher nur durch Betretung seiner Höhle mit der
Sonde zwischen den Tumoren herausgekannt werden kann ; dann aber
ist es uns oft von Wichtigkeit, auch wo wir über die Richtung des
Uterus durch die Digitalpalpation vollständig im Klaren sind, die Länge
und die Weite und andere Eigenschaften seiner Höhle genau zu con-
statifen, und dazu besitzen wir in der Sonde das einzige Mittel.
Ich bemerke bei der Gelegenheit, dass ich die Sonde ausschliesslich
als diagnostisches Instrument anwende und dass ich es für durchaus
falsch halte, unter irgend welchen Umständen den Uterus mittelst der
1
1 20 B. S. ScbalUe,
Sonde zu reponiren. Wo es zur Reposition des Uterus in seine normale
Stellung einiger Kraft überhaupt nicht hedarf , reichen die Finger stets
aus , und wo die von der Vagina oder selbst vom Rectum aus ange-
setzten Finger (stets controlirt durch die vom Abdomen her palpirende
andere Hand) zur Reposition nicht ausreichen , ist es absolut ver-
werflich, selbst wenn die Reposition unter diesen Umständen noch
indicirt wäre , die Uterusschleimhaut , auch die gesunde , zum Ansatz-
punkt für die reponirende Kraft zu wählen.
Wenn wir, nach möglichst genau zuvor durch die Digitalunter-
suchung gestellter Diagnose , über die Richtung y Länge und Weite der
Uterushöhle uns Gewissheit verschaffen wollen , ist es -von Wichtigkeit,
dass wir nicht einer starren, auch nicht einer elastischen, sondern
einer biegsamen und in jeder Biegung, die wir ihr geben, stehen
bleibenden Sonde uns bedienen. Ich habe seit länger als 4 0 Jahiea
mich keiner anderen als ausgeglühter eiserner und weicher neu-
silberner Sonden bedient, und habe jetzt mir dieselben nach dem Vor-
gänge von SiHS aus dem noch biegsameren Kupferdraht fertigen lassen.
Es ist ein grosser Vortheil, eine derartige Sonde zur Hand zu
haben , welcher man , selbst ohne die Vaginaluntersuchung zu unter-
brechen , mit der anderen Hand sofort diejenige Biegung geben kann,
die man durch die eben vorgenommene combinirte Palpation als
die diesem Uterus entsprechende erkannt hat. Man vermeidet da-
durch jede geringste Schleimhautverletzung, ganz sicher namentlich in
allen denjenigen Fällen, wo es sich nur noch darum handelt, den
Längs- unä den Querdurchmesser der Uterushöhle zu constatiren. Für
diesen, mir den häuOgsten Gebrauch der Uterussonde , habe ich meine
ßonden so construirt, dass erstens ihr Caliber eine bestimmte Scala
darstellt, ich habe sie zu S, 3, 4, 5 und 6 Mm. Durchmesser, und dass
zweitens eine jede auf ihrer Hinterseite einen Maassstab trägt, an wel-
chem der am Muttermund liegende Finger beim Einführen wie beim
Ausführen der Sonde die Tiefe der Uterushöhle leicht ables^i kann.
Die Entfernung von 4 Ctm. von der Spitze ist durch einen seichten,
dem Finger eben fühlbaren Kerb bezeichnet , wenn dieser den Finger
passirt, passirt der Knopf der Sonde den inneren Muttermund ; 7 Ctm.
von der Spitze des Knopfs ist an der Rückseite der Sonde ein etwas
vorspringender Höcker, die mittlere Gesammüänge des Uterus einer
Frau, die geboren hat, bezeichnend. Die folgenden 2 .Gentimeter sind
durch Kerben, der 4 Ote wieder durch einen Knopf, die folgenden wieder
durch Kerben bezeichnet. Diese Knöpfe und Kerben, um die Länge
des eingeführten Endes der Sonde abzulesen , wie sie ganz ähnlich ja
an den ursprünglichen Smpsoü'schen, an derKiwiscH^schen und anderen
(Jeber PAlpition der BeekeDorgane etc. 121
Sonden angebracht waren» halte ich nicht wohl fttr entbehrlich. Sivfi,
der doch auch die Sonde ganz vornehmlich zur Messung der Uterus-
höhle gebraucht» hat die Einkerbungen und Buckel an seiner Sonde
abgeschafifl» wie er sagt, um sie besser reinigen zu kennen. Sims führt
in vielen Fällen die Sonde durch das Speculum ein ; schon da ist es
jedenfalls schwer , ohne jede Bezeichnung an der Sonde , die Tiefe der
Uterushöhle abzulesen ; bei Einftthnmg der Sonde auf dem leitenden
Finger, welche Methode ich vorziehe, ist es aber geradezu unmöglich,
ohne fühlbare Marken au der Sonde, die Entfernung vom Knopf abzu-
lesen. Ich habe gesehen, dass Gynäkologen die Sonde ganz kunstgemäss
auf dem leitenden Finger einführten , sie dann aber, um die Lage des
Uterus abzulesen , mit diesem Finger zugleich , die Stelle des Mutter-
mundes mit dem Finger an der Sonde markirend, aus der Vagina
ausführten. Bei solchem Verfahren sind Verletzungen der Utcrus-
schleimhaut kaum zu vermeiden.
Ich halte es für gleich wichtig , sowohl die Länge der Uterushöhle
constatiren zu können, als auch die Leitung des Fingers der Sonde
weder beim Einführen noch beim Ausführen zu entziehen , und ich
halte, um beides zu erreichen, die genannte Vorrichtung für erforder-
lich, ich halte sie für jeden einigermaassen geübten Fingerauch für
ausreichend, die oomplicirten Stellvorrichtungen aber, welche zu
gleichem Zwecke angegeben worden sind , für eben so hinderlich , wici
überflüssig.
Sims , der sich über den Werth der Sonde und über ihren Miss-
brauch namentlich zu therapeutischen Zwecken sehr richtig aus-
spricht, fürchtet In der Hand des minder Geübten besonders die zu
starken Sonden. Ich führe, ganz abgesehen davon, dass daran gelegen
sein kann, zu wissen, wie weit die engste Stelle des Cervicalcanals
ist , stets lieber diejenigen Sonden ein , welche dem Kaliber des Cer-
vicalcanals möglichst entsprechen , weil man mit ihnen Unebenheiten
im Cervicalcanal sicherer auffindet und doch weniger leicht in Schleim-
bautfalten sich verfangen , also weniger leicht verletzen kann. In den
Händen des Ungeübten, also besonders des Schülers, ist auch ohne
Zweifei eine feine Sonde weit gefährlicher als eine starke. Es gehört
weit mehr Plumpheit dazu, mit einer starken Sonde den Uterus zu
verletzen, als mit einer feinen.
Je vollständiger das Resultat der Palpation der Beckenorgane in
einem bestimmten , unserer Beobachtung unterliegenden Falle ausfiel,
desto wichtiger ist es, die normalen sowohl als auch die anomalen
121 B. S. SebnttM,
Befunde für die EriDnerung 2u fixireD, dte Dormalen deshalb , weil bei
späteren, im weiteren Verlauf stattgehabten Veränderungen es von grosser
Bedeutung sein kann, zu wissen , dass die jezt neu zur Beobachtung
kommenden anomalen Befunde nicht etwa früher übersehen , sondern
wirklich neu hinzugekommen «ind. Mit Worten frisch aus der Erinne-
rung alle Einzelheiten des Palpationsresultates genau zu notiren , fehlt
uns in sehr vielen Fällen Zeit und Gelegenheit, und wenn man erst nach
Verlauf von Stunden ) nachdem man inzwischen eine Anzahl Patien-
tinnen untersucht hat , daran geht , die Befunde zu notiren , so dürften
sich wohl die Wenigsten ein so scharfes GedächUüss zutrauen können,
um alle Einzelheiten der Befunde mit voller Sicherheit zu Papier, zu
bringen; und doch ist es von grosser Wichtigkeit, den früheren Be-
fund genau im Gedächtniss zu haben , wenn , vielleicht nach Wochen
oder Monaten erst, die Patientin sich wieder zur Beobachtung stelk.
Durch eine ganz skizzenhafte graphische Darstellung können wir den
Befund der Untersuchung in sehr viel kürzerer Zeit und sehr viel ge-
nauer zu Papier bringen , als durch Worte und , was nicht minder
wichtig ist, wir können, wenn die Patientin sich wieder stellt, uns aus
einer solchen graphischen Notiz viel schneller und viel vollständiger
des früheren Befundes erinnern. Ich habe den Werth der graphischen
Notirung des Befundes der Beckenorgane zunächst kennen gelernt,
wenn ich für die klinische Demonstration oder behufs Mittheilung an
Collegen diese graphischen Notizen gemacht hatte. Ich fand dann,
dass durch dieselben auch mir die factische Basis für die fernere Be-
urtheilung des Falles viel anschaulicher vorlag, dass ich Veränderungen
des Befundes im weiteren Verlauf des Falles viel bestimmter und
schneller zu beurtheilen im Stande war, und ich fand endlich, dass ich
viel besser untersuchte, wenn ich die Absicht hatte, den Unter-
suchungsbefund aufzuzeichnen, ich kann auch versichern, dass ich
durch die Gewohnheit des Aufzeichnens der Befunde meine Fähigkeit
zu palpiren nicht unerheblich geschärft habe.
loh notirte mir anfangs die Befunde nur im Medianschnitt des
Beckens in Schemata, welche ich mir mit einer Kupferschablone in
mein Notizbuch aufgezeichnet hatte; für viele Fälle genügt die alleinige
Aufzeichnung im Hedianschnitt, wenn nämlich d^r Uterus median ge-
legen ist und die Eierstöcke nichts zu bemerken bieten ; ist aber eine
seitliche Asymmetrie des Uterus und sind Form- und Lageabweichungen
der Ovarien zu notiren, so muss man ausser der Medianansicht auch noch
eine Ansicht von vom und von oben aufzeichnen. Von Wichtigkeit ist
es , die Ansichten für jeden Fall in gleicher Richtung zu nehmen , man
müsste sonst jedes Mal die Richtung besonders notirt^n, und da es sehr
lieber Palpatioo 4er Beekenorgane etc. 1 2S
aufhaiten, auch nicht correct genug ausfallen würde, die Beckenwan-
dungen in jedem Fall besonders aufsuzeichfien , so führe ich jetzt
Schemata, welche in Y^ der natttrlichen Grösse drei Ansichten des
weiblidien Beckens in den drei Dimensionen des Baumes darsteilen,
eine Profilansicht, eine Ansicht in der Richtung der Axe des Becken-
eingangs, eine dritte in der Richtung der Gonjugata des Becken-
eingangs.
Die Aufzeichnung der Schemata mittelst Schablonen hatte allerdings
den Yortheil, dass man erstens an jeder Stelle des Krankenjournals die
Bcekenzeichnung einCttgen konnte und zweitens, dass man je nach
Bedttrfhiss einzelne Theile des Schema weglassen konnte, dass man
z. B., wo d^ Befund in einem anomalen Becken zu notiren war, z. B.
der Befund einer Blasenscheidenfistel , die vordere Beckenwand nicht
nach dem Schema , sondern abweichend von demselben nach der ge-
nauen Messung notiren konnte. Aber die genannten Yortheile über-
wogen nicht die Umständlichkeit der genannten Art der Notirung und
so bediene ich mich jetzt seit längerer Zeit lithographirter Schemata.
In einer grossen Zahl der Fälle genügt es natürlich , je zwei der
gegebenen Beckenansichten auszufüllen , aber in allen oomplicirteren
Fällen ist es wichtig, den Befund in allen drei Dimensionen aufisu-
zeichnen.
Auf der beigegebenen Tafel ist in Fig. 1 — 3 das leere Schema
der drei Beckenansichten , in Fig. 4 — 6 und 7 — 9 die graphische Notiz
über den einmaligen Untersuchungsbefund zweier in meiner Beobach-
tung befindlichen Fälle wiedergegeben. Ich gebe nachfolgend die Be-
schreibung des Befundes in Worten.
Fall I. Fig. 4, 5, 6. Frau S. aus L., einige 30 Jahre alt, hat
mehrmals geboren , ist seit der letzten Geburt , vor drei Jahren , nicht
wieder menstruirt, klagt über Magenbeschwerden und Stuhlverstopfung.
Percussion und Palpation des Unterleibes ergaben normalen Befund
bis auf eine Dämpfung vor der linken Darmbeinschaufel , woselbst ein
länglich runder, in continuo verschiebbarer gegen Druck empfindlicher,
unebener Körper zu palpiren ist (durch den weiteren Verlauf als Koth-
anhäufung in der Flexura sigmoidea erwiesen). Die innere Unter-
suchung zeigt eine ziemlich enge , straffe Vagina mit sehr kurzer nach
hinten gerichteter Vaginalportion ; im vorderen , wie auch im hinteren
Scheidengewölbe etwas vermehrte Resistenz. Die combinirte Unter-
suchung erweist die erstere als bedingt durch den stark antevertirten,
auch etwas flectirten, sehr kleinen Uterus (Sonde nicht ganz 4 Gtm.).
Rechts und nach hinten vom Uterus ist ein rundlicher, fest-elastischer
Körper von etwa 3 Gtm. Durchmesser zu palpiren, welcher schmerz*-
124 B, Su SchiilUe,
baft gegea Druck und wenig beweglich, gegen die rechte Uierusecke
hin durch einen ebenfalls gegen Druck schmerzhaften Strang fixirt ist,
das rechte Ovarium. Gegen das hintere Scheidengewölbe geht dasselbe
in eine weniger genau zu begrenzende Masse über. Diese erweist sich
durch combinirteRecto- Vaginaluntersuchung als im DouGLAs'schen Raum
gelegen, unbeweglich, auch gegen starken Druck wenig empfindlich. Nach
reichlichen Stuhlentleerungen w^r das linke Ovarium, auf weniger als die
Hälfte seines normalen Volums reducirt, frei beweglich und schmerzlos
an seiner normalen Stelle am Innenrande des Psoas zu palpiren.
Diagnose: Anteversion mit Flexion des vorzeitig atrophirten Uterus.
Atrophie des linken , entzündliche Schwellung des rechten Ovarium,
welches mit einem alten Exsudat im DoucLAs'schen Raum verlothet ist.
Fall II. Fig. 7, 8, 9. Frau V. aus V., 42 Jahre alt, durch Btaitungen
aus dem Uterus sehr heruntergekommen. Percussion zeigt Dämpfong
einige Centimeter hoch über der Symphyse, die äussere Palpation zeigt
hinter der vorderen Bauchwand etwa 6 Gtm. oberhalb des Randes der
Symphyse, die Medianlinie nach links hin stärker als nach rechts über-
ragend, einen glatten, rundlichen Tumor nach vom prominiren , un-
gefähr von der Grösse und Form eines normalen , nicht vergrössertcn
Fundus uteri. Derselbe zeigt keine Empfindlichkeit gegen Druck und
eine geringe Beweglichkeit nach hinten, ebenfalls ohne Schmerz. Nach
rechts und links vom Grunde des genannten Tumor ausgehend, er-
streckt sich, durch die Bauchdecken deutlich fühlbar, ein etwa je
6 Gtm. langer Strang , welcher auf Länge der genannten Entfernung
in eine ovale, etwa 3 Gtm. lange 1,5 hohe Anschwellung endigt, von
welchen die rechts gelegene gegen Druck empfindlich ist. Beide letzt-
genannte Tumoren sind in der Richtung von vorn nach hinten , sowie
in der von oben nach unten frei beweglich, ihr Abstand von dem
mittleren, muthmaasslich dem Fundus uteri entsprechenden Tumor ist
ziemlich unveränderlich. Ueber den letztgenannten Tumor hinweg-
tastend, palpirt die Hand durch die Bauchdecken in Gontinuität mit
genanntem Tumor eine den Beckeneingang ziemlich ausfüllende , den-
selben etwas überragende, glatte, nicht ganz unbewegliche, gegen
Druck nicht empfindliche , solide Masse.
Bei der inneren Untersuchung gelangt der Finger, nachdem er die
durch alte Zerreissung des Dammes erheblich verlängerte Schamspalte
passirt hat, in der Hohe der Spinae Ischii auf die runde, glatte,
schieimhautbekleidete Oberfläche eines das Becken fast ausfüllenden
Tumors. Die zwischen demselben und der Vaginalwand hinauftasten-
den Finger erreichen ringsum den scharfen Saum des Muttermundes,
dessen Ränder ringsum ziemlich stark gegen die Beckenwand ange-
Deber Pidpation der BeckeBorgaoe ete. 125
drängt mit den gespreizten 2 Fingern eben noch gleichzeitig abzu-
längen sind, und also 7 — 8 Ctm. in jeder Richtung von einander ab-
stehen. Der vordere gegen die Sy^nphyse gedrängte Muitermundssaum
steht etwas näher dem unteren als dem oberen Rand der Symphyse,
die vordere Wand der Vagina hängt in die Vulva herab. Der unter-
suchende Finger kann in der ganzen Rreite der vorderen Beckenwand
zwischen Tumor und vorderer Uteruswand in den Gervicalcanal ein-
dringen. Die Breite desselben, am Muttermund circa 7 Ctm. betragend,
verjüngt sich nach oben von den Seiten her trichterförmig. Der unter-
suchende Finger passirt reichlich 6 Ctm. hoch über die Gircumferenz
des Muttermundes hinauf, von welcher Stelle an der Gebärmuttercanal
zu eng wird, um den Finger weiter zuzulassen.
Die bis zur genannten Stelle geführte Spitze des Zeigeßngers be-
gegnet deutlich den Fingerspitzen der von aussen entgegentastenden
anderen Hand genau an der Stelle, wo der als Corpus uteri jetzt klar
erkannte mittlere Tumor in die den Beckeneingang füllende solide
Masse übergeht. Der hintere Saum des Muttermundes steht beträchtlich
oberhalb der Ebene der Beckenenge, etwa in der Höhe der Verschmel-
zung des 3. mit dem 4. Kreuzwirbel. Er prominirt nur wenige Milli-
meter in die Vagina und geht ebenso kurz wie nach hinten in das
Scheidengewölbe nach vom in die Schleimhautbekleidung des Tumor
über. Genau das gleiche Verhalten zeigt der Muttermundssaum an der
rechten und linken Beckenwand , so dass offenbar der in das Becken
prominirende Tumor seine Basis an der ganzen hinteren und den bei-
den seitlichen Wänden des durch ihn erweiterten Cervix uteri hat.
Wenn die aussen palpirende Hand den Fundus uteri in der Richtung
gegen die hintere Bauch wand drängt, hebt sich der vordere Mutter-
mundssaum , während der hintere nach abwärts rückt und der ganze
das Becken füllende Tumor an der Bewegung den entsprechenden
Antheil nimmt. Die punktirte Linie in den drei Figuren bezeichnet
die muthmaassliche Grenze des Tumor gegen die Uteruswand. Der
Pfeil in Fig. 7 deutet die Richtung an , in welcher der Utei us nebst
Tumor beweglich sind.
Diagnose: Grosses interstitielles Fibroid der hinteren Wand der
Cervix uteri. (Das Nähere über Diagnose und operative Therapie dieses
Falles ist jüngst in der Dissertation des Dr. HAUSHAim ^) mitgetheilt
worden.
Ich glaube , dass gerade die beiden hier wiedergegebenen Fälle
im Stande sind zu zeigen , wie sehr viel kürzer und namentlich auch
i) Beiträge zur Casulstik der Utenisfibroide von Avovst Haushahh. Jena, 4868.
186 B. S. Scbiiltae^ Oeker Mpniion det üeekeeofgane etc.
genauer die graphische Darstelhing das Resultat, der Untersuchung
wiederzugeben im Stande Ist, gegenüber der schriftlichen. Auch wird
er^chüicb sein , wie sehr viel leichter und bestimmter später erfolgte
Veränderungen im Befunde nach der graphischen Darstellung erkannt
und beurtbeilt werden können.
Ich habe in den hier wiedergegebenen 2 Fällen die graphische
Notiz absichtlich mit möglichst einfachen und groben Linien gegeben,
weil es mir gerade daran lag, zu zeigen, dass nicht etwa ein Aufwand
von Zeichenkunst erforderlich sei, um diejenigen Yortheile von der
graphischen Notirung des Palpationsbefundes zu haben, welche ich
von derselben gerühmt habe.
Man kann natürlich durch feinere Zeichnung die pelpirten Formen
in besonderen Fällen viel genauer zu Papier bringen, man kann auch
ausser d^n Formen andere Resultate der Paipation mit Leiditigkeit in
die Zeichnung eintragen. So pflege ich mir z. B. die bei der Unter-
suchung als schmerzhaft ermittelten Partien mit Rothstift zu bezeichnen.
So pflege ich ferner Aenderungen im Befunde mit irgend einem bunten
Stift später einzutragen und notire mir mit demselben Stift am Rande
das Datum des Befundes; ich mache auf die Weise in gleichviel Sekun-
den n^ir eine Journalnotiz, die, wenn ich sie in Worten machen wollte,
mindestens ebenso viel Minuten in Anspruch nehmen würde ; kurzum
ich glaube, dass, abgesehen von allen anderen Yortheilen dieser Art
der Notirung des Palpationsbefundes ,. so umständlich dieselbe Man-
chem von vornherein erscheinen mag, so compendiös und zeit-
ersparend sie gerade dem vielbeschäftigten PraeUker sich erweisen
werde.
Der Lithograph, Herr Giltich hier, ist gern erbötig, denjenigen
meiner Collegen, welche den Wunsch aussprechen, eine Anzahl Sche-
mata abziehen zu lassen. Die Zeichnungen befinden sich noch auf dem
Stein.
Jena, 15. März 1869. B. Schultze.
Kleiaere Mittheilungen.
Heber Rabm Leesii Babiigt.
Von
Dr. W. O. Fooke
in Bremen.
fn meinem Aufsatze über die synthetische Methode in der Systcmatilc habe ich
den Rubns Leesii Babingt. erwöhnt. Wenn ich auch erst die Vorbereitungen zu
einem eingehenden Studium dieser merkwürdigen Pflanze getroffen habe, so wili
ich dieselbe doch hi^r kurz besprechen ; vlefleicht wird Jemand dadurch veranlasst,
mich mit Beobachtungsmaterial zu unterstützen.
Der Rubus Leesii Babingt. ist eine Himbeere, ein Rubus Idaeus L., mit modi-
ficirten Blättern. Die Schösslingsblatter sind meist SzShlig , mit fast völlig sitzen-
den BlMtchen, die Blätter der BlÜthenzweige meist ungetheilt; andere als diese
beiden Blattformen kommen an der Pflanze nicht vor, namentlich nicht die dem
normalen Rubus Idaeus L. eigenthtimlichen 8- und 5zählig gefiederten Blätter mit
langgestieltem Endblttttchen. Der Rubus Leesii Bab. ist bisher in England, Schwe-
den und im nordöstlichen Deutschland , vielleicht auch in Oesterreich , gefunden,
überall nur in wenigen , isolirten Horsten, die offenbar stets von einem einzelnen
Individuum abstammten. Diese spärlichen zerstreuten Exemplare des R. Leesii
können nicht die letzten Repräsentanten einer im Aussterben begriffenen Art sein,
denn sie finden sich nicht an Localitäten, die irgendwie geeignet erscheinen können,
die Ueberbleibsel einer ursprünglichen , einheimischen Vegetation zu erhalten. In
mehreren Fällen finden sie sich in unmittelbarer Nähe menschlicher Cultur. Bei
der grossen Entfernung der verschiedenen Standorte ist es ferner im höchsten
Grade unwahrscheinlich, dass die Exemplare des R. Leesii Bab. direct von einander
abstammen. Vielmehr nöthigen dioThatsachen zu der Annahme, dass an mehreren
Orten unabhängig von einander Exemplare des R. Leesii aus Samen des R. Idaeus
L. hervorgegangen sind.
Es ist sehr zweifelhaft, ob alle Exemplare des R. Leesii Bab. einander genau
gleichen. Die schwedischen , welche Arrhehius unter dem Namen R. Idaeus ano-
malus beschrieben hat,, scheinen wenigstens zum Theil von den englischen abzu-
weichen, während diese letzten nach der Beschreibung mit den deutschen, die
128 Dt« W, 0. Pocke,
mir allein vorliegen, genau Übereinstimmen. Erst wenn die Möglichkeit einer Ver-
gleichung geboten ist, lässt sich diese Frage bestimmt entscheiden. Sicher ist aber
so viel , dass keine deutlichen Debergänge zwischen Rubus Idaeus L. und R. Leesii
Bab. vorzukommen scheinen , und dass diese , selbst wenn sie vorhanden wären,
jedenfalls viel zu selten sind , um den R. Leesii als ein extremes Endglied einer
längeren verbindenden Reihe von Mittelformen zwischen ihm und R. Idaeus L. zu
charakterisiren. Gleich wie die Früchte des R. Idaeus L. entweder roth oder gelb,
nicht aber orangefarben sind, so scheint aus einem Samenkorn entweder ein Rubus
Idaeus L. oder ein R. Leesii Bab. hervorzugehen, niemals eine Mittelform. Der
erstere Fall ist nur Millionenmal häufiger.
Man kann den Rubus Leesii Bab. als eine Rüokschlagsform des R. Idaeus L.
auffassen , welche Charaktere uralter Vorfahren wieder hervortreten lässt , die dem
modernen R. Idaeus L. fremd sind. Dass in den Blättern des-R. Leesii Bab. aber
auch Elemente des R. Idaeus L. stecken , die jenen Vorfahren fremd gewesen sein
müssen, habe ich bereits in meinem Eingangs citirten Aufsätze nachgewiesen Ver-
muthlich ist es ebenso richtig oder richtiger, in dem Rubus Leesii ein Vorspiel einer
neuen Art als einen Rückschlag auf einen ausgestorbenen Typus zu erbUokea.
Wenn alte verloren gegangene Charaktere mit einem lebenskräftigen modernen
Organismus combinirt werden, so können in einer derartigen Verbindung die
Grundbedingungen fU** die Entwickelung eines neuen Typus gegeben sein.
Sind diese Anschauungen richtig', so würden wir im R. Leesii Bab. ein Beispiel
vor Augen haben, auf welche Weise eine neue Species sich bilden kann. Der
Rubus Leesii Bab. entsteht, wie oben gezeigt wurde, an verschiedenen Orten
gleichzeitig aus einer andern Art ; gelingt es ihm , sich zu verbreiten und zu be-
haupten , so wird er sich leicht zu einer distincten Species entwickeln. Es ist nicht
unmöglich , dass er bei Kreuzung mit normalem R. Idaeus L. die Nachkommen-
schaft des letzteren grossentheils in R. Leesii umzuwandeln vermag, weil im Rubus
Idaeus L. die Tendenz , einen R. Leesii zu erzeugen , schon in der Anlage vorhan-
den sein muss. Beobachtungen und Experimente müssen über diese, wie über
andere damit zusammenhängende Fragen entscheiden , wie denn auch die Constanz
des Typus des R. Leesii bei der Aussaat noch zu beweisen sein wird.
Eine andere Rubusform, der R. laciniatus Willd., erscheint ebenso wie R. Leesii
Bab. als ein plötzlich neu entstandener Typus , der sich durch den Schwund eines
grossen Theils der normaler Weise die Nerven verbindenden Blattsubstanz aus-
zeichnet. Dieser R. laciniatus, der gewiss nur ein modemer Abkömmling einer
andern Rubusart ist, soll sich aus Samen völlig acht fortpflanzen, somit eine con-
stante Race sein. Die Analogie Ifisst daher vermuthen , dass bei R. Leesii Bab. das
Gleiche der Fall sein wird.
Nach den Ergebnissen meiner bisherigen Untersuchungen ist es wahrschein-
lich , dass sich innerhalb der Gattung Rubus auf drei verschiedenen Wegen neue
Arten bilden können , nämlich
4] durch allmähliche Differenzirung und Divergenz der Charaktere;
t) durch plötzliche Entstehung neuer erblicher Eigcnthümlichkeiteni;/
8) durch Constantwerden der Abkömmlinge von Hybriden.
Die Bedeutung des zweiten Weges wird durch näheres Studium des R. Leesii
Bab. vielleicht in ein helleres Licht gesetzt werden.
Eine Analogie des Rubus Leesii Bab. ist in der Gattung Fragaria beobachtet
worden. Die Fragaria monophylla L. zeichnet sich durch das häufige Vorkommen
ungetheilter Blätter an Stelle der normalen Szähligen aus. Im Uebrigen scheint sie
Ueber Robus Leesii Babiogt. 129
aber keinen constanten Typus zu bilden ,^ da sie ii> der Gestalt von Kelch , Krone
u. s. w., sowie in der Anwesenheit oder dem Fehlen der Ausläufer sehr variabel
sein soll. Sie scheint indess ihre Charaktere durch Samen zu vererben und ist,
ebenso wie der Rubus Leesii > an verschiedenen Orten gleichzeitig und unabhängig
von einander aufgetreten. In seiner Monographie der Rosaceen erklärte Trattikkick
im Jahre 4 8t 3 diese Fragaria monophylla ganz unbefangen für eine neu entstandene
Art — pro specie habenda nostro aevo eiiata (Ros. monogr. III, p. 466) — eine An-
schauung , weiche offenbar mit der herrschenden Doctrin in Widerspruch stand,
aber sich aus der Betrachtung der vorliegenden Thatsachen gleichsam von selbst
ergab. In ähnlicher Weise sind aueh Rubus Leesii Hab. und R. laciniatus Willd.
aufzufassen ; in allen drei Ty^n sind beginnende neue Arten zu erblicken , welche
sicher entwickelungstfthig sind. Ob sie den Kampf ums Dasein glücklich durch-
fechten und ihrer liachkommenschaft eine bleibende Existenz sichern werden, ist
eine Frage , di9 sich bis jetzt unmöglich beantworten lässt.
Bd. V. I.
PessarieB aus weichem Kupferdraht und yulkaiiisirtMi Giumi«
Von
B. S. Schnitze.
Die Zahl verschiedener Arten von Pessarien , sowohl zu dem Zweck , die in-
vertirte Vagina und den descendirten Uterus zurückzuhalten, als auch um ver-
schiedene andere Lageabweichungen des Uterus zu corrigiren, ist eine enorme, und
jedes Jahr vermehrt ihre Zahl zum deutlichen Beweis , dass die vorhandenen den-
jenigen Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht entsprechen. Sind die
Pessarien schlecht oder sind die Anforderungen unrichtig? Es ist wohl beides der
Fall.
Marioit Sims sagt sehr richtig : I have seen the inside of an immense number
of vaginas , and I never sore two that were in all particulars exactly alike. They
are as different from each other as our faces and noses. In Mr. Tr^tkrre's great
collection of palatine fissure-casts, numbering now some 600 or more, each one has
its peculiar anomalies, and each its peculiar apparatus. I would not bee under-
stood as meaning that 600 cases of uterine displacement would need as many
dilferently constructed Instruments ; bot I mean this , that every individual case is
a study of itself and that its complicatioas and peculiarities must be investigated,
understood, and respected, if we expect to treät them safely and successfully.
Der Vergleich der Pessarien mit dem künstlichen Gaumen ist ganz gut. Es
ist ein bisher allgemein verbreitet gewesener Irrthum , dass zur Hebung der Be-
schwerden einer jeden ganz individuell eigenthümlichen Lageverttnderung des
Uterus irgend eines der zuvor ohne Kenntniss des Falles construirten Instrumente
genügen solle. Und wenn wir eine noch so grosse Auswahl verschiedener Pessarien
zur Hand haben, wir werden uns gestehen müssen, dass wir doch in der Mehrzahl
der Fälle nur ein halbwegs passendes ausfindig gemacht haben. Die elastischen
RingQ haben manche der Uebelstände, die den festen Pessarien anhaften , umgehen
lassen , aber es geht ihnen dafür wieder mancher Vortheil , der gerade durch die
Festigkeit des Pessariums geboten wird , ab. Ein festes Pessarium , welches doch
gestattet, seine Gestalt nach den individuellen Verhältnissen leicht zu modificiren,
wird seinem Zweck am besten entsprechen.
Pessarien aos weichem Knpferdraht aad Tnlkanisirtem Gammi ] 31
Sims bedient sich ringförmiger Pessarien aus englischem Blockzinn mit etwas
BleizQsatz , deren Gestalt er nach den Anforderungen des einzelnen Falles so lange
modificirt, bis es denselben entspricht, und Ittsst dann nach dem so gewonnenen
Modell ein festes Pessarium aus Silber oderVuIcanite anfertigen, wenn die Patientin
seiner Beobachtung sich entziehen will.
Gegen den Bleizusatz hatte ich Bedenken und die Pessarien aus reinem Block-
zinn lassen sich nicht sehr oft biege» ohne jiie Gefahr , zd brechen. Sims erwähnt
auch , dass man vielfach Pessarien aus gewöhnlichem Telegraphendraht verfertigt
habe , dass dieselben aber wegen der mangelhaften Vereinigung der Enden sehr
unzweckmttssig seien ; er habe selbsT Pessarien aus Kupferdraht anfertigen und
dann mit Guttapercha überziehen lassen. Dieser Gedanke schien mir sehr gut.
Ich Hess mir Ringe aus weichem Kupferdraht mit einer dicken Lage vulkanisirtem
Gummi in verschiedener Grösse fertigen und habe dieselben vielfach angewendet.
Diese ftinge lassen sich in jede Form biegen , man kann die Umrisse der Zwank'-
schen , der HooGJs'schen und ziemlich aller anderen Pessarien dadurch nachahmen,
und jede andere, auch noch nicht dagewesene Form, wenn sie dem individuellen
Fall angemessen ist, herstellen; man kann jederzeit, wenn sich herausstellt, dass
das Pessarium seinen Zweck nicht ganz erfüllt, oder dass es da oder dort drückt,
die Form entsprechend modificiren.
Ich habe z. B. in FttUen, wo irrepouible Geschwülste das Becken verengen und
wo deshalb keine der gehrfiuchlicben Formen Von Pessarien zulässig und ertröglich
gewesen sein würden , solchen gummiüberzogenen Kupferringen schliesslich eine
Gestalt geben können, die es ermöglichte , dass sie ohne allen lästigen oder nach-
theiligen Druck getragen wurden , und [die Beschwerden des gleichzeitig bestan-
denen VorCalles beseitigten. In Fällen von Flexionen und Versionen des Uterus
kommt man mit solchen biegsamen Kupferringen weit leichter und weit vollstän-
diger zu dem gewünschten Ziel, als wenn man unter einer noch so mannigfaltigen
Auswahl von Formen und Grössen HoD«B'scher Hartgummipessarien das am meisten
passende aussuchen will.
Ich habe diese gummiüberzogenen Kupferringe erst in ein paar Dutzend Fällen
angewendet und bin von ihrer Zweckmässigkeit gegenüber der Quälerei mit den
üblichen Pessarien jedes Mal von Neuem überrascht. Ich wollte nicht zögern,
durch Mittheilung dieser meiner Erfahrung die GoUegen aufzufordern, das Instru-
ment zu versuchen. Ich Hess mir von Fiahcois Fohbobbrt in Berlin die Ringe in
4 verschiedenen Grössen anfertigen, von 9, 10, 14 und 12 Centlmeter äusserem Um-
flBiig und bin mit diesen Dimensionen bis dahin ausgekommen. Die Instrumente
sind billiger als manche andere Pessarien; der Preis von 15 Sgr. pro Stück wird es
ermöglichen , dieselben auch für die klinische und für die Armenpraxis leicht ein-
zuführen.
Jena, den 12. Januar 1899.
9»
Das Gehirn der Chimära monstrosa , wie es bis jetzt nur laus einer von Va-
lentin gelieferten Beschreibung und Abbildung (in Müllkr's Archiv für Anat. und
Phys. 1842) bekannt ward, bietet so viel Eigenthümlichkeiten, so dass es unmög-
lich war, selbes einer oder der andern Reihe der Fischgehirnformen anzuschliessen.
Hr. MiKLUCHO fand , dass die beregte Darstellung mit seinen bezüglich des Gehirns
der Selachi^r gewonnenen Untersuchungsergebnissen theilweise passle , theil weise
aber auch gänzlich abwich. Jene Parstellung Ittsst ein Zwischenhim erkennen,
welches jenem der Selachier ähnlich ist. YALEirnir hat es als Vorderhirn hemisphttre
aufgefasst. Von ihm gehen ein paar Anschwellungen ab , die als Lobi olfactorii an-
gesehen werden. Dann folgt ein Abschnitt, der einem Mittelhim entspricht, das
Valentin als Zwischenhirn ansah; dann folgt ein Cerebellum mit verlängertem
Mark, die, beide auch von Valentin so gedeutet, gerade die Eigenthümlichkeiten
dieses Theils bei den Selachiern besitzen. Somit passte also der grössle Theil des
Gehirns mit dem Verhalten bei Selachier, wo sollte nun das Vorderhim sein? Hr.
MiKLUCBO fand in Messina Gelegenheit zur Untersuchung des Nervensystems einer
Chimäre und schreibt weiter : »Anfangs stutzte ich , die VALENTiN'sche Darstellung
schien vollkommen richtig, abgesehen von einigen Kleinigkeiten. Als ich aber die
VALENTiN'schen tractus nervi olfactorii ansah — sie bildeten zusammen eine Rinne
^ da fragte ich mich: sollten diess nicht die Himstiele sein? Ich verlängerte die
Oeffnung der Schädelhöhle, und richtig, weit vorne lagen die grossen schönen
Vorderhirnhälften durch sehr lange pedunculi cerebri mit dem Zwischenhim in
Zusammenhang.« Dieses Vorderhirn entspricht also dem von J. Müller (Arch. für
Anat. u. Phys. 1848, p. CCLIII.) als hinter den Riechfklten gelegene Anschwellung
des Riechnerven bezeichneten Theils. Da jedoch seitlich an der Vorderhim-
hemisphäre noch eine die Riechnerven entsendende Anschwellung vorhanden ist,
so kann kein Bedenken gegen die oben gegebene Deutung aufkommen. Die Eigen-
thümlichkeit des Chimäragehirns bestände also im Wesentlichen in der bedeuten-
den Ausdehnung des Hirnstieles , und damit verbundener Entfernung des Vorder-
hirns vom Zwischenhim. In demselben Maasse als das Vorderhim nach vorne ge-
rückt ist, sind die tractus olfactorii verkürzt, und es müssen sich die Anschwellungen
des Riechnerven dem Vorderhirn selbst anlagern. So ist es bei den Chimären der
Fall, deren Gehirn also mit dem Gehirn der Selachier viel vollständiger überein-
kommt, als Job. MitLLER (1. c.) das annahm, obgleich ihm die grosse Aehnlichkeit
der hinteren Abschnitte keineswegs unbekannt blieb.
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Heber das (rdara der Ckuiäm« ^
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Aus einer brieflichea JUittheilung von (
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Die Bew^Bg des BlfltheBstieles vom Alisma
von
Fr. MüUer.
An den Ufern des Itajahy, dicht am Wasser und nicht selten
überfluthet von dem schwellenden Flusse, wächst in Menge ein statt-
liches Ausmaß Der Blüthenstiel erhebt sich bis mannshoch und
trägt drei im Quirl stehende Aeste. Unterhalb der Aeste ist der Blü-
thenstiel nackt ; sein oberer Theil trägt wie die Aeste entfernt stehende
Deckblattwirtel , in deren Achseln dicht gedrängt die Blüthen ent-
springen.
Betrachtet man eine Gruppe dieses Alisma, so fällt es auf, dass
die oberen Enden der Blüthenstiele und ihrer Aeste in höchst mannig-
facher Weise gekrümmt sind. Die einen stehen fast gerade in die
Höhe, andere sind in einfacher Krümmung stärker oder schwächer zur
Seite geneigt, bei wieder anderen sind die einzelnen Stengelglieder in
verschiedenen Ebenen gebogen. Die Aeste sind bald schief aufwärts
gerichtet mit dem Hauptstiele zu- oder von ihm abgewendeter Spitze,
bald stehen sie wagerecht ab und ihre Spitze zeigt seitwärts oder
niederwärts. Die drei Aeste desselben Blüthenstieles stimmen meist
weder in der Stärke noch in der Richtung ihrer Krümmung überein.
— Und auch für jeden einzelnen Blüthenstiel sind Grad und Richtung
der Krümmung stetem Wechsel unterworfen. Nach Verlauf einiger
Stunden wird man nur selten den einen oder anderen in seiner frühe-
ren Stellung wiederfinden. Ein Blüthenstiel, der sich vorher etwa
nach W neigte, wird jetzt vielleicht in gleicher Weise sich nach N
oder 0 biegen, oder fast gerade sich emporstrecken, oder auch, indem
seine einzelnen Glieder nach verschiedenen Seiten sich krümmen,
schlangenförmig oder fast schraubenförmig aufsteigen.
Alle diese nach Form und Richtung so wechselvollen Krümmungen
beobachtet man jedoch nur an den jüngeren , noch in raschem Wachs-
* Dasselbe wurde mir in Kew als Alisma maerophylla Kth. (?) be-
stimmt.
Bd. V. i. 40
134
Fr. Malier,
tbum begriffenen Gliedern des Blttlhenstieles, namentlich vor dem Auf-
brechen der Knospen; die älteren, samentragenden haben sich ge-
streckt und stehen am Hauptstiele aufrecht, an den Aesten ziemlich
wagerecht.
Ich habe einen jungen BlüthensUel während dreier Tage , so oft
meiüe Zeit e» ^stattete , beobachtet und jedesmal die Riefalung , nach
welcher seine Spitze hinzeigte, aufgezeichnet und die Entfernung der
Spitze von der die Verlängerung des unteren nackten Theiles bilden-
den Yerticallinie gemessen. Ich will der Mittheilung dieser Beobach-
tungsreihe vorausschicken, dass in diesen drei Tagen (8., 9. und
10. Januar), der untere nackte Theil des Blttthenstieles von 0,9 zu 4,1
Meter Höhe heranwuchs , und dass der obere Knospen tragende Theil
am Morgen des 8. Januar 0,14, am Morgen des 9. Januar 0,19, am
Morgen des 10. Januar 0,25 und am Abend desselben Tages 0,30 Meter
lang war. I>ie Aeste waren noch ganz kurz und ihre Deckblattwirtel
dicht zusammengedrängt. — Auch mag erwähnt sein , dass die drei
Tage sonnig und ungewöhnlich heiss waren ; das Thermometer zeigte
um 6^ 45"^ Vormittags an jedem der drei Tage 24® C. und um 1 Uhr
Nachmittags 32® C. am 8. Januar, 34® G. am 9. und 10. Januar.
Zeit der Beobacbtung
Richtung der
—
Entfernung der Stengel-
Stengelspitze
spitze V. d. Verticalen
4S«8.
«h 46» Vm.
SWgW
0,044 Meter.
Januar S.
gh
SSW
0,064 »
10b
SSO
0,08g »
1>»Nm.
ONO
0,041 »
2h 80»
NOgN
0,044 »
4b 46m
NWgN
0,044 •
Januar 9.
6b 46» Vm.
W
0,0S« Meter.
»b 16»
SOgS
0,09g »
lii"
NO
0,086 »
3b 1 5» Nm.
NWgW
0,180 »
ÖbSOm
OgN
0,076 »
7h 80»
NWgN
0,140 »
Januar 10.
5b 46» Vm.
0
0,065 Meter.
6b 45»
N
0,098 »
gb 5»
SSW
0,14i »
gb 56in
SWgS
0,180 o
9b 45»
w
0,084 »
IIb
0
0,174 B
lib
SSO
0,022 »
4 b Nm.
w
o,aog »
2b 6»
w
0,i16 »
ab 64m
w
0,1g6 »
4b 64»
OgN
0,066 »
6b
OgS
0,194 »
7b
OgN
0,186 »
Die Bewegung des BiMenstielesVon Alisma. 135
Am 8. Januar beschreibt also die Spitze des BlUthenstiels in
40 Stunden drei Vierte) eines Kreises und bewegt sich dabei in
gleicher Richtung wie der junge Schtfssling einer Winde, Bohne oder
einer anderen nach rechts sich windenden Pflanze. Die Krümmung
des in Bewegung begriffenen oberen Theiles erleidet dabei keine auf-
fallende Veränderung ; die Entfernung der Spitze von der Verticallinie
beträgt Y4 bis Y3 von der Länge dieses oberen Theiles.
Am 9. Januar wird in gleicher Richtung fast die ganze Windrose,
P/32), in 8V2 Stunde (von 6^ 45» Vm. bis 3^ 15» Nm.) durchlaufen,
aber statt eines Kreises beschreibt die Spitze jetzt eine langgezogene
Ellipse, deren kleine Achse etwa von NO nach SW gerichtet und
etwa viermal in der grossen enthalten ist. Bei der ersten Beobachtung
am Morgen und ebenso Mittags steht der BlttthensUel fast aufrecht,
während er in der Mitte des Vor- und Nachmittags stark gekrümmt
ist. — Wahrscheinlich wurde von 3^ 1 5» bis 7^ 30» nodi ein fast voll-
ständiger Umlauf in gleicher Richtung gemachU Ich sage »wahrschein-
lich«, denn es muss unentschieden bleiben, ob die Spitze des Blüthen-
stieles von 3^ 45» bis 6^ 30» durdi S, oder durch N hindurch von
NWgW nach OgN gelangte; da sie indess von da in der am vorigen
und am Morgen dieses Tages befolgten Richtung weiter geht, erscheint
die erstere Annahme, bei der die Drehungsrichtung sich nicht geändert
haben würde, als die bei weitem wahrscheinlichere.
Am nächsten Tage (40. Januar) wird die Bewegung eine weit un-
regelroässigere. Am frühen Morgen macht das Ende des Blüthenstieles
von 5^ 45» bis S^ 5» fast ^4 ^ii^^ Umgangs in der früheren Richtung
von 0 durch N bis nach SSW; dann aber statt nach S weiter zu gehen,
kehrt es nach W zurück und vollendet in etwas über vier Stunden
einen ersten Umlauf in entgegengesetzter Richtung und bis 6^ Abends
fast ^4 ^ii^^s zweiten Umlaufs, um sich dann von Neuem in die frü-
here Richtung zurückzuwenden , indem es von OgS nach 0 statt nach
S zu wandert.
Dass beim Umkehren in die entgegengesetzte Richtung, sowohl
am Morgen (zwischen 8^5» und 8^ 55»), als an Abend (zwischen
4^ 54» und 7^) eine sehr bedeutende Verlangsamung der Bewegung
sich zeigt, hat nichts Befremdendes. Sehr auffallend aber ist die fast
vollständige Unbeweglichkeit, in welcher der stark gebogene Blüthen-
stiel von 4^ bis i^ 54» Nm. verharrt, während er vorher in einer
Stunde mehr als einen Viertelkreis durchlaufen hatte und nachher in
zwei Stunden fast 4 80 ^ durchläuft. Auch abgesehen von diesem SUll-
stand und von der Verlangsamung in der Nähe der Wendepunkte ist
die Winkelgeschwindigkeit eine sehr wechselnde , bald so rasch , dass
40*
136 Pt. Hall«.
ein Umlauf kaum ä'/j Stuode, bald wieder so langsam, dass er Obei"
5 Stunden erfordert haben würde. — In höchst unregelmassiger Weise
wechselt endlich an diesem Tage die Krümmung des bew^lichen
Theiles des Blülhenslieles. Mittags steht seine Spitze ganz in der Nähe
der Verticallinie , — eine Stunde später ist sie eine gute Spanne da-
von entfernt ; und wahrend ihr Weg wahrend der ersten Morgenstun-
den sich auf eine Ellipse mit von N nach S gerichteter grossen Achse
zurückfuhren ISsst, beschreibt sie spater eine ausserordentlich lang-
gezogene Ellipse, deren grosse Achse von W nach 0 gerichtet ist.
Die Unregelmässigkeiten der Bewegung wahrend dieses dritten
Tages, gegenüber der regelmassigen Bewegung des ersten Tages, mögen
wenigstens zum Theil ihre Erklärung in dem Umstände finden , dass
am ersten Tage nur ein einziges Siengelglied, das zwischen dem Ur-
sprung der Aeste und dem ersten Deckblatlwirtel gelegene , dass aber
am dritten Tage deren drei in Bewegung waren. Vielleicht war (ab-
gesehen von dem Stillstände am Nachmittage und dem zweimaligen
Bichtungs Wechsel), die Bew^ung jedes einzelnen Gliedes eine ziemlich
regelmässige — jedenfalls aber war ihre Winkelgeschwindigkeit eine
verschiedene, denn bald waren sie alle drei nach gleicher Richtung
gebogen (wie um 1 Uhr Nrn.) , bald krUmmten sie sich nach verschie-
denen , ja , das erste und dritte bisweilen nach fast entgegengesetzten
Richtungen (wie am Mittag). Im ersten Falle musste natürlich die Ent-
fernung der Spitze von der Verticallinie vermehrt, im zweiten vermin-
dert werden and ebenso musste dadurch die Winkelgeschwindigkeit
des ganzen beweglichen Theiles [dessen Richtung durch die einer vom
Ursprung der drei Aeste nach der Spitze gezogenen Geraden bestimmt
wurde] bald beschleunigt, bald verlangsamt erscheinen.
Aehnliche Bewegungen, wie die Blülbenstiele unseres Alisma,
vollführen bekanntlich die jungen Schusslinge aller windenden und
vieler ranken tragenden oder mittelst ihrer Blattstiele klimmenden Klet-
terpflanzen, bei denen diese Bewegungen durch Dakwik so meisterhaft
geschildert worden sind.
Dass bisher nur bei Kletterpflanzen derartige Bewegungen beob-
achtet wurden, dass sie als eine diesen ausschliesslich zukom-
mende EigenthUmlichkeil erschienen, war eine ernste Schwierigkeit
für Dabwiks Lehre von der Entstehung der Arten.
Dass die Fähigkeit des Windens , deren sich in einigen Fallen fast
alle Arten einer grossen Familie erfreuen , in anderen auf vereinzelte
Gattungen, oder selbst auf einzelne Arten einer Gattung (z. B. Vale-
riana] beschrankt ist, weist darauf hin , dass diese Fähigkeit zu sehr
verschiedenen Zeiten erworben worden ist, und dass bis in die jüngste
Die Bewegung des Blflthenslieles roii Alisma. 137
Zeit die Umwandlung nicht windender in windende Pflanzen fortge-
dauert hat. Ferner weist das Vorkommen windender Pflanzen in so
verschiedenen Familien, wie es z. B. die Farn, die Dioscoreen, die
«
Asclepiadeen , die Dilleniaceen sind , darauf hin , dass ihre Entstehung
sich an eine im Pflanzenreiche weit verbreitete , von der natürlichen
Zuchtwahl benutzte und weiter ausgebildete Lebenserscheinung ge-
knüpft haben werde. Da nun das Winden jene eigenthümliche Bewe-
gung der jungen Schösslinge zur nothwendigen Voraussetzung hat , da
eine Pflanze nothwendig sich bewegen musste, ehe sie in einer
Schraubenlinie sich an anderen emporwinden konnte, so durfte man
eben in jener Bewegung diese die Entstehung der windenden Pflanzen
vermittelnde Lebenserscheinung suchen , und mit Bestimmtheit erwar-
ten, ähnliche Bewegungen an nicht kletternden Pflanzen auffinden zu
können. Es ist zu verwundem, dass Darwins Gegner seinen Freunden
noch nicht diese Schwierigkeit vorgehalten , an sie noch nicht die For-
derung gestellt haben , solche Bewegungen nicht kletternder Pflanzen,
— als nothwendige Vorbedingung für die Möglichkeit des Entstehens
windender aus nicht windenden Pflanzen — nachzuweisen.
Jetzt würde eine solche Forderung zu spät kommen. Unser A H s m a
zeigt in der That so deutlich, als ii^end eine Kletterpflanze, dies »spon-
taneous re volving movementa. Ich habe Grund , das Vorkommen ähn-
licher Bewegungen bei einigen anderen Pflanzen zu vermuthen und
kann sogar meinen deutschen Landsleuten eine im alten Vaterlandc
häufig gebaute Pflanze bezeichnen, die wie Alisma kurz vor der
Blüthezeit die Stengelspitze im Kreise herumdreht. Es ist der gemeine
Lein. Meine Kinder hatten sich vor mehreren Jahren eine Pflanze die-
ser ihnen bis dahin nur dem Namen nach bekannten Art gezogen und
an dieser machte mich meine Tochter Rosa auf die Bewegung aufmerk-
sam. Ich konnte mich mit Sicherheit von deren Vorhandensein über-
zeugen , wurde aber durch die Ungunst der Witterung gehindert , sie
mehrere Tage genauer zu verfolgen.
Itajahy, Februar 4868.
Fritz Müller.
Uitersucliiuigeii Aber Ba« ud Eitwickdung der Arthropode!.
VOQ
Dr. Ant. Dohm.
(Mit.Taf. V u. VI.)
2. Ueber Entwicklnng nnd Baa der Pycnogoniden.
Das Hin- und Herschieben einer Thiergruppe in den Systemen
deutet immer darauf hin, dass in der Organisation solcher Thiere
etwas Aussergewöhnliches sich findet, das sich nicht recht mit den
hergebrachten Beurtheilungsmaximen vereinigen will. Es hat gerade
bei solchen Thiergruppen der Embryolog und der Darwinianer vorzüg-
lich Gelegenheit zu erproben, ob seine Maximen und seine Metboden
besser zum Ziele führen, als die früheren.
Die Pycnogoniden gehören vor Allen zu solchen Gruppen. Sind
sie doch noch eigentlich fortwährend auf der Wanderschaft von den
Cruslaceen zu den Arachnidcn und den Arachniden zu den Crusta-
ceen. In England zweifelt kaum ein Zoolog an ihrer Krebsnatur, und
die deutschen Zoologen zählen sie jetzt einstimmig den Spinnen zu.
Auch kann man nicht sagen , dass sich nur wenige Forscher mit ihrer
Untersuchung abgegeben hätten ; ich nenne nur die Namen Dujardin,
GOODSIR, QUATREFAGES, KrOTER, KroHN, ZeNKER, HoDGE, GlAPAR^DE CtC.
Wie Pycnogoniden fast jedem am Meere weilenden Zoologen in die
Hände fallen , so muss er auch den sonderbaren Thieren eine Zeit lang
Theilnahme schenken und daraus sind denn zahlreiche Arbeiten über
Systematik, Organisation und Verwandlung hervorgegangen.
Dennoch aber hat keine der bisherigen Untersuchungen uns völlige
Sicherheit geboten über die eigentliche Stellung im System, über die
Blutsverwandtschaft der Pycnogoniden entweder mit den Krebsen oder
üutersucbuugen über Bim und fiutwiekluiig der Arthropodeu. 139
den Spinnen. Man argumentirie mit allerhand Analogieen , die sich ja
ziemlidi leicht zwischen dem Bau gewisser Arachniden und dem der
Pycnogoniden ergeben , um ihre Zugehörigkeit zu denselben zu bewei-
sen: die sackförmigen Ausstülpungen des Magens, die vermeintliche
Zahl von sechs Gliedmaassenpaaren, ja auch die Metamorphose, die
einige Aehnlichkeit mit der Milben-Entwickelung besitzen sollte , — all
das wurde betont, konnte aber doch nicht entscheiden. Gerade auf die
«
Natur der Larven legten aber die Gegner dieser Betrachtungsweise ihr
Hauptgewicht, und wollten die Pycnogoniden den Entomostraken zu-
gesellen oder doch wenigstens in ihre Nähe bringen.
Bei meinem zweiten Aufenthalt an der Westküste Schottlands in
Millport fand ich vortreffliche Gelegenheit, midi der Aufklärung die-
ser streitigen Verhältnisse ungehindert zu überlassen, und ich darf
hoffen, dass mir die Lösung der Frage gelungen ist. Was ich darüber
vorzubringen habe, findet sich in den nachstehenden Mittheilungen.
4. Embryonale Entwicklung von Pycnogonum
littorale.
Die Eier sind röthlich, messen 0,42 — 0,46 Mm. im Durchmesser,
sind vollkommen rundlich und werden in einer bedeutenden Zahl,
vielleicht 4 — 500, unter dem Leibe in einem einzigen Sacke getragen.
Der Inhalt der Eier durchläuft einen vollständigen Furchungsprocess ;
jeder Furchungsballen enthält eine centrale Zelle , welche noch spät zu
erkennen ist, wenn sich auch die Zahl der Ballen stark vermehrt
(Taf. V. Fig. 4). Es ist wohl als sidier anzunehmen, dass aus diesen
Zellen die Keimhautzellen hervorgehen. Eine vollständige Keimhaut
um den ganzen Dotterinhalt zu beobachten , ist mir nicht gelungen , die
Eier waren entweder vor oder hinter diesem Stadium. Es ist schwer,
die Centralzellen von den Dotterkügelchen zu unterscheiden und eine
Grenze von beiden im Embryo zu erkennen.
Das Ei ist von zwei Hüllen umgeben , die beide durchsichtig sind
und schon im Eierstocke gebildet werden. Wenn das Ei aus der Ova-
rial-Oeffnung herausgetreten ist, erkennt man die innere Eihaut schwe-
rer weil sie durch den Dotterinhalt stark ausgedehnt wird.
In der später ventralen Seite des Embryo entstehen aUmälig
Einbuchtungen, welche je drei Wülste begrenzen, — die späteren
Beine (Taf. V. Fig. 2). Die vorderen dieser Wülste sind wesentlich
breiter, als die mittleren und hinteren, entsprechend dem grösseren
Volum der aus ihnen zu bildenden scheeren tragenden Extremitäten.
Die beiden hinteren Paare verdünnen sich aber stärker nach der Spitze
zu und legen ^^'^^^ — »-»«-a:« «k-.- jj^ untere Fläche des Embryo von
140 I)r. Ant. Dohrn,
der einen Seite auf die andere hinüber (Taf. V. Fig. 3). Die Klauen,
welche an der ausgebildeten Larve zu erkennen sind, werden somit
schon frtth im Embryo angelegt und sind nicht Auswüchse von Zellen
des vorangehenden Gliedes.
Zwischen den beiden vorderen Wülsten setzt sich noch ein mitt-
lerer unpaarer von dem Körper des Embryo ab , der spätere Schnabel-
fortsatz. Alle diese Theile bedecken sich erst später mit einer Cuticula ;
während dies geschieht, entsteht auf der Rückseite über dem Schnabel-
fortsatz die erste Andeutung der Augen in Form eines einzigen Pig-
mentfleckes (Taf. V. Fig. 4) . Von der Anlage und Ausbildung der in-
neren Organe ist nichts zu erkennen.
Vor dem Durchbrechen der Eihäute liegt der Embryo in allen
seinen Theilen vollendet, unbeweglich in der noch fortdauernd die
Kugelgestalt bewahrenden Hülle, alle äusseren Theile sind deutlich
erkennbar. Die langen , fadenartig ausgedehnten Domen der vorderen
Extremitäten umschlingen den Körper des Embryo vollständig, die
Klauen der beiden hinteren Extremitätenpaare sind über dem Bauche
gekreuzt (Taf. V. Fig. 5).
Mit den scheerentragenden Beinen voran verlässt dann der Em-
bryo die Hülle des Eies und beginnt sofort seine Extremitäten zu
gebrauchen, die langsam auf und abgebeugt werden.
Die ausgekrochene Larve (Taf. V. Fig. 6) ist von kurzer, gedrun-
gener Gestalt. Der Körper ist beinahe gleich lang und breit, die hinte-
ren Ecken sind etwas abgerundet. Er ist überall ziemlich stark ge-
wölbt; die Consistenz der Haut ist beträchtlich , beim Zerdrücken des
Thieres platzt sie mit hörbarem Geräusch. Nach unten zu setzt sich
der Leib in den Schnabeltheil fort, welcher mit breiter Basis sich von
dem Bauch absetzt. Auf beiden Seiten desselben befinden sich die
breiten, muskulösen vorderen Extremitäten, die wie die übrigen zwei-
gliedrig sind. Das erste Glied ist indess nur eine einfache Aussackung
der Körperwand , durch keine deutlichere Articulation von derselben
abgetrennt. Das zweite, wesentlich kleinere Glied ist dagegen deutlich
abgesetzt vom ersten; starke Muskeln, welche den Innenraum des
ersten ausfüllen, inseriren sich an beiden Winkeln. Auf dem rechten,
äusseren Winkel des ersten Gliedes befindet sich ein sehr langer, ran-
kenartig verlängerter Dorn , dessen erstes Viertel breiter und beider-
seits mit Haaren besetzt ist. Dieser Theil scheint starr zu sein , wäh-
rend der längere Theil sich in sanften Biegungen ausstreckt. Da ich
die Larven von Pycnogonum littorale niemals auf Polypen beob-
achtet habe, so weiss ich nicht anzugeben, zu welchen Zwecken dieser
lange Rankensatz dient , glaube aber nicht zu irren , wenn ich ihn für
üntersnchnngen aber Bau and Entwickelung der Arthropoden. 141
ein Mittel ansehe, das Thier an dem Polypen zu befestigen, da zu ähn-
lichem Zwecke ein anderer Apparat voi\ der Larve von Achelia lae-
V i s benutzt wird, der an derselben Steile gelegen ist. Auf der Spitze
des kleineren Gliedes findet sich die Scheere eingefügt. Der innere
"kleinere und staii^er gekrümmte Zahn ist unbeweglich befestigt; gegen
ihn wird durch starke Muskeln der äussere längere gebeugt. Die In-
nenfläche des letzteren weist neben einigen Zähnen noch eine Anzahl
von Haaren auf, wogegen der kleinere Zahn auf der Innen- und
Aussenseite nur mit einigen Zähnchen besetzt ist. Die vorderen Extre-
mitäten werden oft gegen einander, wohl auch über einander gebeugt ;
die Musculatur, welche die Zähne bewegt, ist so stark, dass oft das
ganze Thier sich daran festhält, und es schwer wird, dasselbe von
dem Polypen, auf dem es sitzt, zu entfernen. Die beiden hinteren
Beinpaare sind in demselben Sinne zweigliedrig, als das vordere,
wenn man die Ausstülpung des Körpers fttr das erste Glied nimmt.
Das zweite Glied hat conische Gestalt und ist länger als das erste , die
Endklaue ihrerseits ist wieder länger als das vorhergehende Glied , hat
auf der Innenseite auf zwei Drittel der Länge einen kleinen Dom und
ist wie die Basis der rankenfdrmigen Domen beiderseits behaart. Der
Schnabelfortsatz ist conisch mit ziemlich geraden Seiten. Die Mund-
öffnung ist ohne äussere Leisten.
Von den inneren Organen kann ich nichts berichten , da ich die
Larven von Pycnogonum littorale nicht so genau studirt habe,
als die von Achelia lae vis. Ich verlasse somit die erstere und wende
mich zur Beschreibung der letzteren, deren Anatomie und Entwickelung
ich vollständiger untersucht habe.
8. Die Larve von Achelia laevis.
Die Larve (Taf. V. Fig. 7) weicht wesentlich von der eben be-
schriebenen ab. Vor allen Dingen fehlt ihr der charakteristische ran-
kenartige Dom ; statt dessen besitzt sie einen kürzeren aber stärkeren
Dom an derselben Stelle (Fig. 7 /*). An diesem letzteren sieht man
fast immer einen sehr feinen Faden (Fig. 7 t] befestigt und erkennt
bei näherer Untersuchung, dass dieser Faden aus dem Dom heraus-
kommt. Der Dom ist nämlich hohl , seine Spitze durchbohrt und im
Innem sieht man einen zweiten feinen Canal, der von einem merkwür-
dig gestalteten Organ (Figur 7 g) ausgeht, das in der Basis des ersten
Gliedes der Scheerenftlsse liegt. Das Organ hat die Gestalt eines Kar-
tenherzens, die Spitze ist verlängert in den eben erwähnten Canal, der
anfänglich etwas breiter sich bald verschmälert und quer durch den
Innenraum des Beines sich zu dem Dom beiriebt. Der Canal ist nicht
142 Dr. A&t. DofarD,
häutig, soodern hornig, dennoch beugt er sich in massiger Krümmung,
ehe er den Dom erreicht. Die Structur der Drüse — denn fttr eine
solche muss ich das sonderbare Organ halten — habe ich nicht ermit-
teln können, nur so viel vermag ich anzugeben, dass die hintere Hälfte
aus kleinen Zellen bestand , die dem Organ eine gewisse Aehnliohkeit
mit einem Nervenganglion verliehen , während die vordere Hälfte von
zwei merkwürdigen blassen Flecken eingenommen wurde, die Kugel-
gestalt besitzen , aber nicht erkennen Hessen , ob sie mit irgend einer
Substanz gefüllt waren, oder Hohlkugeln darstellten, lieber und unter
dieser Drüse liegen Muskeln , welche zur Bewegung des zweiten Glie-
des der Extremität dienen. Die Domen der Scheeren sind jenen der
Pycnogonum- Larve sehr ähnlich, der äussere Zahn entbehrt aber
auf der Innenseite der Haare.
Die beiden hinteren Extremitätenpaare zeichnen sich vor denen
der Pycnogon um -Larve durch den Besitz von Stacheln aus, welche
von dem Basalgliede entspringen und bis zur Spitze des zweiten Glie-
des reichen. Die Klaue trägt mehrere kurze und einen längeren cylin-
drischen Zahn auf der Innenseite nahe dem oberen Drittel der Länge.
Der Schnabelfortsatz ist conisch mit convexen Seiten; seine vordere
Fläche ist fast senkrecht nach unten gerichtet, während die hintere
fast unmerklich von der Richtung der Bauchwand abweicht (Taf. V.
Fig. 4 0) . Die Mundöffnung ist umgeben von einer kragenartigen Chi-
tinleiste , welche auf der Unterseite sidi in eine Leiste verliert , die auf
der Mittellinie nach der Basis zu geht. Unter dem oberen Rande dieses
Kragens ragt eine sehr scharfe Chitinspitze vor, welche durch zwei
convergirende Leisten gebildet wird. Zwei ähnliche Leisten ragen über
dem unteren Theil des Chitinkragens hervor , sind aber abgemndeter
und verschmelzen nicht miteinander. Im Profil gesehen ist die Mund-
öffnung von nicht unbeträchtlicher Weite und führt in einen geräu-
migen Oesophagus , der gestützt von drei hornigen Leisten nach oben
läuft und in den Magen mündet. Die Gestalt des Oesophagus ist läng-
lich oval , auf seiner oberen Wandung bemerkt man im hinteren Theile
eine Anzahl hinter einander liegender Chitinringe , welche nach unten
zu gebogen sind. An ihnen sind nach unten und vom gerichtete
Stacheln befestigt, welche zur Zermalmung und Zerreibung der Spei-
sen dienen. Die Innenfläche der unteren Oesphagus -Wandung ist mit
feinen nach links gerichteten Zähnen dicht besetzt, die ihrerseits den
gleichen Zweck erfüllen, so dass durch Zusammenwirken der Zähne
und Stacheln eine vollkommene Zerkleinerung der Nahmng bewirkt
werden kann.
In der Mitte des Körpers ungefähr mündet der Oesophagus mit
_ Dutersucbuiigen über Bau and finiwicklung der Arthropoden. 143
schmalem Gange in den Magen (Fig. 7 k). Dieser ist von bedeutender
Ausdehnung und nimmt fast den ganzen Innenraum des Leibes ein.
Er ist nach vorn jederseits in einen Blindsack ausgezogen , der bis in
die Basis der ScbeerenfUsse und an die Spinndrüse reicht. Nach jeder
Seite buchtet sich ein zw^eiter kleinerer Blindsack aus , nach hinten zu
ist der Magen dagegen breit und abgerundet ohne w^eitere Ausstülpun-
gen. An die hintere Körperwand befestigen ihn drei MuskelstrUnge
(Fig. 7 Ij y von der Mitte der Rückenwand gehen nach vom und unten
zwei breite Muskeln ab y welche sich an das £nde des Oesophagus in-
seriren. Eine Afteröffnung konnte ich bei keiner Larve gewahr wer-
den, ebensowenig irgend welche festen Nahrungspartikel. Auch über
die Structur der Magenwandungen habe ich nichts weiter ausbringen
können, als dass die Wandung mit einer Anzahl flacher, 0,028 grosser
Zellen bedeckt ist, die aber nicht einander berühren. Die Zellen sind
mit FetÜLömchen angefüllt. Sie vermehren sich später sehr stark.
Die Muskeln sind zahlreich vorhanden. Sie inseriren sich meist
mit breiter Basis unmittelbar an die Körperwandung ; in den Extremi-
täten sind sie länger und breiter. Sie zeigen mit Reagentien behandelt
oder beim Absterben des Thieres deutliche Querstreifung, die Zickzack-
linien bildet.
Das Nervensystem besteht aus einem ovalen, quer liegenden
Gehimganglion (Fig. 7 m) , das über dem Schlünde und den zu diesem
laufenden beiden breiten Muskelsträngen liegt und nach unten durch
zwei Gommissuren mit dem aus zwei noch deutlich erkennbaren , be-
reits aber verschmolzenen Hälften bestehenden unteren Schlund-
ganglion (Fig. 9 n) verbunden ist. Hinter diesem letzteren liegen zwei
Ganglien (Fig. 9 o) neben einander, von beträchtlicher Grösse, aber
ohne Spur einer Verbindung unter sich. Dagegen sind sie durch Com-
missur mit dem ersten Ganglion verbunden. Während das untere
Schlundganglion sehr schwer erkennbar ist, treten die beiden un ver-
bundenen Kugeln sehr deutlich hervor. Woher sie stammen, ob sie
eine Abspaltung vom Magen oder von der Haut sind , vermag ich nicht
zu sagen. Das letztere ist aber der Analogie nach wahrscheinlicher.
Peripherische Nerven bemerkte ich erst in etwas späterem Stadium,
glaube aber, dass sie schon in der frisch ausschlüpfenden Larve vor-
handen sind.
Von Sinnesorganen existirt nur das mitten auf dem Gehirn
sitzende aus zwei mit einander verschmolzenen braunen Pigment-
bechem bestehende Auge (Taf. V. Fig. 8). Sicher ist, dass über und
in dem Pigmentbecher noch lichtbrechende Apparate sich befinden , da
eine bläuliche Färbung auf die Anwesenheit anderer Gebilde , als der
144 Dr. Aul. Vohra,
blossen Haul Über dem Pigmenll>echer schlJesseii lüsst. Eine Linsr
konnte ich aber nicht erkennen.
Die Circulation ist durchaus unregclmässig. Ein Hcti exisliit
nicht, — und soweit meine bisherigen Untersuchungen reichen, — bei
keiner Pycnogoniden- Larve. Die Blutmasse scheint aus sehr grossen,
weichen Zellen zu bestehen, welche Fetlkönichen enthalten. Sic sii)d
farblos und formlos. Ihre Bewegung ist bedingt durch die Contraction
der Magen Wandung und der Körper- und Gliodmaassen-Musculatur:
somit also ohne jeden festen oder bestimmten Rhythmus. Man erkeunl
die Bewegung der trägen, dickflüssigen Masse unter dem Mikroskop
aber sehr deutlich; wo eine Contraction der Magenwand statlündet, da
fliesst sie schleunig zusammen, um sogleich beim Auseinanderweichen
der Wandungen wieder wo anders hin zu flicsson.
Welcher Art das unter dem Panzer liegende Hypoderniis-Gewebc
ist, vermochte ich nicht zu eriiennen, man sieht nur, dass es vielfachc
Zellen und Kerne enthält, die nach innen vorspringen.
3. Metamorphosen der Achelia laevis.
Die erste Veränderung, welche in der Larve zu erkennen ist, Irin
am hinteren ESrperende auf. Dasselbe zeigt ntimlich an den drei Stel-
len, wo der Dann an die KOrperwand durch Muske Ist ränge befestigt
war, Verdickung und und Aussackung der Hypodermis, so dass eine
terminale und zwei seitliche conische HervorraguDgcn entstehen. Zu-
^eich erkennt man an den beiden seitlichen Ausstülpungen eine ver-
grBsserte Zahl von Huskelsträngen von der Hypodermis an den Darm
gehend, wahrend nur zwei Stränge, die dicht neben einander liegen,
die mehr ausgezogene Darmspitze an die äusserslc Spitze der Koi-per-
wand heften.
In einem folgenden Stadium war die Verlängerung dieser drei
Ausstülpungen schon weiter vorgeschritten und die beiden seitlichen
von der mittleren terminalen schon durch tiefere Einsenkungen ge-
schieden. Zugleich ward auch der Hagen in alle drei mehr hineingezo-
gen. Im Innern des KOrpers ist zugleich eine wichtige Veränderung
aufgetreten: hinter dem zweiten Bauchganglion - Paare bemerkt man
ein kleineres drittes Paar (Taf. 1. Fig. 9 p]. Auch über die Herkunft
dieses, gleichfalls noch unverbundenen Paares vermag ich nichts aus-
zusagen.
Das nächste Stadium liess nun deutlich erkennen, dass aus den
beiden seitlichen Ausstülpungen ein neues Beinpaar und aus der ter-
minalen das sogenannte Abdomen mit der Afterspalte hervorgehen
Dotersnebonfi^n fiber Bad ond Entwiekelong der Arthropoden. 145
würde. Die Aussackungen werden immer tiefer, der Magen bildet zwei
Taschen , die in beide bis auf die Hälfte der Länge hineinreichen und
dort von denselben Muskeln festgehalten werden , welche schon in den
früheren Stadien diese Function erfüllten. Die terminale Aussackung
ist nun schon* breiter und grösser als der Schnabelfortsatz; die Hypo-
dermis sämmtlicher drei Ausbildungen ist dick und wohl ernährt, nur
\ot der Spitze der mittleren findet sich ein kurzer Abschnitt, wo sie
fast unkenntlich schmal ist. Ebenso ist die Magenwand überall von
beträchtlicher Stärke, nur die Spitze der terminalen Aussackung ist
dünn und blass.
In dem nächsten Stadium liegen die seitlichen Ausstülpungen der
terminalen nicht mehr so eng an und man erkennt auch an partieller
Verdickung der Hypodermis, dass sich die Gliederung der ersteren
vorbereitet. Zugleich ist die Anlage eines neuen Beinpaares in Form
zweier seitlicher Ausstülpungen an der Basis der terminalen zu erken-
nen. An den inneren Organen bestehen die erkennbaren Veränderun-
gen in einer Theilung des verschmolzenen Auges, so dass jetzt nach
jeder Seite zwei Pigmentbecher gerichtet sind , die aber alle vier noch
mit den Spitzen zusammenstossen. Zugleich verschmelzen die beiden
Kugeln des zweiten Ganglienpaares und lassen seitlich je einen starken
Nerven erkennen , der die Richtung nach dem ersten neuen Beinpaare
einschlägt. Ein neues Ganglienpaar ist , wenn auch schwierig , in der
Anlage zu erkennen.
Die neue seitliche Ausstülpung, welche in derselben Weise sich
ausbildet, wie die erste, entwickelt sich nun zu dem zweiten neuen
Beinpaare , während das erstere frei wird und nach beiden Seiten von
dem Körper absteht. Diese Neubildung von Gliedmaassen findet im
Ganzen viermal statt, jedesmal mit einer seitlichen Verdickung und
Ausstülpung der Basis des After -Vorsprunges oder Abdomens begin-
nend. Derweil werden aber die ursprünglichen drei Extremitätenpaare
nicht abgeworfen, sondern bleiben fortwährend in Thätigkeit. Tafel 1.
Fig. U zeigt eine Entwickelungsstufe , auf welcher zwei neue Bein-
paare, eins von 8, das zweite von 7 Gliedern, bereits in Thätigkeit sind,
das dritte schon einen ansehnlichen Blindsack des Magens enthält, das
vierte dagegen eben erst in der Bildung begriffen ist. Derweil sind
aber die ursprünglichen Extremitäten in voller Function. Die einzigen
Veränderungen bestehen in ein paar Domen, welche auf der Innenseite
des zweiten Gliedes des vorderen Paares entstanden sind, während
der Drüsenstachel des Scheerenfusspaares in der Rückbildung begriffen
scheint.
Sämmtliche Ganglien sind nun ausgebildet und zu einer gemein-
146 ^r« Ant. Dobrn,
Samen Masse verwachsen , die aber jedes einzelne Ganglion selbststän—
dig lässl. Nur fehlen die Commissuren in Folge der nahen Lagerung
der Ganglien.
Der Schnabelfortsatz verlängert sich in seiner Basis, ebenso die
scheerentragenden Extremitäten in ihrem Basalgliede.
Der After ist nun vollständig ausgebildet, eine Spalte an dem Ende
des kleinen Abdominalfortsatzes , welche durch zwei schräge Muskel an
die Seiten wand desselben befestigt wird, öflnet den Darm nach aussen.
Letzterer erleidet eine Einschnürung, bevor er in den Afterfortsatz ein-
tritt, und verliert bei dieser Einschnürung seinen Durchschnitt. Nur
die Muskelhaut bleibt übrig , deren häufige Contraction man wellen-
artig hinschreiten sehen kann (Taf. V. Fig. 11 Q.
Zur Beobachtung brachte ich demhächst ein Stadium, das drei
entwickelte hintere Beinpaare besass , während das vierte erst in der
Anlage begrißen war (Taf. V. Fig. 1 2) . Das hinterste Paar der Larven-
füsse war bis auf einen kleinen klauentragenden Hügel verschwunden,
das mittlere Paar hatte eine grössere Zahl von Domen an der Spitze des
klauentragenden Gliedes, die Scheerenbeine hatten den Stachel vei^
loren , welcher den Ausführungsgang der Spinndrüse enthielt und der
Schnabelfortsatz fährt fort sich zu verlängern.
Darauf folgt ein Stadium, in dem bereits alle vier hinteren Bein-
paare in voller Ausbildung vorhanden sind (Taf. Y. Fig.. 13); der
Afterfortsatz war verlängert und reichte mit seiner Spitze bis über die
Hälfte des dritten Gliedes des letzten Beinpaares hinaus; der Schnabel-
fortsatz war sehr stark vergrOssert, die MundOflhung glich aber noch
völlig der ersten Larvenform. Die Scheeren- Extremitäten waren aber
weit in der Rückbildung vorgeschritten. Zwar gewahrt man noch die
Scheere selber, doch ist das Glied, auf dem sie sitzt, kaum noch zu
erkennen ; das erste Glied dagegen ist verlängert, zugleich aber schmä-
ler geworden , der Stachel , durch welchen sich die Spinndrüse OfiEhete,
ist völlig verschwunden , ebenso die Drüse selbst. Die Länge der bei-
den vordersten Extremitäten ist kaum bedeutender als die des Schna-
belfortsatzes.
An der Stelle des ersten Paares der Larvenbeine befindet sich eine
zweigliedrige Extremität, die aber die Klaue verloren hat, welche im
vorigen Stadium noch vorhanden war; das Basalglied ist kurz, das
zweite um das Doppelte länger und an der Spitze mit Stacheln besetzt.
Die Länge beider Glieder zusammen ist noch nicht so bedeutend als
die des Schnabelfortsatzes.
An der Stelle des zweiten Beinpaares findet sich nur eine fauf-
Untersnchungen Aber Baa und Botwieklnng der Arthropoden. 147
eisenförmige Leiste der Ghitinhaut, welche nur bezeugt, dass einst hier
eine Extremität bestanden habe.
Beide, die zweigliedrige Extremität und die hufeisenförmige Leiste
liegen zwischen Schnabelfortsatz und dem ersten Beinpaare.
In dem völlig ausgewachsenen weiblichen Thiere finden wir nun
diese neue zweigliedrige Extremität zu einer achtgliedrigen ausgebildet
(Taf. Y. Fig. 44), und an der Stelle der hufeisenförmigen Leiste sehen
wir eine neungliedrige Extremität. Die erste dieser beiden neuen Bil-
dungen stellt die gewöhnlich als Taster beschriebene Extremität dar,
die zweite das accessorische Füsspaar , den female foot der englischen
Beschreiber.
An dem Taster sind die vier letzten, ungefähr gleich grossen Glie-
der mit Stacheln dicht besetzt, das ihnen vorangehende ist von gleicher
Grösse, wie sie alle zusammen, das dritte beinahe so lang als das
vierte, das erste und zweite von gleicher Länge , aber kürzer als das
dritte.
Das accessorische Füsspaar besitzt gleichfalls vier Endglieder von
fast gleicher Grösse; statt der Borsten tragen sie aber merkwürdige,
wie Eichblätter gestaltete Fortsätze. Auf der Spitze des letzten Gliedes
sitzt ein ganz kleines, halbkugeliges Glied noch auf, das zwei solcher
Fortsätze trägt. Will man es als besonderes Glied zählen , so kommen
4 0 Glieder im Ganzen für diese Extremität heraus. Die ersten Glieder
sind grösser als die letzten, aber nicht so ungleich, wie die entsprechen-
den des Tasterpaares.
Die scheerentragenden vorderen Extremitäten sind bis auf kleine
zweigliedrige Stümpfe zusammengeschrumpft, die um das Doppelte
ihrer Länge von dem Schnabelfortsatz überragt werden. Die Scheere
ist völlig zu Grunde gegangen, man erkennt nur noch den einen Zahn.
Das grössere Basalglied ist bedeckt mit eigenthUmlichen zackigen
Stacheln ; es enthält im Innern noch den sehr kurzen Magensack.
Der Schnabelfortsatz ist fast so lang als der Körper des Thieres ;
er ist schräg nach unten gerichtet. Das erste Dritttheil ist gegen die
beiden anderen durch eine Einschnürung etwas abgesetzt und lässt
den Schnabelfortsatz wie zweigliedrig erscheinen. An der Spitze ist
die sternförmige , dreieckige Hundöffnung , welche von drei wulstigen
Lippen beinahe ganz geschlossen wird. Die Lippen scheinen häutige,
mit kurzen Haaren besetzte Fortsetzungen der Oesophaguswandung zu
sein , die sich an die umgebende Ghitinhaut ansetzen imd in gerun-
deten Wölbungen vorspringen. Da sie sich nicht gegenseitig berühren,
ist die Mundöfihung nicht geschlossen. Wo die Chitinleisten , die ihre
Basis ausmachen, zusammenstossen , setzen sie sich fort in Leisten,
148 ^» Ant Oohrn,
welche an dem Oesophagus nach hinten laufen. Ausser den erwähnten
Leisten findet sich noch an jedem Winkel der Mundöffnung eine an-
dere Leiste, die über die beiden zusammenstossenden Lippenränder
hinübergreift und an beiden Enden etwas nach innen vorspringt , wo—
durch der Anschein von Zähnen hervorgerufen wird. Die Leisten sind
aber unbeweglich.
Der Oesophagus liegt im Innern des Schnabelfortsatzes, wie dieser
etwas aufgebläht und erst eingeschnürt und sich verengernd , wo der
Rechentheil beginnt. Von allen Seiten der Wandung des Schnabel—
fortsatzes heften sich kurze Muskeln an die Wandung des Oesophagus,
hauptsächlich an die drei von den Mundwinkeln herabsteigenden
Leisten, die sich zu förmlichen Cristen erheben, wenn sie an das letzte
Dritttheil gelangen, das die zahlreichen Halbringe mit den Rechen
trägt. Solcher Ringe sind 30 — 40 vorhanden, ihre Zahl hat sich somit
im Laufe der Entvsdckelung bedeutend vermehrt. Sie sind getragen
und befestigt an jene Leisten, die ihrerseits wieder zahlreichen Muskeln
zur Anheftung dienen, schliesslich aber in eine ringförmige Ghitinleiste
der Körperwandung endigen. Auf ihrem inneren Rande tragen sie eine
grosse Zahl , bis 40 , verschieden lange , feine und spitze Zähne , die
einer Insectennadel gleichen; so ist das ganze hintere Dritttheil des
Oesophagus mit diesem Apparat ausgerüstet, der jedenfalls ganz vor-
treffliche Dienste für die minutiöseste Zerkleinerung der Nahrung
leisten muss.
Der Schnabelfortsatz sitzt wie in einem Kragen in dem Abschnitt
des Leibes fest, welcher die Taster trägt; dieser ist wiederum durch
eine Chitinfurche abgesetzt gegen den nächsten, der die acces-
sorischen Reine trägt, und auch dieser gegen den nächsten, mit wel-
chem das erste Paar der langen Gangbeine verbunden ist. Auf dem
Rauch hat der Körper eine Art Schild; die Rauchplatten des Leibes
sind von stark verdickten Chitinrändern umgeben , an denen die Mus-
keln für die Rasalglieder der Gangbeine eine vortreffliche Insertion
finden , sie setzen den Mittelraum des^Rauches stark gegen die Seiten
und gegen die Insertion der Reine ab.
Auf dem Rücken findet sich ein kleiner Hügel dicht hinter der In-
sertion der vorderen, rudimentären Scheeren- Extremitäten, auf wel-
chem die vier, jetzt von einander getrennten Augen sitzen. Jedes Auge
bildet einen Recher, dessen abgerundete Spitze nach innen und schräg
nach unten gerichtet ist. Eine Membran , welche diesen Recher ein-
schlösse, vermochte ich nicht aufzufinden, da bei der leisesten Quet-
schung sofort das Pigment ausfliesst. An einem derartig gequetsch-
ten Auge bemerkte ich eine grosse Zahl von zarten 0,042 — 0,0S8 Mm.
— -^ IT^
UntersaeboDgen ober Bau und Entwickelong der Artbropoden. 149
im Durchmesser haltenden blassen Zellen, die über-, d. h. neben ein-
ander liegen. Ob sie einen zarten, lieh tbrechenden Apparat gebildet
haben mochten, vermag ich nicht zu sagen, halte es aber für sehr
möglich, da über dem Pigmentbecher immer ein schillernder, irisiren-
der Glanz zu bemerken ist und da ich dergleichen an Pycnogonum
littorale beobachtet habe (Taf. VI. Fig. 20). Die Augen stehen ein-
ander über Kreuz entgegen , so dass das Thier ohne sich zu bewegen,
nach allen Himmelsgegenden zu gleicher Zeit sehen kann, worauf schon
Zbiyker hinwies.
Die Beine haben neun Glieder ; das fünfte trägt am oberen Rande
einige kleine Domen, das sechste am unteren, das siebente hat am
oberen einzelne grossere , an der Spitze des unteren eine Anzahl klei-
nerer. Das achte ganz kleine Glied trägt auf der Unterseite vier mittel- .
starke Domen, die nach vorn gekrümmt sind, das neunte endlich, das
wie bei allen Pycnogoniden stark gekrümmt ist, hat auf der oberen
Kante sieben gleich lange grössere Domen, auf der unteren drei grosse
und fünf kleinere. An der Spitze über der einfachen Klaue sitzen
zwei lange Domen, die beinahe so lang sind, als die Klaue selbst.
Das Weibchen hat in allen vier Beinpaaren Eierstöcke (Taf. VI.
Fig. 1 6) , die sich an der Unterseite des dritten Gliedes in einem ovalen
Loche öffoen und bis in die Spitze des fünften Gliedes reichen. Die
Eierstocke bestehen aus einem einfachen, zwischen Magensack und
Muskulatur gelegenen Sacke , dessen feine Contouren durch die Wan-
dung des Beines zu erkennen sind. Der Inhalt besteht aus einer dich-
ten Masse von Zellen , von denen einige allmälig anwachsen und zu
Eiem werden. Man sieht die Eier von allen Stadien neben einander,
die Zwischenräume sind von den erwähnten Zellen ausgefüllt , die ur-
sprünglich wahrscheinlich die Wandung des Eierstockes nach aussen
ausgeschieden haben. In jedem Ei erkennt man die centrale Keimzella
mit Keimfleck, in den schon vorgeschritteneren einen trüben bräun-
lichen Inhalt, der allmälig mit dem Wachsthum dunkler und dichter
wird , und im ausgewachsenen Ei die innere Zelle dem Auge entzieht,
deren spätere Theilung indess wahrscheinlich den Anlass zur totalen
Purchung des Eies giebt.
Das Männchen unterscheidet sich äusserlich beträchtlich von dem
Weibchen. Die vordersten, scheerentragenden Extremitäten sind zwar
kürzer als bei noch unentwickelten Individuen, aber sie sind etwas
länger als bei den Weibchen und haben noch eine vollständige Scheere
(Taf. VI. Fig. 47). Die Taster sehen denen der Weibchen sehr ähnlich,
die Grössenverhäitnisse der einzelnen Glieder sind aber ein wenig un-
terschieden (Taf. VI. Fig. 48). Statt des ausgebildeten acc^ ~
Bd. V. 2 I
V ^
150 Dr. AdI. Dolm,
Fusspaares findet sieb ferner nur eine viergliedr^e kurze Extramität,
deren letztes Glied langer ist als <Ue übrigen zusammen [Taf. Tl.
Fig. 19).
Der Dann, oder der Hagen, vrie man ihn nun nennen will, durch-
liebt den KOrper vollständig; die seiüicben AusatUlpungan gehen bis
an das Ende des vorletzten Gliedes der einzelnen Beine. Die Strudur
der Wandung scheint, soweit ich erkennen konnte, sehr einfach und
besteht aus einer muskultisen HUlle und einer Epitelscbicht, deren
Zellen sich abzulösen und frei in der DarmhChlung zu cursiren schei-
nen, getrieben von den Contractionen der Wandungen.
Die Angaben der verschiedenen Forscher ttber das Gefösssystem
und den Blutlauf sind bis jetzt noeh widersprechend. Von Einigen
wird den Pycnogoniden ein Herz zu-, von Einigen abgesprochen. Cu-
FAB&Dt beschreibt ausserdem noch eine Aorta und schwingende Hem-
branen in den Beinen. Von letzteren habe ich nichts wahrnehmen
können ; was mir allenfalls den Eindruck machte , waren die langen
Nervenstämme, die in den Beinen verlaufen, und die durch die viel-
fachen Pulsationen und Contractionen der Darmwandung häufig gleich-
falls in Bewegung kamen. Die Anwesenheit einer Aorta, welche auf
der Oberseile des Oesophagus li^en soll , kann ich nach meinen Un-
tersuchungen nicht bestätigen; so viel ich erkennen konnte, läuft ein
wandungdos^ Stn»n zwischen den Uuskeln des Oesophagus auf seiner
Oberseite dahin, der durch seine Pulsation einen Nerven des Schoabel-
fort^tzes zu rhythmischen Bewegungen veranlasst, und so vielleicht
Anlass gegeben hat, an eine eigene Aortenwandung zu denken. Der
Strom theilt sich dicht vor der Spitze, läuft gleichfalls in einer Lacone
jederseits auf die Unterseite und vermischt sich dort mit der allgemei-
nen CirculatioD des Bhites. Ein Herz habe ich bei einer Art der
Gattung N ymphon wahrgenommen. Es stellt einen Sack, dar, dessen
Spitze dicht vor dem Afterfortsatz, dessen grosse breite Oeffiiung zwi-
schen dem ersten der vier Ganglienpaare li^L Es hat in der oberen
Wandung vier quergesohlitzte Klappenttffbung«) , derea je zwei neben
einander liegen. Die Wandung des Herzens besteht aus Muskulatur
und vorspringenden Kernen.
Was DQD dieBlutk&rperchen anlangt, so lassen sich zwei ver-
schiedene Arten unterscheiden. Die eine wird gebildet von 0,024 Hm.
im Durchmesser haltenden, hellen, durchsiohtigon , kleinen Blasen,
ohne Kerne, aber meist mit unregelmUssig geMteten Wandungen, die
andere von 0,008 Hm. messenden, gewtthnUcb aber länglichen kleinen,
oft in dtlnne Fortsätze ausgezogenen Kürperchen anscheinend mit Fett-
kfirnchen gefüllt. Amoeboide Bewegungen habe ich an keiner von bei-
Diitersuchnngen Ober Bau and Entwickeloiig der Arthropoden. 151
den wahrgenommen. Die letzteren sind viel weniger zahlreich als die
ersteren; sie quellen beide in destillirtem Wasser auf, während sie in
Seewasser ihre ursprüngliche Form beibehalten.
Die Bewegung des Blutes wird zum kleinsten Theile durch
das Herz bewirkt, wo ein solches vorhanden ist. Die Mehrzahl der
Pycnogoniden hat aber kein Herz, sonach muss ein anderes Agens ein-
treten. Dies Agiens ist, wie bereits Qoathefagbs ganz richtig feststellte,
der Hagen oder Darm mit seinen langen Blindsäcken in den Beinen.
Und selbst da, wo wie auch bei Phoxichilus ein Herz vorhanden ist,
bestimmt die Bewegung des Darmes mehr die Girculation als die des
Herzens. Des letzteren Herrschaft erstreckt sich nicht über den Innen-
raum des Körpers hinaus ; in den Beinen gehorcht die Blutbewegung
aber den Gontractionen der Darmblindschlauche, die bei manchen Ar-
ten rhythmisch erfolgt.
Das Nervensystem besteht aus einem oberen Schlundganglion
oder Gehirn und einer Reihe von Bauchganglien. Die Zahl der letz-
teren variirt bei den verschiedenen Arten. Bei vielen scheint das erste
und zweite zu verschmelzen, wenigstens sieht man beiPycnogo-
num littorale, bei Nymphon und bei Phoxichilus nur vier
Bauchganglien mit einem rudimentären letzten Ganglion für den After-
fortsatz. Bei Phoxichiiidium dagegen und Achelia habe ich fünf
Bauchganglien und das rudimentäre Afterfortsatz -Ganglion gesehen.
Die Nerven, welche von diesen Ganglien abgehen, sind bereits von
Zbnkbh genau beschrieben.
Von Sinnesorganen sind uns nur die Augen bekannt. Frühere
Beobachter geben .an, es liessen sich keinerlei Linsen oder andere
licfatbrechenden K(Hper in den einzelnen Augenbechem erkennen.
Mir ist es indess gelungen , mich vom Gegentheil zu überzeugen. Bei
einem jungen Pycnogonum littorale (Taf. VI. Fig. SO) unterwarf
ich die Augen eingehender Untersuchung und fand in einem jeden der-
selben acht bis zehn kugelige Körper, die wahrscheinlich gleich den
Krystallkörpem im Crustaceen- und Insectenauge zu dem dioptrischen
Apparate gehören. Ueber ihre Structur konnte ich nichts Näheres her-
ausbringen ; dennoch ist mir nicht unwahrscheinlich , dass sie mit den
bei Achelia im zerdrückten Augenbecher beobachteten matten Zellen
in Zusammenhang stehen, da auch die Umrisse dieses Körpers bei
Pycnogonum sehr matt und nur bei sehr starker Vergrösserung und
mit gegen alle anderen Lichtquellen durch Ueberschattung mit der
Hand geschütztem Auge von mir wahrgenommen werden konnten.
44 ♦
4. Entwicklung von Pfaoxichilidium sp.
Schon beim äusseren Anblick erkennt man zwischen trächtigen
Phoxichilidium-Weibcfaen und Pyunoganurti-WeibcheD eiaen
wesentlichen Unterschied. Diese tragen die Eier in einem oder oieli—
reren Sückchen, jenes aber hat die einzelnen Eier frei an dem dritteis
oder accessorischen Fusspaare hängen. Bei Pycnogonum findet man
einige Hundert, bei Phoxichilidium nur zwanzig bis dreissig.
Jene sind klein , messen 0,48 — 0,16 Hm. im Durchmesser, diese da-
gegen sind mehr als doppelt so gross und ballen 0,ä3S Hm. -Durch-
messer.
Den äusseren Unterschieden entspricht die Verschiedenheit der
Entwicklungsweise. Bei Phoxichilidium kommt es nämlich nichl
Eur Larvenbildung , sondern die ganze Hetamorphose wird tlber-
sprungen und aus dem Ei kriecht ein bis auf das letzte Fusspaar fer-
tiger Pycnogonide aus. Wir haben somit in diesem Thier das beste
Beispiel einer abgektlrzten Entwicklung und können aus den Unter-
schieden der embryonalen Zustände beurlheilen, welchen EinQuss auf
gewisse Vorgänge im Ei diese Abkürzung hat.
Da ist es nun von grossem Interesse, dass wir auf eine Embryonal-
baut in den Phoxichilidium-Eiern treffen, wahrend die übrigen
Pycnogoniden, soweit ich sie untersuchen konnte, nichts der Art
erkennen lassen. Die noch nicht mit einer Eeimschicht versebenen
Eier zeigen deutlich ein Chorion und eine feine Dolterhaut, die sich
auch bei den anderen Pycnogoniden - Eiern fand. Presst man ein Ei,
so dehnt sich das Chorion weiter aus als die Dotierhaut, und letztere
kommt zur genauen Perception, da sie den Dotter begrenzt und
zwischen ihm und dem Chorion ein freier Raum bleibt. Auch ia dem
weiter entwickelten Ei kann man diese beiden Haute noch wabmeh-
men, — ausser ihnen aber noch die Larvenhaut, welche den ganzen
Embryo einhüllt und nur an zwei Stellen in genauer Verbindung mit
demselben steht; an der Basis der beiden Vorder-Extremitäten, wo
sich ein kleiner Fortsatz findet (Taf. VI. Fig. 2f o), der mit einem dop-
pelt contourirten Ringe abschliesst. Dieser Portsatz hat offenbar noch
eine nach rückwärts weisende Bedeutung : er ist das letzte Rudiment
des bei den als Nauplioide auskriechenden Pycnogoniden sich finden-
den Bankendorns oder des durchbohrten Stachels, den ich von der
Larve der Achelia laevis beschrieben habe. Wie man an jenen
Larven siebt, liegt die Insertionsstelle dieses Domes an dem Basal-
gliede der vorderen Extremität und wird schon zeitig im Ei angelegt.
Dasselbe geschieht an den Embryonen von Phosichilidium. Wie
r 'r
I. I
1. J
Untersuchungen ober Bau und Entwicklung der Arthropoden. 153
aber von jenem Fortsatz in den fertigen Pycnogoniden keine Spur mehr
zu finden ist , da der Stachel während der Metamoi*phose allmälig zu
Grunde geht , — so ist auch dies Gebilde bei Phoxichilidium nur wäh-
rend des embryonalen Lebens von Dauer und hat als solches eine an-
dere Function angenommen , nämlich die oben erwähnte , als Befesti-
gungsstelle für die Eihäute zu dienen. Vergleicht man nämlich die
Abbildung auf Taf. VI. Fig. 22 , so bemerkt man , dass nicht nur die
Larvenhaut, sondern auch die innere Eihaut und das Chorion an dieser
Stelle an den Embryo festgeheftet sind. Da man aber in dem Ei,
dessen Keimbaut noch nicht zur deutlichen Embryonalbildung gekom-
men ist, keinerlei Befestigung der beiden Eihäute an dem Eiinhalt
wahrnehmen kann, so folgt daraus, dass erst durch das Entstehen die-
ses Fortsatzes die Verbindung bewirkt wird. Es ist mir nicht gelun-
(j gen, Stadien zu beobachten, in denen diese Verbindung sich angebahnt
p hätte; es muss aber zu einer Verwachsung an dieser Stelle kommen,
ja. vielleicht zu gleicher Zeit, wenn sich die Larvenhaut bildet , die sich
; deutlich um den Fortsatz herumlegt. Das Stück, welches nun in Ver-
[|: bindung mit all den Häuten steht, ist ein Ring, der sich nach innen
verengert und wiederum mit einem engeren Ringe innerhalb des Fort-
I Satzes endigt. Ob eine Durchbohrung dieses inneren Ringes statthat,
]! lässt sich nicht erkennen ; jedenfalls , sollte es der Fall sein , so wird
j. sich daraus doch kein Schluss auf eine Communication des Innenraums
I des Embryo mit der äusseren Umgebung schliessen lassen , da die Ei-
häute nicht durchbohrt sind.
Die Larvenhaut schliesst den ganzen Embryo ein , ohne eine Aus-
buchtung für die Gliedmaassen zu zeigen , ausgenommen die beiden
eben erwähnten Fortsätze.
Was nun die Bildung des Embryo selber angeht , so legt er sich
auf der späteren Bauchseite breit an , bildet eine Art Primitivstreifen,
wenn dieser Ausdruck noch zu brauchen ist , nachdem die Lehre vom
Reissen der Keimhaut bei den Arthropoden beseitigt ist. Allmälig ent-
stehen die vier Paar Extremitäten und mit ihnen vier Paar Bauch-
ganglienpaare, — in derselben Weise, wie bei den Crustaceen. Zwi-
schen den vorderen scheerentragenden Extremitäten bildet sich die
Mundöffnung auf dem dicken, wulstigen Vorsprunge, in dessen binern
schon frühzeitig der Oesophagus mit dem Rechen -Apparate angelegt
wird. Die Beine liegen anfänglich in Schraubenwindung innerhalb der
Larvenhaut , nur das dritte Paar beginnt frühzeitig sich nach vorn zu
strecken und bedeckt von unten her die Ganglienkette. Später , wenn
die Larvonhaut entfernt ist, strecken sich die beiden anderen Beinpaare
ebenfalls und man erkennt zugleich die Bildung eines neuen , letzten
154 ^- All'- I^bra,
Ganglions. Eine neue Cuticula umgiebt den Embryo, die nber nichi
mehr wie die Larvenbaul sackartig, sondern von allen Extremitäten rmi
abgelöst isl. Die BlindsScke des Verdauungslraclus sind bis dicht an
die Klauen gebildet, das Gehirn mit seinen vier AugeobedierD ist voll-
sländig fertig, es fehlt nur noch das letzte Beinpaar, das erst ausser-
halb der Ei- und Larven hüllen erworben wird, um die Gestall de^
ausgebildeten Thieres herzustellen.
Diese Untersuchungen wurden an einer Art gemacht, die ich
hSu6g an Algen im Hafen von Messiua fand, aber wegen maagelnder
Literatur nicht naher bestimmen konnte. Doch werde ich bei Gel^en-
beit ausftlhrlicherer Hittheilungen dies nachholen.
Die vorstehenden Hittheilungen über die Entwickelung eines
Pho&ichilidium weichen weseutlich von den Angaben ab , die vdr
CLAPiRfeDB verdanken. Derselbe schildert in » Beobachtungen über
Anatomie und Entwickelungsgeschichte wirbelloser Thiere an der
Küste der Normandie angestellta, Leipzig, 1863, pag. 105, Taf. XVm.
Fig. 13, 4i, was er von der Entwickelung des Phoxichilidluni
cheliferum gesehen hat. Da wird ein erstes Stadium beschrieben,
in welchem das Junge vollständig einer Larve von Pycnogonum
gleicht, also offenbar nicht durch verkUnte Metamorphose gleich in der
definitiven Gestalt aus dem Ei kommt. Das zweite Stadium dagegen
erscheint durchaus ähnlich den von mir beschriebenen Embryonen , isl
indess bereits dem freien Leben Uberantworlet. In einer Gattung zwei
so sehr verschiedene Entwickelungstypen neben einander zu sehen, ist
zwar nicht ohne Analogie, aber dennoch mttchte ich bezweifeln, dass
die beiden Entwickelungsstadien , welche CupakKdb beschrieben bat,
zusammengehören. CLAPAREnE giebt an, die Larve des ersten Stadiums ]
mit dem Oberflächennetz gefischt zu haben; er vennuthel ferner, dass I
zwischen ihr und dem zweiten Stadium, das er beschreibt, eine Zeit
parasitischer Existenz, wie sie von Hodgb beschrieben sei, ISge. Dazu '
scheint aber kein Grund voriianden, um so weniger, als die ganze
Entwickelungsweise, wie sie Hodge beschreibt, wohl noch einer neuen
Durcharbeitung und Bestätigung bedarf. Vielmehr glaube ich, dass
das vermeinUicbe erste Stadium des Phoxichilidium cheliferum
zu einer anderen Pycnogonide gehört, und dass das zweite direct ohne
weitere Verwandlungen aus der Eischale gekommen ist.
Ziehen wir nun das Resultat aus diesen Untersuchungen für die
Frage nach den Verwandtschaften der Pycnogoniden. Nach den
Grundsätzen der durch die DAaviN'sche Theorie reformirten Uorpho-
logie liegt das entscheidende Gewicht nidtl in den EigenthUmlichieilea
der Oi^anisation des gescblechtsreifen Thieres , sondern in dem Ent-
J
y <?f<'
Untersacboogea Aber Ban ond Eutwioklung der Arthropodeo. 155
v^ickelungsleben , das es vorher durchgemaoht hat. Wir wissen nun
£j.,. «war — und die Pycnogoniden selbst haben uns soeben mit einem
^ j 1^ neuen höchst auffallenden Beispiele dieser Art bekannt gemacht — ,
dass die ontogenetisohe Entwickelung httufig bis zur Unkenntlichkeit
den phyletischen Entwickelungsgang entstellt^ meist durch Verkürzung
und Zusammendrängung verschiedener Stadien in eines, mitunter aber
auch wohl durch Veränderung und Zwischenschiebung neuer Gestal-
tung zur Anpassung an veränderte Lebensbedingungen. Dennoch aber
beweist bei den Pycnogoniden die Jetzt vom Ei an gekannte Entwick-
lung, dass Interpolationen nicht stattgefunden haben , wohl aber Ver-
kürzungen in dem Falle von Phoxichilidium. Beide Entwicklungs-
typen sind zu verwerthen.
Der erstere — um es gleich kurz zu sagen — deutet an, dass
die den Pycnogoniden nächstverwandten Geschöpfe die
Grustaceen sind. Damit ist ausdrücklich ausgesprochen , dass die
Pycnogoniden selber, wenigstens nach meinen Anschauungen, nicht
zu den Krebsen im herkömmlichen Sinne gehören. Nur das glaube ich,
dass ihre erste Larvenform eine Naupliusform vorstellt, und dass
sie insoweit den Krebsen blutsverwandt sind. Aber die Fortentwick-
lung des Nauplius zur Zoöa hin , die nach später zu machenden Mit-
theilungen für die Krebse ganz allgemein stattgefunden haben dürfte,
— diese Fortentwicklung , glaube ich , hat für die Pycnogoniden nicht
stattgefunden. Der Typus, nach dem die Gliedmassenbildung am
Nauplius der Pycnogoniden vorschreitet, ist ein anderer, als bei den
Krebsen , ja , es kommt niemals eine Spur von Schwimmorganen zur
Erscheinung und die durch Ausstülpungen der Magenwände und in
Folge dessen der Körperwand hervorgebrachten , später vielfach ge-
gliederten Extremitäten haben gar kein Homologen bei den Krebsen.
Es giebt aber Eigenthümlichkeiten in der Organisation und der
Entwicklung der Pycnogoniden , welche rückwärts über ihr Nauplius-
stadium hinausweisen ; dabin rechne ich die sackförmigen Verzweigun-
gen des Verdauungstractus, die an verschi^enen Stellen der Darm-
wandungen sich findenden leberartigen Zellen, welche die mangelnden
discreten Leberorgane vertreten, die auffallende Lagerung und Verthei-
lung der Geschlechtsorgane etc. Wohin diese Organisationen, die
anscheinend weder auf die Krebse noch auf die Spinnen zu beziehen
sind , weisen , das mag der Zukunft anheimgefttellt werden , — mög-
licherweise wird aber die Anschauung , die in Trematoden ähnlichen,
weit zurückliegenden Wurmformen die Anfänge der Naupliusformen
sehen will, hierdurch unterstützt.
Nun wäre aber trotz alledem die Möglichkeit nicht ausgeschlossen,
beiirr-
e r.
dl
\l
t56 Dr. Ant. Dobro,
die Milben dennoch in genealogische Verbindung mit den Pycnogoniden
zu bringen, und da tritt die verkürzte Entwickelungsweise von Phoxi-
chilidium als Anhaltspunkt ein. Allein es bleibt doch nur eine ausser-
liehe Vergleichung der erwachsenen Formen, die auf die ganze Be-
trachtung führt; wenn auch bei Phoxichilidium und bei den Milben
Larvenhäute vorkommen , so bildet doch kein specielles Moment einen
deutlichen Fingerzeig und man müsste nach wie vor erst Rechenschaft
geben von dem Mangel des siebenten Extremitäten -Paares, das doch
nun einmal typisch für die Pycnogoniden ist.
Sonach stellt sich mein Encjurtheil folgendermaassen : Die Pycno-
goniden sind weder Arachniden noch Crustaceen ; mit ersteren haben
sie gar keine Verwandtschaft , mit letzteren haben sie als Berührungs-
punct den Nauplius gemein , verlassen aber von diesem Punct aus die
Entwickelungsreihe der Crustaceen, die auf die ZoSaformen zustrebt.
Irkttnug dar AbbildoBgen.
Tafel ▼.
Fig. 4— 6. Pycnogonain littorale.
4. Ei im Farchungsprocess. Jeder Furchungsballen enthält einen cen-
tralen Kern.
3. Embryonal-Anlage. a vorderes, b mittleres, c hinteres Bein.
3. Weiter vorgeschrittener Embryo, bei d der Schnabelfortsatz angelegt.
4. Weiter entwickelter Embryo in Profil-Ansicht. 0 Auge, /" Rankenfort-
satz der ersten Extremität
5. Beinahe vollendeter Embryo.
6. Ausgekrochene Larve.
Fig. 7 — 19. Achelia laevis.
7. Eben ausgekrochene Larve. /" Dornfortsatz der ersten Extremität, in
den die Drüse g mündet mittelst des hornigen inneren Rohres h,
i ein hervordringender Faden, k Verdauungsorgan, bei l mit Mus-
keln an die Leibeswand befestigt, m oberes Schlundganglion.
8. Auge der Larve, dem oberen Schlundganglion aufsitzend.
9. Weiter entwickelte Larve, nop Ganglien , q Ausstülpung der hin-
teren Leibes- und Darmwand als Anlage eines neuen Beinpaares,
r Verdickung der Leibeswandung als erste Andeutung des zweiten
neuen Beinpaares.
10. Dasselbe Stadium im Profil.
Tafel VL
4 1 . Mittleres Stadium zwischen Larve und ausgebildetem Thiere. Sämmt-
)iche Larven -Extremitäten sind noch vorhanden, die des ausgebil-
Uotersuchungen ober Bau und Entwickelung der Arthropoden. 157
deien Tbieres zum Theil ausgebildet, zum Tbeil erst angelegt (bei q
und r). « ein neues Ganglion. Die alten sind bereits alle verschmoU
zen. ( Mastdarm, u Oesophagus mit Zahn- und Rechen-Apparat.
\t. Die vorderste Larven -Extremität hat den Fortsatz f verloren, eine
doppelte contourirte kreisförmige Chitinleiste deutet an, wo derselbe
sich befand. Die zweite Larven-Extremität h hat noch die Klaue und
am vorhergehenden Gliede zahlreichere Domen. Die dritte Larven-
Extremitfit c ist im Verschwinden begriffen, v ist ein neues — das
fünfte — Bauch-Ganglion.
13. Der Schnabelfortsatz vergrössert sich im VerhAltniss zu den vorde-
ren Larven-Extremitäten. Das zweite Paar derselben b hat die Klaue
abgeworfen. Das dritte c ist völlig verschwunden , eine hufeisen-
förmige Chitinleisle deutet die frühere Insertion an.
U. Das zum »Taster« umgewandelte erste Larvenbein Q
15. Das zum »accessorischen« oder »Geschlechts «-Bein umgewandelte
zweite Larvenbein Q
h 6. Ein ovarium tragendes Bein eines ausgewachsenen Q
17. Scheerenfnss des ausgewachsenen (}
18. »Taster« des ^
19. »Accessorisches« Beinpaar des (5
20. Augenböcker eines jungen Pycnogonum littorale, aa Sculptu-
ren und Höhlungen der Körperwand.
81—24. Phoxichilidium sp.
21. Embryo umschlossen von Chorion (roth), Dotterhaut (blau), Larven-
haut (orange), a der Ring, mit welchem der Embryo an die Lar-
venhaut befestigt ist.
22. Diese Verbindungsstelle vergrössert.
23. Embryo nur noch von der Larvenwand umschlossen.
24. Embryo ohne Larvenhaut vor dem Auskriechen.
lieber einige ZersetnugspradBcte de« PhasphorwuserstoA,
des AntüieDwassersttis nnd des Siliciuiwaswrstofls.
Dr. B. Hahn.
Die folgenden Untersuchungen sind auf Veranlassung des Herrn
Professor Geuthes im chemischen Laboratorium zu Jena ausgeführt
worden. Sie hatten den Zweck , festzustellen , ob nicht neue wasser-
stofffaaltige Substilutionsproducle der oben genannten WasserstefiVer-
bindungen dargestellt werden kUnnton.
I.
Phosphorwasserst off gas.
Das zu diesen Untersuchungen angewandte Phosphorwassersloff-
gas wurde auf die bekannte Weise durch Erhitzen von Natronlauge
mit Phosphor dargestellt und zur Trocknung über Cblorcaicium geleilet.
Vor Beginn der Enlwidieiung wurde der ganze Apparat mit Wasser-
sto^as angefallt.
1. Phoiphorwauento^raa und Phoiphorchlorid.
Die bei der Einwirkung des PhosphorwasserstoSgases auf Phos-
phorchlorid beobachteten Erscheinungen ei^aben das Dümlicbe Resul-
tat, welches schon H. Rost beobachtete^, eine Substitution des sammle
liehen Wasserstoffs im PbosphorwasserstoSgas durch Chlor. Es ent-
wichen hierbei Salzsäuredämpfe und es bildete sich PhosphorchlorUr
nach der Gleichung :
I Pose. AddbI. Bd. S4, p. 107.
lieber einige Zersetsnngsprodocte des Pbosphorwasserstoffs etc. 159
2. Phoaphorwasaeratoffgas und Phoaphorohlornr.
Beim Einleiten von Phosphorwasserstoffgas zu Phosphorchlorttr
trttbte sich dassdbe , indem sich ein rother Niederschlag bildete. Da
die Abscheidung desselben sehr langsam von statten ging , wurde sie
durch gelindes Erwärmen zu befördern gesucht. Erst nach achtstün-
digem Einleiten hatte sich eine zur Analyse genügende Menge gebildet.
Der grüsste Theil des Wasserstoffgases hatte wahrend dieser Zeit den
Apparat unzersetzt passirt. Vom Phosphorchlorür wurde der Nieder-
schlag dadurch gereinigt, dass ei*steres im Wasserbade und Kohlen-
säurestrom abdestillirt wurde ; der Niederschlag selbst wurde mit Wasser
ausgewaschen und, nachdem er zwischen Fiiesspapier abgepresst wor-
den war, über Schwefelsäure vollständig trocken erhalten. Die Sub-
stanz bildete ein rothgelbes, lockeres, amorphes Pulver. Eine Analyse,
vorgenommen durch Verbrennen im Ghlorstrom, ei^ab einen Gehalt
von 94.33 Proc. Phosphor. Der Hauptsache nach bestand die Substanz
also offenbar aus amorphem Phosphor , wie ihr Verhalten im Röhrchen
zeigte, wobei sie bis auf eine kleine Menge glasiger Pbosphorsäure wie
Phosphor destillirte. Dass ihr etwas phosphorige Säure beigemengt war,
wurde durch Behandein derselben mit wenig Wasser constatirt, indem
dieses die reducirenden Eigenschaften der phosphorigen Säure zeigte.
Es stimmt dies Verhalten mit dem , welches H. Boss beobachtete , also
ttberein.
3. Phoiphorwaaa0ratoff und AntiaioneUorid.
Die Einwirkung des PhosphorwasserstofiEs auf Antimonchlorid
findet unter starker Erwärmung statt. Es wurde deshalb abgekühlt.
Neben entweichenden Salzsäuredämpfen entstand Phosphorchlorid und
Antimonchlorür. Letzteres blieb im Antimonchlorid gelöst, während
ersteres sich ausschied und in die Höhe begab. Es blieb , nachdem
das Antimonchlorür im Oelbad bei 240 Grad abdestillirt worden war,
völlig weiss und mit allen es charakterisirenden Eigenschaften zurück.
Die Beaction verläuft also nach der Gleichung :
PH^ + 4 SbCI^ = 4 SbCl^ + PCl'^ + 3 HCl.
Eine Verbindung des Phosphorwasserstoffgases mit Antimonchlo-
rid, wie solche H. Boss erhalten hal^, konnte bei wiederholt ange-
stellten Versuchen nicht beobachtet werden. Mit Ausnahme des Auft-
tretens eines ganz als Nebenerscheinung sich zeigenden gelbrothen
4 Pdoo. AuialeD, Bd. 24, p. 165.
160 l>r* R* ^^D,
Beschlages von amorphem Phosphor verlief die Umsetzung anter Bil-
dung der angegebenen Verbindungen.
4. Fhosphorwaflsersto^gras und Antimonehlorar.
Das in durch Erwärmen flüssig gehaltenes Antimonchlorflr eingc^—
leitete Phosphorwasserstoffgas erzeugte einen schwarzen, pulverför—
migen Niederschlag. Dieser wurde nach Beendigung der Phosphor—
wasserstoffgas-Entwickelung durch Behandeln mit Salzsäure und Aus-
waschen mit Wasser gereinigt, lieber Schwefelsäure getrocknet bildete
diese Substanz ein amorphes , lockeres , schwarzes Pulver und bestand
der Hauptmenge nach aus Antimon , Phosphor und Chlor. Da letzteres
von noch beigemengtem Antimonchlorür herzustammen schien, so
wurde versucht , dieses zu entfernen. Dieses konnte indessen weder
durch Kochen des Pulvers mit Salzsäure, noch mit Alkalien vollständig
erreicht werden. Auch bei Versuchen, durch im Oelbade und Kohlen-
säurestrom vorgenommene Destillation das Antimonchlorür zu entfer-
nen, blieb stets ein chlorhaltiger Körper zurück. Die analytischen Re-
sultate sind folgende :
a. Substanz, die mit Salzsäure und sodann durch Auskochen
mit Wasser gereinigt worden war, enthielt 76,86 Proc. Antimon,
12,85 Proc. Phosphor, 3,45 Proc. Chlor. Verlust: 6,84 Proc.
b. Substanz mit Salzsäure behandelt, sodann mit kohlensaurem
Natron gekocht und mit Wasser ausgewaschen, ergab: 77,50 Proc
Antimon, 12,41 Proc. Phosphor, das Chlor wurde nicht bestimmt.
c. Substanz mit Salzsäure behandelt, sodann mit Kalilauge
gekocht und Wasser ausgewaschen, ergab: 88,41 Proc. Antimon,
6,82 Proc. Phosphor. Chlor, welches in geringer Menge vorhanden
war, wurde nicht bestimmt.
Da eine vorgenommene Wasserstoßbestimmung keinen Gehalt
an Wasserstoff ergab , so kann das Fehlende nur Sauerstoff sein. Eine
einfache Formel lässt sich daraus nicht ableiten ; die in den beiden
ersten Analysen gefundenen Mengen von Antimon, Phosphor und
Sauerstoff stehen nahezu in dem Verhältniss wie 3:2:2.
5. Phosphorwasserstoffgas und Zinnchlorid.
Mit Zinnchlorid bildete das Phosphorwasserstoffgas eine gelbrothe
Verbindung. In dem Zustande, wie solche nach erfolgter Einleitung
des Gases in Zinnchlorid erhalten wurde , stellte sie eine an der Luft
stark rauchende Masse dar. Da dieser aber noch Zinnchlorid beige-
üeber einige Zersetzungsprodnf te des Fhosphorvasserstoffs ete- j 61
mengt sein konnte , so wurde dasselbe durch AbdestiUiren im Wasser-
bade und Kohlensäurestrom zu entfernen gesucht, was in der That
leicht gelang, und nun ein an der Luft nicht mehr rauchendes Pulver
von etwas dunklerer Farbe erhalten. Die Analyse desselben wurde in
der Art ausgeführt , dass nach der Oxydation desselben mit Salpeter-
säure bei gelinder Temperatur und nach dem Uebersättigen mit Ammo-
niak auf Zusatz von Scbwefelammonium alles gelöst wurde. Aus die-
ser Lösung wurde dann das Zinn durch schwaches Ansäuren mit ver-
dünnter Salpetersäure gefällt, in Oxyd übergeführt und als solches
gewogen. Im eingedampften Filtrat wurde zunächst das Chlor als
Chlorsilber gefällt, und nachdem das überschüssige Silber wieder ent^
fernt worden war, die Phosphorsäure als phosphorsaure Ammoniak-
Magnesia abgeschieden.
L 0,6598 gr. Substanz gaben 0,4758 SnO^ = 0,3743 Sn
= 56.73 Proc. Sn; femer 0,8932 AgCl « 0,2210 Ci = 33.49 Proc. C/;
femer 0,0933 P^O^Mg^ = 0,0261 P = 3.96 Proc. P.
II. 0,5693 gr. Substanz lieferte 0,41 U gr. SnO^ = 0,3236 Sn
= 56.84 Proc. Sn, ferner 0,7707 AgCl = 0,1907 Cl = 33.50 Proc. C/,
ferner 0,1020 gr. P^O'Mg^ = 0,0285 P = 5.01 Proc. P.
Durch eine Verbrennung wurde die Abwesenheit von Wasserstoff
nachgewiesen.
Da die auf diese Weise vorgenommenen Analysen einen zu gerin-
gen Gehalt von Phosphor ergaben , was daher rühren konnte , dass ein
Theil desselben in Form von Phosphorwasserstoff entwichen war , so
wurde eine Analyse der Substanz im Chlorstrom vorgenommen. Bei
Bestimmung des Zinns und des Phosphors wurde, wie früher, verfah-
ren. Es ergaben 0,6019 gr. Substanz 0,4332 Sn(ß = 0,3407 Sn
= 56.60 Proc. Sn ; femer 0,1 992 P^O'Mg*' = 0,0556 P = 9.24 Proc. P.
Es ergab demnach Analyse I. II. III.
Sn = 56.73, 56.84, 56.60.-
Cl = 33.49, 33.50, —
P = (3.96), (5.01), 9.24.
Nehmen wir auch in Analyse I und II an Stelle der zu gering ge-
fundenen Phosphormenge die der Analyse III an , so entspricht die Zu-
sammensetzung einer Verbindung: Sn^CfiP^, d. b. an die Stelle von
6 Chlor in 3 Zinnchlorid sind 2 Phosphor getreten:
gef. ber.
Sn^ = 56.73 = 56.28.
C/« = 33.50 = 33.86.
P« » 9.24 = 9.85.
99.47. «*" **"
162 Dr. R. Kahii,
Die Zersetzung lässt sich also durch die Gleichung ausdrücken :
3SnGU + 2PH» « Sn^CP P* + 6iJC/.
Die von H. Rosi ^ bei der Einwirkung von Phosphorwasserstoff auf
Zinnchlorid erhaltene Verbindung, welche an der Luft rauchen soll,
ist , wenn sie überhaupt ein chemisches Individuum darstellt und nicht
ein Gemenge von Zinnchlorid mit der obigen Verbindung ist, jedenfalls
dann bei 4 00 Grad nicht beständig, sondern zerfällt in Chlorwasserstoff
und das untersuchte nicht rauchende Product.
II.
Antimonwasserstoff.
Das zu diesen Versuchen angewandte Antimonwasserstoffgas
wurde durch Zersetzung einer Antimonzinklegirung mit verdünnter
Schwefelsäure dargestellt. Nach mehreren Versuchen wurde das Ver-
httltniss von i Tb. Antimon auf 6 Th. Zink als das Zweckmässigste er-
kannt. Bei grösserem Antimongehalt ntfmlich wird in Folge der Ab-
scheidung von metallischem Antimon die Gasentwickelung bald sehr
gering, ohne überhaupt ein antimonwasserstoffreicheres Gas zu liefern.
Zur Trocknung wurde das Gas, welches immerhin nur wenig Antimon-
wasserstoff ausser reinem Wasserstoff enthielt , über Chiorcalcium ge-
leitet. Die Einleitung wurde stets längere Zeit fortgesetzt.
1. Anthnonwasflorstof^B^ und Antimonchlorür.
Das Antimonchlorür wurde auf die nämliche Weise, wie es bei
den Versuchen mit Phosphorwasserstoff geschehen war, durch gelindes
Erwärmen flüssig erbalten. Es fand hierbei Abscheidung von metal-
lischem Antimon und Bildung von Salzsäure statt.
8. Antimonwasserstofll^ und Phosphorcblorid.
Die Einwirkung des Gases war sehr gering, trotzdem erhitzt
wurde. Es trat ebenfalls wieder eine einfache Umsetzung ein, nämlich
zu Phosphorchlorür und Antimonchlorür, unter Entweichen von Salz-
säuredämpfen.
Auf Phosphorchlorür und Zinnchlorid wirkt Antimonwasserstoff
nicht ein.
4 PoGO. Annalen, Bd. 24, p. 459.
lieber einige Zeroetzungsprodnete itä Phosphorwasseratoffs ete. 168
ni.
Silicium wasserst off gas.
Das zu den folgenden Versuchen verwandte Siliciumwasserstoff-
gas wurde durch Zersetzung der sogenannten Siliciummagnesium-
schlacke mittelst Salzsäure erhalten. Diese Schlacke wurde auf die
von WoEHLBR angegebene Weise dargestellt und in Gestalt eines nicht
allzufeinen Pulvers angewandt. Es erwies sich als sehr zweckmässig,
dieses Pulver zuvor mit Wasser auszulaugen , um das bei der Zer-
setzung auftretende heftige Schäumen zu vermeiden.
Die Entwickelung wurde in einer WuLF^schen Flasche vorgenom-
men , auf deren Boden das Pulver gebracht und mit Wasser bedeckt
wurde. Durch ein bis in das Wasser reichendes Eingussrohr wurde
concentrirte Salzsäure zugefügt, nachdem zuvor der ganze Apparat mit
Wasserstoff angefüllt worden war. Getrocknet wurde das Gas eben-
falls über Ghlorcalcium.
1. SilidamwaMerstol^^aa and Phoiphorchlonir.
Die Einwirkung des zu Phoaphorehlorür geleiteten Silioiumwasser'-
Stoffgases war gering und ging das eingeleitete Gas zum grdssten Theil
unverändert durch den Apparat; beim Zuaammenkommen mit der
Luft sich entzündend. Als das der Einwirkung ausgesetzt gewesene
Phosphorchlorür mit Wasser zersetzt wurde, zeigten sich geringe Men-
gen schon unter Wasser heftig explodirender Gasbläseben , gleichzeitig
fand die Abscheidung geringer Mengen von weissem Siliciumoxyd statt.
Letzteres konnte aus Spuren Siliciumchlorür SiHCl^ entstanden sein,
welches bei Zersetzung mit Wasser dieses Siliciumoxyd bildet.
Dieses weisse Siliciumoxyd , welches auch bei den folgenden Ver-
suchen beobachtet ^^srurde, zeigte stets die bekannten Eigenschaften.
Es war nämlich weiss, undurchsichtig und von lockerer Beschaffenheit,
zersetzte zieh in Wasser langsam , sofort aber mit Alkalien unter Was-
serstoffgasentwickelung. Seine wässerige Losung mit salpetersaurem
Silberoxyd und dann mit Ammoniak versetzt, reducirt stark Silber.
Getrocknet und erhitzt verbrannte dasselbe unter Eiiglimmen xu Kie-
selsäure.
2. SiliciumwMforttolKjpu und Phoq^hprcUorid.
Auch hier fand sehr geringe Einwirkung statt und erst bei stär-
kerem Erwärmen bildeten sich geringe Mengen von Siliciumchlorür,
164 Dr. R. Mahn, .
nachweisbar durch Siliciumoxyd , von den erwähnten Eigenschaften ,
das sich in dem vorgelegten Wasser abschied. Ein Theil des Phos-
phorchlorids war zu PhosphorchlorUr geworden.
S« Silioiamwasaeratoffgag und Antimonohlorid.
Bei Einleitung des Gases zu diesem Chlorid fand verhliltnissmässig
stärkere Einwirkung statt. Es entstand Antimonchlorttr, welches beim
Abdestilliren des Chlorids zurUckblieb, sowie Siliciumchlorür, eben-
falls wieder durch das sich im vorgeschlagenen Wasser bildende Sili-
ciumoxyd nachweisbar.
4. 8flieiiuawafltento%ai und Zinwchlorid,
Es findet die Bildung von Zinnchlorttr und Siliciumchlorür statt,
wiederum nachweisbar durch gebildetes Siliciumoxyd.
6. Süieinmwaaaerttoflipts ond Sohwefelbiehlorid.
Das Gas wirkt auf die bei 0 Grad mit Chlor gesättigte Schwefel-
chIorttrl(teung merkwürdiger Weise nur sehr wenig ein unter Bildung
von SiliciumcUorOr, auch beim Erwarmen.
6. SitieiannMMnteil^ vad Jod.
Siliciumwasserstoflkas zu Jod geleitet, zeigte bei gewöhnlicher
Te-mperatur nur geringe Einwirkung. Vollständige Zersetzung des Ga-
ses fand jedoch beim Erwärmen statt, als die sich bildenden Joddämpfe
mit dem Gase zusammentrafen. Es entstand eine weissliche Masse, die
näher uniersucht mit dem von Woeslek und Brrv zuerst erbaltenen
und von F«rdel ^ als ein Gemisch von SiliciumhydrDJodid, SiHJ^ und
SiliciumjcHÜd, Si J*, erkanntem Protiuct zu belrachlen ist. Den si
Ten Theil davon bildete das feste Siliciumjodid. Ausser diesen
düngen trat Jodwiissersioff auf.
7. SiKciWiWiMMiinlfcM »ad Jailt— rhl
Wird bei sewi*hnlicber Temperatur Süiaumwasserst<>f^:3B in flos-
,Ni^'*:s ChWjod celeilel, so bemerkt nwn keine Einwirkung:, etrsl beim
t >;r\^ümH*n tritt im vomreJecten Wasser eine kk-ine llens:e von Silidum-
,,\\d auf. F«st alW Silioiumw^assersloff enlweiobl un^er^iniefl.
% Itttatcikr. t Cknb «S'««. ^ S$4.
lieber einige Zersetzungsprodacte des Phosphorwasserstoffs ete. 165
8. Silicinrnwasaerstoffgaa and Brom.
Wird Siliciumwasserstoffgas zu Brom geleitet , so findet sofort
vollständige Zersetzung statt. Beim Zusammentreffen des Gases mit
Bromdärapfen entstehen weisse Nebel unter Bildung einer festen und
einer flüssigen Verbindung. Beide Producle wurden bei gewöhnlicher
Temperatur constant beobachtet, bei niederer Temperatur jedoch
scheint sich der feste Körper in grösserer Menge zu bilden. Die Ver-
bindungen konnten im Wasserbad^ und Kohlensäurestrom vom über-
schtlssigen Brom befreit werden und es blieb dann die feste Verbin-
dung trocken und rein oder mit mehr oder weniger Flüssigkeit gemengt
zurück. Eine Trennung der zwar leichter überdestillirenden Flüssig-
keit von dem festen Körper gelang nur schwierig, da stets nur kleine
Mengen der Substanz entstanden waren. Bisweilen war nur so wenig
flüssiges Product gebildet worden, dass sich dasselbe mit dem Brom
verflüchtigte. Die dann im Kohlensäurestrom destillirte reine, farblose,
krystallinische Substanz zeigte einen Schmelzpunkt von 89 Grad C.
Analysirt wurde sie in der Art, dass sie durch ammoniakalisches Was-
ser zersetzt wurde , was unter Gasentwickelung und Bildung von Kie-
selsäure geschah. Letztere wurde, nachdem im Wasserbade zur
Trockne eingedampft und wieder mit Wasser versetzt worden war,
abfiltrirt und im Filtrat das Brom mit Silberlösung gefüllt. 0,0972 gr.
Substanz ergab 0,2028 AgBr = 0,0863 Br = 88,78 Proc. Br, Femer
0,0246 SiO^ = 0,04 U8 Si =s 42,84 Proc. Su Eine andere genauere
Analyse, zu welcher 0,4 577 Gr. Substanz angewandt werden konnte,
gab 0,3260 AyBr = 0,4387 Br = 87,96 Proc. Br und 0,0449 SiO*
= 0,04955 St = 42,39 Proc. St.
Daraus leitet sich die Formel St*Br" ab, welche verlangt : 4 2,3 Proc.
Silicium und 87,7 Proc. Brom.
Wie diese feste Verbindung constituirt ist, lässt sich noch nicht
entscheiden. Ein Gehalt an Wasserstoff, dessen Nachweisung event.
Bestimmung bei Mangel an Material nicht vorgenommen werden konnte,
aber sehr wünschenswerth erscheint, ist wohl möglich. Wenn sie
wasserstoffhaltig ist, wird sie aber auf keinen Fall mehr als 4 Mgt.
enthalten können. Dann wäre sie der bekannten Kohlenstoffverbin-
dung: C^HCP analog zusammengesetzt, nämlich S^HBr^, Diese For-
mel verlangt 42,2 Proc. Silicium, 0,2 Proc. Wasserstoff und 87,6 Proc.
Brom. Diese neue Bromsiliciumverbindung stellt also eine farblose, bei
89 Grad schmelzende und beim Erstarren in schönen langen Nadeln
krystallisirende , und bei etwa 230 Grad (bei Ausschluss der Luft) un-
verändert destillirende Substanz dar, welche an der Luft raucht unter
Bd. V. t ^i
1 66 I>r. R. Mabn.
Bildung von Bromwasserstoff und durch Wasser in dieselbe Verbin-
dung und einen weissen amorphen Körper, welcher mi^ Ammoniak
unter Wasserstoffentwickelung in Kieselsäure übergeht, zersetzt wird.
Im Wasserstoff oder Kohlensäurestrom sublimirt sie schon bei der
Wärme des Wasserbades langsam In schönen breiten Nadeln , wird sie
bei Zutritt der Luft erhitzt, so schmilzt sie erst, entzündet sich aber
gleich darauf, einen völlig weissen Dampf erzeugend , dabei scheidet
sich weder Brom noch Silicium aus. Dies Verhalten unterstützt viel-
leicht die Vermuthung, dass sie wasserstoffhaltig ist.
Herr Prof. Gbvtbbr wird diese Frage baldigst zur Entscheidung
bringen lassen.
Eine Analyse der mit fester Verbindung zugleich entstandenen
und sie gelöst enthaltenden Flüssigkeit wurde auf die nämliche Weise
ausgeführt. 0,4519 Gr. Flüssigkeit lieferten 0,9358 AgBr =» 0,4067 Br
= 89.99 Proc. Br und 0,0976 SiO* = 0,04554 Si = 40,07 Proc. Su
Diese Zusammensetzung entspricht einem Gemenge von fester Ver-
bindung und Siliciumbromid nahe zu gleichen Mischungsgewichten.
Es fordert nämlich :
Das Bromid : Analysirte Feste
St Är* Flüssigkeit : Verbindung :
ber. gef. gef.
Silicium 8.0 10.1 12.4.
Brom 92.0 90.0 88.0.
Eine vorgenommene DestiUation mit allen den bei verschiedenen
Darstellungen gewonnenen kleinen Flüssigkeitsmengen in einem klei-
nen , zuvor mit Kohlensäuregas gefilUten Kölbchen ergab ein bei dem
Siedepunkt des Siliciumbromids etwa ISO Grad C. übergehendes farb-
loses, flüssiges Product von den Eigenschaften des Siliciumbromids und
eine erst bei ungefähr 230 Grad C. überdestillirende farblose, in der
Kälte krystallinisch erstarrende Verbindung , die noch von etwas Flüs-
sigkeit durchtränkt und nichts Anderes als die oben analysirte Verbin-
dung war.
Jena, Mitte März 1869.
BMbacktaigcN des |Mtbol^[iMkca lutitits n Jeu
ui Jahre ISIS.
Wilhelm Müller.
Allgemeiner Thetl.
Die Zahl der im Jahre 1 868 vom palbologischen Institut zu Jena
geöffneten Leichen betragt 163. Dieselben vertheilen sich in folgender
Weise auf die verschiedeneu Hauptlodeaursachen :
Ttdainroclia
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Kr. des Circnls.
Adiposis cordiB .
Endocarditis .......
Endarteritis
Yariz haemorrb
Phlebitis . . ^
Lymphadenitis
Kr. des Bespirs.
Diphtherie ....
Bronchopneum
Croupi^Be Pnenm. . . •
Chronische Pneum. . •
Emphysem
Asphyxie ..••••>•
Kr. des Digests.
Phlegmone retrophar
Ulcus ventric
> dnodeni
Gatarrh. gastro-intest. .
Perfor. proc. vermiform.
Dysenteria
Incarc. hem
Kr. des orop. S.
Nephrit, tabnl . . .
» interstit. . . .
> snppnr
Diabetes
Kr. des Qenits.
Haemorrh. placent.
Kr. der Haut.
Erysipelas
Kr. des Beweggss.
Bachitis
Cephalhaemat
Knochenbrnch
Periostitis
Vergiftung dnrch Phosphor
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163
Epitheliale Neubildungen.
Das Epitheliom wurde im Ganzen in zehn Fällen beobachtet
SS 6.1 Proc. Hiervon waren drei Fälle Pflasterzellenepitheliome. Bei
einem 50jährigen Manne hatte sich auf ausgedehnten Narben der Haut
des linken Unterschenkels, von einer Verbrennung herrührend, ein fast
ein Drittheil der ganzen Vorderfläche einnehmendes warziges Epithe-
liom entwickelt, welches die Amputation des Unterschenkels erforder-
lich machte. Es zeigte sich , dass die Neubildung in die Tibia einge-
drungen war, dieselbe bis zur hinteren Knochenleiste substituirend.
Der Befund wird im speciellen Theil ausführlich beschrieben werden.
Zwei weitere Fälle lieferte der Oesophagus. Bei einem 59jahrigen
Mann zeigte sich das ganze mittlere Drittheil des Organs in ein stark
zerklüftetes, jauchendes Epitheliomgeschwür verwandelt, mit einer
3 Cent, langen und 1 Cent, breiten elliptischen Communication zwi-
schen Oesophagus und Trachea nahe der BifurcaUon. Die beiden
Pleurablätter zeigten sich rechterseits neben dem 5. Brustwirbel im
Beobai^htungea des pathologischeu losüints zu Jena im Jahre 1868. 169
Umfang eines Thalers locker verklebt. Nach Lösung der Verklebung
kam eine zweite, etwa groschengrosse Perforation der seitlichen Oeso-
phaguswand zum Vorschein , welcher am anliegenden Oberlappen der
rechten Lunge eine wallnussgrosse , mit brandigem Inhalt versehene
Caverne entsprach , in deren Umkreis das Lungengewebe theils einfach
hepatisirt, theils durch fibroide Bindegewebswucherungen verdichtet
war. Einzelne Lymphdrüsen um den Oesophagus epitheliomatös; eine
grössere nahe der Trachealbifürcation vereitert und in den Unken
Hauptbronchus durchgebrochen. Bei einem 72 jährigen Mann hatte die
£ntwickelung von Pflasterzellenepitheliom eine doppelte Strictur des
Oesophagus mit Erweiterung des oberhalb liegenden Abschnitts her-
beigeführt, welch^ letzterer den Befund chronischen Catarrhs darbot.
Es fand sich das mittlere Drittheil in ganzer Dicke der Wand epithe-
liomatös und in eine zerklüftete Geschwürsflache verwandelt; daran
schloss sich , durch einen 2 Cent, langen gesunden Abschnitt getrennt,
eine zweite flache Ulceration der vorderen und seitlichen Parthien im
unteren Drittheil an , neben Epitheliomatose der anliegenden Lymph-
drüsen.
Das Cylinderzellenepitheliom lieferte sieben Fälle. Hiervon kom-
men auf den Hagen vier und zwar sass die Neubildung in der Mitte der
hinteren Wand des Magens bei einem 56jährigen Mann, im Pylorus-
theil bei einem 19 jährigen Mann und einer 58 jährigen Frau, in beiden
Fällen mit ausgiebiger Betheiligung der umliegenden Lymphdrüsen,
im letzteren neben gleichzeitigem Auftreten secundärer Epitheliomkno-
ten in der rechten Niere. Besonders interessant gestaltete sich der
Verlauf bei einem 68 jährigen Manne. Nach der bestimmten Aussage
der Angehörigen waren hier seit 4 4 Jahren die Erscheinungen gestörter
Function des Magens vorhanden, wozu sich seit etwa 2 Jahren soge-
nannte Lienterie gesellt hatte, bestehend in Stuhldrang bald nach
reichlicherer Nahrungszufuhr und Abgang unverdauter Ingesta. Zur
Erklärung dieser Erscheinungen fand sich eine handtellergrosse , mit
zottiger Oberfläche versehene Neubildung in der Gardiahälfte des Ma-
gens , längs der hinteren Wand von der Gardia zur grossen Gurvatur
sich erstreckend. Das nach oben verlagerte Golon transversum war mit
der hinteren Magenwand im Bereich der Neubildung verwachsen ; an
der Verwachsungsstelle führte eine groschengrosse , mit leicht gewul-
steten derben Rändern versehene Oeffnung aus der Höhle des Magens
in jene des Golon.
Bei einer 42jährigen Frau war seit langer Zeit Kropf vorhanden.
Im Verlauf von 6 Jahren bildeten sich umfangreiche Geschwulst^ am
Schädel, dem linken Schulterblatt und im oberen Theil der
170 Wilhelffl MflUer,
saule. Bei der Section fand sich eine weiche, grauröthliche Neubildung
im rechten Lappen der Schilddrüse, mit welcher die verschiedenen
Rnochengeschwttlste ihrer Beschaffenheit nach übereinstimmten. Die
mikroskopische Untersuchung ergab , dass es in allen diesen Organen
um die Entwickelung eines Cylinderzellenepithelioms sich handelte,
welches volle Uebereinstimmung mit den fötalen Anlagen der Schild-
drüse darbot. Der Fall wird seiner Wichtigkeit wegen gleich den bei-
den folgenden im speciellen Theil ausführlich beschrieben werden.
Bei einem 39jahrigen Mann hatte sich eine umfangreiche Ge-
schwulst im rechten Hoden entwickelt, welche von Dr. Stark in Weida
exstirpirt und dem pathologischen Institut zur Untersuchung übersandt
wurde. Ein halbes Jahr darauf suchte der Kranke in der hiesigen chi-
rurgischen Klinik Hülfe wegen eines umfangreichen Recidivs. Dieses
wurde exstirpirt, der Kranke erlag jedoch der Pyttmie. Schon in der
ursprünglichen Geschwulst war eine gleichzeitige Betheiligung der aus
verschiedenen embryonalen Blättern abstammenden Gewebe des Hoden
erkennbar gewesen, indem neben epitheliomatösen chondromatOse und
sarcomatöse Stellen in der Geschwulst sich vorfanden. Bei der Section
fanden sich analoge secundäre Geschwülste nicht nur in den Lungen,
sondern auch vor der Lendenwirbelsdule, ausgehend von den lumbaren
Lymphdrüsen. In letzteren hatte sich nicht nur der epitheliomatöse
und chondromattfse Bau der Neubildung wiederholt , sondern es war
auch das Gefkssblatt in Form cavemöser Angiombildung betheiligt.
Ein 71 jahriger Mann erlag nach mehrjähriger Erkrankung einem
ausgedehnten Gallertkrebs des Colon. Die Untersuchung der Ge-
schwulst Hess auch hier zwei Bestandtheile erkennen : einen epithelio-
matösen, der, wie eine Reihe secundärer Eruptionen wahrscheinlich
machte , den Ausgangspunct gebildet hatte und einen bindegewebigen,
in welchem auf ausgedehnten Strecken sämmtliche capillare Lymph-
räume mit einer gelblichen, weichen Gallerte erfüllt waren.
An die Epitheliome reiht sich ein Fall jener chronischen ulceriren-
den Talgdrüsenwucherung, wie sie Porta und Thibrsgh beschrieben
haben. Bei einem 76jährigen Mann bestand seit 4 4 Jahren ein refractä-
res Geschwür an der linken Schläfe mit glatten , theilweise vernarbten,
theilweise wie ausgenagten Rändern und flach vertiefter, mit kleinen,
granulationsartigen Wucherungen besetzter Basis. Auf dem Durch-
schnitt zeigte letztere weisse Farbe , speckigen Glanz , derbes Gefüge ;
ihre Dicke betrug nirgends über Y2 Cent. ; sie erstreckte sich bis zum
Schädelperiost, mit welchem sie fest zusammenhing; der unterliegende
Knochen erwies sich vollständig intact. Die mikroskopische Unter-
suchung ergab, dass die Geschwürsbasis allenthalben vergrtfsserte
Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1868. 171
Talgdrüsen enthielt, aus welchen junge, zum Theil verästelte Sprossen
in beträchtlicher Zahl hervorgewachsen waren. Die zwischeniiegende
Bindesubstanz befand sich im Zustand von einfachem Granulations-
gewebe. Die zugeh(Higen Lymphdrüsen zeigten ebensowenig als die
inneren Organe eine analoge Neubildung.
Vergrösserung der Talgdrüsen zu umschriebenen Balggeschwülsten
fand sich bei drei Individuen ; ihr Sitz war zweimal die behaarte Kopf-
haut, einmal die Haut der rechten Hammargegend.
Unter den Adenomen der Drüsen, welche aus dem Darmdrüsen-^
blatt hervorgehen, nimmt an Häufigkeit die Struma wie gewtfhnlidi
in hiesiger Gegend den obersten Platz ein. Nicht weniger als 46 Lei-
chen (22M., 84 W.) = 88.2 Proc. boten hierher gehörige Verän-
derungen der Schilddrüse in allen ihren Modificationen.
Der Häufigkeit nach reihen sich an die Struma die Adenome der
Uterusschleimhaut. Sie wurden in zwölf Fällen »47.4 Proc. aller
weiblichen Leichen angetroffen. Das jüngste der hierher gehörigen In-
dividuen zählte 48 Jahre. Der Gervix allein bot drei , die Uterushöhie
aUein vier Fälle , während in fünf Fällen gleichzeitig in beiden Höhlen
Adenome sich entwickelt hatten. Bemerfeenswerth ist, dass in einem
dieser Fälle eine taubeneigrosse, im Uterusgrund gestielt aufsitzende
Geschwulst auf dem Durchschnitt aus lauter verschieden grossen rund-
lichen, mit gelber, weicher Gallerte erfüllten Cysten zusammengesetzt
sich zeigte, deren Entwickelung aus den verlängerten, schlauchför-
migen Drüsen des Uterus durch Abschnürung sich verfolgen liess.
Vergrösserung der Prostata durch Adenombildung wurde in sieben
Leichen beobachtet s= 7.4 Proc. aller männlichen Leichen. In allen
Fällen war das Epithelialrohr der Prostata vorwiegend an der Neubil-
dung betbeiligt.
Den erwähnten Adenomen reihen sich an zwei Fälle von Hyper-
plasie der Thymus bei einem 89jährigen und einem 51jährigen Mann.
Im ersteren Fall waren von Jugend auf epileptische Anfälle vorhanden,
in deren Verlauf häufig die Erscheinungen heftigen Glottiskrampfes sich
eingestellt hatten. Es fand sich die Thymus etwa dreimal so gross als
bei dem zweijährigen Rind , ihr Bau vollkommen dem des zweijährigen
Kindes entsprechend; die einzelnen Läppchen wohl ausgebildet, im
Centrum zum Theil mit concentrischen Ablagerungen versehen. Im
zweiten Fall fand sich neben einer ganz analog beschaffenen Thymus
doppelseitige chronische Pneumonie mit Bronchialerweiterung; die
bronchialen Lymphdrüsen schwarz pigmentirt und zum Theil ge-
schwunden. In beiden Fällen boten die grösseren im Mediastinum
verlaufenden Nerv«« i"-«— -'-'"^nnbare Abnormität.
] 72 Wilbelm MfiHer,
Bei einer 56 jährigen Frau fand sich neben chronischem Gatarrh
des Rachens und Oesophagus ein kirschengrosser Schleimhautpolyp
unmittelbar über dem Pylorus , welcher aus vergrösserten , zum Theil
an der Basis knäuelförmig aufgewundenen Schleimdrüsen sich zusam-
mensetzte.
Bei einem 16jährigen Mann fand sich dicht oberhalb des Diver-
ticulum Vateri eine flachrundliche Geschwulst vom Umfang einer hal-
ben Kirsche und deutlich acinösem Bau in der Submucosa des Duo-
denum. Die Untersuchung ergab vollkommene Uebereinstimraung im
Bau mit dem Pancreas , dessen Anlage wahrscheinlich in frühester Zeit
einen Sprossen in die Duodenalwand hinein entsendet hatte.
Cystome der Nieren wurden in 41 Leichen beobachtet »6.7 Pro-
cent, 6 M. , 5 W. ; in 6 Fällen unter Betheiligung beider, in 3 unter
Betheiligung der linken , in 2 unter jener der rechten Niere. In einem
der Fälle war ausgeprägte Cystomatose der linken Niere bei einem
\ 1jährigen Mädchen vorhanden.
Gystome der Ovarien fanden sich bei 9 Frauen = 13.04 Proc.
aller weiblichen Leichen; in drei Fällen doppelseitig, in vier links, in
zwei rechts. Bemerkenswerth ist das Auftreten mehrfacher, bis kir-
schengrossei; Gystome in beiden Eierstöcken eines 12 jährigen, das
Auftreten gelatinöser Gystome im rechten Eierstock eines SSjährigen
Mädchens. Bei einer 74 jährigen Frau fanden sich zahlreiche, mit kla-
rem Serum gefüllte Gystome in beiden breiten Mutterbändern, dem
Verlauf beider Nebeneierstöcke entsprechend.
Neubildungen der Bindesubstanzreihe.
Einfache Fibrome wurden im serösen Ueberzug der Ovarien zwei-
mal, in der Schleimhaut des Magens, im Gervicalcanal des Uterus, auf dem
serösen Ueberzug des Ileum, auf der äusseren Haut je einmal beobach-
tet, in allen den letzteren Fällen in Form polypöser Fibrome. An sie
schliessen sich unmittelbar an fünf Fälle von Warzen der äusseren
Haut, welche einmal in grosser Zahl beide Hände eines 12jährigen
Mädchens bedeckten.
Ein wallnussgrosses Lipom im subcutanen Bindegewebe des Na-
bels hatte bei einem 60jährigen Mann zu einer bruchähnlichen Vor-
wölbung dieser Hautstelle Anlass gegeben. Bei zwei Männern fanden
sich mehrfache, zum Theil gestielte Lipome des serösen Ueberzugs des
Dickdarms, bei einer 81jährigen Frau ein faustgrosses Lipom unterhalb
der rechten Brustdrüse.
Myome und Fibromyome fanden sich in und am Uterus in neun
Fällen =13.04 Procent der weiblichen Leichen ; in einem Fall war der
Beobaehtnugen des pathologiseheo Instituts su Jena im Jabre 1868. 173
SiU der Neubildung die Muskeliage der Schleimhaut, in drei Fallen die
Dicke der Uieruswand , während in fünf Fällen die subperitonalen
Muskellagen den Ausgangspunkt gebildet hatten.
Eine erbsengrosse Ecchondrose am Sternalende der rechten Cla-
vicula fand sich bei einem 9jährigen Mädchen, während ein 72jähriger
Mann zahlreiche Ecchondrosen der Rippenknorpel darbot.
Eine flache groschcngrosse Exostose an der Glastafel des Stirn-
beins fand sich bei einem 21 jährigen Mädchen ; mehrfache Exostosen
der Rippen und Wirbel waren bei einem 42 jähngen Mann zugegen.
Ausgedehntere Osteombildung fand sich in der Dura eines 59 jäh-
rigen Mannes, während bei einem 21jährigen Mann und einer 38 jäh-
rigen Frau flache, etwa sechsergrosse Osteome der Pia beobachtet wur-
den, beide Male über dem linken Stirnlappcn, mit Verlauf der Pia-
gefässe über die Knochenplatte hinweg.
Sarcom trat in sieben Fällen auf =4.29 Proc. Hiervon gehörte
ein Fall dem sogenannten Rundzellensarcom an. Bei einem 9jährigen
Mädchen waren beide Ovarien in faustgrosse ellipsoidische , mit nie-
renartigem Hilus versehene Geschwülste verwandelt von ziemlich wei-
cher Consistenz und gleichförmig grauweisser, saftreicher Schnittfläche.
Daran schloss sich an Sarcomatose fast aller Lymphdrüsen mit Aus-
nahme eines Theiles der cervicalen und bronchialen, des Mesenteriums,
Darms , Magens , beider Nieren und Tuben , des Pericard und rechten
Vorhofs, der Schilddrüse und Thymus. Sämmtliche Geschwülste hat-
ten sich in der unglaublich kurzen Zeit von drei Monaten entwickelt.
Der Fall wird wegen des Interesses, das seine Vergleichung mit den
frühesten Entwickelungszuständen des Ovarium gewährt, im speciellen
Tbeil ausführlicher beschrieben werden.
Die übrigen sechs Fälle gehörten dem Spindeizellensarcom an.
Bei einer 26jährigen Frau hatte sich von der Gefässscheide der Achsel-
arterie aus eine rasch verjauchende Geschwulst entwickelt, welche zu
Perforation der rechten Pleurahöhle mit nachfolgender eitriger Pleuritis
führte. Bei der Section fanden sich ausser der örtlichen Geschwulst
Sarcome in einem Theil der Achseldrüsen und in den Lungen.
Bei einem 49jährigen Mann hatte sich im Anschluss an mehrma-
lige Hamblutungen seit einem Jahr rasch fortschreitender Marasnuis
gleichzeitig mit einer Geschwulst in der Tiefe der linken Bauchhälfte
entwickelt. Es fand sich bei der Section die linke Niere in ein manns-
kopfgrosses Spindeizellensarcom verwandelt, der Hilus des Organs
wohl erhalten, die Oberfläche glatt, das Parenchym grauweiss, elastisch,
stellenweise erweicht und in beginnender Verkäsung, im unteren
Drittheil zahlreiche bis walin ussgrosse, mit glatter, glänzender Wand
174 Wilhelm Malier,
versehene Cysten enthaltend. Der Fall wird gleich den vier folgenden
im speciellen Theil seine eingehendere Beschreibung finden.
Diese betreffen ohne Ausnahme in den zwanziger Jahren stehende
Manner. Bei zwei in derselben Werkstatt arbeitenden Sattlergesellen
kam es zur Bildung von Lymphdrttsenanschwellungen am Halse,
welche ziemlich rasch auf die benachbarten Drüsenpaquete sich weiter
verbreiteten. Dazu gesellte sich in beiden Fällen eine Anschw^ellung
der Milz und, wenigstens in dem einen, eine beträchtliche Leukocytose.
Der Tod erfolgte in dem einen Fall an Pneumonie , im anderen an Dy-
senterie. Es fanden sich in beiden Fällen enorme VergrOsserungen der
Lymphdrüsenpaquete in der oberen Körperhälfte , bedingt durch aus-
gedehnte Sarcomatose der Biutgefässscheiden. Daneben fand sich in
dem einen Fall Sarcomatose der Muskeln , des Unterhautbindegewebes
der Brust und beider Lungen, die Milz durch einfache Hyperplasie ver-
grössert; im anderen Fall waren die ersteren Organe frei geblie-
ben, dafür zeigte die Milz eine Anzahl rundlicher und verästelter Kno-
ten, deren Bau mit jenem der vergrösserten Lymphdrüsen überein-
stimmte.
Noch merkv\rürdiger wegen des Auftretens lepraähnlicher Erscbei-
nungen gestaltete sich die Sarcomatose bei zwei anderen, gleichfalls in
den zwanziger Jahren stehenden Männern. In dem einen Fall hatte
sich vom Periost des Kreuzbeins aus ein Spindelzellensarcom ent-
wickelt , welches exstirpirt wurde. Nach kurzer Zeit entwickelte sich
ein umfangreiches Recidiv und daran schloss sich das Auftreten mul-
tipler flacher, bis wallnussgrosser Knoten in den äusseren Decken an.
Zugleich mit diesen Knoten entwickelte sich eine sehr auffallende dun-
kelbraune Pigmentirung der Haut in Form linsen- bis doppelthaler-
grosser, umschriebener Flecken, welche namentlich in der oberen
Körperhälfte ihren Sitz hatten und im Verein mit den Knoten dem
Manne das vollendete Aussehen eines Leprosen verliehen. Die Section
ergab ausser der örtlichen Geschwulst Sarcomatose der lumbaren
Lymphdrüsen , beider Pleuren und Lungen , der Haut und zwei sym-
metrische, mit wallartig aufgeworfenem Rand versehene Geschwüre
von 8 Cent. Länge und i Cent. Breite in der seitlichen Wand des Oeso-
phagusanfangs. Mit diesem Fall stimmt ein zweiter in der Hauptsache
überein. Hier hatte sich von dem Periost des Schambogens aus ein
Spindelzellensarcom entwickelt, welches einerseits als rundlicher
mannskopfgrosser Tumor die Beckenhöhle erfüllte, andererseits als
faustgrosser Tumor unter der Fascie an der Innenfläche des rechten
Oberschenkels sich ausbreitete. Auch hier war es zur Bildung mul-
tipler Knoten in der Haut und zu ganz analogen Pigmentirungen wie
Beobacbtungen des patbolegisehen lustitats m Jena iai Jahre 1868. 175
im vorigen Fall gekommen ; es fehlten ferner auch hier secundäre Neu-
bildungen in den Lungen nicht.
Garcinom kam in zehn Fällen zur Beobachtung (5 M. , 5 W.)
=s 6. 1 Proc. Von diesen boten ein Garcinom der linken Brustdrüse
bei einer ßijührigen Frau, ein solches der Halslymphdrttsen und Leber
bei efnem 52 jahrigen Mann kein besondere» Interesse. In sechs Fdl-
len war der Magen Sitz der Garcinose und zwar die Gardia mit be-
trächtiicher Stenose des Mageneingangs bei einem 62jährigen Mann,
der Pylorustheil bei einem 39jährigen und 43 jährigen Mann und bei
drei Frauen von 46 , 74 und S\ Jahren. In dem ersten dieser Fälle
fand sich gleichzeitig Scirrhus im Pylorus und Wurmfortsatz neben
verbreitetem Scirrhus des Mesenterium und der Lymphdrüsen am
Magen, im zweiten Fall war die ganze Pylorushälfte des Magens von
Scirrhus substituirt ohne irgend eine Ulceration der Schleimhaut. In
dem letzten Fall hatte sich das Garcinom aller Wahrscheinlichkeit nach
im Boden eines früheren Magengeschwürs entwickelt. Es fand sich ein
thalergrosser kreisrunder Substanzverlust der Schleimhaut , der pilz-
förmig mit umgeworfenen Rändern über das Niveau der Umgebung
prominirte und eine über i Gent, dicke , grauweisse weiche , die ganze
Magenwand substituirende Neubildung als Basis besass.
Bei einer 53jährigen Frau fanden sich beide Ovarien in eine zu-
sammenhängende mannskopfgrosse, das ganze kleine Becken erfüllende
Geschwulst verwandelt, welche zahlreiche glattwandige erbsen- bis
wallnussgrosse Gysten einschloss. Zahlreiche secundäre Neubildungen
hatten sich im Peritonäum und Zwerchfell , sowie in den rechtsseitigen
Leistendrüsen entwickelt, an allen diesen Orten gleichfalls unter Bil-
dung rundlicher mit milchig getrübter Flüssigkeit erfüllter cystenar-
tiger Hohlräume.
Endlich hatte sich bei einem 59jährigen Mann unter der Haut
an der rechten Seite des Halses eine festsitzende Geschwulst ent-
wickelt, welche frühzeitig ulcerirte. Es zeigte sich bei der Section eine
bis auf die grossen Gefäss^ und in die Jugularvene selbst eindringende
weiche carcinomatöse Geschwulst neben ausgedehnter Garcinose der
Lymphdrüsen, Lungen, Leber und Nieren.
Angiome.
Hier ist zu erwähnen ein spindelförmiges , mit geschichteten Fi-
bringerinnseln ausgefülltes Aneurysma der Lungenarterie von etwa
4 Mm. Durchmesser bei 0.75 Gent. Länge, in eine etwa wallnussgrosse
tuberculöse Gaverne hineinragend. Wiederholt waren im Verlauf der
Erkrankung Lungenblutungen aufgetreten.
176 Wilhelm Milller,
Das Venensysteni bot in 47 Individuen (23 M., U W.) = «8.8 Proc.
Yarixbildung in den verschiedensten Graden dar. Das grösste Goniin-
gent stellten wie gewöhnlich die hämorrhoidalen Venen mit 37 Fallen,
während die subcutanen Venen der unteren Extremität und jene der
Urethralschleimhaut je fünf, jene der Blasenschleimhaut drei, die Pia-
matervenen nahe dem Eintritt in den Längsblutleiter zwei, die Venen
der grossen Schamlippen einen Fall darboten. Im Ganzen zeigte sich
bei neun Individuen (3 M. , 6 W.) die Varixbildung weiter im Venen-
system verbreitet. Von den Folgen derselben sind hervorzuheben zahl-
reiche flache, theils auf, theils unmittelbar neben Varixknoten der Bla-
senschleimhaut sitzende Geschwüre eines 80jährigen Hannes mit um-
fangreichem Adenom der Prostata.
Bei einer 74jährigen Frau fanden sich mehrere ganz analoge kreis-
runde Geschwüre theils auf, theils neben Varixknoten des Rectum
unmittelbar über dem Sphincter internus sitzend. Ein etwa sechser-
grosses Geschwür hatte die vordere Wand des Rectum durchbrochen
und zur Entstehung diffuser jauchiger Phlegmone des Bindegewebes
zwischen Vagina und Rectum geführt. Ein Durchbruch in den Douglas -
sehen Raum hatte durch eitrige Peritonitis den Tod herbeigeführt.
Cavernöse Angiome wurden in zwei Individuen beobachtet : bei
einer 54 jährigen Frau ein kirschengrosses der Leber, bei einer 58 jäh-
rigen ein flaches , etwa bohnengrosses im Unterhautbindegewebe des
rechten Ellbogens.
Hier ist endlich zu erwähnen der seltene Fall eines hühnereigrossen
dünnwandigen wahren Aneurysmas des Ductus thoracicus einer 47jäh-
rigen Frau , welche zwei Jahre vor ihrem Tode die Erscheinungen des
Rheumatismus acutus dargeboten hatte. Der Fall wird seiner Selten-
heit wegen im speciellen Theil ausführlich beschrieben werden.
Syphilis.
Zehn Leichen (7 M., 3 W.) =s 6.1 Proc. boten die Erscheinungen
theils frischer, theils abgelaufener Syphilis. In zwei Fällen führte die-
selbe den Tod herbei. Bei einem neugeborenen , eine halbe Stunde
nach der Geburt unter asphyctischen Erscheinungen verstorbenen
Mädchen fand sich eitriger Catarrh der Scheide, der Muttermund von
zahlreichen condylomartigen Papillen besetzt, eitriger doppelseitiger
Bronchialcatarrh , beide Lungen im Zustande ausgedehnter grauröth-
licher Hepatisation mit dazwischen eingesprengten erbsen- bis kir-
schengrossen gelblichweissen , im Centrum zum Theil mit verästelten
gelben Zeichnungen versehenen Knoten.
Bei einem 38 jährigen Mann hatte seit längerer Zeit syphilitische
BeobaehtiiDgen des pathologisebeii Instituts so Jena im Jahre 1868. 177
Garies des linken Stirnbeins bestanden neben Verschwörungen in
Nase, Rachen und der Haut. Im weiteren Verlauf hatte sich Anschwel-
lung des Halswirbelperiosts und eine Perforation der hinteren Rachen-
wand durch Vereiterung der Wirbel hinzugesellt. Am letzten Tag des
Lebens trat plötzliche Lähmung der oberen und unteren Extremitäten
ein. Die Section ergab ausgedehnte eitrige Zerstörung des linken Stirn-
beins, entsprechende umschriebene Pachymeningitis purulenta externa,
betrachtliche Verdickung der ganzen linken Hälfte der Dura , an ihrer
Innenfläche eine etwa 2 Mm. dicke , weiche , rostbraune Pseudomem-
bran. Arachnoides und Pia über dem linken Stimlappeh schwartig
verdickt und getrübt, ohne Eitergehalt. Der knöcherne Theil des
Septum narium sowie ein Theil des weichen Gaumens durch Ulcera-
tion zerstört. Strahlige Narbe der Tracheaischleimhaut an der Bifur-
cation. Das Periost über den vier ersten Halswirbeln schwartig ver-
dickt, von der Vorderfläche der letzteren durch dicken, tlbelriechenden
Eiter abgehoben und von einem kurzen , die hintere Rachenwand im
Niveau der Tonsillen durchsetzenden Fistelgang unterbrochen. Der
erste und vierte Halswirbel durchaus eitrig infiltrirt , der zweite und
dritte eingeknickt und in eine buchtige , nur von spärlichen Knochen-
resten durchsetzte Gaveme verwandelt. Das Rückenmark im Niveau
des zweiten Gervicalnervenursprungs in seiner vorderen Hälfte er-
weicht und mit zahlreichen Extravasaten durchsetzt. Theils verkäste,
theils vernarbte Gummiknoten der Leber. Ausserdem Tuberculose der
rechten Lunge, Amyloiddegeneration der Leber, Milz und Nieren.
Tuberculose
blieb mit im Ganzen 20 Fällen (16 M. 4^.) s 122 Proc. erheblich
hinter der bisherigen Durchschnittszahl. In drei Fällen war die Tuber-
culose auf die Lungen beschränkt, in allen übrigen auf mehrere Or-
gane verbreitet. Von den ersteren Fällen ist zu erwähnen die Be-
schränkung chronischer Tuberculose auf den Ober- und Mittellappen
der rechten Lunge eines 38 jährigen an Syphilis verstorbenen Mannes,
fn sechs Fällen war neben der chronischen die acute Form der Tuber-
culose entwickelt, dreimal unter Betheiligung der Meningen an der
Hirnbasis. In sieben Fällen führten Gomplicationen den Tod der Tu-
berculosen herbei und zwar zweimal croupöse Pneumonie , je einmal
Empyem, Pericarditis, Wirbelbruch, Sinusthrombose und Dysenterie.
In neun Fällen fanden sich Processe , welche das disponirende Moment
zur Entwickelung der Tuberlose abgegeben haben konnten , nämlich
Syphilis in drei, chronische Pneumonie und Manie in je zwei, Diabetes
und Magencarcinom in je einem Fall.
178 Wilbeliii MflUer,
Von den einzelnen Fällen sind folgende hervorzuheben. Bei einer
42 jahrigen Frau fand sich neben chronischer Lungen- und Darmtuber-
culose ein kirschengrosser gelber Tuberkelknoten im Unterwurm des
Kleinhirns ; im Anschluss daran hatte sich Tuberculose der Meningen
entwickelt. Der Verlauf hatte zur Vermuthung der Anwesenheit einer
Neubildung im Kleinhirn keinen Anhalt gegeben.
Bei einem 28 jährigen Mann fand sich neben chronischer Lungen-
und Darmtuberculose ein kirschengrosser f uberkelknoten im rechten
Linsenkem. Die einzigen auffallenden Erscheinungen, welche der
Kranke dargeboten hatte , bestanden in hartnäckiger Stuhlverstopfung
und heftigen Schmerzen im linken Kniee , beide etwa ein Jahr vor dem
Ende längere Zeit anhaltend.
Bei einem 32jährigen Irren hatte im Ansdiluss an ältere und
frische Tuberculose beider Lungen eine croupöse Pneumonie des rech-
ten Unterlappens das lethale Ende herbeigeführt. Nun fanden sich
mehrere Geschwüre an der hinteren Wand des Larynx und der Trachea,
sämmtlich mit frischem, diphtherischen Beleg versehen, die der
Trachea anliegenden Lymphdrüsen theils geschwellt, und hyperä-
misch, theils von Eiterherden durchsetzt.
Bei einem 28jährigen Tuberculosen hatte sich im Anschluss an
ausgedehnte Verschwärung der Stimmbänder diffuse Verknöcherung
der Kehlkopfsknorpel entwickelt unter Bildung einer Synostose zwi-
schen linkem Ring- und Gieskannenknorpel.
Bei einem 9jährigen Knaben war seit längerer Zeit neben den Er-
scheinungen fortschreitender Tuberculose eitriger Ausfluss aus dem
linken Ohre vorhanden. Dazu gesellten sich etwa eine Woche vor dem
Tod die Erscheinungen unvollkommener Lähmung der Extremitäten
welche gegen das Ende des Lebens wieder verschwanden. Es fand
sich neben chronischer Lungen- und Lymphdrüsentuberculose Eiter
in der linken Paukenhöhle und den Mastoidzellen , der Knochen an der
hinteren Wand der ersteren missfarbig, die Wandung des Sinus trans-
versus verdickt und gleichfalls raissfarbig, letzterer selbst bis zum
Torcular mit einem wandständigen , das Lumen obturirenden , von da
bis nahe zur Mitte des oberen Längsblutlciters mit einem der linken
Wand anhaftenden das Lumen nur theilweise erfüllenden Thrombus
versehen, welcher nach abwärts bis zur Mitte der linken Vena jugularis
int. sich fortsetzte. Grössere Bruchstücke des letzteren hatten zu Em-
bolie zahli*eicher Lungenarterienzweige geführt. Im Gehirn war keine
Folge der Kreislaufsstörung nachweisbar.
K. Bei einem 64jährigen Mann waren seit mehreren Jahren unbestimmte
Erscheinungen vorbanden, welche einer Hypochondrie zugeschrieben
BeobftehtQDgen des patbologisehen Instituts zo Jena im Jahre 1868. 17^
wurden. Sechs Wochen vor dem Tod gesellten «ich »rheumatische«
Schmerzen längs der Halswirbelsäule neben leichter Anschwellung des
Periosts hinzu. Den 42. Juni bückte sich der Kranke in seiner Woh-
nung , um etwas aufzuheben , fiel dabei und war von diesem Momente
an an den oberen und unteren Extremitäten gelähmt. Bei der Auf-
nahme in das Spital wurde eine Verdichtung der oberen Parthien bei-
der Lungen constatirt. Keine Störung der Intelligenz oder der Gehim-
nerven. Der Tod erfolgte am Abend des 1 4. Juni unter den Erschei-
nungen des Lungenödem, nachdem noch Decubitus am Kreuzbein
aufgetreten war. Die Section ergab geringe ältere und frische Tuber-
culose beider Lungen mit Höhlenbildung linkerseits. Das Periost der
linken zweiten Rippe an der Stelle der grössten Convexität zu einem
hUhnereigrossen weichen Tumor aufgetrieben, welcher in einer schwie-
ligen Kapsel gelbe, käsige Massen enthielt. Die Rippe in der Länge
von einem Centimeter von dieser Masse völlig substituirt. Das Periost
von der Vorderfläche der unteren vier Halswirbel in Form eines flachen
Tumors abgehoben, beträchtlich verdickt, zwischen ihm und den Wir-
beln eine beti^chtliche Menge gelben, dicken Eiters. Der sechste Hals-
wirbelkörper gleich der sechsten Intervertebralscheibe bis auf einen
geringen Rest der hinteren Wand durch Eiterbildung zerstört und ein-
geknickt. Dura mater und das vordere Längsband der Wirbelsäule in-
tact, das Rückenmark aber zwischen dem 5. und 7. Cervicalnerven
breit gedrückt und erweicht , von zahlreichen capillären Hämorrhagien
durchsetzt. Ausserdem fand sich in diesem Fall eine horizontal ver-
laufende, mit zackigen Rändern versehene schmale Ulceration dicht un-
terhalb der Cardia ; eine grössere dem Ringumfang des Magens parallel
verlaufende dicht oberhalb des Pylorus.
Typhus
lieferte in der abdominalen , gleichwie in der exanthematischen Form
je drei Todesfälle. Die erst^re Form führte bei einem Sijährigen Mäd-
chen direct den Tod herbei ; ausser frischer Schwellung der solitären
und PsTBR'schen Drüsen des Dünndarms, der Mesenteriaidrüsen und
Milz fanden sich theils geschwellten Solitärfollikeln ähnliche Bildungen
theils rundliche, kraterfbrmige Geschwürchen auf der Schleimhaut der
Harnblase. Hymen und Scheide intact, Schleimhaut des Uterusgrunds
diffus sugillirt, im linken Ovarium ein kirschengrosses Corpus luteum.
In den beiden anderen Fällen war der Abdominaltyphus durch Gom-
plicationen tödtlich geworden; bei einem 34jährigen Mann durch einen
Absoess der rechten Tonsille neben difluser Phlegmone des Bindege-
webes um den Pharynx und consecutive Bronchopneumonie; bei
f 80 WilbeliD MAUer,
«
einem 35 jährigen durch eitrige Pylephlebitis mit Bildung secundai*er
Leberabscesse.
Auch dem exanthematischen Typhus unterlag ein 22 jähriger
Mann direct. Bei einem 42jährigen und einem 51jährigen Mann erfolgte
der Tod durch Bronchopneumonie, welche in dem einen Fall im An-
schluss an symmetrische Geschwüre der hinteren Larynxwand , ent-
sprechend der Commissur beider Stimm- und Taschenbänder, sich
entwickelt hatte , in dem anderen Falle aller Wahrscheinlichkeit nach
durch das Hinabgleiten von Speisetheilen in die Trachea während
des Schlingactes bedingt war.
Nervensystem.
In erster Linie ist unter den Veränderungen dieses Systems ein
Fall von Anencephalie bei einem todtgeborenen Mädchen zu erwähnen,
welcher von Dr. Frankenhabusbr dem Institut zur Untersuchung über-
geben wurde. Mit der Schädelkapsel fehlte das ganze Gross- und
Kleinhirn; die Basis des Schädels war von einer ziemlich dünnen, ge-
fässreichen Bindegewebslage überzogen , in welcher die N. optici und
trigemini mit conischen Enden sich inserirten. Das verlängerte Mark
war wohl ausgebildet und gleichfalls mit conischem Ende versehen.
Das Rückenmark in ganzer Ausdehnung von normalem Bau und nor-
maler Consistenz. Augen , Nase und Ohren normal entwickelt. Spal-
tung des weichen Gaumens und Zäpfchens. Schilddrüse und Thymus
das Doppelte des Normalvolums zeigend. Defect beider Nebennieren.
Eitriger Catarrh in Scheide , Uterus , Blase , Uretren und beiden Nie-
renbecken unter Erweiterung der letzteren und Bildung doppelseitiger
Hydronephrose.
Pachymeningitis interna lieferte in der acuten Form 6, in der
chronischen 3 Fälle. Auf 1 20 Leichen bezogen , deren Schädel geöff-
net werden durften, ergiebt sich ein Verhältniss von 7.5 Proc. Die
Hälfte aller Fälle der ersteren Kategorie bildeten Irre ; die chroniscbe
Form fand sich einmal neben syphilitischer Caries des Stirnbeins , ein-
mal neben Empyem und wiederholten Erysipelen des Gesichts, einmal
neben Endarteritis und altem Nierenbeckencatarrh mit suppurativer
Nephritis.
Eitrige Leptomeningitis wurde in 4 Leichen beobachtet. Drei der-
selben gehören einer kleinen Epidemie von Cerebrospinalmeningitis an,
welche von Mitte Mai bis Juni zugegen war. Dei) Reigen eröffnete den
17. Mai ein 4 2 jähriges Bauernmädchen aus Slobra, welches nach mehr-
tägiger Erkrankung auf der medicinischen Klinik starb. Den 8. Juni
Beobacbtnngen des pathologischen Instituts in Jena im Jahre t868. 181
wurde nach zwölfstttndiger Erkrankung das 5 Wochen alte Rind eines
Tischlers aus Jena obducirt , bei weichem eitrige Trübung der Arach-
noidealflttssigkeit neben beträchtlicher Hyperämie der Pia am Ende
des Rückenmarks und um Pons und MeduUa oblongata sich vorfand.
Den gleichen Befund , aber in weiter Verbreitung auf Gonvexität und
Basis des Gehirns bot die Leiche eines am S3. Juni secirten 69 jähri-
gen Oeconomen aus Jena, bei welchem der Verlauf zwei Tage in
Anspruch genommen hatte.
Ausserdem fand sich eitrige Leptomeningitis der vorderen Gehim-
parthien bei einem 66jährigen Mann, welcher durch das Eindringen
eines Holzsplitters in die rechte Augenhohle in Folge einer Explosion
eine Fractur der Decke der Orbita mit difiuser Phlegmone und eitriger
Periostitis des Stirnbeins sich zugezogen hatte.
Hydrocephalus fand sich als äusserer in 6, als innerer in 4,
gleichzeitig in beiden Formen in 8 Fällen. 5 von diesen Fällen betra-
fen Irre ; in allen war das Ependym entweder in Form einfacher Ver-
dickung oder in Form von Granulirung betheiligt.
In 5 Fällen war die Arachnoidealflüssigkeit iq beträchtlicherem
Grade bluthaltig. Zwei davon waren Neugeborene, bei welchen wahr-
scheinlich in Folge von mechanischen Einwirkungen während der Ge-
burt Gefasszerreissungen der Pia stattgefunden hatten. Bei einem
1 3 Tage alten Mädchen fand sich neben Blutergüssen in die Arachnoi-
dealräume beider Scheitellappen eine Reihe umschriebener Extrava-
sate im Centrum semiovale und beiden Streifenhügeln. Die Recherche
ergab, dass das Kind wenige Tage zuvor der Mutter während des
Schlafes entfallen war. Bei zwei 63 resp. 74 Jahre alten Frauen fand
sich umfangreicher Bluterguss in die Arachnoidealräume und Ventrikel
des Gehirns im Anschluss an hämorrhagische Herde einmal des linken,
das andere Mal des rechten Linsenkems und Sehhügels mit Durch-
hruch der Ventrikelwand. Die eine der beiden Frauen war nach Tiscji
auf das Feld gegangen und dort plötzlich umgefallen ; als sie nach etwa
einer Stunde in ihre Wohnung gebracht war, zeigte sich Bewusstlosig-
keit und Lähmung aller Extremitäten neben stertorOsem Athmen. Der
Tod erfolgte etwa 4 6 Stunden nach dem Anfall. Bei der anderen hatte
sich kurz nach dem Frühstück Schwindel und Erbrechen eingestellt,
während des letzteren fiel sie um ; Besinnung war anfangs noch vor-
handen, verlor sich aber rasch, der linke Arm erwies sich als gelähmt,
der rechte contrahirt , der Puls unfühlbar. Die Dauer von Beginn des
Anfalls bis zum Tod betrug in diesem Fall etwas über eine Stunde.
Bei einem 64 jährigen Potatar hatten sich ohne Vorboten Mitte
März 4 868 heftige allgemeine Convulsionen eingestellt, welche mehrere
Bd. V. j. iz
182 Wilhelm Müner«
Tage hindurch sich wiederholten und Aufhebung des Bewussiseins
herbeiführten. Der Kranke war im Anschluss daran mehrere Monate
geistesabwesend und körperlich sehr heruntergekommen. Auch nach
dem Eintritt. der Besserung im körperlichen Befinden blieben Schwin-
delgefühl, Steifheit und Unbeholfenheit d^r Glieder und immer wieder-
kehrende Wahnvorstellungen zurtlck. Ende März 4 863 catalepUsche
Zufälle unter Verschlimmerung der bereits vorhandenen Erscheinun-
gen und dem zeitweisen Auftreten unwillkürlicher Entleerungen von
Harn und Roth. Dieser Zustand blieb wesentlich der gleiche bis zu
dem unter den Erscheinungen eines vorgeschrittenen Marasmus An-
fangs Januar 1 868 erfolgten Tod. Die Section ergab Balken und Fomix
in ihren hinteren zwei Drittheilen in eine wenige Millimeter dicke
bräunlich gelbe, derbe Gewebslage verwandelt, d9S Ependym beider
Hinterhömer und des Anfangsstück^ der beiden absteigenden Homer
verdickt, derb und gleichfalls diflEus braungelb gefärbt, b^ide vorderen
Gehimarterien in gansser Ausdehnung durchgängig. Die mikroskopische
Untersuchung ergab voll^ndigen Schwund der Nervenprimitivfasem,
an ihrer Stelle eip straffes, allenthalben körnige und krystallinische
Hämatoidinmassen einschliessendes Bindegewebe. Das plötzliche Auf-
treten der Erscheinungen , der Mangel eiper erhoblichep Veränderung
im linken Herzen, endlich die Durchgängigkeit beider vorderen Gebirn-
arterien lassen es sehr wahrscheinlich ßrschein^n, dass hior eine Hä-
morrhagie in Balken und Fornix stattgefunden hatte , in deren Gefolge
der Schwund der specifiscben Elemente dieser Gehimabschnitte zu
Stande gekommen war.
Bei einem 74jährigen, aq hochgradigem Atherom des Aorten-
systems und der Herzklappen leidenden Mann fanden sieh «ahlreiche
gelbe Erweichungsherde im Gross-- \ind Kleinhirn; einzelne Gehirn-
arterienzweige enthielten kalkige Emboli. Bei einer 74jährigen Frau
hatte sich zwei Tage vor dem Tode plötzlich rechtsseitige Lähmung
entwiekelt. Die Obduction ergab als deren Ursache rothe Erweichung
der linken Iqsel und des vorderen Theils des linken Schläfenlappens,
bedingt durch embolische Verstopfung der linken mittleren Gehirn—
arterie im Anschluss an Thrombose eines Astes der linken oberen
Lqingenvene , welche durch chronische Pneumonie mit Bronchialerwei-
terung zu Stande gekommen war.
Zwei seit längerer Zeit an Epilepsie leidende Männer starben wäh-
rend des Anfalls. Bei dem einen derselben fand sich massiger Blut-
austritt in die Höhlen der Seitenventrikel neben beträchtlicher Hy-
perämie der Plexuus ; bei dem andern war weder im Grosshim , noch
im verlängerten Mark eine Veränderung aufzufinden , welche mit dem
BeobAchinngen des pathologischen Instituts la Jeua im Jahre t868. 183
abnormen Verhalten des Nervensystems in Beziehung halle gebracht
werden können.
Erweichungsherde im Rtlckenmark fanden sich in 5 Fällen. Sie
waren sämmllich durch gröbere mechanische Einwirkungen bedingt
und zwar bei mnem 46 jährigen Mann durch Bruch des 7. Halswirbels
in Folge eines Sturzes von der Locoraotive während der Fahrt, bei
einem 38jährigen und einem 64jährigen Mann durch Knickung ver-
eiterter Halswirbel in Folge von Syphilis resp. Tuberculose. Bei einer
4S jährigen Frau halle sich im R(H*per des ersten Brustwirbels ein Epi-
Iheliomknolen entwickelt und durch Di\Lck Erweichung des Rücken-
marks herbeigeführt.
Der merkwürdigste dieser Fälle ist seiner Folgen wegen jener
eines 6S jährigen Mannes. Früher stets gesund, war derselbe zwei
Jahre vor seinem Tode von einer Leiter iS Sprossen hoch auf die
rechte Seite des Kopfes herabgefallen. Ausser einer Risswunde an der
Stime führte der Sturz Schwerbeweglichkeit des Halses und eine ver-
minderte Brauchbarkeit des linken Armes herbei , welche Erscheinun-
gen den Kranken zu vierzehntägigem Damiederliegen nöthiglen. Sie
verschwanden nach und nach voHsländtg; dafür stellte sich vier
Wochen nach dem Sturz heftiger Durst mit Polyurie ein, um nicht
wieder zu verschwinden. Dazu gesellte sich im weiteren Verlauf der
bei Diabetikern übliche Marasmus neben den Erscheinungen einer
rasch fortschreitenden Lungeninfiltration. Die Section ergab ausser
doppelseitiger Lungentuberculose eine geheilte Infraction des 7. Hals-
wirbels, welcher durch Synostose mit dem 6. verbunden war und eine
umschriebene Erweichung der centralen Parthien beider Vorderhörner
und der Basis beider Hinterhüroer zwischen sechstem Gervicalnerven-
und erstem Dorsalnerv^nurspmng. Die Nervengeflechte längs der Art.
vertebralis ohne nachweisbare Veränderung. Der Fall wird seiner
Wichtigkeit wegen im speciellen Theil ausführlich besdirieben werden.
In vielen Beziehungen dunkel gestaltete sich der Krankheitsverlauf
einer 56 jährigen Bauernfrau. Bei derselben waren schon vor längerer
Zeit einzelne apoplecliforme Anftllle vorhanden gewesen , bestehend tn
Schwindel und Zusammensinken mit Bewusstlosigkeit. Sechs Jahre
vor dem Tod stellte sieh erst beträchtliche Müdigkeit, später Schwäche-
gefühl und Schwerbeweglichkeit in den unteren Extremitäten ein , all-
mälig auch die Arme ergreifend. Dazu gesellte sich zwei Jahre später
Abnahme des Sehvermögens. In den letzten Jahren wiederholten sich
hie und da die apoplectiformen Anfalle , um rasch entschiedener Bes-
serung Platz zu machen, während die Lähmungserscheinungen fort-
dauerten. Bei der Aufnahme in das Spital fand sich ausser Parese
48»
1 84 Wiibekn MflUer,
sSmmtlicher Extremitäten ein Bruch des rechten Schenkelhalses und
ausgebreiteter Decubitus. Im Anschluss an letzteren entwickelte sich
im Spital ein wanderndes Erysipel neben den Erscheinungen der Pyä-
mie , welcher die Kranke in etwa drei Wochen erlag. Die Seciion er-
gab Bruch des rechten Schenkelhalses , purulente Coxitis , Thrombose
der rechten Cruralvene, Lungenarterienembolie mit metastatiscben
Herden und consecutiver Pleuritis, Beträchtlicher innerer Hydrocepba-
lus. Ein halblinsengrosser grauer, ziemlich resistenter Herd im Cen-
trum der rechten Olive. Rückenmark in ganzer Ausdehnung etwas
atrophisch, besonders schmal im oberen Dorsal- und im Halsmark, wo
die Seiten- und Hinterstränge verwaschene graugelbe Fleckung, die
Yorderstränge graue Färbung bei vermehrter Resistenz zeigten , be-
sonders intensiv im Niveau des dritten Cervicalnerven. Die mikrosko-
pische Untersuchung ergab an diesen Stellen die Resultate der inter-
stitiellen Myelitis, bestehend in Bindesubstanzneubildung mit partiellem
Schwund der specifischen Elemente.
Circulationssystem.
Wie im Jahre i 866, so ist auch in diesem ein Fall von angeborener
Missbildung des Herzens zu registriren, welcher auf der Clinik des Geh.
Hofraths Bernhard Sghultzb zur Beobachtung kam. Ein ausgetragenes
männliches Kind bot unmittelbar nach der Geburt keinerlei abnorme
Erscheinungen und starb im Verlauf des zweiten Lebenstages rasch
unter den Symptomen der Dyspnoe K Die Section ergab : Länge des
Körpers 48 Cent. , Gewicht 2620 Gramm. Guter Ernährungszustand.
Gelbliches Colorit der Haut. Beide Lungen lufthaltig , mehrfache sub-
pleurale Ecchymosen zeigend. In Trachea und Bronchien schaumiger
Schleim. Starke Füllung des gesammten Körpervenensystems. Herz-
beutel massig erweitert, in seiner Höhle etwa 15 CC. gelblicher klarer
Flüssigkeit. Herz nahezu horizontal liegend, sein Umfang etwa ein
Drittel grösser als der eines normalen. Der rechte Yorhof sehr geräu-
mig, 25 Mm. im Längs- und Querdurchmesser haltend, wird durch
die stark entwickelte, von der Mitte des vorderen Randes des eirunden
Loches zum unteren Rand der Einmündungsstelle der Vena cava infe-
rior sich erstreckende EusTAcn'sche Klappe in zwei Abtheilungen ge-
sondert. Die oberhalb und lateralwärts liegende ist sehr dünnwandig ;
sie entspricht der Einmündung der Vena cava inferior und enthält me-
dienwärts die obere Hälfte des Foramen ovale. Die unterhalb und me-
dienwärts liegende geräumigere Abtheilung enthält die Einmündung
i Vergl. hierzu die beiden Holzschnitte auf Taf. VH.
Beobachtungen des pathologischen Instiints m Jena im Jahre 1868. 185
der normal gestallclon Vena cava superior, die unlere Uälfle des Fora-
men ovale, dicht unterhalb des letzteren die Einmündungssteile des
von der Valvula Thebesii überkleideten Sinus magnus cordis. Sie stellt
einen Kegel mit rasch sich verbreiternder Basis dar , dessen Spitze der
Einmündungsstelle der Vena cava superior, dessen Basis dem Ostium
atrioventriculare entspricht. Ihre Wand ist beträchtlich dicker als die der
oberen Abtheilung und mit zahlreichen Trabekeln versehen, das Volum so
beträchtlich, dass der untere Rand der Einmündungsstelle der Vena cava
inferior vom Atrioventricularostium 1 5 Mm. absteht. Medienwärts setzt
sie sich in ein sehr geräumiges Herzohr von 4 2 Mm. Durchmesser am
Ursprung fort, welches wie gewöhnlich über dem Ursprung der Lun-
genarterien seine Lagerung hat. Das Foramen ovale zeigt sich voll-
kommen rund, 8 Mm. im Durchmesser haltend; die Klappe ist dünn
und durchscheinend, am hinteren und unteren Umfang continuirlich
befestigt und gegen die Höhle des (rechten) Vorhofs in Form eines erb-
sengrossen aneurysmatischen Sackes vorgebuchtet. An dem inneren
und oberen Theil ihres Umfangs ist sie linsengrass durchbrochen und
durch mehrere zarte Sehnenfäden an dem Limbus fossae ovalis be-
festigt.
Der rechte Vorhof steht durch ein sehr geräumiges , mit glattem
Rand versehenes , 40 Mm. im Umfang haltendes Ostium atrioventricu-
lare mit dem zugehörigen Ventrikel in Gommunication. Letzterer zeigt
eine Länge von 28, eine Breite von 38 Mm. Er zerföllt in ein sehr ge-
räumiges dickwandiges Infundibulum und einen gleichfalls sehr geräu-
migen , aber dünnwandigen Conus. Ersteres zeigt eine Muskelwand
von 6 — 8 Mm. Dicke , sein Endocard ist allenthalben glatt und glän-
zend. An seiner Innenwand entspringen drei grössere Papillarmuskeln,
welche eben so vielen Klappensegeln Sehneirfäden zusenden: einem vor-
deren und hinteren grösseren, und einem mehr medienwärts über einer
dickeren Stelle der Ventrikelwand liegenden kleineren , über welchem
eine dreieckige, leicht vertiefte, etwa 2 Mm. im Durchmesser haltende
Stelle des Endocards sichtbar ist, welche der Muskelunterlage entbehrt
und ihrer Form und Lage nach der WiivsLow^schen Stelle der Herz-
scheidewand entspricht. Sämmtliche Klappensegel , welche den drei
Segeln einer normal entwickelten Tricuspidalis entsprechen, sind gleich
den sich anheftenden Sehnenfäden zart und augenscheinlich schluss-
fähig.
Der Conustheil dieses Ventrikels zeigt sich namentlich in seiner
vorderen Parthie beträchtlich erweitert, seine Wandung nur 2 Mm.
dick, von zahlreichen Trabekeln besetzt. Er setzt sich in die am Ur-
sprung 38 Mm. im Umfang haltende Pulmonalarterie fort, welche drei
IS«
vtAtkammeo scUnscbbi^, oorwal Iwscbaffeoe fifwiutiarUapfien zeipt.
Hie venwei)^ sid» It Hn. otwHtalb dn- Unfwiaipstdle in die heidrp
Langenlste, um sicfa hteraof ab 3 >id. langer, tO Ita. im Dmbag hsl-
tender mA iMgs g^lleter lotrara versHtener Dnctss arVriasus in den
AorUfUlrageD fortxasetx«n.
Her Kok« Vorbof Mit dem Herwbr etwa äa DriUei so sross als
die enlsprccfaeDdeit Organe der radMen Herxhalfle, 15 Mm. bocfa.
eben so viel im Ooerdsrcbnesser. In den Vorbef mOnden vier
normal besebaOeae nnd ai^eardnete Longenven«!. Mit dem reeli-
len Vorbof findet durch die oben and vom dnrcbbrochene V^vab
foraniinis ovalis direde CommuBicatioa statt. Das Osttam atrioventricD-
lare Hinistmoi wird dnnb eine an der Basis dieses Vorbofe Kegende
trv^lerfArmig vertiefte Grube vom Umfang eines Steck oadelknopfes
vertrelen. Durch diese Grabe gelangt man in einen ^ahfbraigen
7 Mm. langen , dicht unlerbalb des engen Eingangs auf G Mm. im Um-
fang sieh erweiternden Hohlraum , welcher läi^ des vorderen Raades
des den Scheide wand aipfei der Triciispidalis verargenden PafMlbr-
muikels in der bier snf 8 Mm. verdickten Wandung des rechten Ven-
trikels vcriiluft und unter conischer Verjüngung in der Herzwand blind
endif^t. Gegen die Höhk des rechten Ventrikels wird dieser Hoblraum
allenthalben durch trabekelhaltige Huskellagen von 4 — 5 Hm. Dicke
abgcBcblossen. Am Eingang in denselben findet sieb das Rudiment
einer Bicuspidalklapfw in Form einer in zwei kurze steife Segel ge-
theillen, durch eineetoe steife bis 8 Hm. lange S^nenföden an die
Wund des rudimentären Ventrikels befestigten, t Mm. gegen das
Ostium proroinireT>deD Duplicatur. Medianw^rts von der Klappe bil-
dut diosor Ventrikel einen kurzen Reeessns, welcher an der muskel-
losen Stelle der Herzscfaoide^vand dicht ober dem Ansatz des Scheide-
wandzipfels der Tncuspidalis Uind endigl.
i Mm. oberhalb dieses blinden Endes entspringt rückwärts und
rechts von der Lungonartcrie die i Hm. im Umfang hallende Aorta.
Ihre Wandung zeigt sich unmittelbar unterhalb des Abgangs der beiden
Coronararloi'ien lltngs gefaltet und zu einem kurzen blind endigenden
Trichter verwachsen, in welchem deutli^c Spuren der Semilunur-
klnppen nicht unterscheidbar sind. Die A<nta verlanft von hier mit
gluiclibleihendem (laliber bis zur Abgangsslelle des Truncos anony-
nius, an welcher sie sich rasch zu einem einzelne Querfalten an der
Innenwand zeigenden Gefdssrobr von 12 Mm. Unrfai^ erweitert, wel-
ches einen normal gestalteten, 10 Hm. im Umfang messenden Tnincus
anonymus, eine 6 Hm. messende Carotis und Subclavia sin. abgiebt.
Naoh Abgang dieser Aeste vereinigt sich der Aortenbogen unter Bil-
Beobachtungen des pathologischen liistitots la Jena im Jahre t868. 187
düng einer flachen Querfalte der Intima, welche an dieser Stelle weiss-
lieh getrttbt und verdickt ist , mit dem Ductus arteriosus , um als Aorta
descendens mit einem Umfang von i 7 Mm. weiter zu verlaufen.
Die fi^tale Bndocarditis , welche alier Wahrscheinlichkeit nach in
diesem Fall die Obliteration des Ostium aorticum und die Stenose des
Ostium atrioventriculare sin. mit Rudimentärbleiben des linken Ven-
trikels herbeigeführt hat, föllt, wie der vollkommene Verschluss des
Septum ventriculomm erweist, jedenfalls später als die zwölfte Woche
des Pötallebens. Welche Ursachen dieselbe herbeigeführt haben , ist
unbekannt, da auch in diesem Fall der Verlauf der Schwangerschaft
von abnormen Erscheinungen Seitens der Mutter angeblich nicht be-
gleitet war. Von Wichtigkeit ist der vorliegende Fall aus dem Grunde,
weil aus ihm hervorgeht, dass. das Herz auch bei vollkommen ent-
wickeltem Septum ventriculomm einkammerig werden kann. Würde
die Endocarditis , welche in diesem Fall auf die Klappenringe sich be-
schränkte, auf die Wandungen des Ventrikels sich fortgepflanzt haben,
unter Herbeiführung von Synechie, so würde das Resultat ein Herz
gewesen sein, welches auf zwei Vorkammern nur eine Kammer mit
einem gemeinsamen GeCässsystem gezeigt hätte , ohne dass der Nach-
weis einer dem Septum ventriculomm entsprechenden Stelle in der
Wandung dieser einen Kammer sich hätte führen lassen.
Hieran sohliesst sidi die Beobachtung eines Aneurysma der mus-
keüosen Stelle des Septum ventriculomm. Bei einer 46 jährigen an
Carcinom des Pylorus , der pylorischen Lymphdrüsen und der Lungen
verstorbenen Frau fand sich das Herz etwas atrophisch. Das Endocard
des rechten Vorhofs und Ventrikels glatt und glänzend. EusTA^n'sche
und THSBBsische Klappe stark entwickelt, Foramen ovale im Umfang
einer Linse offen. Die Semilunaren der Art. pulmonalis und die Tri-
cuspidalis ausser der gewöhnlichen Verdickung an den Schliessungs-
spuren nichts Abnormes zeigend. Das Endocard des Septum in dem
Raum ober- und unterhalb der Insertion des Scheidewandzipfels
der Tricuspidalis eine kirschengrosse seicht gelappte Vorwölbung zei^
gend. Leichte weissliche Trübung des Endocard im linken Vorhof.
Der linke Ventrikel normal dick, Muskel braungelb, fest. Ostium ve-
nosum sinistnim gleich dem aorticum nur für zwei Querfinger durch-
gängig. Der Klappenring in massigem Grade schwielig verdickt. Beide
Segel der Bicuspidalis gelbe Atheromflecke zeigend , an den Rändern
schwielig verdickt, die Vorhofsflädien an den Schliessungsspuren ge-
röthet und mit einer Anzahl spitzer Excrescenzen besetzt. Die Seh-
nenfäden zu keulenförmigen Strängen verwachsen und etwas verkürzt.
Leichte Trübung und Verdickung des Endocard am Conus aorticus.
188 Wüheln «filier,
Aorta'iflappeD sohlussfilhig , UDveründert. Dio hautige Stelle des Wan-
tricularseptum in Form eines seicht gelappten dünnwandigen, mit Oüs—
sigem Blut gefüllt«» kirschen grossen Aneurysmas g^n die Hehle des
rechten Ventrikels ausgebucht«! , die Ränder der ÄusbuchUisg gleich
der Innenfläche vollkommeD glatl und eben. Auch in diesem Fall fehlt
es an einem genllgenden Anhalt zur Beurtheiluog der Ursache), welche
die Anourysmenbildung am Septum venlriculorum im Gefolge hatten,
da die Kranke zur Zeit ihrer Aufnahme in die Clinik des Geh. Hofralli
Gbbbardt bereits mit einem Geräusch im Herzen behaftet war, über
dessen En ts lehn ngs zeit die Anamnese keinen Aufschluss gewährte.
Pericarditis fand sich im Ganzen in 1 4 Leichen (5 H-, 6 W.) ^ 6.7
Proc. In acht von diesen elf Fallen lag recente Pericardilis vor, sie
war stets secundärer Process und zwar je zweimal im Anschluss an
Pleuropneumonie und an Thrombusbildung im rechten Herzen, je ein-
mal an Pleuritis, Lungenluherculose , Sarconi des Herzens und diffuse
Phlegmone des Mediastinum. Drei Individuen boten die Residuen
alterer Pericardilis in Gestalt von Verwachsungen zwisi^en beiden
Herzbeutelblattern .
Höhere Grade von Lipomalose des Herzens wurden in 7 Fäll«)
(4 H. , 3 W.) beobachtet, sämmtlich dem voi^eschritleneren Aller an-
gehörig. Stets war die Lipomatose mit Adipose der Husculatur (fetti-
ger Degeneration) combinirt. Diese Combination war die einzige Ur-
sache, welcher der plötzlich erfolgte Tod eines 63jahrigen, an Lungen-
emphysem mittleren Grades leidenden Hannes zugeschrieben werden
konnte.
Erweiterung sSmmtlicher Herzhöhlen mit Verdickung der Huscu-
latur fand sich in \i Fallen = 7.3 Proc. unter gleichförmiger Bethei-
ligung beider Geschlechter. Das veranlassende Moment war in sechs
Fallen die Combination von Lungeneniphysem mit allgemeiner Endar-
leritis, in drei Fallen hochgradige Endarteritis des Pulmonalis- und
Aortensystems, zweimal Klappenfehler, einmal interstitielle Nephritis.
Auf die rechte Herzhalfte beschrankt fand sich der Process in acht
Fallen = 4.9 Proc. (2 M., 6 W.) fünfmal im Anschluss an Emphysem,
zweimal an chronische Pneumonie, einmal an Tuberculosc. Nur ein
Fall, der eines 80jährigen Mannes, zeigte Beschi4nkung des Processes
auf das linke Herz im Anschluss an interstitielle Nephritis.
Endocarditis mit ihren Folgen wurde im Ganzen in 27 Fallen
(H M., 16 W.) = 16.5 Procan. getroffen. In acht Fallen war der Pro-
cess in recenter Entwickelung. Das veranlassende Moment bildeten
in drei Fallen jauchende Neubildungen, in je einem tubuläre Nephritis,
Rachitis, PySmie, Erysipel, altere Endocarditis. Die Häufigkeit ist be-
BeobAfbtoDgen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1868. 189
merkenswerth , mit welcher Endocarditis mit 'solchen Processen sich
combinirte, bei welchen eine Beimischung abnormer Molecttle zur Blut-
masse des Körpers wahrscheinlich ist.
Die Residuen abgelaufener Endocarditis fanden sich in iO Fällen
=s 12.2 Proc, einmal gleichzeitig mit recenter Endocarditis. Der Sitz
war in 4 0 Fällen die Bicuspidalis allein , in je 4 Fällen mit Stenose des
Ostium resp. mit Insufficienz der Klappe ; in 2 Fällen fanden sich die
Residuen älterer Endocarditis ohne augenscheinliche Functionsstörung
der Klappe. Bei einer 84 jährigen Frau fand sich das durch alte Endo-
carditis verdickte Aortensegel der Bicuspidalis zu einem erbsengrossen,
mit schmalem Eingang versehenen Aneurysma gegen den Yorhof hin
ausgebuchtet.
Die Tricuspidalis allein war bei einer 51jährigen, an Emphysem
leidenden Frau durch Verwachsung und Verkürzung der Sehnenfäden
insufficient geworden.
Die Semilunarklappen der Aorta allein waren in drei Fällen
schlussunfähig; bei einem 69jährigen Mann und einem 64jährigen
Weib durch ausgedehntere Verwachsung und Verkürzung der Ränder,
bei einem 68 jährigen Weib durch einfache Relraction der letzteren in
Folge narbigen Schwundes.
Bi- und Tricuspidalis waren gleichzeitig durch Schrumpfung der
Segel insufficient bei einer 66jährigen, an hochgradiger Endarteritis
leidenden Frau.
Gleichzeitige Affection der Bicuspidalis und der Aortaklappen
wurde in vier Fällen beobachtet, dreimal mit Stenose des linken Ostium
venosum, einmal mit Insufficienz der Bicuspidalis.
Gleichzeitige Affection sämmtlicher Herzklappen mit Ausnahme
jener der Pulmonalarterie bot die Leiche einer 58jährigen Frau,
in welcher Insufficienz der Bi- und Tricuspidalis zu hochgradigen
Slauungsprocessen in Leber, Milz und Niere geführt hatte.
Nur in drei Fällen Hess der Ursprung der Endocarditis mit Sicher-
heit auf Rheumatismus acutus sich zurückführen ; diesen stehen sechs
Fälle gegenüber, in welchen den vorhandenen Angaben nach zu keiner
Zeit Rheumatismus acutus bestanden hatte und die Functionsunfähig-
keit der Klappen mit grösster Wahrscheinlichkeit dem Uebergreifen der
Endarteritis auf Bicuspidalklappe und Semilunaren der Aorta zuge-
schrieben werden musste.
Endarteritis deformans fand sich in 15 Individuen (24 M., 21 W.)
= 27.6 Proc. In seohszehn Fällen war gleichzeitig Atherom im Aor-
ten- und Lungenarteriengebiet entwickelt. Bei einem 80 jährigen Mann
und einer 80 jährigen Frau war es im Anschluss an ulceröse und petri-
190 Wilbefan Möller,
ßcirende Endarteritis zu Thrombose der Art. iliaca dextra resp. der
Art. Poplitea sin. gekommen. Die Folgen beschränkten sich im ersteren
Fall auf Blasenbildung der Haut und Oedem der unteren Extremität, da der
Tod durch suppurative Nephritis erfolgte, im letzteren hatte die Throm-
bose Gangrän des linken Fusses und Unterschenkels herbeigeführt.
Bei einem 54 jährigen Mann war der Tod in Folge eines Sturzes
auf den Kopf eingetreten. Es fand sich eine die ^ anze Sdiädelbasis
von der einen Schläfenbeinschuppe zur anderen quer durchsetzende
Fractur, die linke Art. meningea media zerrissen, die Dura von der In-
nenfläche des Schädels durch einen faustgrossen fesi geronnenen Blut-
erguss losgewühlt unter entsprechender Gompression des Gehirns.
Purulente Phlebitis führte in 7 Leichen = 4.2 Proc. den Tod her-
bei. Bei einem 68jährigen Mann hatte eine complioirte Fractur der
Tibia und Fibula sin. zu eitriger Periostitis und Endostitis neben eitri-
ger Phlebitis der Vena popIitea und Cruralis geführt. Der Eiter war
durch Thrombose im oberen Abschnitt der Vena cruralis vollständig
sequestrirt worden, so dass alle metastatischen Herde fehlten.
Bei einer 3Sjährigen Frau war der Oberschenkel im unteren Drit-
theile wegen Fussgeschv^rs , bei einem 50 jährigen Mann der Unter-
scheokel im oberen Drittheil wegen Epithelioms amputirt worden. In
beiden Fällen entwickelte sich Diphtherie der Wundfläche, eitrige Pe-
riostitis und Endostitis neben eitriger Osteophlebitis und eitrige Phlebitis
der Vena cruralis. Im ersteren Fall kam es, bevor metastatische Herde
sich entwickeln konnten, zu einer tödtlichen Blutung durch Erosion der
Art. profunda femoris , im anderen Fall war es wie gewöhnlich zu me-
tastatischer Abscessbildung in den Lungen gekommen.
Bei einem 12 jährigen Mädchen hatte sich ohne nachweisbare Ver-
anlassung gleichzeitig eitrige Periostitis und Endostitis der rechten Gla-
vicula und des linken Femur entwickelt, an letztere hatte sich puru-
lente Osteophlebitis angeschlossen. Der Tod erfolgte innerhalb einer
Woche unter Bildung metastatischer Abscesse in den Lungen.
Bei einem 46 jährigen Jüngling hatte sich im Anschliiss an eitrige
Periostitis des rechten Oberschenkels und Sitzbeins Ankylose im rech-
ten Hüftgelenk entwickelt, welche die partielle Resection des Schenkel-
halses erforderlich machte. Es stellte sich alsbald Diphtherie der Wund-
fläche neben den Erscheinungen der Pyämie ein , welcher der Kranke
erlag, nachdem noch Eitergehalt des Urins aufgetreten war. Es fand
sich frische Endostitis und Osteophlebitis von der Sägefiäche ausge-
hend am Femurschaft, alte schwielige Verdickung des Periost und
intermusculären Bindegewebes im oberen Drittheil des Femur, um das
Hüftgelenk und auf beiden Flächen der rechten Hälfte des kleinen
Beobachtungen des patbologiselMii hstitnts zu Jena in Jahre 1868. ] 91
Beckens mii Bildung zahlreicher 2um Theil auf rauhen Knochen füh-
render sinuöser Eiterherde, welche einerseils zu mehrfachen Durch-
brachen der äusseren Haut in der rechten Leiste, aiidererseits zu einer
groschengrossen Perforation der rechtsseitigen Blasenwand geführt
hatte. Von diesen Fistelgängen aus war es zu purulenter Phlebitis des
Plexus pubictts impar, Thrombose der rechten Vena hypogastrica
und Lungenarterienembolie mit Bildong metastaüscher Eiterherde ge-
kommen.
Bei einer 32jähri^Ki Wöchnerin war der Tod unter den Erschei-
nungen der Peritonitis erfolgt. Die Section ergab Diphtherie des puer-
peralen Uterus, die Venen der Uteruswand und des Plexus vesico-ute-
rinus fast allenthalben mit gelbem übelriechenden Eiter gefüllt, ebenso
ein Theil des rechten Plexus ovarii. Die Umgebung der Uterinalvenen
zum Theil in eitrigem Zerfall; in der Mitte der Vorderfläcbe des Ute-
ruskörpers rechts vim der Mittellinie ein linsengrosser Durchbrucb
eines phlegmonösen Blerdes mit consecutiver allgemeiner Peritonitis.
Ausserdem metastatische Eiterherde in den Lungen , purulente Arthro-
ineningitis der linken Schulter.
Bei einem 35 jährigen Mann, welcher wegen alter Endostitis der
Tibia mit Hyperostose in Behandlung kam, hatte während des Aufent-
haltes im Spital Typhus sieh entwickelt. An die Verschwärung der
lleumscfaleimkaut schloss sich eitrige Phlebitis der Venae mesentericae
an , welche durch metastalische Leberabscesse den Tod unter den Er-
scheinungen der Pyämie herbeiführte.
Thrombosen in den versdiiedenen Absdinitten des Venensystems
fanden sich in 38 Fällen =s 23.3 Proc. aller Leichen. Es lieferten der
Plexus pubicus impar H, die Schenkel venen 10, das rechte Herzohr 4,
beide Herzobren zugleich und die Himhautsinus je 3, der Plexus pam-
piniformis 2, beide Herzventrikel zugleich, der rechte Ventrikel allein,
die Venen der Pia , die Vena subclavia , die Vena pulmonalis je i Fall.
Rechnet man hierzu 7 Fälle , in welchen Thrombose an eitrige Phlebitis
sich anscbloss, so erhält man im Ganzen 45 Fälle. In 38 derselben
Hess eine Verschleppung des die Venen verstopfenden Materials sich
nachweisen; es führten mithin 84.4 Proc. aller Fälle von Venenthrom-
bose zur zugehörigen EmboKe. Auch in diesem Jahr wurde wiederholt
eine Verschiedenheit der an die Embolie kleinerer Gefössäste sich an-
schliessenden Processe bei anscheinend gleichartiger Beschaffenheit des
cingeschwemmten Materials constatirt.
Bei einem 24 jährigen Mann, welcher ein Jahr vor seinem Tode
Abdominaltyphus überstanden hatte , fanden ^ich die Lymphgefässe im
unte^- *^ • * * -*— "»um in ihren Wandungen verdickt, getrübt
und mit einer Anzahl kleiner l)is slecknadelknopfgrosser variköser Er-
weileniQgen versehen, ohne Thrombose.
Eiüigc Lymphangitis fand sich bei einer 39 jährigen Frau im An—
schluss an Erysipel beider L'n(«rschenkel, ausgehend von einer Esco-
rialion der üdematösen Haul. Bei einem 1 tjäbrigen Mädchen war aus-
gedehnte eitrige Lymphangitis beider Lungen neben diphtherischer
Bronchopneumonie entwickelt. Bei einem 1 9 Tage alten männlichen
und einem 6 Wochen allen weiblichen Kind fand sich eitrige Periarte-
ritis umbilicalis, im ersten Fall neben Bronchopneumonie, im letzteren
neben eitriger Phlegmone um den Pharynx.
Eitrige Lymphadenitis kam in 6 Fällen zur Beobachtung =3.6
Proc. Bei einem 50jährigen Mann war es aller Wahrscheinlichkeit
nach im Gefolge einer Leicheninfection [derselbe hatte mit Schrunden
an der rechten Hand eine perlsUchtige Kuh geschlachtet) zu ausgedehn-
ter Abscedirung der rechtsseitigen Achsel- und JugulardrUsen mit
diffuser Phlegmone am Hals und Perforation der rechten Pleura ge-
kommen.
Bei einem 17jährigen Mädchen hatte ein wandernder Gesichls-
rothlauf zu Abscessbitdung in den linksseitigen JugulardrUsen gefUbrt.
Die irachealen und mediaslinalen Lymphdrüsen boten in 4 Fällen
Eiterherde: bei einem 59 jahrigen Mann im Anschluss an verjauchtcs
Epitheliom des Oesophagus, bei einem 32 jährigen Tuberculosen im
Anschluss an ein mit frischem diphtherischen Beleg versehenes Gc-
schwtir der Trachea, bei einem 69jährigen Mann im Anschluss an me-
tastalische Infarcte der Lungen, bei einem 4 1jährigen Mädchen an eitrige
Lymphangitis derselben.
Ausgedehntere Verkalkung und Verkäsung der mesenterialen
Lymphdrüsen fand sich bei einem 8jährigen an Dysenterie verstor-
benen Mädchen. Es waren vom 4. bis 6. Lebensjahr die Erscheinun-
gen der Scrophulose vorhanden gewesen. Bei einem Säjäbrigen au
Typhus exanlh. verstorbenen Mann fand sich die gleiche Veränderung
an den bronchialen Lymphdrüsen , ohne dass das ursächliche Moment
bekannt gev^orden wäre. Im Anschluss an Tuberculose fand sich aus-
gedehntere Schrumpfung und schiefrige Pigmentirung der bronchialen
Lymphdrusen bei einer 2S jährigen Frau, im Anschluss an chronische
Pneumonie und an Emphysem in 6 Fällen , dreimal mit Stenose ein-
zelner Lungenarterienzweige , in einem der letzleren Fälle mit Throm-
busbildung an der slenosirlen Stelle.
Acute umfangreichere Hilztumoren fanden sich in drei Fällen
neben Pyämie, in zwei weiteren neben tödtlich verlaufendem Erysipel.
Chronische Hyperplasien des Organs fanden sich in Form von Slauungs-
Beobaehtongen des pat1iologisr,ben Instituts su Jena im Jahre t868. 193
milz mit Vergrösserung bei einem 74 jährigen Mann und einer 58jiib-
rigen Frau, in. Form einfacher Hyperplasie bei einem 62jährigen Diabe-
tiker und einem 24 jährigen mit weit verbreitetem Lymphdrüsensarcom
behafteten Mann.
Respirationssystem.
Fibrinös-eitrige Pleuritis höheren Grades fand sich in 4 9 Leichen
(42 M., 7 W.) SS 14.6 Proc. Sie betraf beide Pleurahöhlen in 7, die
rechte allein in 7, die linke in 5 Fällen. Nur in einem Falle gelang der
Nachweis des ursprünglichen Momentes nicht mit Sicherheit, indem bei
einem 78 jährigen an erabolischen Herden im Gehirn und Nieren von
einer Endocarditis valvulae bicuspidalis aus neben Empyem verstor-
benen Mann der Nachweis einer Embolie der Intercostalarterien sich
nicht führen Hess. In allen übrigen Fällen war die Pleuritis secundä-
rer Process und bedingt in 7 Fällen durch Embolie der Lungenarterien
und ihre Folgen, in 4 durch Pneunomie, je zweimal durch Bronchiecta-
sie und Sarcom der Lungen , je einmal durch Tuberculose , Perforation
der Pleura von eiternden Axillardrüsen aus und durch Uebergreifen
eitriger Peritonitis.
Synechien der beiden Pleurablätter fanden sich in 66 Leichen
= 40.5 Proc. Es waren betroffen beide Pleuren in 35 (23 M., 42 W.),
die linke allein in 42 (7 H. , 5 W.), die rechte in 49 (15 M. , 4 W.)
Fällen. Wie gewöhnlich war mithin das männliche Geschlecht über-
wiegend häufig Processen ausgesetzt, welche zu Pleuritis geführt
hatten.
Groupöse Pneumonie wurde in 24 Leichen constatirt (46 M., 8 W.)
=s 44.7 Proc. Ihr Sitz war in sämmtlichen Lungenlappen in 3, in bei-
den Unterlappen in 9, im rechten Ober- und Unterlappen in 4, im
rechten Unterlappen in 7, im linken in 3, im linken Oberlappen in
2 Fällen. Das erste Lebensjahr lieferte 3 Fälle, in allen war die Hepa-
tisation deutlich gekörnt und gleichförmig verbreitet. BemeriLenswerth
ist, dass zwei von diesen drei Fällen bei Kindern auftraten, welche
zwei Wochen vor Beginn der Krankheit geimpft und dann der kalten
Abendluft ausgesetzt worden waren. Den letzteren schliesst sich ein
Fall an bei einem 47jährigen , sehr kräftigen Mann , welcher mit soge-
nannter Rubeola behaftet, an einem kalten Novembertage ausgegangen
war. Auch in allen übrigen Leichen waren Veränderungen nachweis-
bar, welche entweder zur Entwickelung der Pneumonie überhaupt
disponirt oder doch zu deren tödtlichem Ausgang beigetragen hatten.
Diese Vei^nderungen bestanden je dreimal in Manie und Epitheliomen,
je zweimal in Tuberculose, Herzfehlern und Pyämie, je einmal in AI-
194 Wllhdm Hfilkr,
cohoiismus, Wirbelbruch , Endarteritis , Lymphangilis , Scirrhus, Per-
foration dos ßeclum, Nephritis, Dysenterie.
Bronchopneumonie Üefert« 31 Fülle (14 M. , 17 W.) = 19.01 Proc.
In 18 Füllen zeigten sich beide Lungen befallen, in 7 nur die rechte,
in 6 nur die linke. Der Process war in 12 Fcillcn durch Hinnbscbreiteii
intensiver Broncfaialcatarrhe, in S durch Diphtherie bedingt. In 17 Fül-
len war genügender Grund vorhanden, um denselben auf ein Hinab-
gelangen fremder Körper durch die Trachea in die Bronchial Verzwei-
gungen zurückzuführen. Wie gewöhnlich lieferten die ersten fünf
Lebensjahre mit (4 Fällen das beträchtlichste Conlingeut von allen
Altem.
Chronische Pneumonie mit Broochialerweiterung lieferte 1 5 Filllc
(9 M., () W.) = 9.8 Proc. Ihr Sitz war in beiden Lungen gleichzeitig
in 7, rechterseits in 6 (davon B in der unteren Parthie des Oberlappen),
links in 2 Fallen. In 3 Füllen erfolgte der Tod an weit verbreitetem
Hydrops; bei einer 47jahrigen Frau an Lungenvenenthrombose mit
nachfolgender Gehimarterienembolie, bei einem Säjlthrigen Mann war
e^ von einer Bronchiectasie dos linken Oberlappens aus zu Perforation
der Pleura gekommen mit Entwickelung von linksseitigen Empyem.
Höhere Grade von Emphysem wurden in 18 Leichen beobachtet
[8M., 10 W.) =11.04 Proc. Unter diesen Füllen ist bemerkenswerth
die £nlwickeluag hochgradigen Emphysema neben cbrunischer Tnber-
culose bei einem 30 jährigen Mann, ferner die Entwiekelung vesiculH-
ren Emphysems der rechten Lunge neben dtroniscber PaeumoDie der
linken bei einer 47 jahrigen Frau. In & Fällen ftlbrle das Emphysem
zum Tod; derselbe erfolgte durch intensive Bronchitis und Lungenödem
neben allgemeinem Hydrops und durch Erysipel der SdematUsen un-
teren ExtTMoiUHen in je 1, durch Venen- resp. Herstbrombose in
3 Füiien.
Pigmenthypertrophie höheren Grades fand sich bei einem 17 jah-
rigen, an Bicuspidalin&uffloienz verstorbenen Hadohen.
Metastatisdie Infarole beider Lungen wurden in 8 , metastalische
Absoesse in 7 Fällen oonstaiirt. Von den 35 Fallen von Lungenarte-
rienembolie, welche constelirt wurden, war demns«^ noch nicht
die Hälfte von erheblitdien Verandeningen des Lungenparenchyms
gefolgt.
Bei einem ftijahrigen Mann war in Folge eines Sturzes ausser
Bruoh der Schädelbasis ein solcher der 7. linken Rippe erfolgt mit
einer Risswunde der linken Lunge, Bluterguss in die linke PleurahlAle
und Pneumothorax.
Atelectase fand sich bei einem Neugeborenen neben Hamorrhagie
BeobaehtiingeD des pathologischen IflStHnts sii Jen« im Jahre 1868. 195
der Pia. Zwei männliche Todtgeborene starben asphyktisch durch
Aspiration von Meconium in die Luftwege; ein drittes Kind, indem
während des Fttttems Speisetheile in die Trachea gelangt waren. Bei
einem 50 jährigen Bfann war Asphyxie durch Ertränkung bedingt. Bei
einem 42 jährigen Irren fand sich ein erbsengrosses wahres Divertikel
des rechten Hauptbroachus in Form einer rundlichen mit dünner glän-
zender Wand versehenen Ausstülpung.
Diphtherie wurde auf der Schleimhaut der Respirationswege in
4 Fällen constalirt »* S.4 Proc. In tsvei Fällen trat sie als terminaler
Process auf; bei einer 84jährigen Frau auf die Trachea beschränkt
neben alter Endocarditis und Herzthrombose; bei einer 54 jährigen
Frau auf den untersten Theil der Trachea und den rechten Hauptbron-
chus beschränkt neben einem umfangreichen Magengeschwür.
Bei einem 5 jährigen Mädchen tödtete epidemische Diphtherie wie
gew&hnlicb durch Verbreitung auf die feineren Broncbial^weige, Von
besonderem Interesse gestaltete sich der Verlauf bei einem 44 jährigen
Mädchen. Die Krankheit hatte mit Schmerzen im Halse und Schling-
beschwerden begonnen ; dazu gesellten sich die Erscheinungen heftiger
Oppression, hohes Fieber, Respirationsnoth , Schmerlen im Abdomen,
welchen die Kranke in wenigen Tagen erlag. Es fand sich bei der Section
ein grauer festsitzender Beleg der Uvula, Eiterung eines Theils der cer---
vicalen und bronchialen Lymphdrüsen , diffuse eitrige Phlegmone des
Mediastinum, bronchopneumoniscbe Herde in beiden Lungen neben
ausgedehnter eitriger Lymphangitis derselben, fibrinös -eitrige Pleu-
ritis, Pericarditis, Peritonitis. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die
rasch fortschreitende eitrige Phlegmone durch die Lymphdrüseneiterung
und die Lymphangitis der Lungen bedingt war , welche im Anschluss
an diphtherische Bronchopneumonie sich entwickelt hatte.
Digestionssystem.
Von Bildungsfehlem des oberen Abschnittes dieses Systems ist zu
erwähnen totale Spaltung des weichen Gaumens und Zäpfchens bei
einem todtgeborenen Hemicephalus.
Spaltung des Zäpfchens wurde kurz nach einander und an dem-
selben Ort (Lobeda) bei einem 40 jährigen Knaben und einer 70 jähri-
gen Frau constatirt.
Von den erworbenen Veränderungen ist zu erwähnen ein wall-
nussgrosser Abscess der linken Parotis neben erbsengrossen Abscessen
in beiden Tonsillen einer 74 jährigen, an Emphysem verstorbenen
Frau. Ausserdem boten noch zwei 34jährige Männer Abscesse in den
196 Wilhelm MOIIer,
Tonsillen, bei einem derselben, welcher gleichzeitig an Abdominal-
typhus litt, hatte sich Eiterung der cerTicalen Lymphdrüsen und diSiise
Phlegmone des peripharyngealen Bindegewebes angeschlossen. Letztere
fand sich neben purulenter Periarteritis umbilicalis bei einem sieben
Wochen alten Ifadcben ; der Tod erfolgte durch Bronchopneumonie.
Hyperplasie der Tonsillen höheren Grades wurde in 6 Leit^en aD-
getroffen (3 M-, a W.) = 3.6 Proc.
Chronischer Catarrh des Oesophagus trat in 8 Leichen auf [3 lt.,
5 W.} ^ i.9 Proc. , stets im Anscfaluss an chronischen Catarrh des
Magens. Eben so oft wurden Soorbelage auf der Schleimhaut des
Oesophagus constatirt. Bei einem 77 jährigen Mann fand sich ein wah-
res Divertikel der vorderen Oesophaguswand wie gewöhnlich im An-
schluss an narbigen Schwund der Lymphdrüsen in der Trachea Ibifur-
cation.
Von Biidangsanomalien des unteren Abschnitts des Digestions-
systems ist zu erwähnen ein wahres kirschengrosses Divertikel der
Hagenwand bei einem 39jahrigen, ein solches des lleumanfangs bei
einem 61 jährigen Mann.
Von LagenBndeningen fand sich Prolapsus ani bei einem 10 jähri-
gen Mädchen ; derselbe hatte aller Wahrscheinlichkeit nach das dispo-
nirende Moment zur Acquisition der Dysenterie abgegeben, welcher die
Kranke erlag.
Hernien wurden in IS Leichen beobachtet (9 M. , 3 W. ) =
7.36 Proc. Das grOsste Contingenl stellte der rechtsseitige Inguinal-
bruch mit 5 Fallen, alle bei Männern. Bei einem 45 jahrigen Irren
halle die Incarceration eines angeborenen rechtsseitigen Leistenbruchs
den Tod herbeigeführt. Linksseitige Leistenbruche fanden sich in
i Frauen, rechtsseitiger Cruralbruch bei einer 63 jährigen Frau. Ein
77 jähriger Mann hatte doppelseitigen Leistenbruch, eine 64 jährige
Frau linksseitigen Crurat- und rechtsseitigen obturatorischen Bruch.
Hieran schliessen sich zwei Fälle von hernienartiger Verlagerung des
Quercolon in die Bursa omenlatis, in beiden Fallen mit Verwachsungen
zwischen Colon und Hagen, welche das eine Hai durch Epitheliom im
Magenfundus, das andere Hai durch Ulcus duodeni herbeigeführt waren.
Purulenle Peritonitis fand sich in 7 Fallen , sie waren sämmtlich
secundarer Natur und bedingt in je 1 Fall durch Perforation des Ma-
gens, Duodenum, Wurmformsalz, Rectum, Uterus, durch Bruchein-
klemmung und eitrige Pleuritis neben diBuser Phlegmone des Media-
stinum.
Chronischer Hagencnlarrh wurde in 22 Leichen angetroffen (16 M.,
6 W.) = (5.3 Proc.
.dS
Beobachtungen des pAthologisehen Instituts zu Jena im Jahre 1868. 197
Acuter Magen - und Darmcatarrh lieferte im Hochsommer 1 4 To-*
desföUe =8.5 Proc. (5M., 8 W.). Sämmtliche Individuen waren
unter 2 Jahren alt.
Ulcus rotundum fand sich in <8 Leichen p M. , H W.) = H.04
Proc. Der Sitz war in 14 Fällen im Magen, in 4 im Duodenum,
stets in dessen oberem Horizontaltheil. In 1 0 Fällen lagen offene Ge-
schwüre , in 8 deren Residuen in Form von Narben vor. Der Sitz war
6 mal an der hinteren Wand in der Nähe der Magenmitte , je 3 mal
an der vorderen Wand nahe der Gardia und am Pylorus; einmal waren
gleichzeitig 3 strahlige Narben längs der grossen Curvatur in der Gar-
diahälfte zugegen. Bei einem 73 jährigen Mann endlich sass das Ge-
schwür hart am Pylorus unter beträchtlicher Schwielenbildung auf der
Serosa mit Retraction und Stenose des Pylorus bis zum Umfang eines
Kleinfingers; der Magen zeigte die gewöhnliche secundäre Erweiterung.
Der Tod erfolgte bei einer 39jährigen Frau durch Arterienarrosion , bei
einem Sä jährigen Mann durch Perforation der vorderen Magen wand
nahe der Gardia.
Von den Duodenalgeschwüren wurde eines bei einem 19 jährigen
Mann durch Perforation tödtlich. Bei einem 52 jährigen Mann war dicht
oberhalb des VATSR'schen Divertikels ein groschengrosses Geschwür
neben einer strahligen das Duodenum bis zum Umfang des Kleinfin-
gers constringirenden Narße ; es zeigte sich der obere Theil des Duo-
denum glockenförmig erweitert, der Pylorus für 4 Querfinger bequem
durchgängig und nur durch den queren Yorsprung der Schleimhaut
über der Ringmuskelschichte angedeutet, der Magen beträchtlich er-
weitert, im Zustande chronischen Catarrhs, welcher auf den Oesopha-
gus sich fortsetzte, in letzterem unter Bildung von Erosionsgeschwüren.
Von besonderem Interesse ist der Fall eines 2jährigen Knaben. Der-
selbe war im Jahre 1 868 geimpft worden und war im Anschluss an die
Impfung an einer Diarrhoe erkrankt. Trotzdem dieselbe sistirte , war
gesteigerte Esslust bei auffallender Blässe und leichter Abmagerung
zurückgeblieben. Das Kind verbrannte sich am 15. Decerober mit
heissem Wasser, genau 48 Stunden nach der Verbrennung trat eine
Darmblutung ein, welche binnen 10 Stunden dem Leben ein Ziel
setzte. Es fand sich eine et^a ein Viertel der ganzen Körperfläche
einnehmende Verbrennung der Haut, der ganze Darm voll geronnenen
schwarzen Blutes. Der Anfangstheil des Duodenum mit der Gallenblase
locker verwachsen, seine Serosa verdickt, die anliegenden Lymphdrü-
sen vergrössert, derb, in verdicktes weisses, schwieliges Bindegewebe
eingelagert. Im Duodenum selbst zwei Geschwüre , das eine zackig,
vom Umfang eines Fünfgroschenstücks, hart am Pylorus in der hinteren
Bd. V. X U
19S WilhelB Vüller,
Wand silzend, der Schleimhautrand flach i^ewulslel , die Basis glall.
bei Druck aus mehreren kleinen GefässOffbungen Blut ei^iessend , das
andere gerade gegenüber in der vorderen Wand, sechsei^ross , voll-
kominen kreisrund, die Serosa im Umfang einer Linse biosiegend. Die
narbige BescbaCTenheit der Duodenalwand an der Basis des grösseren
Geschwürs, sowie die Hyperplasie der anliegenden Lymphdrüsen und
des sie umgebenden Bindegewebes lassen keinen Zweifel, dass hier
seit längerer Zeit, mttglicberweise seit der Impfung, ein doj^eltes Duo-
denalgeschwür bestand, in welchem 48 Stunden nach Eintritt der aus-
gedehnten Verbrennung die Arrosicn mehrerer Gefässe den Tod her-
beigeführt hatte.
Bei einem Sljabrigen Mann fand sich betrachtliche schiefei^raue
Pigmenlining der Schleimbaut des lleum über den PeTBR'schen Drüsen
als Residuum des ein Jahr vorher überstandenen Abdominaltypbus.
In 1 1 Fallen (6 M., 5 \V.) = 6.7 Proc. fanden sich Kothsteine oder
wahrscheinlich von solchen herrührende Veränderungen im Wurmfort-
satz, In 9 Fallen waren erstere zugegen , wiederholt mehrere giwcl)-
zeitig, jedoch war nur in einem Fall Perforation mit lodtlichem Aus-
gange eingetreten. Es fand sich ferner Hydrops des Wurnifortsalies
in 3 Fallen, einmal neben einem Fäcalconcrement , zweimal ohnt'
soldie, stets mit Obliteralion des dem COcum anliegenden Theils.
Chronischer Calarrb des Colon wurde in 5 Fällen coostatirt = 3.06
Proc. Er stand je einmal im Anschluss an Herzfehler, Perforation
des Colon von einem Epitheliom des Magens aus , chronische Pneumo-
nie und ioterslitiolle Nephritis. Im fünften Fall liess sich ausser dem
früheren längeren Gebrauch der Drastica ein ursachliches Moment nicht
nachweisen.
Bei einem f 8jährigen Mann fand steh eine durch die gante Länge
des Darms sich erstreckende Taenia solium.
Bei einem 17jährigen Hadchen mit Herzfehler, welches 2 Jahre
vor seinem Tode von Brasilien nach Jena tibei^esiedelt war, fanden
sich im Gocum fünf groschengrossc Dache, vollkommen runde, mit gol-
bem festsitzenden Beleg versehene Geschwüre , wahrscheinlich die Re-
siduen einer an dem früheren Wohnort überstandenen Dysenterie.
Acute Dysenterie wurde im Verlauf des Herbstes in 6 Fällen beob-
achtet (SM., l W.) = .3.6 Proc. Die Befunde boten nichts vom Ge-
wöhnlichen Abweichendes, stets enthielt die Flüssigkeit bew^liche
Pilzläden und Sporen in colossaler Menge.
Bei zwei im 28. resp. Zt. Jahre stehenden Tuberculosen waren
sogenannte Folliculargeschwüre tm Dickdarm vorhanden, bestehend in
*— »-r-— ^'.-- i^.^
Beobachtungen des pathologischen InstUnts zn Jena im Jahre 1868. 199
kleinen rundlichen Substanz Verlusten der Schleimhaut mit umgeben-
dem schiefergrauen Pigmenthof.
Bei einem 59 jährigen Rammerjäger fand sich ein kirschengrosses
Kalkconcrement im Mesenterium des Dünndarms. Bei Zersetzung mit
Salzsäure blieb eine weiche Körnchenmasse zurück , welche einen ge-
falteten , seinen Reactionen nach aus Chitin bestehenden Schlauch ein-
schloss. Von Hacken konnte trotz sorgfältigen Suchens Nichts gefunden
werden.
Zwei Leichen = i.^ Proc. enthielten Echinococcen in der Leber,
und zwar ein 50 jähriger Metzger und ein 39jähriger früherer Diener
des physiologischen Instituts.
Mehrfache Leberabscesse eines 35jährigen Mannes verdankten ihre
Entstehung eitriger Pylephlebitis im Gefolge des Typhus.
Amyloiddegeneration der Leber fand sich in 3 Fällen , zweimal im
Anschluss an Syphilis, einmal an Tuberculose.
7 Individuen (3 M. , 4 W.) = 4.2 Proc. boten Gallensteine; in
einem Falle waren gleichzeitig \ 90 Stück vorhanden.
Bei einem 1jährigen, an Pneumonie verstorbenen Kind, welches
14 Tage vor seinem Tode geimpft worden war, fand sich eitriger Ca-
larrh der Gallenblase.
Uropoetisches System.
In 2 Fällen wurden Missbildungen im Bereich des uropoetischen
Systems constatirt. Bei einem \ 0jährigen , an Tuberculose verstorbe-
nen Knaben Hufeisenniere, bei einem 5 Wochen alten, an acutem
Darmcatarrh verstorbenen Knaben fehlte jede Spur des linken Ureter
und der linken Niere.
Die acute Form der tubulären Nephritis fand ich in 3 Leichen,
stets als secundärer Process, zweimal neben Pyämie, einmal neben
croupöser Pneumonie. Die chronische Form wurde zweimal beobach-
tet: bei einem 9jährigen Knaben neben chronischer Pneumonie und
Endocarditis, bei einer 22 jährigen Irren neben alter Syphilis und run-
dem Magengeschwür.
Interstitielle Nephritis kam in 7 Leichen zur Beobachtung = 4.2
Proc. (4 M. , 3 W. ). Sie betraf dreimal beide, dreimal die rechte,
einmal die linke Niere. In 5 Fällen stand sie nachweisbar im Anschluss
an chronischen, weit verbreiteten Catarrh der Harnwege, bei einem
49 jährigen Mann und einer 63 jährigen Frau war sie als selbstständiger
l^'ocess entwickelt. Bemerkenswerth ist aus der ersteren Gruppe der
Fall eines 02 jährigen Mannes , hei welchem die linke Niere durch in-
^
200 Williplin MülliT.
terstilielle Nephritis bis zum Umfange eines flachen Hühnereies atro-
phirt war, wahrend die rechte bis zum Doppelten des Normal voiu ms
durch einfache Hyperplasie sich vergrOssert halle.
Der suppurativen Nephritis eriagen ein iSjähriger Hano (Irre,
mit ausgedehntem Catarrb der Urogenitalschleimhaut und ein SOjähriger
Mann mit alter Strictur , Adenom der Prostata und Blasendiphtherie.
AcuU; Fettdegeneration der Nieren wurde zweimal im Gefolge von
Phosphorintoxication beobachtet.
KalKinfarct wurde in den Pyramiden eines 7Sjahrigea Mannes
neben vorgeschrittener Endarteritis gefunden.
Fünf im ersten Lebensjahr siehende Kinder (2 H. , 3 W.) = 3. 06
Proc. boten stärkeren Harnsaureinfarct in den Pyramiden; he-
merkenswerth ist, dass derselbe einmal bei einem 7 Wochen alt«n
Hadchea neben eitriger Phlegmone um den Pharynx, femer bei einem
1 1 Wochen alten Knaben neben acutem Gastroinlestinalcatarrb ange-
troflen wurde.
Amyloiddegeneraüon der Nieren wurde in 5 Fallen constarin
= 3.1)6 Proc.; dreimal im Anschluss an alle Syphilis, zweimal antu-
berculose, einmal an Epitheliom. '
Catarrh des Nierenbeckens und der Kelche fand sich in 1 8 Leichen
(8 H., 10 W.) =3 ll.Oi Proc, darunter 5 Irre. In 1i von diesen Fallen
waren beide Nierenbecken betheiligt, dreimal nur das rechte , einmal
das linke. Der Process stand in allen Fallen im Anschluss an Concre-
mentbildung oder chronischen Catarrh der tieferen Abschnitte des uro-
poelischen Systems.
Beträchtlichere Erweiterung der Nierenbecken wurde fünfmal
beobachtet ^ 3.06 Proc. Sie war zweimal angeboren, bei einem todt-
geborenen Hemicephalus neben eitrigem Catarrh von Blase und Nie-
renbecken , bei einem toiltgeborenen Knaben neben Phimose und Er-
weiterung der Blase entwickelt. Die erworbenen Falle waren je einmal
bedingt durch Catarrh des Nierenbeckens, Druck des hyperplastiscben
Uterus resp. des carcinomaUlsen Ovarium auf die Ureleren.
Concremente im Nierenbecken fanden sich in 5 Fallen (2H., iW.;
SS 3.6 Proc. Fünf dieser Individuen gehörien den ersten beiden Le-
bensjahren an , der sechste Fall betraf eine 32jabrige Frau mit aus-
gedehntem Catarrh des uropoetischen und Genitalsystems.
Acuter Catarrh der Harnblase fand sich bei einem äljahrigen anAb-
dominallyphus verstorbenen Mädchen neben Tj'phusgeschwttren. Chro-
nischer Catarrh war in 17 Fallen nachweisbar = 10.4 Proc. (10 M.,
7 W.) . In 3 Fallen war es im Anschluss an chronischen Caiarrb zu
oberflächlichen UIcerationen der Schleimhaut und Bildung diphtherischer
X
Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1868. 201
m
Belege auf denselben gekommen: bei einem 59 jährigen Mann mit
chronischem Catarrh der Genitalschleimliaut neben alter Syphilis, bei
einem 80 jährigen Mann neben Adenom der Prostata und ausgedehnter
Varixbildung auf der Blasenschleimhaut, bei einem andern 80jährigen
im Gefolge einer Strictur der Pars membranacea urethrae.
Bei einer 58jährigen, an Dysenterie verstorbenen Frau fand sich
ein graugelblicher diphtherischer Beleg auf der Blasenschleimhaut in
ihrer ganzen Ausdehnung.
Divertikelbildung wurde neben Erweiterung der Harnblase in
"ä Fällen constatirt: bei einem 77 jährigen Mann neben Phimose und
chronischem Urethral- und Blasencatarrh, bei einer 6 8 Jährigen Frau
neben Uterusmyomen und chronischem Catarrh der uropoetischen und
Genitalschleimhaut.
Blasensteiüe fanden sich bei 2 Leichen : eine Anzahl gelber,' klei-
ner, theils runder, theils eckiger Concremente bei einem 4jährigen
Knaben , drei bohnengrosse Phosphatsteine bei einem 71jährigen Mann
neben chronischem Catarrh der Schleimhaut und Adenom der Prostata.
Männliches Genitalsyst^em.
Angeborene Phimose höheren Grades fand sich bei 6 Männern
=: 6.3 Proc. aller männlichen Leichen^ einmal neben flächenhafter,
aber leicht trennbarer Verwachsung der Vorhaut mit der Eichel.
Hypospadie massigen Grades, bestehend in Ausmttndung der
Urethra an Stelle des Frenulum, wurde zweimal beobachtet.
Chronischer Catarrh der . männlichen Urethra fand sich in 4 8 In-
dividuen =3 1 9. 1 Proc. , darunter 7 Irre. Bei 1 2 dieser Individuen
hatte sich der Process auf die Samenblasen verbreitet, unter gelblicher
Färbung des trüben an grossen Körnchenzellen reichen Spermas.
Zweimal fanden sich Absoesse in der Prostata, bei einem 80 jäh-
rigen Mann im Anschluss an Strictur der Pars membranacea urethrae,
hei einem 24jährigen, an allgemeiner Sarcomatose verstorbenen Mann
im Anschluss an granulöse Urethritis.
Angeborene rechtsseitige Hydrocele fand sich bei einem 1jährigen
Knaben , welcher der epidemischen Leptomeningitis erlegen war. Er-
worbene Hydrocele derselben Seite wurde bei einem 77 jährigen Mann
nei)en chronischem Catarrh der Urethra und Samenblasen beobachtet,
während linkerseits Synechie der Vaginalhaut bestand.
Wcililiches Genrtals^ &tein.
Von GesUll- und La^eändemogen des L'tenis landen sich Ante—
vcnionen und -Flexionen iu i '5.7 Proc.', Relro Versionen untt
-Flexionen in 8 Leichen H.i Proc.l. Au^edehoiere Synechien zwi-
•dien L'terufl und Rcclum wurden eleichfalls in 5 Leichen beobachtet.
In einem Fall fand sich dißuse fibröse Perimetritis in Form be-
nächtlicher Trübung und Verdickung der ITlerusserosa mit BQduo}:
zahlreicher zottiger Excrescemen.
Hyperplasie des ganzen Utems fand sich in ö, Verlängerung des
Cervix allein in 1 Fall; in allen 6 Füllen sland die Vergrösserung des
Organs im Anschluss an chronischen Calarrh der Sehleimhaut.
I.clzlercr fand sich in 18 weiblichen Leichen auf der Genital-
Hchleimhaul = 86.0« Proc. Er halte bei einer Stjjihrigen Frau zu Sie-
nofic des g»nien Cer^icalcanals , hei einer 80jyhrigen zu Oblileration
iteiiOrilicium uteri ext. und int. mit Hydrops ccrvicis, bei einer Tflj.ih-
rigcn XU denselben Folge mit Hydrops ccrvicis und Hydrometra unicr
Kftnduhrform des Uterus, endlich bei einer .'iSjilhrigen Frau zu Ver-
wnchsung des Ccrvical- und Uteruscanais in ganzer Ausdehnung durch
fibrUso Bindegcwebsstninge geführt.
Diphtherie dos puerpealcn Uterus fand sich bei einer -Sijahrigeu
Frau neben Metrophlcbitis und eitriger Phlegmone dos Organs niil
hurehbruoh des Eiters in die Bauchhöhle.
Oblitoralion der Tiibenenden durch perilonilische Pseudomcuibra-
nou und ausgebildeter Hydrops tubarum wurden in je 2 Leichen ge-
funden.
Bei einer 39 jahrigen und einer 69 jährigen Frau wurden die Re-
itiduon früherer poriuleriner Hamatocelen in Form roslfnrbener ge-
flcbichtcler Beiego zwischen beiden in ausgedehntem Maasse schwarz-
llcli pigiocnlirten Wunden des Doiir.LAs'snhcn linumes angelraifen.
Beide Fülle holrafon Individuen mit vorgeschrittenen Stauungsprocessen
im Bereich des Körper venensyslems.
Haut.
Erysipele fanden sich in 7 Leichen [1 M., (i W.) = i.i Proi,,
sechsmal an den unleren Extremilätcn , einmal im Gesicht. Conslanl
fanden sich die zu der crysipelsUJsen Hnulpartie gehörenden Lymph-
drüsen verändert, entweder in Form acuter Hyperplasie, oder in Fonu
von Eiterung. Bei einer 39jshrigcn Frau halle an ein Erysipel des
UdemaUtscn linken Unterschenkels eitrige Lymphangilis sich nnge-
■ m
Beobacbtungeu des pathologischen Instituts eh Jena im Jahre 1868. 203
schlössen. Hervorzuheben ist der Befund eine^ 4 7 jährigen, an Erysi-
pel verstorbenen Mädchens. Der Beginn der Krankheit war hier auf
der Rachenscbleimhauty von wo das Ei7sipel durch die Nasenhöhle auf
die Gesichtshaut ttberwanderte. Der Tod erfolgte während der Ver-
breitung auf die behaarte Kopfhaut unter Coma. Es fand sich das Ge-
hirn und seine Hüllen intact , das Gesicht an den erysipelatösen Stellen
geschwollen , die Haut stellenweise in Blasen erhoben , die Lymphdrü-
sen an der linken Seite des Halses zum Theil in eitrigem Zerfall;
ausserdem reoente Endocarditis der Bicuspidalis und ein umfang-
reicher acuter Milztumor. Der Befund stimmt mit der Annahme, dass
während des Erysipels einem Theil der Lymphdrüsen resp. der Ge-
sammtblutmasse Moleküle zugeführt worden seien, welche das Endo-
card und die Milz zu Gewebswucherung anzuregen vermochten.
Wunddiphtherie fand sich in 3 Fällen mit Bildung bräunlich grauer,
übelriechender Belege ; sie ging stets mit eitriger PlebiUs einher.
Ekzem wurde an den Unterschenkeln einer 84jährigen Frau, so-
Nvie im Gesicht eines 4jährigen Knaben, im gleichen Alter je einmal
Strophulus und Intertrigo beobachtet.
Eine ausgedehnte Verbrennung der Haut bei einem 2 jährigen
Knaben führte, wie schon erwähnt, durch Complicatjon mit Duodenal-
geschwür zum Tod.
Ausgedehnt Narben beider Unterschenkel in Folge einer frühereu
Verbrennung waren bei einem 50 jährigen Mann Ausgangspunkt eines
bis in die Tibia eindringenden Epithelioms geworden.
Bei einem 76jährigen Mann und einem 84jährigen Weib fanden
sich ausgedehnte Geschwüre an beiden Unterschenkeln; bei einer
32jährigen Frau hatte ein solches des rechten Unterschenkels die Am-
putation erforderlich gemacht mit tödtlichem Ausgang durch Pyämie.
Bei einer 42jährigen Frau fanden sich die Narben früherer Geschwüre
mit belrüchtlicher brauner Pigmentirung. Bei einem 80 jahrigen Mann
hatte Arterienthrombose zu beginnender, bei einer gleichalterigen Frau
zu ausgebildeter Gangrän der unteren Extremitäten geführt.
Bei einer 84 jährigen Frau fanden sich zahlreiche Furunkel über
den Körper verbreitet vor; da gleichzeitig Thrombose des linken Herz-
ohrcs bestand, konnte die Möglichkeit eines embolischen Ursprungs der
I^iterbildung nicht abgewiesen werden.
Bewegungs System.
Von Anomalien der Muskeln und Sehnen ist zu erwähnen eine
voUstUndige Verknöcherung des Centrum tendineum diaphragmatis,
2^4 Wilh<!liii Mfiller,
welche sich neben hochgradiger Endaneritis bei einem 61jahngen , an
Dysenlerie verstorbenen Manne fand.
Bei einem 6äjahrigen, an Scirrhus der Cardia verstorbenen Hanne
fand sich der Schleimbeutel über der rechten Patella apfelgross , seine
Wandung schwielig verdickt, über 0,5 Centimeter im Durchmesser
haltend, die Innenflache mit einer geschichteten rostbraun pigmentlr-
teo Pseudomembran überzogen , die Htthle erfullt von einem schwarz-
braunen bruchigen Blulgerinsel,
Ein walloussgrosses Ganglion wurde an der Sehnenscheide des
linken Husc. semimembranosus einer ISJahrigen Frau angetroffen.
Bei einer 38jährigen, an Lungenemphysem und seinen Folgen
verstorbenen Frau war rechterseits von der Milte der Trachea im Baum
zwischen ihr und dem Oesophagus eine kirsch engrosse rundliche Ge-
schwulst vorhanden , welche aus einer schwieligen Bindegewebskapscl
mit centralem Hohlraum bestand. Letzterer zeigte eineglatle, gliln-
zende Wand, ähnlich der eines Schieimbeutels und enthielt eioe
schleimigeitrige , ziemlich zähe Flüssigkeit. Heber die Zeit der Entste-
hung der Geschwulst konnte Nichts ermittelt werden.
Eiterung der Gelenkhtlhlen wurde in i Fallen constatirt: zweimal
im Anschluss an Pyämie, eben so oft im Anscbluss an diffuse eitrige
Periostitis der anslossenden Knochen.
Knüchemo Ankylose des rechten Hüftgelenkes war bei einem
IGjahrigen JUngling durch frühere Periostitis am Femur und Becken
herbeigeführt worden ; eben solche des rechten Kniegelenkes , welche
bei einem G3j3hrigeu Mann gefunden wurde, durch ein Trauma, wel-
ches in früher Jugend auf das Knie eingewirkt hatte.
Von Entwickeln ngsanomalien des Knochensysl«ms wurde Rachitis
in 3 Fallen (8 M., 1 W.} = 1.8 Proc. beobachtet. Neben den Schade!-
knocheA waren es constant die Bippen, welche die characteristis<^en
Veränderungen darboten. Der Tod erfolgte zweimal durch Broncho-
pneumonie, einmal durch acuten Hagendarmcatarrh.
Pia gioceph alle massigen Grades wurde in 16 Leichen (13 M.,
3 W.) , constatirt ; auf 1 20 geöffnete Schädel berechnet ergeben sich
3.3 Proc. Ein beträchtlicherer Grad von Scaphocephalie war bei einem
65 jährigen Mann zugegen bei vollkommen elliptischer Form des Sditl-
delumfangs.
Bei einem 3 Wochen alten Neugeborenen fand sich eine he-
trächtliche ädematöse Schwellung mit Bttthung der Haut am Hinter-
kopf, auf die anliegenden Partien des Halses sich erstreckend. Es
zeigt« sich das Periost der Hinlerhauptssc^uppe im Umfange eines
Doppelthalers durch einen schmutzigbraunrothen , mit Eiler unter-
^»^^^F
Beobachtangen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1868. 205
mischten Bluterguss vom Knochen abgelöst, das Periost selbst und die
anliegenden Weichtfaeile theils ödematös geschwellt, theils eitrig in-
filtrirt.
Scoliose höheren Grades fand sich in 3 Frauen, die primäre Krüm-
mung halte ihren Sitz stets in der Dorsalwirbelsäule und war in zwei
Fällen nach rechts, in einem nach' links gerichtet.
Knochenbrüche wurden in 6 Leichen constatirt und zwar Bruch
des siebenten Halswirbels mit Zermalmung des Rückenmarks bei einem
46 jährigen Mann, der Schädelbasis mit Ruptur der Art. meningea me-
dia neben Rippenbruch bei einem 54jährigen Mann, der Decke der
rechten Augenhöhle neben Leptomeningitis bei einem 66 jährigen Mann,
des rechten Schenkelhalses mit eitriger Coxitis bei einer 58 jährigen
Frau, Splitterbruch der linken Tibia und Fibula mit eitriger Periostitis
und Plebitis bei einem 68jährigen Mann; endlich wurde bei einem
42 jährigen Irren ein bereits 2 Wochen alter Bruch der 9. bis \L rech-
ten Rippe' nahe dem Winkel beobachtet; das Periost war an der Bruch-
stelle geschwellt und zeigte bereits Knochenneubildung, die Bruchstücke
selbst erwiesen sich noch als beweglich. Als Residuum eines früheren
Bruches fand sich bei einem 82 jährigen Diabetiker eine durch Callus
unter Synostose mit dem sechsten Halswirbel geheilte Infraction des
siebenten Halswirbels.
Diffuse ossificirende Periostitis hatte bei einer 74 jährigen Frau be-
trächtliche Hyperostose des Hinterhauptbeins herbeigeführt.
Acute eitrige Periostitis wurde in 6 Leichen constatirt (4 M. , W.)
= 3.6 Proc. Sie stand in 3 Fällen im Anschluss an Diphtherie von Am-
putationsflächen der betreffenden Knochen ; alle diese Fälle waren mit
purulenter Endostitis unter Bildung von Knochenabscessen combinirt.
In 2 Fällen waren complicirte Fracturep das veranlassende Moment, in
dem einen gleichfalls mit Entwickelung eitriger Endostitis. Ohne nach-
weisbaren Grund war der Process gleichzeitig am rechten Schlüssel-
bein und linken Femur eines bis dahin gesunden 12 jährigen Mädchens
aufgetreten ; auch hier war es an beiden Stellen zur Bildung von Ab-
szessen in der Markhöhle neben Ablösung des Periost von der Knochen-
oherfläche gekommen. Hervorzuheben ist, dass in allen diesen Fällen
an die eitrige Peri - und Endostitis entweder purulente oder thrombo-
sirende Phlebitis sich anschloss.
Die Folgen abgelaufener eitriger Periostitis und Endostitis fanden
sich in weiter Verbreitung auf den rechten Femur und die rechte
Hälfte des Beckens bei einem 46jährigen Mann. Der Fall hat bei Be-
sprechung der eitrigen Phlebitis bereits seine Erledigung gefunden.
Bei einem 35 jährigen, an Typhus und consecutiver Pylephlebitis
f
206 Wilhelm Hflller, BwbutliKireen ein.
vorslorbenen Mann fand sich die rechte Tibia in ihren oberen zwei
DrilllheileD auf das Doppelt« verdickt, die Oberflache durch ungleich—
ftirniigo pen'osteale KnocheDauflagerungen uneben, das Gewebe durch-
aus sclerosirt, in der Mitte des oberen Dritttbeils eine huhnereigrosse,
i^lwas weiter aufwärts eine kirschengrosse eiterfUhrende Höhle enthal-
tend, deren glatte Wand von einer graurdtblichen vaseuiarisirten Mem-
bran Busgekleidet war. Hehrere Fistelüffnungen führten aus der
grösseren Höhle zur Oberßfiche der Haut an der Innenseite des L'd-
ti.-rscbenkels. Haut und Unterbautbindegewebe zeigten sich in der
Dmgcbung der Fisteln verdichtet und mit dem Periost des unterliegen-
den Knochens un verschieb bar vervk'achsen. Ich halte es fUr wahr-
schoinlicb, dass auch hier das Hesultat einer fnihcren, auf das Knochen-
mark übergreifenden purulenten Periostitis vorlag.
EikUnutg der Abbildnog-
TaJel Vn.
Herz mit crwcilcrtcai rechten und rudimentärem linken Ventrikel.
A. d. Atrium dextrum. A, s. Atrium sinistrum. V. p. Venae pulmonales.
F. o. Fosaa ovalis. Aur. sin. Auricula sinistra. V. d. Vontriculus dciler.
V. sin. der rudimentäre Veniriculus sinister. V. bic. Valvula bicuspidalis,
. Heri mit rudimentärer Aorla. V. d. Veniriculus deiler. A, d. Aliium
dextrum. Art. p. Arterie putmonalts. Dnct. arl. Ductus arterioaus. Ao.
Aoita. Are. ao. Arcus aortao. Die Aorta bei X durch Verwachsung der Se-
inilunarklitppcn obli(«rirt.
-i-r- ' •«* ** ".»-»-asiP^-w" w
lieber den Oi^anismas der Schwämme und ihre Verwandtschaft
mit den Corallen.
Von
Ernst Haeckel.
Die Glasse der Schwämme oder Spongicn stand bisher in der Or-
ganismen-Welt in mancher Beziehung einzig da. Keine andere Glasse
des Thierreichs und des Pflanzenreichs , welche eine ähnliche Anzahl
von häu6gen, ansehnlichen und mannichfaltigen Formen enthält, hat
bis in die neueste Zeit die Naturforscher über ihre eigentliche Natur so
in Zweifel gelassen und eine solche Menge widersprechender Ansichten
hervorgerufen. Wähcend die Mehrzahl der älteren Naturforscher die
Schwämme für Pflanzen , die Mehrzahl der neueren dagegen für Thiere
erklärten , machte sich dazwischen auch die vermittelnde Ansicht gel-
tend, dass dieselben wegen ihres indifferenten Organisations-Charakters
und wegen ihrer Mischung von thierischen und pflanzlichen Eigen-
schaften in die merkwürdige Gruppe jener niedersten und einfachsten
Organismen zu stellen seien , welche ich in meiner generellen Morpho-
logie der Organismen als Reich der Protisten zwischen Thierreich und
Pflanzenreich in die Mitte gestellt habe. Ohne hier auf eine historische
Darstellung der zahlreichen verschiedenen Ansichten einzugehen,
welche die Naturforscher von jeher über die Stellung der Schwämme
im Systeme der Organismen hegten, mögen doch die entgegengesetzten
Standpunkte der angesehensten Naturforscher kurz angedeutet werden.
Um hergebrachter Maassen den Namen des Aristoteles an die
Spitze zu stellen, so war schon dieser »Vater der Naturgeschichte« über
die Natur der Schwämme ganz zweifelhaft. Denn während er an meh-
reren Stellen die ihm bekannten Schwämme als Thiere beschreibt be-
trachtet er sie an einer anderen Stelle als Pflanzen, und st'
208 Krnsl Haeckel,
einem dritten Orte zu jenen iadifferenlen Organismen , welcbe den all-
mäligen und unmerklichen Uebei^ang vom Thiere zur Pflanze bilden.
Linn£, welcher alle ihm bekannten Schwämme als Species eines
einzigen Genus: Spongia, auffassle, stellte dieselben t73fi in seioem
Systems naturae an das Ende des POanzenreichs, unter die niedersten
Cryplogaaien, indem er sie mit den Corallen und den corallenahnlichen
Bryozoen als Liibophyta zusammenfassle. Auch noch in der zehnten
Ajsgabe des Systema naturae (von (760) ist diese Ansicht beibehalten.
In der zwölften Ausgabe dagegen (von < 767) schliesst er sieb den An-
sichten von EiLis und Pallas an , welche die Schwämme inzwischen
für Thiere erklärt und neben die Corallen unter die Zoophyten gestellt
hatten.
Unter denjenigen Naturforschern, welche auch später noch die
Spongien für Pflanzen hiellen, sind namentlich hervorzuheben Spal-
LANZAKi, SrnEnGEL und Okbn, und noch bis in die neueste Zeit ist diese
Ansicht von BcaHEisTER und Ehrenbkrg festgehalten worden. Doch gal-
ten die Spongien ziemlich allgemein als Thiere, nachdem Gbakt 1836
eingehend das Canalsysiem der Schwämme mit seinen »Poriu und
nOscula« beschrieben, und auch die Fortpflanzung durch bewimperte,
frei schwimmende Larven festgestellt hatte.
In BelrefT der Stellung, welche die Schwämme im System der
Thiere einnehmen , stehen sich gcgenwürtig , und schon seil mehr als
20 Jahren, vorzüglich zwei verschiedene Ansichten gegenüber. Im An-
schluss an CcviEa wurden die Schwämme von den meisten Zoologen
als nächste Verwandte der Corallen oder Polypen betrachtet und mit
diesen zusammen in die grosse Hauptabtheilung der Strahllhiere oder
ßadiaten verwiesen. Jedoch war das bestimmende Motiv ftlr diese
Stellung nicht die Krkenntniss von der wirklichen Ueberein Stimmung
der Schwämme und Corallen in den wesentlichsten Orgaoisations-
Charakteren, sondern vielmehr die äussere Aehnlichkeit, welche zwi-
schen manchen Schwümmen und vielen Corallen im äusseren Habitus,
und namentlich in der Art und Weise der Stockbildung besteht. Als
nun aber vor einem Vieiteljahrhunderl die Erkenntniss sich Bahn
brach, dass der sogenannte »Typusa der Strahlthiere eine buntgemischte
Gesellschaft von sehr verschiedenartigen niederen Thieren sei, und als
dann bei fortschreitender Erkenntniss ihrer Organisations - Differenzen
die Strahlthiere in die drei ganz verschiedenen Hauptgruppen der
Echinodermen , Coelenleraten und Protozoen aufgetflst wurden, Hess
man die Schwämme nicht neben den Corallen oder Anthozoen unter
den Coelenteraten stehen, sondern man degradirte sie in die nie^N^,
dersle Abtbeilung des Thierreichs , indem man ihnen neben den In-
Heber den Organismus der Schwftrame etc. 209
fusorien und Rhizopoden einen besonderen Platz «unter den Protozoen
anwies.
Die genaueren Untersuchungen über die feinere Organisation der
Schwämme, welche mit den verbesserten mikroskopischen H Ulfsmitteln
und den Anforderungen der neueren Anatomie entsprechend, seit 4848
angestellt wurden , schienen zunächst diese letzte Stellung neu zu be-
festigen. Insbesondere die sehr sorgfältigen anatomischen Untersuchung
gen von Carter in Ostindien (seit i 848) und von Liebbrkühn in Berlin
(seit 1856] schienen übereinstimmend zu dem Resultate zu führen,
dass die Spongien echte Protozoen seien , und einerseits zu den Rhizo-
poden und namentlich zu den Amoeben , andererseits zu den echten
Infusorien (Ciliaten) und zu den Flagellaten nahe verwandtschaftliche
Beziehungen besässen. Man verglich insbesondere die Bildung der
kieseligen Skeletttheile der Kieselschwämme mit den oft kaum zu un-
terscheidenden ähnlichen Kieselbildungen der Sphaerozoen und anderer
Radiolarien. Ferner waren gewisse isolirte Schwammzellen nicht von
Amoeben zu unterscheiden. Die isolirten Flimmerzellen aus dem Ca-
nalsystem der Schwämme, welche nur eine lange geisselartige Wimper
tragen, glichen den einzelnen Geisselschwärmem oder Flagellaten.
Während so die verwandtschaftlichen Beziehungen der Spongien zu
den übrigen Protozoen nach verschiedenen Richtungen hin gesucht
wurden, musste doch andererseits das characteristische Canalsystem
des Schwammkörpers als eine höhere Organisations- Einrichtung her-
vortreten, welche den übrigen Protozoen gänzlich fehlte oder höchstens
mit der contractilen Blase der Infusorien und Amoeben eine ganz
entfernte physiologische Yergleichung zuliess. So machte sich denn,
je mehr man durch ausgebreitete Untersuchungen mit den mannichfal-
tigen Modificationen dieses Canalsystems in den verschiedenen Grup-
pen der Schwämme bekannt wurde, immer allgemeiner die Ansicht
geltend, dass dasselbe ein ganz eigenthümlicher Geftssapparat sei, und
dass die ganze Classe der Spongien demzufolge als eine Thierclasse sui
generis zu betrachten sei , die in keinen näheren verwandtschaftlichen
Beziehungen zu irgend einer anderen Classe , weder unter den Proto-*
zoen, noch unter den Coelenteraten stände*
Diese gegenwärtig herrschende Ansicht, dass das eigentbümliche
Canalsystem der Schwämme einen ganz specifischen und bei keinen
anderen Thieren vorkommenden Emährungsapparat darstelle, und dnnn
demgemäss die Spongien als eine ganz besondere und isolirte Thier«
classe »sui generisa aufzufassen seien, wurde bereits von (iiiaiit (iHW)
und von Johnston (1842) ausgespcochen und in neuenißt Zeit nament-
lich auch von denjenigen Zoologen festgehalten , welche sich um AU*
210 Emat «««kPl,
Systematik der Spongien die grSssten Verdienste erwarben , von Oscii
Schmidt und von Bovbuank. Je weiter sich die systematischen Unter-
suchungen der letzteren ausdehnten und je mehr auch der feinere Bau
der Schwämme durch die Untersuchungen von LtnEKKüHi* und von
Köllher in neuester Zeit bekannt wurde , desto mehr schien jene iso-
lirte Stellung der Schwammclsase mit ihrem specifischeo »Wasserge-
fässsystema befestigt zu werden.
Dieser herrschenden Anschauung gegenüber haben in neuerer
Zeit nur sehr wenige Naturforscher an der alleren Ansicht festgehalten,
dass die Spongien unter allen Thieren den Corallen am nächsten ver-
wandt seien. Unter diesen Wenigen ist namentlich Ledckart hervor-
zuheben, welcher i 85i die Verwandtschaft der Schwämme und Polypen
(Corallen) geradezu mit folgenden Worten behauptete: »Denken wir
uns eine Polypen - Colonie mit unvollständig getrennten Individuen
ohne Tentakeln , Hagensack und Scheidewände im Innern, so haben
wir in der That das Abbild einer Spongie mit ihren nach aussen
gettfflielen grossen »Wassercanalen«. Lbuckart stellte demgemäss die
Schwämme im System neben die Corallen in die natürliche Haupt-
gruppe der Coelenteraten, deren typische Organisationseinrichtung er
1848 zuerst in ihrem Gastrovascular-Äpparat, in dem »coelen-
terischen Canalsystem« ei^nnt hatte. Jedoch unterliess er es, aucb
in der Folge, die nahe Verwandtschaft der Schwämme und CoralJen
näher zu begründen und im Einzelnen die wiriilich existirenden Ho-
mologien zwischen beiden Classen nachzuweisen.
Als ich im Winter 1 866/67 drei Monate auf der canarischen Insel
Lanearole verweilte, veranlasste ich meinen Reisebegleiter und Schü-
ler, Herrn Stud. Hikliicho-Maclat aus Petersbui^, die ausserordentlich
rmche Schwammfanna eingehend eu untersuchen , welche wir auf den
LavablDcken des Puerto del Arrecife, der Hafenstadt der Insel Lanza-
rote , antrafen. Das wichtigste Resultat dieser spongiologi sehen Unter-
suchungen , von dessen Richtigkeit ich mich vielfach durch eigene
Beobachtungen überzeugt habe , war die Thatsacbe , dass die Spongien
in einem viel näheren Verwandtsdiafts- Verhältnisse zu den Corallen
stehen , als man bisher angenommen und als auch Leuciart geglaubt
hatte. Insbesondere ging aus Hklucbo's Untersuchungen hervor, dass
das »ganz eigenthUmlichea Canalsystem des Schwammktlrpers keines-
wegs eine solche eigenthümlicbe specißsche Einrichtung , sondern viel-
mehr dem Gastrovitscularsy Stern oder dem coelenterischen Apparat der
Coelenteraten, und zunächst der Corallen, im Allgemeinen nach Fomi
und Function gleichwerthig sei, dass dieses «Ernilhrungssystemu in
beiden Classen homolog und analog sei. leb konnte diese horhwichtigf
■ ^4>»iiiL "t^ m < — ■ — — ' ■ ■ -
üeber den Or^nismas der Schwümme ete. 211
Thatsache , durch welche die wahre Verwandtschaft der Spongien und
Goelenteraten definitiv begründet wird , um so unparteiischer anerken-
nen, als ich selbst früher, der herrschenden Meinung folgend, und na-
mentlich auf die Ansichten von Liebsrkühn und Oscar Schmidt gestützt,
die Schwämme für eigenthümliche , den Rhizopoden nächst verwandte
Protozoen gehalten uüd sie in meiner generellen Morphologie in das in-
differente Reich der Protisten gestellt hatte.
Die wichtigsten Resultate seiner Untersuchungen hat Miklugho in
seinen »Reiträgen zurKenntniss derSpongiena veröffentlicht, welche
1868 im vierten Rande dieser Zeitschrift erschienen (p. 221 — 240.
Taf. IV u. V). Sie betreffen vorzugsweise die merkwürdige Guancha
b 1 a n c a , einen kleinen Kalkschwamra, der zu den interessantesten For-
men des ganzen Thierreiches zu rechnen ist. Denn derselbe bildet
kleine Stocke (Cormen), deren constituirende Individuen (Personen)
ihrem Rau nach verschiedenen Gattungen und sogar verschiedenen
Familien der Kalkschwämme angehören und dennoch aus einer und
derselben Wurzel hervorwachsen.
Die merkwürdigen Reobachtungen Miklugho^s an der Guancha
blanca, von deren sicherer Regründung ich mich auf Lanzarote fort-
dauernd mit eigenen Augen tlberzeugte , veranlassten mich , im letzten
Winter die mancherlei kleinen Kalkschwämme einer vergleichenden
Untersuchung zu unterziehen, welche ich früher in der Nordsee bei
Helgoland und im Mittelmeer bei Nizza , Neapel und Messina gesammelt
hatte. Auch fand ich nachträglich noch einige interessante kleine Kalk-
schwämme an Steinen , Schneckenhäusern und Algen , welche ich auf
meiner Rückreise von den canarischen Inseln an der Nordwestküste
Africas bei Mogador und an der Meerenge von Gibraltar bei Algesiras
gesammelt und wohlerhalten in Weingeist mitgebracht hatte. Zu die-
sem reichen eigenen Material kamen dann noch die Kalkschwämme
aus den zoologischen Museen von Edinburgh, Rerlin, München und
Hamburg, welche die Herren Allman, Pbters, von Sibbold und Rolau
mir zu übersenden die Güte hatten. Durch Herrn Sghmbltz erhielt
ich aus dem Museum Godeffroy eine Anzahl von interessanten austra-
lischen Kalkschwämmen aus der Rass-Strasse. Mein verehrter Freund
und College, Herr Professor Oscar Schmidt in Gratz, war so freundlictli,
mir Exemplare von dem grösseren Theile der im adriatisclien MiMtro von
ihm gesammelten Kalkschwämme zu senden. Wie reichlwilliK d/iM mit
diese Weise mir zu Gebote stehende Material war, ini am \umU*u
daraus zu entnehmen, dass ich nicht weniger nln i'i Oonitni iifiil
132 Species unter den Kalkschwämmen utiUiVHclwUli^u kontiUt,
Eine genaue Reschreibung und Abbildung i\'wm*r KhlktkvUwkmuw
2J2 Efnsl Hwclicl,
vennehrt durch eine Anzahl iiL'uer Formen, deren Zusendung mir von
verschiedenen Colle^en in Aussicht gestellt ist, werde ich in dem spe-
ciellen Tbeiie meiner, in der Ausführung begrilFenen Mo □ ograpbie
der Kalkschwümtne geben, [n dem generellen Theile dieser Mo-
nographie werde ich eine umfassende Darstellung von der gesammlen
Naturgeschichte der Calcispongieu geben , von der ich hofle , dass sie
nicht blos die Erkennlniss dieser kleinen Gruppe, sonderQ diejenige
der Schwitmme überhaupt in manchen Beziehungen fördero wird.
Denn obgleich die Legion der Küllt seh Wümme unter allen Legionen der
Schwnmmclasse eine der kleinsten ist, und noch dazu in der Mehrzahl
ausnehmend kleine, ja selbst mikroskopische Formen enlbält, vermag
sie doch in manchen Beziehungen mehr, als alle übrigen Spongien, ein
bedeutendes allgemeines Licht Über die Organisation»- und Verwandt-
schaft s-Verhill In isse der ganzen Schwammciasse zu verbreiten. Ausser-
dem sind aber die speciellen systematischen und morphologischen Ver-
hältnisse dieser kleinen Ordnung so einfach und klar, die genea'i'-
gisehen Verwandtschaftsbeziehungen ihrer verschiedenen Gattungen
und Arten so lehrreich und interessant, dass eine eingebende Er-
örterung derselben auch für die organische Systematik überhaupt von
grosser Bedeutung ist.
Als das wichtigste Resultat meiner Untersuchungen schicke ich
folgende allgemeine Siitze voraus: Die Schwemme sind den Coralli^D
unter allen Organismen am nächsten verwandt. Gewisse Schwürame
sind von gewissen Corallen nur durch den geringeren Grad der
histologischen Differenz irung, und namentlich durch den Mangel der
Nesselorgane verschieden. Die wesentlichste Organisations-Eigen-
thümtichkeit der Schwymme ist ihr ernährendes Canalsystem, welches
dem sogenannten coelenterischen Gerdsssyslem, oder dem Gastrovascu-
lar-Apparat der Coeienteratcn , und namentlich der Corallen, sowohl
homolog als analog ist. Bei den Schwämmen entstehen, ebenso wie bei
den Gorallen und wie bei den Goelenteralen überhaupt , alle verschie-
denen Theile des Körpers durch Differenzirung aus zwei ursprüng-
lichen, einfachen Bildungshliuten oder Keimblättern, dem Entoderni
und Ectoderm. Diese beiden Blätter entstehen durch DifTerenzirunn
aus den anfangs gleichartigen Zellen, welche [aus der Eifurchung
hervoi^egangen ) den kugeligen Leib des flimmernden Embryo ode''
der primitiven Larve (Planula) zusammensetzen. Aus dem innorei*
oder vegetativen Keimblatt, dem Enloderm, entsteht das ernUhreoiie
Epithelium des Canalsyslems und die ForlpDanzungsorgane. Aus dem
Suasei'en oder aninialen Keimblatt, dem Ectoderm, entsl«hen »11^
übrigen Theile.
«■
Ueber den Organismus der Sehwümme etc. 213
Bevor ich diese Sätze durch kurze Mittheilung meiner Beobach-
tungs- Resultate begründe, mögen noch einige Bemerkungen über die
Stellung gestattet sein, welche die Spongien dem entsprechend von
nun an im System des Thierreichs neben oder unter den Goelenteraten
einzunehmen haben werden. Denn da aus der allgemeinen Homolo-
gie, welche zwischen allen Theilen des Schwamm -Organismus und
des Gorallen -Organismus besteht, nicht bloss eine scheinbare anato-
mische Uebereinstimmung, sondern eine wirkliche Blutsverwandtschaft
beider Thierclassen gefolgert werden muss , so drängt sich in systema-
tischer Beziehung die Frage auf, welche besondere Stellung die
Schwämme in dem bisherigen System der Goelenteraten einzunehmen
haben werden.
In den neueren zoologischen Systemen wird der Stamm oder Ty-
pus der Goelenteraten ziemlich allgemein in drei Glassen eingetheilt :
I. Go r allen (Polypen oder Anthozoen). II. Hydromedusen (Hy-
droiden und Medusen). HI. Gtenophoren (Giliograden). Alle
Thiere dieser drei Glassen stimmen überein nicht nur durch die cha-
racteristische Bildung des Emährungsgefässsystems , sondern auch
durch den Besitz der Nesselorgane, weshalb Hdxlet dieselben als Ne-
matophora zusammenfasste. Diese characteristischen Nesselorgane
fehlen gänzlich allen echten Schwämmen oder Spongien. Der abso-
lute Mangel der Nesselorgane bei allen Schwämmen, die
beständige Anwesenheit derselben bei allen Gorallen , Hydromedusen
und Gtenophoren ist gegenwärtig der einzige morphologische
Gharacter, welche die erste Glasse von den drei letzteren scharf und
durchgreifend trennt. Ich habe daher schon in meiner Monographie der
Moneren und später in meiner natürlichen Schöpfungsgeschichte den
Vorschlag gemacht , die drei letztgenannten Glassen unter dem alten
Namen der Acalephae oderGnidae (Nesselthiere) zusammenzufas-
sen. Schon Aristoteles begriff unter dieser Bezeichnung die beiden
characteristischen Haupttypen der Gruppe, die frei schwimmenden
Medusen und die festsitzenden Actinien. Ausserdem wird der unter-
scheidende Gharacter der Nesselthiere, der Besitz der Nesselorgane,
durch jene Bezeichnung eben so bestimmt, wie durch Huxlbt^s Na-
men Nematophora ausgedrückt.
Wir würden demgemäss den Stamm oder das Phylum der
Pflanzenthiere (Goelenterata s. Zoophyta) in zwei Haupt-
äste (Subphylen oder Gladen) zu theilen haben: I. Schwämme
(Spongiae s. Porifera) und II. Nesselthiere (Acalephae s.
Gnidae s. Nematophora). Die letzteren würden in die drei
Classen der Gorallen, Hydromedusen und Gtenophoren zerfallen.
Bd. V. 2. 45
214 Brost UMcktl,
ÜDter den ScbwSmmen küDnle man vorlllufig als zwei Classen die
Autospongien und die fossilen Petrospongien unterscbeiden , da sich
diese beiden Gruppen bis jetit weder im Ganzen noch im Eioxelnen
in Däbere Beziehung babea setzen lassen.. Unter den Autospongien
würden die CalcispongieD eine besondere Subclasse oder Legioii
bilden.
Man konnte vielleicht auch noch weiter gehen, und gestttUtaul
die sehr nahen Verwandtscbafts-Beziehungen der ScbwfifDme und Co-
rallen die folgende Etolbeitung der Goelenteralen befürworten :
I. Cladus: Buscbthiere (Thamnoda).
4. Classe: Schwämme (Spongiae).
i. Classe: Corallen (Corallia).
n. Glad'us: Quallen (Kedosae).
1. Classe: Schirmqualleu [Hydromedusae] .
i. Classe: Kammquatlen (Ctenophorae) .
Eine Entscheidung, welche Gruppining den •atflrlichen V«-
wandtscbafts -Verhältnissen mehr entspricht, wird sich erst mit dn
Zeit geben lassen, wenn die Genealogie der CoelenterataD auf Gnuiit
ausged^nterer ontt^enetischer und vergleichend-anatomiscber Un-
tersuchungen sich vollständiger wird herstellen lassen.
Dass man die wesentliche Uebereinstimmung in der inneren Or-
ganisation der SchwBmme und Corallen, ihre wii^liche Uomologii^^
bisher grJJssbeatheils verkannte, hat unter Anderem darin smoef
Grund, dass die genauesten anatomischen Untersuchungen der neueren
Zeit (wie namentlich diejenigen von Libbkuühk] ihren Ausgang von
den beiden bekannlesten und gemeinsten Schwammformen nahmeDi
nSmKch dem SUsswasser - Schwamm (SpongillaJ, welcher >ur
Gruppe der echten Kieselschwamme , und dem gewöhnlichen Bade-
schwamm {Euspongia], welcher zur Gruppe der HorDScbwHm'D^
gehört. Gerede diese beiden Schwammformen weichen aber vialfacli
bedeutend von der ursprünglichen und typischen Bildung der ganie"
Classe ab, sind durch Anpassung an besondere Existentbedingunge"
vielfach modificirt und ruckgebildet worden, und verleiten daher leichl,
zumal da ihre Untersuchung verfaaltnissmassig schwierig ist, tu irr-
thumlichen Auffassungen.
Dagegen acheint keine Gruppe unter allen Schwammen geeigneter,
ycAies Licht über die typische Oi^nisation und die wahren Verwandle
Schafts -Verhaltnisse der ganten Classe tu verbreiten, als die Legi»"
der Kalkscbwamme. Schon Liebbeköbn hat dies in seinen »Beiti^g'"
■^^^
Ueber den Organismus der Schwämme etc. 215
zur Anatomie der Kalkspongien a (i865) ausdrücklich anerkannt und
aus den an den Calcispongien gewonnenen Resultaten das Verständniss
für die tlbrigen Schwämme zu gewinnen versucht (1. c. p. 743).
Zunächst gilt dies schon von der Individualität der Kalk-
schwämme, welche in weit höheren Maasse als diejenige der meisten
übrigen Schwämme geeignet ist, die schwierige Individualitäts- Lehre
oder Tectologie der Spongien zu erläutern. Indem ich die ausführliche
Darlegung dieser eben so interessanten als widitigen Verhältnisse mei-
ner Monographie der Ealkschwämme vorbehalte , will ich hier nur das
Resultat meiner speciell auf diesen Punct gerichteten Untersuchungen
anführen. Dieses besteht wesentlich (von einigen Modi6cationen abge-
sehen] in einer BesAäligung der jüngst von 0. Sghviut aufgestellten
Ansicht, dass jeder Theil des Schwammktfrpers , welcher eine beson-
dere Ausströmungs-Oeffnung (Osculum) besitzt, als ein besonderes
» Individuum a aufzufassen ist. Dieses »eigentliche Individuum« des
Schwammkörpers bezeichne ich, meiner Individualitäts- Theorie ent-
sprechend, als Person, und jeden Schwammkörper, der aiis zwei
oder mehreren Personen besteht (d. h. der zwei oder mehr Oscula be-
sitzt), als Stock öder Gormus. Die besondere Begrenzung dieser beiden
Regriffe, welche die eigeothttmlidien Individualitäts -Verhältnisse der
Sehwämme n(ldiig machen, behalte ich meiner Monographie vor. Es
giebt demnach einfache (solitäre oder monozoe) und zusammengesetzte
(sociale oder polyzoe) Schwämme. Einfache Schwämme oder Perso-
nen sindz. B. Sycum und Ute unter den Kalkschwämmen, Ca mi-
nus unter den Rindenschwämmen, Euplectella unter den Kiesel-
schwämmen. Zusammengesetzte Schwämme oder Stöcke sind dagegen
Leucosolenia und Nardoa unter den Kalkschwämraen, Euspon'-
gia unter den Homschwämmen , Spongilla unter den Kiesel-
sehwämmen.
Das oharacteristische Ca nal System der Schwämme halteich
nicht , wie die meisten übrigen Autoren , für etwas ganz Specifisches
und dieser Classe Eigeathümlicfaes , für eine Einrichtung sui generis,
sondern theile die Ansichten von Lbuckart und Miklucho, dass dasselbe
wesentlich homolog dem coelenteri&chen Gefässsystem oder
dem Gastrovascular- Apparat der Corallen und Hydromedusen , kurz
aller Acalephen oder Nesselthiere ist. Ja , ich bin von dieser Homolor
gie so sehr überzeugt , dass ich mit Miklucho den bedeutendsten Hohl-
räum, zu welchem sich jenes Canalsysiem im Schwammkörper erwei-
tert, und welcher gewöhnlich als Ausströmungsröhre oder
Schornstein (Caminus) bezeichnet wird , als Hagen oder verdauende
Cavität, und seine äussere OeflTnung, welche meistens Ausströ-
45»
216 Kmsl HMckH,
mungslocb oder Osculum geoaiint wird, als AIuodäffnuDg oder
Uuod bezeichne.
Man wird gegen diese Auflassung vornehmlich zweieriei Ein-
wände geltend machen , nämlich erstens , dass es auch Schwämme
ohne Schornstein und Osculum giebt, und zweitens, dass die Strö-
mungsricbtung des Wassers im Schwammkürper damit nicht vereinbar
sei. Was den ersten Einwand betrifft, so glaube ich denselben einfach
durch Hinweis auf die Entwickeluugsgeschichte entkräften zu können.
Die Schwämme ohne Schornstein und ohne Osculum sind entweder
primitive Schwammformen , deren Vorfahren überhaupt noch nicht bis
zur Di Seren zirung dieser Centraltbeile des Canalsyslems gediehen wa-
ren ; oder es sind rUckgebildel« Formen, deren Vorfahren durch phyle-
tische Degeneration Magen und Hund verloren haben. Diese letzteren
verhellen sich zu den entwickelteren, mit Mund und Hagen versehe-
nen Schwammen ebenso , wie die Bandwürmer zu den Trematodea.
Auch die Cesloden haben durch phyletische Rüikbildung (in folge
ihrer stärkeren Anpassung an die parasitische Lebensweise) den Dinn-
canal und Mund verloren, welchen ihre trematodenartigen Vorfahren
besessen haben. Wahrscheinlich sind die meisten mundlosen Spon-
gien, wie namentlich die Clistosyken und Copbosyken unter den Kalk-
schwämmen , als solche rückgebildete und nicht als ursprünglich
mundlose Formen aufzufassen, und wenn die uns noch unbekanolen
Embryonen derselben wirklich, gleich den anderen Schwamm -Em-
bryonen , Hund und Hagen erhalten , so würde dieses onK^enetische
Factum unsere phylogenetische HypoUiese auf das Bestimmteste erhär-
ten. Schon jetzt kann Sycocystis, deren Jugendzustand mit Hund
verseben, die reife Form aber mundlos ist, als Zeuge dafür angeführt
werden.
Einen wesentlicheren Einwand gegen unsere Deutung scheinen
zunächst die physiologischen Verhaltnisse der Wasser-
Circulation im SchwammkOrper lu bilden. Bekanntlich ist
meistens (aber nicht immer!) die StrHmungsrichtung des Wassers,
welches das Canalsystem des lebenden Schwammkitrpers durdizieht,
folgende : Das Wasser strOmt von aussen ein durch sehr zahlreiche und
feine, meistens nur mittelst des Mikroskops wahrnehmbare Haut-
poren [sogenannte nEinstrfimungsItIcherii] , und gelangt durch diese
feinen »Einströmungscanale«, welche sich oft vielfach verzweigen und
anastomosiren , in wenige grössere Canale , weiche schliesslich in die
centrale »Ausströmungshöhle«, unsere Hagenhühle, munden. Aus die-
ser tritt dann das verbrauchte Wasser nebst den unbrauchbaren Stoff-
Geber den Organismus der Schwämme eto. 217
theilen durch die DÄusstrOmungs-Oeffiiung«, unseren »Mund a, nach
aussen.
Bei den Corallen oder Anthozoen dagegen — und ebenso bei den '
übrigen Nesselihieren — scheint die Strömungsrichtung des Wassers,
welches die Hohlräume des Leibes durchzieht , verschieden und in ge-
wissem Sinne der gewöhnlichen Stromesrichtung der Schwämme ent-
gegengesetzt zu sein. Das Wasser, welches zugleich die Nahrung in
den Körper einführt, wird gewöhnlich bei den Nesselihieren, und spe-
ciell bei den Corallen , durch den Mund aufgenommen , gelangt durch
diesen in den Magen , und von hier aus in die übrigen Canäle , welche
den Körper durchziehen. Welche Rolle hierbei die Hautporen der
Corallen spielen, ist leider noch so gut wie unbekannt. Diese feinen,
meist nur durch das Mikroskop wahrnehmbaren Löcher der Haut,
durch welche sich die feinsten Canäle des coelenterischen Geföss-
Systems bei den Gorallen ganz ebenso wie bei den Schwämmen nach
aussen öffnen , haben überhaupt bei den ersteren bei weitem nicht die
Beachtung gewonnen, wie bei den letzteren. Ja, sie sind überhaupt
noch kaum verglichen worden I Während man auf die Hautporen der.
Schwämme das grösste Gewicht gelegt hat, sind dagegen die Hautporen
der Corallen, obwohl längst bekannt, dennoch fast allgemein ignorirt
worden; und dennoch sind beide offenbar homolog, sind eines und
desselben Ursprungs! Ja, es ist sogar sehr möglich (um nicht zu
sagen wahrscheinlich ) , dass auch durch die Haut der Corallen , ganz
ebenso wie durch die Haut der Schwämme , beständig respiratorische
Wasserströme vermittelst der Hautporen in den Körper eindringen,
welche die Canäle der Körperwand durchziehen und schliesslich in die
Magenhöhle ausmünden. Man könnte dann die Hautporen bei den Co-
rallen eben so gut, wie bei den Spongien, als »Einströraungslöcher«
bezeichnen.
So viel steht jedenfalls schon jetzt fest, dass eine wesentliche
morphologische Differenz zwischen dem ernährenden Gefässsystem
der Schwämme und der Corallen nicht existirt. Vergleichen wir ein-
zelne , solitäre , vollkommen entwickelte Personen aus beiden Classen,
z. B. Sycum und Actinia, so finden wir bei beiden einen centralen
Hohlraum als das eigentliche Hauptstück des ernährenden Canal-
systems; einen centralen Hohlraum (Schornstein oder Magen), welcher
sich durch eine einzige grosse Mündung [Osculum oder Mund) nach
aussen öffnet. Von diesem Hohlraum gehen allenthalben Canäte aus,
welche die Köi*perwand durchziehen und schliesslich an deren Ober-
fläche durch die HautporAn «infi öffnen. Vergleichen wir andererseits
einen Schwamr codendrum, Spongilla) und
21S Emst Hneckcl,
einen Coro llen stock (z. B, Dendrophyllia, Gorgonia) , so fiiKlen
wir in bBiden gleicherweise ein ernährendes Canalsysteni des Coeneii-
chyms oder Cocnoeoms, welches die Hohlräume der einzelnen Perso-
Don mit einander in Verbindung setzt.
Die Verschiedenheit io der Richtung des Wasserslromes , welche
gewöhnlich zwischen beiden Classen angenommen wird , ist fUr diese
nähere morphologische Vergleichung derselben zunächst gan^
gleichgültig. Selbst wenn diese Verschieden heil wirklich constani,
allgemein und durchgreifend wäre, wUrdo dieselbe doch nicht im
Stande sein , unsere Ansicht von der Homologie des Canalsysteras im
SchwammkOrper und im Corallenkörper zu entkräften. Die Verschie-
denheit in der Circuiation dos crnührenden Wasserstromes in beiden
Thierclassen würde bloss beweisen , dass zwischen den einzelnen
Theilen des Gefilsssyslems keine physiologische Verglcichunc,
keine Analogie mehr besteht, dass diese vielmehr durch Anpas-
sung an verschiedene Emahiungs -Verhaltnisse verloren gegangen f**.
Dadurch würde aber unsere morphologische Vergleichung der ent-
sprechenden Theile, ihre Homologie, welche wir auf die Vererbunf!
von gemeinsamen Stammformen zurückführen müssen, in keiner
Weise afßcirt werden. Wenn man aber das wahre Verwandtschaft.'-
Verhültniss zweier Thiergruppi-n erfassen will, darf man nur ihre
wirklichen Homologien berücksichtigen, d. h. eben diejenigen, an'
gemeinsamer Vererbung beruhenden AehnÜchkeiten , welche allein
der wahre Leitstern für jede vergleichende Erklyrung sind. Da-
gegen muss man gänzlich ausser Acht lassen die auf blosser Anpas-
sung beruhenden Analogien, weil diese viel eher geeignet sind,
jenes Verwandtschafls -VerbaUniss zu trüben und zu verdecken, als m
beleuchten und aufzuklären.
Nun ist aber ausserdem hervorzuheben, dass jener Gegensatz in
der Richtung des Wasserstromes, welcher in dem Gefasssystem der
Schwömme und der Corallen fast allgemein angenommen und als durch-
greifend angesehen wird, keineswegs ein absoluter und durchgreifen-
der ist. MiKLucao bat bereits gezeigt, dass bei sehr vielen Schwiframen
die MundülTnung oder das Osculum keineswegs bloss das Ausströmen,
sondern auch das Einströmen von Wasser vermittelt. Ich selbst habe
mich mehrfach durch eigene Beobachtung von der Richtigkeit dieser
Behauptung überzeugt. Es dient demnach die MundtJffnung bei vielen
Schwammen, ganz ebenso wie bei den Corallen, eben sowohl lur
Aufnahme, als zur Abgabe des Wassers und der darin enthaltenen
Nafarungsbestandtheile.
Von ganz besonderer Wichtigkeit für das VersUlndniss dieser Ver-
lieber den Orgaaismas der Schwämme etc. 219
hältnisse sind aber diejenigen Schwämme, welche gar keine Hautporen
besitzen, und bei denen die einzige Oeffnung der ganz einfachen
Magenhöhle das Osculum oder die Mundöffnung ist. Einen solchen
Schwamm ohne Hautporen, dessen ganzes coelenterisches Ca-
Dalsystem, wie bei Hydra, aus emer ganz einfachen Magenhöhle mit
einer einfachen Mundöffnung besteht, glaubte Miklucho in seiner
Guancha blaxica gefunden zu haben. Indessen habe ich mich
durch nachträgliche genaue Untersuchung der von Miklucho selbst ge-
sammelten und mir ttbergebenen Formen der Guancha überzeugt,
dass diese Spongie einfache Hautporen besitzt. Dagegen habe ich selbst
zwei andere, von mir in Neapel gesammelte, mikroskopisch kleine und
dabei vollkommen entwickelte (d. h. Eier tragende) Kalkschwärome
untersucht, bei denen wirklich keine Spur von Hautporen vorhanden
ist. Der ganze Körper dieser primitivsten Formen der Kalkschwömme
besteht aus einem länglich runden Schlauch (Magen) mit einer ein-
zigen Oeffnung (Mund) an demjenigen Körperende , welches der An-
heftungsstelle entgegengesetzt ist. Ich schlage fUr diese höchst inter-
essante Urform, welche offenbar die Reihe der Kalkschwämme eröffnen
muss, den Namen Pros y cum vor.
Das volle Licht aber fällt auf diese, wie auf alle anderen orga-
nischen Verhaltnisse, erst durch die Entwickelungsgeschichte.
Die ersten Jugendformen der Schwämme, die bewimperten Embryonen,
welche später als Larven mitteist ihres Wimperkleides frei umher-
schwärmen , spenden jenes Licht in der erwünschtesten Weise. Ich
habe die Ontogenie dieser jüngsten Formen , welche unter den Kalk-
schwämmen bisher bloss von Sycum und Dunstervillia be-
kannt waren , bei einer Anzahl ganz verschiedener Gattungen verfolgt
und bin dabei zu folgenden Resultaten gelangt, welche die bisherigen
Beobachtungen über die Ontogenie der Schwämme theils bestätigen,
theils wesentlich erweitern.
Nachdem das Ei in Folge des Furchungsprocesses in einen kuge-
ligen, maulbeerförmigen Haufen von dicht an einander liegenden,
gleichartigen, nackten, kugeligen Zellen zerfallen ist, erhält dieser
maulbeerförmige Embryo durch stärkeres Wachsthum in einer Rich-
tung eine ellipsoide oder eiförmige Gestalt, und bedeckt sich an der
Oberfläche mit Cilien. Sodann entsteht im Inneren eine kleine centrale
Höhle (der Magen), welche sich ausdehnt und an dem einen Pole der
Längsaxe durchbrechend eine Oeffnung erhält, den Mund.
Entweder schon, bevor die Mundöffnung des Magens durch-
gebrochen ist, oder jedenfalls bald nachher, sinkt die frei schwim-
mende, bewimperte Larve der Kalkschwämme auf den Boden des
220 Ernst Eaeckel,
Meeres und setzt sich hier fest. Die Anwachsstelle liegt (icwöhnlich
an dem der HundotTnung entgegengesetzten (aboraien) Pole der LäDgs-
axe. Der Eflrper des jungen Schwammes stellt nunmehr einen ein-
fachen, länglich runden, festsitzenden Schlauch dar, dessen Höhlung
nur durch eine einzige Oeffnung, durch den der Anheftungsstelle ent-
gegengesetzten Hund , mit dem umgebenden Heerwasser communicirl.
Der junge Schwamm ist in diesem frühen Jugendzu-
s lande, wo er einen einfachen becherförmigen Kttrper mit soliden
Wänden und einer einfachen Oeflnung darstellt, gar nicht weseol —
lieh von einer jungen Coralle verschieden, welche sich noch
in derselben frühen Periode der Ontogenesis befindet. Gleichwie aber
der gemeine SUsswasserpoIyp, die Hydra, uns in seiner einfachen
siickfQnnigen Eörperhtlfale zeitlebens einen ähnlichen coelenterisdien
Urzustand dauernd vorfuhrt, wie ihn alle Corallen in ihrer Jugend
durchlaufen, so bleibt jener vorher erwähnte einfachste Kalkschwamm,
das Prosycum, zeitlebens bis zur vollen Reife auf jenem coelente-
rischen Urzustände stehen , welchen die übrigen KatkschwSmme rasch
vorübergehend in ihrer ersten Jugend durchzumachen haben. Einge-
denk nun jenes buchst wichtigen und innigen Causalnexus, wel-
cher überall zwischen derOntogenie und Phylogenie existirt —
eingedenk des morphogcnetischen Grundgesetzes, dass die Od-
togenie, d. h. die individuelle Entwickelungsgeschichte des Organis-
mus, eine kurze und schnelle (durch die Gesetze der Vererbung und
Anpassung causal bedingte] Wiederholung seiner Pbylogenie,
d. h. der palaontologischen Enlwickelungsgescbichte seiner Vorfahren,
seines ganzen Stammes bildet , — eingedenk dieser hohen phylogene-
tischen Bedeutung aller onlogenetischen Zustände — mtlssen wir aus
jenen einfachen Thatsachen , aus jener ontogenetiscbeu Uebereinstim-
mung zwischen den Jugendzustanden der Schwämme und der Coral-
len, den httchst wichtigen phylogenetischen Schluss ziehen, dass die
Schwämme und Corallen nahe Blutsverwandte sind, welche
von einer und derselben ursprünglichen gemeinsamen Slammfonn
ihren Ursprung herleiten. Diese unbekannt« Stammform, von deren
specieller Formbildung uns keine fossilen Beste aus der archolithischen
Zeit der Erdgeschichte erhalten sind, auf deren einstmalige Existenz
wir aber mit voller Sicherheit aus den angeführten Thalsachen
schliessen können — ja , von deren allgemeiner Formbeschaffenheil
uns sogar heutzutage noch das Prosycum simplicissimum ein
ungeföhres Bild giebt! — muss einen einfachen becherförmigen Körper
mit einer einzigen, der Anheftungsstelle entgegengesetzten Hundöffnung
besessen haben. Wir wollen dieselbe mit dem Namen des Urscblauchs,
Ueber den Organismus der Schwämme e(e. 221
Protascus, — belegen. Aus diesem hypothetischen Protascus
nahmen vielleicht als zwei divergente Zweige Prosycum (die Stamm-
form der Kalkschwämme) und Procorallum (die Stammform der
Gorallen) ihren Ursprung.
Was nun aber diese unsere Deduction über den gemeinsamen Ur-
sprung und die Stammverwandtschaft der Schwämme und Gorallen voll-
ends zur Gewissheit erhebt, das ist die bisher gänzlich übersehene und
noch von Niemand beachtete fundamentale Uebereinstimmung
der Spongien und Gorallen (und überhaupt aller Goelen-
teraten) in dem ontogenetischen Aufbau ihres Körpers
aus zwei differenten Zellenschichten oder Keimblät-
tern: Entoderm und Ectoderm. Bei allen Spongien entwickeln
sich , ganz ebenso wie bei allen Acalephen (bei allen Gorallen , Hydro-
medusen und Gtenophoren) , sämmtliche KOrpertheile aus der Differen-
zirung zweier verschiedener Zellenschichten , einer inneren Bildungs-
haut, dem Entoderm, und einer äusseren Bildungshaut, dem Ecto-
derm. Bei allen Spongien, wie bei allen Acalephen, bildet
das innere Keimblatt (oder das Entoderm) die epitheliale Auskleidung
des ernährenden Ganalsystems, sowie die Sporen oder die Geschlecbts-
producte (Eier und Zoospermien } , welche weiter nichts , als sexuell
differenzirte Zellen dieses Ganal- Epithels sind ; das äussere Keimblatt
dagegen (oder das Ectoderm) bildet die gesammte äussere Wand des
Ganalsystems und die Hauptmasse des Körpers überhaupt, welche sich
bei den höheren Spongien und Acalephen in Epidermis, Bindegewebe,
Skelettheile, Muskeln u. s. w. differenzirt. Die aus dem Ento-
derm oder der inneren Bildungshaut hervorgegangenen
Zellen vermitteln bei den Spongien ebenso wie bei den
Acalephen die vegetativen Functionen der Ernährung
und Fortpflanzung. Die aus dem Ectoderm oder der
äusseren Bildungshaut entstandenen Zellen vermitteln
dagegen die animalen Functionen der Bewegung und
Empfindung, und dienen ausserdem als schützende Decken
und stützende Skelettheile für den ganzen Körper. Es dürfte
daher nicht unpassend erscheinen, bei allen Goelenteraten,
d. h. bei allen Spongien und Acalephen, das Entoderm
(oder die innere Bildungszellenschicht) als vegetatives Keim-
blatt, und das Ectoderm (oder die äussere Bildungszellen-
schicht) als animales Keimblatt zu bezeichnen. Die weite Per-
spective, welche sich uns aus dieser Auffassung und aus ihrer Ver-
gleichung mit den entsprechenden Verhältnissen der Keimblät r bei
den höheren Thieren darbietet, und welche wohl geeignet ' die
222 Firnfll IlMeh*l.
primitive Verwandlscbaft aller StHmme des Thieireiches , d. h. die ge-
meinsame Abstammung aller Ibierischea Pfaylen zu erlSutem , werde
ich in meiner Monographie der Kalkschnämme naher beleuchten.
Ich will zugeben , dass dieses wie mir scheint hochwichtige C^e—
setz in vielen einzelnen FälleD gewisse Modificationen erleidet, und
dass vielleicht hier und da, sowohl bei den Spongien, wie bei den
Acatephen , die beiden Keimblatter oder Bildungshäate , Enloderm und
Ectoderm, einander durch locale Substitution vertreten können.
Nicht selten geht das Entoderm auf weile Strecken hin verloren und
wird dann durch das Ectederin ersetzt. In mancben , vielleicht in vie-
len Fallen, ist an einzelnen KOrperstellen [sowohl bei den Schwammen
als bei den Nesseltfaieren} jene differente Bedeutung der beiden diver-
genten Keimblätter nicht so klar ersichüich oder auch wirklich verän-
dert. Es können sich z. B. vielleicht in beiden Tbiergruppen Ge-
schlechtsproducte auch bisweilen aus dem äusseren Ectoderm , und
Muskeln aus dem inneren Enloderm entwickeln. Allein dann sind
vermuthlich diese Abweichungen und diese localen Substitutionen der
beiden Blätter als secundäre, erst später durch Anpassung
entstandene Modificationen zu betrachten. Das ursprang-
licbe, primSre, von dergemeinsamen Stammform (Prolas-
cus) auf alle Spongien undAcalephen vererbte Verhall-
niss ist wahrscheinlich das oben angegebene: Das Ento-
derm bildet als inneres, vegetatives Keimblatt die ernährenden
Zellen des Canalepithels und die durch Arbeitstbeilung aus ihnen
entstandenen, der Fortpflanzung dienenden Zellen (Keimzellen oder
Sporen, Eier und Zoospermienj ; das Ectoderm dagegen bildet als
äusseres, animales Keimblatt die Muskeln, Nerven, Skelet-
theile, äusseren Decken u. s. w.
Die stärkste Stutze findet dieses Gesetz in dem Bau der vorher er-
drterten Jugendzu stände beider Thiergruppen. Der becherförmige, aus
der wimpernden Larve berzorgegangene Jugendzustand , welcher eine
einfache Magenbühle (oder verdauende Leibeshofale) mit einer einzigen
einfachen Oefinung (oder Hund] besitzt, und welcher uns in dem noch
lebenden Prosycum noch beute das langst entschwundene Bild des
Protascus zurückruft, zeigt uns seine einfache , solide Leibeswand
(oder Magenwand) allgemein aus den beiden, deutlich differenzirten
Bildungshauten, dem Entoderm und Ectoderm, zusammengesetzt, und
zwar ganz ebenso bei den entsprechenden Jugendzustanden der Spon-
gien , wie bei denjenigen der Corallen und der Acalephen Überhaupt.
Die Kalkscbwämroe aber dienen auch hier wieder als ganz vorzüglich
erläuternde Objecto, weil sie einerseits von allen Schwammen den Co-
«I
Ueber den Orgauismas der Schwämme etc. 223
rallen am nächsten stehen, andererseits aber in der stufenweisen Aus-
bildung ihrer einfachen Organisation, von den einfachsten Prosy-
cum undOlynthus bis zu den höchst entwickelten Dunste rvil-
Ha und Gyathiscus, uns ganz, wunderschön die fortdauernde
Trennung der beiden ursprünglich divergenten Bildungshäute , des
vegetativen £ntoderm und des animalen Ectoderm, unbeschadet ihrer
weiteren Diflferenzirung zu verschiedenen höheren Bildungen vor Augen
führen.
Bei allen Caicispongien ohne Ausnahme (obwohl bei den einen
deutlicher als bei den anderen) springt die fundamentale und ur-
sprüngliche Verschiedenheit der beiden Bildungshdute so deutlich in
die Augen und lässt sich in ihrer weiteren Divergenz auch bis zu den
höchst entwickelten Formen hin so leicht und klar verfolgen, dass man
sie jederzeit augenblicklich demonstriren kann. Es ist daher dieselbe
auch denjenigen Naturforschern, welche den Bau der Caicispongien
am genauesten untersucht haben, nicht entgangen. Hier und da
sprechen sie alle von den verschiedenen Schichten der Körperwand,
aber keiner von ihnen hat ihre allgemeine und genetische Bedeutung
hervorgehoben, und keiner hat erkannt, dass das Entoderm aus-
schliesslich das die Ernährung vermittelnde Epithel des Canalsystems
und die zur Fortpflanzung dienenden Zellen , das Ectoderm dagegen
alle übrigen Zellen erzeugt. Aus diesem Grunde möge es gestattet sein,
hier noch einige specielle Verhältnisse flber den Körperbau der Caici-
spongien anzuführen , deren ausführliche Darstellung und Erläuterung
durch Abbildung ich mir auf meine Monographie verspare.
Das Entoderp der Caicispongien oder die innere Bildungs-
haut, aus der inneren Zellenlage oder dem vegetativen Keimblatt des
Embryo hervorgegangen, überkleidet ursprünglich die gesammte Innen-
fläche des ernährenden Canalsystems oder des Gastrovascularsystems
in Gestalt einer einzigen zusammenhängenden Zellenschicht von
Geissel-Epithel. Unter dem Ausdruck Geissel-Epithel (Epithe-
lium flagellatum) verstehe ich eine epitheliale Zellenlage, deren Zel-
len sämmtlich je ein einziges Flimmerhaar (Geissei oder Fla-
gellum) tragen, zum Unterschied von dem Wimper- Epithel (Epi-
Ihelium ciliatum) , dessen Zellen sämmtlich je zweiodermehrere
Flimmerhaare (Wimpern oder Ciliae) tragen. Geissel-Epithel und
Wimper -Epithel sind als zwei verschiedene Modificationen des Flim-
mer-Epithels (Epithelium vibratorium) aus einander zuhal-
ten. Bei allen Schwämmen scheint das Flimmer-Epithel
ausschliesslich in der Form des Geissel-Epithels, nie-
mals in der Form des Wimper- Epithels vorzukommen. Dies
i
224 Ernat Hnei'hel,
gilt sowohl von den FlimniLTzellen, welche die innere Fläch (.■ des Canal—
Systems, als von denjenigen, welche die äussere Flache der flimnaem—
den und schwimmenden Larve bekleiden. In beiden Fällen sind die
Epilhekelleo stets einhasrige Geisselzellen , niemals mehrhaarige Wim-
perzellen. Die Geisselzellen der Spongien sind vollkommen nackt und
membranlos; ihr Protoplasma geht unmittelbar in die lange, an der
Basis dickere Geissei über. Niemals habe ich an den Geisselzellen
einen deutlichen Kern vermisst. Derselbe ist gewöhnlich sehr ansehn-
lich, halb oder zwei Drittel so gross, als die Zelle. Gewtlhnlicb kleiden
die Geisselzellen die Wände des Canalsystems nur in einer ^nEigcn
Lage aus; selten schichten sich mehrere Lagen über einander. Solches
geschichtetes Geisseiepithel findet sich z. B. bei Tarroma und Cla-
thrina.
Ausser den Geisselzellen erzeugt das Entoderm der Spongien nur
noch ein Product, die Eier. Wenn ich hier, dem Vorgange aller
Autoren folgend, die Keimzellen oder Reproductionszellen der
Schwämme als Eier bezeichne, so geschieht dies nicht ohne grosses
Bedenken. Obwohl ich nümlich Hunderte von Caicispongien auf das
Genaueste mikroskopisch untersucht habe, so ist es mir weder bei die-
sen , noch bei den von mir untersuchten übrigen Schwämmen jemals
gelungen, irgend eine Spur von befruchtenden männlichen Form -Ele-
menten, von Zoospermien, aufzufinden. Ich bin dadurch gegen die all-
gemein angenommene sexuelle Differenzirung der Spongien
Überhaupt in hohem Grade misstrauisch geworden. Die einzigen An-
gaben von Zoospermien bei Schwämmen, welche einiges Vertrauen ver-
dienen (indessen immer noch der Bestätigung bedürfen), sind diejeni-
gen von LiBBERKüHN tlber Spongilla. Was dagegen Caktbk als Zoo-
spermien der Spongillen beschreibt, sind, wie schon LiEBEBEüaN
erkannte, Infusorien, und was Hdilbv als Zoospermien der The tyen
abbildet, sind höchst wahrscheinlich Flimmeriellen. Nicht minder
bedenklich sind die Fäden, welche Kölukbh als Zoospermien der
Esperia beschreibt. Das Hisstrauen gegen die Existenz von Zoo-
spermien bei den Spongien muss aber um so gerechtfertigter erschei-
nen, als einerseits die abgerissenen, sich lebhaft bewegenden Geissein
der Geisselzellen sehr leicht ftlr bewegliche Samenßlden gehalten wer-
den können, andererseits aber viele der erfahrensten Beobachter, wie
z. B. 0. ScHHmT und Bowerba-ik, welche Tausende von Schwammen
mikroskopisch untersuchten, gleich mir selbst ganz vergeblich nach
männlichen Organen irgend welcher Art gesucht haben. Ich halte es
daher für das Vorsichtigste und Gerathensl«, vorlaufig tiberhaupt noch
die Sexualität der Spongien zu bezweifeln. Dann dürfen aber die zur
Ueber den Organismus der Schwemme eto. 225
Fortpflanzung dienenden Zellen, die Keimzellen (Gonocyta),
nicht als geschlechtliche Eier (Ova), sondern sie müssen als
geschlechtslose Keimzellen (Sporae) bezeichnet werden.
Die Sporen oder die sogenannten Eier der Spongien habe ich an
allen von mir untersuchten Schwämmen vollkommen nackt und mem~
branlos gefunden, eben so wie die Geisselzellen, aus denen sie hervor-
gehen. Ueberhaupt habe ich niemals in den von mir un-
tersuchten Schwämmen irgend eine Spur von einer
Membran oder eigentlichen Zellenhaut an den Zellen
gefunden. Alle Schwammzellen sind nackte, hüllen-
lose Zellen (Gymnocyten). Die Sporen der Calcispongien sind
bisher nur von Libberkühn bei Sycum ciliatum, und von Köllikbr
bei Tarrus und Dunste rvillia gesehen. Ich habe dieselben bei
keinem einzigen der von mir untersuchten reifen Kalkschwämme ver-
misst. Sie sind sehr leicht zu erkennen , da sie sich von den Geissel-
zellen sofort durch ihre sehr beträchtliche Grösse und den Mangel der
Geissei unterscheiden, andere, selbstständig bleibende Zellen aber
(ausser diesen beiden Zellenformen des Entoderms) im Körper der Cal-
cispongien überhaupt nicht vorkommen.
Die Entstehung der Sporen oder der sogenannten Eier der
Schwämme war bis jetzt unbekannt. Ich werde in meiner Monographie
den Beweis führen, dass sie unmittelbar aus Geisselzellen hervorgehen,
mithin Differenzirungs-Producte des Entoderms oder me-
tamorphosirte Geisselzellen sind. Die einfache und höchst
bedeutsame Thatsache, dass die Reproductionszellen durch Arbeits-
theilung aus den ernährenden Flimmerzellen des Entoderms , des ve-
getativen Keimblattes, entstehen, gilt also für die Schwämme ganz
ebenso, wie für die Nesselthiere. Nach Köllikbr sollen die Sporen
von Dunstervillia und Tarrus ausserhalb des Flimmerepithels,
im Ectoderm liegen. Indessen gelangen sie dahin erst, wenn sie bei
wachsender Volums - Zunahme zwischen den umgebenden Geissel-
zellen des Entoderms keinen Platz mehr haben. Sie ragen dann bald
mehr in das Ectoderm, bald mehr in das Lumen der Ganäle hinein.
Niemals habe ich besondere Sporenbehälter bei den Kalkschwämmen
gefunden. Vielmehr können sich die Sporen an den verschiedensten
Stellen im Entoderm aus dessen Geisselzellen entwickeln. Was Lie-
BBRKÜHN bei Sycum als einen besonderen »Behälter der Eier ohne
nachweisbare Structura beschreibt, habe ich nie gesehen, und ver-
muthe , dass diese angeblichen Sporenbehälter quer durchschnittene
Canäle sind.
Die Sporen der Schwämme haben , wie schon Köllikbr hervor-
326 F-riisl llneck«!.
bebl, eine auffsUende Aehnlichkeil mit grossen GangUen-ZAlleii- IHesf
beruht darauf, dass das Protoplasma der Zellen an der Peripfaeri«-
formwechselnde , verilstello Ausliiufer treibt. Die Sporen dpr
Kalkschwämme gleichen grossen Amoeben und ftlhren
amoeboide Bewegungen aus, indem sie solche verästeile Fori-
Sätze ausstrecken und einziehen. Im Ruhezustand sind sie kugetruaii
oder polyedrisch. Jede Spore besitzt einen sehr grossen, gewehnlivh
kugehgeii und wasserheüeo Kern. Dieser umscbliessl einen grossen,
runden, dunkeln Nucleolus, und dieser letzlere wiederum einen deut-
lichen Nucleolious.
, Dii'Spongien sind Iheils sporen legend (sporiparal.
Iheils lebendiggebärend (vivipara). Bei den' sporipareu
Schwämmen (z. B. Leucosolenia, Cltstolynthus) fallen dt<-
reifen Sporen aus dem Entoderm in die Magenböhle oder in die davon
»usgehenden Parietal-Canäle, und werden dann bei den mit Mund
versehenen Formen durch den Mund ausge%vorfen, wahrend sie bei den
mundlosen Spongieu durch die Haulporen auskriechen. Dabei wer-
den ihnen ihre amoebenarligen Bewegungen wesentlich zu StaUen
kommen.
Bei den vlviparen Schwammen (z. B. Olynthus, Clathrina'
entsteht innerhalb des SchwammkOrpers (entweder im Usgen oder in
den davon ausgehenden Parielal-Canälen) aus der einlachen Sporen-
Zolle durch fortgesetzte Theilunij; (nFurchungu) ein kugeliger, aus lauter
gleichen, nackten, kernhaltigen Zellen zusammen gesetzter Körper (Em-
bryo). Die an der Oberfläche desselben gelegenen Zellen strecken je
einen fadenförmigen Forlsalz aus und werden so zu Geisse Izell en .
Sodann entsteht im Innern dieses flimmernden Embryo eine centrale
Htihlung (Magen), welche frUJier oder später nach aussen durch-
brechend eine Oeifnung (Muud) erhUll Wie schon oben bemerkt,
differenzirt sieb dann die Wand dieser einfachen MagenhOhle (Leibes-
htihle) in zwei dliferenle zeUige Schichten. [)ie Zellen dor äusseren
Oberfläche ziehen, nachdem die flimmernde, aus dem Hultorkörpcr
ausgetretene und umhergeschwärmle Larve zur Kühe gekommen ist,
ihre Geissein ein, verschmelzen mit einander und bilden so das Eclo-
derm. Die Zellen dagegen, welche die Magenhühle umgeben, streckeo
umgekehrt einen (adenfOrmigea Forlsatz aus, werden so zu Geissel-
zellen und bilden das Entoderm. Ei'st viel später, wenn dor Schwamm
seine eigenllichc Reife erlangt bal, gehen aus einzelnen Geisse! Zellen
des Entoderms die Sporen hervor.
Die Körporwand oder Magenwand der frei um he rsch wannenden,
Gitürmigen, flimmernden Larven, deren ganzes Ciinals\stem aus einer
^
leber den Organismus der SehwUmme etc. 227
■
einfachen Magenhdhle mit Mundöffhung besteht, ist bei den kleineren
Kalksch Wammen (z. B. Olynthus, Nardoa) nur aus zwei Zellen-
schichten zusammengesetzt , indem sowohl das Ectoderm als das Ento-
derm eine einfache Zellenlage bildet. Bei den grösseren Kalkschwäm-
men dagegen (z. B. Dunstervillia, Clathrina) kann jede der
beiden Zellenlagen in mehrere Schichten zerfallen.
Das Ectoderm der Galcispongien oder die äussere Bil-
dungshaut , aus der äusseren Zellenlage oder dem animalen Keimblatt
des Embryo hervorgegangen, bildet immer die grössere Hälfte des Kör-
pervolums, da dasselbe stets dicker (oft vielmals dicker) als das Ento-
derm ist. DasEctoderm besteht aus innigverschmolzenen,
nackten Zellen, deren Kerne in dem vereinigten, und oft später viel-
fadh diiferenzirten Protoplasma anfänglich immer und meist auch noch
später deutlich sichtbar bleiben. Die Kerne sind meist länglich rund
und häufig von einem Haufen feiner Körnchen umgeben, die sich nicht
selten , vom Kern ausstrahlend , nach verschiedenen Richtungen in das
Protoplasma erstrecken. Obwohl in dem Ectoderm der reifen Kalk-
schw.ämme die fast homogen erscheinende, beinahe structurlose , von
Kernen und Skelet -Nadeln durchsetzte Grundsubstanz keinerlei Spui*
von den verschmolzenen, sie zusammensetzenden Zellen mehr erkennen
lässt, ist dieselbe dennoch wirklich aus ursprtlngUch getrenn-
ten Zellen durch nachträgliche Verschmelzung dersel-
ben entstanden, wie die Ontogenie der Embryonen und Larven
deutlich beweist. Das Ectoderm verdient daher nicht den Namen eigent-
licher S a r c 0 d e, wenn man unter diesem Begriff freies und ursprüng-
liches, noch nicht in Zellen differenzirtes Protoplasma
versteht. Passender dürfte daftlr vielleicht die Benennung Syncy-
tium oder Sarcodine erscheinen.
Das Ectoderm der Kalkschwämme, welches durch die V e r s c h m e 1-
zung der ursprünglich getrennten Zellen des äusseren oder
animalen Keimblattes sich zu der gewissermassen rückgebildeten
Gewebs-Formation der Sarcodine oder des Syncytium gestaltet,
repräsentirt in physiologischer Beziehung ein Gewebe, welches die
sämmtlichen animalen Functionen des Schwammkörpers vollzieht: Be-
wegung, Empfindung, Stützung und Deckung. Das ver-
schmolzene Protoplasma der Sarcodine ist contractu, empfindlich,
skeletbildead und die Körperoberfläche deckend. Es vereinigt
daher gleichsam in einer Person die vier Functionen, welche bei
den höheren Thieren getrennt und vertbeilt sind auf die vier Gewebs-
Formationen der Muskeln , der Nerven , der skeletbildenden Bindesub-
stanzen und der epidermoidalen Decken.
228 Erust nuekel,
In morphologischer Beziehung bewirkt unler allen Functioneo des
Ectoderms seine skelelbildende Thytigkeil unstreitig das bedeu-
lenilstB BesulUil. Das Skelel der Ealk schwämme und ebenso allei
Übrigen Scbwamme, ist reines Product des Ectoderms, und
iiwar niemals eine einfache Ausscheidung, ein nSusseres Plasma -Pro-
duct«, wie ich diesen Begriff in meiner generellen Morphologie um-
schrieben habe, sondern stets ein inneres Plasma-Product. Die
vielfach ventilirte Streitfrage, ob die Skelettheile der Spongien tm In-
nern von Zellen entstehen oder nicht, erledigt sieb durch die Entwicke-
lungsgeschichte. Wenn das skeletbildende Protoplasma noch in Form
einer selbständigen , mit einem Kern versebenen Zelle persistirt , ent-
stehen die Skeletnadeln im Innern dieser Zelle. Wenn aber die skelet-
bildenden Zellen bereits zurSarcodine verschmolzen sind, eotslehen
die Skelettheile im Innern dieses Syncytiums. Niemals entstehen
die Skeletlheile der Spongien an der freien Oberflache
des Ectoderms, sondern stets in dessen Innerem.
An dem Kalkskelet der Kalkscbwämme, durch welches steh
diese Spongien von allen tlbrigen unterscheiden , kann man steh ver-
ha Itniss massig leicht von dieser Thatsache llberzeugen. Die Nadeln des
Kalkskelets liegen nömlich hier entweder gänzlich versleckt in dem
modificirten Protoplasma des Ectoderm, oder wenn sie aus dessen Ober-
flache frei hervoi^egangen, sind sie noch von einer dUnnen Schiebt des
Protoplasma, wie von einer Scheide überzogen. Dieses zuerst von Köl-
LiKBR bei Tarrus spongiosus (seiner Nardoa spongiosa) her-
vorgehobene Verhalten finde ich bei den Ealkschwammen ganz allge-
mein mehr oder minder deutlich vor. Ausserdem enthalten die Kalk-
nadeln in einzelnen Fallen auch einen centralen, mit Protoplasma
erfüllten Canal , wie er bei den Kieselnadeln der Eieselchw.lmme fast
allgemein vorkommt. Endlich scheint bei vielen (vielleicht allen 1} Cal-
cispongien der kohlensaure Kalk des Skelets nicht ganz rein abgelagert,
sondern innig verbunden zu sein mit einer mehr oder weniger unbe-
deutenden Quantität von organischer Substanz [modificirtem Proto-
plasma], Bei manchen Kalkscbwammen ist der Antheil der Kohlenstoff-
Verbindung an der Bildung der Skelettheile so bedeutend, dass diesel-
ben nach Extraction des kohlensauren Kalks durch Salzsaure in Form
und Grosse ganz unverändert bleiben , wahrend beim Glühen nur ein
schwacher Best von molekularem Katkstaub übrig bleibt.
Die Formen der Skelettheile, der Nadeln oder Spicula, sind
bot den Kalkschwammen bekanntlich bei weitem nicht so mannichfalti^
als bei den Kieselschwammen. Es kommen nur folgende vier Grund-
formen iu verschiedenen Hodificationen vor : 1 . Einfache Nadeln (lineai-,
üeber den Organismns der Schwftmme ete- 229
cylindrisch oder spindelförmig) hiiufig. 2. Zweischenkelige Nadeln
(gabelförmig oder hakenförmig) sehr selten. 3. Dreischenkelige oder
dreisirahlige Nadeln (gleichschenkelig oder ungieichschenkelig , gleich-
winkelig oder ungleichwinkelig) bei weitem die häuGgste, und zugleich
die für die Kalkschwämme am meisten characteristischeForm. 4. Vier-
schenkelige oder vierstrahlige Nadeln (deren vierter Strahl gewöhnlich
frei in das Canalsystem hineinragt). Die verschiedenen Modificationen
dieser vier Grundformen , welche die Beobachter der Kalkschwämme
bisher mehr beschäftigt haben, als ihre ganze übrige Organisation,
werde ich in meiner Monographie ausführlich darstellen.
Dass die Kalkschwämme unter allen lebenden Schwämmen den Co-
rallen am nächsten verwandt sind , dürfte zunächst schon aus der kal-
kigen Beschaffenheit des Skele(s in beiden Gruppen gefolgert werden.
Es kommen aber dazu noch sehr interessante Homologien in der spe-
cielleren Differenzirung des Canalsystems bei den höchst entwickelten
Formen der Kalkschwämme , welche sich zum Theil selbst durch Anti-
nieren-Bildung unmittelbar an die einfacheren Gorallenformen anschlies-
sen. Es mag daher schliesslich noch gestattet sein , einen Blick auf die
Ausbildungsstufen des Canalsystems bei den Kalkschwäm-
men zu werfen. '
An der Wurzel des ganzen Systems der Kalkschwämme — oder
was dasselbe ist, ihres Stammbaums — steht das merkwürdige Pro-
sycum, der kleine Kalkschwamm, dessen Canalsystem bloss aus Ma-
genhöhle mit Mundöffnung besteht. An ihn schliesst sich zunächst
Olynthus an, eine einfache Person mit Magen und Mundöffhung,
deren Magenwand oder Leibeswand von ganz einfachen Poren durch-
setzt ist. Diese Hautporen sind einfache Parenchymlücken , welche
beide Schichten der Leibeswand (Ectoderm und Entoderm) durchsetzen,
entstanden durch Auseinanderweichen der Zellen an wechselnden Stel-
len. Eine besondere Canalwand fehlt. Ort und^Zahl der Haut-
poren sind bei Olynthus und den nächststehenden Calcispongien
(Leucosolenia, Clistolynthus) nicht constant, sondern
wechselnd. Neue bilden sich, während die gebildeten Poren durch
Zusammentritt der auseinander gewichenen Zellen wiederum oblite-
riren. So verhalten sich die Poren auch bei Leucosolenia (einem
stockbildenden Olynthus) und bei Clistolynthus (einem Olyn-
thus, dessen Mund zugewachsen ist).
Bei den grösseren und höher entwickelten Kalkschwämmen gestal-
ten sich die einfachen und inconstanten Hautporen allmählig zu blei-
benden und Constanten Canälen, welche dadurch eine besondere Wand
erhalten , dass sich das Geisselepithel der Mageuhöhle auf ihre innere
Bd. V. 2. 46
230 >i"tal Hm-^kel,
OberflSche , durch das ganze Ectoderm hindurcb , fordetet (so in dir
Familie der Sycaiiden). Am genauesten untersucht wnren unter diesesi
bisher die Genera Sycum und DunsterviLlia, bei denen sich dii'
Hautporen zu sehr ansehnlichen Ganälen iHitwickell haben , welche
ganz regelmässig angeordnet in radialer Ricbtui^ die KorpefwaDiJ
durchsetzen. Die bisherigen Beobachter haben aber alle Übersehen,
dass diese radialen Canäle nicht allein innen in den Hagen , aus-
sen an der Körperoberflache münden, sondern auch alle unter ein-
ander in directcr Communication stehen. Die Wände zwischen den
einzelnen, sich dicht berührenden ßadial-Canälen sind nümlich allent-
halben siebfttrraig durchlöchert und von zahlreichen Gommonications-
Oeffnungen oder Conjunctiv-Foren durchbrochen, durch welche
jeder Canal mit allen benachbarten communicirt. Bei einigen Gattun-
gen verösleln sich die regulären Radial - Canäle nach aussen hin in
ähnlicher Weise, wie die irregulären Parietal-Canäle in der Wand der
Dyssyciden.
Die merkwürdigste Entwicklung erreicht aber das Canalsyslem in
dem am Sycarium und Sycum sich anschliessenden Cyathiscus,
bei welchem die horizontalen Scheidewände zwischen den über än-
and erliegen den Badial-Canälen resorbirt werden, während die verti-
calen Scheidewände zwischen den neben einanderliegenden ßadial-
Canälen bestehen bleiben. Dadurch entstehtein System von radia-
len perigastrischen Fächern, welches sich ganz ähnhch verhält,
wie das entsprechende System der perigastrischen, strahlig den Magen
umgebenden Hohlräume bei den Gorallen. Der einzige Unterschied ist,
dass die directe Communication zwischen der HagenhBhIe und den sie
umschliessendea Fächern bei den Corallen durch die untere OeffiiUDg
des Magens und der perigastrischen Fächer in den gemeinsamen dar-
unter liegenden Basalraum der Leibeshühle erfolgt, beiCyathiscus
dagegen durch je eine longitudinale Beihe von Lochern (Hag^tporen),
welche die Scheidewand zwischen der Magenhöhle und jedem peri-
gastrischen Badialfach durchbricht. So zerfallt die Person vod
Cyatbiscus ganz ebensoin ein radiales System vonAn-
timeren, wie jede entwickelte Corallen-Person.
DassAntimerenbildung bei denSpongienüberbauplschon
mehrfach auftritt , und dadurch ein noch engerer Anschluss an die Co-
rallen vermittelt winl, ist bisher glinzlich übersehen worden , und erst
HiKLUCBo hat im vorigen Jahre darauf aufmerksam gemacht (1. c. p. S30].
Bei Axinella polypoides, beiOsculina polyslomella und bei
vielen anderen Schwilmmon, unter den fossilen namentlich bei Coe-
loptychium lobalum, Siphonia costata u. a. springen diesel-
Uebfr den Organismiis der Sdiwümme etc. 231
ben sofort in die Augen. Diese »radialen« Schwämme sind nicht
minder echte d Strahlthierea als die meisten Gorallen. Offenbar er-
beben sich aber die Schwämme , bei denen sich so deutlich Antimeren
differeniiren , in tectologischer Beziehung nicht weniger als die hoher
entwickelten Gorallen über die niederen Schwämme , denen noch jede
Antimerete-Bildung fehlt.
Somit bleibt, abgesehen von dem höheren Grade der histologischen
Differenzirung bei den meisten Gorallen , nicht ein einziger Character
ttbrig, welcher die Schwämme durchgreifend von den Gorallen trennt.
Selbst die den Mund umgebenden Tentakeln, welche bisher ausschliess-
liches Eigenthum der Gorallen zu sein schienen, beginnen bei einzelnen
Schwämmen bereits sich zu entwickeln. Wenigstens mochte ich die
bOchst merkwürdigen, krausen und gefranzten »Papillem, welche in
einem Kranze die MundOffnung von Osculinapolystomella, einem
der merkwürdigsten Schwämme, umgeben, als beginnende Ten-
takeln deuten. Uebrigens dürfte auf die Tentakeln der Gorallen, als
secundär entwickelte Anhänge, um so weniger Gewicht zu legen sein,
als auch Gorallen vorkommen, bei denen dieselben fast fehlen, oder nur
in Form rudimentärer KnOpfe entwidLelt sind (z. B. Antipathes).
Dass die Verhältnisse der Stockbildung oder der Gormoge-
nie bei den Gorallen und bei den Spongien ganz dieselben sind, be-
darf kaum noch besonderer Erwähnung. Die Uebereinstimmung zwi-
schen beiden Thierclassen ist gerade in dieser Beziehung so auffallend,
dass sie vorzugsweise es war , welche schon die älteren Naturforscher
veranlasste , Schwämme und Gorallen im System zu vereinigen. Wir
finden bei den Schwämmen keine geringere Mannichfaltigkeit in der
Zusammensetzung der Personen zu Stücken, als bei den Gorallen,
und auch die speciellen Modificationen in der Stockbildung, welche
durch die mannichfaltigen Formen der unvollständigen Theilung und
Knospenbildung bei den Gorallen entstehen, finden sich bei den
Schwämmen wieder. Nur ein hierher gehöriges Verhältniss mag
noch speeiell hervorgehoben werden , weil dasselbe vielfach zu selt-
samen Missdeutungen geführt hat. Dies ist die Bildung eigenthüm-
lich redueirter Stocke durch Verwachsung oder Goncrescenz
der Aeste, resp. Personen. Wie bei den bekannten Fächer-
corallen (z. B. Rhipidogorgia f labeil um) die eigenthümlichen
Formen der {flach ausgebreiteten netzförmigen StOdie durcb vielfache
Goncrescenz von Aesten und Anastomose ihrer Hohli^ume entstohen,
so bilden sich bei den Schwämmen nicht allein netzförmig ausgebrei-
tote, sondern auch knäuelartig verwickelte Stocke, indem ebenfalls ihre
Stockäste, resp. Personen, untereinander an den BerUhrungsstellen
46*
232 Krnsl HAwkel,
verwachsen und nnaalomosiren. llnt«r den Kallcschwifmmeii werden
diese labynnlliischeD Knliufl besonders bei den Nnrdopsiden und den
Tarromiden so diehl, dass man vielfach die Lücken zwischen den er-
wachsenen Personen für innere Hohlniunie ihres communicirenden Ca-
nalsysl^ms gehallen hnl. So beschreibt 7.. B. Köllisbb bei seiner Nnr-
doa spongiosa [unserem Ta rrus spongiosus} diu LU(5ken umi
Spalten zwischen den dicht verwachsenen Aeslen des Stockes als »Aus-
fuhrungS'Canüleu und das innere, flimmernde Canalsystem (die Holil-
räume der Aeste), welches diesen , wie vielen andern Schwämmen zu-
kommt, als nein Netz von Wimper-Canitlen , wie es noch hei kfim-f
Spongie gesehen istu.
Die merkwürdigsten Resultate entstehen durch fortgnsetzle Con-
crescenz der Personen in den Gattungen Naidoa, Nardopsis und
Coenostoma, welche ich desslialb in der besonderen Ordnung ilii'
Coenosyken zusammengofasst habe. Hier münden nilmlich nach t-
langter Reife die Magenhöhlen oder n Schornsteine« der verschiedpnpn
Personen, welche einen Stock zusammensetzen und welche durch W'-
rale Knospenbildung aus einer Person entstanden sind, schliesslich in
einen einzigen Hohlraum [eine gemeinsame nAusslrümungsröbreuj zu-
sammen, welcher sich durch eine einzige Mündung (einen gern ein saun"
Mund] nach aussen öGTnet. Da der reife Schwamm liier nur eine ein^ii;''
Mundöffnung besitzt, isler scheinbar nur eine Person, in Wirk-
lichkeit aber ein echter Stock, d. h. ein aus mehreren Persoin'n
zusammengesetzter Cormus. In der Jugend besitzt jede Person ilir''
eigene Mundtißhung, bis sie später mit ihren Nachbarn verwächst und
mit diesen zusammen sich eine gemeinsame MundJItTnung bildet.
Wenn man diese wunderbaren Thierstöcke, deren Personen durcii
ilbermüssige Centralisation den wesentlichsten Theil ihrer Individuali-
tät, den Mund, aufgegeben und sich dafür einen gemeinsamen Stock-
mund [Corniostoma] angeschaRl haben, durch eine besondere tie-
Zeichnung von den ursprünglichen, vielmündigcn Cormen unterschei-
den will, so dürften sie vielleicht passend Coenobien genannt wer-
den. Als ein solches Coenobiuni wäre nach meiner, in der genereile"
Morphologie entwickelten Hypothese auch die ursprüngliche Stammform
der Echinodermcn , die älteste Astenden - Form (Tocastra) aufzufassen.
Wenn, dieser phylogenetischen Hypothese entsprechend, die ursprün?'
liehe Seestern-Form w'rklich einen Stock von gegliederten Würnif"
(Personen) darstellte, die sich eine gemeinsame Mundüffnung gebild'''
hatten, so wUi-de dieser anscheinend so wunderbare Vorgang in ('it
Thal nicht « undeibarer sein , als die tbnlsüchliche, jederzeit oatogene-
tisch zu verfolgende Entstehung des Coenobiums einer Nardoa odef
1
Ueber den Oi^nismus der Schwämme etc. 233
Nardopsis aus einem Stock von Leucosolenia. Die niederen Coe-
nobien der Coenosyken erscheinen so wirklich sehr geeignet , die Ent-
stehung der höheren Coenobien bei den viel vollkommeneren Echino-
dermen zu erläutern.
So eigenthttmlich die Nardopsiden und Coenostomiden mit ihrem
einzigen Gormostom auch dastehen, so werden sie (wenigstens die er-
sieren) doch auch durch vermittelnde Zwischenformen mit den Leuco-
solenien verbunden, aus denen sie hervorgegangen sind. Solehe Ueber-
gangsformen^sind die Tarromiden, bei denen der Schwammstock nicht
ein einziges, sondern mehrere Cormostomen besitzt, bei denen die
Mundöfihungen der Personen also nicht alle in eine einzige , sondern
gruppenweise in mehrere getrennte Stockmündungen verschmolzen
sind. Anderseits aber kann die weitergehende Verwachsung der ur-
sprünglich vorhandenen Mundöffnungen aber auch zu ihrem vollstän-
digen Verschwinden ftlhren , wie bei den oben angeführten mundlosen
Schwämmen. Sowohl die einzelnen Personen (C 1 i s t o 1 y n t h u s} als der
aus mehreren Personen zusammengesetzte Stock (Auloplegma) kann
durch secundäre Verwachsung seine ursprünglichen Mundöffnungen ein-
büssen. Es giebt also unter den Kalkschwämmen sowohl einzelne For-
men mit Hautporen, aber ohne Mund (Clistolynthus, Auloplegma)
als auch entgegengesetzte Formen mit Mund, aber ohne Hautporen
(Prosycum).
Die hier berührte Erscheinung, dassdie scheinbar entgegengesetzten
.und extremen Bildungen durch eine vermittelnde Kette von allmähligen
Uebergangsformen verbunden werden und somit die Einheit des Orga-
nisations-Typus, d. h. die Einheit der Abstammung, überall trotz der
grössten Mannichfaltigkeit im Einzelnen hervorleuchtet, tritt dem kriti-
schen und unbefangenen Naturforscher bei den Kalkschwämmen , wie
hei den Schwämmen überhaupt, allenthalben entgegen und lässt deren
Studium so äusserst lehrreich, so ungemein fruchtbar, namentlich für
das Verständniss der Descendenz-Theorie erscheinen. Die
ga nze Naturgeschichte der Spongien ist eine zusammen-
hängende und schlagende Beweisführung nfür Darwin«.
Schon Fritz Müller und Oskar Schmidt haben an vielen einzelnen Bei-
spielen diese unläugbarc Thatsache hervorgehoben und ich selbst habe
dieselbe allenthalben durchaus bestätigt gefunden. Der Organismus der
Spongien hat sich offenbar noch bis in unsere Zeit so flüssig, so beweg-
lich, so biegsam erhalten, dass wir den Ursprung der verschie-
denen Species aus einer gemeinsamen Stammform hier
noch Schritt für Schritt auf das Klarste verfolgen können.
Nur zwei Schwammformen mögen schliesslich in dieser Beziehung
234 t^rnsl HiiKk'l,
noch als ganz besonders lohrrpich und inlcressnnl hervorpchobrn wer-
den. Das isl dieGuancha blanca vonHiKLUcno und meine Sy co-
tnclra comprossii. Diese beiden Kalkschwammo Irelcn in so ver-
schiedenen Formen auf, dass sie bald dieser, bald jenerGruppe im Sj-
sl«m anzugehären scheinen , und dass sie den Syslomatiker in die äus-
scrstc Verlegenheit setzen. leh selbst habe mir in dem nachstehenden
Prodromus eines Systems der Caicispongien nicht anders über diese
Schwierigkeit hinweghelfen können, als dadurch, dass ich eine besoo—
dere Ordnung, die Melrosyken, fUr sie gründete.
Guancba blanca von den canarischcn Inseln erscheinl in
ibriTam meisten ausgebildeten Form als ein Schwa in ni stock, wel-
cher an einem und demselben Cormus die reifen Formen
von nicht weniger als vier gani; verschiedenen Genera
tragt, nüDilich Olynthus von den Monosyken (Form A von Mi-
KLL'CBOJ, Lcucosolenia (Form B) und Tarrus (l'orni D} von de u
Polysykcn und Nardoa von den Coenosykon (Form C. von MiklucboJ.
In ähnlicher Weise erscheint die am meisten ausgebildete Form der
Sycomclra comprcssa aus Norwegen als ein Schwnmmstock,
welcher an einem u nd demselben Gormus die reifen For-
men sogar von acht verschiedenen Genera trügt, uümlirh
Sycarium und Arlynas aus der Familie der Syeariden, Syci-
dium und Arty nium aus der Familie der Sycodendridon, Sy cocy-
stis und Arlynclla aus der Ordnung der Clislosyken, Syeophyl-
lum und Arty nophyllum aus der Ordnung der Gophosykcn. Ab
goncrisch verschieden und nicht als blosse EnlwicklungszusUindc einer
Spccies rauss man aber alle diese auf einem Stock vereinigten Formen
desshalb betrachten, weil jede derselben fortpflanzungsfähig isl und in
ihren ausgebilBeten Sporen das beweisende Zeugniss der
vollen Reife bei sich führt. Bei diesen hdchsl merkwürdi-
gen und wichtigen Schwämmen isl die organische Spe-
cies gleichsam »in statu nascentio zu beobachten.
Wahrscheinlich gilt dasselbe auch von dem Sycarium rhopa In-
des aus Norwegen und von der Ute utriculus aus Grünland, welche
letztere O.sKAiiScHiimT beschrieben hat, vorausgesetzt, dass die verschie-
denen Formen derselben, welche ich unter dieOencra Sycarium, Ar-
tynas, Syeocystis undAntyneila gestellt habe, auch wirklich
ihre specifische Heifo durch den Besitz ausgebildeter Sporen bezeugen.
Wenn wir schliesslich nochmals auf die Verwandtschaft der
Schwünome und Corallen lurUckkoDimen und die Grenze zwischen die-
sen beiden Thierclassen kunstlich festzustellen versuchen, so bleibt
uns eigentlich weiter nichls übrig, als der höhere Grad der hisWlogi-
Ueber den Organismas der SchwSmme etc. 235
sehen Differenzirung bei den Corallen, insbesondere aber der Besitz
der Nesselzelien. Kein Schwamm bildet Nesselorgane in
seinen Ectoderm-Zellen, während diese bei allen Aca-
lephen (bei allen Corallen, Hydromedusen und Ctenophoren
ohne Ausnahme) in grösserer oder geringerer Ausdehnung vorhan-
den sind. Freilich wird man zugeben müssen, dass dieser histologische
Character an sich sehr geringfügig , und sowohl in Beziehung auf seine
physiologische, wie seine morphologische Bedeutung wenig geeignet ist,
eine scharfe Grenze zwischen den Spongien und den übrigen Coelente-
raten herzustellen. Diese Grenze erscheint sehr künstlich , wenn man
bedenkt, dass es sowohl unter den Würmern, als unter den Mollusken
auch einzelne Formen mit Nesselorganen giebt. Sie wird aber noch
mehr verwischt , wenn man die gesammten Verhältnisse der histolo-
gischen Differenzirung bei den Spongien Gorallen in's Auge fasst und
sich überzeugt, dass in beiden Classen ein weiter Spielraum für den
Differenzirungs-Grad gegeben ist. Nicht wenige unter den höher ent-
wickelten Schwämmen nehmen in Bezug auf histologische Differenzi-
rung vielleicht eine höhere Stufe , als manche Gorallen oder wenigstens
als die Hydren unter den Acalephen ein. Dagegen würde sich ein sehr
wichtiger und durchgreifender Unterschied zwischen den Acalephen und
den Spongien ergeben, wenn sich meine oben ausgesprochene Ver-
muthung bestätigen sollte, dass Zoospermien und somit sexuelle Dif-
ferenzirung bei den Spongien noch nicht vorkommen, und dass die
angeblichen »Eier« der Schwämme geschlechtslose Sporen sind.
Die nähere Erörterung und Begründung aller hier angeführten Ver-
hältnisse behalte ich meiner ausAlhrlicbeB Monographie der Kalk-
schwämme vor , und richte schliesslich , um den systematischen Theil
dieser Arbeit möglichst vollständig zu gestalten, an alle Leser dieser
vorläufigen Mittheilung, welche im Besitz von getrockneten oder in
Weingeist befindlichen Kalkschwämmen sind, die Bitte, mir dieselben
zur Durchsicht und Vergleichung übersenden zu wollen. Die Kalk-
schwämme sind bisher in den zoologischen Sammlungen fast überall so
spärlich vertreten und ihre Systematik liegt so im Argen, dass der nach-
stehende Prodromus eines Systems der Kalkschwämme ganz von vorn
anfangen muss. Ausserdem sind viele Calcispongien im inneren Bau
so sehr verschieden , während ihr unscheinbares Aeussere fast gleich
erscheint, dass die genaueste mikroskopische Untersuchung aller bisher
gefundenen Formen zur Begrtlndung ihrer Systematik ganz unerläss-
lich ist.
Pndronos eines Systems der Halkschnämme.
Ernst Haeckel.
nlfl: J.=JniirisToii. Bb. = Bowerbaki. O. S. =05rar Scumidt. M. M. =Ui
itniCH(i-M*CL*v, H. =HiECKtL. (Ein ' vor den Namen der Genera oder
Species bedeuleL , dass dicso nou sind.)
Legio; Calcisponglae, Blainville.
(Synonym: Granliae, Fleking. Spongiao calcareae, Bo-
wkrbank}. Scliwiinimc mil einem Skelel aus kohlensaurer
Kalkerde.
I. Ordo : MoDOSyca, H.
Ordnungs-Characler; Der reife Kalkseh wamiii bildet
einePersonmitciiierMundtirrnuiig. (Körper meist cylindrisch,
spindclDlrmig oder eiförmig, unverästcll. Magenfaühle [innere Uöhlunp
des Körpers) einfach oder fücherig, stets mit einer einfachen, der An-
salzsltille entgegengesetzten JtfundölTnung) .
1. Familia: Frosyoida,II.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildet eine ein-
fache, schlauchförmige, mit einer Mundöffnung versehene Person, deren
Körperwand [Magenwand] ganz solid und nicht durchbohrt ist.
*1. Genus: Proflycum, nov. gen.
Gattungs-Character: Hundöffnung einfach , ohne Perislom-
Krone [ohne Kranz von frei vorragenden Nadeln).
Prodromos eines Systems der KAlkschwümme. 237
Species von Prosycum (9):
*\. Prosycum simplicissimum, H. Neapel, H.
* 2. Prosycum primordiale, H. Neapel, H.
IL Familiär Olynthids, H.
Familien-Character : Der reife Ealkschwamm bildet eine ein-
fache, schlauchförmige, mit einer Mundöffnung versehene Person, deren
Körperwand (Magenwand) nur von einfachen Hautporen durchbrochen
ist (die Hautporen sind einfache Parenchym-Lttcken, ohne besondere
Auskleidung) .
*2. Genus: OlynthuB, nov. gen.
Gattungs-Character: Mundöffnung einfach,- ohne Peristom-
Krone (ohne Kranz von frei vorragenden Nadeln).
species von Olynthus (5):
*3. O. Simplex, H. Neapel, H.
4. 0. guancha, H. (Guancha blanca, M. M., Var. A). Lanzerote,
M. M.
*5. 0. cyathus, H. Gibraltar, H.
6. 0. pocillum, H. (Spongia pocillum, Fabricius). Grönland, Fa-
BRiGius. Norwegen.
"^7. 0. hispidus, H. Helgoland. H.
"^3. Genus: Olynthium, nov. gen.
Gattungs-Charakter: Mundöfihung mit Peristom-Krone (von
einem besonderen Kranz von frer vorragenden Nadeln umgeben).
Species von Olynthium (2).
*8. 0. nitidum, H. Algoa-Bay.
* 9. 0. splendidum, IL Algoa-Bay.
IIL Familia: Syoarida, H.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildet eine
einfache, schlauchförmige, mit einer Mundöffnung versehene Person,
deren Magenwand von regulären, radialen Canälen (Radial-Tuben)
durchsetzt ist. (Die Radial-Tuben sind von dem flimmernden Entoderm
ausgekleidet, münden am distalen Ende durch Hautporen nach aussen,
am proximalen Ende durch Magenporen in die Magenhöhle , und com-
municiren mit einander allenthalben durch Conjunctiv-Poren).
'4. Genus; Amphoridium, nov. gen.
Gatlungs-Gharnclcr : Skeißl besteht bloss aus einfacheo (li-
nearen) Nadeln.
Spocies von Amphnri'diuin (1) :
)0. Ampboridium viride, H. (Ute viridis, 0. S.) Cell«, O. S.
*5. Genus: AmphoriBous, nov. gen.
GallUBgs-Characler; Skelet besteht bloss aus vierstrahl igen
Nadeln.
Species von AmphorlscuB (3) :
H.A. chrysalis, H. (Ute chrysalis, 0. S.) Lesina, 0. S.
*12. A. urna, 11. Caracas. Gollher.
*13. A, cyathisGus, !1. Auslralien.
•6. Genus; Sjoarium, nov. gen.
Galtungs-Gharaeler; Skclet besteht aus dreistrahligen Na-
deln in den Wanden der Radial - Canillc , aus vierslrahligen Nadeln in
der Magenwand , deren vierler Strahl frei in die Ufagenhöhle vorspriniit
und aus einfachen, frei vorragenden, linearen Nadeln am distalen Endf
der Radialcanäle. HundOHhung einfach, ohne dtlnnhcluligen RUssoI und
ohne Peristom-Krone.
Species von Sycarium (6):
* M. S. ampulla, 11. Norwegen.
*15. S. rhopalodes, H. Norwegen.
16. S. compressum, H. (Grsnlia compressa, J. Var. A.) Eng-
land. Norwegen.
17. S. utriculus, H. (Ute utriculus, 0. Schmidt, var. A.) Grön-
land.
•18. S. villosum, H. Antillen.
*19. S. vcsica, 11. Messina, H.
7. Genus; Syconella, O. Schmidt.
Gattungs-Charaelcr: Skelet von Sycarium. Mundöffnung in
einen dilnnhüuligen RUssel (einen nidil von Radial-Canalen durcbbohr-
len Canal) voriüngerl, ohne Perislom-Kronc.
Spocies von Syconella (3]:
20. 8. quadrangulata, 0. S. Adrialisches Meer, 0. S.
Prodromus eines Systems der Kaikschwlimine. 239
*2\. S. proboscidea, H. Rothes Meer, Siemkns.
*a. S. lubulosa, H. Australien.
8. Genus : Syoum^ Risso.
Gattungs-Character: Skelet von Sycarium. MundöShung
mit einer einfachen Peristom - Krone (von einem einfachen Kranz von
frei vorragenden Nadeln umgeben) .
Species von Sycum (48):
23. S. ciliatum, H. (Spongia ciliata, Fabrigius). Grönland. Bri-
tische Kttste.
S4. S. arcticum, H. (Sycum raphanus^ vor. 0. Schmidt). Grön-
land.
95. S. coronatum, H. (Spongia coronata, Ellis) . England (Wey-
mouth) , Max Schultzb.
26. S. giganteum, H. (Grantiaciliata, var. JoHNSTon). Isleof Man.
Britannien.
27. S. alopecurus, H. (Grantia ciliata, var. Bowbrbank.)
28. S. tessellatum, H. (Grantia tessellata, Bowbrbahk.) Nor-
mannische Inseln, Bucklaicd.
29. S. ananas, H. (Spongia ananas, Montagu.) Britannien.
30. S. ovatum, H. (Sycum ciliatum, Libbbrcühn). Helgoland»
*3\, S. clavatum, H. Norwegen. Schilliug.
*32. S. lanceolatum, H. Norwegen. Schilling.
"^33. S. lingua, H. Norwegen. Schilling.
34. S. tergestinum (Sycum ciliatum, 0. Schmidt). Triest.
35. S. raphanus, 0. S. Dalmatien, 0. S.
36. S. capiliosum, 0. S. Sebenico, 0. S.
37. S. setosum, 0. S. Corfu, 0. S.
38. S. Humboldti, Risso. Nizza. Venedig.
39. S. inflatum (Spongia inflata, Dbllb Chiajb). Neapel. D. C.
40. S. petiolatum, 0. S. Deslerro. Frite Müller.
9. Genus: Bunstervillia, Bowbrbank.
Gattungs-Char acter: Skelet von Sycarium. Mundöflhung
mit einer doppelten Peristom-Krone (von einem doppelten Kranz von
frei vorragenden Nadeln umgeben, einem inneren verticalen und einem
äusseren horizontalen Kranz) .
Species von Dunstervillia (5):
44. D. elegans, Bb. Algoa-Bay, Bb.
240 Krnsl BnPrkfl.
42. D. corcyronsis, 0. S, Corfu, 0. S.
• 43. D. Schmidlii, H. Lagosla, 0. S.
'44. D. Lanzerotafl, U. Lanzerote, M. M.
*i3. D. formosa, H. Barbados.
10. Conus: Artynaa, Gray.
Galtungs-Characler; Skolel wie bei Syoariuni. Mundöff-
nitng einfach, ohne Rüssel und ohne Pürislom- Krone. Magenhöhie
[iicherig, von unrogclmilssigen ScheidewUndon durchzogen.
Speciea von Arlynaa {41:
46. A. Gompressua, H. (Grantia compressa, Johnstob, Var. B.)
Norwegen.
47. A. ulrirulus, U. (ULc ulricuius, 0. S., Var.) Grönland.
'48. A. rhopalodcs, H. Norwegon.
'49. A. villosus, II. Anlillcn.
H. Genus; Uta, 0. Shumidt (p. p.)
Gallungs-C haracler : Skoiet besieht aus drciütrahligcn Nn-
dein in der Wand der Radial-Caniüe, aus vicrslrtihligün Nadeln in der
Magenwand, deren vierler Strahl frei in die HagenhOhle vorspringt, uiiJ
aus einfachen linearen Nadeln, welche der Lilngsaxe des Körpers paral-
lel laufen und dicht aneinander gelagert einen festen, ilussoren Panzer
um das innere System der Radial-Canillc bilden. Hiuidöffnung einfach,
ohne Rüssel und ohne Peristom— Krone.
Species von Ulc |i):
üO. U. glabra, 0. S. Lagosta, 0. S.
51. U. cnsitta, Gray (Grantia ensata, Bb.). Guernsey. Blcklanp.
12. Genus: CyathisouB, nov. gen.
Gatlungä-Characicr: Skel et besieht aus dreistrahligpn Na-
deln in den radialen Schcidewünden der peri gastrischen Füchcr, aus
vierslrahligen Nadeln in der Magenwand, deron vieilcr Strahl frei in
die Magenhtihle vorspringt, und aus einfachen, linearen Nadeln, welche
der L<lDgsa)(c des Körpers parallel laufen und dicht aneinander gelagert
einen festen, üusscrcn Panzer um das innere System der Radial-Pücher
bilden. (Dieperigastrisehen, radialen Fächer, welche in ühnlicher Weise
wie bei den Corallen den Magen umgeben, sind wahrscheinlich ent-
standen durch Ausfall der horizunUden Scheidewünde , welche bei Sy-
carium, Sycum etc. die übereinander liegenden Radial-Canille trennen.
ProdronoB einta Sjslems der Kalksehwlromc. 241
Jedes perigastrische Fach mtlndet durch eine Längsreihe von Magenpo-
ren in die Hagenhohle und durch mehrere Längsreihen von llfiulpnivn
nach aussen). HundOflnung einfach, ohne Busse) und ohne l'i'iisiDrn'
Krone.
Species von Cyathiscus (1):
*5S. C. actinia, H. Honolulu, Haltbrkahn.
IV. Pa miliar DyBsyoida, H.
Familien-Character; Der reife Kalkschwamm lijliltn eine
einfache, schlauchförmige, mit einer HundfiDhung verschmi' Persnn.
deren Hagenwand von unregelmSssigen , verästeilen Cantilc]! li'iniekil-
Canälen) durchsetzt ist. (Die Panetal-Canale communiciren viflfut.!! un-
ter einander und münden am proximalen Ende durch wcnii^e i^rossc
Magenporen in die Magenhöhle, am distalen Ende durch sehr ziihlrejche
kleine Hautporen nach aussen).
•)3. Genus: DyBsjraam, nov. gen.
Gattungs-Character: Skelet besteht aus dreislriililiGcn Nn-
deln in der Körperwand, aus vierstrahligen Nadeln in der Mnufn^xniiJ.
deren vierter Strahl frei in die Hagenhdhie vorspringt uml iius i'iii-
fachen, frei vorragenden Nadeln an der Oberfläche desKörpiis. Miiiitl-
öffnung einfach, ohne Rflssel und ohne Perislom-Krone.
Species von Dyssycum (8);
53. D. fistulosum, H. (Grantia ßstulosa, Johnbton.j HjitJsclip
Küste.
54. D. penicillatum , H. {Sycinula penicillala, 0. S,) (irtin-
land.
55. D. clavigerum, H. (Sycinula clavigera, O. S.] (IrJinland,
O. S.
56. D. solidum, H. (Grantia solida, var. solitaria, 0. S.) Dal-
matien, O. S.
*57. D. periminum, H. Perim (Rothes Meer), Siemens.
*(i. Genus: DyasyoondUa, nov. gen.
Gattungs-Character: Skelet wie bei Dyssycum. Miitullifl-
nung in einen Bussel (eine dünnhäutige, nicht von Panet.il-Ciniillt'ii
durchsetzte Röhre) verlängert, ohne Peristom-Krone.
5S. D, pumila, H. (Leuoonia pumüa, Bb.) Guernsey [Nor-
mannische Insel). NoRMAK.
'59. D. camiDus, H. Anlillen.
1ä. Genus: Sycinula, O. Scbiidt.
Gallungs-Character: Skelet wie b^i Dyssycum. HuDdöfT—
nung von einer Peristom -Krone (tiinoni einfachen Kranz von frei vor—
rügenden Nadeln) umgehen.
60. S. aspera, 0. S. Corfu, Dalmntien, 0. Sciihidt.
6). S. Egedii, O. S. Grönland.
"62. S. eohinata, H. Algoa-Bay.
II. Ordo: Polysyca, II.
Ordnungs-Character: Der reife Kaikschwamm bil-
det einen Slock mil mehreren Mundöffnungcn. (Ksrper
mehr oder weniger verSsloll, mil freien oder mil vielfach verwachsenen
und anastomosirenden Aesten, bald kleine Bäumchen oder BUsche, bald
ein dicht verflochtenes Wunolwerk oder einen schwammigen Klumpen
bildend. Uagenh&hlen der den Stock zusammen seilenden Personen
mil einander direct oder indirect oommunicirend, mit einer besonderen
MundöiTnung am freien Ende aller oder doch mehrerer Aeste (Personen) .
V. Familia: Soleolsoida, H.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildeleinen
Stock mit entwickelten Personen , deren jede eine Mundöifnung besitzt,
und deren Hagenwünde von einfachen ilaulporen durchsetzt sind , wie
bei den Olynthiden.
46. Genus: LeoooBoleiil&, Bowebsahs.
Gatlungs-Char acter: Magenhühlen und deren Verbindungs-
rohren einfach, nicht fücherig. Mundäffnungen der Personen einfach,
ohne Rüssel und ohne Peristom-Krone.
1. Subgenus: l.eucalia. Nadeln sümmtlich einfach (lineaij. (Der
üussere Theil der PJaJeln ragt über die äussere Obertläche vor.)
Prodromns eines Systems dtr Kalksehw&mme. 243
"^63. L. coralloides, H. Neapel, H.
"^64. L. troglodytes, H. Neapel, H.
n. Subgenus: Leucelia. Nadeln sSiininUich dreistrahlig. (Innere
und äussere Oberfläche der Röhren glatt.
"^65. L. dictyoides, H. Australien.
66. L. himantia, H. (Grantia brotyoides, var. himantia, John-
ston.) Britische Rüste, Johnston.
67. L. complicata, H. (Spongia complicata, Montagu). Britische
Küste. Hontagd.
68. L. guancha, H. (Guancha blanca, var. B, Miklugho). Lan-
zerote, HlKLUGHO.
69. L. pulchra, O. S. Dalmatien, O. S.
III. Subgenus: Leucaria. Nadeln theils einfach (linear), theiis
dreistrahlig. (Der äussere Theil der einfachen Nadeln ragt über die
äussere Oberfläche vor.
*T0. L. thamnoides, H. Norwegen*
*71. L. robusta, H. Neapel, H.
72. L. Lieberkühnii, 0. S. Triest, O. S.
73. L. Fabricii, 0. S. Grönland, 0. S.
IV. Subgenus: Leuceria. Nadeln theils dreistrahlig, theils vier-
strahlig. (Der freie Strahl der vierstrahligen ragt in die Magenhöhle
hinein.)
74. L. botryoides, Bb. (Spongia botryoides, Ellis). Britische
Küste, Bb.
* 75. L. Grantii, H. Britische Küste.
* 76. L. Darwinii, H. Britische Küste.
"^77. L. Goethei, H. Neapel, H.
"^78. L. Lamarckii, H. Gibraltar, H.
*79. L. Gegenbauri, H. Hessina, H.
V. Subgenus: Leuciria. Nadeln theils einfach (linear), theils
dreistahlig, theils vierstrahlig. (Der freie Strahl der vierstrahligen ragt
in die Magenhöhle , der äussere Theil der einfachen Nadeln über die
äussere Oberfläche vor.)
80. amoeboides, H. Helgoland. (Grantia botryoides, LiKBBRKtHN.)
"^84. variabilis, H. Norwegen.
82. contorta, Bb. Britische Küste, Bb.
VI. Subgenus: Leucoria. Nadeln theils einfach (linear), theils
zweischenkelig (hakenfbrmig) , theils dreistrahlig , theils vierstrahlig.
244 Etnit^llMekfl,
[Der freie StrabI der vi erstrahl igen Nadeln ragt in die Hagenhöhle, der
üussere Theil der einfachen und der Süssere Schenkel der hakenför-
inigi?n Nadeln Ober die Süssere Obcrflifche vor.)
■83. L. echinoides, H. Gibraltar, H.
"17. Genus: Soleniscua, no¥. gen,
Gatlungs-Character : Magenhöhlen und deren Verbindungs-
röhren ^cberig, von unregelmUssigen Scheide wunden durchzogen und
dadurch in zahlreiche, communicirende Fücher zerfallend, in denen
sich die Embryonen entwickeln (wie bei Clalhrina) ,
SpeciesvonSoleniscus (1):
•S4. S. loculosus, H. Australien.
VI. Familin: T&rromida, H.
Farn ilien-Characler : Der reife Knlkschwamm bildet einen
Stock mit vielfach verflochtenen anaslomosirenden Aeslen und mit ru-
dimenUlren, ruckgebildeten Personen, deren rudimenUlre Mngenhithlen
sich gruppenweise durch gemeinsame Mundöffnungen öffnen.
" 1 8. Genus : TarruB, nov. gen.
Ga ttungs-Character 1 Canille inwendig einfach, glatt, mit
ebenem Enloderm, ohne Papillen und ohne innere Scheidewände.
*8b, T. densus, H. Australien.
86. T. guancha , H. [Guancha blanca , var. D. , M. M.) Lanze-
rote, M. M.
87. T, reticulalus, H. (Nardoa reticulum, var. O. S.) Ualma-
lien, 0. S.
B8. T. labyrinlhus, H. (Nardoa labyrinthus, 0. S.] Lesiaa, 0. S,
89. T. spongiosus, H. (Nardoa spongiosa, KUllieer. ) Nizza,
Ebebtb.
* 1 9. Genus : Toiroma, nov. gen.
Gattungs-Oiarakler: Canalwande inwendig zottig, dicht
mit hervorragenden Papillen [Wucherungen des Entoderm) besetzt.
öpccies vooTarrotna fi):
90. T. canariensp.n. (Nardoa (Mnariensis. H. H.) Liinzerole, M. M.
Prodronns t'mrs Systras in KAwhrl— f. 245
yi. T. rubniiD, U. (Nardoa rubra, H. Jl. Lant^rcMtf, M- M.
9S. T. sulphureum, H. (Nardoa sulpfaurea, H. II. Lain«n>le. M. M.
20. Genus: Clathrina, Gut.
Galtungs-Character: CanäJe inwendie: £icbefii:, nämlidi
durch unregel massige Scbeidewünde t lamelläse WucfaerungeD des En-
todermV in zahlreiche, mit einander coramunicirende Fächer ierf;illcnd.
in denen sich die Erabryoneo befinden.
9.1. C. sulphurea, Gmat fGrantia clathrus. O. S- . Sebeoko, 0. S.
*9t. C. loculosa, H. Anstralieo.
VII. Pamilia: Syoodendrida, H.
Fami lien-Cbaracter: Der reife Kalkschwamm bildet einen
Stock mit entwickelten Personen, deren jede eine Mondö^nn^ besitzt.
und deren Hagenwande von r^elmässigen radialen Canälen Badial-To-
ben) durchsetzt sind (wie bei den Sycariden .
*SI. Genus: Sydditun. nov. gen.
Gattungs-Gharacter: MondfiffnongeD einfach, «bne Hassel
und ohne Pernstom- Krone. Magenhöble der Personen einbch. iticbi
fiicherig. Skelel wie bei Sycarium.
Species von SycidiDan ri-
95. S. gelatinosum, H. (Alcyoncellum gelatinofnim , BuiKntLi,,
Fundort? Quoy et Gaimard.
*96. S. compressum, H. (Grantia compres», tom^sroy, Vaf. C.
Britische KUsle. Norwegen.
'ii. Genus: Syoodeodram, nov. gen.
Gattungs-Characler: HondtffTnungen ohne BUüsel, mit Pf-
rislom-Krone (von einem Kranz von frei vorragenden Nadeln umgel>en .
Magenhöhle der Personen einfach, nicht fächerig.
'97. S. ramosum, H. Helgoland, H.
*98. S. procumber
I
f^
"23. Genus: Artynimn, nov. gen.
Gatlungs-Characier: MuDilülTnungen einfucli, ohne Rüssel
und ohne Perislom -Krone. MagenhShlc der Personen fiicherig, von un-
regelrnüssigeii Scheidow;inden durchzogen. Skelet wie bei Sycarium.
Species von Arlynium H):
99, A. compressum, Gray. (Grantia comprcssa , Joh<iüton, Var.
D. ) Norwegen.
S4. Genus: Aphrooeraa, Ghav.
Galtungs-Character: Muiidoffnungen einfach, ohne Russe! und
ohne Perisloni-Krone. Magenhöhle der Personen fiicberig, von unreget-
mlissigen Scheidewänden durchzogen. Skelel besteht aus einfachen,
spindelförmigen Nadeln, welche der l.Ungsaxe der Personen und des
verzweigten Stammes parallel laufen und dicht aneinader gebgert einen
festen, äusseren Panzer um das innere System der Radial -Caoiile
bilden [i].
Spt-CLts von ApLroceras (1):
100. A. aicicornis, Gray. Elong-Rong. Uahland.
Vni. Familia: Bycothamnida, H.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildet einen
Stock mit entwickelten Personen, deren jede eine Mundöffnung besitzt
und deren Magenwande von unregelm^ssigen , verästelten Parietal-Ca-
nMlen durchsetzt sind {wie bei den Dyssyciden).
"95. Genus: SyoothamiiaB, nov. gen.
Gattungs-Characler; Personen des Stocks getrennt, nur
durch ihre Stiele zusammenhüngend. MundölTnungen einfach, ohne
Rltssel und ohne Peristoni-Krone.
Specics vor Sycothamau» (<) :
*I01. S. fmticosus, 11. ßothes Meer, Sibheks.
26. Genus: Leuconia, Gkant.
Gallungs-Character: Personen des Stocks mit dem gri]ssl«n
Theile ihrer Körperwand verwachsen ; nur ihre Magenhtihlen und Hund-
fiSnungen getrennt. Mundöffnungeri einfach, ohne KUssel und ohne Pe-
ristom -Krone.
ProJroioiis miim Syatpins der KnlkscWSmnie. 247
Species von Leucoiiiti i3j:
102. L. nivea, Bb. (Spongia nivea, Grahi). Britische Küste,
103. L. Gossei, 0. S. (Leucogypsia Gossei, Bb.) Normannische
Inseln.
101. L. slilifera, 0. S. Grönland.
103. L. algoensis, H. (Luucogypsia algoensis, Bb.) Algoa-Bay.
IOC. L. solida, 0. S. (Grantia solida, var. socialis, 0. S.j Dal-
matien, 0. S.
III. Ordo: Coenosyca, H.
Ordnungs-Characler: Der reife Kalkschwamm bil-
detein Coenobium (einen aus mehreren Personen zusammengesetz-
ten Slock mit einer einzigen gemeinsamen MundöfTnung]. Körper ver-
ästelt, mit (iberall verwachsenen und anaslomostrenden Aeslen , die
scliliesslicb in eine einzige MundäüTnung zusammenOicssen. [Seltener
verwachsen die Personen auch äusserlich zu einem massigen Klumpen,
wie bei CoenosloaicIIn) .
IX. Familia: Hardopsida, H.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildet einen
Stock mit einer einzigen Mundöffnung, dessen Canalwünde nur von
einfachen Hautporen durchsetzt sind [wie bei" den Olynthiden und
Soleniscidenj .
27. Genus: NardoB, O. S,
Ga ttungs-Characler: HundOEfnung einfach , nicht in einen
dUnnbüutigen Rüssel verringert.
Speoies von Nnriloa (i):
107. N. guancha, H. [Guancha blanca, var, C, M. M.) Lame-
rote, M. M.
108. N. lacunosa, 0. S. (Grantia lacunosn, JohssionI. Britische
KUste.
*38. Genus: N^ardopslB, nov. gen.
Gatlungs-Character: Mundöffnung in einen langen , dUun-
hüutigen RUssel verlüngert.
Species von Nardapsis (1} :
"109. N. gracilis, H. Australien.
1lO. N. reticulum, O.S. (Nardoa reticulum, 0. S.) Dalmalien,
0. S.
X. F a m i I i a : Coenostomida, H.
Familien-Characler: Der reife Kalkschw.nnim bildet einen
Slock mil einer dnzigen Mundöffnung, dessen Magenwände von un-
regelmllssig verüslellen Canülen durchzogen sind.
'29. Genus: CoenostomeUa, nov. gen.
Gattungs-Gbai-acler: Die Personen des Slockes sind zn
einer einzigen Masse verwachsen, deren gemeinsame Mundiiffnunp; in
einen dUnnhüuligen Hussel verlängert ist, «ührend die Magenhöblen
der Personen getrennt geblieben sind.
*m. G. caminus, H. Antillen.
rV. Ordo; Clistosyca, H.
OrdnuDgs-Character 1 Der reife Kalkschwamm bil-
det eine Person ohne Mundöffnung. [Der Körper ersehet nl
meistens als eine eiförmige, sphilroide oder zusammengedruckte Blase,
deren innerer Hohlraum nur durch Haulporen oder Parietal -Canäle,
aber durch keine grössere Oellhung (Mund) mit der Um^iebung com-
rounicirt; der Hund ist zugewachsen).
XI. Familia: Cliatolynthida, li.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm biidel eine
Person ohne MundOffnung, deren Körperwand von einfachen Hautpo-
ren durchsetzt ist (wie bei den Olynthidenj.
•30. Genus: Clistolynthus, nov. gen.
Galtun g's -Charakter: Magenhöhle ganz einfach, ohne Piicher.
Species von ClislolynthuB (11 :
*H3. C. vesicula, H. Honolulu. Hallermann.
XII. Familia; Sycocystida.
Fa milien-Characler: Der reife Kalkschwamm bildet eine
Person ohne Mundöffnung, deren körperwand von regulären radialen
Canälen (Badial-Tubenj durrhsctzl ist (wie bei den Sycariden).
* 31 . Genus : Syooojrstia, nov. gen.
Galtungs-Characler: Magenhöhle ganz einfach, ohne FfScber.
'3 Sysieins iler k'iilkscIiHäii
•H3. S. oviformis, II. Helgoland, H.
*H4. S. compressa, H. Norwegen.
Hb. S. ulriculus, H. (Ute ulriculus, Var., 0. S.) Grönland.
'33. Genus: Artynella, nov. gen.
Gallungs-Characler: Magenhtthle fiicbcrig, von unregol-
niässigen Scbeidewünden durchsetzt.
Species von Artynella (3):
* H6. A. conipressH, H. Norwegen.
'117. A. rhopalodcs, H. Norwegen.
118. A. ulriculus, II [Ute ulriculus, Var., 0. S.). Grönland.
XIII. Familie: Lipostomida, H.
Pamilieu-Character: Der reife Kalkschwaniui bildet eine
Person ohne MundötTnung, deren Körperwand von unrej^e! massigen
voräsl«lteu Canülen durchsetzt ist (wie bei den Dyssyciden).
'33. Genus: ZiipostomaUa, nov. gen.
Galtungs-Character; Magenhöhle ganz einfach, ohne Fächer.
' H'i. L. clausa, II. Mogador, 11.
'ISO. L. Capsula, H. Algoa-Bay. Pdeul.
V. Ordo: Cophosyca, H.
Ordnungs-Character: Der reife KalkRchwamm bil-
del einen Stock ohne Miindöffnung. (Der Körper erscheinl
entweder als ein ver.lsleltes iStrauchwerk oder als ein wurzelarliges
Ftechtwerk, aus der theilwei.<>en Verwachsung, oder endlich als ein un-
förmlicher Klumpen, aus der totalen Verwachsung mehrerer Personen
gebildet. Stets sind die Magenhöhlen der Personen mehr oder weniger
getrennt, Withrend ihre MundötTnungen obtiterirt sind.
XIV. Fani i lin : SyoorrhiEida, H.
Familicn-Gbaractcr: Der reife Kalkschvvanim bildet einen
Slock ohne MundOffnung, dessen Canalwände von einfachen Uaulporen
durchsctit sind.
' 31. Genus ; Sycorrhiaa, nov. gen.
Gatluu ■; Der mundlose Slock bildet ein vnir-
lelaniges Fl<' 'ngesetzt aus communicirenden Böhreo,
deren Innenwand glatl (nicht louig) und deren Hühlung einfach (nicht
fächerig) ist.
Species voa Sycorrhiia (S) :
läl. S. coriacea, H. (Leucosolenia coriacea, Bb.) Britische
Küste.
*122. S. corattorrhiza, H. Norwegen.
■':t5. Genus: Aulorrhiza, nov. gen.
fiallungs-Cliaracter; Der mundlose Stock bildet ein wur-
lelartiges Flechtwerk, nusammengeselzt aus communicirendcn Röhren,
deren Innenwand zottig (mit Papillen besetzt) und deren Höhlung ein-
fach (nicht filcherig) ist.
.Species von Aulorrhiia (I):
'Uli. A. intestinalis, H. Mogador. H.
*:16. Genus: Auloplegma, nov. gen.
Gatlungs-Characler: Der mundloso Stock bildet ein wur-
zelartiges Flechtwerk, dessen Aeste eommunicirende Röhren mit fäche-
riger, von uoregplmassigen Scheidewänden (Entoderm-Wucherungen)
durchsetzter Höhlung sind.
Species von Auloplegma [)) :
■I2i. A. loculosum. Australien,
XV. Familia: Sroophyllida, H.
Familien-Character : Der reife Kalkschwamm bildet einen
Stock ohne MundöfTnung , dessen Hagenwando von regulären Radial -
Canälen (Radial-Tuhen) durchsetzt sind (wie bei den Sycodendriden).
*37, Genus : Sycophyllum, nov, gen,
Gatlungs-Characler: MagenhBhlen einfach, nicht fächerig.
Species von Sycophyllum (a) :
'125. S. lobatum, H. Norwegen.
"126.S. compressum, H, Norwegen,
*38, Genus: Artynophyllnmi nov. gen.
GatlungS'Character: Magenhöhlen fache
massigen Scheidewänden durchsetzt.
J
Prodronms ejiies Sjsleni! dtr KiilksrliH;inini<>, 2M
Species von Arlynophyllum:
•1?7, A. compressum, H, Norwegen, H.
XVI. Familie: Syoolepida, H.
Familien-Cbaracter: Der reife Ealkschwainm bildet einen
Stock ohne Hunddffnung, dessen Hagenwande von unregelmassigen
verästelten Parielal-Canälen durchzogen sind (wie bei den Dyssyciden).
"39. Genus: S^oolepis, nov. gen.
Gattungs-Character: Der Stock bildet eine Qacb ausgebrei-
tete Rinde oder einen unförnilicben Kli^mpen, in dessen Parenchym die
einfachen (nicht fächerigen) HagenbOhlen der Personen zerstreut lie-
gen, welche nur durch die veraslelteu Parietal-Canäle zusammenhan-
gen und nur durch die Uautporen nach aussen münden.
Species von Sycolepi» («) :
"128, S. incrustans, H. Norwegen. Schilling.
*4S9. S. pulvinar, H. Indischer Ocean. ScBKRRBiGEn.
Tl. Ordo : lltetrosrca, H.
Ordnungs-Characler: Der reife Kalkschwamm bil-
det einen Stock, dessen constiluirende (reife) Perso-
nen oder Personen-Gruppen die Formen verschiedener
Genera und selbst verschiedener Familien der Relk-
schwämme zeigen. (Trotzdem die auf einem Cormus vereinigten
Personen reif sind, d. h. Sporen oder Embryonen enthalten, und also
sich fortpflanzen , zeigen dieselben so verschiedene Formen , dass man
sie isolirt als Angehörige nicht »Hein verschiedener Species, sondern
s<^r verschiedener Genera und Familien betrachten wurde.)
XVII. Familia: Theoometrida, R.
Familien-Cbaracter; Der reife Kalkschwamm bildet einen
Slock , dessen conslituirende Personen die Formen verschiedener Ge-
nera reprasentiren , und dessen Canalwande von einfachen Hautporen
durchsetzt sind [wie bei den Soleniseiden).
40. Genus : Guaooha, H. H.
Gattungs-Character: Ganale des Stockes einfach, inwendig
weder zottig, noch fächerig.
/
[. Sjmoptische Tabelle über die Familien der Ealkschwamme mit
vorwiegender Bertcksichtignng der Individnalitäta-Terhältniasfl.
MHgenwand solid, ohne llaulporon
und ohne Parielal-Canäle. 1
Prosycida.
1. Monosyce.
Kalkschwamm eine Per-
M. W. mil einfachen llaulporen. *
M. W. mit regulären radialen Pnrie-
Olynlhida.
son mil einer Hundöff-
nurg.
lal-Canülen. 3
M- W. mit irregulären verästelten
Sycarida.
Parielal-'Canälen. 4
Dyssycida.
Stock mit entwickelten Personen.
!l. Polysyca.
M. W. mit einfachen Hautporen. 6
Slock mil rudimentären Per-
Tarromida .
Kalkschwamm ein Stock
mil vielen Mundöffnun-
M. W. mil regulären radialen Parie-
Rcn,
tal-CBuälen. 7
M. W. mit irregulären verästelten
Syuödendrida.
Parielal-Cantilen. 8
Sycothamnida
III. Coenosyca.
M. W, mit einfachon Hautporen. S
Nardopsida.
Kalkschwamm ein Slock
M. W. mit irregulären veröslcllon
Parle tol-Canälen. 10
M. W. mit einfachen Haulporeri. H
Clislolynlhida
IV. Clistosyca.
M. W. mit regulären radialen Parie-
Kaikschwamm eine Pei'~
lBl-Canä!en. 1!
. Sycöcyslida.
M. W. mit irregulUren verasLeltcn
Parietal-Canälen. 1
M. W. mil einfachen llaulporen. U
. Auloplugmidu
V. Cophosyca.
M. W. mit regulären radialen Parip-
Kalkschwamm ein Stock
tal-Canälen. 15
Sycopliyllida.
ohne MundtiRnune.
M, W. mit irregulären veräsleltcn
Parielsl-Canäten. 16
Sycolepida.
VI. Melrosyoa.
Kalkschwamm ein Stock,
welcher aus Pereonen
M. W. mit einfachen Hautporen. 17
Thccomelrida.
und Slöclten verschie-
M. W. mit regulären radialen Parie-
dener Arten und Gat-
tal-Canälen. 18
SycoraelrJda.
TrodramuB eiiirs Systtms der Kalksiliwinune.
n. Synoptiiche Tabelle Übar die Familieo der Kalkichwämme mit
vorwiegender Beräcksichtigang der Canaliaations-VerhaltniiHS,
I- Aporcula
Uagcnwanrl solid ,
Hautporen und
Parielal-Canalo.
Eine Pcirson
mit Hiner MundöfT-
niing.
Personen entwik-
Olynltiida.
EinSlock mit
kell, alle mit Mund-
II. Microporeula.
vkleti Mund-
dffnunj;. S
Soleniscida.
Persuucn rudimen-
luckenj , ohne Parielal-
tär, vieic ohne
HundÖfTnuDK' 6
Tarromidn.
Canäle.
Ein Slock mil
L-iuer MuodöffnuiiB. 9
Ein Stock ohn
e MundöHonn}!. ((
III. OrlhoporPUta.
Mngenwund mit geraden,
rege I IQ U SS igen, radiulcn
Parictal-C analen.
IV. CIsdoporeutci,
Vagen wand mil angere-
den, unrcgclmdssigen,
veräslellen Parictal-Ca~
nllen.
Ein Slock, welcher aus Personen
uud Stüoken verschied. Gal-
lungen zusammengesetzt ist.
Eine Person mil einer Muiidün-
nung.
Ein Stock mit vielen MundolTnunp.
Eine Person ohne MundtifTnung,
Ein Stock ülinc MutidOfTnung,
Ein Stock, welcher aus Personen
und Stücken verschied. Gat-
tungen zusammen gesetzt ist. IB. Sycoraetrida,
Eine Person mil einer MundtilT-
T. Tbecometrida.
a. Sycnrida.
7. Sycodondrida.
I. Sycocystida,
5. Sycophyllida.
Ein Stock mil vielen MundölTnung.
Ein Stock mit einer MundölTnung.
Eine Person ohne UundölTnung.
Eine Stock oline Uundöffnung,
I. Dy.isycida.
:. Sycothamnida.
. Coenostoioida.
. Lipostomida.
i. Sycolepida.
25-1 F-rns! BieeUI, PrndrontDS einiis SjHiPiut rli'f Knibsrhwitini
Spetics von Guanchn (1):
130. G. blanca, M. M. Lanzorote. M. M. (Der Stock trägt in
seinfir fajjchslen Entwickelungs-Form auf sich vereinigt Formen Ton
vier GatlungeQ , nämlich: 1, Olynlhus, 2. Leucosolenia , 3. Tarms,
4. Nardoa.)
'i1. Genus: Theoometra, nov. gen.
Gattungs-Characler: Canüle des Slockes fächerig , inwendig
von unregelmiissigen Scheidewänden durchsetzt.
Species von Thccometra H):
'13i, T. locuiosn, H. Australien. [Der Stock tragt in seiner
hiichsten Enlwickelungsforni auf sich vereinigt Formen vod drei Gal-
tungen, nämlich: i. Soleniscus, 9. Glalhrina, 3. Auioplegma).
XVIll. Familia: Byoometrida, II.
Familien-Character: Der reife Kalkschwamm bildet einen
Stock, dessen constiluirende Personen die Formen verschiedener Ge-
nera repräscntiren , und dessen Caualwilnde von regulüren radialen
Ganülen (Radinl-Tuben) durchset^zl sind [wie bei den Sycodcndriden).
' i'i. Genus: Sycometra, nov. gen.
Gatlungs-Character : MundtifTnungen der Personen einfach,
ohne Rüssel und ohne Peristom-Krone. Skelct wie bei Sycarium.
SpeciE.s vtin Sycometra W :
'132. S. compressa, U. Norwegen. [Der Stock tragt In seiner
höchsten Enlwicketungsforni auf sich vereinigt Formen von acht Gat-
tungen, nämlich: 1. Sycarium, 2. Artynas, 3. Sycidiuni, 4. Aslyniuni,
. 5. Sycocyslis, 6. Arlynella, 7. Sycophyllum, 8. Artynopfayllum.]
('
BenerknngCB über Cjpridina.
Frito MüUer.
Mil Tafel VIII u. IX.
Die folgenden Bemerkungen Über Cypridina stUlzeo sieb auf die
Untersuchung von drei Arien , die bei Deslerro in der NaLe des Stran-
des gefangen wurden. Zwei derselben, Cypridina Agassizii
(Fig. i3— 26) und G. nitidula (Fig. 9—12), tragen Kiemen und
schliessen sieb im Bau der Gliedmaassen an Grube's C. oblonga an.
Die drille, C. Grubii (Fig. 1 — 8), ist kiemcnlos und erinnertdurch
xwei auffallend lange Endborslen der Ftlhler an Philomedes lon-
gicornis Lilj. — Ich behalte für alle drei, wie Überhaupt für alle
Muschel krebse, die seitliche Augen und die bekannten »geringelten An-
hange« besitzen, den Namen Cypridina hei; denn so lange nicht der
Büu der Gliedmaassen bei der Hehrzahl der bekannten Arten so weit er-
forscht ist, dass man d'tn systcmalischcn Werth der einzelnen Merkmale
und die verwandtschaftlichen Beziehungen der einzelnen Arten mit
einiger Sicherheil übersehen kann, erscheint mir die Spaltung der Gat-
tung verfrüht.
1. Der griffeiförmige Stirnanhang.
Gbi'SB sah bei Cypridina oblonga einen d*^ien, grifTelförmi-
Ren, zweigliedrigen Anhang, der ihm innen ' unde der Fühler zu
sitzen schien, jedoch nur einmal, und^ jor rechten Seile be-
merkt wurde '. Ueber dessen ßcAy^ . er im Ungewissen. —
Einen Mhnlichen Anhang besitze^ beobachteten Cypridinen.
I) Archiv Tür Naturgesch. XXV, Bi- .as, — Tat. XU, Kig. 5,o; Kig. A,a.
256 Friti IfilK
Er ist in der Thal nur einmal vorhanden, enlsprln^i* jber nichl vom
Grimdgliedc der Fühler, sondern in der Mittellinie, flicht unter dem
grossen un paaren Auge.
Von besonderer Lange, fast so lang wie der Endschenkel der knie-
fürmigen Fuhier, ist der gri Hei förmige Anhang bei Cypridina Gru-
bii (Fig. 2,a Fig. 3.) Wie bei C. oblonga besteht derselbe, aus iwei
Abiheilungen oder Gliedern. Das Grundglied ist etwas kürzer und
dicker als das Endglied und seine Haut derber; gegen das Ende ist es
schwach kolbig angeschwollen. Man erkennt in seinem Innern Längs-
sLreifung, die wohl von zarten Fasern herrührt und zwischen den Fa-
sern sind in dem koibig verdickten Theüe feine Körnchen eingelagert
(Fig. 3 a]. Das zarthaulige Endglied, das sich gegen die Spitze schwach
verjüngt und abgerundet endet, hat einen ganz wasserhellen Inhalt,
Bei Cypridi na Agassi zii hat der grilTelförmige Anhang (Fig. 20 u
Fig. 21) etwa die halbe Lilnge des Endschenkels der Fühler. Er sit;t(
auf einem besonderen Vorsprunge dicht unlerhalb des mittleren Auges ;
seine beiden Glieder sind von etvv;» gleicher Lunge, das Grundglied aber
ist nur halb so dick als das Endglied , gegen das Endo halsarlig einge-
schnürt und am Grunde mit einem doppelten Kranze zartester Hürchcn
umgeben. Das Endglied ist am Grunde bauchig angeschwollen und nach
dem abgerundeten Endo zu schwach verjüngt.
Bei Cypridina nitidula erschien, an einem in Holzessig ge-
tödtet«n Thierc , der Anhang als einfacher ungegliederter, am Grunde
etwas verdickter Stab mit abgerundeter Spitze.
Han wird diesen Slirnanhang der Cypridinen als Sinnes Werkzeug
betrachten dürfen; welcherlei Empfindungen es vermittle, darüber
wage ich keine Vermulhung. Ein »frontales Sinnesorgan«, das freilich
nur in seiner Lage mit dem der Cypridinen Übereinstimmt, wurde be-
kanntlich von Cikvs bei verschiedenen Copepoden nachgewiesen '.
2. Die PulzfUsse.
Die Cypridinen besitzen jederseits etwa in der Mitl« der Körper-
länge einen langen, dünnen, »geiingeilen Anhang,» (Fig. ibh, Fig. 19),
der nach dem Rücken in die Hübe steigt und gegen die Spitze hin mehr
oder minder zahlreiche, steife, spitze Borsten tragt, welche ihrerseits
wieder mit kurzen, spitzen Dömchen besetzt sind. Milse Edwa&ds
deutete diese AnhUnge als upalles ovif^resn^ und alle späteren Beobach-
. S. 55. Taf. XXXL Vig. *7.
üices. Explication desPlanches, pag. SB.
BemfrkuniKD dber Cypridina. 257
ler, dip sich üborhaupt über deren Verrichlung ausgesprochen huben,
sind ihm in dieser Deutung gefolgt; so Baibd, Grube und Clau.s. Grube
erinnert dabei »an das ganz ähnlich gebildete Oi^an, welches beim
Weibchen von Linineiis brnchjurus als BUckenast des 9, und
10. Fusspaars auftritt und hier nicht zum Halten, sondern zum Tra-
gen der Eier dient, indem sie sich um dasselbe zu einem Klumpen 'I
backen«, — Eier hat freilich Niemand weder an diesen ueierlragenden
Füssen«, noch Überhaupt innerhalb der Schale von Cypridina gesehen, I,
und so hlttt^ man sich wenigstens wie Gbibe auf eine blosse Vermu- I
thung beschrünken und nicht wie Andere jene Deutung als ausgemachte |
Thatsache hinsl£llen sollen.
Bekanntlich wurde bei Cypris dem letzten Fusspaare ebenso all-
gemein und ebenso ohne jede thats3chlicbe Begründung dieselbe Lei-
stung zugeschrieben, bis W, Zenker die jedenfalls richtigere Ansicht
aussprach, dass diese ebenfalls aufwärts gebogenen, sehr beweglichen
FUsse dazu dienen, »die grosse Kienicuplatte mit ihren gefiederten flaa-
ren zu reinigen». ' Das hatte auch für die geringelten Anhiinge der Cy- "
piidinen auf den rechten Weg leiten künnen. Dieselben sind in der |l
Thal nichts Anderes als PutzfUsse. Beobachtet man eine lebende .1,
Cypridina nitidula oder cincC. Agassizii mit nicht zu undurch-
sichtiger Schale, so sieht man die geringelten Anhiinge, die mit ibi'eni
meist rechtwinklig abstehenden Borstenbesatz fast wie die Bürsten aus-
sehen, deren man sich zum Reinigen von Glascylindem bedient, in fast
ununterbrochener, lebhafter Bewegung. Einem Ringelwurm vergleich- v
bar, der aus seiner Bohre weit vorgestreckt nach allen Seiten umher- i
tastet, kriechen sie und biegen sie sich nach allen Richtungen ; naraent- ^ ..
lieh an den Kiemen und in deren Umgebung fegen sie und putzen sie
fleissig hin und her. Mit den Eiern, die allerdings wenigstens bei C.
Agassizii innerhalb der Schale der Mutter sich entwickeln, haben sie
nichts zu schaffen. Sie sind bei beiden Geschlechtern in völlig gleichsft^
Weise ausgebildet. 'ildete
Ich habe die "geringelten Anhänge« Pulzfüsse genannt und »ben,
mit schon ausgesprochen, dass ich sie als ein Gliedmaassenpaar be^^r
trachte ; auch von Milne Edwabus, Büro und Dtn* werden sie als FUsse
bezeichnet (pattes ovif^res, oviferousfeet, pesad ovapertinens), Gri'be, r
der sie, wie erwähnt, dem Rückenast des 9. und 10. Fusspaares der '
weiblichen Limnetis veiT;leicht, sagt von ihnen; »Bei Cypridina
scheint es gar nicht mehr zur Bildung einer freien Fussplalte zu kom-
men und blos dieser Anhang ausgebildet zu sein.« Gegen diese Auf-
r W. Zgrkeh, .Sluilidi über die Krebsthiere. S. M.
SSS Friti HUI«,
fassung ist eiDzuwenden , dass die hinteren FUsse der Muschelkrebsv
{Cypris, Cythere) gar keinen Rtlckenast, sondern überhaupt nur eint
einzige Güederreihe besitzen, also ihr gar nicht vorhandener Rüokenast
sich nicht wohl in den geringelten Anhang umwandeln konnte. Zu-
dem ist auf den Vei^^leich mit den Eierlrügern der Phyllopoden kaum
Gewicht zu legen , da die Aebnlichkeit der letzteren mit den Pulzfüssen
der Cypridinen sieb darauf beschrankt, dass beide nach oben gerichtel
sind; im Uebrigen ist ihr Bau so verschieden, als ihre Verrichtung ;
jene sind ungegliederte, nackte Fäden, diese in zahlreiche Hinge geglie-
dert und mit ansehnlichen Borsten bewahrt. Nach Claiis' »erschernl
das letzte Extrcmitülenpaar der Uuschelkrebse nach dem Rücken lu
emporgerichtet, verkümmert zuweilen and wird in seiner Leistung durch
einen gekrümmten, geringelten Faden ersetzt, welcher zum Tragen der
Eier unterhalb der Schale dient (Cypridina).a Danach scheint Gui-'s,
wenn ich ihn recht verstehe , die i^eringellen Faden« nicht als das um-
gewandelte Fusspaar, sondern als ein selbständig entstandenes Gebilde
zu betrachten, das die Arbeit des verloren gegangenen Fusspaare.«
übernommen hat. Man würde bei dieser Ansicht sich die Verkümme-
rung des Fusspaares als Folge der Ausbildung der geringelten Fitden
denken können , die seine Arbeit besser verrichteten und es dadureli
entbehrlich machten, etwa wie bei einigen Acanthaceen (Hendozi^i
der Kelch verkümmert, weil er durch die Deckblatter entbehrlich ge-
macht worden ist.
Einfacher jedoch und natürlicher scheint mir die Annahme, das«
die geringelten Anbünge der Cypridinen nichts Anderes sind, als eben
das umgewandelte letzte Fusspaar der Husc hol krebse. Bei Cytbere
sehen wir dieses Fusspaar in seiner ursprünglichen Form und Verrich-
tung, dem vorhergehenden gleichend, abwärts gerichtet, der Ortsbewe-
gung dienend. Bei Cypris ist dasselbe Fusspaar schon nach hinten
■nd oben gebogen und zu einer neuen Leistung verwendet, doch im
/ch sehr wenig veründerl ; nur sind seine Glieder länger, schmach-
^.«r geworden und haben, wie mir scheint, eine bedeutend grössere
Beweglichkeit erlangt ; auch die Endklaue ist sehr beweglich und bis-
weilen [nach ZBifKEii) kammarlig gezähnt. Bei Cypridina sind die
Putzfüsse in hohem Grade für ihre neue Verrichtung vervollkonimnel
worden; ihre Beweglichkeit ist aufs Höchste gesteigert, indem ihre
Glieder in zahlreiche Ringel zerfallen sind, wie es ja auch mit einieluen
Gliedern an verschiedenen Fusspaaren mancher Garneeien [Lysmaia,
Stenopus) der Fall ist, und sl^tt der sp<1rlichen Borsten von gewOfan-
4) Cladi, UruDdzuge der Zoolagie, «BBS. S. aos.
Bemerkongf n über ryprldinit. 359
liehem Bau, die sich bei Cypris findeD, sind sie mit einer vortreff—
lieben Bürste ausgerüstet.
Bei dieser Gelegenheit darf ich wohl darnuf hinweisen, dass treff-
lich ausgerüstete PutzfUsse auch unler den höheren Rrustern, bei Po r-
cellana, Hippa und Pagurus vorkommen. Es sind dieses die eben-
falls nach dem Rücken in die Höhe gesciilagenen , aus dünnen, sehr
beweglich mit einander verbundenpn Gliedern gebildeten Füsse des
letzten Bruslringes, die man bisher allgemein als »verkümmerte (Milk»
Edwards, Thoscbel, Voct, Gkrstaeckek, Claus etc.), »scheinbar über-
flüssiges (Vogt) Anhünge betrachtet hat. Ich wurde auf ihre Bedeutung
zuerst aufmerksam bei einer Porcellana (Polyonyx Creplinii F.M.),
die sich in der Röhre von Ghaetopterus aufhält und welcher wegen
des reichlichen Schleimes, den ihr Wirih absondert, Reinlichkeit be-
sonders Noth thut. Ich hielt ein eiertragendes Weibchen dieser Art
einige Zeit lebendig und dieses liess die durch Lange und Beweglich-
keit ausgezeichneten Pulifüsse fast nie ruhen ; bald senkte es sie tief in
die KiemenhOhlc, bald kehrte es seinen Rücken ab, und bald fuhr es
damit zwischen den Eiern herum wie ein Bäcker, der Teig knel«t. Spa-
ter habe ich auch bei anderen Porcellanen, bei Hippa und bei Pagurus
die Putzfüsse in ThJiligkell gesehen; sie dienen bei diesen Thicren
hauptsächhch zum Reinigen der Kiemenhöhle. Ihre letzten Glieder sind
sehr reichlich mit mannichfach gestalteten Borsten besetzt, die Bürsten,
Kümme etc. darstellen; bei Hippa sind ausserdem an diesen Putzfüs-
sen die Innenründer der Scheere sehr zierlich gezahnelt. Ware man
nicht gewöhnt gewesen, die Bezeichnung »rudimentär« und andere, die
früher eine nur bildliche Bedeutung hatten, eben deshalb ^5^'^h
leichlferlig und gedankenlos anzuwenden , so hatte der erste fii\ i"
ihre priichtige Beborslung überzeugen müssen, dass man in ii>^
PutzfUssen der Anomuren nicht verkümmerte FUsso vor sich habe,
sondern ira Gegenlheil für eine besondere , sehr wichtige Verrichtung
umgestaltete und zu grosser Vollkommenheit ausgebildete
Gliedmassen. Bei den Krabben, die keine besonderen PutzfUsse haben,
wird, beiläufig bemerkt, die Reinigung der Kiemen durch die in der
Kiemenhöhle spielenden Anhänge der KieferfUsse besorgt , deren Bor-
stenbesatz eine reiche Husterkarte verschiedener Kammformen bietet.
3. Die Riechfilden und Spürborslen der Fühler.
Die Fühler (antennes sup6rieures pediformes M. G&w.) sind hei
verschiedenen Arten von Cypridina in verschiedener Weise geglie-
dert und roil Borsten ausgerüstet; selbst die beiden Geschlechter der-
1
260 FrilzIMailct,
selben Art «eigen Verschiedenheiten in dieser Beziehung und mehr noch
in der Ausbildung der RiediCäden.
Von Cypridina Grubii hahe ich nur Mönnchen gesehen, üi.'
Fühler (Fig. 2,6. Fig. 4) zeigen sechs deutliche Glieder; das erst« isi
wie gewöhnlich borstenlos und bildet mil dem folgenden ein Knie; dns
zweite und dritte tragen nur wenige kurze Borsten ; am Ende des \'ier-
len stehen, und zwar an der Unterseite, drei lungere, gerade, einfachf
Borsten und über ihnen die Riechf üdenborsle {Fig. 4,a). Die.*)'
ist mehr als doppelt so lang als die beiden Endglieder des Fühlers zu-
sammen und lilufl wie eine gewühnliche Borste in eine feine dunkelge-
randete Spitze aus; ihr unteres Drittel ist spindelförmig verdickt und
das zweite Sechstel ihrer Lilnge an der Unterseite mit einem dichten
Büschel zahlreicher RiechfJden besetzt, deren Lange etwa der halben
Länge der Borste gleichkommt. Am Ende des letzten Fühlergliedes
stehen 5 (oder 6?) grössere Borsten , von denen i eine besondere Er-
wähnung verdienen. Zwei derselben (Fig. i,y] laufen nämlich nicht in
eine scharfe, dunkclrandige Spitze aus, sondern in einen walzenför-
migen, am Ende abgerundel«n , sehr zarthüutigen Faden, der ganz li"^
Aussehen eines Hiechfadens hat. Die beiden anderen Borsten (Fig. i,<^
zeichnen sich durch ihre grosse I.Hnge aus, welche die des ganzen Füh-
lers überlriffl; in der ersten Bfjlfte ihrer Länge tragt jede derselben
eine Reihe von sieben kurzen Haaren; die beiden ersten sind gewöhn-
hche Haare, die fUnf folgenden zarlwandig, Riechfäden ähnlich.
BeimMünnchen vonCypridinaAgassizii (Fig. SO, ö] ist die Glie-
derung der Fühler ziemlich dieselbe, wie bei C. Grubii, nur sind das
ü. und 6. Glied auf der Unterseile mit einander verschmolzen ; oberhalh
sind sie deutlich geschieden ; an den Seilen verlüuft die Grenzlinie, all-
mählich undeutlicher werdend, schief nach unten und hinten. Die Bor-
sten am Ende des Fühlers scheinen von einem besonderen, ganz kur-
zen siebenten Glied e getragen zu worden. — Der Riechfadenbtl-
schel (Fig, 20, d. Fig. 23) steht an derselben Stelle wie bei C. Grubii
und ist so mächtig und eigenthümlich entwickelt, dass man ihn auf den
ersten Blick eher fUr einen besonderen Ast des Fühlers, als für eine um-
gewandelte Borste nehmen möchte. Es fehlt nümlich das nackte Ende
der Borsle, welches dieselbe bei C. Grubii sofort als solche erkennen
lassl; der spindelförmig geschwollene Theil, hier allein vorhanden,
reicht etwa bis zum Ende des Fühlers ; seine grösste. Dicke kommt elwii
einem Viertel seiner Lilnge gleich. Seine Wand ist dick, stark und
unregelmilssig quer gerunzelt. Die Riechrdden stehen in etwa sechs
Gruppen am oberen, in etwa fünf am unteren Rande; auch die Spitze
gabelt sich in meLrere Rieihfadea. Nach aussen und hinten vom Riech-
RrDierktineeLi ilhpr CypridiiiH. 26t
EüdenbUschel steht eine gewöbniiche Borste. Am [Lniie des suclislen
Gliedes und zwar an der Unterseite steht eine starke Borste , die am
Ende in zwei kurze, dünnwandige Fäden mit abgerundeter Spitze aus-
lauft. — Unler den Endborsten des Fühlers sind hei-vorzuheben : eine
stiirke, klnueudstige Borst« {Fig- i~^s] mit leicht aiifwüits gebogener
Spitze , ' etwa so lang wie das 5. und 8. Glied zusammen , und eine
Borste {Fig. iT,y), diedünner als die übrigen ist und in einen zarlhüu-
tigen Faden mit abgerundeter Spitze ausläuft.
Beim Weibchen von Cypridina Agassizii (Fig. 17} steht an
der Stelle des RiechfüdeDbüschels eine gewöhnliche Borste (Fijj. 17,»);
am Ende des folgenden Gliedes (wahrscheinlich dem 5. und 6. des
Hünnchens entsprechend) findet sich an gleicher Stelle, wie am G. GHede
des Mannchens , eine ühnliche Borste wie bei jenen, die aber am Ende
in drei (bisweilen vier"?) Fäden sich spaltet. (Fig. 17,;?). Die Endbor-
sten gleichen denen des Männchens ; doch sah ich nur an einer dersel-
ben, die durch Sfürmige Krümmung sich auszeichnet (Fig. 17, if), drei
kurze, blasse, seitliche Fäden, während solche beim Männchen zahl-
reicher vorkommen.
Bei dem Weibchen von Cypridina nitidula ist die Beborstung
der Fühler (Fig. 11) fast ganz wie bei C. oblonga Gr. — Bei letzterer
sind das dritte und vierte Glied der Fühler von C. Grubii und C.
Agassizii in eins verschmolzen; bei C. nitidula verschmelzen
damit auch noch die'beiden folgenden Glieder. Dagegen ist das End-
glied (beim Milnncben von C. Agassizü das 7.) sehr deutlich abgesel/t.
Die Riech^den börste ist dicker und kurzer, die sechs Biechfiiden an
derenEnde dagegen viel langer, als beiC. oblonga. Unter den End-
borsten läuft, wie bei C. Agassizii, eine (Fig. 11,^) in eine riechta-
denähnliche Spitze aus.
Bei einem Männchen (Fig. 9), das vermuthlich zu derselben Art
gehört, bildeten die Riechfäden ein dichtes Büschel wie bei C. Agas-
sizii, wahrend zwei der Endborsleo ungemein verlängert sind , wie
hei C. Grubii.
Ich kann mich nicht entsinnen , bei anderen Rruslem Fächer oder
BUscfael von Riechfäden am Ende oder an der Seite gewöhnlicher Bor-
sten gesehen zu haben. Die Endborsten mit zarthautigem Endfaden,
dessen abgerundete Spitze bisweilen das Licht etwas starker bricht,
sind gewöhnlichen Hiechr<iden schon ähnlicher. Was schon Claus als
wahrscheinlich aussprach ,. dass die Riechfaden »morphologisch den
dunkel contourirten Haaren und Borsten entsprechen mochten ',ii wird
l| Clans, die (reiletfenden Copepodcn. 1SS1, S. S5.
Bd. V. J. 18
262 Frili Miillfr.
durch ihr Verhalten bei C ypridinn /ur Gewissheit, — Ebenso eiücn-
Ihllmtich sind die zarlen, seitlichen Fadchen an einiclnpn Endborsl^ri
nameDlIicb un den beiden lan^^eii Borsten derC Grubii. Diese lan^i^n
Kndborsl«n, die Liubborg als Gattungsmerkmal ven^erlhet, dürfU'ii
eine EigenlhUmiicbkeit des mänDÜchen Geschlechtes sein und als Spür-
barsten beim Aufsuchen der Weibchen dienen ; ich habe sie wenig-
stens nur bei männlichen Thieren gefunden >.
4. Die Seh wimmfusse (npatles natatoiresu M. Env. »AeuB-
sere Anlennem Grubb).
Zunächst ein Wort Über die Benennung diesesGliedmaassenpaares,
für welches ich die allere Bezeicbnung von Milne Edwards beibehalle,
trotzdem kein Zweifel darüber obwalten kann , dass es dem zweileu
Fuhlerpaare der höheren Kruster entspricht. — Es mag zweckmässijj
scheinen , einander entsprechende (homologe) Theile überall mit glei-
chem Namen zu belegen , obwohl ich nichts Uebles darin finden kann,
dass wir beim Fisch von Brustflossen , beim Vogel von FlUgeln , beim
Hunde von Vorderbeinen, beim Menschen von Armen reden. Will man
aber gemeinsame Bezeichnungen für Bcihen enlsprecb ender Theile
einfuhren, so sollten dieselben so gewühlt sein, dass sie entweder über-
haupt nichts über deren Verrichtung aussagen , oder wenigstens von
der ursprunglichen Verrichtung derselben ausgehen. Es Hesse sich
etwa rechtfertigen, die FlUgcl der Vt^el als Vorderbeine zu bezeichnen ;
es wäre geradezu lacherlich, die Vorderbeine des Hundes Fltlgel zu
nennen. Und ganz ebenso wie die FlUgcl umgewandelte Beine, nicht
aber die Beine umgewandelte FlUgcl sind, so sind auch die Fühler
derKruster umgewandelte SchwinimfUsse, nicht aber die SchwimmfUssc
voDCypridina,Daphniaetc. umgewandelte FUhler. Es scheint mirdaber
A] Man erinnert sich, dass b«i den ktönncbeD einiger anderen Krusler die bin'
leren Fühler ausserordentlicb veriSogert sind; so bei den Cumaceen und elaifHti
Hyperinen [den Hypäriens anormales M. Eav.) Dabei sind diese Kubier so
dünn und muskeischwacti , dass sie nicht zum Halten , sondern offenbar nur zum
Aurspüren der Weibclien dienen können. Beachlenawerth ist, dass dieselben FUli-
ler, die bei den Mlinnchen so ungewöhnlich verlängert sind, bei den Weibchen so-
wohl der Cumaceen, als der Hypäriens anormales vorkUramern , oder so-
gar (in der Gattung Brachyscelus Sp. Bäte] ganz fehlen. Ohne dies Verhalleu
damit vollständig erklären zu wollen, will icL darauf hinweisen, dass die Männchen
diese Fühler nuDdann in den ausschliesslichen Dienst des Geschlechtslebens zieheu
konnten, wenn ihnen keine anderweitige wichtige Leistung oblag. IQ diesem b'a}W
aber, wenn sie anderweitig entbebriicb waren, konnten sie bei den Weibeben leicht
verkümmern.
ßeinerknn^n nbrr Cypridlii*. 263
verkehrt, sie Fühler (Anlennen) zu nennen, blos weil sie bei andern
Krustern zu Fühlern geworden sind ^.
Das dicke , muskelreiche Grundglied und die langborstige Geissei
der SchwiramfUsse (Fig. 2, Fig. 15, Fig. 20,c) wiederholen sich in
sehr gleichförmiger Weise bei allen Cypridinen ; um so mannichfacber
gestaltet sich nach Art und Geschlecht der innere oder Nebenast dieser
FOsse. Er wurde von Baihd vermisst beiCypridina Brendae'; win-
zig und ungegliedert fand ihn Gkube bei C. oblong»; zweigliedrig,
mit zwei kurzen, gekrUmmten Endklauen ist er nach Baird bei C. Mn:
AifDKKi^. Die vodBaibd undGiiitBE untersuchten Thiere waren vermulh-
lich Weibchen. Zweigliedrig ist der Nebenast auch bei dem Weibchen
vonC ypridina Agassizii [Fig. 20,;') ; das erste Glied ist kurz, das
zweite reichlich dreimal so lang, fast so lang, wie das dicke Grundglied
des Fusses, es ist mit zarten Härchen besetzt, gegen das Ende verjungt
und tragt eine einzige, ihm an Lunge etwa gleichkommende Endboi-ste.
Bei den Mannchen voD Gypridina Agassizii (Fig. 83,^), und
C. Grubii (Fig. li;, sowie bei dem vermulblich zu C. uilidula ge-
hUrigen Männchen ist dieser Nebenast der Schwimmrusse dagegen drei-
gliedrig und bildet ein Greifwei^zeug, indem das Endglied sich klauen-
artig gegen das zweite Glied einschlägt. BeiC. Agissizii und niti-
da la ist das Bndglied um etwa ein Drittel kurzer, bei C. Grubii fast
eben so lang, als das zweite Glied; bei den beiden ersten Arten ist das
Endglied nach der scharfen Spitze zu verjüngt und hat einen glatten
Gretfrand; bei C. Grubii ist es in ganzer Länge gleich breit, gegen
das Ende stark gekrümmt, am Ende abgerundet und sein Greifrand ist
mit einigen HtSckerchen besetzt. In der Nahe des Gelenkes trägt das
Endglied auf der Aussenseite eine Borste, die bei C ypridina Gru-
bii nur kurz, bei C. Agassizii langer als das End{!lied selbst und
noch langer bei C. nitidula ist.
3. Die KinnbackenfUsse. (nPedes maudibulares« Dak*.
■MandibelpalpemGBUBB. (Fig. <!. Fig. 19. Fig. I-I,«/. Fig. SO,rf,
Fig. 24 und 23.)
Für FUsse, die an ihrem Grundgliede einen dem Kinnbacken der
4) Wenn MiLHE Edwards (Hist. nal. des Crust. III. pag. tili von diMi Copepo-
■leD tagt: ■tes antennps, . . de la seconde paire manquenl quelquerois el sont <l'au-
tros (ois Iransrormries en rames,* ao Ist Letzteres, wie wir Jelzl durch Clai'«
wissen, geradezu falscli ; sie siuil gerade in diesem Falle nicht umgewand fl i,
sondern haben ibre ursprüngliche Form und Verrichlung beibehalten.
1) Baird, Nat. Hist, of the BHtish Enlomostraca, 8. 1 Rt. Tab. \XIII. Flg. 6
») Baiu>, a, a. 0. S. 180. Tat. XXIl, Fig. B.
r
264 Frili Mfilln.
höheren Kruster entsprechf^ndcn Kaiiforlsalz trügen, ist wohl kein tref-
fenderer Name zu finden, als der Ihnen von Dan* beigelegte der Kinii-
backenftlsse (pedes mandibulares).
Grube hat das, was ich mit Da\a und Claus Kinnbacken fiissc
nenne, Kinnbackentaster (oder vielmehr in wissenscharHichereui
Deutsch: »Mandibelpalpen«) Renannlund noch andere wahrschein-
lich den beiden folgenden Gliedmaasscnpaaren zugehörige Theile ah
»sichelftirmigen Anbang« [Fig. \ö,e) und uMandi beilade« (Fig. I5,e] dem-
selben Fusspaare zugerechnet. Letzteres ist schon aus dem Grunde
nicht gerechtfertigt, weil dio Kinn backen füsse alle Theile wirklich be-
sitzen ■ auf die sie irgend rechlmiissiger Weise Anspruch machen kön-
nen. Aber auch abgesehen davon ist die Bezeichnung Kinnbacken tasU;r
nicht passend. Beiden Nauplius der Copepoden wie der höheren
Krusler (Peneus) sind die Gliedmassen des dritten Paares zweiüsti^o
SchwimmfUsse ; im Grundgbede derselben entsieht spater ein Kaufort-
satz, der Kinnbacken (Handibel). In dieseui Zustande verharren sie bei
den Muschelkrebsen und vielen Copepoden, Bei diesen Tbieren ist
also, wie Claus ' richtig henorhebt, der sogenannte Taster oder pri-
märe Theil und nichts Anderes, als der Larvenfuss selbst, withrcnd
wir den Kaulheil als ein secundüres Product des basalen Gliedes
anzusehen habenu. — Die Nauplius von Peneus verlieren nun beim
Uebergang in die ZoSa-Form diesen "Tastern vollständig; es bleibt
ihnen nur der anbanglose Kautheil. Ebenso sind die Kinnbacken aller
unmittelbar dem Ei enlschlUplenden Zo^a stets laslcrlos. Erst in Tseil
späterer Zeit sprosst bei vielen höheren Krustem aus dem anhanglosen
Kinnbacken wieder ein Taster hervor. Hier ist also der Kaulheil das
Frühere, der Taster das sp>iler Entstehende, gerade umgekehrt
wie bei den Muschelkrebsen und Copepoden. Möglich wäre
es nun allerdings, dass dieser Taster uichts Anderes isl, als der witv-
der erschienene und zu einem neuen Dienste verwandle Scfawimmfuss
des Nauplius, dass also die »Mandibelpalpen« der höheren und niede-
ren Kruster wirklich homolog sind. Es isl ja nichts Seltenes, nament-
lich bei Pflanzen, dass längst verlorene Theile gelogen Llich wiederer-
scheinen und auch dafür, dass solche wiedererschienene Theile aufs
Neue durch natürliche Züchlung befestigt und zu einer bleibenden
EigenthUmlicbkeit der An werden, könnte ich wenigstens ein schlagen-
des Beispiel geben. — Ebenso möglich ist es aber, dass der gegliederte
Anhang am Kinnbacken der höheren Kruster eine Neubildung ist, die
mit dem Schwimmfusse des Nauplius in keinem Zusammenband:
1) Claus, die Trc liebenden Copepoden, S. 56,
BemerkuDgen über CypridLiix. 265
Steht. Neue GliedeireibeQ haben sich ja ao deD ursprünglich cinf.icheii
vorderen Ftlblern vieler höheren Kruster entwickelt. — Die Bfzeich-
nung des dritten Gliedmaassenpaares der Gypndinen als Kinnhiickün-
Ulster (Handibelpalpe) ist daher voreilig, wenn dadurch ausgi-drUi-kl
werden soll, dass es dem Kinnbackentaster der höheren Kruslcr ent-
spricht; denn diese Annahme ist unerwiesen und wie mir scheinl un-
erweisbar. Ware sie erwiesen, so wurde die Bezeichnung dcniiocli
verkehrt sein , weil nicht die Taster der höheren Kruster , sondern die
ScbwimmfUsse des Naupltus und die ihnen noch so ähnlichen Kinn-
backenfUsse der Gypndinen die ursprungliche Form darstellen. Un-
passend wflre endlich der Name »Taslera auch, wenn er die Ldi^lung
dieser Gliedniaassen bezeichnen sollte, die offenbar mehr milder Orts-
bewegung des Tbieres und dem Herbeischaffen der Nahrung, ah mit
dem Belasten zu thun haben. Nach alledem darf wohl die Beieichnuni;
»Handibelpalpenu als ungeeignet zurückgewiesen werden.
Wie Zenker bei Gypris und Cytbere, Baird bei Cypridina
Brcndae und Grube bei C. ob longa, zähle auch ich an den Kion-
backenfUssen fünf Glieder.
Das kurze erste Glied ti^gt bei Cypridina Agassiiii und ni-
tidula einen silbeiförmigen, nach innen und oben gerichteten Fortsatz,
den Kinnbacken. (Fig. i2,a. Fig. 23). — Bei C. Grubii haln' ich
denselben nicht gesehen. Der gewölbte Rsnd des säbelförmigen Rinn-
backens ist bei C. Agassizii [Fig. 95) in seiner unteren HalfLe mit
mehreren [vier) Gruppen kurzer, steifer Haare besetzt, in seiner obci'on
Uglfte mit sechs zahnarligen Vorsprüngen versehen, von denen d(^r un-
terste ziemlich lang und scharf, die beiden obersten ganz flach und
stumpf sind. Die Spitze des Kinnbackens ist abgerundet und trii^l
zwei Borsten, die eine kürzer , dicker, gerade, blass, die andere oim'
gewöhnliche Borste, länger, dUnner, gebogen. Unter der Spitze limhi
sich am gewölbten Bande des Kinnbackens ein Qacher Ausscbnill , der
mit feinen Härchen besetzt ist und an seinem oberen Ende eine blasse,
abwärts gerichtete Borste trügt. Man fühlt sich versucht, riie zarten
HUrchen als Schmeckhiirchen zu deuten. — Die Haare und die zuhnnr-
ligen VorsprUnge des gewölbten Randes finden sich auch bei C ypri-
diJia nitidula; der Kinnbacken endet bei dieser Art in eine scharfe
Spitze.
Das zweite Glied des Kinnbackenfusses hat bei C. Agassizii und
nitidula an seiner hinteren, unteren Ecke einen rückwärts (gerich-
teten Vorsprung [Fig. ii,(i. b"i%.'ii,ßi, der am Ende vier steife Borsten
trügt. Bei C. Grubii fehlt dei-selbe.
Am Ende des zweiten Gliedes steht bei C. Agassizii ein kUln'n-
i
. V
iu iau;»*ac4tf ^««ichlaufender Nebenast (Fig. 24,y),
t tua i\ Grubii nicht gesehen habe.
XI Ä i •• «<ÄeItteü Arten ziemlich verschiedenen Bo-
..^u^x. • UNS? \trrweise ich auf die Abbildungen (Fig. 6,
*Vit «Sk«.*««! sofort die wesentliche Uebereinstiin—
^j^v. -^ '»tu^-sMJs mit dem dritten Gliedmaassenpaare
^ x^ . .»vicivrseits mit dem Kinnbacken (dem ersten
- ««ra •.'iii^there undCypris, zwischen denen es
^. »* j .U4 Muu^ steht. Wie bei Nauplius überwiegt
.. >^ u» >lii>?!U* b^eutend den Kaufortsatz und der Ne-
..X i.suuii^ uut dem Uauptaste. Bei Cythere und
^ .^ • A« h i>?i^ uur noch als Anhang des Kinnbackens, der
>^^.. ^^'»«^ *viU luiu Haupt^^isle gestellt und ausserdem bei
s.»\t>. viivixv^:^*:? uut breiten gefiederten Haaren be-
V
. ji x^vU utv«\ ^vv^** H.ubUv^k auf Nauplius und Cy-
i»i, av»c<s iMit t V >v vv h jKvh audei*en etwa diesem Fuss-
.liuuvicu tK*a%t ;^ v,^,S\;\ hat» und dass die von Grube
.. i VniK«i»rt> *"^N v>^*^; KnijiiUv bezeichneten Theile ihm
>^.j>\.j'<ii-^ivv,^ V ^ Kts^outUi^» und Putzfüsse sind bei
. . .4. * i* ..KAti -o^ v;tvniiv<uuuuender Weise gebildet;
^^. V .-xV.y*.x*«.uxv.»t vkxui l\Uili4s80U liegt, bietet dagegen
, ,,.»nu V M« ys\*v" ^« etiHnw Kreise so engverwandter
, ^^ XV »^., 'v%v \ v* vv \^\k uhrnl dar Diese Theile, die in
v-^ % \ ui^i ih C%(u\)maassenpaare von Cypris
\^vNx\v^^ N:)»vi %*<viv5^> schwierig zu untersuchen als
s,^. H-.N^ ^>\\\)i(V^<^ LiufiiORG und Grubb gegebenen
,\s V , j^ u Uv< luft; den Aufsatz von Claus Ȇber
^v ^^ ^»^.^us.v ko^iH> ich leider nicht. Ich selbst
^ V V « VN - j u eine einigermassen befriedigende
. . '..^»'»•-♦iNi'Nvti^^ dit'^sw Gliedmaassen gewonnen,
., ,v.vk V ^ uN.^^ dtMX>n Deutung im Einzelnen nur
v^ Ns > sc XvMitHUhungen aussprechen können, was
«V .\> xUH nur mulhmasslichen Deutungen nicht
N •
» >^* V si
. \ > '. StNN erschiedenheiten.
. . S^ v»o vWr Kühler , die vermuthlich nur
Ns v.^.vn ftuH^hfödenbttschel, sowie der
•V
Benierkuiigeii ober Cypridina. 267
Greifanhänge an den SchwiinmfUsscn , die dasselbe Geschlecht aus-
zeichnen, ist bereits gedacht worden. — BeiCypridinaAgassizii
sind die Männchen ausserdem viel kleiner (etwa 4,5 Mm. lang) als die
Weibchen , (etwa 2 Mm. lang) und daran auf den ersten Blick zu er-
kennen. MerkwUrdiij; ist es , dass ich von dieser Art stets bei weitem
mehr Männchen als Weibchen gefunden habe; eines Tages (12. Novbr.
i 865), an dem ich besonders glücklich im Fange dieser Thiere war, er-
beutete ich 57 Männchen und nur 6 Weibchen. — Von G. Grubii habe
ich überhaupt nur sehr wenige Thiere gefangen , unter denen sich kein
einziges Weibchen befand. — Umgekehrt habe ich von G. nitidula
nur Weibchen gesehen, wenn nicht, wie ich vermuthe, ein einzelnes
dieser Weihchen in der weisslichen Färbung und dem Glänze der Schale
gleichendes Männchen (Fig. 9) derselben Art angehört. In diesem Falle
würden die Geschlechter bei dieser Art sich auffallend durch die Ge-
stalt der Schalen und die Grösse der paarigen Augen unterscheiden.
Dass die Eier im hinteren Theile der Schale ausgebrütet werden , wie
ich bei Cypridina Agassizii fand, würde deren stärkere Wölbung
beim Weibchen, — die langen Spürborsten des Männchens würden das
stärkere Vorspringen des vorderen Schalentheiles bei diesem Geschlechte
erklärlich machen ; die grösseren Augen des Männchens würden eben-
falls nichts Auffallendes haben.
Ein letztes unterscheidendes äusseres Merkmal der Männchen bie-
tet ihr sehr ansehnliches Begattungsglied. Um dasselbe zu schwel-
len und so hervortreten zu lassen , tödtete ich die Thiere , wie Zenker
mit Cypris Ihal, in heissem Wasser. — Das Begattungsglied (Fig. 26,p)
besteht aus einem dicken, unpaaren Stamme , der sich in einen rechten
und einen linken Schenkel gabelt, von denen jeder wieder in einen
äussern und einen innern Ast sich spaltet. Bei C. Agassizii sind alle
diese Theile ziemlich schlank, der innere Ast erscheint als unmittelbare
Portsetzung des Schenkels, der äussere ist dünner; beide sind nach
dem Ende zu verjüngt und haben eine kable, abgerundete Spitze. Bei
C. Grubii (Fig. 7) sind die Schenkel kurz und dick, fast kuglig und
springen über die Ansatzstelle der Aeste vor ; auf dem Gipfel des Vor-
sprungs liegt dieGeschlechtsöffnung. Die Aeste sind ebenfalls kurz und
dick; ihr Durchmesser beträgt kaum ein Drittel von dem des Schenkels;
am Ende trägt jeder zwei blosse Borsten. Man fühlt sich versucht, das
Begattungsglicd für ein umgewandeltes, zweiästiges Fusspaar zu halten.
7. Die Kit^men.
Die Kiemen der Cypridinen sind bereits vor 30 Jahren von Philippi
gesehen und abgebildet, aber nicht als solche erkannt worden. Spätere
268 Fritz Müller.
Beobachter scheinen nur kiomenlose Arien untcrsueht m hahen. Ci-*rs
spricht noch 1866 allen Uuschelkrebsea Rcspirationsori;ane ah '. Mei-
nerAngabe, dass bei Cypridina ansehnliche Kiemen vorkommen 3,
scheint derselbe keinen Glauben geschenkt zu haben.
PuiLippi sah bei Asterope clliplica hinler den Pulzfiisscn vier
wurslförmige KCrper am Rücken emporslehen. Das sind die Kiemen.
An gleicher Stelle, und bei todlen Thieren in gleicher Geslsll, jedoch in
grösserer Zahl, finden sie sich bei Cypridina AgassizÜ [Fig. 15, ör.
Fig. 36, ör.) und nitidula.
BeiCypridina Agassizii entspringt joderseils dicht neben der
Mitlellinie des Rückens eine Reihe von sieben (bisweilen nur sechs)
schmalen, nach oben kaum merklich breiteren Bltlttem. Sie sind etwas
schief eingefügt, so dass der Hinterrand jedes ßlalles den Vorderrand
des folgenden von aussen deckt. Nahe dem oberen Ende trügt jedes
Blatl einen kleinen, warzenförmigen Vorsprung, durch den wohl eint;
zu enge Berührung derselben verhütet wird. Dem Rande des Blattes
entlang vei'lüuCt ein einfacher, ziemlich weiter Hohlraum.
Bei C. n i l i d u I a sind , wenn ich mich rechl entsinne, die Kiemen
zahlreicher. Dagegen ist ihre Zahl geringer bei ganz jungen Thieren.
Junge von C. Agassizii, die die Schale der Mutler noch nicht verlas-
sen hatten (Fig. 14], besassen nur drei Kionienpaare, die von vom nach
hinten an Grösse zunahmen Die hintersten Kiemen sind also wahr-
scheinlich die •lltusten.
Der Athemstrom wird unterhalten durch die ununterbrochenen
Bewegungen des mit langen Fiederborsten besetzten Blattes (Fig. 15,3),
welches Grubk den ngro.ssen, blallförmigen Anhang des ersten Haxillcn—
paares« nennt''. Ich habe vei'silumt, durch Zusatz feiner Farbthcilchen
zum Wasser festzustellen, in welcher Richtung der Athemstrom an den
Kiemen voillberlliesst. — Hinter dem letzten Riemenpaare tragt der
Rucken einen kurzen, walzenförmigen, unpaaren Fortsalz, der schief
nach vorn und oben gerichliit und mit einigen kurzen Härchen besetzt
ist. Bei C. Grubii fehlt mit den Kiemen auch dieser Fortsatz voll-
ständig.
Höchst auffallend ist es, dass die Kiemen auch bei Cypridina
oblonga zu fehlen scheinen, die sich im Bau der Giiedniaassen aufs
Engste an C. Agassizii und nilidula anschliesst. Grubb's Zerglie-
I) Claus, Grundzüge der Zoologie, S. lOS.
3) FuTZ HuLLEn, Kür Darwi», 1H64, S. IS.
3) In Gbdbe's Zeiclinung (Arch. für Nnlurgoscli. XXV, ß,t. I, Tar XII, Fig. t;
isl dies Blatl in vurkeiirlcr Lage ilargoslcllti der gi;*ü]btu ÜiihcI mit dem Kii>dcr-
bursleii ist niulit dur vordere, sondeni der hintere.
Benierkangen aber Cypridlna. 269
deruDg der C. ob longa ist eine so sorgfältige gewesen, dass er die
Riemen , wären sie in ähnlicher Weise wie bei den letzteren beiden
Arten entwickelt, kaum hätte übersehen können.
8. Herz und Blutlauf.
Ein Herz habe ich bei Gypridina Agassizii und nitidula
gesehen; die wenigen Thiere von C. Grubii, die ich gefangen, hatten
ganz undurchsichtige Schalen und ich kann nicht sagen, ob dieser
Art mit den Kiemen nicht etwa auch das Herz fehlt.
Die Schale der Gypridinen hängt nur auf eine ganz kurze Stelle
mit dem Rücken des Thieres zusammen ; an dieser von oben durch die
Schale gedeckten Stelle, nach hinten und oben von dem mittleren
Auge, liegt das Herz. Es bildet bei Gypridina Agassizii (Fig. 46]
einen kurzen Sack, der höher als lang und. unten weiter als oben ist.
Vom Laufe des Blutes , das arm an Blutkörperchen ist , habe ich
nur wenig gesehen. Die meisten Thiere sind zu undurchsichtig , um
mehr als die Bewegungen des Herzens erkennen zu lassen. Nur von
C. Agassizii habe ich ein paar fast farblose Thiere gefangen, die
durchsichtig genug waren, um die Blutkörperchen in ihrem Laufe
durch Herz und Riemen. verfolgen zu können. In das Herz tritt das
Blut von hinten und unten und strömt nach vorn und oben , wo eine
grosse Oeffhung zum Austritt des Blutes zu sein scheint. Von da sah
ich den Blutstrom sofort nach unten umbiegen, an der Yorderwand des
Herzens hinabsteigen und hinter das mittlere Auge treten. In den Rie-
men steigt das Blut an deren vorderem Rande in die Höhe , am hinte-
ren Rande wieder hinab. — In den Fühlern sah ich die Blutkörperchen
an der Beugeseite des Rnies der Spitze zu, an der Streckseite nach
dem Rörper zurücklaufen.
9. Allgemeine Bemerkungen.
Seit W. Zenkbr's vortrefflicher Arbeit über Gypris und Gythere
werden die Huschelkrebse fast allgemein als besondere Ordnung der
Rruster betrachtet. Das will sagen, dass sie sich selbstständig vom
Urstamme der Rlasse, und nicht von einem der anderen Hauptäste des-
selben abgezweigt haben. Nur Gbrstaecker * ordnet sie noch neuer-
dings den Branchiopoden unter. »Die Ostracodena, sagt derselbe,
»schliessen sich den Gladoceren , von denen sie gewöhnlich als eigene
1 Peters, Carüs und Gerstaeckbr, Handbuch der Zoolugic. 11, 1863, S. 399.
270 l-'ri'i M'lller,
Ordnung abgi'trennt werden, ehi'n so eng an, wie diese den Phyllo-
poden . . . Diu beiden ersten Beinpaaro derselben werden zwar gp-
wiihnlich als Mnxillen besehrieben, geben sich aber nicht nur durch
ihren in mehrere Lappen geschlitzten Stanjm, sondern auch durch die
besonders am ersten Paare slark entwickelte Kieme' als Analoga der
Cladoceren- und Phyltopoden-Beine zu erkennen. >' Gegen diesen Ver-
gleich der Riefer der Miischelkrebse mit den Beinen der Cladoceren
und Phyllopoden ist sicher nichts einzuwenden; nur passt derselbe
eben so gut auf die Kiefer der Copepoden und der höheren Kruster
(Malacoslraca) ; Damentlich bei den JugendzusUinden der letzteren ist
die Aehnlichkeit bisweilen eine Überraschende, so dass auch Claus den
Kiefer der Krebslarven »eine Art Phyllopodenfuss" genannt hat. Diesi»
Uebereinstimmung beweist also nirhts fUr eine nähere Verwandtscbafl
der Muschelkrebse und Branchiopoden ; was sie beweist, ist, dass
die Branchiopoden, Copepoden, Ostracoden und Malacoslraca erst lange
nach der Naupliuszeil, dass sie erst dann von dem gemeinsamen
Stamme sich trennten, als auch diese den KinnbackenfUssen zunächst
folgenden, bei allen diesen Ordnungen in ähnlicher Weise gebildeten
Gliedmaassen bereits entwickelt waren. Die Starameltern mögen zu
dieser Zeit dieselbe Gliedmuassenzahl besessen haben, wie jetzt Cy-
pris und Cythere; wie bei diesen hinkT den Kinnbacken noch vier
Gliedmaassen paare sich finden, so sprosst auch bei dem Nauplius
vonPeueus die gleiche Zahl von Fussstumnieln hinler den Kinnbacken-
fUssen gleichzeilig hervor. Die einzige Ordnung, deren Kiefer in ganz
abweichender Weise gebildet sind, bei der Überhaupt ahnliche Glied-
maassen fehlen, sind die Pectostraca Uaeckel's, die RankenfUsser
und Wurzelkrehse; diese mögen schon früher von dem Crslamnie der
Classe sich gelrennt haben; in diesem Falle wäre die AulTassung von
Alph. Muse Edwarrs die richtige, der sie als ßasinotes allen übri-
gen Knistern (Eleulheronotes) gegenüberstellt.
Wenn somit Gerstaücker's Bedenken gegen die von Zexkeh, wie
1 Die boi de» Krustern so htiutig vorkotDroeodcn .schwingenden Planen, dif
mil langi^n Fiederhaaron bpsalit zu sein pflegen . werden , ho man keine besseren
Kiemen hal fimlen können, immer noch haulig. wie hiervon Gwbiakme«, als Kie-
men beieichnel, — aber obne allen Grund. In alleu Fällen, wo ich diese so^e-
uannlan Kiemen an teilenden Thieren uotcrsDcbte, Jtittd ich, dass sie zu den blul-
nrmslen Thcilcn des Körpers (leliorea. Allerdings dienen sie meist der Athmung.
aber nur dadurch , dass sie einen Strom rrischen sUtembaren Wassers xufQbreD.
Noch bei den bficbsstphenden Kruslcrn , den Krabben , wird der Alhemstrom bv-
kannttich darcb eine solche schwingende Plane geregell . die das gleiche Rechl auf
denNsmcu Kieme tiRt. wie die enteprerbenden Plalloti an den Kiefern vonC) pris.
•s.
4 Für Darwin, S. 59, Anm.
i
.r
Beroerkangeii Aber Cypridina. 271
mir scheint, genügend begründete Abtrennung der Muschelkrebse als
eigener Ordnung nicht stichhaltig erscheinen, so können andererseits
die eigenthümlich entwickelten Riechföden, der Stirnanhang, die son-
derbaren Putzfüsse, die rückenständigen Kiemen der Cypridinen ,
nur als neue Stützen für die Auffassung Zenkeh's betrachtet werden,
welcher namentlich auch Claus, der eben so glückliche wie umsichtige
Forscher auf dem Gebiete der niederen Kruster, und E. Habckel in
seinem bewundernswerthen Versuche feiner »genealogischen Ueber-
sicht des natürlichen Systems der Organismen« sich angeschlossen «
haben. ^ * .
Für die ziemlich allgemein angenommene nähere Verwandtschaft
der Muschelkrebse mit den Bankenfüssern liefert die Betrachtung der
Cypridinen keinen neuen Anhalt, man müsste denn den unpaaren
Stimanhang den beiden Fäden vergleichen, welche an ähnlicher Stelle
bei den Larven der Bankenfüsser und Wurzelkrebse sich finden. Ich
habe früher ^ gegen die Annahme einer solchen Verwandtschaft mich
ausgesprochen und bis jetzt keinen Grund zur Aenderung meiner An-
sicht gefunden. Die Annahme beruht einzig auf der zweiklappigen
Schale der Bankenfüsserpuppen ; wenn man aber gesehen hat, wie
diese Schale durch das Zusammenklappen eines flachen Bückenschildes *;;
sich bildet, und wenn man unter den Phyllopoden als nah verwandte
Familien die nackten Ar temien , die von einem einfachen Bücken-
schilde bedeckten A p u s und die von einer zweiklappigen Schale um-
schlossenen Li mn adle n findet, kann man kaum auf diese Bildung
der Schale irgend ein Gewicht legen , wenn es sich um die Verwandt-
schaft ganzer Ordnungen handelt.
Unter den drei Familien der Muschelkrebse stehen offenbar die C y-
pridinenam höchsten; die hohe Ent Wickelung der Sinneswerkzeuge,
der Augen , der Biechfäden , zu denen sich noch der Stirnanhang und
die Schmeckhärchen (?) am Kinnbacken gesellen , sowie der Besitz von
Herz und Kiemen , weisen ihnen diese Stelle an. Trotzdem aber ste-
hen die Cypridinen in mehrfacher Beziehung der Urform der Gruppe
unverkennbar näher, als Cypris und Gythere; so darin, dass das
zweite Gliedmaassenpaar meist noch einen Nebenast besitzt, und dass
das dritte noch einen kräftigen umfangreichen Fuss bildet ; beides sind
Eigenthümlichkeiten , die an die Gliedmaassenbildung von Nauplius /^
erinnern. Wahrscheinlich gilt dasselbe von dem Begattungsgliede, das l'^l
viel einfacher gebaut ist, als bei Gythere und Cypris. Keinenfalls ^^|
haben sich die höherstehenden Cypridinen aus der niedriger ste-
.*
')|)
ii
272 F^i'» "fi'li'ti
henden Form der C y p r i s oder C j l li c r c , sondern als solbststitndiger
Zweig aus der Stammform der Musphelkrebae entwickell.
Auf dasselbe VerhalLniss stossen wir übrigens auch bei den frei-
lebenden Copepoden, unter welchen sunstreilig die Calaniden zugleich
mit den Pontelliden die höchste Stufe einnehmend (Clals). Auch hier
sind gerade diese höchst stehenden Familien in dem umfangreichen
Nebenasl der »hinleren Antennenu, sowie in dem zwoiilstigen, den hin-
teren Antennen ähnlichen iMandibuIarpalpus« der Urform des Nauplius
weil ähnlicher geblieben, als alle übrigen Copepoden, — vielleicht
weil sie der ursprUn glichen Lebensweise , dem freien Umherschwim-
men im offenen Meere, treu blieben.
Calaniden und Pontelliden einerseits, Cypridinen an-
dererseits, stimmen auch darin Uberein, dass sie die einzigen Familien
ihrer Ordnung sind, die ein Herz besitzen und dieses Herz hat bei bei-
den etwa dieselbe Lage; ob genau dieselbe, ist wegen der bei Cypri-
dina mangelnden Gliederung des Leibes nicht zu sagen. Dabei drUngt
sich denn natürlich die Krage <iuf, wie diese übereinstimmende L.ige
des Herzens zu erklären sei. — Ehe ich die Beantwortung dieser Frage
versuche, kann ich mir nicht versagen, darauf hinzuweisen, wie scharf
und schlagend in diesem Falle der Gegensatz hervortritt, der in der
Auffassung der moipho legi sehen Fragen zwischen den Anhängern Dah-
win's und den Bekeunem des SchOpfungsdogma's ' obwaltet. Wahrend
4 Durch Professor Kf.fbii8TE1i< erhalten wir neuerdings (Bericht über die Fort-
schritte der GeneroUon sichre im Jahre 1867 ) die unerftfirlelo Belehrung, dass wir
die Gegner Darwin's nicht richtig versieben, wenn wir glauben, dass sie mll
dem Ausdruck Schöpfung wirklich Schöpfung meinen ; Schöpfung soll ■ nichts wei-
ter als eine uns unbekunnle , uDfassbare Weise der Entstehung« boissen. Es soll
dadurch nur in verblümter Weise das verschämte GeElSodniss ausgesprochen wer-
den, dass man über die Entstehung der Arten »gar keine Meinung tiabc« unil
haben wolle. Nach dieser Erklärung des Wortes würde man ebensowohl von der
ScliSprung der Cholern und der Syphilis , von der Schöpfung einer Fcuersbrunsl
und eines Eisenbahnunglücks, wie von der Schüpfung des Menschen reden ktinnei).
Natürlich bedeuten dann auch die beliebten Ausdrücke Scböpfuagsplan oder Bnu-
ptao nicht den Plan des Schüpfers, sondern »nicbts weiter als eine uns unbekannte,
unfassbareo Ursache der Aehnlichkelt verwandter Formen. Verwandtschaft aber
bedeutet bekanntlich bei unseren Gegnern nicht wirkliche VcrwandtschaFl, sondern
nichts weiter als Aehnlichkelt. Wenn dieselben von verkümmerten Theilen reden,
meinen sie nicht, dass diese Theile wirklich verkümmert sind , d. h. dass sie vor-
dem wohl entwickelt waren, sondern nichts weiter, als dess sie klein und nutzlos
sind. Wenn sie aber sagen nutzlos , meinen sie nicht wirklich nutzlos, — NulZ'
loses konnte ja die unendliche Wciüheit nicht schaffen, — sondern nichts weiter
als von uuobekanntem, unrnssbaremi Nulzen, etc. etc.
Aber wie kann erwarten, richtig vers landen zu werde», wor immer clwas
Anderes sagt, als was er meint? —
Bemerkunisreii über GypridiiiA. 273
if
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uns die eben aufgeworfene Frage Schwierigkeiten bietet, die wohl
kaum befriedigend zu lösen sind, wird sie unseren Gegnern über-
flüssig^ vielleicht lächerlich erscheinen , sie werden es selbstverständ-
lich finden, dass )>dem Bauplan der Classe gemäss a das Herz bei
Cypridina an gleicher Stelle liegt, wie z. B. bei Calanus oder
Daphnia. Umgekehrt wird es die Anhänger der »alten Schdpfungs-
hypolhesea, wie sie Weismann nennt, befremden müssen, dass die
Kiemen der Cypridinenam Rücken stehen, der bei keinem anderen
Kruster Kiemen trägt. Wir dagegen hätten als wahrscheinlich voraus-
sagen können, dass wenn bei Muschelkrebsen Kiemen vorkämen, dass
sie dann in ihrer Lage nicht mit denen anderer Kruster übereinstim-
men würden. Denn Kiemen haben sich bei den Krustern überhaupt
erst spät entwickelt; selbst unter den Podophthalmen und
Edriophthalmen sind bis heute die der Urform zunächst stehenden
Gattungen (Mysis, Tan ais) kiemenlos geblieben. Die Stammeltern
der Muschelkrebse besassen sicherlich keine Kiemen. Die Kiemen von \
Cypridina also und die irgend eines anderen kiemenlragenden
Krusters sind keinenfalls das Erbtheil eines gemeinsamen Ahnen, viel-
mehr haben sich die der ersteren unabhängig entwickelt und es dürfte
desshalb eine abweichende Lage derselben mit grösserer Wahrschein-
lichkeit erwartet werden, als eine übereinstimmende. —
Die gleiche Lage des Herzens bei Calaniden, Pontelliden
und Cypridinen würde sich, um auf die oben angeregte Frage zu-
rückzukommen, am einfachsten erklären, wenn wir annehmen dürften,
dass schon die gemeinsamen Stammeltern der Gopepoden und Mu-
schelkrebse ein Herz an gleicher Stelle besassen und auf die ge-
nannten Familien vererbten , während dasselbe bei der Mehrzahl der
Gopepoden sowie beiGypris und Gylhere im Laufe der Zeiten
verloren ging.
Zu Gunsten der Annahme , dass schon die gemeinsamen Stamm-
eltern von Gopepoden und Muschelkrebsen ein Herz besassen, lässt sich
geltend machen, dass schon die Nauplius von Peneus ein Herz
haben , wodurch das sehr fiilhe Auftreten desselben bei den Krustern '
wahrscheinlich wird ; ferner, dass, wie erwähnt, gerade die mit einem
Herzen versehenen und auch sonst höher stehenden Familien beider
Ordnungen der Urform unverkennbar ähnlicher sind , als die übrigen
niedriger stehenden, des Herzens entbehrenden Familien, dass keinen- . \U
falls erstere aus letzteren , dass weit eher letztere aus ersteren hervor-
gegangen sein können. Dafür, dass das Herz verloren gehen könne,
liefern unter den Gliederthieren die Milben den Beweis. Der Mangel
des Herzens scheint bei diesen in ursächlichem Zusammenhange zu
i
274 fntt MrillBr,
stehen mit der geringen Grösse; iialUiIich ist das Herz um so enl-
behrlicher, zu je winzigerem Umfange der Körper herabsinkt. Von den
Muschelkrebsen wissen wir nun, dass sie früher eine weit ansehn-
lichere Grösse erreichten ; auch ohne die handgreiflichen Beweise, dii-
uns ihre versteinerten Schalen liefern, würde die geringe Zahl an GiU-
lungen armer, scharf geschiedener Familien schliessen lassen, dass wii
in den heutigen Muschelkrebsen nur kümmerliche Reste eines früher
weit reicher entfalteten Formen kreise s vor uns haben. Möglich, das.s
in gleicherweise, wie bei den Milben, auch bei ihnen das Herz mil
Abnahme der Grösse geschwunden ist. -— Es darf dabei auch der
Pycnogoniden gedacht werden. Zenker und Khohs haben bei die-
sen Thieren ein Herz nachgewiesen; bei den Arien, die ich unter-
suchte, habe ich es nicht gefunden, ohne jedoch dessen Nichtvorhan-
densein behaupten zu können ; jedenfalls aber war es bei ihnen, ^venn
vorhanden, ziemlich überflüssig; denn es war keine Bewegung des
Blutes wahrzunehmen, die nicht aus den Zusammenziehungen der in
die langen Beine eintretenden Blindschlflucbe des Darms zu erklären
gewesen wäre.
Immerhin, wenn auch wahrscheinlich, kann die Annahme eines
Herzens für die gemeinsamen Stammeltern von Copepoden und Hu-
schelkrebsen nicht als erwiesen gelten.
Die zahlreichen Copepoden ohne Herz (Cyclopiden, Harpac-
lidun, Pellidien undCorycaeiden) und auch Cypris und Cy-
there haben im Uebrigen nicht das Aussehen verkümmerter T hie re.
Und auch ohne jene Annahme lUsst sich die gleiche Lage des Hei'zens
bei Calaniden und Cypiidinen erklaren, wenn man die Weise ins
Auge fasst, in der bei den Arten ohne Herz das Blut bewegt wird.
■ Bei den Cyclopiden, Harpacliden und Pellidien Übernehmen
die fast rylhmischen Bewegungen des Magens, in welchem derselbe
zum Theil durch üussere UuskeUüge aufwärts gezogen und dann wie-
der in entgegengesetzter Richtung herabgedrängt wird, die Function
des fehlenden Circulationsorgans, und bringen die im Leibesraume be-
Hndliche Blulmenge in eine gewisse Strömung. u' — Ganz dasselbe sah
ich bei einer grossen, ziemlich durchsichtigen Cypris, bei welcher
gleichzeitig auch die Leberschlauche sich regelmässig zusammenzogen.
Die Bewegungen der oberen Magenwaiid , sowie der von ihr nach oben
gebenden Muskeln geben ein so tauschendes Bild eines über dem Ha-
gen liegenden Herzens, dass ich immer nieder ein Herz zu sehen
I. die trvilebeuiti;!! Cupepoii^Q. S «t.
Bemerkungen Ober Cypridina. 275
glaubte, nachdem ich mich längst auf's Bestimmteste von dessen Ab-
wesenheit überzeugt hatte*.
Das Blut wird also von derselben Stelle aus in Bewegung gesetzt
bei den Arten mit und bei denen ohne Herz , und an dieser Stelle
würde bei letzteren am leichtesten ein Herz sich bilden können , etwa
indem die schmalen Muskelzüge, die jetzt hier sich finden, breiter
^Tvürden , zu einem Schlauche zusammenträten und selbststttndig sich
zusammenzögen. Die gleiche Lage des Herzens bei Cypridinen und
Galaniden würde sich also daraus erklären, dass schon in frühester
Zeit, schon bei deren gemeinsamen Stammeltern, wenn denselben auch
ein Herz fehlte , doch schon von derselben Stelle aus , wo bei ihren
Nachkommen das Herz liegt , die Bewegung des Blutes ausging. — Ich
will bei dieser Gelegenheit auf ein ähnliches Verhalten bei Echinoder-
men- Larven hinweisen. Bei Tomaria, in welcher Alex. Agassiz eine
Seestern -Larve vermuthet, liegt bekanntlich über der Grenze von
Speiseröhre und Magen eine grosse zum Wassergefässsystem gehörige
Blase, von deren vorderem, kegelförmig ausgezogenen Ende ein Muskel
zum Vorderende der Larve geht. Muskel wie Blase ziehen sich von
Zeit zu Zeit kräftig zusammen. Dicht über der Blase aber fand ich ein
Herz. Ich habe die Entwickelung der Tornaria nicht verfolgt; aber
nach dem , was wir durch Alex. Agassiz über die Entwickelung des
Wassergefässsystems der Seestemlarven wissen, ist jedenfalls jene
Blase früher vorhanden gewesen als das Herz ; vor dem Auftreten des
letzteren wurde das Blut durch die Bewegungen der Blase und ihres
Muskels in eine gewisse Strömung versetzt und das Herz bildete sich
an derselben Stelle , von der aus schon früher das Blut in Bewegung
gesetzt wurde.
Unter den bis jetzt bekannt gewordenen Copepoden ohne Herz
stehen einige (z. B. Oithona) den Galaniden so nahe, dass möglicher
Weise sich noch Uebergangsformen finden werden , die auch in Bezug
auf das Herz die Mitte halten zwischen Galaniden und Gyclopiden oder
Gorycaeiden , Arten , die ein im Vergleich mit dem der Galaniden un-
vollkommenes Herz besitzen, und solche Arten dürften dann vielleicht,
namentlich durch ihre Entwickelungsgeschichte, Aufschluss darüber
geben , ob ihr Herz als ein werdendes oder ein verkümmerndes zu be-
trachten sei, und damit die Frage entscheiden, ob die Stammeltern der
Gopepoden und Muschelkrebse des Herzens entbehrten oder mit einem
solchen versehen waren.
4 In ähnlicher Weise ist vielleicht auch Gegenbadr getfioschl worden , der bei
Sapphirina ein Herz beschreibt, dessen Vorhandensein von Clads auf's Ent>
schiedenste in Abrede gestellt wird. — Oder haben etwa die beiden Forscher zwei
verschiedene Arten vor sich gehabt, die eine mit, die andere ohne Herz?
Friti Miillpr, BeniprkiiHiifn (Iber rypridinn.
Eiklämog der Abbildimgen.
Taiei YUL
—S. Cypridina Grnbii, Mänacbcn.
Vorderer Theil de* Leibes, a SU man ha (ig. b Füliler. c Schwimmfuss.
Sliniaiihong. a u der keulenförmige Theil des GrundKÜedes, stärker v»r-
grifssert.
Uie t letzten Glieder des Fühlers, n Riech Hl (tenborsEc. y Diecbnidun am
Ende des Fühlers. J Spürborsten.
Greitaiihang des SehwimmCusses.
Kinnbacken fuss.
Einer der beiden Schenkel des Begattungsgliedes. a äusserer, ß inne-
rer Ast.
Eine der beiden Sciiwaniplallen.
Männliche Cypridina, vermuthlich das Männciien vnn C. nilidul a.
-la. Cypridina nitidula, Weibchen.
Fühler, ß Riechmdenborste. r Rlecbfaden am Ende des Fühlers.
( klauen artige Borste.
KInnbackenruss. a Kinnbacken, ß ForUatz am Grunde des iweit«n
Tafel DL
Fig. la— 19. Cypridina Agassizli, Weibchen.
Flg. 13. Erwachsenes Weibchen.
Fig. t(. Junges, aas der Schale dieses Weibchens genommen.
Fig. 15. Weibuhen, nach Entfernung der Schale.
b Fühler, c Schwimmfuss. d Kinnbackenfuss, e fg viertes bis sechstes
Gliedmaassenpaar. h Putzfuss. q Unpaarer Fortsatz des Rückens, hr
Kiemen.
Fig. 16. Herz. A Putzfuss.
Ki^. 17. Fühler, u Borste, die an der Stelle des Riech fädenbUsc he Is des Hau n-
chens steht, ß Hiechtiidenborsle. y Riochfadcn am Ende des Fühlers.
d Sfärrnige Borale mit seitlichen Fädchen. ( klauen förmige Borste.
Fig. 18. Schwimmfuss, von innen. « Grundglied, ß ersle.s Glied des HaupUisles.
y Nrbenasl.
Fig. 19. Putituss.
Fig. äO-16. Cypridina Agassizii, Mannchen.
Fig. 30. Vorderer Theil des Leibes, a Stirnanhang. Ji c tjr wie in Fig. IS.
Fig. 81. Stirnanhang nnlerhnlb des initiieren Augea.
Fig. S3. RicchlSdenbüschcl.
Fig. 33. Schwimmfuss. a. ß y wie in Fig. 18.
Fig. i4. Kinnbackontuss I«. Fortsatz des ä. Gliedes, y Nebe na st.
Fig. SS. Kinnbacken,
Fig. iS. (Auf Tafel L) Der hintere Theil des Leibes, p ßegatlungsglied. q nii-
paarer Fortsatz des Rückens, hr Kiemen.
Itajahy. Februar 18G9.
UntersnebuBgen über Bau und Entnicklaig der ArthraiMdeB.
Dr. Ant. Dobm.
3, Die Schalen driiae nad die embryonale Entwicklang der Daplmien.
Bei rneinen auf Elarst«liung der Morphologie und Genealogie der
Krebse gerichteten Untersuchungen war es wesentlich, neben den fast
tlherall noch im fi^u und enden rudimenlären Bildungen der Embryonen,
über ein Oi-gan klar zu werden , das seit langen Zeiten bekannt, den-
noch fast allen Versuchen, es zu verstehen, Widerstand geleistet hatte.
Ja, um so wichtiger mussle die Erledigung der Frage nach der Natur
dieses Organs werden , als durch zwei der ausgezeichnetsten Forscher,
durch Leydig und G. 0. S*hs der Versuch gemacht wurde, in diesem
Organ die Wiederholung einer Bildung zu finden, die bisher dem Ar-
thropoden kreise fremd, dagegen bei den Würmern in ganz besonderer
Ausbildung anzutreffen war. Es konnte möglicherweise von da aus
unternommen ^serden, die Arthropoden odci- wenigstens die Cruslaceen
aus den WUrmern herzuleiten und damit einen grossen Schritt vorwärts
zu thun auf der Bahn der reformirten Zoologie.
Dan Ofgan, d<is diese wichtige Bedeutung zu gewinnen schien, ist
die SchalendrUse. Levdig giebt in seiaer » Natui^eschichle der
Daphnidenu pag. 23 — 34 ausführliche Mitlheilungen über die Entwick-
lung unserer Kenntnisse dieses Organs. Es hatten sich ZAonACB, Lie-
viN, JoLV, Grube und Zgnkfr mit demselben beschüftigt, aber erst Lsv-
uiG selber versuchte das Organ auf seine eigentliche morphologische
Bedeutung zu bringen und seine lloniologa bei anderen Krebsen festzu-
stellen. Er behauptet, die Schalendr-Use habe keine Oeffnung, weder
Bd. V. 2. 19
278 Dr, Ant. Dohni,
■ nach innen in den Körper dos Thieres noch nach aussen an der Ober-
ÜJiche der Schale. Er vergleicht in Folge davon die Schalendrüse der
grllncn Drilse des Flusskrebses, der er auch jede Mündung nach aussen
abspricht. Die Schwierigkeit der Untersuchung dieser Verhilllnisst'
lasst es begreiflich erscheinen, dass über diesen Punkt bald so, bald su
geurthtnlt wurde, und so treten bald enlgegengesetztc Angaben auf,
welche der grünen Drüse eine OcITnung im Basalgliede derunlern An-
tennen zuschrieben. Levdig selber schwankt in seinem Widerspruch
gegen das Sich Oeßnen der grünen DrUse und gewinnt die Verrnuthung,
dieselbe künne möglicherweise eine Art Wassergefäss sein. »Sollte nicht
am Ende, II heissl es a. a. 0. pag. 28, nwenn es sich doch bcsLütigen
liesse, dass das Oi-gan nach aussen mündet, der gewundene Canal den
Kiiüueln der »WassergeCisseu, wie wir sie %. B. bei den Hirudineen und
Lumbricinen sehen, entsprechen? Der Inhalt des Canals ist wenigstens
nilgemein ein helles, keine g^eformten Theile enthallendes Fluiduni;
könnte es nicht von aussen auCgenominenes Wasser sein und könnte
man damit nicht in Zusammenhang bringen, dass grade um das Organ
herum die Blutströmung in der Schale sich concentrirt, etc. ?« In der
Thal hat man aufs Bündigste bewiesen, dass die grüne Drüse und ihre
zahlreichen Homologa bei l.eucifer, Phyllosoma, Gammarus,
Asellus, Pranixa etc. nach aussen münden; aber erstens ist da-
durch noch nichts Über die Natur der Drüse ausgesagt, und zweitens
bleibt es noch sehr fVagiich , ob die grüne Drüse mit der Schalendrtise
der Daphnien hoflaolog sei. Durch eine Aeusserung des ausgezeichne-
ten norwegischen C ms la ceologen G. O. Sars ward aber die Änschauuni;
über die Bedeutung der Schalendrilse noch complicirler. In oNorges
Feiskvandskrebsdyr. Ferste ATsnit. Branchiopoda. Cladocera Cteno-
poda. Faniil. Sididae et Holopedidaeu sagt derselbe in dem , gefälliger
Weise vorangeschicklen, französischen Auszüge pag. VI: »Le canat
caracteristique du lest en forme de fronde, la soi-disant glande du tesl,
parait en rapport intime avec la respiration, cc que Mr. Letdig a egale-
ment admis. Son conlenu loujours parfaitement limpide, complätement,
depourvu de cellules, fait claircment voir quo ce nc saurail etre une
glande. Mais il y a beaucoup de raisons pour croire avec ce savant qui'
c'est une esp^ce d'analt^ue des vsisseaux aquif^res des Hirudinees
el des Lombri eines. Gelte supposition semble encore gagncr du ter-
rain (>ar suite des i'echerches faites dans cel ouvrage, qui fonl suppo-
ser que ce oanal, au lieu de former, ainsi qu'on la cm jusqu'a present,
une fronde partout fermee, rentrant en eile m^me, se Irouve au moins
dans les formes en question , en rapporl avec une partie tres n^oeusi'
et en apt)arencti poreuse du lest.n Und weiterhin nach Seit« 17 ver-
Cniersaohnugen Ober Biui nnd Entwieklang der Arthropoden. 279
gleicht der Verfafiser die dort erwähnte i>meget rug0St mdseende Parti
af Skallen« mit der Madreporenplatte der Echinodermen. Zugleich mit
einer Vergrösserung unseres Wissens vom Bau der Schalendrüse,
erfolgt also auch eine Erweiterung der Gesiditspuncte,*' unter denen
wir ihre Betrachtung vornehmen könnten.
Ich habe mich lange und eingehend mit der Untersuchung der
Schalendrttse vonDaphnia longispina beschäftigt, ohne von der
Stelle zu kommen. Endlich gelang es mir an einem recht durchsich-
tigen Exemplar einen Schritt vorwärts zu thun. Ich fand an der
SteHe , weldie fast in der Mitte zwischen oberem und unterem Theile
des Canals nach Sars in Verbindung mit einer rugosen Stelle der
Schale stehen sollte, eine s^r feine Membran, die sich sadLCSrmig aus-
stCdpte, dann aber wieder zurücktrat und etwas zusammengezogen lie-
gen bli^b. Diese Aussackung konnte nur von einer Flüssigkeit hervor-
gebracht sein , da aber Wasser das Thier umgab und keinerlei Verän-
derung darin vorging , so schloss ich , es m^e eine fettige Flüssigkeit
gewesen sein. Ich war aber nicht im Klaren, woher sie gekommen sei,
meinte aber dieselbe Flüssigkeit an einer grossen Kugel zu bemerken,
welche in einem der Canäle durch Druck hin und her zu schieben war.
Darauf entfernte ich durch Präparation ein Paar Beine; dadurch kam
ein neuer Druck auf den Körper zu Stande ; als ich gleich darauf wie-
der die Schalendrttse untersuchte , sah ich drei grosse Fettkugeln in
jenem bereits erwähnten mittleren Theile der Canäle. Ich ging weiter
und untersuchte alle Stadien der Daphnia longispina. Da begegnete
mir einmal ein Exemii^ar, dessen Schalendrüsen -Canäle ganz mit
einer grünlich -gelben Flttssi^eit angefüllt war. Woher dies Secret,
wenn wir es mit einem venneintlidien Wassergefäss zu thun haben
sollten? Nicht lange darauf löste sich mir das Räthsel. Das wasvon
G. 0. Sars als rugose SteiU der Schale beschrieben war,
ist ein den Canälen der Schalendrüse anhängender
drüsiger Sack (Taf. X, Fig. 4a). Derselbe mündet durch einen
sehr engen Canal in die untere Wandung der eigentlichen Canäle;
seine Gestalt einfach blasenförmi^ , der Durchmesser von dem Ausfüh-
rimgsgange bis an die gegenüberliegende Wand halb so gross als der
Längendurcfamesser. Die Hinterwand liegt über dem Hinterrande der
Mandibel , zwischen ihr «nd den Canälen kann man ganz sicher das
Organ finden. Während die Wandung der Canäle starr ist , scheint die
der Blase nachgiebig zu sein; ihr histologisohes Gefüge besteht aus
dieser eimfaGhen Wandung , in welcher zahlreiche Zellen halbkugelig
nach innen vorragen. Die Zellen messen 0,009 — 0,01 C Mm. im Durch-
messer, ihr Kern ist Ueio, misst ntir ungefiikr 0,002 Mm. Ihre Fär-
49*
280 Dr. Ant. Dohrn,
buDg ist grünlich -gelb, und so erklärt sich das Vorhandensein der
Fettkugeln dieser Farbe , die ich oben erwähnte , und das Angefttlltsein
der ganzen Canäle mit einer ähnlichen Flüssigkeit.
Nachdem ich einmal die Blase völlig deutlich wahrgenommen
hatte, gelang es mir, sie in allen Exemplaren wiederzufinden. Es kam
mir nun noch darauf an, ihr Verhältniss zu den Canälen näher ins
Klare zu setzen. Die Canäle konnten neben der Blase seibstständige
Secretionsorgane sein, konnten auch bloss ein Beservoir vorstellen. Ich
musste mich bald für erstere Ansicht entscheiden , denn ich fand , dass
die Zellen , welche an den zackigen Wandungen der Canäle liegen , ge-
nau dieselbe Structur, Grösse und denselben grünlich -gelben Inhalt
hatten. Freilich scheinen sie nicht immer in gleicher Thätigkeit zu
sein , da sie oft farblos und ohne die kleinen Körnchen sich zeigten,
welche in den Zellen der Blase fast immer zu beobachten waren. Dass
sie aber eine secretorische Thätigkeit haben , glaube ich auch noch be-
sonders daraus entnehmen zu können, dass ihre Zahl sehr schwankend
ist. Ich fand mitunter Canäle , deren Lumen fast ganz verengt war
durch die zahlreichen und weit vorspringenden Zellen der Wandung.
Nun findet man häufig , dass innerhalb des Körpers der Daphnien,
also auch besonders der von mir untersuchten Daphnia longispina, eine
Menge grünlich-gelber Fetttropfen auftritt; dieselben finden sich in der
Schale, in den Beinen, am Bauch, kurz durch den ganzen Körper im
Bindegewebe verstreut. Sie sind wahrscheinlich von Bedeutung für
den Neubildungsprocess der Schale und die Entwickelung der Eier,
deuten also überhaupt wohl einen besonders ausgiebigen Emährungs-
stand des Organismus an. Es war nun noch von Interesse, festzu-
stellen, ob die grünliche Färbung und die Häufigkeit der zelligen Ele-
mente in der Schalendrüse mit der Vermehrung dieser im Bindegewebe
sich findenden grünen Elemente in Zusammenhang oder wohl gar in
Abhängigkeit davon stände. Da ist mir denn gelungen, Stücke zu
finden, in denen keine Spur von grünen Gewebs- und Zellmassen im
Körper zu bemerken war, dennoch aber der Inhalt der Schalendrüse
in grünen Zellen bestand, die vollkommen constant in der anhängen-
den Blase sich fanden. Daraus folgt also, dass die Thätigkeit der
Drüse nicht von jenem allgemein gesteigerten Nahrungszustand abhän-
gig ist; es erklärt sich aber auch der stärkere Blutlauf in der Nachbar-
schaft der Drüse, da sie dessen zur Secretion benöthigt ist; man
braucht denselben dann nicht auf eine Respiration zu schieben , die
durch die Wandung der vermeintlich mit voii aussen eingedrungenem
Wasser gefüllten Canäle statthaben sollte.
Was nun die Homologisirung der Schalendrüse mit der grünen
Uotersuchangen über Bau und Entwicklung der Arthropoden. 281
Drüse der Decapoden und der Drüse der unteren Antennen der Edrioph-
thalmen angeht, so hat darüber nur die Embryologie eine entscheidende
Stimme. Nur das will ich noch, ehe ich zu einer Darstellung derselben
gehe, hinzufügen, dass der Yergleich^der Schalendrüse und der grünen
Drüse mit den blattförmigen Anhängen der Asellus-Erobryonen
schon allein aus dem Grunde nicht zulässig erscheint, da ein Homo-
logon der grünen Drüse nicht wie Lbtdig (1. c. p. 24) meint, dem
Asellus abgeht, sondern deutlich an der Basis der unteren Antennen
zu erkennen ist und auch von mir in meiner Darstellung der embryo-
nalen Entwicklung des Asellus (Zeitschr. f. wissensch. Zoologie, XII,
p. 257) erwähnt, und sogar, wie ich jetzt fürchte, fälschlich als Homo-
logen der Schalendrüse angesehen wurde. Ueber di^ wirkliche Bedeu-
tung der blattförmigen Anhänge der Asellus- Embryonen habe ich
schon früher eine Ansicht ausgesprochen (On the Morphology of the
Arthropoda. Journal of Anatomy and Physiology, II, p. 84) ; in einer
späteren Darstellung der Embryologie von Tanais werde ich die Be-
weise für die Richtigkeit der damals geäusserten Ansicht beibringen.
Jetzt gehe ich zur Darstellung der Entwicklungsgeschichte
derDaphnia longispina über, nachdem ich ein paar Worte über
die bisherigen Arbeiten gesagt habe , die sich um die Aufhellung der-
selben Verdienste erworben haben.
Da sind es wesentlich zwei Arbeiten, die zu nennen sind. Die
frühere ist Zaddagb's bekannte Schrift: »Untersuchungen über die Ent-
wicklung und den Bau der Gliederthiere. I. Heft. Die Entwicklung
des Phryganiden-Eies. 1854«. Zaddagh schildert in dieser Schrift auf
Seite 96 und 97 die embryonale Entwicklung der Daphnia sima
hauptsächlich in Rücksicht auf die Entstehung und zeitliche Aufeinan-
derfolge der Gliedmaassen. Von seiner Darstellung wird die meinige
in einigen Puncten abweichen , — das ist aber vielleicht nur Schuld
eines anderen Beobachtungsobjectes. Von besonderer Wichtigkeit war
seine Angabe über das ursprüngliche Auftreten zweier Maxillenpaare,
deren eines aber noch während des embryonalen Lebens wieder ver-
schwindet. Viel vollständiger ist die zweite, ausgezeichnete Arbeit
eines dänischen Zoologen, die erst kürzlich von Cand. P. F. Müllfr
zugleich mit einer vortrefflichen Monographie »Danmarks Cladocera«
unter dem Titel »Bidrag til Cladocerernes Forplantningshistoriea in »Na-
turhistorisk Tidsskrift, udgivet af Prof. J. G. Sghi0bte. Tredie Raekke.
Femte Binds ferste og andet Hefte. Kbabenhavn 1 868.« erschienen ist.
Der Verfasser giebt eine ausführliche , sehr klare und umsichtige Dar-
stellung der Eibildung in den Ovarien verschiedener Cladoceren (Lep-
todora hyalina, Holopedium gibberum, Sida crystallina.
2S2 »r. Aal. Dohrn,
Dapbnia galeata und Polyphemus) und fügt daran eine genaue
GntwickluQgsgeschichte der Leptodora byalina. Obschon diese
Arbeil in vielen Punclen ausführlicher isl als die meinige , möchla ich
docli nicht darauf verzichWn, die letztere jetzt zu publiciren, da ich sie
unter wesentlich andereo Gesichtspuncten gearbeitet bobe, als Herr
P. F. MüLLBK, und an einem von Leptodora sehr verschiedenen Be-
prüsentanten der Cladoceren.
Ich veröffentliche sie so, wie ich sie in meinen Notizen finde.
1. Stadium. Das Ei ist ein Sommerei. Es misst 0,25 Hra. im
Durchmesser. Es enlhgll einen grUnlich-gelben Dotter, eine peripbe-
nsche Keimschicht und ist verschlossen von einer einfachen Uembran,
dem Chorion. Ich erlaube mir, dabei auf eine Angabe von Lbydiq zu-
rückzukommen, die dieser ausgezeichnete Forscher bezUglidi des Gho-
rion in seiner » Nalurgeschicble der Daphnidcn, pag. dU macht. Es
heisst dort: »Es mag zu den gewShnlichen Erscheinungen gefattren,
dass ein oder das andere Ei im Brutraume sieb wieder auflöst und
dann nur davon die Schale übrig bleibt, anders wUsstc ich wenigslens
die zusammengerollton Hdutc nicht zu deuten, welchen man so häufig
bei den verschiedcnslon Arten in der Brutbühie begegnet.u Dies ist in-
sofern nicht richtig, als es nicht nütbig ist, dass ein Ei zu Grunde geht,
um sein Chorion im Brutrauui zu hinlcriassen. Da stdi später eine
Larvenhaut um den Embryo bildet, wird das Chorion zu oiuer ge-
wissen Periode UberOUssig und zu eng für den Embryo ; os platit und
rollt sich dann in der eigenlhilmlichen Weise zusammen, welche Letdiu
a. a. 0. beschreibt, während der Embryo, umschlossen und geschützt
von der Larvenhaut, sich rubig im Brutraum weiter entwickelt. Eine
Thatsacfae , welche weder Leydig noch auch P. F. Hüllkr erwähnen,
habe ich noch bezüglich des Cborions der Sommereier nachzutragen.
Dasselbe zeigt nämlich eine deutliche, anscheinend zelligc Struotur;
die einzelnen Felder derselben sind sechseckig und aufs Sohdrfste eines
vom anderen geschieden (Taf. X, Fig. 43). Entweder ist diese
Structur ein Abdruck der cellulüren Structur der Schale des Brutrau-
mes, die also einen Beweis dafür bildet, dass die Erhärtung der äusse-
ren Plasmaschicht erst erfolgt, wenn der. Eänhalt, also die Plasma-
Masse mit den Dotter-Elementen, bereits au& dem Ov;iriutii in den
Brutraum entleert ist, oder sie ist ein Product der W.indunijszellen des
Ovariums, wie ja auch die übrigen Chorien.
Der Dotter des Eies besteht aus drei grosseren Fettblascn, die
ganz klar sind, und aus vielen anderen, verschieilen grossen (0,OI(
(1,004, 0,026 und 0,03 Hm. j, die innen noch uitu- suirke, lieft
brechende Blase enthalten, in der Ktimchen sn'^""'
1
üntersuchungeu über Bau uod Eutwickluug der Arthropoden. 283
Keimschicht, welche die ganze Peripherie umgab , bestand aus Zellen
von 0,008 Hrn.; welche alle halbkugelig nach aussen vorragten und
keinerlei Guticula oder sonstige Membran um sich gebildet hatten.
Beim Zerdrücken des Eies platzte nun das Chorion, der Dotter floss
aber nicht regellos aus, sondern die ganze Masse ward durch die
Keimhaut zusammengehalten, deren einzelne Zellen vielleicht schon
durch Ausscheidung irgend einer Intcrcellular- Substanz inniger ver-
bunden waren , da sie selbst bei stärkerem Druck des Deckgläschens
nicht platzten.
Die Entstehung dieser Keimhaut habe ich nicht beobachtet, glaube
aber, dass die Körnchenkugeln, die im Dotter suspendirt sind, daran
wesentlich betbeiligt sind. Ein Keimbläschen fand ich nicht. (Nach
P. F. MüLLER^s Auseinandersetzungen ist dasselbe aber vorhanden und
zu beobachten.) In manchen Eiern fand ich, dass die Keimhautzellen
3 — 4 grössere helle Bläschen im Innern enthalten , die noch ausserdem
von Kömchen umgeben sind. Allmälig platten sich die Zellen der
Keimhaut mehr ab, so dass dieselbe auf dem optischen Querschnitt
eine helle klare Schicht von 0,008 Mm. bildet, die indess auf dem
Rücken sich noch mehr verdünnt. Auf der Bauchseite dagegen sieht
man zwischen Keimhaut und Dotter noch eine 0,02 Mm. breite grün-
lich-gelbe Plasmaschicht, welohe dazu bestimmt zu sein scheint, von
den Zellen der Keimhaut aufgenommen zu werden , und so zu deren
äusserst raschem Wachsthum zu dienen.
Die erste Spur des sich bildenden Embryos ist eine Einstülpung
der Keimhaut an der verdickten Seite (Taf. X, Fig. Sab).* Diese Ein-
stülpung ist halbkreisförmig von einem kleinen Wall von unten her,
d. b. von der späteren Bauchfläche umgeben. Oberhalb der halbkreis-
förmigen Höhlung liegt eine kleine Verdickung der Keimhaut. Die Ein-
stülpung ist die Mundöffnung, die Verdickung die Oberlippe.
Nimmt man diese Einstülpung als topographischen Ausgangspunct , so
liegen hinter ihr und etwas mehr zum Bauche hin die beiden grossen,
runden Mandi beiplatten (Fig. 8, III), welche 0,06 Mm. im Durch-
messer halten. Etwas oberhalb der Mundeinstülpung liegen die
grossen Ruderantennen (Fig. 8, II), die als gleich staik-e Aeste
an gemeinsamem Stiel angelegt werden. Sie reichen beinahe um die
halbe Peripherie des Eies herum, ihre Aeste sind auch gleich lang.
Mit der Spaltungsstelle auf gleicher Höhe buchtet sich auch der Vor-
derrand der Antennen etwas ein, so dass auch dadurch eine deut-
ng von Stiel und Aesten zu Stande kommt. Darüber,
nseite zu, Über das Stielende der Ruderantennen wenig
>gt die obere Antenne (Fig. 8, I), welche beide
284 Dr- Aul. Dobra,
zus^mmcD nur ein Driltel der Eiperipherie umspannen. Der Muml-
Einsiülpung gerade entgegen gesetzl buchlel sich die dorl gleichfalls
schon slark verdickte KeirahauL scharf ein, rundel sich nach aussen
jfdersi'its von dieser Einbuchtung ab und bildet die crsle Anlage der
Aficröffnung (Fig. H, I], die auch die dunklere, grünlich - gelbe
Schicht durchsetzt und bis an den eigentlichen Dotter gehl. Beim Zer-
sprengen des Chorions zeigt sich, dass bereits eine zweite Hullc den
Embryo umgiebl: diese HUlle ist die Larvenhaul, und das bis-
her geschilderte Stadium der Embryonal- Entwicklung das Nau —
pliu.s-Stadium, da es nur die drei typischen Gliedraaassen des
Naiiplius hervorgebracht hat. Am Schluss dieses Stadiums findet man
im Centrum des Dotters eine einzige röthliche Oelkugel von 0,068 Mm.
Durchmesser. Die Embryonaizellen messen 0,012 Mm.
■i. Stadium. Nach 17 Stunden (Taf. X, Fig. 9 — 10). Das
tlliorion umgiebt in tbeilweise weitem Abstand den in die Lange ge-
wachsenen Embryo. Die Larvenhaul liegt eng an. Der Vorder-
knpf ragt jetzt helmartig vor. Auf seiner Unterseite sitzen zuerst die
kleinen Antennen, welche eiförmig nach unten gerichtet sind. Zwischen
ihnen befindet sich die grosse Oberlippe, die beinahe eine kugel-
fiintjige Gestall besitzt. Auf gleicher Hübe mit ihr, aber ganz zu den
Stilen, liegen die grossen Antennen , mit breitem, zweigliedrigem
Stiel und gleich langen cylindrisehen Acsten , auf deren Spitzen man
bereits drei anwachsende Borsten benierkl. Auf halber Höhe der nun
schon stark verlängerten Oberlippe ragen die Mandibeln hervor. Sic
sind abgerundet und durch Oberlippe, MaxiUen und vordere Antennen
etwas von den Seilen her z u sa m m enge dr tick 1. Die ersten Mamillen
liegen dicht unter ihnen, eher etwas nach innen convergirend. Sie
sind wesentlich kleiner als die Mandibeln, abgerundet, zugleich aber
auch von Mandibeln und zweiten Maxillen etwas gcpresst. Die zwei-
ten Mamillen sind noch kleiner als die ersten, liegen aber etwas
nach aussen von jenen. Vordere Antennen, Mandibeln und beide
Maxillenpaare werden als einfache, mehr oder weniger halbkugelige
Erhöhungen angelegt. Die nun folgenden EstremilJItcn jedoch legen
sich als breilo, von der Mitte bis an und über die Seitenwand hinweg-
gehende Wulste an. Das ersle Beinpfiar ist nach hinten und aussen
geiSchtet, es geht spitz zu; an der Basis findet sich auf der Unterseite
ein sehr kleiner Spalt, der ein geringes StUckcben der Glied maassen
als homolog den folgenden Aesten abscheidet. An der Spitze der Ex-
tremität siebt man gleichfalls eine Spaltung, die aber wie die eben er-
wähnte durchaus nicht lief geht. Das zweite Beinpaar hat dieselbe
Bichtung und im Ganzen auch dieselbe Gestalt, wie die vorbeigehende
Untersuchungen Ober Bau und Entwicklung der Arthropoden. 285
Extremität; nur ist ein wesentlicher Unterschied darin, dass die Basal-
platte bedeutend breiter und gerundeter ist, auch ist der Spalt an der
Spitze etwas tiefer. In der folgenden Extremität, dem dritten
Beinpaar, ist der innere Basallappen bereits grösser als die andere
Partie des Beines, der Spalt an der Spitze trennt auch ein etwas
grösseres Stück ab, als an dem vorhergehenden Bein. Das vierte
Beinpaar gleicht in der Anlage völlig dem dritten. Das fünfte end-
lich ist erst angelegt mit horizontaler Linie, die kaum einen Spalt zur
Abgrenzung des Basalstückes besitzt. .
Die Afterspalte geht tief in die Keimhaut bis an den Dotter;
eine Wandung für den Hinterdarm ist noch nicht von den Zellen der
Leibeswandung abgespalten, doch erkennt man schon die Linie, wo
die Spalte sich bilden wird. Zwischen der Afterspalte und dem gleich
zu beschreibenden Schalenrande bemerkt man noch auf der Rücken-
seite eine kleine , nach hinten oflfene halbmondförmige Einstülpung der
Rückenwand und darin zwei kleine Fortsätze. Dieselben bilden die
erste Andeutung der beiden auf dem Endhöcker des Rückens stehen-
den Schwanzborsten , welche Letbig (1. c. p. 47} für homolog mit den
gabelförmigen Anhängen der Edriophthalmen hält, — eine Annahme,
die ich vorläufig wenigstens nicht zu theilen im Stande bin.
An der vordersten Spitze des Kopfes bemerkt man eine zarte halb-
kreisartige Gontour, die sehr scharf ist. Darunter zeigt sich die Zel-
lenwandung leicht verdickt. Diese Gontour ist die erste Andeutung des
Augenraumes. Unter und hinter demselben liegen zwei von der
Hypodermis abgelöste Zellwülste, die w^ohl den Beginn der Hirn-
masse andeuten. Ueber ihnen liegt etwas Dotter, unter ihnen die
vorderen Antennen.
Auf gleicher Höhe mit den Handibeln verbreitert sich dann der
Umfang des Körpers wesentlich, da hier die Schale sich zu formen
beginnt. Dieselbe bildet sich oflfenbar durch Einschnürung vom
Rücken her , während von unten die Leibeswand herumwächst und so
die Faltenbildung und die doppelte Wandung der späteren Schale her-
stellt. Die Seitentheile der Schale bilden in diesem Stadium eine sack-
förmige Ausstülpung, welche mit röthlicher, aus dem Dotter stammen-
der Flüssigkeit angefüllt ist. Die Gontour dieser seitlichen Schalendu-
plicatur sieht man auf dem Rücken zusammenlaufen, aber so zart, dass
sie kaum von der Rückenwandung abgesetzt erscheint. An der Basis
der Schalen-Anlage, an der Innenwandung derselben, findet sich eine
dicht hinter der Hündung des Schalenlumens in den Dotterraum des
Embryo gelegene Verdickung. Ihre Bedeutung ist mir nicht klar ge-
worden.
^
286 Dr. Aut. Dohrn,
3. Stadium. Die Bildung innerer Organe schreitet fort. Von
oben bemerkt man die Spitzen der Lebersäcke; sie liegen zwischen
Dotter und Hypodermis und sind ziemlich schwer zu erkennen. Im
Profil gesehen ragt jeder der beiden Schläuche bis an das jetzt schon
mit Pigment versehene zusammengesetzte Auge heran. Aussen sieht
man bereits eine deutliche Zellschicht für die Bildung der Muskeln be-
stimmt. Im Innern ist ein I^umen, das am Grunde sehr eng, an der
Spitze etwas weiter ist und zugerundet endigt. Der gan^e Schlauch
wächst offenbar als Ausstülpung der Darmwand nach oben. Die
Schale hat sich weiter über den Körper nach hinten gestreckt; an
ihrem Hinterrande entwickelt sich mit ziemlich breiter Basis ein nach
hinten auswachsender Kegel, der alsbald rascher wächst, als die bei-
den Seitenstücke der Schale und schon etwas gekrUmnit ist, ehe er
noch so weit gewachsen ist, um über den borstentragenden Wulst des
Abdomen hinüber zu reichen. Auch wächst dieser Stachel, — denn ein
solcher wird aus dem Kegel — nicht in Abhängigkeit von den Schalen-
hälften , sondern ganz für sich allein , so dass die Seitenschalen sich
allmälig an ihn anlegen, während seine Wurzel unverändert stehen
bleibt, wo sie ursprünglich lag, und nicht mit dem Weiterwachsen der
Schale nach hinten geschoben wird. In diesem Stadium erkannte ich
auch die ersten Anlagen der Schalendrüse (Taf. X, Fig. 3). Bei
gewisser Tubussteilung erkennt man, dass jede Schalenhälfte, von
deren mit röthlicher Flüssigkeit erfülltem Lumen schon oben die Rede
war, mit trichterförmiger Mündung in den Leibesraum mündet. Vor
dieser Mündungsstelle kann man eine zarte, beinahe kreisförmige Con-
tour erkennen, innerhalb welcher dicht an einander liegende Zellen
von ungefähr 0,008 — 0,009 Mm. Durchmesser zu erkennen sind.' Diese
Zellen werden deutlich wahrnehmbar , da sich bereits die Wände der
Schale so weit getrennt' und durch gitterförmige Balken verbunden
haben, dass die Blase in dem freien Raum zu erkennen ist. Neben
derselben nach hinten zu verläuft ein Canal mit gleich zarter Contour,
dessen eines Ende deutlich innerhalb der trichterförmigen Einmündung
der Schale in den Leibesraum liegt.
Man bemerkt jetzt auch auf dem Rücken in gleicher Höhe mit der
Insertion der Ruderantennen eine zarte kreisförmige Contour von ziem-
lich bedeutendem Durchmesser. Im Profil erblickt man an derselben
Stelle -eine buckeiförmige Erhöhung der Hypodermis, — die Anlage
des Haftorgans (Fig. 40c). Der Hinterdarm ist in den Dotter
hineingewachsen , seine Wandungen haben sich von der Körperwan-
dung abgespalten. Die beiden Schwanz borsten auf dem Hinter-
leibshöcker sind weiter in die Höhe gewachsen, werden aber von
Untersuchungen Ober Bau und Entwicklung der' Arthropoden. 287
scharfer halbkreisförmiger Furche nach vorn hin begrenzt. Ghorion
und Larvenhaut bestehen beide noch.
4. Stadium. In diesem Stadium sind sowohl Ghorion wie Lar-
venhaut bereits gesprengt, und der aus dem Brutraum herausgenom-
mene Embryo schwimmt frei herum. Das Gehirn ist zu einer ein-
zigen Masse verschmolzen, zeigt aber noch die Zusammensetzung aus
zwei gleichen Hälften. Von den oberen Theilen wendet sich jederseits
nach aussen der dicke Nervus opticus , biegt aber sogleich nach oben
hin um und begiebt sich an das verschmolzene zusammengesetzte
Auge , das durch seine hufeisenförmige Gestalt noch die ursprüngliche
Zweiheit andeutet. Gehirn und Nervi optici bestehen noch aus unver-
schmolzenen Embryonalzellen. Die beiden Pigmenthaufen des Auges
liegen noch getrennt, die dichteren Stellen näher an einander; von
ihnen aus breitet sich das braune Pigment strahlenförmig zwischen
die zahlreichen Krystallkegcl aus , deren Bildung mir völlig identisch
erschien mit derjenigen der Decapoden, über welche ich später einige
Notizen zu veröffentlichen habe. Vor Allem scheinen sie viel zahl-
reicher zu sein als beim erwachsenen Thier. Auch erkennt man ein-
zelne Nervenstränge, die sich vom Bulbus an den dioptrischen Appa-
rat begeben ; die Kapsel ; welche später das völlig verschmolzene Auge
umgiebt, ist auch bereits gebildet. Vor dem Gehirn liegt eine spatei-
förmige Platte senkrecht von der Mittellinie des Hirns und der Kopf-
wandung ausgespannt. Sie besteht wie das Hirn aus einzelnen kleinen
Embryonalzellen, scheint also ebenfalls nervöser Natur zu sein. Sie ist
nach vom spitz ausgezogen , ebenso nach unten unter das Gehirn und
oben nach beiden Seiten, so dass die Platte sich mit vier Zipfeln an die
Umgebung anschliesst. In ihrem Centrum liegt der Pigmentfleck des
Entomostraken- Auges.
Vor dem Gehirn beugt sich die Kopfkappe nach unten herum. An
der Spitze stehen jederseits die beiden Vorsprttnge der oberen An-
tennen, welche die späteren Nervenstäbchen als 8 kleine glänzende
Kegelchen nach aussen haben hervorwachsen lassen. Im Innern, der
Antennen ist die Scheidung der Hypodermis von den inneren Zell-
massen schon vor sich gegangen, letztere bilden einen länglichen Hau-
fen , der durch einen langen , sich verschmälemden Ausläufer mit der
Unterseite des Gehirns in Zusammenhang tritt. Ueber dem zusammen-
gesetzten Auge und unter dem einfachen setzen sich Ausläufer der Hy-
podermiszellen an die darunter liegenden Theile an.
Die grossen Ruderantennen haben ihre definitive Gestalt
erreicht. Die Aeste sind in drei Glieder getheilt (das 4. Glied des einen
Astes scheint erst später gebildet zu werden), die Schwiinmhaare sind
288 Dr. Ant. Dohrn,
ausgewachsen und lassen eine hellere Cuticula und einen matteren
Innenraum unterscheiden , haben aber noch keine Schwimmborsten an
sich entwickelt. Der Antennenstiel zeigt ein langes Endglied^ während
das Basalglied in unregelmässige und weiche Faltungen zerfallen, sich
nicht mit Deutlichkeit von dem anderen Gliede mehr absetzt. Im
Innenraum der Gliedmaassen bemerkt man die Muskelstränge und
Nervenbündel, die indess noch nicht weiter histologisch entwickelt
sind, als dass sie eine äussere Haut abgeschieden haben. Die Ober-
lippe hat die bekannte helmförmige Gestalt angenommen, welche der
des Nauplius am Aehnlichsten ist. Die Elypodermisschicht ist an der
Spitze am dicksten, im Innenraum sind allerhand Zellhäufchen. Sie
bewegt sich lebhaft auf und ab. Die Mandibeln sind hoch hinauf ge-
wachsen, keilförmig nach oben verschmälert. Die erstenHaxillen
konnte ich nicht präpariren und ohne Präparation waren sie nicht zu
erkennen. Die zweiten Maxillen waren verschwunden. An den
Beinen ist als Neubildung der äussere Kiemensack (Appendix
vesiculiformis Sars) aufgetreten, während der innere Basalabschnitt
sich zu dem Maxiila rfortsatz entwickelt hat (Processus maxillaris
Sars), welcher bereits seine 4 langen, handschuhfingerartigen Fortsätze
am Rande trägt, während die beiden Aeste an der Spitze ziemlich
gleiche Ausbildung erlangt haben und einzelne lange Schwimmhaare
tragen. Das zweite Beinpaar entwickelt gleichfalls die beiden
Aeste an der Spitze zu ähnlichen , schwimmhaartragenden , mehrfach
eingeschnürten Theilen, während die breitere Basalplatte zu einer dicht
und lang behaarten Platte wird, die nur noch an der Spitze zwei hand-
schuhfingerartige Fortsätze trägt. Das dritte und vierte Beinpaar haben
den äusseren Ast zu einer breiten Platte entwickelt, an deren Rande
grosse, handschuhfingerförmige Fortsätze stehen ; die innere Basalplattc
ist kammartig mit langen Schwimmhaaren besetzt, zwischen beiden
besteht der innere Ast als unscheinbarer, borstentragender Fortsatz.
Das letzte Beinpaar endlich entwickelt keine Basalplatte, die beiden
Aeste sind fast gleich unbedeutend , auch der äussere Kiemensack ist
geringfügiger als bei den übrigen Beinpaaren.
Der Hinterleib beugt sich nach der Bauchseite ziemlich weit
nach vorn um. Seine obere Wandung ist einfach bis zu der Stelle, wo
die beiden Borsten eingelenkt sind. Hier bildet die Wandung einen
deutlichen Wulst, der sich eine Strecke weit am Hinterrande hinunter-
zieht. Auf der Spitze dieses Wulstes stehen die beiden Schwanz-
borsten, die ziemlich lang und gerade in die Höhe gerichtet sind. Sie
haben noch keine Schwimmborsten. Die beiden grossen gekrümmten
Domen an der Spit^-^ ' "* '^rleibes sind schon gebildet, liegen aber
UntersQchnngen ober Bau und Entwicklung der Artliropoden. 289
aufwärts gerichtet der Wandung dicht an und werden von der Cuticula
dieser Wandung eingeschlossen.
Das Haftorgan besteht jetzt aus einem Haufen grösserer und
kleinerer Zellen; die letzteren liegen mehr nach oben und in der
Mitte. Die äusseren Zellen wachsen nach oben in die Länge ; sie haben
alle einen körnigen Inhalt. Auf halber Höhe des ganzen , wulstartig
vorragenden Organs findet sich ein scharfer kreisförmiger Chitinring,
dessen Bedeutung mir unklar ist. Eine Oeffnung ist an dem ganzen
Organ nirgends vorhanden. Dicht hinter dem Organ inserirt sich mit
abgerundeter Fläche jederseits der lange und starke Muskel der Man-
dibeln. Ueber die morphologische Bedeutung des Organs gedenke ich
an anderer Stelle zu sprechen.
Die Schale umgiebt bereits den ganzen Körper und könnte auch auf
der Bauchseite einen völligen Verschluss herstellen, wenn die beiden seit-
lichen Falten mit einander verschmölzen. Es bleibt indessen nur bei
einer Berührung. Wenn das Thier auf dem Rttcken liegt, erkennt man
die zellige Structur der Schale schwer, wohl aber, wenn es auf
dem Bauche liegt ; dann kann man die einzelnen Zellen in der oberen
Wand erkennen , da ihr dunkler Inhalt sich von der helleren Begren-
zung scharf absetzt. Zwischen den beiden Schalenblättern sind bereits
deutliche Fortsätze gebildet. Der Rand der Schale wird von einer
Reihe deutlicher, dicht an einander liegender Zellen gebildet, aus die-
sen Zellen wachsen wahrscheinlich nachher die Domen aus. Auch er-
kennt pian besonders deutlich am Rande die Cuticula, welche die
Schalenmatrix bereits ausgeschieden hat. Der vorher beschriebene,
kegelförmig angelegte Stachel des Hinterrandes der Schale liegt weit
herumgekrttmmt um den Hinterleib und reicht mit seiner Spitze bis
auf die Mitte der Bauchseite. Er besteht jetzt aus einem hohlen Gylin-
der , dessen Wandung einzelne dicht an einander liegende Zellen bil-
den. In diesem Stadium ist der Stachel noch bis an seine Wurzel frei
und un verwachsen. Bald aber verbindet sich seine obere Wandung
mit der oberen Wandung der Schalen , ebenso die untere mit der un-
teren Schalenwand und eine spätere völlige Verwachsung nimmt dem
Stachel die Selbstständigkeit.
Die SchalendrUse ist bereits vollständig ausgebildet. Die
Wandungen der Canäle sind etwas dicker als später, auf dem optischen
Querschnitt ist das Lumen und der es umgebende Wandungsring sehr
deutlich. Der Darmcanal ist vollständig fertig; eine Einstülpung des
Oesophagus deutet den Magenabschnitt desselben an , in ihn münden
die über dem Auge endenden Lebersäcke. Eine Querspalte vor dem
Ende des Canals deutet den Beginn des Mastdarms an, zwischen diesen
290 Dr- AdL Dohro,
beiden Punclen ist die Darmwanduog gaoz homogen. Das Heri isl
etwas dickwandiger als später, sonst ohne Unterschied von dem der
ausgewachsenen Daphnia longispina.
Auf dieses vierte Stadium folgt nun die Entlassung der jtuigen
Daphnie aus dem Brutraum. Die Vei^nderungen , welche eingetreten
sind, bestehen wesentlich in dner Veränderung der Bichtung des
Schalenstachels, der jetzt, statt nach unten und auf die Baucbseile ge-
krümmt zu sein, mit seiner grosseren und basalen Hälfte mit den
Schalen verwachsen ist, und die freie Endhälfte nach hinten und oben
gerichtet emporstreckt. Die Schale zeigt sehr regelmässige Hhoroben,
mehr dem Hinterrsnde zu Rechtecke. Die GiUerbalkeu, welche die
beiden Wandungen verbinden, geben unregelmässig von den einzelnen
Feldern ab; so findet man manchmal 3 — 4 Verbindungen von einem
Felde ausgehend. Die Rander der Schalen sind an der hinteren Utllfte
staric gezahnt; der Schalenslacbel hat, so weit er frei ist, i Beihen von
Zähnen , nach dem Blicken jedoch , wo er mit der Sdiale verwachsen
ist, nur % Reihen. Die Schalenfelder des Kopfechildes sind viel un-
regelmassiger als die seitlichen.
Die SchaleedrUse schliesslich ist jetzt ganz deuUidi'in ihren
Beziehungen zu dem jungen Thier zu erkennen. Die Blase best^t aus
dicht an einander liegenden, einem Pflasterepithel gleichenden ZeUeo,
und mundet an ihrem hinterm unteren Ende mit sehr deulUdiem
AusfabniagsgaQge in den Miltelpunct des Labyrinths der Canale. Das
Lumen dieses Ausführungsganges ist halb so gross wie das der Canüle.
Diese selbst lassen noch deutlich ihre EnlstehuDgsweise erkennen. Es
gehen nämlich von den Wandungen der einzelnen Canäle Ausläufer
aus, welche das Lumen gitterartig durchzieb«i. Ebenso gehen auch
von den Wandungen «issen an die benachbarten Canäle kürzere Ver-
bindungsföden. Derselbe Canal , in welchen die Blase mündet, öffnet
sich in einen kurzen trichtetft)rmig«i Ausführungsgang , der sich uiiler
dem nach oben ziehenden Abschnitt der GanSle verliert, — nach mei-
ner Ueberzeugung sich in den Körper ttfi'net. Die obere Sdileife der
Ganale geht bis in die Höhe des Herzens.
lieber das ausgewachsene Thier weitere Mittheilungen zu machen
ist um so tlberfltlss^r, ale in den A]:i)eiten Lsntic's, KLtnzniGEi's und
P. F. Müllkb's, Anderer zu geschweigen, die Organisation ausführlich
be^rochen ist. Allgemeinere Auseinandersetzungen über die Morpho-
logie der Daphnien behalte ich mir für einen Au&atz vor , in dem ich
meine embry «logischen Unlersucbungen über die Gruslaceen abza-
schliessen gedenke. Hier will ich nur noch in Kürze auf die Oi^nisa-
üiitersnchfingeii über 8an nnd Entwicklung: der Arthrof»odeii. 291
tion der Scfaalendrttse und einige Puncte der Entwidclung eines Lyn-
ceus und der Daphnia sima eingehen.
Die Blase der Schalendrttse von Daphni« sima (Taf. X, Fig. 2)
liegt topographisch genau an derselben Stelle, wie beiD. longispina,
d. h. da, wo ein unpaarer Weg des Ganais sich in den Körper zu
öfifaen scheint. Ueber diesem Sitick des Ganais verbindet sich der
Sack mit dem Ganalsystem durch eine schmale Mündung. Während
bei D. longispina d«r Sack quer liegt und auf der langen Seite aus-
mündet, findet man ihn dagegen bei D. sima der Länge nach gelegen,
die Mündung an seinem engen unteren Ende.
Die Schalendrüse des Lynceus unterscheidet sich wesentlich von
der der Daphnien dadurch, dass nur ein Ganal vorhanden ist und
dass die anhängende Blase nicht vor, d. h. nach dtem Kopf tu, son-
dern hinter dem Ganal liegt und dort von unten in ihn einmündet.
Der Ganal hat aber noch die Eigenthümlichkeit, dass an seinem unteren
Ende sich zwei Reihen von maschenartigen Hohlräumen befinden, wäh-
rend dieGanäle der Daphnien nur eine Reihe solcher Hohlräume aufweisen.
An dem Embryo von Daphnia sima ist besonders das Haft-
organ (Taf. X, Fig. 5 u. 6) der Beachtung werth. Dasselbe besteht
aus einem umschliessenden Wall und einem innren Kegel. Der lets-
tere wurzelt rückwärts näher nach dem Herzen zu, von dort gehen Fa-
sern, — wahrscheinlich Muskelfasenii doch vermochte ich darüber
nicht Sicherheit zu gewinnen — nach oben und haben an ihrer Spitze
eine kleine gerundete Guticula- Klappe; diese senkt steh nach allen
Seiten , steigt dann aber wieder an den verdickten Hypodermiswan-
dungen in die Höhe und bildet einen deutlichen runden Wall um jene
Kappe. Sieht man das Haftorgan von oben an, so erkennt man zwei boh-
nenförmige Zellenhaufen im Innern, deren Länge 0,034 Mm. beträgt,
deren Breite (d. h. beide zusammen) 0,048 Mm. ausmacht, deren ein-
zelne aus Kern und umgebende K<$mchenraasse bestehenden Zellen
0,004 Mm. messen. Diese Körper liegen dicht über den hinteren Mus-
keln der Ruderantennen. Vielleicht stehen die Fasern , die ich vorher
erwähnte, im genetischen Zusammenhange mit diesen Zellhaufen.
Auch die Gestalt der Kappe des inneren Faseriiegels erkennt man vom
Rücken her besser; sie ist kein runder Knopf, sondern ein breiter,
querer, ovaler Wulst. Ich habe nun zwar nie gesehen, dass die jungen
Daphnien sich mittelst dieses Apparates an Glaswänden festhalten
können, aber das Factum ist von sicheren Beobachtern constatirt, also
nicht zu bezweifeln. Da Hesse sich nun vermuthen, dass der dazu an-
gewandte Mechanismus eine einfache fiananunine ist, dass der Kegel
sich in der Mitte mittelst der lanp Vt, dadurch den
292 Dr. AnU Dobro, DatersnchongeD ftber Bau uud EqtwkUiiiig der Aifkopodm.
umgebenden Wall an die Glaswand — resp. Stein — drückt und nun
in diesem so geschlossenen Raum die Luft verdünnt.
Dicht hinter diesem Apparat beginnt wie beiD. longispina der
Schalenstachel (Taf. X, Fig. 7), in dessen Basis das Hen liegt.
Man kann die cylindrische Wandung desselben sehr deutlich bis an die
stumpfe Spitze verfolgen , welche ein bischen nach unten vorragt.
Diese stumpfe Spitze entspricht dem langen aufwärts gerichteten
Stachel von D. longispina; sie verschwindet bei erwachsenen
Thieren völlig. Dass dieser Stachel, obwohl er unaufhörlich mit den
Schalenhälften verwachsen ist , dennoch sein eigenes , rundum abge-
schlossenes Lumen besitzt , geht daraus hervor, dass bei stärkerem
Druck des Deckgläschens an der Basis grüne Dotterflüssigkeit in ihn
hineintrat und bis an die Spitze vordrang. Dadurch ward ganz klar,
dass die Höhlung des Stachels von dem Innenraum der Schalen durch
eine eigene Wandung getrennt sei.
Vom Embryo des Lynceus habe ich nur zu sagen, dass er weder
ein Haflorgan noch eine Spur eines Schalenstachels besitzt. Die Schale
ist an ihrem Hinterrande scharf kartenherzförmig ausgeschnitten und
umgiebt den ganzen Embryo, die Schalendrüse legt sich als ein Strang
neben einander liegender einfacher Zellen an.
EiUiiug der ibbildimg.
1^. I. Schalendrüse einer erwachsenen Daphnia longispina. a Blase,
i Can^le. r MandibeK
Ki^« t« Schaiendrüse einer erwachsenen Daphniasima. Bezeichnung wie obe n .
Ki^. S, Schalendrüsen -Anlage in einem Embryo von Daphnia longispina.
« iimi i wie oben. 6i Eintritt der Cantile in die Körperhöble. d Balken-
biUiung innerhalb der Schale, e Spalt rwischen Schale und Körper.
Kii^x 4« H;»ftor|tan eines Kmbr>'0 von Daphnia longispina.
l^tjSv S. Haftorgau eines Embr>o von Daphnia sima. c oberer Wal], h Herz.
KV «V llaftoi^n » » » » » c Faserzüge. h Herz.
jt\*A SchalendrUsencanfile. i Darmwand.
Kii;;, « . Rücken eines Embryo von Daphnia sima. c Haftorgan, h Herz, seh Scha-
lendrüsencanäle. si Schalenstachel.
I-V* $—13. Daphnia longispina.
Kig 8. Naupliusstadium des Embr)'0. a Oberlippe. 6 unterer Wall der Mund-
oinslülpung. I, 11. IH Antennen und Mandibeln.
Ki^. 9. Vorgi'schrttteneres Stadium vom Rücken gesehen, c Haflorgan. st Scha-
lenstachel, j? Coramunication des Schaleninnenraums mit dem Körper.
Die )^^lben Umrisse bedeuten die Schalanlage.
ri|S. 10. Derselbe Embryo von der Seite. Die römischen Zahlen bedeuten die Ex-
tremitäten w^ie bei den Abbildungen zur Embryologie der Cumacecii.
$ Schalenrand, hek Schwanz höcker.
Kij!. H. Derselbe Embr>'o vom Bauche gesehen. 2 Die Afterspalte.
Kig. It Ein noch weiter entwickelter Embryo, t Darm. & Auge, st Schalen-
Stachel, hck Schwanz höcker. d Lebersack, gli oberes, gl^ unteres
Si'hlundgaugiiou. (Die übrigen Ttieile des Nervensystems waren nicbl
tu erkennen.)
Kig. 48. Chorion eines Sommer-Eies.
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^ (IK'
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Jenaische Zatschn^ Bä. V.
Jemine Z&tsdiriA, Bd- V.
Jvtdisdie l&tschr^ Bd V
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Ilntersvrhvngen Aber Bav vnd Entwirklmig der Arthropoden.
Von
Dr. Ant. Dohm.
(Mit Taf. XI u. Xn.)
7. Zur Kenntniss Yom Baa nnd der Entwicklung von Tanais^
Fritz Müllbr berichtet uns, dass es wesentlich eine Eigen thüm-
lichkeit der Scheerenasseln gewesen sei , welche ihm , neben dem
aufgefundenen N a u p 1 i u s des P e n e u s , den Gedanken für die Grund-
legung der Crustaceen- Genealogie eingegeben habe. Es heisst auf
Seite 1 0 seiner Schrift »Für Darwin« : — Deine nähere Untersuchung er-
gab, dass diese Asseln treuer als ii^end ein anderer der erwachsenen
Kruster manche der wesentlichsten Zo^aeigenthttmlichkeiten, namentlich
deren Athmungsweise bewahrt haben. Während bei allen anderen
Asseln die Hinterleibsftlsse der Athmung dienen, sind diese bei unserer
Scheerenassel reine Bewegungswerkzeuge , in die nie ein Blutkörper-
chen eintritt und der Hauptsitz der Athmung ist wie bei den Zo^a in
den von reichlichen Blutströmen durchrieselten Seitentheilen des Pan-
zers, unter weichem ein beständiger Wasserstrom hinzieht, unterhalten,
wie bei Zo6a und den erwachsenen Decapoden, durch einen Anhang des
zweiten Kieferpaares, der allen anderen Edriophthalmen abgeht.«
Im Bestreben , auf der von Fritz Müller betretenen Bahn fortzu-
schreiten, griff ich natürlich nach der ersten Gelegenheit, einer Ta-
naisart habhaft zu werden. Ich fand in Millport ziemlich häufig
Tanaisvittatus; leider aber war die Jahreszeit schon so vorgerückt
und meine Zeit durch die Untersuchung der Gumaceen so in Anspruch
genommen , dass ich keine Eier mehr fand und von der Anatomie nur
unvollkommene Bruchstücke erarbeiten konnte. So machte mir beson-
1) Die zu diesen üUnterauchungen« gehörenden Aufsätze 4. Entwicklung und
Organisation von Praniza maxillaris, 5. Zur Kenntniss des Baues von Paranthura
Costana , 6. Zur Entwicklungsgeschichte der Panzerkrebse , befinden sich in dem
XX. Bande der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie.
Bd. V. 8. SO
294 Dr. Anl. Doht»,
ders die Natur und Beschaffenheit der Hundtheile viel zu schaffen , und
ich kam zu keiner Klarheit darüber. Als ich spater in daa zahlreichen
und ausführlichen Beschreibungen Khover's mich zu belehren sucht«,
sah ich, dass es diesem sorgßiltigen Zergliederer von Crustaceen ebenso
wenig gpluiii;en war, und auch die Notizen, welche in Spence Bate's
Sossileeyed CrustaceaVol. Hpag. I^ond 12* zu finden sind, beruhen
weder auf Orij^iaaluntersuchungen , noch sind sie, wie ich jetzt sagen
kiinn, richlip. Kürzlich dagegen bat derselbe englische Zoolog (Car-
cinologic^l ^lianings No. IV. in Anoals and Magazin of Natural History
for August ISIiS) auf einen Punkt der Anatomie von Tanais aufmerk-
sam gemacht, der gleichfalls mit der Atbmungsweise zusammenhüngt.
Spence Bäte beschreibt und zeichnet einen nbranchial appendage atla-
ched to ibe lirst pair of Gnathopodav. Dieses Organ, das ich anfänglich
missvcrsland , (Jessen. Befestigung an der Aussensvand des vorderen
Leibesabschnittes mir indess von Spencc Bäte persitnlicb gezeigt wurde,
veranlasste iiiich, die Eier einer Tanais zu untersuchen und deren
Entwicklun{^si:;eschidite zu bearbeiten.
Ehe ich aber zur Darstellung derselben scbrcite, liabe ich den ana-
tomischen B'^fund des erwachsenen Tbieres auBeiaanderzusetzon ; es
werden dalxi die Probleme zur Ansdiauung kommen, welche die Em-
bryologie zu li>sen katle.
Der eilten lliUmlicbste Charakter der Tanaiden ist fttr den ersten
Blick d^sPnnzorEcbild(Taf. XII. Fig. 6, 7), welches noch das erste Segment
des Percion mit UberwOlbt. Dasselbe zeigt an den Seiten eine blasen-
artige Wülhiing: unter dieser Wölbung sieht man ttie schnellen, in
unregelmilssiL^ei) Perioden erfolgenden Bewegungen des von Sprhcb
Batb bescbrioiicnen nbranchial appendage«. Unter dem Panier and die
Seitenwando des Kttrpers sehr geschweift, so dass ein ansehnlicher
Hohlraum gi'liildet wird, dessen ttussere Wandung Panzer, dessen
innere die Ktirpcrwand ist. In der Ruhe siebt man jenen »Kiemenan-
bung [1'ig. t>, ~ /} mitunter der Panzerwandung anliegen , ebeitso oft
abc^ sieht iDim ihn Über der Kttrperwand und da liegt dann sein hin-
teres Ende £:cinz oben im höchsten Winkel des Hühlreums. Ausser
diesem Ktpni'^nanbang sieht man noch einen Anhang des Maxillenpaares
(Fitf. 7. IV: , ;in dessen Ende zwei lange Haare sich befinden, innerhalb
des Hohlraums sich anf und ab bewegen. Bei der Prttparation gelingt
es milunlcr, den Kiemenanhang mit der Seilenwand abeolosen ; beide
'ann i;ewöhnlich an dem grossen Scbeeren tragenden Beinpaar
Fii;. 15] fest, so dass Spence Bäte beides als zusammenge-
dung beschrieben hat. In der Darstellung der EntwickJunga-
t wird sich zeigen, dass dies mit Unrecht geschehen ist. Die
Dntersncbnngen Ober Baa ond Entwieklnng der Arthropoden. 295
Riemenplatte ist an ihrem hinteren und spitzeren Ende behaart, ist —
von oben gesehen — nach aussen convex (Taf. XII. Fig. i) und nach
innen concav, ihre Insertion ist näher dem Vorderende , welches ge-
rundet ist, und geht nach untei\ an die Wandung der Leibeshohle. Ob
hier ein Eintritt von Blut stattfindet, weiss ich nicht festzustellen, —
jedenfalls ist aber der befestigende Stiel hohl, sei es nun zur Aufnahme
der ihn- bewegenden Musculatur oder um die Communication der Leibes-
höhle mit der. Platte herzustellen. Am Brustskelet folgt nach dem Kopf
zu auf die Einlenkung dieser Platten eine Chitinleiste, an welcher offen-
bar viele Muskeln der Mundtheile ihre Insertion finden. Von ihr aus
lagern sieh die Mundtheile über, resp. unter einander. Zu unterst, —
also nach aussen — das am Grunde verwachsene Maxillarfuss-
paar (Taf. XII. Fig. 3 uird 8) , das die ttbrigen Mundtheile verdeckt,
darüber und zwar dicht an seiner Basis das erste Maxillenpaar
(Taf. XII. Fig. 4 und 10), dessen Insertion mittelst eines nach den Sei-
ten wagerecht abstehenden Stieles erfolgt, der sich dann erweitert und
nach vom den Kauast, nach hinten aber den haartragenden beweg-
lichen Ast trägt, welcher mit seinen beiden langen Haaren die Kiemen-
platte und die ganze Kiemenhöhle rein zu halten hat. Die beiden Haare
sind ungleich lang, der längere fast so lang wie der Kauast und der
nach hinten gerichtete Ast zusammengenommen. Ueber der Einlenkung
des Stiels der erste nMaxille, also zwischen ihm und derBasalpfatte
des Maxillarfusspaares sitzt ein kleiner blasen förmiger Anhang
(Taf. XII. Fig. 10. V], dessen eigentliche Natur ich erst aus der Ent-
wicklungsgeschichte verstehen lernte. Er ragt mit seinetn vorderen
Theile nach von^ vor, und erinnert im Ganzen an ein Kiemengebilde.
Die Mandibeln (Taf. XII. Fig. 5 und 18) sind nicht lang, haben aber
einen langen Kaufortsatz , der wagerecht nach innen gerichtet ist, des-
sen Ende schräg nach oben zu abgeplattet und mit Zähnen besetzt ist.
Das vordere Stück der Mandibel ist gleichfalls fast rechtwinklig um-
gebogen , an der Spitze gespalten und der obere Rand sägeförmig ge-
zähnt. Die Unterlippe ist einfach und besteht aus 2 gleichmässig
abgerundeten Platten , die mit Dornen besetzt sind. Sehr merkwürdig
ist dagegen die Gestalt der Oberlippe. Dieselbe besteht aus zwei
Theilen: einem oberen und vorderen, der kleiner ist und dicht behaart;
er ist deutlich von dem folgenden grösseren getrennt (Taf. XII. Fig.
9 a, b). Der grössere ist nach vom zu völlig abgerundet, von den Seiten
her begegnen sich zwei gewulstete Fortsätze wie eine Art Zahnhöcker
mit zwei scharfen Dornen besetzt (Fig. 9 c) , und schliessen zwischen
und unter sich einen längeren mittleren Fortsatz ein, dessen Spitze mit
Haaren besetzt ist.
ao*
296 1^- ibt Dtkn,
Die Fttbler und die Beioe sind ganz nomial geslaltel: ieii Qbergelie
ihre Beschreibung. Nur so vid mnss ich erwähnen, dass ich midi oacfa
meinen Erfahrungen unzweifelhaft zu Gunsten von Fkitz Möjlbe's An-
nahme zweieriei männlicher Formen bei Tanais entscheiden moss:
auch bei der von mir in Messina sehr häufig beobadltelen Art kamen
dieselben Formen neben einander vor: die eine mit langen Scheeren. —
die Packer, — die andere mit kürzeren Scheer^i, aber zahlreicheren
•Riechfäden«, mit ihnen zusammen aber nur eine weibliche Form.
Ich gehe nun zur Darstellung der Entwidüungsgeschichte fkber.
Die Eier von Tanais furchen sich, aber nicht regelmässig.
Während der Furdiung ist das Ei aber sdion von 2 Häuten umgeben,
deren eine somit das Chorion, die andere die Dotterhaut oder in-
nere Eihaut vorstellt ^ Von einer Larvenhaut kann noch nicht die Rede
sein, da die Eier nicht über den Anfang der Furchung hinweg waren«
als ich die beiden Häute beobachtete. Die äussere Haut, des Cborion,
ist viel weiter und geräumiger als der Ei-Inhalt und bildet sehr viele
unregelmässige Falten ; die innere schliesst die Dotterballen ein und ist
ganz rund ohne Falten. Spbiccb Batb sagt (1. c. II pag. H6) i»in tfae
eipbryonic condition tbe development is after the manner of the Arophi—
poda rather than that of the Isopoda.« Das ist indess keineswegs der
Fall. Meine Darstellung wird zeigen, dass eine Aehnlichkeit der Ent^
Wicklung besteht mit A seil US, mitOniscusundmitCuma; —frei-
lich weicht Tanais in mehreren wichtigen Punkten von allen übrigen
Entwicklungstypen ab und steht ganz für sich allein.
Das früheste Stadium, das id\ beobachtete, zeigt den Embryo
bereits im Besitz aller typischen Gliedmaassen mit Ausnahme der Pleo-
poden. Der Keimstreif umgiebt in ziemlich gleicher Dicke den Dotter,
nur an einer Seite ist die Masse der Embryonalzellen zahlreicher und
ragt in den Dotter weiter hinein. Gerade an dieser Stelle findet sich
zugleich die tiefe Einbuchtung , welche Kopf- und Afterende des Em-
bryo trennt. Die Kop^latten ragen tiefer in den Dotter vor, als die An-
lage des Pleon und man kann bereits deutlich die Umbiegnng der Falte
sehen , welche den Hinterrand der seitlichen Kopfplatten zu bilden be-
stimmt ist. Sämmtliche Gliedmaassen sind noch in dem Zustande auf-
gewulsteter Platten. Nur die beiden Kieferpaare wachsen nach vom,
d. h. nach der Mittellinie des Keimstreifs zu , -^ alle übrigen Extremi-
täten , auch die Beine richten sich im Wachsthum nach oben gegen den
Rücken zu. Die beiden ersten Beinpaare, d. h. diejenigen, welche auf
<) Falls wir es hier nicht wiederum mit der Blastodermhaut vav Benkdkit's zu
tlmn haben, worüber ich nachträglich keine Gewissheit mehr gewinnen kann.
üntersnchaiigen über ßan und Giitwi«kiuiig der Arthropoden. 297
die beiden Kieferpaare folgen , aJso das Maxillarfusspaar und das Gna-
ihopodenpaar sind bedeutend breiter und stärker als die nachfolgenden
Beinpaare. Mund- und Afterspalte sind in diesem Stadium noch nicht
zu sehen, natürlich auch keine Ober- und Unterlippe. Rollt man den
Embryo so, dass die Rückenseite dem Beschauer zugekehrt wird , so
gewahrt man an den Seiten einen scheibenförmigen Wulst (Taf. XL
Fig. 2 tz) , welcher mit seiner äusseren Fläche die den Embryo jetzt
umgebende Larvenhaut, — welche wie bei den übrigen Crustaceen
sich auch hier nach der Anlage der Keimhaut gebildet hat, — dicht be-
rührt und wie es scheint sogar in unauflösliche Verbindung mit der-
selben getreten ist. Ich habe leider keine Beobachtungen darüber, ob
von Hause aus diese Berührungsfläche bestanden hat, also eigentlich
hier die Zellen der Scheibe nur mit der von ihnen abgeschiedenen Cu-
ticula in Verbindung geblieben sind , während an den übrigen Theilen
die Guticula von der Matrix getrennt ist, oder ob dieser Wulst erst
später entstanden und an die Larvenhaut herangewachsen ist.
Vergleicht man die Gliedmaassenanlagc des T a na is- Embryo mit
derjenigen des Asellus oderCuma, so ergeben sich zwei wesentliche
Unterschiede. Bei Asellus und Cuma ist das Maxillarfusspaar und
die sämmtlichen Pereiopoden so angelegt, dass sie mit ihrem Ende nach
dem Bauche zu wachsen und so sich schliesslich über einander schieben ;
bei Tanais dagegen wachsen sie gerade entgegengesetzt nach dem
Rücken zu und liegen zum Theil sehr unregelmässig; beim Asellus
findet sich noch im Embryo die Anlage und vorschreitende Entwicklung
der Pleopoden statt, bei Tanais dagegen nicht. In letzterer Beziehung
gleicht Tanais mehr Cuma, wo auch erst spät bei den Männchen die
Pleopoden angelegt werden , bei den Weibchen aber gar nicht.
Die nädiste Entwicklungsstufe (Taf. XI. Fig. 3), die ich untersuchen
konnte, war schon wesentlich vorgeschritten, doch lassen sich die Um-
bildungen und Neubildungen aus der eben geschilderten unschwer her-
leiten. Die Kopfplatten sind weiter nach rückwärts In den Dotter
hineingewachsen, die Anlage einer Oberlippe ist zuerkennen, di^
Mundo f f n u n g ist vorhanden , unter derselben die U n t e rl i p p e als
geringe Wulstung des Keimstreifs. Darauf folgen Segmentanlagen
bis an die Grenze des späteren Postabdomens, welches noch keine Spur
derselben zeigt. Die Ausbildung der Gliedmaassen ist auch entsprechend
vorgeschritten, die Fühler wachsen in die Länge, der obere weiter als
der untere; an dem Aussenrande der Mandibel ist ein Spalt aufge-
treten, welcher sie in zwei Abschnitte theilt, deren obere die eigentliche
Mandibel, der untere der Kaufortsatz wird; da Tanais an den
Mandibeln keine Taster besitzt, erfolgt auch kein Auswachsen der Man-
298 Dr. Ant. Dohrn,
dibelanlage nach oben und in gleicher Richtung mit den Antennen, wie
ich es von Asellus beschrieben habe. Die erste Maxille hat am
Hinterrande eine Einbuchtung erlitten, welche einen alltnillig nach
hinten auswachsenden Ast von derselben abtrennt. Die zweite
Maxille ist unverändert und nimmt auch im Wachsthum nicht zu.
Oberhalb ihres Hinterrandes dicht an dem folgenden Maxiila rfusspaar
findet sich ein abgerundetelä, einer Giiedmaasse ähnliches
Stück (Taf. XI. Fig. 3 /*), das mit zugespitztem Ende unter die Anlage
des Maxillarfusses reicht: über die morphologische Bedeutung dieses
Stückes will ich am Schlüsse sprechen. Das Maxillarfusspaar isU
in die Höhe gewachsen als ein gerader Stiel ; nach hinten hat sich an
der Basis ein abgerundeter Fortsatz entwickelt. Das erste Perejo-
podenpaar oder die Gnathopoden sind noch weiter hinauf ge-
wachsen, und lassen durch ihre jetzt schon bedeutende Dicke' erkennen,
dass sie zu den mächtigen Scheerenfttssen geformt werden, welche
Tanais charakteristisch sind. An der Spitze macht sich auch schon
die Scheerenbildung bemerkbar durch eine Einbuchtung des oberen
Hijiterrandes. Die fünf darauf folgenden Pereioppden liegen alle platt
der Seite des Embryo an und sind ziemlich scharf zugespitzt. Am Ende
des Pieon ist ferner eine Neubildung zu bemerken. Es entstehen dort
nämlich jetzt schon die letzten Pleopoden, — die gabelförmigen
Anhänge des Asellus — als eine gespaltene rückwärts gerichtete Ex-
tremität. In dem frtäicm und isolirten Auftreten dieser Extremität ist
wieder eine grosse Aehnlichkeit mit der Entwicklung von C u m a zu
bemerken. Die Afterbildung entzieht sich der Beobachtung, da dieser
hinterste Theil des Pleon von den Anhängen und von den Kopfplatten
verdeckt wird. Liegt das Ei auf der Seite, so dass man don Keimstreif
im Profil sieht , so bemerkt man im Gentrum der Dotteroberfläcbe einen
grossen breiten Ring (Taf. XL Fig. 3 tz). Die innere Begrenzung des-
selben liegt aber höher als die äussere, woraus folgt, dass wir einen
sich nach oben verscbmälernden und oben abgeplatteten Kegel vor uns
haben. Dieser Kegel ist der weiter entwickelte scheibenförmige Wulst,
welchen ich vom ersten Stadium beschrieb. Unter ihm etw^as nach vorn
zu befindet sich ein anderer Ring, der gleichfalls dem Dotter aufliegt;,
dieser zweite Ring ist die Leberanlage, die hier wie beiAsellu'f.
und Guma angelegt wird. Schliesslich findet sich noch eine gebogene
Gontour (Taf. XI. Fig. 3 ß), welche zwischen der Leberanlage und den
Maxillen von dem Grunde der Mandibel bis an das Maxillarfusspaar
geht: diese Gontour haben wir in gleicher Woise schon bei Guma
kennen gelernt: es ist die. er^i^ Andeutung des Panzers.- Alle drei
Hüllen umgeben den Embryo auch noch in diesem Stadium.
(Iii(ersiichiiii)ren Aber ßait und Kiitwicklnti^ der Arthropoden. 299
Das nächste Stadium (Taf. XI. Fig. 4-~6) ist gleichfalls sehr lehr-
reich. Kopfpiatten, Oberlippe, Unterlippe sind wesentlich
fortgeschritten in ihrer normalen Entwicklung. Auch Fühler und
Mandiheln lassen keine wesentlich neuen Eigenthümlichkeiten be-
merken. An den ersten Maxillen ist aber in soweit eine wesent-
liche Veränderung aufgetreten^ als der hintere Ast sich mehr in die Höhe
gerichtet hat und einfach als eine Fortsetzung des vorderen mehr ab-
gerundeten Abschnittes erscheint. Legt man den Embryo auf den
RttdLen, so gewäb rt das ersteMaxillenpaar einen sehr eigenthüm-
Hchen Anblick ; die Gestalt ist aber schwierig tu beschreiben , — ein
Blick auf die Abbildung (Taf. XI. Fig. h. IV) leistet bessere Dienste.
Die zweite Maxille hat sich in nichts verändert; sie steUt nach wie
vor eine kleine gerundete Platte vor. Unter derselben uad ganz deut-
lich von ihr getrennt liegt jener merkwürdige Anhang. Er hat sich
jetzt weiter losgelöst und mit seinem freien Ende gleichfalls nach dem
Rücken zu gerichtet; seine Bdsis wird von dem allmälig weiter herab-
wachsenden Rande des Panzerschildes bedeckt. An den Maxil-
le rfüssen sind keine wesentlichen Neuerungen zu bemerken; auch
das grosse Gnathop öden paar ist nur in soweit vorgeschritten , als
die Anlage der Scheere sehr klar geworden ist. Die Pereiopodön
sind stark in die LHnge gewachsen , dabei aber zugleich stärker ge-
krümmt als bisher. DasPleon scheint etwas verkürzt zu sein, hat
deutliche Segmentabschnitte bekommen, aber nodi keine Pleopoden,
mit Ausnahme des letzten Paares, das seine Lage vdUig verändert hat
und statt nach rückwärts jetzt nach vorwärts gerichtet ist, d. h. seine
normale Richtung vom Pleoo noch hinten angenommen. Es ist etwas
grösser geworden , besonders beginnt der innere Ast den äusseren im
Wachsthum zu überflügeln. Die Aftcrspalte ist jetzt sehr deutlich
zu erkennen, auch die Segmenteinschnitte des ganzen Körpers sieht
man viel deutlicher von oben und im Profil. Die Lebern haben die
normale Entwicklung erreicht und wachsen als einfache Säcke nach
hinten aus und die beiden über ihnen befindlichen seitlichen
kegelförmigen Fortsätze sind stark verlängert, aber in noch un-
geschwächter Verbindung mit der Larvenhaut.
Im folgenden Stadium (Taf. XI. Fig. 7) begegnen wir grossen und
wichtigen Veränderungen. Erstlich hat sich die Oberlippe helmartig
über die Mundöffnung hinüber gelegt ; ihr Unterrand zeigt zwei Ein-
buchtungen , welche drei Lappen aus demselben bilden , einen mitt-
leren und zwei seitliche. Nach vorn zu zeigt sich indess noch keinerlei
Trennung der Oberlippe in zwei Abschnitte. Die Unterlippe ist
unverändert und besteht aus zwei abgerundeten, breiten Platten, die
302 . Dr. Ant. Dobro,
•
in den Winkel hinein ragt^ welchen der vordere Lappen der ßasalplatte
mit dem Tasiertheil bildet. Der hintere Ast dagegen liegt unter dem
Taster und ragt darunter hinweg, so dass seine SpiUe den gleich zu
besprechenden »Kiemenanhang« berührt. Die zweite Maxille ist
jetzt ganz in d&ti Hintergrund getreten und sitzt als kleine , gerundete
Platte in dem stumpfen Winkel , welcher den Tastertheil des Maxillar-
fusspaares mit dem neuen kreisförmigen Abschnitt bildet, der jetzt die
eigentliche ^sis des ganzen complicirten. Apparates bildet. Der «Kie —
menanhang« hat sich derweil immer mehr gekrümmt und ist mit
seiner Insertion immer mehr hinaufgerückt durch das allgemeine
Wachsthum des Yorderkörpers, so dass der ganze Apparat jetzt vor und
oberhalb des gleichfalls nach vorn herumgewendeten Gnathopoden-
paares sitzt und von der Seite her völlig durch den immer tiefer her-
abgewachsenen Seitenpanzer in die Kiemenhöhle eingeschlossen wird.
Dass die B^ine sich fertig entwickelt haben , dass ferner nach dem
Auskriechen bei der nächsten Häutung die Pleopoden erscheinen , dass
die gabelförmigen Anhänge sich gliedern etc., das versteht sich von
selber und bietet im Vergleich zu den sehr wichtigen und vielen Auf-
schluss gebenden Entwicklungsvorgttngen des vorderen Körperah-
Schnittes der Tanaiden wenig Bemerkenswerthes dar.
Es mag mir nun gestattet sein, an diese thatsächlichen Mittheilun-
gen einige Ausführungen und Erwägungen anzuknüpfen. Die Unklar-
heit und Unsicherheit, welche bezüglich der Deutung der Mundtlieifo
von Tanais bisher bestand, rührt offenbar von der aussergewöhn-
liehen Entwicklung des Maxillarfusspaares und von dem völligen Ent^
wickiungsstillstand der zweiten Maxillen her. Ich habe leider die
Monographie der Gattung von LaijBBORG nicht einsehen können und
weiss nicht, wie derselbe die Schwierigkeiten gelöst hat, über die
KReYER und nach ihm Swcgb Bäte nicht haben Herr werden können.
KR0TEII sagt bei der Beschreibung von Tanais gracilis (Naturhisto-
rtsk Tidsskrift. Anden Raekkes andet Bind 4846—4849), »über die
Mundiheile könne er nichts Näheres berichten ; nur von den Kieferfüs-
sen könne er mittheilen , dass die eigentlichen Kieferplatten klein und
etwas vierkantig seien, mit einer Borste an dem vorderen Innenwinkel
versehen wären, die Palpen seien plump und fUnfgliedrig und es fllnde
sich eine kleine, langgestreckt-ovale Geissei oder Anhang an der äusse-
ren Seite der Kieferfüsse am Grunde (»og at en lille, langstrakt-oval
Svebe eller et Vedhaeng findes paa Kjaebefieddernes ydre Side ved
Roden« 1. c. pg. 409). Und von Tanais tomentosus heisst es: »das
;rweite Kieferpaar scheint nur aus einer einzigen, einwärts gekrümmten,
am Ende leicht zugespitzten Platte zu bestehen, wenigstens bin ich
Uiitersuchnngeii über Bau uud Eutwiokliiug der Arthropoden. SOS
nicht im Stande gewesen von irgend einem andern Theil zu berichten,
den man für dies Kieferpaar hätte halten können. Die Platte scheint
zweigliedrig zu sein , wenn schon undeutlich , am Ende trägt sie eine
Borste »som ved Roden er Ijerdanned , paa Siderne nogle lange Haar«
(1. c. pg. 415). Ich kann nicht mit Sicherheit erkennen, welches Organ
mit diesen beiden Beschreibungen gemeint ist, ob der »Kiemenanhang«
oder das wirkliche zweite Kieferpaar, welches als Platte an dem Kiefer-
fusspaar festsitzt. Dass Fbitz Müller mit seinem »Anhang des zweiten
Kieferpaares« den Kiemenanhang gemeint hat, geht aus seiner Beschrei-
bung desselben Organs in dem Aufsatze »Ueber den Bau der Scheeren-
asseln« (Arcfa. f. Naturg. 1864 pg. 1) hervor. Dort giebt er an, dass
»ein lang säbelförmiger Anhang des zweiten Maxillenpaares« die Ath-
mung unter dem Gephalotboraischilde unterhalte.
Da tritt nun vor allen eine Frage in den Vordergrund, ob der »Kie-
menanhang« in irgend welcher Verbindung mit dem zweiten Maxillen-
paare steht , ob nicht. Seine erste Anlage ist freilich schon ziemlich
weit ab von der Platte der Kiefer, aber es wäre doch denkbar, dass ein
Anhang so weit nach oben entspränge , da ja auch das Wachsthum der
andern Extremitäten nach oben hinauf stattfindet. Auch die erste Ma*
xille bekommt ihren zweiten Ast an der oberen und hinteren Seite,
wennschon er immer in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Grund-
gliede bleibt. Das wären Grttnde , weldre für diese Meinung geltend
gemacht werden ktfonen , während andere dagegen einstehen. So vor
Allem die völlige Trennung des Anhangs vom Grundgliede, seine selb-
ständigen Bewegungen , seine (iestalt und Einlenkung und — die Mög-
lichkeit in der Kieme der Cumaceen , oder vielmehr dem kiemenartigen
Organ dieser Thiere , dessen embryonale Anlage ich besdirieben habe
(Jenaische Zeitsohr. V, pg. 69) ein Homologen zu sehen. Wie bei den
Cumaceen mit dem Auftreten des Cephalothoraxschildes der kleine An-
hang erscheint, weicher nachher als das lange kahnförmige Organ un-
ter dem Schilde verborgen liegt, so erscheint auch bei Tanais dieser
Anhang zugleich mit dem Panaersohilde. Bei Cuma liegt aber der An-
hang auf gleicher Höhe mit dem ersten Maxillenpaar, während das
zweite seine drei Aeste normal entwickelt, deren einer naob hinten sich
richtet und wie bei Tanais der zweite Ast des ersten Maxillenpaares die
Reinhaltung der Kiemenhöhle besorgt. Wenn also diese beiden Theile
homolog sind, so könnte gar nicht die Rede davon sein, in der Tanais-
Kiemenplatte einen Anhang deb zweiten Maxillenpaares erblicken zu
wollen , es wäre denn , dass sich nachweisen Hesse , wie jener kleine
Anhang nur die Spitze der weiter nach hinten wurzelnden und noch
nicht in die Erscheinung getretenen grossen Platte wäre , welche aller-
304 Hr. Aiit. Dnlirii,
dings llbpr dpm nrstfln MüxillcnrusspHare mit der Körpprwand lusam-
nienh<ingl. Nun kommt dazu , dass der Kieinenappni'al bei Cuma in
Verbindung .mil dein M^xillcnfusspaar sUBht, wie ich 1. c. pg. 71 hc~
sohriehi'n h.ibe. Wir ich mich aber an einer bei Messina juefangenen
und spiiler von mir zu beschreibenden Cuma überzeugt habt", isl diese
Befestigung durchaus secundtlr; die Hauptsache isl, dass die Kieme
direcl mit der Leibesw.ind duiwli einen runden Stiel, den ich auch I. o.
pg. 71 beschrieb, verbunden wird, und dass nicht durch die Be-
wegungen desK-iererfusspaare.s, sondern durch eine eigne
im Kärper gelegene Husculatur die Kieme auf- und abbe-
wegt « ird. Dadurch wird die Aehnlichkcit der beiden in Fragt-
stehenden Bildungen sehr erhöht, denn auch der Anhang in der Kie-
menhühle von Tanais wird durch eigne Muskeln bewegt. Und da beide
auch physiologisch dieselben Leistungen votlbringen, — nümlich die
Erneuerung und Bewegung des Wassers in der Kiemenhöhle — so konnte
man vielloicht glnubcn, die KiemenanhUuge der Cumaccon und Ta-
naiden seien homolog. Wie nun in Rücksicht auf die allgemeini-
Horphologie der Crustaceen diese Frage zu entscheiden ist, darüber
werde ich meine Meinung in dem allgemeinen Aufsatz am Schluss
dieser speeiellen Untersuchungen sagen.
Aber noch auf einen zweiten Punkt der Aehnlichkoil zwischen
Cuma und Tanais habe ich aufmerksam zu machen. Er betrifft die
Zwciiistigkeit der (jiiedmaassen hinter den beiden Haullenpaaren , dii-
bei Cuma ja so evident isl. Auch bei Tanais existirl dnvon noch
eine Spur grade am Haiillarfusspaar. In dem zweiten von mir beschrie-
benen Stadium wachst an der Basis dieser EstremiUlt die erste Anlage
des Basallappens aus: diesen Auswuchs, glaubeich, darf man fUr
homolog dem inneren Aste der gleichen ExlremitJlt der Cumaeeen hal-
ten, über dessen Entwicklung 1. c. p. 6.') das Nähere gesagt ist.
Was nun die Anlage und Überhaupt das Vorhandensein eines Pan-
zerscliildes anlangt, so brauche ich nicht erst darauf hinzuweisen, nach
welcher Seite dasselbe für die Bestimmung der Genealogie zu verwer-
Ihen ist. Darüber werde ich gleichfalls in dem zusammenfassenden
Aufsatz am Schluss dieser Untersuchungen mich aussprechen.
Und so will ich hier auch nur kurz daraufhinweisen, dass die
Embryologie von Tanais mir endlich geboten hat, wonach ich lange
und emsig gesucht habe : nilmlich ein Homologen der blattförmigen
Anhünge der Asellus-Embryonen. Denn dafür muss ich die
kegelförm igen FortsUlze erkennen, welche die Seiten des Embryo
mit der Larvenhaut in Verbindung setzen. Ihr Entstehen und ihr Ver-
gehen gleicht bis auf geringe Abweichungen dem jener merkwürdigen
Untersiichungeo über Bau and Entwiekloog der Arthropoden, 305
und hinsichtlich ihrer morphologischen Bedeutung so vielfach missver-
standenen Organe, beide treten nun zusammen als alte Urkunden längst
verflossener Zeiten ein und liefern dem Historiker des Krebsstarames
untrügliche Beweise in die Hand, wo er die Ausgangspunkte des
Edriophthalmen-Zweiges in dem Stamme zu suchen hat.
Fig.
1
Fig.
1
Fig.
2
Fig.
3
Fig.
4
Fig.
5
Fig.
6
Fig.
7
ErUirang der AbbildnngeD.
Tafel XI.
-8. Entwicklung von Tanais Sa.vignyi (?).
Frühestes Stadium. Die römischen Ziffern bedeuten dasselbe, wie auf
den Tafeln der Cuma-Embryologie.
Dasselbe Stadium vom Rücken.
Ein etwas späteres Stadium. Extremit&t XIX ist hinzugetreten, a und 6
Ober- uud Unterlippe, d Leboranlage. e Andeutung des Panzerschildes.
/" Kiemenanhang. U kegelförmiger Fortsatz.
Späteres Stadium. Bezeichnung wie oben. i Noch von Chorion, Dot-
Dasselbe Stadium von der Seite. > terhaut, Larvenhaut um-
,, ,, vom Rücken. J schlössen.
Späteres Stadium. Chorion und Dotterhaut sind abgestreift, k die Augen.
Die kegelförmigen Portsätze sind verschwunden.
Fig. 8. Vorderkörper eines zum Ausschlüpfen reifen Embryos. Larvenhaut ist
gesprengt, a das untere a, das obere Stück der Oberlippe.
TaMXIL
•6. Tanais vittatus.
Kiemenanhang, a Stiel, welcher denselben an den Leib befestigt.
Gnathopode und erste Paar der Pereiopoden.
Blaxillarfusspaar. a Basalplatte, b vorderer Lappen derselben, c Taster.
Erste Maxille. a Kauast. b Kiemenast.
Mandibel.
49. Tanais Savignyi.
Fig. 6. Vorderkörper, l. Obere Antennen. VII. Gnathopoden. k Augen, f Kie-
menanhang in der Kiemenhöhle, in die man von oben hineinsieht.
Fig. 7. Derselbe im Profil. Dieselben Bezeichnungen. IV ist der hintere Kiemen-
ast des ersten Maxillenpaares (»Packer« nach FaiTz Müller).
Fig. 8. Maxillarfuss.
Fig. 9. Oberlippe, a vorderer, oberer Theil. b unterer Haupttheil. c seitliche,
mit Stacheln versehene Wülste.
Fig. 40. Mundtheile. IV erste Maxille, IVi Kiemenast derselben. V zweite Maxille
als einfache Platte an der Basalplatte von VI dem Maxillarfusspaar befe-
stigt. /" Kiemenplatte.
Fig. 4 4 . Obere Fühler.
►ig-
4-
Fig.
i.
Fig.
%.
Fig.
S.
Fig.
4.
Fig.
5.
Fig.
6-
306 0^« Ant Mavii Unt^nebHugm ete.
Fig. H. Untere Fnhier.
Pig. 48. Letztes Pleopodenpaar (gabelförmige Anhänge).
Fig. 14. Ein hinterer Pereiopode.
Fig. 15. Gnathopoden-Einlenkung. a Kiemenanhang. 6 Körperwan^ung. c Gna-
thopode.
Fig. 46. Der auf das Gnathopodenpaar folgende Pereiopode.
Fig. 47. Scheere des Gnathopodenpaares (»Riecher« nach ^ritz Müller).
Fig. 18. Obere Hälfte der Mandibel.
Fig. 19. Ein Pleopode.
A.
si^i.
Mittheilungen aus dem chemischen Laboratorium yon
E. Reichardt.
Heber die Zersetziugs^odMte des TraabeMMckefs bei
BiftwirkBig starker BaseM^
von
Dr. H. Reichardt.
Schon im Torigen Jahrhundert beobachtete L0WIT7J: dass Aetz-
kalk , die Alkalien und bei erhöhter Temperatur auch das Ammoniak
den Traubenzucker brdnne und erkannte dies alsEigentbümlichkeit des
Honigzuckers gegenüber dem Rohrzucker, welcher diese Reaction nicht
giebt. Nach der Trennung der beiden Zuckerarten des Honigs , deren
Verschiedenheit Lowitz zuerst nachwies , versuchte derselbe auch die
durch Einwirkung des Aetzkalks auf den festen Honigzucker erhaltene
Saure zu isoliren, indem er, nach Entfernung der gefärbten Theile
mittelst Kohlenpulvers , aus der Lösung des Kalks und der gebildeten
Säure letztere mitBleiesstg ausfiiUte und den Niederschlag durch Schwe-
felsäure zersetzte.
I^ter, in den Jahren 4837 und folg., waren es besonders einige
französische Chemiker , die sieb mit der Erforschung der Zuckerarten
und so auch mit der Einwirkung der Basen auf dieselben beschäftigten.
Malagdti^ fand, dass beim' Auflösen von Zucker in schmelzendem, kau-
stischem Kali und Kochen dieser Lösung Ulminsöure (adde ulmique)
und Ameisensäure gebildet werde. Pi^liqot ^ fand zuerst die Glucin-
1) Crel's Annalen 179t, Bd. I, %9% u. folgd., 845 u. folgd.
9) Berzblivs, Jahresbericht, 1887| S. 918.
8) AAiiaton der Pharmacie 4889, Bd. XXX, S. 78. Bbrzblivb Jahresbericht,
1889, S. 978, 1840, S. 457.
308 H- fUichwIt,
säure — so von Dumas, von PfiLiQOT Ealizuckersaure genannt — als
Producl der Zersetzung einer Zuckerkalklösung bei längerem Stehen-
lassen. Er untersuchte das Bleisalz derselben und gab ihm die Formel
CI4HIS0IS, 6PbO, niil welcher seine Analyse, wie schon Berzblics be-
merkt, nicht ganz stimmt.
[)(>i höherer Temperatur fand Psligot andere Zei'setzungsproducte.
Krystnllisirtes Barylhydrat und Traubenzucker, bei 100<*C. zusammen-
geschmolzen, lieferten unter heftigem Ausstossen von Wass^dämpfen
eine braune Hasse, die mit Salzsäure im Ueberschuss versetzt, einen
suhwatv-en, flockigen Niederschlag abschied. Dieser verhalt sich der
.lapnnsiiure ähnlich und wurde von Dumas Melasinsäure genannt. PfiLi—
QOT bemerkte ausserdem noch einen nicht Qüchtigen , Silbersalze leicht
reducirenden Korper, der nicht naher von ihm untersucht wurde.
In neuerer Zeit hat Kawalibb diese Untersuchungen erweitert.
Rdchledbh' berichtet darüber in den Abhandlungen der Wiener Aka-
demie i dass von Kavalier die GlucinsSure als Zersetzungsproduct des
Tannins gefunden und sie dann, um ihre Eigenschaften kennen zu ler-
nen, durch Einwirkung von Baryt auf Traubenzucker dargestellt wurde.
Rawaliek erhielt aber die Glucinsflure nicht, wie PSligot und Huldrr
[s, sp'iter], in tnx^ener Form , sondern in ztihflUssiger. Naoh der an-
gesielUen Elemeniaranalyse bestand sie aus C'^Hi^O'^. Einem Baryt*
salze gab Kawalier nach der Barytbestimmung die Formel S BaO.
C'"H"Oi'.. Die Zersetzung des Traubeniuckers wurde nun weiter von
ihm verfo^t und gefunden, dass auch in etaer WassersloOgasatmo-
sphiire bei höherer Temporatur Bräunung eintrete, und dass das beim
Kochen Übergegangene Destillat wenige Tropfen einer FlUssi^eit, die
derselbe ^t Aceton halt, sufgeKist enthielt. Der Rückstand lieferte
nach dem Behandeln mit Kohlensäure gefärbten kohlensauren Baryt,
der, zersem mit seh wefelsaurehal tigern Wasser, eine dunkelbraune
Lösung gab, welche nach einigem Stehen braune Substanzen ausschied.
Das vom kohlensauren Baryt befreite Filtrat gab, nach Entfernung des
noch geluvten Baryts durch Schwefelssure, beim Kochen ein farbloses
Destillat in dem eine Doppelsäure , von Rochlrbkr — Ameisenessig-
säure — genannt, gefunden wurde. Die Analyse des Barytsalzes dieser
Süure stimmt ni<^t mit der theoretischen Formel.
Soweit reicban die Kenntnisse Über die hier auftretenden Zersetz-
ungen. Allerdings hat Hdloer noch die GlucinsSure und deren Zer-
setz uniisproduct — die Apoglucinsäure — dai^estellt und naher kennen
4j Matbemat. D&turwissenschBftl. 6ltiungsb«richt der Wiener Akademie 1858.
Uli. XXX, 3. tu.
Ueber die Zersetzongsprodacte des Traabenzuekers etc. 309
gelehrt 1. Derselbe erhielt sie aber nicht bei Einwirkung von Basen auf
Traubenzucker, sondern aus dem Rohrzucker durch Einwirkung der
Schwefelsäure und sagt selbst, dass eine nähere Untersuchung der
Glucinsäure wünschenswerth sei.
Einwirkung des Baryts auf Traubenzucker.
Als Alkali wählte ich wegen der so leichten Abscheidbarkeit und
dennoch starken , chemischen Einwirkung den Baryt in der Form des
krystallisirten Barythydrates. Der Zucker war mit Ausnahme einiger,
besonders angeführter Fälle der aus Stärke dargestellte, rechtsdrehende
Traubenzucker , welcher durch Auflösen in kochendem, starkem Alko-
hol, aus dem er beim Erkalten herauskrystallisirt, völlig gereinigt wor-
den war, so dass verschiedene Elementaranalysen genau die Formel
012 H140H erwiesen.
Mehrfache, vorhergehende Versuche ergaben, dass 4^2 ^^4- Baryt
auf ein Aeq. Traubenzucker (C^^H^^O^^j die geeignetsten Verhältnisse
bieten , um sowohl die vollständige Zersetzung des Zuckers zu bewir-
ken, als auch die weitere Abscheidung einer Barytverbindung mit einer
bisher übersehenen Säure zu ermöglichen. Baryt in der Form eines
möglichst concentrirten Barytwassers wurde , dem angegebenen Ver-
hältnisse entsprechend , mit Traubenzucker , welcher in wenig Wasser
gelöst war, versetzt. Bei gewöhnlicher Temperatur färben sich diese
beiden Lösungen während des Mischens nur wenig gelber, und erst
nach längerem, tagelangem Stehen wird das Gemisch gelb bis braun.
Mit der stärkeren Färbung tritt auch die Bildung eines gefärbten Nie-
derschlags auf. Wird die Temperatur erhöht, so färbt sich die Mischung
sehr schnell intensiv braun und bei circa SO^ C. trübt sich die vorher
klar gewesene Flüssigkeit in ihrer ganzen Masse und scheidet sehr bald
einen gelbbraunen Niederschlag ab. Bei dieser Veränderung wird die
Temperatur im Innern nur wenig erhöht , doch bleibt sie auch nach
Entfernung der Flamme bei 84 — 80^ C. einige Zeit constant.
In geschlossenen Gewissen zeigt sich bei der sehr rasch eintreten-
den Zersetzung keine Volum Veränderung, so dass eine chemische Ein-
wirkung der Luft, resp. des Sauerstoffs, nicht stattzufinden scheint.
Flüssigkeit wie Niederschlag reagiren stark alkalisch und ziehen
beide leicht Kohlensäure an. Diese kann aber unmittelbar nach Been-
digung der Reaction nicht nachgewiesen werden.
Die Zersetzung des Zuckers verläuft völlig gleich , wenn krystalli-
4) lournal für prakt. Chemie. Bd. XXI» S. SSO.
Bd. V. 8.
310 A. Retehftrdt,
sirtes ßarythydrat und ge^toolzfeher TVaab^ntucker iti d«m oben äh-
gegebelien Verhältnisse gemischt und Buf dem Wasserbad^ zusammen
erhitzt Werden. Man muss jedoch die Vorsicht gebrauchen-, die gebil-
dete braune Masse sofort nach der unter hieftigem Ausstossen von Was-
serdämpfen stattfindenden Zersetzung jeder weiteren Einwirkung der
Wärme zu entziehen , um die Bildung der von PfiLiGOT au^efundenen
Melasinsäure zu vermeiden. Diese Säure scheint erst bei längerem Er-
hitzen bis zur Trockne g^ildet zu werden und ist wahrsoheiniich ein
weiteres Zersetzungsproduct.
Da die beschriebene Einwirkung des Barytwassers auf Trauben-
zucker eine so deutlich be^ren^te und charakteristische ist , so wurde
der Versuch mit anderen Zuokerarten wiederholt. Rehrzuc&er, welcher
überhatiipt nicht so leicht Von Alkalien zersetzt wird , giebt auch diese
Reaction nicht. Gut kr^stalHsirter, nur schwach gelblich gefärbter In-
vertzucker, aus Rohrzucker durch Inversion mittelst sehr verdünnter
Schwefelsäure dargesteift, gab aber ganz dieselbe Erscheinung, welche
allerdings Auch blos durch die in demselben enthaltenen rechts drehen-
den Fruchtzucker eingetreten sein konnte. Um darüber Gewissheit zu
erhalten , wurde , eigens für diese Prüfung , der iftoch so wenig unter-
suchte, nicht krystafllisirbare, links drehende Fmchtzucker aus Inveri^
Zucker dargestellt.
Nach Dvbrunfaut's Vorsdhrift werden <0 Tbeile Invertzucker und
6 Theile frisch bereitetes Kalkhydrat mit 1 00 Theilen Wasser gemengt.
Das Gemisch erstarrte bald und wurde nach einigem Auswaschen mh
kaltem Wasser erst mit der Hand, hierauf mittelst einer hydraulischen
Presse zwischen leinenen Tüchern bis zur festet , bröckiichen Masse
gepresst. Es nmss bei diesen Operationen jede Erwärmung soi^fältig
vermieden werden. War das Kalkhydrat oder die Zuckerlösung noch
warm , so bilden sidi sofort braune Zersetzüngs(>roducte , die eine un-
gemein lösende Wirkung auf den Zackerkalk ausüben und 'die ganze
Abscheidung desselben verhindern können, oder doch wenigstens
ein sehr braunes Product schliesslich liefern. Nach dem Pressen
wurde die erhaltene Masse festen Zuckerkalkes, der auch in die-
sem Zustande sich bald brsmnt, sofort zerkleineirt und in klei-
nen Portionen, um jede stärkere Erwärmung bei der Zerseizuug 2u
vermeidefn , mit sehr verdünnter Schwefelsäure behanddlt. Der ge-
bildete Gyps wurde von der schwach sauer reagirenden Lösung abfil-
trirt und diese bei gelinder Wärme zuletzt unter Zusatz von etwas
Kreide eingedampft. Der so Erhaltene Zi!tcker wurde noch in Wein-
geist gelöst und stellte , nach Verdunsten desselben , eine nur wenig
gefärbte , auch nach monatelange^ Stehen nidht krystaltisirende , zäh-
Ueber die Zersetznngsproducte des Traobeniiiekers etc. 311
flüssige Masse dar. Eine wässerige Lösung derselben zeigte die für
diese Zuckerart so charakteristische Eigenschaft, den polarisirtcfn Licht-
strahl links zu drehen. Dieses Verhalten stimmt mit dem von Dubrun-
PAUT für diesen Zucker angegebenen völlig überein.
Mit Barytlösung zeigte auch dieser iinksdrehende Zucker g»nz die-
selben Erscheinungen wie der andere Fruchtzucker, tkver scheint Bräu-
nung wie Abscheidung etwas früher zu ei^folgen.
Milchzucker kann in ßarytwasser, ohne die geringste Färbung der
Flüssigkeit zu verursachen , bei gewöhnlicher Temperatur gelöst wer-
den. Beim Erhitzen färbt sich diese Lösung nur sehr allmählig , bei
80<) C. aber wird sie intensiv braun, jedoch ohne dass eineÄbscheidung
stattfindet. Diese erscheint erst bei c. M* C. und zwar in viel gerin-
gerem Massstabe als bei der Zersetzung des Traubenzuckers. Werden
Milchzucker und Barythydratkrystalle trocken erhitzt, so tritt die fleac-
tion unter Ausstossen von Wasserdämpfen und Erhöhung der Tempe-
raitur ein.
Saccharumsäure.
Die Baryt Verbindung , welche beim Erhitzen eines Gemisches von
Barytwasser und Traubenzuckerlösung sich ausscheidet und welche
auch erhalten wird, wenn die braune , durch Zusaromenschmelzeji von
Barythydrat und Traubenzucker erhaltene Hasse so lange mit Wasser
verdünnt wird, als sich noch ein Niederschlag bildet, enthält immer
etwas glucinsauren Baryt. Man muss , um die in dem Niederschlage
enthaltene Säure rein zu erhalten, diesen in Wasser zertheilen und von
verdünnter Schwefelsäure so viel zusetzen, dass die Flüssigkeit schwach
sauer reagirt. Es bildet sich hierbei ein in Wasser lösliches saures
Salz, während schwefelsaurer Baryt sich abscheidet. Nach Entfernung
des letzteren wird die filtrirte Lösung mit Bleizucker versetzt und der
erhaltene Bleiniederschlag schnell ausgewaschen, da er sich an der Luft
leicht bräunt. Aus diesem erhält man durch Zersetzen mit Schwefel-
wasserstoflf die reine, entschieden sauer reagirende Säure. Ihre Lö-
sung bei gelinder Wärme verdunstet, gie^bt eine braune, pulverisir-
bare Masse, welche sich leicht bei erhöhter Temperatur zersetzt, wie es
scheint unter Bildung eines kohlenstoffreicheren Körpers (Melasin-
säure?).
Die Säure wurde bei 80^ C. getrocknet und dann der Elementar-
analyse unterworfen.
0,8227 grm. gaben 0,5449 grm. GO^ und
0,1496 grm. HO
H. Rcicbnrdl,
ber.
gef.
46,46
4 6, OS
4,»)0
5,15
48,64
48,80
r
m
Die Aoalyse entspricht der Formel C'^H^O'', oder, worauf die
Zusammensetzung der Salze hindeutet, der theoretischen Formel
CUH«08 + 3HO.
üie Säure ist ein gelbbraunes Pulver von zusammenziehendem
Geschraacke, Ittst sich leicht in Wasser und Alkohol, schwierig und nur
wenig in Aether.
Die wässrige Losung fdrbt sich an der Luft dunkler und scheidet
hf:im lungeren Stehen braune Substanzen ab.
Auf dem Platinbleche erhitzt blüht sich die trockne Säure nur we-
nig auf. unter Ausstossen von sauren Dämpfen.
Alkalien rdrben die Saure dunkler; neutraiisirt geben sie beim
EiiidampfeD braune Hassen. Kohlensaurer Kalk oder Baryt werden
unter Entweichen der Kohlensäure von der Säure zersetzt, es bilden
sich saure Salze. Kalkwasser giebt einen geringen, Barytwasser einen
stilrkeren Niederschlag von entsprechenden basischeren Verbin-
dungen.
EisenoxyduIlüsuDg wird von einer Lösung der Süure nicht gefällt,
aber beim Stehen an der Luft durch sie schwarz gefSrbt. Eisenchlorid
erzeugt mit ihr einen dintenartigen Niederschlag, in verdünnten oder
etwiis saueren Lösungen aber nur eine intensiv schwarze Färbung, die
ani Zusatz von Alkali braunroth wird.
Kupfersalze geben in neutraten Lösungen einen graubraunen Nie-
derschlag, löslich in vielem Wasser, leichter bei Gegenwart von freier
Saure oder freiem Alkali; letzteres tost ihn zu einer, im durchschei-
nenden Licht betrachtet, braunen, von oben gesehen aber grün opali-
sirenden Flüssigkeit. Aus dieser scheidet sich bei gewöhnlicher Tem-
peratur langsam, beim Erhitzen sofort Kupferoxydul ab.
Salpetersaures Quecksilberoxydul giebt graue, Quecksilberoxyd
gniubraune Niederschläge; diese lösen sich ebenso wie die schon er-
wähnte Bleiverbindung wenig in Wasser, etwas mehr beim Zufügen
von Essigsäure. Salpetersaures Silberoxyd wird graubraun gefällt, es
tritt jedoch rasch weitere jedenfalls mit Beduction begleitete Verän-
derung auf.
B rech Weinstein giebt nur schwache Fällung; Leimlösung wird gar
niclit geeilt.
üebpr die Zersetzfingsprodiicte des Traiibeuziickcrs. 313
Baryt verbin dun gen.
Mit 1 Atom Basis erhält man ein Salz , wenn kohlensaurer Baryt so
lange mit einer Lösung der Säure digerirt wird , als noch Kohlensäure
entweicht. Die schwachsaure Lösung giebt nach dem Eindampfen eine
graubraune Masse, welche in Alkohol ziemlich unlöslich ist und beim
Erhitzen nur sehr schwierig verbrennt. Der Baryt wurde daher
schliesslich als schwefelsaurer bestimmt.
0,4166 grm. der bei 100^ C. getrockneten Substanz gaben 0,055
grm. BaO,SO»=s30,97o/oBaO.
BaO, C14H608 + 2 HO erfordert 30,79% BaO.
Eine andere Barytverbindung enthielt 2 At. Basis. Aus ihr besteht
zum grossen Theil der anfangs bei Einwirkung des Baryts auf Trau-
benzucker beschriebene Niederschlag. Man kann aus demselben die
Verbindung rein erhalten, wenn der Niederschlag mit Kohlensäure oder
Schwefelsäure zersetzt und die dadurch in Lösung gebrachte Säure
durch Barytwasser abermals gefällt wird. Der Niederschlag löst sich
etwas in Wasser, zieht sehr leicht die Kohlensäure der Luft an und
wird , noch feucht erwärmt , zu einer schwarzen , glänzenden Masse,
welche dann schon eine weitere Zersetzung erlitten hat. Er wurde aus
diesen Gründen vorsichtig nur über AetznatronstUcken in einer Glocke
getrocknet. So erhält man diese Verbindung als eine gelbbräunliche
Masse, welche leicht zerreibbar ist.
0,3863 grm. dieser Masse gaben 0,2482 grm. BaO, S03 = 42,4 8%BaO.
2 BaO, C^^HöOS-i-O HO erfordern 42,38%.
Kupferverbindung.
In neutraler, concentirter Lösung der Säure giebt essigsaures
Kupferoxyd einen Niederschlag. Dieser ist in freiem Alkali und freier
Säure leicht löslich und zersetzt sich leicht bei höherer Temperatur.
Die über Chlorcalcium getrocknete Verbindung wurde in Form eines
grauen Pulvers der Elementaranalyse unterworfen.
0,265 grm. gaben 0,078 grm. CuO.
0,245 grm. gaben 0,276 grm. CO^ u. 0,088 grm. HO.
her. gef.
2 CuO. 29,47 29,43
C** 31,47 30,72|
H»o 3,71 3,99
0»2 35,64 35,86
Die Analyse entspricht der Zusammensetzung :
2 CuO, C**H«08-|-4H0.
v^^
314 ' H. Reichardt,
Blei Verbindungen.
Die Bleiverbindung , welche durch essigsaures Bleioxyd aus einer
neutralen Lösung der Säure gefällt wird, ist nur wenig in Wasser,
schwierig in Essigsaure, leicht in Salpetersäure löslich. Sie wird ebenso
wie es für die zweibasische Barytverbindung angegeben war, an der Luft
besonders beim Er\Värmen schwarz. Man trocknet sie daher anfangs
bei gelinder Wärme, am besten auf porösem Thone. So erhält man die
Verbindung in Form einer grauen , leicht zerreiblichen Masse. Nach
dem Austrocknen bei i 00^ C. wurde sie mittelst Elementaranalyse un~
tersucht.
0,4603 grm. gaben 0,0985 grm. PbO.
0,3663 grm. gaben 0,8925 grm. CO^u. 0,0669 grm. HO.
her. gef.
2 PbO 57,77 57,70
Gl* 24,76 21,77
W 4,82 2,02
0» 48,65 48,54
Demnach wäre die Zusammensetzung dieser Verbindung 2PbO,
Ci4H«08-i-HO. Bis zu 4200C. erhitzt, verliert sie aber noch ohne
sichtbare Zersetzung 1 At. Wasser. 0,4 748 grm. verloren 0,0046 grm.
= 2,63%. Die Rechnung verlangt für 4 HO, 2,33% Verlust.
Ein noch basischeres Bleisälz von fast ganz ähnlichem Aussehen
und Verhalten kabn man erziden , wenn mit einem guten Bleiessig die
vollständig neutrale Lösung der Säure gefällt wird. Der hierdurch er-
haltene Niederschlag wurde schliesslich bei 4 4 0^ C. ausgetrocknet.
Von ihm gaben 0,4 346 grm. bei der Bleibestimmung 0,0902 grm.
PbO = 68,54%.
3 PbO, C^^HöO» erfordern 68,47% PbO.
Gemäss dieser Bestimmungen ist vorläufig die Formel der wasser-
freien Säure als C^^H^O^ zu betrachten und wähle ich einstweilen die
Namen Saccha rumsäure dafür.
Gluöinsäure und deren Salze.
Ausser P^ligot und Rawaliee hei besonders Muldbr ^ die Glucin-
säure näher untersucht, als er sie bei der Zersetzung von Rohrzucker
durch Schwefelsäure unter den vielfachen Zersetzungsproduct^n des-
selben auffand. Sie tritt hier auf neben Ulmin- und Huminsubstanzen,
1) Journal für prakt. Chemie (1840) XX\, 930.
Ueber die ZersotziinfifspuoduMe des Traiibensuckers etc. 315
Apogluoinsäure, Ameisensäure und unkryslaUisirbarem Zucker. Huldbr
gewann sie aus diesem Gemische, indem er die unlöslichen Ulmin- uiid
Huminsubsianzen abfiltrirte, das FiHrat mit Kreide sättigte, dann bis
zur Syrupsconsistenz eindickte und durch Zusatz yon Alkohol , der
nur sauren, glucinsauren Kalk und unzersielzten Zucker löst, diese letz-
teren von den ander^A gebildeten Kalkverbindungen trennte. Die Lö-
sung wurde mit thierischer Kohle entfärbt und abermals zur Syrup-
consistenz eingedampft. Beim Eindampfen wurde das Gemisch wieder
sauer, was nach Muldbr durch die Bildung von Glucinsäure aus dem
noch vorhandenen Zucker zu erklären ist. Der Syrvp wurde dann mit
so viel Kalkbrei versetzt, als er, ohne undurchsichtig zu werden, auf-
lösen konnte ; die sauere Reaction war dann fast ganz verschwunden
und Zusatz von Alkehot fällte nun neutrales, glucinsaures Kalksalz.
Diese Angaben scheinen mir nieht ganz genau zu sein. Erstens
wirken schwache Säuren nur sehr gering auf die Umbildung des ^uokers
in Glucinsäure ; das Sauerwerden beim Eindampfen wird daher nicht
von der Bildung der Glucinsäure, sondern von anderweitigen Zer-
setzungen dieser Säure herrühren. Zweitens wird ein Gemisch von
Glucinsäure und Invertzucker mit Kalkbrei gesättigt, so löst sich ohne
Trübung in der Lösung des gebildeten glucinsauern Kalks ziemlich viel
Zuckerkalk ; die Reaction wird alkalisch und Zusatz von Alkohol fällt
neben gluoinsaurem Kalke auch noch Zuckerkalk.
MuLnii stellte aus dem Kalkaalze, welches allein von ihm unter-
sucht ist, die Bleiverbindung dar und aus dieser die Glucinsäure. Yon
letzterer giebt er an , dass aie schon beim Eindampfen bis zur Syrup-
consistenz, an die Luft gebracht , zur festen Masse erstarre und dann
keine Feuchtigkeit anziehe. Angabeq, die, wie Sipäter gezeigt wird, dem
Verhalten der von mir dargestellten Säure vollständig widersprechen.
P^LiGOT , welcher die Säure aus einer bei Monate langepi Stehen
zersetzten Zuckerkalklösung gewann, erhielt sie auch beim Eindampfen
im luftleeren Räume als eine feste, unkrystallisirbare Masse , die bis ;eu
400<>C. nicht ohne Zersetzung erhitzt werden konnte. Näph dem Be-
richte von Bbrzblius ^ zerfliesst die trockne Säure nicht an der Luft,
während sie nach dem der Annalen ^ begierig Feuchtigkeit anzieht.
Welche Ansicht die richtige ist, kann ich, da mir leider die Originalar-
beit nicht zu Gebote stand, nicht entscheiden. Kawajlii« konnte die
Säure nicht in fester Form erhalten.
Zur Beurtheilung des Nachfolgenden dürften diese vorausgeschick-
ten Bemerkungen nicht unwes^tlidi sein.
1) Bbrzeliüs, Jahresbericht 1840. S. 458.
2) Annalen der Phar- "\.
316 il. RfkIlivIi.
Die bei der oben beschriebenen Einwirkung des Baryts auf Trau-
benzucker nach Abscheidung der Füllung erhaltene Flüssigkeit enthalt
hauptsachlich filucinsnuren Baryt. Um die GlucinsHure aus dieser zu
erhatten, wird die Flüssigkeit mit Essigsäure annilhemd neutralisir'
und mit Bleiessig so lange versetzt, als der Niederschlag noch gefürbl
erscheint. Hierdurch wird die in Lösung gebliebene erst besprochene
Süure vollständig entfernt. Nach Trennung des gefärbten Nieder-
schlages versetzt man das Fillrat so lange mit Bleizuckerlösung und
Ammoniak, als noch eine Fallung entsteht. So wird die Glucinsäure
fast vollslündig als glucinsaures Bleioxyd niedergeschlagen , die Säure
wird dann wie gewöhnlich durch Schwefelwasserstoff vom Blei ge-
trennt.
Verschiedene Versuche zeigten , dass die Säure beim Eindampfen
ihrer Lösung an der Luft sich ungemein leicht zersetzt, besonders
wenn die Temperatur eine etwas hohe ist. Auf dem Dampfbads er-
hitzt gab sie brenzlich sauren Geruch , wurde schwarz und euch nach
dem Erkalten nicht fest. Im lufl verdünnten Räume aber konnten nur
sehr langwierig grössere Mengen der Lösung verdunstet werden. Aus
diesem Grunde bemüht« ich mich schon bei der Zersetzung der Bler-
verbindung, die Saure so concenlrirt als möglich zu erhallen, liess sie
dann bei einer Temperatur von 10 — SO* C. in Qachen Schalen eindun-
slen und stellte sie, sobald sie anfing consisleuter zu werden, über
Schwefelsaure. So erhielt ich die Glucinsäure, nach langem Stehen,
von der Farbe und Consistenz eines hellen, frisch ausgelassenen Ho-
nigs. Selbst in dieser Form zieht die Stiure ungemein leicht Feuch-
tigkeit aus der Luft an und wird dünnflüssiger.
Alkohol löst die Glucinsüure in dieser Form nur wenig , Aether in
noch geringerem Massstabe. Auf Plalinblech erhitzt schmilzt sie unter
Ausslossen von nicht unangenehmen, etwa nach gerösteter Brotrinde
riechenden Dämpfen, spülcr aber bläht sie sich auf und giebt den eigen-
tbUmlichen Geruch verbrennender Kohlenhydrate.
Alkalien geben mit der Glucinsaure neutralisirt schwierig trocken
tu erhaltende Salze. Ammoniak zersetzt die Glucinsüure beim Ein-
dunslen ihrer Lösungen sehr schnell, selbst wenn Ammoniak im Ueber—
schuss war wird die Flüssigkeit bald wieder sauer und nimmt eine
braune bis schwarze Farbe an.
Die kohlensauren alkalischen Erden werden von der Glucinsüure
unter Bildung von löslichen Salzen zersetzt. Thonerde, sowie die mei-
sten Metalloxyde scheinen von der Glucinsiiure gelöst zu werden. Nie-
derschltige erhielt ich in einer durch Alkali neulralisirten Lösung der
Glucinsiiure nur durch salpetersaures Quecksilberoxydul, sai petersau res
Ueber die Zersetsnngsprodocte des Traubenzuckers etc. 317
Qüecksilberoxyd und basisch-essigsaures Bleioxyd ; alle diese Nieder-
schläge sind in mehr Wasser, besonders auf Zusatz von Essigsäure lös-
lich. Salpetersaures Silberoxyd giebt einen Niederschlag, welcher
durch eintretende Reduction bald schwarz wird. Eupfersalze färben
die Lösung der Glucinsäure grttn, auf Zusatz von Alkali dunkelgrün;
erwärmt man dann die Lösung vorsichtig , so scheidet sich ein blau-
grUner Niederschlag ab , der sehr bald durch gebildetes Eupferoxydul
gelb bis roth wird.
Der Elementaranalyse wurde die Glucinsäure nach dem Trocknen
über Schwefelsäure unterworfen
0,4777 grm. gaben 0,00675 grm. CO^ und 0,8867 grm. HO.
her. gef.
C24 38,29 38,17
H24 6,38 6,66
02« 55,32 55, n
Dieser Analyse entspricht die empirische Formel C^^H^^O^«.
Nach der später folgenden Untersuchung der Bleiverbindung be-
steht diese wasserfrei aus 6PbO, C^^H^^O^s. Dje Säure scheint dem-
nach 6 Ät. Basis binden zu können und wasserfrei nach der Formel
G^^H^^O^^ zusammengesetzt zu sein.
Für die vorliegende wasserhaltige Säure wurde die Formel
C24H1601», 6HO + 2aq.
Natronsalz.
Durch genaue Neutralisation der Säure mit verdünnter Natronlauge
wird ein Natronsalz erhalten, das bei 4 00^ C. schmilzt, aber beim Er-
kalten erstarrt und sich dann pulvern lässt; dabei zieht es wieder mit
Begier Feuchtigkeit an. In der bei 100^^ C. getrockneten, gelben Masse
wurde das Natron als schwefelsaures Natron bestimmt.
0,2269 grm. gaben 0,0619 grm. NaO, SO» = 11,93% NaO.
3 NaO, 2(G2*Hi«0*8) +9 HO erfordern 11,890/o NaO.
Barytsalze.
Glucinsäure löst kohlensauren Bai^t unter Aufbrausen ; es bildet
sich ein in Weingeist lösliches, saures, glucinsaures Barytsalz, welches
nach vorsichtigem Eindampfen eine pulverisirbare , stark hygrosko-
pische, gelbliche Masse darstellt. Bei 100® G. getrocknet gaben
0,2504 grm. derselben 0,0666 grm. BaO,S03 oder 17,46% BaO.
BaO, G24HiöO»8-i-6HO erfordert 17,60% Bau.
Aus neutralen oder schwach alkalischen Lösungen von glucinsau-
3t 8 BL Rei^kaidt,
rem Baryt sehldgt Alkohol eiai dreibasisches Sala rieder. Der Nieder-
schlag ist nicht immer ganz gleicbmässig zusammengesetzt; aus alka-
lischer Lösung gefällt enthält er oft etwas mehr 69ryt, als die Formel
verlangt, und aus schwach sauren Lösungen föUt starker Alkohol auch
Verbindungen von geringerem Barytgehalte, Die aur nachstehenden
Elementaranalyse benutzte Verbindung wurde durch Alkohol aus einer
bis zur schwach alkalischen Reaclion mit Barytwasser versetzten Lösung
von reiner Glucinsäure ausgerällt. Der Niederschlag zieht leicht Koh-
lensäure an und wurde daher schnell mit Alkohol auf dem Filter aus-
gewaschen und dann im luftverdttnnten Räume über Ghlorcalcium
getrocknet. So wurde dieses Salz in Form einer nicht hygroskopischen,
gelblich gefärbten, leicht zerreiblichen Masse erhalten.
Die Verbrennung desselben im Platin-Schiffchen zwischen Eupfer—
oxyd ist auch beim Ueberleiten von Sauerstoffgas schwierig, da der
sich bildende kohlensaure Baryt hartnäckig etwas Kohle zurückhält;
diese wurde erst durch anhaltendes Glühen an der Luft vollständig
verbrannt und besonders in Anrechnung gebracht.
0,175 grm. gaben 0,130 grm. CO* und 0,062 grm. HO; im Schiff-
chen hinterblieben 0,0885 BaO, CO^ und 0,0015 G.
ber.
gef.
3BaO
39,08
39,85
CJ4
24,51
' 24,20
HM
3,74
3,93
024
32,67
32,62
Hieraus berechnet sich die Formel
3 BaO, C24Hi»0>8+6HO.
6 Atome Wasser entweichen bei einer Temperatur von 120® C.
0,237 grm. verloren bei dieser Temperatur 0,022 grm. HO = 9,29%.
Die Formel verlangt 9,19%.
In der ursprünglichen Lösung , wie sie bei Einwirkung des Baryts
auf Traubenzucker erhalten wird , ist nach Entfernung der basischen
Verbindung der Säure C^^H^O^ grösstentheils glucinsaurer Baryt ent^
halten.
Es lag die Vermuthung nahe , dass dieser durch Alkohol ausgefällt
werden könnte. Die erste Fällung durch AlkcAol war aber nicht rein,
nochmaliger Zusatz« von starkem Alkohol schlägt aber eine bedeutend
reinere Verbindung nieder. Beide Niederschläge wurden untersucht,
um zu prüfen, in welcher Reinheit auf diese Weise die Verbindung er-
halten werden könnte und ob es nicht zweckmässiger sei , aus ihr die
Glucinsäure darzustellen. Doch ist es besser, hierzu die Bleiverbindung,
lieber die Zersetiüngsprodncie des Traobenzackera etc. 319
wie oben angegeben, zu waUen, da durch sie ein reineres Producl er-
zielt wird«
Die Analysen der so erhaltenen bei lOO^C. getrockneten Nieder-
schlage ergaben :
Von der ersten Fallung :
0,566 grm. gaben 0,457 grm. CO» u. 0,176 grm. HO; es blieben
im Schiffchen 0,302 grm. BaO, CO» u. 0,006 grm. C.
Von der zweiten Fällung :
0,477 grm. gaben 0,380 grm. CO» u. 0,151 grm. HO; im Schiff-
chen blieben 0,243 grm. BaO, CO» u. 0,005 grm. C.
Die Berechnung giebt für
w
I.
n.
ber.
gef.
gef.
3 BaO
40,94
41,44
39,56
C24
25,69
26,33
25,80
H19
3,38
3,45
3,51
021
29,98
28,78
31,13.
%
Kalksa]
ze.
Die Kalkverbindungen entstehen analog den Barytverbindungen ;
ich habe nur die saure untersucht, die in nicht zu starkem Alcohol
leicht löslich ist. Mulbbi giebt von dieser an , dass sie in Nadeln kry-
stallisire, sagt aber nichts Über die Zusammensetzung derselben. Mir ist
es nicht gelungen , weder dieses noch ein anderes Salz der Glucinsäure
krystallisirt zu erhalten. Das eingetrocknete Kalksalz zieht nicht so
leicht wie das entsprechende Barytsalz Feuchtigkeit an. Bei 1 00<> C.
getrocknet und dann zerrieben ist es ein gelbliches Pulver.
0,3691 grm. desselben gaben beim Glühen 0,0368 grm. CaO,CO»
= 7,677oCaO.
Die Verbindung CaO, C»*Hi«0»8 + 5H0 erfordert 7,43% CaO.
Magnesiasalz.
Kohlensaure Magnesia wird leicht von der Glucinsäure au^elüst,
aber es wird nicht im Einklänge mit dem Verhalten dieser Säure zu
kohlensaurem Baryt oder Kalk, eine relativ grössere Menge Aagnesia in
Lösung gebracht. Ihre Lösung lässt sich leichter als die der vorher-
gehenden Salze unzersetzt eindampfen und giebt dann eine weissgelbe,
leicht zerreibbare Masse. Die untersuchten Proben waren bei lOO^G.
getrocknet.
i. 0,2997 grm. gaben 0,053 grm. MgO s 17,68%.
11. 0,3432 gnn. gaben 0,06«7 grm. MgO » 47,68%.
320 • H. Reichardt,
1. 0,4048 grra. gaben 0,486 grm. CO^ u. 0,4896 grm. HO.
II. 0,455 grm. gaben 0,545 grm. CO^ u. 0,2i07 grm. HO.
. her. gef.
I. II.
4MgO 48,26 17,68 47,68
C24 32,88 32,74 32,69
H22 5,02 5,20 5,45
024 43,83 44,38 44,48
Demnach würde hier ein 4 basisches Salz von der Formel 4 MgO,
C24Ht6 0i^ + 6 HO vorliegen; dasselbe verliert bei stärkerem Trocknen,
wenn auch nur langsam, noch Wasser.
0,2997 grm. verloren bei 1300C. 0,0422 grm. HO = 4,07%
— 4350 C. 0,04 73 grm. HO = 5,770/^
— loOOC. 0,04 82 grm. HO = 6,07o/o
— 470OC. 0,0254 grm. HO = 8,477o
Die Formel erfordert für 2 HO = 4,4 4 7o
3H0 = 6,46o/o
4 HO = 8,22o/o
Bis zu einer Temperatur von 470^0., bei welcher das Salz 4 Al.
Wasser abgegeben hat, kann man es unzersetzt erhitzen ; darüber aber
beginnt Bräunung und bei 4 800C. vollständige Zersetzung, so dass die
letzten 2 HO für sich nicht ausgetrieben werden können.
Thonerdesalz.
Frischgeftilltes , noch feuchtes Thonerdehydrat löst sich in Glucin-
säure auf; das überschüssig zugesetzte Thonerdehydrat hält aber viel
Giucinsäure zurück. Aus löslichen Thonerdesalzen vermochte ich durch
ein glucinsaures Salz keine lösliche Thonerdeverbindung zu fällen.
Die Lösung der glucinsauren Thonerde reagirt sauer ; sie lässt sich
wie die des Magnesiasalzes leicht ohne Zersetzung eindampfen und giebt
nach dem Trocknen bei 4 00^0. eine gelblich weisse, wenig hygrosko-
pische Masse. Die bei dieser Temperatur getrocknete Substanz wurde
untersucht.
0,4794 grm. gaben 0,657 grm. C02 u. 0,2228 grm. HO.
0,2089 grm. gaben 0,0287 grm. APO^.
ber. gef.
A1203 43,44 43,77
C24 37,66 37,40
H19 4,97 5,16
02i 43,93 43,67
Die Zusammensetzung ist demnach APO», C24H*eO*8 + 3HO.
lieber die ZerseUnngsproduete des TrAubenznckers ete. 321
Bei H5^G. getrocknet verlor das Salz ohne sichtbare Zersetzung
6,99% Wasser (0,9009 grm. verloren 0,0U5 grm. HOJ ; fttr 3 HO er-
fordert die angegebene Formel 7,05%. Das Thonerdesalz kann dem-
nach bei H50C. wasserfrei erhalten werden.
Das ungelöst gebliebene Thonerdehydrat hielt, wie erwähnt , noch
eine ziemliche Menge Glucinsäure zurück , welche auch durch längeres
Auswaschen nicht zu entfernen war. Um die Menge derselben kennen
zu lernen, wurde dieses Glucinsäure haltige Thonerdehydrat bei lOO^G.
getrocknet und der Elementaranalyse unterworfen.
0,S243 grm. gaben 0,4 09 Al^O^)
0,5802 grm. gaben 0,2686 grm, C02 u. 0,2H7 grm. HO.
ber. gef.
HA1203 49,60 48,59
G24 12,63 42,62
H4«. 4,04 4,05
0*8* 33,72 34,74
Es würden demnach circa 1 \ Aeq. Thonerdehydrat 4 Aeq. Glu*
cinsäure zurückgehalten haben: — jedenfalls keine einfache chemische
Verbindung. —
Eisenoxydulsalz.
Mit schwefelsaurem Ißlisenoxydul zersetzt sich die 3 basische Baryt-
verbindung in schwefelsauren Baryt und glucinsaures Eisenoxydul.
Letzteres ist löslich und ertheilt der Lösung eine grüne Farbe ; bei
lOO^G. getrocknet ist es ein grünlich graues, hygroskopisches Pulver.
0,1475 grm. gaben 0,0375 grm. Fe^O», entsprechend 23,327FeO;
3FeO, G24Hi«0*8 + 6HO erfordern 23,18o/oFeO.
Bleisalze.
Kohlensaures Bleioxyd und auch Bleiglätte werden in geringem
Massstabe von der Glucinsäure gelöst. Aus den neutralen Lösungen
eines gluciiisauren Salzes ßiUt Bleiessig eine 6 basische Verbindung.
Dabei wird die Glucinsäure nicht vollständig ausgefällt, und Zusatz von
Ammoniak giebt, wenn noch Bleisalz in der Flüssigkeit vorhanden war,
weitere nicht constant zusammengesetzte Niederschläge , welche aber
stets mehr als 6PbO auf ein At. Glucinsäure enthalten. Untersucht
wurde der aus neutraler Lösung erhaltene Niederschlag, welcher nach
dem Trocknen über Ghlorcalcium eine leicht zerreibliche weisse, nicht
hygroskopische Hasse bildet.
L 0,540 grm. gaben 0,354 grm. PbO.
0,388 grm. gaben 0,197 grm. GO^ u. 0,084 grm. HO.
S23 H. Rcicliardt,
II. 0,360 gpiii. gaben 0,^90 grm. CO^ii. 0,075 grm. HO.
ber. gef.
t.
II.
6PbO
65, U
65,55
C24
4 4,01
43,85
4 4,38
H22
2,14
«,40
«,31
024
18,70
48,«0
Nach diesen Analysen ist die Zusammensetzung dieser Verbindung
6PbO, C24 Hie 018 +6 HO.
Beim Trocknen verliert sie leicht den Wassergehalt.
0,*64 grm. verloren bei SO^C. 0,000 grm. == 3,407o HO.
bei lOOöC. 0,011 grm. = 4,i60/o HO.
bei 150«C. 0,015 grm. =. 5,647o HO.
Die Formel verlangt fttr
4 HO: 3,öo/o
5 HO : 4,4%
6 HO : 5,3%
Bei dieser Temperatur begann schon BrSlunung und Zersetzung.
Es entspricht demnach das bei 150^G. getrocknete Bieisalz einer
wasserfreien Verbindung der Glucinsäure mit 6 Aeq. Bleioxyd.
Die zuletzt durch Zusatz von Ammoniak erhaltenen NiederscblSlge
sind, wie erwähnt, basischer als die vorstehende Verbindung. Einmal
erhielt ich bei Untersuchung eines solchen bei 100^ C. getrockneten
Niederschlags 76,84% PbO, ein anderes Mal unter gleichen Umständen
77,Ol7o PbO. Ein 9 basisches Salz würde 76,70% PbO erfordern.
Diese Analysen , sowohl der Säure wie der gleichfalls durch die
Elementaranalyse untersuchten Baryt-, Magnesia-, Thonerde- und Blei-
verbindungen, stimmen darin ttberein, dass sie nicht so viel H ergeben,
als nothwendig wäre , um die Glucinsäure als Kohlenhydrat auffassen
zu können. Dies widerspridit den vorhergehenden Untersuchungen
über Ghicinsäure. PfiLiGOT gab den von ihm untersuchten Bieisalz die
Formel: 6 PbO, C^H»* 0*»; Muldbr fand das Kalksalz aus i (CaO,
C^H^O») Hh HO und Xawalikr die im luftleeren Baume bei 1 00« C.
getrocknete Säure «us C^^H^^o^Ja bestAend. Diese Chemiker haben
sämmtlitih nur je eine Verbindung untersucht. Bedenkt man , dass
sie nach der allgemeinen Annahme glaubten, dass Zucker sich nur
unter Wass^abgabe in Glucinsäure umsetze, dass nach dieser Annahme
die Ghicinsäure ein Kohlenhydrat sein müsse, so erklärt es sich leicht,
dass sie eine Formel wählten , die dieser Anschauung Ausdruck gab.
Es kann auch der von diesen Chemikern zu bech gefundene Wasser-
stoff kaum befremden , da die gewöhnliche Methode der Elementarana-
üeber die Zersetzun^rtMlMte des Traubenzuckers etc. 323
lyse zumefisi einen in hohen Gehalt an H liefert. Die Differenz aber von
2 H bei $4 G ist bei der Berechnung eine so {geringe, dass sie innerhalb
der mög^hen Fehlergrenze liegen kann.
Die Höhe der Formel »G^^H^^O^^« ist aber durch die Reihe von
vtßTSchieden basischen Salzen gerechtfertigt, weiche nicht leicht einer
'einfacheren Formel angepasst werden können. Auch PfiLTtsor gab dem
6 basischen Bleisalze eine Formel mit 24 C ; die späteren Untersuchungen
scheinen ohne besonderen Grund dieselbe geändert zu haben.
Nach dem bisher Angefahrten kann Wohl die Ansicht, dass Trau-
benzucker bei der Einwirkung von Alkalien nur Glucinsäure bilde,
nicht festgehalten werden. Das Auftreten der Säure C^^H^O^ ist so
bestimmt mrd gleich anfänglich bei der Einwirkung des Alkali zu be-
merken, dass sie micht als secundäres Zersetz ungsprododt aufgefasst
werden kann. Zu verwundern ist es, dass diese Saocharumsäure bisher
übersehen ist , aber erklärlich durch die Angabe PfiLiGOt's^, dass er die
durch Zusatz von Bleiessig erhaltenen gefärbten Niederschläge entfernt
habe. In diesen musste t>atUrlich die schon in schwach saiurer Lösung
durch essigsaures Bleioxyd fällbare Saccharumsäure sein. Aehnlich ist es
mit der Untersuchung Kawalibr's, welcher durch Einleiten von Kohlen-
säure in die durch Baryt zersetzte Traobenzuckerlösung einen gefärbten
Niederschlag erhielt. Ein soldher muss , wenn Kawaiibr nicht mit sehr
verdünnten Lösungen gearbeitet hat, schon vor dem Einleiten von Kohlen-
säure dagewesen sein und ist jedenfalls von ihm nicht weiter beachtet
worden. Die starke Färbung jedoch ist Kawalibr schon so aufgefallen,
dass er den Niederschlag mit Schwefelsäure zersetzte und dadurch eine
Lösung erhielt , welche nach einiger Zeit braune Substanzen abschied.
Dies stimmt vollständig mit dem hier beobachteten Verhalten dieser Säure
überein. Kawaljer hatte also die Saccharumsäure in unreinem Zu-
stande dargestellt, aber nicht untersucht. Was Mclder betrifft, so unter-
suchte dieser überhaupt die Einwirkung starker Säuren auf Zucker.
Wie nach dessen Untersuchung nicht zu bezweifeln ist, dass bei dieser
Einwirkung sich Glucinsäure bilde, so ist es doch fraglich, ob die
Saccharumsäure hierbei auch entstehe. Heiner Ansicht nach ist dies
sogar sehr unwahrscheinlich , da freie Säuren sehr leicht eine weiter-
gehende Zersetzung der Saccharumsäure unter Bildung von in Wasser
unlöslichen Substanzen bewirken. Die Bildung der Glucinsäure in durch
Säuren zersetzten Zuckerlösungen ist nach Mulder stets mit den braunen
ulmin- oder huminartigen Substanzen und Ameisensäure verbunden
gewesen. Nichts beweist daher die Hypothese dieses Chemikers^, dass
^) Berzelius, Jahresbericht 1840, S. 457.
2j Jahrbuch für prakt. Chem. f 840 XXI, S83 a. 287.
324 B- ReUliwdr, TV^
Zucker sich zuerst nur in Glucinsäure zersetze. Völckbl' weist in der
That nach, dass Zucker bei Einwirkung von Säuren tweieriei Zer-
setzungen erleidet. Das Hauptprodncl ist GluciDsSure, nebenbei bilde)
sich aber Ameisensäure und ein brauner in Alkohol Ifislicher Körper.
Dieses Verhalten ist analog der Zersetzung durch Alkali. Sicher triu
auch hier die Glucinsäure in grösster Menge gegenüber den anderen
Zersetzungsproduclen auf, ebenso bestimmt bildet sich aber auch gleich
anfänglich die Saccharum saure = C'*H«0*. Die Bildung zweier sauer-
ste ffreii-herer Körper aus einem Kohlenhydrate verlangt noch wasser-
stoffreichere Producle, da namentlich keine Sa uerstoSauf nähme aus
der Luft efwiesea werden konnte.
Es wurde in der Einleitung schon angegeben, dass Kiwalier einige
Tropfen Aceton unter den Producten dieser Zersetzung gefunden haben
will. Sicher wird ein flüchtiger, indifferenter Körper gebildet, welcher
ausgezeichnet ist durch einen eigentliUmlichen , penetranten Geruch,
der jedem Destillate anhaftet, welches heim Kochen einer Lösung von
durch Baryt zersetztem Traubenzucker erhalten wird. Aus solchem
Destillate kann durch Schütteln mit Aether der flüchtige Körper getrennt
werden. Nach dem Verdunsten des Aethers bleibt eine ölige Flüssig-
keit, welche leicht an der Luft verharzt. Die Menge derselben war so
gering, dass von einer näheren Untersuchung abgesehen werden mussle.
Zersetzung der Glucinsüure.
Nach HuLDKR zersetzt sich die Glucinsüure beim Sieden ihrer Lo-
sung, so wie auch beim Behandeln derselben mit Sauren in der Wurme
und beim Luftzutritt; sie zerßlllt nach ihm in Apoglucinsaure unter
Abgabe von H und 0 und Steigerung des Cgehaltes, analog dem Ver-
halten der Gerbsäure, der Extractivstofie etc. HnLUBR's Erklärung dieser
Zersetzung ist hier unklar und wohl nicht ganz richtig. Denn wie kann
dann die ApoglucinsSure nach ihm C'^H^O^ wasserstofTreicher sein als
die Glucinsaure — nach ihm — ein Kohlenhydrat? Das auch von
Hulder beobachtete Auftreten von Ameisensaure soll nach ihm im Zu-
sammenhang mit der Bildung von Ulminsüure stehen.
Kawalier giebt nichts über die Bildung der Apoglucinsäure an, ob-
gleich er ein Zersetz ungsproduct der Glucinsüure erhielt, das stets an
die Bildung der ApoglucinsJlure gebunden ist. Wie schon oben erwähnt
wurde, unterwarf Kawalier die Losung des durch Baryt zersetzten
Traubenzuckers, nach vollständiger Entfernung des Baryts durch einen
im kleinen Ueberschuss zugefügten Zusatz von Schwefelsaure, einer
Destillation. Im Destillale befindet sich eine flüchtige Säure — Ameisen-
■) AodbIbo der Cbem. u. Pharmac. IX (<8B3j, Bl u. 8fl.
Ueber die Zersetzuogsproducte des Traubenznekera etc. 325
essigsaure. — Aus der zurückbleibenden Flüssigkeit stellte Kawilibr
die Glucinsdure dar. Es ist dies möglich , wenn die Destillation nicht
zu lange gewährt hat und besonders nicht bis zur Trockne getrieben
war; doch nicht auf die Weise , wie Rochlbpbr anführt, dass nämlich
die Flüssigkeit, nach Entfernung der überschüssigen Schwefelsäure
durch Baryt, mit Bleiessig gefällt und der Niederschlag durch Schwefel-
wasserstoff zersetzt worden sei. In diesem Falle würde viel Apoglucin-
säure resp. eine mit ihr stark verunreinigte Glucinsäure erhalten worden
sein. Es ist anzunehmen , dass Kawalibr auch die ersten gefärbten
Portionen des Bleiniederschlags entfernt hat und Rochlbdbr, der nur in
grossen Zügen über diese Untersuchung berichtet, diesen Umstand un-
erwähnt liess.
Die Angabe Muldbr^s, dass die Glucinsäure sich leicht in Apoglucin-
säure zersetzt, kann ich nur bestätigen ; jedoch geschieht dies nicht ohne
Bildung von flüchtigen Säuren, wie sie Kawalibr auffand, so dass die
Vereinigung beider Beobachtungen erst der Wahrheit entsprechen wird.
400 grm. Traubenzucker wurden mit der entsprechenden Menge
Baryt behandelt, die erst auftretende Abscheidung entfernt und aus
dem Filtrate der Baryt durch SO^ genau ausgeföUt. Die vom schwefel-
sauren Baryt befreite Lösung wurde in der Retorte gekocht. Im Anfang
destiUiren nur Spuren der Säure über, später aber grössere Mengen. Da
zuletzt die dicklich werdende Flüssigkeit in der Retorte^ über der freien
Flamme erhitzt, leicht spritzt, so setzt man diese am geeignetsten in ein
Paraffinbad und destillirt so bei ca. 1 iO^C, so lange noch Säure übergeht.
In der Retorte hinterbleibt dann eine schwarzbraune zähflüssige
Masse , die sich nur allmälig bei Zusatz von Wasser wieder auflöst.
(War freie Schwefelsäure zugegen , so scheiden sich bald in der Lö-
sung dunkle Massen von unlöslichen Huminkörpern ab^; dabei scheint
die Ausbeute der überdestiUirten Säure grösser zu werden, vielleicht
blos von mehr gebildeter Ameisensäure.)
Das Destillat ist farblos und zeigt noch den penetranten Geruch
des flüchtigen Oels ; dieser rührt nicht von der Säure her , welche rein
nur angenehm sauer riecht. Bei Sättigung mit einer freien Basis färbt
sich das Destillat gelb. Diese Färbung wird beim Eindampfen stärker
und es scheiden sich dabei schwarze, theerartige Substanzen ab, die
wahrscheinlich auch nur Zersetzungen des beigemischten riechenden
Körpers sind. Die mit Kali neutralisirte Säure giebt nach dem Ein-
dampfen sehr hygroskopische Krystalle, die sich schwer reinigen lassen
von den anhängenden gefärbten Bestandtheilen. Mit Baryt neutralisirt
^) 8. auch VöLCUL, Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 85, 89.
Bd. Y. 8. %%
326 H. Reinhardt,
erhilit man ziemlich fesle, leichter zu reinigende RrysLallis
sind in Wasser löslich, ziemlich unlöslich in starkem Alkohol, weldier
sie aus der wiusrigen Lüsung kryst^llinisch ausfällt. Auch nach mehr-
maligem Umkryststlisiren blieben die Krystalle noch etwas gefärbt; ihre
wüssrige Lösung reducirte leicht Silbetsalze.
0,2i09 grm, der über Schwefelsäure getrockneten Krystalle gaben
0,2449 grm.BaO, SO'
0,S337 grm. gaben 0,0478 grm. CO^ u. 0,0848 grm. UO
her. gaf.
BaO 67,40 66,74
C^ 10,57 10,78
H 0,88 t,16
03 s^,^4 «1,32
Die Analyse sowie auch das anderweitige Verhalten zeigt, dass die
Krystalle vorwiegend aus ameisensaurom Baryt bestanden.
Kawalieh fand mehr KohlensUiß' und weniger Baryt und bereohnete
seine Analyse auf üBrO, C^H^O^ und RocaLEDBR glaubt, dass es eine
Verbindung einer gepaarten Säure — Ameisen essigsaure — sei. Doch
die von ihnen angeführte Analyse stimmt mit der tbeoretisoben Formel
nicht und so vermullicte icli, dass hier zwei Silureu vorliegen, die an
Baryt gebunden in verschiedenen Verbältnissen unter einander krystalli-
siren. Die eine war unbedingt Ameisensäure. Ich suchte sie zu ent-
fernen durch Kochen des ursprünglichen Destillats mit Quecksilberoiyd.
Dies geleng auch; unter Entweichen von Kohlensäure wurde das Queck-
siiberoxyd leicht zu metallischem QuedLsilber reducirt. Die Lösung
blieb noch stark sauer und enthielt etwas Quecksilbcroxydul. Bei dem
langsamen Verdunsten der Flüssigkeit scheiden sich aber nicht Krystalle
in Füttern aus, wie es bei Gegenwart von essigsaurem Quecksiiber-
oxydul geschehen musste. Durch Barylwasser wurde das Quecksilber-
oxydul ausgefillll. Die eingedampfte Lösung zeigte über Schwefelsaure
getrocknet nur wenig Neigung zur Krysteltisation; es trocknete der
grösste Theil zu einer gummiäbnlichen, wenig gefärbten Masse ein.
Wurde diese mit concentrirler Schwefelsäure befeuchtet, so entwickelte
sich zwar der saure Geruch einer Uüchtigen Säure, aber nicht der
eigenthUmliche der Essigsäure Beim Zusatz von Alkohol und Erwärmen
dieses Gemisches entwickeile sich ein sehr angenehmer ätherischer Ge-
ruch, der aber nicht dem der Essigsäure ähnelte. Eine concentrirle
Losung dieses Barytselzes gab mit salpelersaurcm Silberoxyd keinen
Niedcrschiag , aber mit verdünnter Eisen ohloridiäsuag eatäljuid eine
ganz ahnliche Färbung, wie sie ein essigsaures Salz hervorruft.
Die bei lOO" C. getrocknete BarytverbindUDg wurde untersucht.
Ueber die Zersetznngaprodncte des Tranbensaekers etc. 327
0,980 grm. gaben 0,1995 grm. BaO, SO^
0,930 gnn. gaben 0,145 grm. CO? n, 0,0666 grn^. BO.
ber. gef.
8BaO 57,05 57,45
C« 18,18 18,12
W ?,65 8,67
0^ «1,91 94,76
Dies wäre die Zu^ammensetnung d^s essigsauren Barytes mit y^ QO
:»=» BaO, C^H^O^^VaHO. Dieses Wasser entweicht b^i starrerem
Trocknen ; eine andere Probe, neu dargestellt, gab nach dem Trocknen
bei 420« C. 60, 06% BaO (0,149 grm. gabeii 0,1 OW gW- BaO,C02).
BaO, C^H^O» erfordert 60,03% BaO.
Eine dritte Zersetzung ergab ein BarytiSalz von folgender Zu-
sammensetzung :
0,1865 grm. gaben 0,1335 grm. BaO, CO^, 0,0906 grm, CO^ u.
0,050 grm, HO ^ 55,60 7o BaO, 4 7,57 G u. 9,95 H,
BaO 5$,e0 ßaO 56,0
C 17,57 C* 17,6
H 9,95 H* 9,9
O 93,88 04 f53,5
Diese letzte Analyse stimmt vollstfiindig zu der Formel von BaO,
C4H3 03 + HO, jedaob entweicht da3 eine Atom Wasser nicht bei i OO^C.
und stimmen auch sonst die mehrfach wiederholten Reactionen nicht
mit denen der Essigsäure ttberein, namentlich nicht bei der Bildung des
Aethers auf bekannte Weise.
Die von Muinya werst untersuchte Apoglucinsäure findet sich, wie
erwähnt, in dem Destillationsrttokstande. Dieselbe Sänr^ bildet sich
fast stets auch beim Eindampfen der Qlujcinsä^re oder ihrer Salze bei
etwas erhöhter Temperatur.
Am besten erhält man die ApoglucinsäuJH3 nach der Vorschrift von
MoLDBft, wenn zersetzte Glucinsäure mit Kreide neutralisirt, dann bis
zur Syrupoonaistenz eingedickt uud mit All^ohol versetzt wird. Es fällt
dann ein flockiger brauner Niederschlag, der nach einigem Stehen sich
als zusammenhängende, klebrige Mßsse am Boden fes^tsetzt und ^ leicht
durch Abgiessen der glucinsauren Kalk enthaltenden Spirituosen Lö-
sung fttf sich erhalten werden kann. Diese abgeschiedene Masse löst
man in Wasser , fällt mit Bleizuckerlösung und zersetzt den erhaltenen
braunen Bleiniederschlag mit Schwefelwasserstoff«
Die so erhaltene Apoglucinsäure hatte im Wesentlichen die Eigen-
schaften , welche Muldbi für sie angiebt. Ich ftthre deshalb ««- •*'*'***
'$2ä H. Keirliftrdi, ^^^r
einige wesentliche Reactionen an. Baryt- und Kalkwasser ^eben mit ihr
graubraune Niederschläge. Eisenchlorid giebl eine SchwarzbiaueFalluitg,
welche auch bei Zusatz von etwas Essigsüure bleibt. Alaunlttsung giehi
in coucentrirten Losungen einen leicht löslichen Niederschlag von apo-
glucinsaurer Tbonerde. Essigsaures Kupfeioxyd giebt nur einen ge-
ringen braunen Niederschlag, welchen wenig Natronlauge wieder auf-
löst; diese Lösung giebt auch beim Erhitzen keine Reduclion. Silbersalze
geben einen graubraunen Niederschlag, welcher beim Trocknen eine
grünliche, metallisch gitinzende Farbe zeigt und dann wohl zum Tfaeil
reducirt ist.
Die Lösung der Apog lucin saure reagirl sauer und ist braun, Alka-
lien färben sie dunkler. Die getrocknete Saure ist in Alkohol, wenig in
Aether lüslich und stellt ein braunes, wenig hygroskopisches Pulver dar,
welches beim Erhitzen auf dem Platinblecb sich wenig auflilüht und
schwierig verbrennt.
Die bei IO0"C. getrocknete Süure wurde untersucht. 0,3i86 grm,
gaben ö,599ö grm. CO* und 0,1519 grm, HO.
0,0032 grm, unverbrannter C hinterblieben auf dem ScbifTchen.
C'8 52,17 58,01
H'i 5,31 5,30
0" t2,51 42,69
Diese Analyse entspricht der Zusammensetzung
C'aH'iO'i.
Bei höherer Temperatur entweicht noch Wasser.
0,1788 grm. verloren bei 125" C. 0,0073 grm. HO = *,08%
bei tiOoC. 0,0165 grm. HO = ^,20%.
Die Formel G'SH'iOi' erfordert für
1 Aeq. HO : i,3i%
2 Aeq. HO: 8,70% Verlust.
Demnach würde die Zusammensetzung dieser Saure bei 1 40 C. sein
C'^H^O*. HuLDER, welcher die bei ISO^C. getrocknete Säure unter-
suchte, fand C'8H"0i<'; er spricht aber schon die Vermuthung aus,
dass sie bei höherer Temperatur wohl noch 1 At. Wasser verlieren
würde. Diese Vermuthung ist durch vorliegende Wasserbestimmung
bestätigt worden.
Merkwürdigerweise giebt MutoEi aber der SSure die wasserstofT-
reichere Formel C^*H"0">. Völckel' weist schon darauf hin, dass seine
Analyse besser auf C"BH"0" slimml.
1) AüdbI. der Cbem. u. Pliarm. [ISSSj SB, Bi
Deber die Zersetsungsprodncte des Tranbenxnckers ete. 329
Das von Muldbr erhaltene wasserfreie Bleisalz hatte die Zusammen-
setzung PbO, C*8H8 08. Demnach würde die von mir untersuchte Säure
wohl die theoretische Formel C^shsosh- 3H0 haben.
Die Reactionen der Apoglucinsäure ähneln sehr der zuerst be-
schriebenen Saccharumsäure. Von dieser ist aber die Apoglucinsäure
durch die Art der Entstehung , dadurch dass sie Eupfersalze nicht re-
ducirt und besonders durch ihre Zusammensetzung unterschieden.
Da die Untersuchung der Apoglucinsäure ausserdem nur wesent-
lich das bestätigt , was schon Mulder von ihr angiebt, so wurde sie bis
auf das Angeführte beschränkt.
Die Bildung der Apoglucinsäure aus der Glucinsäure bei gleich-
zeitigem Auftreten der Ameisensäure und einer der Essigsäure isomeren
flüchtigen Säure lässt nun eine einfache Erklärung zu.
1 Aeq. Glucinsäure =s C^^H^ßOi» zerfällt in
Apoglucinsäure C^^h» 0^
Ameisensäure C^ H 0^
Essigsäure C^ H^ 0^ und
4 Aeq. Wasser H^ 0*
C24H16 0«
Die Resultate meiner Arbeit dürften demnach folgende Ergebnisse
erweisen :
Traubenzucker, sowohl der rechts drehende krystallisirbare wie
der links drehende unkrystallisirbare, erleiden in wässriger Lösung
durch Alkalien bei gewöhnlicher Temperatur langsam, bei bis zu SO^G.
erhöhter sofort eine Zersetzung. Milchzucker wird unter gleichen Um-
ständen schwieriger und erst bei ca. 90<^G. zersetzt.
Die Zersetzungsproducte , wenigstens des Traubenzuckers, sind
hierbei: Saccharumsäure von der Zusammensetzung C^^H^O^, die schon
bekannte Glucinsäure, welcher die Formel G^^H^^O^^ zukommt und ein
nicht näher bestimmter flüchtiger Körper (Aceton?).
Von den Verbindungen der Saccharumsäure wurden folgende dar-
gestellt:
Wasserhaltige Säure » C^^H«0»+3H0
2BaO, Gi4H«08 + 2HO
2BaO, C"H«0« + 6H0
2CuO, C^*H«08 + 4HO
2PbO, Ci4H«08 + HOund
3PbO, Ci4H«08.
330 H. ReidiArdt,
Yon der Glucitisäüre Würdetk dargestellt : die wads^h<ige Säure
CMBi60i«uf.6H0 4^«äq.
fertoet 3BöO, 8 (C^B^^O«) -».9H0
BaO, C24HWOW-f.6HO
3BäÖ, C84Hi«0*8
CaP, G24HWOi8-h5HO
4MgO, CSWHi«0*8^2HO
A120», CWH>«0^8
3FeO, C«Hi«0W-h6H0und
6PbO, C24H1Ö018.
Die Gluoittötttire eerseUt sich leicht beifti Erhitsen ihrer wassrigen
Losung in Äfyoglucitiseiure, Ameisensaure und «iner der Essigsaure iso-
meren flüchtigen Saur^. Das barytsale der leteteren wurde untersucht
und entsprach bei 1^^ G. getrocfknet der Zusammensetaung BaO,
C4H3 03.
Von der Apoglucin^ure ^ürde die Säure dargestellt; bei lOOoC.
getrocknet entspri^t !sie der tfaeoretilsdieu Pormel C^^H^Os+ 3 HO.
Nachschrift von E. Reichardt.
Die Untersuchungen der ZersetzUngsproducte des Zuckers durch
Sauren oder Alkalien sind deshalb so schwierig und gewiss auch un-
voUistandig erkannt, weil tfie^iben &o äusserst l^cht veränderlicher
Natur sind, so rasch in die Form der sog. Humusmaterien übergeben.
Die von tnisinem Bruder hier gebotenen Resultate «seiner Forschun-
gen «rwevsen «nerst eine Saure, wel<chfe in Zusammensetaung und che-
mischem Vetlialten mit den als Spa!ltungst)roduct auftretenden Säuren
der Gerbsaure sehr viel gemeinsameB zeigt, ich habe sie , da der Name
Zucker in vielfacher Gombination sction zu Sauren u. dergl. verwendet
wurde, einstweilen Sacchdrumsaure benannt, um den Ursprung in der
Bezeichnung fbst zti haltet.
Wie viel ven Saccharutaisäure und Glucinsaure bei dieser Zer-
setzung des Traubenzuckers entstehen, ist nldit gut zn entscheiden, da
die Trennuvg beider , wie gewt$hnlieh , nur sehr unvollständig ausge-
führt werden kann ; scheinbar entsteht weit mehr Glucinsaure.
Beide Sauren, Saccharumsüure » G^^H^O^ und Glueinsaure,
C24gi60iB^ sind sauerstoffreicher als das Kohlehydrat Zucker; da kein
Sauerstoff bei der Zersetzung aufgenommen wird , so müssen sauer-
stoffarme Producte noch entstehen. Vielfedbe Versuche führten aber zu
nichts Anderem , als zu dem schon erwiesenen Vorkommen von Aceton
oder dem ahnlichen flüchtigen Kdrpem.
t
I
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■Mb
Deber die Zetsetznni^sprodiiete des Tranbenznckers etc. 331
Ohne damit die Zersetzung selbst genauer ausdrücken zu wollen,
kann man schon durch diese Combination zur Formel der Kohlenhydrate
gelangen, z. B. :
i Aeq. Saccbarumsäure « C**H« O®
— Glucinsäure = C^^HiöO^»
2 Aeq. Aceton = C« H« O^
C44H28028
wofür noch die leichte Verflüchtigung des Acetons sprechen könnte , so
dass die grö$ste H«pg6 dess^lb^n «ebr leicbt dar Untersuchung entgehen
dürfte; jedenfalls soll diese Zusammenstellung nur als Andeutung die-
nen , um bei weitergehenden Prüfungen beachtet zu werden.
Heber das filiedmiuseiskelet der EMli«8iiirier.
Von
C. Oegenbanr.
Hierzu Taf. XII!.
Das Skelet der EDaliosaurier gebärt zu den nicht allzu zahlreichen
fossilen WirbeJthier-Resten, welche sowohl in grösserer Vollständig-
keit sich erhallen haben, als auch in verhSiltnissmassig reicher An-
zahl zur Untersuchung gekommen sind. Dem entspricht die ausgedehnte,
jene Organiamenreste betreffende Literatur , in welcher nicht blos viele
und genaue Beschreibungen, sondern auch manche vergleichende ür-
thcile niedergelegt sind. Am wenigsten kann letzteres bezüglich der
Skelete der Gliedmaassen gelten, die einerseits durch ihre oft vortreff-
liche Erhaltung, durch die sie vor den fossilen Gliedmaassen resten
anderer Reptilien ausgezeichnet sind, andererseits durch vieles in Zahl,
Form und Lagerung ihrer einzelnen Theile ausgesprochene EigentbUm-
liche dio vergleichende Prüfung herausfordern.
Eine solche Prüfung ist von mir bezilglich der Vordergliedmaassen
versucht worden , wobei mehrfache Beschreibungen und bildliche Dar-
stellungen der HauptreprSsentanten als Unterlage gedient haben. Die
Ergebnisse dieser Untersuchung mögen in Folgendem vorgelegt werden.
Sie dürfen in gleicher Weise auch auf die hintere Extremität Anwen-
dung finden, da diese die ursprüngliche Uebereinstimmung mit den
Vordergliedmaassen nur in wenigen ganz untergeonlneten Punkten, wie
z. B. in der GrBsse, modiScirt besitzt.
Ichthyosaurier.
Die Gliedmaassen der Ichthyosaurier werden bekanntlich durch
eine sehr grosse Anzahl einzelner Knochenstücke gebildet, die nicht
seilen noch in ihren gegenseitigen Lager ungsbezi eh un gen so voD-
Ueber das Giiedmiuissenskelet der Enaliosaurier. 333
ständig erbalten sind, dass der einem Deutungsversuche der ein-
zelnen Theile etwa gemachte Einwand der Unvollständigkeit nicht als
stichhaltig gelten kann. Dieses gilt wenigstens für den bei weitem
grössten Theil des Skeletcomplexes , und wenn auch am distalen Ab-
schnitte Lösungen in der Verbindung bestehen, oder die einzelnen
Stücke aus ihrer Form eine unvollständige Verknöcherung und damit
auch eine nicht vollkommene Erhaltung erschiiessen lassen , so spielt
gerade dieser Abschnitt für die vergleichende Untersuchung eine ganz
untergeordnete Bolle.
Das allgemeine Verhalten der gesammten zu einer Flosse geformten
Gliedmaasse spricht sich in einer geringen Differenzirung in einzelne
grössere Abschnitte aus , so dass die einzelnen Skeletstttcke bei einem
Vorkommen in grösserer Anzahl nur wenig von einander sich unter-
scheiden. Nur Ein Knochen macht davon eine Ausnahme, jener, der die
Gliedmaasse dem bezüglichen Gürtel anfügt und zweifellos als Humerus
für die Vordergliedmaasse , als Femur für die hintere Gliedmaasse ge-
deutet worden ist.
Verfolgen wir das Verhalten an den Vordergliedmassen weiter, so
finden wir nach jenem ersten grösseren , durch eine Einschnürung am
Mittelstucke ausgezeichneten Knochen, stets zwei kleinere, die ganz den
Charakter der übrigen tragen , wenn nicht einer von ihnen durch eine
laterale Einkerbung ausgezeichnet ist. Cuvier^ hat sie gewiss mit
vollem Rechte als Radius und Ulna bezeichnet und ist damit jenen Ana-
tomen entgegengetreten, welche glaubten, dass der Vorderarm den
Ichthyosauren fehlte. Da nun die nachfolgenden Knochenstücke , wenn
auch kleiner, doch jenen beiden Knochen ähnlich sind, bemerkt er,
dass der Vorderarm thatsächlich die erste Reihe eines Carpus zu bilden
scheine. Die Bestimmung je eines dieser beiden Knochen als Radius
oder Ulna ergiebt einige Schwierigkeiten, da beide Seiten des Armske-
lets sich häufig ziemlich gleichartig verhalten , und aus dem Verhalten
der Knochen selbst keineswegs häufig ein fester Anhaltepunkt gewonnen
werden kann. Es ist somit erklärlich, dass nicht immer der gleiche
Knochen als Radius oder Ulna gedeutet ward. Als Kriterium möchte ich
das Verhalten des Handskeletes gelten und aus diesem zuerst Radial-
und Ulnarseite bestimmen lassen, besonders in jenen Fällen, wo die
Vorderarmknochen einander gleich sind. Den durch eine Reihe kleiner
Knochenstückchen ausgezeichneten Rand sehe ich als den ulnaren an.
Diese Knochen finden sich in verschiedener Ausdehnung aufgereiht,
meist ausserhalb der am Vorderarm beginnenden Reihe gelagert. Die
ij Ossomens fossiles, 4 Edit. Tome X. $.487.
334 C. Gegeobiuir,
Gründe für diese Deutung liegen in der Thatsache, dass das F?(tremi—
IHtenskelet niederer Wirbelthiere radial einen bestimmten Abscbluss,
ulnar dagegen eine sehr veränderliobe Zahl von es zusammensetzenden
TbeiIeD besitzt. Im Verlaufe dieses Aufsatzes wird mebrfacb nSher
bierauf eingegangen werden müssen.
Wenn bis hierher die vergleichenden Beziehungen nicht gut ver-
kannt werden kSnnen , so ist der folgende Theil , und damit die ganze
übrige Gliedmaasse st^wieriger zu verstehen , zumal auch hier nach
den einzelnen Arten manche und bedeutende Verschiedenheiten statt-
finden. Bei der von Cdvibb beschriebenen Form folgen auf drei als erste
Reibe des wahren Carpus angesprochene Knochen zwei Reihen von jr
vier StOoken, welche CuTin als zweite Reihe des'^^arpus und als Afeta-
carpusreihe aufzufassen schein^, da er di« Knochen platten reihen des
Übrigen Abschnittes als den Phalangen einer Delphinäosse vergleichbar
bezeichnet.
Während Gvtibh, die Vei^leichung ganz im Allgemeinen haltend,
Beziehungen zu höheren Wirbeltbieren anzudeuten scheint, wird von
OwiK < vielmehr eine Pischähnlichkeit nachzuweisen versucht. Die
Wflsentliobsle Verschiedenheit von der Flosse eines Fisches findet Owbh
— abgesehen von dem Schult«rgttrtel — in dem wohlentwickelten
Humerus. Dagegen haben nach demselben Forseber die Vorderarm-
knochen in Kurze und Breite die Fischähnlichkeit bewahrt, und ebenso
sind Tacb demselben die uiehrfacben — sieben, acht oder neun —
Finger durch ihre zahlreichen kurzen GliedstUcke ein bezeichnendes
Merkmal der Verwandtschaft mit den Fischen. F.s wird genügen, diese
beiden Autoren aufgeführt zu haben , um zu zeigen , dass die Ver-
gleicbung sich nur ganz im Atigemeinen bewjgt. Andere haben , so-
weit mir bekennt, nichts wesentlich Neues kundgegeben. Jene Art der
Vergleit^ung muss aber den heutigen Anforderungen ungenügend er-
scheinen , so sehr CvmER's Urtheil für seine Zeit werthvoll gewesen ist.
Wir beben uns zu erinnern, dass wir es im Carpus nicht mit einer be-
liebigen Zahl von Skelettheilen , sondern mit ganz bestimmten Theilen
zu thun haben, die zwar vielfadi verändert, ruckgebildet, verschmolzen,
ja seger theilweise versdiwunden sein können , die aber für all' Dieses
bestimmte Nachweise verlangen.
Der Versuch jener Beurtheilung der einzelnen Stücke könnte mit
der Bestimmung des Carpus beginnen, oder der Frage, welcher Theil
des reichen, auf die beiden Vorderarmknodien folgenden Gomplex«£
lieber das GliedmaasseiiBkelet der Enaliosanrier. 335
von mosaikartig aneinander gefügten Enochenplatten als Carpus anzu-
sehen sd. Die Anwendung des üblichen anatomisohen Begriffes des
Carpus als eines zwischen Mittelhand und Vorderenn eingefügten , aus
meist kleinen Knochen zusammengesetzten Abschnittes, ist unausführ-
bar , eben weil auch ein Metacarpus nicht an sich unterscheidbar ist,
sondern wiederum die Kenntniss des carpalen Abschnittes voraussetzt.
Da also weder Carpus noch Metacarpus von einander morphologisch ge-
sondert sind, sowie auch der den Phalangen entsprechende Endabschnitt
nicht von einem Metacarpus differensirt erscheint , so liegt die Berech-
tigung vor, diese sämmtlichen Theile als noch im Zustande der Indif-
ferenz befindliche anzusehen. So richtig diese Auffassung an sich ist,
so wenig kann sie befriedigen , und auf keinen Fall führt sie die Er-
kenotniss aber die bereits von Cutier gesteckte Grenzmarke der Ver-
gleichungv Wir werden uns also einen anderen Weg suchen müssen,
um jene Grenze glücklich &u überschreiten.
Die Beachtung des hervorgehobenen Zustandes der Indifferenz, in
wekhem selbst noch die deutlichen , in ihrem morphologischen Werthe
erk^inbareD Theile^ wie z. B. die YorderarmstüdLe, stehen, weist uns
auf dnen niederen Zustand. Dahin weist auch das Schwankende in
der Zahl der sogenannten Phalangenreihen bei den einzelnen Arten,
sowie die Verbindung der einzelnen Stücke, welche das gesammte
Annskelet zu ein«m einzigen , nur als Ruder wirkenden Organe , zu «
einer Flosse, zusammenfügte, keinem Abschnitie eigenartige Leistungen
gestattende. Von den Amphibien aufwärts treffen wir dagegen jene
Sonderlingen ausgeprägt; auch da, wo der Arm zur Flosse geworden
functfonell auf eine niedere Stufe tritt^ fehlen sie nicht; das Armskelet
der Cetaoeen , wohl die niederste Skeletbildung unter den höheren
Wirbeltfaieren , da sie sogar der Gielenke entbehrt, trägt unverkennbar
jeneScbeiduQg in die einzelnen bei Ichthyosaurus vermissten Abschnitte,
und erweist sich dadurdi als Rückbildung aus einem höher differen-*
zirten Zustande, die mit der Ichthyoeaurenflosse zu vergleichen heutzu-
tage isin. grosser irrthum wäre.
Ausser diesen allgemeinen Verhältnissen verbieten audi die spe-
dellea Beziehungen eine Vergleichung mit den höheren Abtheilungen
der Vertebraten. In der ersten, den beiden Vorderarmknochen folgenden
Reihe sind drei, in der darauf fügenden fast immer vier Knochenstücke
g^agerL £in ähnlidles Verhalten bielet sich nur bei manchen Säuge-
thienendar, «ad ist de «Is ein erworbenes anzuseilen, theib durch Ver-
schmelsitoig zweier Slücke der aweiten Reihe, theils durch Ausfall eines
zwischen beiden Reihen igelagerten , von mir als Centrale bezeichneten
Knochens. ^ "^ ' ^ ^-^ Säugetiuerefn in wenigen Abtheifaingen
verbreitet vorkommt. Man sehe hierüber das zweite Heft meiner Unler-
suchungen zur vergleichenden Anatomie. Leipzig 1 860. Da ein solches
Centrale die Verknüpfung des Säugethiercarpus mit jenem von Reptilien
und Amphibien vermittelt, und sein Mangel bei einzelnen SSugetbierord-
nungen nur als ein secundSrer zu gelten bat, wird sein anscheinendes
Fehlen bei Icfathyosauren nicht zu einer Vergleichung mit jenen Sfiuge—
thieren induciren dürfen, es wird vielmehr die Frage entstehen, ob
denn dieAuffassungjener beiden aus drei und vier Knochen besiehenden
Reihen als Garpus Überhaupt richtig ist. Der Zustand der Indifferenz,
in welchem sich fast das ganze Armskelet findet, gestattet die vorläufige
Annahme der HSglichkeit, dass auch mehr als zwei Reihen zum Carpus
gehören kannen. Bei Amphibien (Urodelenj und Reptilien (Schild-
kröten) ist von mir gezeigt worden , dass die Anordnung der Carpus—
stücke in Querreihen nicht dem ursprünglichen Zustande entspricht, so
dass bei jeder Vergleichung von der Querreihenbildung gänzlich abge-
sehen werden kann.
Nachdem somit alle nach oben führenden Wege der Vergleichung
abgesperrt sind , müssen wir uns nach unten wenden , um dort nach
neuen Vergleichungsobjeclen zu suchen. Oven bat bereits diese Bahn
zu betreten versucht, ohne jedoch, wie oben bemerkt, zu positiven Er-
gebnissen gekommen zu sein , denn der Nachweis der Fischähnlichkeit
. im Baue des Armskelels der Ichtbyosauren stützt sich fast ausschliesslich
auf Zustande, die aus Anpassungen hervorgingen, und nur auf die
functionellen Verhältnisse des Armes Bezug haben. Es wird sogar
nachzuweisen sein, dass die meisten jener EigenÜiümlichkeiten gar
nicht dem DFischtypus« als solchem, sondern nur einer, hinsichtlich der
Gliedmaassen sehr einförmigen Abtheilung (Teleostier) angehorig sind.
Die Sonderung des secundären Flosse nskelets vom primären, um welches
es sich hier allein handeln kann, lehrt in den Gliedmaassen der Teleostier
wiederum durch Rückbildung modificirte Zustande kennen, die durch
die Ganoiden zu den Selachiern verfoigbar sind. Bei letzteren ist der
vollständige Zustand des Skeleles der Gliedmaasse vorbanden, der in
jenen anderen Abtheilungen stufenweise Rückbildungen erfährt, wie ich
früher (Untersuchungen %. vergt. Anatomie Heft II.) ausführlich nach-
gewiesen habe. Somit blieben uns nur die Selachier.
Im Baue der Selachierflosse gab sich als durchgreifende Einrich-
tung das Vorkommen einer — oder, wie bei den Rochen, mehrerer —
Reihen von Enorpelstücken zu erkennen, welche andere EnorpelstOcke,
Radien, an sich aufgereiht tragen. Nach der Lagerung der drei typi-
schen BasalstUcke habe ich das gesammte Flossenskelet in drei Ab-
schnitte, Pro-, Heso- und Helapterygium , unterschieden; das letztere
Deber das Gliedauuissenskelet der Enaliosaarier. 337
ist der allen Selachiern zukomoiende, bei den Haien der überwie-
gende Theil des Skelets. Man^kann an ihm eine von dem die Verbin-
dung mit dem Scbultergürtel vermittelnden Basalstücke ausgehende
Stamm- oder Basalreihe unterscheiden, an deren einer Seite die Radien
sitzen. Diese Radien erscheinen am einfachsten als Knorpelstäbe , die
bei grösserer Länge gegliedert sind und dann aus einer Folge von
Knorpelstücken bestehen. Jedes einzelne der letzteren kann wieder in
andere Gestaltungen übergehen , und eine sehr häufige Erscheinung ist
die Umwandlung der vierseitigen Gliedstücke in sechsseitige Plättchen,
die mit den benachbarten zu einer Art Mosaik verbunden sind. Gar
nicht selten ist alsdann die Angehörigkeit dieser Plättchen zu einem
Strahl deutlich erkennbar, und es ist derUebergang eines ungegliederten
Knorpelstrahls in eine gegliederte Fortsetzung , femer der Uebergang
der einfach vierseitigen Gliedstücke in polygonale Platten continuir-
lich verfolgbar. In einem anderen Falle ist solches nur über eine
Strecke der Flosse deutlich , während gegen die Peripherie eine Auf--
lösung der Plättchenreihen, und eine gewisse Art von Umordnung der-
selben erfolgt, aus der eine Anordnung in die Längsaxe der Radien
kreuzende Querreihen hervorgeht. Auch da vermag man fast beständig
die je einem Radius angehörigen Plättchen zu unterscheiden. Verfolgt
man die Längsaxe eines Knorpelradius in die sich aus ihm fortsetzende
Plättchenreihe , so geht die Linie häufig aus der Geraden in eine ge-
krümmte Form über. Da die Radien ursprünglich fast immer gerade
sind, so müssen mit der Sonderung des distalen Abschnittes in Plätt-
chen zugleich Verschiebungen stattfinden. Ungleicher Wachsthum der
Plättchen dürfte dazu den ersten Anlass geben.
Wir sehen also , wie in der Selachierflosse eine Einrichtung vor-
kommt, die mit der Zusammensetzung der Ichthyosaurenflosse einige
Aehnlichkeit besitzt: in Querreihen geordnete Skeletstücke, die mehr
oder minder deutlich auf Längsreihen, resp. auf gegliederte, längs ver-
laufende Stücke (Radien) bezogen werden können.
Die aus der Untersuchung der Selachierflosse gewonnenen Resul-
late verwerthend, können wir uns nun die Frage vorlegen, ob nicht
auch im Armskelet der Ichthyosauren derselbe Typus zu erkennen sei,
wie im Skelet der Selachierflosse. Wenn die Frage bejahend beant-
wortet werden darf, so muss sich vor allem nachweisen lassen , dass
eine Stammreihe von Knochenstücken besteht, an der seitliche Strahlen
angebracht sind, die auch durch Reihen von Skeletstücken repräsentirt
sein können. Es ist früher von mir gezeigt worden, dass die Basalreihe
des Metapterygiums der Selachier mit einem dem Humerus homologen
Stücke befli««» ""'^ dnrrh Skelettheile sich fortsetzt, die der radialen
338
Seite des Anndielet« holMrer Wirfaelthiere enleprMfaen. Sueben ^r
ao der icbthyosaureDflosae diese Beibe qjif, so wird sie also voni Bu^
■Denis und Radius und den darauf folgenden , d«m radialen Rande der
Flosse angfhDrigen Koochenplattan gebildet werden. Tergl. Fig. I . '
Die in der Abbikhing dargeslellle stärkere rotbe Linie bezeicbnet diese
Beibe. Ihr mllssen den StrsUen der Selachierflosse äbnliche Plauen—
reihen angefügt sein. Audi diese sind nachweisbar, wie durch die
feineren reihen Linien in Fig. 1 dargestellt wurde. Jede einer solcben
Linie zugehörige Fcdge von Knochen sUlcken kann aus eineoi geglie-
derten SkeletatUoke gelrildel gedacht werden , dessen Theile aus einem
ungegliederten Zustande hervorgingen [v»^eiche damit Fig. i) , wie
solcher fUr die Selacbierflosse ersichtlich ist.
Es ist also die fundamentale Anordnung dcrSkelet-
theile bei derlchlhyosauren-Gliedniiiaase aus demselben
Verhalten ableitbar, welches der Zusammensetzung der
Selaobierfloase zu Grunde liegt. Wir künnen in dem zum Bei-
spiele gewählten Falle vier Knochenptatten reihen der Uaupt- oder Basal—
reibe angefügt uaehweisen; die erste Beibe beginnt mit der UIna und
wird vom Humerus gelragen, die tweile ist dem Radius angefügt, die
dritle und vierte sitzen an den beiden auf ded Radius folgendeu Knochen
der Basalreihe. Die erste Reihe scheint (in dem von uns gewählten
Falle) nach ihrem ndienten Gliedatüoke in zwei Reihen ubenugelien,
d. h. sie ist terminal gabalig getfaeilt. Anderen Arten fehlt dieses Ver-
hallen , oder es kommt der Uebergaog einer Reihe in zwei an einem
anderen Abschnitte vor, wie denn nicht blos in dieser Hinsicht, son-
dern auch in der Anordnung der secundOren Reihen (die aus Strahlen-
studten hervorgingen] auf dtr Basal- oder Slemmreihe eine nicht ge-
ringe Mannigfaltigkeit besteht. Da ich die Aufzählung dieser Veriationen
Di(At zu meiner Au^abe reebne, mag es genügen, auf sie hingewiesen
zu haben, Jenen die nähere Untersuofauog dieses Verhallens überlas-
send, denen das bezügliofae Material direoter zugänglich ist'.
In der Auflösung einer Reihe in zwei ist ein ebenfalls im Flossen-
skelet der Selaohier v(M-kommendes Verbaltniss ausgedrückt, das als
^J Bei lefathyosaunis Integer scbelnt die Dichotomie der Strahlen ta fplilen.
Sehr deutlich ist sie bei tchthyosenrus commaniB. In dem von Ctiviin Flg. 3 PI. ii«
der Ow. Fou. QdhIj-. Mit. abgebildeten, tclieinl «im« DiclioUiinie diu rBdialen Hand?
vorzuliommen, weno Bodera die Bezeicbnung von Chvieb die neblige Ist. Die la-
terale Reibe besteht aus kleioen Knochen , ahnlich wie in der euC dorsclbeii Tafel
gegebenen Fig. 4 am ulnaren Rande, welche Figur Übrigens die innere Ansii^ht der
In Flg. a dergeatetlien Flosse sein soll. Beide Figuren stimmen jedoch sonst nichl
gnn Uberein.
•1
Deber das Gliedmaassenskelet der ED&lios&urier. 389
Dichotomie der StrahIeD, am distalen Ende bei Rochen allgemeiD, nicht
selten auch bei Haien besteht. Ob übrigens in dem gewählten Para-
digma das Vorkommen von sechs Längsreihen gegen das Ende der
vorher nur fünf Reihen aufweisenden Flosse nur von jener Dicho-
tomie ableitbar ist, muss ich zweifelhaft lassen. Es besteht noch eine
andere Möglichkeit, die nicht einfach beseitigt werden kann. Die frag-
liche Doppelreihe besteht nämlich aus einem aus grösseren und einem
aus kleinen Tafeln gebildeten Theile, davon der letztere den ulnaren
Rand der Flosse einnimmt (siebe Fig. 1). An diesem Rande finden sich
nun bei verschied^en Ichthyosaurusarten kleinere Knochentäfelchen
in einer verschieden langen Reihe , die klärlich nicht von einem Strahl
abgeleitet werden können , der unterhalb des ersten mit der Ulna be-
ginnenden Strahls an die Rasalreihe sich anfügte , sondern der viel-
mehr, jene Auffassung festgehalten, über dem ersten ulnaren Strahl an
der Rasalreihe, also am ersten Stücke derselben, d. i/jj^m Humerus
angefügt gewesen sein muss* Cutier hat in dem als Fig. 2 auf PI. 258
(Ossemens fossiles Quatr. Edit.) dargestellten Ichthyosaurusfragmente
den grösseren Theil einer solchen Flosse abgebildet, wo eine ulnare
Reihe von Knochentäfelchen schon am »weiten Gliede des Ulnarstrahls
beginnt. Man kann zwar sagen , dass hier eine dem Ulnarstrahl ange-
hörige Dichotomie vorliege, allein das ist ebensowenig sicher als die
andere Ansicht, und gerade die Besiehung Kum einem Rande der Glied-
maaase lässt Bedenken entstehen. Dieser Rand depGliedmaasae markirt
sich nämlich dadurch als Ulnarrand, und verlangt besondere Vorsicht
in der Beurtheilung der ihm angeschlossenen Theile, da gegen ihn die
Reduction erfolgt sein muss, so dass sich hier, je nach dem verschie-
denen Grade der letzteren, Strahlenglieder in verschiedener Anzahl er-
halten haben können, indess andere auf Strecken hiiif verloren gegangen
sind. Bei der Vergleichung des Armskeletes von Pksiosaurus werde ich
auf diesen Umstand zurückkommen*
Durch den Nachweis der Uebereinstimmung des Typus des Flossen-
skelets von Ichthyosaurus mit jenem der Selachierflosse könnte man zu
der Vorstellung einer darauf sich gründenden näheren Verwandtschaft
beider geführt werden, welche in demselben Grade die Beziehungen zu
höheren Wirbelüuerorganismen in die Feme rückte. Diese Vorstellung
wird durch die Beachtung der Thatsacbe modificirt, dass auch für die
höheren Wirbelthiere durch die am Carpus und Tarsus der Amphibien
(und mancher Reptilien) wahrnehmbaren Einrichtungen eine Ableitung
des Gliedmaassenskelets von gleichen primitiven Zuständen ausführbar
ist. In meinen Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie (Heft II.
S. 1 64) habe ich das Schema angegeben, nach welchem die Anordnung
340 ^- Cwnbniir,
der bezüglicfaeD Skeleltbeile aufzufassen ist: eine Basal- oder Slanini-
reihe, welche für die Vorderes ireraiiai vom Humerus durch den Radius
zum Daumen verlüufl, und vier Radien, welche der Stammreihe lateral
angefU);!, in den vier Fingern enden. In Fig. 3 stelle ich eine Abbil-
dung dieses Schema dar, in der zugleich die Difierenzirung der Haupt-
übschniKe des Armskelets ausgedrUdtt ward.
Bei Zugrundelegung dieses Schema für die speciellere Vei^leichung
der IchtbyossurusOosse mit dem Armskelete der höheren Verlebralen
stellt sich Folgendes heraus: Auf die beiden Vorderarmstücke folgen
drei, die erste Reihe des Carpus zusammensetzende Stücke, davon eines
das Radiale der Stammreihe ist, das zweite als Inlermedium , dem
zweiten Strahl, das dritt« Ulnare, dem ersten, ulnaren Strahl angehört,
wie aus der bezuglichen Abbildung leicht zu ersehen ist. Dieselben
Stücke finden sich in derselben Lagerung bei Ichthyosaurus. Das Inler-
medium lasst sehr oft durch Einfllgung zwischen Radius und Ulna
ein Verhalten erkennen, welches an den Carpus von Salamaudrinen
erinnert.
Dem Inlermedium sind femer bei unserem Schema in distaler
Richtung zwei Stücke angefügt, welche ich als Ceniralia bezeichnete
und welche beide dem einfachen Centrale entsprechen , das von den
Amphibien an bis zu Saugelhieren sehr verbreitet vorkommt, im Tarsus
von Gryptobranchus sich sogar in der für den Carpus nur hypothetischen
Dupliciiat erhalten hat. Dieselben Stücke ßnden sich allgemein bei
Ichthyosaurus (Fig. {. c. c.j und dies ist um so wichtiger, als dadurch
die bisher nur durch den Tarsus von Crjptobranchus gestützt«, sonst
rein theoretische Voraussetzung am Carpus, oder vielmehr an dem einem
solchen homologen Abschnitte, eine feste Begründung empfingt.
Zur Seile der beiden Centralia , mit ihnen fast eine Querreihe bil-
dend, finden sich ulnar und radial gelagert noch zwei StU(^e , welche
mit drei distal von den Centralien liegenden von mir als Carpaie 1 — 5
bezeichnet wurden. (Fig. 3 c. 1 — S}. Die beiden erstgenannten sind
bei Ichthyosaurus, soweit ich die Darstellungen vergleichen kann, con-
stant vorhanden (Fig. 1 . c', c ^) , die drei anderen dagegen [Fig. 3 c^, c', c*]
sind zuweilen nur durch zwei vertreten, so z. fi. bei Ichthyosaurus
integer (A. Wagnbr, Abhandl. der math. physik. Classe der k. Acad.
der Wiss. zu München, Bd. VI, Abth. 9. Taf. XVI, Fig. )) auch in einer
von CuviEK gegebenen Darstellung (Oss. foss. PI. 258, Fig. 3. 4), wäh-
rend sie in einer andern Form (I. c. Fig. 2] vollzählig sind- Was die
ersterwähnte Hinderung bedingt, ist für jetzt noch nicht sicher zu
ermitteln ; mOglich ist, dass sie durch die Dichotomie eines Strahls be-
dingt ist, oder durch eine Vereinigung einer Anzahl der Strahlen.
lieber das Gliedmaassenskelet der Enalios&urier. 341
Wahrscheiolicb sind die bedingenden Momente für die einzelnen Fälle
sogar sehr verschiedene, was zugleich der Verschiedenartigkeit des
speciellen Baues des Flossenskelets von Ichthyosaurus entspricht.
Mit dem Nachweise dieser zehn Knochenstttcke , die zu zweien
(Radiale und Carpale^j der Stammreihe, im Uebrigen dem proximalen
Abschnitte von lateralen Strahlen angehören , ist die Erkenntniss eines
dem Garpus der höhern Vertebraten entsprechenden Abschnittes ge-
wonnen , und es lassen sich die folgenden fünf Stücke als Homologa
eines Metacarpus, die übrigen aber als Phalangen deuten, wenn sie
auch sämmtlich unter sich , ja sogar von den Vorderarmknochen for-
mell nicht differenzirt sind. Eine Vermehrung der Strahlen bewirkt in
jenem Verhalten entsprechende Modificationen , ohne jedoch das als ty-
pisch Bezeichnete aufzulösen. ^ Das Armskelet von Ichthyosaurus bietet
somit in Zahl und Anordnimg seiner Elemente nahe verwandtschaft-
liche Verhältnisse zu jenem der höheren Wirbelthiere , und nur das
Schwankende in der Zahl der in es eingehenden Radien , sowie die
beträchtliche Vermehrung der Gliedstücke der letzteren ergiebt sich als
eine niedere, an die Zustände des Armskelets der Selachier erinnernde
Bildung.
Würden die beiden Vorderarmknochen länger gestaltet erscheinen,
und ebenso Metacarpus und Phalangenstücke aus der platten , oft sogar
breiten Gestalt in die cylindrische übergegangen sein , und die Phalan-
gen mit ihrer Verlängerung eine Beduction in der Zahl erlitten haben,
so schlösse sich das Armskelet von Ichthyosaurus enge an jenes der
Amphibien an. Bei diesen besteht nur noch im Verhalten des Carpus
der bei Ichthyosaurus für den ganzen Skelet-Complex vorhandene
niedere Zustand fort, die übrigen Theile erscheinen dagegen weiter ent-
wickelt, entsprechend der geänderten Verrichtung, in welche die Glied-
1) Daraus geht zugleich hervor, dass das Handskelet der höheren Wirbelthiere
auf die Pentadactylia beschränlct ist , die schon bei Ichthyosauren ihre Repräsen-
tanteo besitzt. Wenn die vier Finger die Enden von selbst im Carpus noch ganz
deutlich nachweisbaren Strahlen sind» so muss eine Mehrzahl von Fingern durch
das Verhalten des Carpus erkennbar sein. Von den Amphibien an aufwärts ist aber
nirgends eine Andeutung davon vorhanden. Es ist daher auch von dieser Seite her
nachweisbar, wie sehr die Annahme gewisser Skeletstücke bei Amphibien als Rudi-
mente eines sechsten Fingers unzulässig ist.
Dass die als Monstrosität nicht seltene Polydactylie höherer Wirbelthiere nicht
bieher gehört, bedarf kaum einer besonderen Erwähnung. Sie könnte als ein
Rückschlag nur auf Formen bezogen werden , die unendlich weit abstehen , wie
eben Ichthyosaurus und die Selachier, und darin mtlssten nicht blos in der Zahl der
Finger, sondern auch in den specielleren Formverhältnissen der Phalangen, wie aller
Skelettheile der Hand Jenen niederen Zuständen entsprechende Verhältnisse sich
nachweisen lassen, von welchen thatsächlich auch die geringste Spur vermisst wird.
Bd. V. 8. iS
342 C. Gegenbiar,
maaGse eiotral. Dieselbe Weiterentwicklung, n'elche den eroz^loen
Abscbnilten. besondere Function überträgt, äussert sieb auch in der
zwischen den einzelnen Abschnitten durch aufgetrelene Gelenkfoildung
gestatteten Beweglichkeit. Fassen wir Alles zusammen , so begegnen
wir in den Gliedmaassen der Ichlhyosauren einer Form , die zwar noch
Manches aus einem niedem Zustande bewahrt hat, aber dennttch be-
reits alle Elemente höherer Gliedmaassenformen in sich trSgt. Das letz-
lere überwiegt das erstere, denn das bis auf kleinere Verhältnisse sich
erstreckende üebereinstimmende der Anordnung ist wichtiger als die
Vergeh i ed enheit , die sich in der speciellen Form und in der Zahl der
Skeletstücke ausspricht.
Plesiosaurus.
Dem indifferenteren Zustande der Glied maassenske leite von Ichthyo-
saurus stellt sich das in seinen einzelnen Abschnitten scharf gesonderte
Skelet der Extremitäten von Plesiosaurus gegenüber. Beiden Gattun-
gen ist nur die ziemlich vollkommene Uebereinstimmung von Vorder—
und Bintergliedmaassen und die Umformung derselben zu einer Flosse
gemeinsam. Die Vollständigkeit der Erhallung in sehr vielen Falleo
bietet der vergleichenden Betrachtung euch hier eine ziemlich sichere
Unterlage, und wenn bei einzelnen Arien auch eine Verschiebung gan-
zer Abschnitte, vorzüglich des Carpus stattfand, oder die Kleinheit und
mangelnde Ausprägung der untereinander verbundenen Flächen auf
eine nicht immer vollständige Verknficherung schliessen lasst, so treten
wieder andere Formen dafür ergänzend ein , dnd es ist ein Gesamui-
bild leicht zu gewinnen. Ein solches bietet die Darstellung, welche
Owen' gegeben hat.
An der vordem Extremität ist der sehr ansehnliche Humerus an
seinen beiden Enden charakteristisch gestaltet. Die Form des distalen
Endes weist auf eine Gelenkbildung hin. An Länge kommt er etwa
einem Drittheil des gesammten Armskelets gleich. Die zwei Knochen
des Vorderarmes sind gleichfalls gesonderter. lEiner davon, in der
Kitte meist etwas eingeschnürt, ist der Radius, der andere ist die Ulna,
die eine conoave AadiaLQäcbe besitzt , indess die entgegengesetzte stark
convex erscheint. Die ziemlich platte Gestalt beider Knoobon kann
als eine Annäherung an die bei Ichthyosaurus vorhandene Form gelten,
wenn man nicht, vielleicht richtiger, darin bios eine Anpassung an die
Flossennatur der ganzen Gliedmaasse erkennen will. Diese äussert
sich auch in der Form der nun folgenden sechs CarpusstUcke , die in
i| Monograph ot the Tossil Reptili» of the Liassic forinetioDS. Part flrst. Sao-
ropterygia. Lgiidon 1BSS.
Deber das Gliedmaassenskelet der Enaliosauher. 343
zwei Reihen angeordnet sind , und am ulnaren Rande häufig noch ein
siebentes Stück angelagert haben. Auf den Carpus folgen fünf Mittel-
handknochen , welche die aus ähnlich gestalteten Stücken bestehenden
Phalangenreihen tragen. Die Zahl der Glieder ist zwar viel geringer als
bei Ichthyosaurus , erhebt sich aber noch über die bei den lebenden
Reptilien getroffene Zahl.
Bei der Beurtheilung dieser Skeletverhältnisse kann man zwei ver-
schiedene Wege einschlagen. Man kann einmal die vorhandene Diffe-
renzirung als etwas Gegebenes ansehen, und innerhalb jedes Abschnittes
die Homologie mit dem nämlichen Abschnitte anderer Wirbelthiere zu
bestimmen versuchen. Dieser Weg setzt bereits den Nachweis der Ho-
mologie der bezüglichen Abschnitte voraus , und da dieselbe für ein-
zelne Stücke evident ist, erscheint vielleicht dieses Verfahren als ein
ziemlich gesichertes. Da kein Zweifel sein kann , dass der Humerus
von Plesiosaurus jenem der übrigen Wirbelthiere homolog ist, da eben-
sowenig ein Bedenken an der Homologie der beiden Yorderarmstücke
mit jenen anderer Wirbelthiere sich begründen lässt, warum sollte der
Carpus nicht homolog dem Carpus anderer Vertebraten sein, da er doch
ebenso charakteristisch gestaltet und deutlich vom Vorderarm und
den unzweifelhaften Mittelbandknochen abgegrenzt wird? Da es hier
nicht erst des Bestimmens der einzelnen Abschnitte bedarf, erscheint
die Sachlage viel einfacher als bei Ichthyosaurus. Die Aufgabe der Ver-
gleichung würde sich also auf die Bestimmung der einzelnen Carpus-
theile concentriren müssen, da nur noch hier ein Problem besteht. Für
die ersten drei Knochen, von denen der mittlere in der Regel der grösste
ist, erhebt sich keine Schwierigkeit , Radiale , Intermedium und Ulnare
sind durch ihre Beziehungen zu den Vorderarmknocben sofort bestimm-
bar. So sind sie auch von Owsn so bestimmt worden , der sie mit den
die Anthropotomie entnommenen Namen : Scaphoides , Lunatum und
Guneiforme (Triquetnim deutscher Autoren) belegt hat. Die geringe
Schwierigkeit, die sich hier ergiebt, scheint fördernd für die Bestimmung
der Knochen der zweiten Reihe des Carpus gewirkt zu haben, denn
wir finden diese einfach als Trapezium, Trapezoides und Hagnum
(Capitatum) gedeutet, wenn auch die Lagerungsbeziehungen zu der
Mittelhand ganz andere sind, als bei jenen Wirbelthieren , wo die ge-
nannten Namen grösseres Recht besitzen. Prüfen wir Dieses näher.
Gegen das Trapezium und Trapezoid scheint kein Bedenken
geltend gemacht werden zu können; sie tragen hier wie sonst das
erste und zweite Metacarpale. Auffallend muss aber sein, dass das
Omsir'sche Trapezoid auch Beziehungen zum dritten Metacarpus-Kno-
eben besitzt, wi'^ -^ Formen , z. B. bei Plesiosaurus
344 f- Gegcabaur,
rugosus (OwEs, op. cit. Taf, XIV, Fig. S) deutlich ist. Bedenklicher
wird das Verhallen des Magauni. Es tragt in allen von Owi^ darge-
slellteo FülIeD den vierten Miltelhandknocben, bei PI. rostratus, ausser
jenem auch noch den dritten, und bei Pi. bomalospondylus ist der vieitf
und fünfte mit ihm verbunden. Die Beziehungen, die es bei S^ugethie-
ren in grösser BesUmdigkeil zum drillen Metacarpale hat, und ebenso
in seinem homologen Stücke bei Amphibien und Reptilien, sind in kei-
ner Weise vorhanden, daher der Zweifel an der Richtigkeit der Deutung
berechligt wird. Dieser Zweifel «ächst durch die Erwägung, dass
das fragliche Os magnum der letzte, ulnare Knochen der zweiten Carpus-
reihe ist, indem das fUnfle Metacarpale vom Radiale iCuneifonne Owen}
gelragen wird. Wenn man von den Knochen des menschlichen Carpus
sechs in der PlesiosaurusQosae beschrieben fmdel, hal man ein Recht,
auch nach dem siebenten /.u fragen, dem Uncinatum. Im Carpus selbst,
Wü es ja doch liegen sollte, ist es allerdings nicht nachweisbar, dessbalb
bat es Owen in einem ausserhalb desselben gelegenen Knochen ge-
sucht. Owen's Uncinatum liegt an der Ulnarseite des Ulnare (Cunei-
forme). So bei PI. rugosus und macrocephalus. Anderen scheint es zu
fehlen. Von allen charakteristischen Eigenschaften des Uncinatum der
Übrigen Wirbellhiere hat es nur die eine, dass es dem Ulnare (Cunei—
forme) angefügt ist, und diese Eigenschaft verhüll sich derart, dass sie
aufbüri, eine Uebereinslimmung mit dem Uncinatum der übrigen Ver-
lebralen zu bilden, denn jene Verbindung mil dem Ulnare geschieht
nichl am distalen Ende des letzteren, sondern am lateralen. Da also
die einzige scheinbare Begründung einer Homologie sich aullöst, und
auch niemals eine Verbindung mit Melacarpus-Knocben besteht, wird
es mehr als wahrscheinlich, dass das Uncinatum Owh>'s nichts mit
dem gleichnamigen Skelellheile des Cai'pus anderer Wirbellhiere zu
Ihun hat, vielleicht gar nicht dem eigentlichen Carpus angebtirt. Zu
den Zweifeln bezüglich des Os magnum kommt also noch die Constali-
rung des Fehlens eines Uncinatum im Carpus. Die ganze VergJeichuug
wird dadurch erschüttert, denn die vorgetragenen Bedenken wirken
nothwendig auch auf das Trapezoid.
Auch von anderer Seite entstehen Bedenken an der Richtigkeil
jener Vergleiohung, die sich sofort auf die SSugelhiere, ja eigenllich
sogar nur auf den Menschen bezieht, da das unter den Säugethieren
zwar nichl allgemein vorhandene , aber doch ziemlich weil verbreilele
Centrale nicht mit in Rechnung gezogen ist. Bei der vergleichenden
Untersuchung eines Reptils oder doch reptilienartigen Wirbelthiers wird
vor allem bei den sonst verwandten Formen Umschau gehallen werden
müssen. Auch von dieser Seile ist das Ergebniss der fraglichen Deu-
S
Ueber das Gliedmaassenskelet der Enaliosanrier. 345
tung nicht günstig, und weder bei Amphibien noch bei Reptilien besteht
eine Carpusform , welche mit jenem von Plesiosaurus einige Ueberein-
stimmung wahrnehmen Hesse. Wenn Owen sagt, dass bei Plesiosaurus
die Gliedmaassen eine Entwicklung nehmen, die jener von Ghelonia
sehr nahe kommt ^, so besteht nach meiner Meinung kein einziges Factum
für die specieüe Begründung. Eine Verwandtschaft mit einer Ceta-
ceenflosse zu erkennen ist nicht unrichtiger.
Die Voraussetzung, unter der die bisher geprüften Vergleichungen
vorgenommen waren, bestand in der Annahme^ der zwei Reihen von
kurzen, platten Knochenstücken als Carpus, und der darauf folgenden,
aus fünf schlanken Knochen gebildeten Reihe als Metacarpus. Die Un-
terscheidung gründete sich nur auf die Form der betreffenden Theile.
Die Untersuchung von Ichthyosaurus hat gezeigt, dass dort ein Carpus
in allen seinen einzelnen Stücken und ebenso ein Metacarpus vorhan-
den ist, beide in den sonst diesen Theilen zukommenden Lagebeziehun-
gen, aber in der Form der einzelnen Stücke nicht von einander ver-
schieden. Die Metacarpusstücke tragen wie die Phalangen den Charak-
ter der Carpusstücke. Man konnte aus der dort weiter geführten Ver-
gleichung ersehen, dass neben der Form noch andere Dinge in Betracht
gezogen werden müssen. Bei solcher Unterordnung des Formellen wird
man zu der Frage geführt , ob das unzulängliche Verhalten des Carpus
bei Plesiosaurus nicht durch eine Entfremdung eines Theiles des sonst
den Carpus bildenden Abschnittes entstanden sei. Wie bei Ichthyo-
saurus Metacarpusknochen und Phalangen formell den Carpuscharak-
ter tragen, so kann auch einmal der Carpus oder doch ein Theil davon
den Charakter von Metacarpusknochen besitzen. Einfacher ausge-
drückt würde das heissen: kurze Knochen können in längere über-
gehen, also kann ein Garpusknochen formell zu einem Metacarpuskno-
chen werden. Da dieses nicht bezweifelt werden kann, und man für
die anatomischen Begriffe Carpus und Metacarpus, wie sie einmal üblich,
keine anderen Kriterien als die Form der Knochen selbst besitzt, wird
die aufgeworfene Frage in ihrer Anwendung für das Armskelet von
Plesiosaurus eine Berechtigung erhalten.
Die bestimmte Beantwortung der aufgeworfenen Frage wird bei
dem Mangel aller in den einzelnen Stücken selbst liegenden Kriterien,
nur aus dem Verhalten der bezüglichen Skelettheile zu einander zu
erzielen sein. Dieses Verhalten wird dann durch die Beziehung auf
das von mir auch bei Ichthyosaurus angewandte Grundschema der
Gliedmaassen geprüft werden können. Suchen wir die durch den Ra-
<) Anatomy and Physiology of Vertebrates. Vol. I. London 1866. S. 471.
346 C Gegonbanr,
dius verlaufende Stsmmreihe auf, so finden wir sie durch die zwei
radialen Knochen der beiden Carpusreihen in den ersten Finger über-
gehend, ganz in L'e berein slimmung mit dem Verhalten bei anderen
WirbeJlhieren (Vergl. Fig. 2 u. 3). Der erste Strahl wird von Ulna,
dem bezüglichen Carpusknochen, Ulnare [Fig. S u) und dem darange-
fUgten Metacarpus mit dem fünften Finger gebildet. Den zweiten StrabI
setzt das Inlermedium [Lunatum), der dritte Knochen der zweiten Car-
pusreihe [Maguum, nach Owen), der vierte Meta carpusknochen mit dem
vierten Finger zusammen. Den vierten Strahl bildet der zweite Knochen
der zweiten Carpus-Reihe [Trapezoid nach Owes] und der dritte Meta-
carpus k noch en mit dem dritten Finger. Endlich ßnden wir den vierten
ätrahl durcb das zweite Uetacarpale mit dem zweiten Finger gebildet.
Es erweist sieb also auch hier bei Plesiosaurus die Zusammenselzung
des Armskelets nach demselben Typus, wie er im Allgemeinen bereits
bei der Selacluerflosse besteht, and ebenso bei den höheren Wirbel-
thieran erkennbar ist.
Die Uebereinstimmung im Typischen ist von manchen nicht unbe-
deutenden Modificationen begleitet. Das dritte Sttlck des ersten Strahls
gehört sonst dem Carpus an (Fig. 3 c^). Bei Plesiosaurus ist es ein
Metacarpusknochen (Fig. i c^). Auch das dritte Stück des zweiten
Strahles (Fig. 3 c*) ist immer ein Carpusknochen , mit Ausnahme von
Plesiosaurus (Fig. i c*], wo es den vierten Metacarpusknochen vorstellt.
Ebenso ist das zweite Stück des dritten Strahls ein Carpale (Pig. 3 c^},
bei Plesiosaurus das dritte Hetacarpalstück (Fig. t c^), und am ersten
Stück des vierten Strahls ist eine ahnliche Veränderung vorhanden,
indem es sonst ein Carpalknochen (Fig. 3 c^) , bei Plesiosaurus der
zweite Metacarpusknochen ist (Fig. 2 c*). Die Metacarpusknochen
der vier Finger von Plesiosaurus sind demnach bei den
höheren Wirbelthieren als Garpalstücke gebildet; es sind
dieselben Elemente , die ich als Carpale t — 5 bezeichne , und die dem
Trapezoides [c^], dem Maguum oder Capitatum (c*) und endlich dem Un-
cinatum {c* + c^] homolog sind. Die beiden, von Owen als Trapezoid und
Hagnum bezeichneten Knochen des Carpus (Fig. 2 ec) können dagegen
nichts anderes sein, als zwei Cenlralia, jenen homolog, wie wir sie oben
bei Ichthyosaurus kennen gelernt haben. Wenn wir uns einen indifferen-
ten Zustand des Armskeletes vorstellen , ahnlich wie er bei Ichtfayosau-
ren besteht, so können wir davon die beiden anderen Foraizastände
ableiten. Bei der einen Form [Amphibien etc.) gehen mehr Stücke in den
Carpus über, weniger bei der anderen Form (Plesiosaurus], indem bei
dieser vier, bei der ersten zum Carpus verwendete Knochen in den Meta-
carpus Obergegangen sind. Dass die in der ersten Form als Gmndpha-
lieber das GliedmaAfis^nskelet der Enaliosaarier. 347
langen der vier Finger erscheinenden Knochen bei Plesiosaurus die zweite
Phalangenreihe der vier Finger bilden nittssen, ist selbstverständlich.
Es bleibt ntin noch das von Owsn als Uncinatum bezeichnete Enq-
cbenstttck zu benrtheildn, welches ausserhalb des Gärptts liegt. Solche
Stücke scheinen bei Plesiosaureü allgemein verbfeitet zü s6in. Ausser
dem eben erwähnten findet sich noch ein zweites am Ulnarrande der
Gliedmaassen zwischen Ulna und Ulnare eingefügt. Bei PI. dolichodei-
rus und macrocephalus ist es scheibenförmig , mit seiden ftönderh den
benachbartet) Knochen Wenig angepasst ; bei P\. rügosus dagegen keil^
förmig zwischen Ulnd und Ulnare eingeschoben. Owek hat es als Pisi-
forme bezeichnet. Endlich kotnmt ein dritter Knochen bei PI. rugosus^
nahe am proximalen Ende der Ulna vor. Da all' diese Knochen (vergl.
¥ig,2 p^p^p^) ausserhalb der bereits beurtheilten liegen, und diese
sämmtlich bekannte Knochen des typischen Armäkeletes in sich be-
greifen , wird ihre Herkunft nicht durch Vergleichung der nur jenes
Armskelet besitzenden Wirbelthiefe aufgedeckt werden können. Wo sie
in grösserer Anzahl vorkommen — zu dreien bei PL rugosus — bilden
sie keine unansehnliche VergrösserUng deS Armskelets nach der Ulnar-
Seite hin. Sie finden sich an jener Seite , an welcher wir gegliederte
Strahlen, einer Stammreihe von Skeletstäcken angefügt, uns vorstellten,
und welche zugleich diei^lbe Seite ist, ati der bei den Selachiem eine
viel grössere Anzahl von Strahlen vod der Basal- oder Stammreihe
her vonritt. Bei der Frage nach den genetischen Verhältnissen eines Ske-
lettheiles ist es viel richtiger an die Abstammung desselben von einem
niederen, vielleicht noch ganz fremde Beziehungen bietenden Zustande
zu denken und derselben nachzugehen, als sich statt weiterer Bemühung
der Vorstellung einer Neubildung hinzugeben. Wir betrachten daher
diese Stücke nicht alä Neubildungen , Knocben eigner Art. In detn uns
beschäftigenden Falle wird die Forschung bedeutend erleichtert durch
die Erkenntniss der Zusammensetzung des Armskelets aus einzelnen
Strahlen und der damit gegebenen Uebereinstimmung mit der Selachier-
flosse, bei der die Strahlen zudem utn vieles zahlreicher sind.
Wenn wir annehmen dürfen, das^ das eine geringere Anzahl von
Strahlen aufweisende Armskelet höherer Wirbelthiere aus einer reichere
Strahlen besitzenden Form hervorging, die niederen Wirbelthieren an-
gehört, so werden wir im Hinblick auf diesen Zusammen-
hang, die am ulnaren Rande des Skelets von Plesiosaurus
rugosus gelagerten Knochenstücke als Gliedstücke eines
Strahles betrachten dürfen.
Verschieden von den übrigen , das typische Armskelet zusammen-
setzenden , haben diese Gliedstücke die Verbindung unter sich verlored
348 C- Gegenbaui,
und reicheo weder zur Slammreihe empor, nocb bis zur Hand biu.jb.
Bei anderen erfahren sie weitere Reductionen. Zwei sind bei PI. ma—
crocepba)us vorhanden, und nur eines, das milUere von den dreien bei
PI. rugosus, fast zwischen UIna und Ulnare gelagert, kommt PI doticbo-
deirus zu. Andern Arten fehlt auch dieses, so dass, wenn nicht völliger
Hangel, doch eine fehlende Ossi6cation angenommen werden darf, also
ftlr jeden Fall eine BUckbildung.
Jenes eine bei drei Arten von Plesiosaurus erhaltene KnochenstUck
ist von CuTiBi^ schon als Pisiforme bezeichnet worden. Oven ist ihm
darin gefolgt. In der That entspricht es in seiner Lagerung jenem Kno-
chen, wie er bei Reptilien (Sauriern, Krokodilen) und Säugethieren
vorkommt^. Durch die ausserhalb des typischen Carpus befindliche
Lage, sowie durch die Beziehungen zur Sehne eines Muskels ward ich
früher (Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie , Heft I, 1864)
bestimmt, dem Pisiforme eine andere Deutung zu geben und es
nach dem Vorgange Anderer ffir ein Sesambein zu erklären. Bei aus-
schliesslich isolirtem Vorkommen am Ulnarrande des Carpus w3re auch
kaum eine andere Anschauung zu begründen. Das ändert sieb durch
die Beachtung anderer am Ulnarrande befindlicher Knochen , zu denen
auch die bei Ichthyosaurus vorkommenden Reiben gehören.
Wie bei Plesiosaurus nur vom proximalen Abschnitte des pri-
mitiven Strahles Stücke erbalten sind, so finden sich bei Ichthyo-
saurus die Stücke mehr dem distalen Theile des Strahls entsprechend.
Jene lagern an der Seite der Vorderarm knocben und des Carpus, diese
mehr in dem Verlaufe der Pbalangenreihen. Beiderlei Befunde stehen
also in einem sieb gegenseitig ergänzenden Verhältnisse zu einander,
und aus dem Zusammenbalte beider ergiebt sich aufs überraschendste
dieVorstellungeinesJeuseits des Ulnarstrahls liegenden anderen Strahls,
dessen StUcke zum grOssten Theile sich nicht mehr vollständig ent-
wickeln'. (Vergl. Fig. ipipSp3p*.)
>) Osgemens fossiles. Tome X. p. 460.
>] Bei ScIiüdkraieD hat der als Pisiforme beieicbn«le Koocheo eine verschie-
dene Lagerung. Am Carpus von Chelonia findet er sich von wsseDtiicher GrMse
dem Carpale S aDgesch lassen. Es enlslebt daraus die Frage, ob liier wirklich eine
Homologie vorliegt. So lange es sich nur um das Vorkommen Eines ulnaren Rand-
knocbens handelte, war es motivirL, die verschiedene Lage auf Lage verfind erung
desselben Knochens lu deuten. Das Vorkommen mehrerer Knochen giebt der Mög-
lichkeit Raum , dass die in den einzelnen Abtheilungen höherer Wirbeltbiere vor-
handenen Pisifonnia nicht immer homologe Theile sind.
>] Bei Ichthyosaurus reicht diese accessorische ulnare Knocbenreihe luveilen
Über den Carpus bis nah« an den Vorderarm. (Vei^l. Cim» Ose. foss. PI. MS,
Fig, 1.)
Deber das Gliedmaassenskelet der Cniiliosaurier. 349
Jene einzelnen, an der Ulnarseite gelagerten Kno-
chenstttcke erscheinen als die unansehnlichen Reste
einer reicheren Bildung, von der schliesslich nur das Pi-
siforme als letzte Spur sich forterhält.
Das Skelet der Gliedmaassen von Plesiosaurus ist uns somit nach
verschiedenen Seiten von grosser Wichtigkeit. Erstlich zeigt es sich
uns bezüglich der allgemeinen Verhältnisse seiner Constitution in völ-
liger Uebereinslimmung mit den Gliedmaassen der übrigen Wirbel-
thiere, und hilft damit die verwandtschaftlichen Beziehungen derselben
fester begründen. Zweitens bietet es innerhalb dieser Uebereinstim-
mung Differenzirungen eigenthUmlicher Art, die ihm eine besondere
Stelle anweisen, jede Fortsetzung in höhere Formen, soweit sie unter
den Lebenden bekannt sind, ausschliessend. In dem Verhalten des Gar-
pus und Metacarpus wird uns ein neuer Weg gezeigt, den die Differen-
zirung dieser Theile eingeschlagen. Er führt uns zur Annahme, dass
Plesiosaurus früher als die lebenden Amphibien vom
Vertebratenstamme sich abzweigte, und dass, wenn zwar das
Gleiche auch von Ichthyosaurus gilt, beide Gattungen als Repräsen-
tanten sehr weit von einander, wie von allen lebenden Amphibien und
Reptilien entfernt stehender Abtheilungen, angesehen werden müssen.
ErkUnuig der Abbildongeii.
Sämmtliche Figuren sind mehr oder minder schematische Darstellungen der
vorderen Extremität, und zur Erläuterung der Homologieen der Gliedmaassen nie-
derer und höherer Wirbelthiere bestimmt.
Fig. 1. Von Ichthyosaurus, zum Theile nach der von Cuvier in den Oss. foss.
4. Ed. Taf. 358, Fig. 4 gegebenen Abbildung.
Fig. S. Von Plesiosaurus, der grösste Theil nach Owen's Abbildung von Plesio-
saurus rugosus (1. 8. c.)
Fig. 6. Schema des Skeletes der vollständigen Vorderextremität eines Amphibium.
Fig. 4. Schema der Bildung der vorigen aus einer Flosse.
Bezeichnungen der Skelet-Theile:
H. Humerus.
A. Radius.
ü. Ulna.
r Radiale (Scaphoides).
t Intermedium (Lunatum).
u Ulnare (Triquetrum, Cuneiforme).
c^ Carpale > (Trapezium, Multangulum majns) .
c^ Carpale 3 (Trapezoides, Multangulum minus).
<ß Carpale > (Magnum, Capitatum).
d Carpale 4)
c« CarpaleM (üncinatum. Hamatum).
ml — B Metacarpus.
Eiie Oebämatter mit mindeBteiß fnnfzig Fibroides.
B. S. Schnitze.
Dazu Tat. XIV.
Es ist bekanntlich gar nicht selten , doss neben einander in der-
selben Gebarmutter eine Anzahl Fibroide vorkommen. Scanzom' führt
an, dass er sich erinnere , ein Präparat gesehen zu haben , an welchem
die Gebärmutter Wandung 27 derartige Tumoren enthielt. Veit^ sagt,
die Anzahl der Fibroide in einer Gebärmutter sei selten bedeutend,
ausnahmsweise habe Hbckel 16, Lisprakc 20, Kiwtscn 40 in einer Ge-
bärmutter angetroffen. Die letztgenannte Beobachtung Kiwiscn's führt
auch Elob^ als die höchste ihm bekannte Zahl von Fibroiden in einer
Gebärmutter an.
Hiernach scheint mir, dass ein Fall, in welchem die Zahl der
Fibroide grosser ist, der Veröffentiichung weith sei.
Das auf Taf. XIV. abgebildete Präparat stammt von einer in bobem
Alter verstorbenen, nicht verheiratbet gewesenen Dame. Dieselbe wusste
seit mehreren Decennien, dass sie eine Geschwulst im Unlerleibe hatte,
welche stets mehr auf der rechten Seile gelegen haben soll und mit
Wahrscheinlichkeit für einen Eierstockstumor angesprochen wUrde. Be-
schwerden sind von der Geschwulst nie in dem Grade ausgegangen,
dass die Patientin zu einer genauen Untersuchung sich hätte bestimmen
lassen. Im 80. Lebensjahre erblindete sie, im 83. erlitt sie eine Apo-
<] TON ScAHiOHi Lehrbuob der Krankheiten der weiblichen Sexuslorgtoe. Vierte
Aufl. 1. Bd. Wien 48GT. Seileite.
'l Vbit. Kranlibeiten der weiblichen Gegcblechlsoi^aDe im Handbuch der spe-
ciellen Pathologie and Therapie von Rini.ViRCBOW. VI. Bd. I[. Abth. I), Heft. U. Aull.
Erlangen iSflT. Seile 378.
3) Klob. Psthologis«^ Anatomie der weiblichen Sexualorgane. Wien t8B4.
Seile 1«t,
Eine Gebinnutter mit mindestens fünfzig Fibroiden. 351
plexia cerebri, an der sie nach achttägigem Krankenlager starb. Mein
alter Freund, Herr Medicinalrath Nicolai in A., sendete mir den frisch
aus der Leiche genommenen Unterleibstumor.
Das Präparat besteht aus Blase, Vagina, Rectum und dem ganz un-
regelmässig durch knollige Tumoren vergrösserten , stark gegen die
linke Seite gedrehten Uterus , dessen Fundus durch die Insertion der
normalen Tuben und normalen Eierstöcke leicht kenntlich ist. Am
Fundus uteri prominirt eine Anzahl unregelmässig gestalteter, vom Peri-
tonaeum Überzogener, zum Theil steinharter Tumoren von stellenweis
ebener, stellenweis höckeriger Oberfläche , deren grösster, pilzförmig
gestaltet, Über die zahlreichen Unebenheiten seines Randes hinweg-
gemessen , 70 Ctm. Umfang zeigt und das Hauptvolum und Jlauptr-
gewicht des ganzen Präparates (13 Zollpfund j ausmacht.
Nachdem die Vagina von der linken Seite her gespalten worden,
wobei sie sich mit frisch ergossenem Blute gefüllt zeigte, wurde eine
Sonde durch den Muttermund eingeführt und an einer Stelle , wo die
Uterus wand dünn war, dieselbe gegen die Sonde hin eingeschnitten.
Von dieser Oeffnung aus wurde die Höhle der Gebärmutter, deren ganz
unrcgelmässig begrenzter Verlauf von links unt^n nach rechts oben sich
erstreckt, theils mit der Scheere, theils mit der Säge offen gefegt. Auch
die Gebärmulterhöhle war mit frischem, meist geronnenem Blut in an-
sehnlicher Quantität angefüllt. Die Innenfläche ist durch hineinragende
feste Tumoren und einige Schleimpolypen uneben.
Die festen Tumoren, welche theils unter der Peiitonäal-, theils
unter der Schleimhautfläche des Uterus prominiren , theils in das Ge-
webe seiner Wand eingebettet sind , charakterisiren sich durch Form,
Consistenz und Einbettung, sowie durch ihre Textur als Fibroide (Myome] ,
von denen ein grosser Theil , vor Allem der den Fundus rings über-
ragende Tumor, verkalkt ist.
Vier Fibroide sind vom Schnitt getroffen worden , sechs andere
sind vom oberen , fünf andere vom unteren Schnittrand aus theils zu
sehen, theils zu tasten. 8 andere sind von der Schleimhautfläche aus,
27 andere von der Peritonäalfläche aus deutlich als isolirte Tumoren zu
erkennen. Somit sind 50 Fibroide am Präparat zu zählen und höchst
wahrscheinHch noch zahlreiche andere im Gewebe der Wand eingebettet.
In Bezug auf die Textur der Tumoren ist nur zu bemerken , dass
sie vom gewöhnlichen Befund der Fibroide oder Myome des Uterus
durchaus nicht abweicht. Auch die Verkalkung ist nur durch ihre un-
gewöhnliche Massenhaftigkeit ausgezeichnet. Unter dem Peritonäal-
überzug ist die Verkalkung an vielen Stellen eine in Platten ausgebrei-
tete, im Innern fast überall eine körnige. Die Ralkablage-
352 B. S. Schnltie, Eine nebirmulier «Ic.
den meislen Stellen eine amorphe : einzelne, aber zahlreich versti-eule
Stellen zeigen KnochenteiLtur. Ueberall zwischen den Kalkabl^igeningen
zeigl der Durchschnitt unter dem Mikroskop noch wohl erhaltene Mus—
keibundel.
Die Figur zeigl die Gebärmutter nebsl ihren Anhängen von vorn,
Blase, Scheide und Hastdarm von vorn und links in nicht ganz '/j der
natürlichen GrOsse. Das Präparat ist, behufs der photographischen Auf-
nahme, oberhalb des Geblirmuttergrundes am Halse des grössten ihm
aufsitzenden Fibroides iixirt worden, so dass der schräg durch die vor-
dere Wand des Uterus geführte Schnitt durch die eigene Schwere der
Weichtheile klafft. Der Stab a liegt in der von der linken Seil« her
aufgeschnittenen Vagina. Er ist durch den in der Figur nicht sichtbaren
Mutlermund geführt und tritt mit seinem oberen Ende b aus dem die
vordere Wand der Gebärmutter trennenden Schnitt wieder zu Tage.
Der Stab c ist in die äussere HarnröhrenmUndung derartig eingeführt,
dass er bei d den Scheitel der Harnblase berührt, e ist das Rectum,
welches bei /"hinler der linken DouuLAs'schen Falte verschwindet, g ist,
das Franzenende der rechten, /' das der linken Tuba, i der linke Eier—
stock, k das linke Ligamentum rotundum. Von l nach ni erstreckt sich
mithin der Fundus uteri. Unter dem PeritonäalUberzug desselben pro-
minirt eine Reihe kleinerer Fibroide, von denen die beiden links (in
der Figur rechts] gelegenen stark verkalkt sind. Den Gipfel des Gebür-
muttergrundes nimmt das grSsste, sehr stark verkalkte, pilzförmig auf-
sitzende Fibroid tt ein. Der Schnitt, welcher die vordere Wand der
Gebärmutter crofTnet hat, ist schräg von b nach m von links unten
nach rechts oben geführt worden. Derselbe hat mehrere interstitielle
Fibroide getroffen, von welchen das eine, dessen Schnittflüchen bei
0 und /) sichtbar sind, wegen starker Verkalkung mit der Säge getrennt
wurde. Das Segment o dieses Fibroids hat sich in seiner lockeren
Bindegewebshülle verschoben, so dass die Schnittrander der Peri-
lonaalflache und des Fibroids nicht mehr correspondiren. Die weile,
nach allen S eiten buchtig begrenzte Höhle der Gebärmutter ist von dem
reichlichen, dieselbe füllenden Blute gereinigt. Einige der in dieselbe
prominirenden Fibroide sind in der Figur wiedergegeben worden,
ebenso bei q der grössLe der Schleimpolypen, weicher, etwa 4 Clni.
lang, mit seinem freien Ende gegen den Muttermund hin sich erstreckt.
lieber Entwickeloogsgang und Aufgabe der Zoologie.
Rede
gehalten beim Eintritt in die philosophische Facult&tzu Jena
am 12. Januar 1869.
Ton
Ernst HaeckeL
Dem akademischen Lehrer, welcher seinen Eintritt in eine Facultät
der herkömmlichen Sitte gemäss durch eine öffentliche Rede einzuleiten
hat, bietet sich als das nächstliegende und natürlichste Thema eine Be-
trachtung der wissenschaftlichen Aufgaben, welche er in seinem Berufs-
fache findet, und der Art und Weise , in welcher er dieselben zu lösen
gedenkt. Eine derartige Erörterung kann trivial und überflüssig er-
scheinen in jenen zahlreichen Zweigen der Wissenschaft, welche schon
seit längerer Zeit eine fest bestimmte Richtung und ein klares Ziel ge-
funden haben , und über deren Inhalt, Umfang und Behandlung unter
ihren Lehrern mehr oder minder Uebereinstimmung herrscht. Sie er-
scheint dagegen keineswegs bedeutungslos in denjenigen Disciplinen,
welche noch nicht dieses Stadium der Reife erreicht haben , und dem-
gemäss in sehr verschiedener Weise aufgefasst und behandelt werden.
Unter den Naturwissenschaften gilt dies letztere von keiner in höherem
Maasse, als von der Zoologie. Ich glaube daher, keineswegs etwas
Ueberflüssiges zu thun, wenn ich heute bei meinem Eintritte in die
philosophische Facultät meine eigene Auffassung von den Aufgaben der
heutigen Zoologie darlege , und den Sinn erörtere , in welchem ich den
in Jena neu errichteten ordentlichen Lehrstuhl für dieses Fach zu ver-
treten bestrebt bin.
Zum wa^Kren Verständniss einer jeden Erscheinung gelangen wir
nur dadurc)! , dass wir den geschichtlichen Gang ihrer Entstehung und
ihres WacKsthums Schritt für Schritt verfolgen. Jedes Verhältniss wird,
mit einen;! Worte, nur durch seine Entwickelungsgeschichte er-
kannt, bieser Grundsatz gilt ebenso von der menschlichen Wissen-
I
354 Brnsl Hueckel,
Schaft, wie von allen übrigen organischen Funclionen. Es wird daher
zunächst nothwendig sein, einen übe rsichlii eben Blick auf den Eal-
wickelungsgang zu werfen , welchen die Zoologie im Verlaufe des
menschlichen Culturlebens genommen hat.
Dieser Eniwickelungsgang ist fürwahr seltsam genug, und sieht
in mancher Beziehung einzig da. Denn wenn wir unlei dem Begriffe
der Zoologie naturgemHss die vollständige Gesammtwissenschaft von
dem Thierleben in allen seinen verschiedenen Ersclieinungsformen und
Aeusserungen verstehen, die gesammte Morphologie und Physiologie der
Thiere, so tritt uns zunächst die befremdende Thalsache entgegen, dass
die verschiedenen Zweige der Thierkunde sich in auffallender Isolirung
und Unabhängigkeit von einander entwickelt haben; dagegen zum
Tbeil in engstem Zusammenhang mit verschiedenen anderen Wissen-
schaften. So ist der grössle Theil der Anatomie und Physiologie der
Thiere hervorgegangen aus dem BedUrfniss der menschlichen Anatomie
und Physiologie, welche ihrerseits wieder im Dienste der Medicin gross
gezogen wurde. Dasselbe gilt von einem Theile der thiertscheu Ent~
wi ekel ungsgesch ich te, nümlich derjenigen der Individuen, der Embryo-
logie, während der andere Haupttheü derselben, die paläontologiscbe
Entwickelungsgeschichte der Thierarten und Thierstiimme, völlig von
jenem ersten geschieden, im Dienste der Geologie entstand. Die Psycho-
logie, ein integrirender Bestandlheil der Physiologie, wurde gänzlich
von dieser gelrennt, und unter die Vormundschaft einer rein specula-
tiven Philosophie gestellt, welche von der unentbehrlichen zoologischen
Basis Nichts wissen wollte. Endlich entwickelte sich, ganz unabhängig
von allen jenen Discipiinen, eine Systematik des Thierreicbs, welche
sich lediglich mit tiv\- Beschreibung und Classification der verscbiedeoen
Thierarten beschäftigte. Obwohl diese systematische Zoologie den
grössten Theil der vorher genannten Discipiinen ignorirte, und höch-
stens von der Anatomie eine Anzahl von Daten entlehnte, erhob sie
dennoch vor allen den Anspruch, die neiganlücbeu Zoologie zu sein,
und dieser Anspruch kann gerechtfertigt erscheinen, wenn man als
Maassslab das Volum der zoologischen Literatur und den Inhalt ihrer
Handbücher belrachtel, welche in der That zuni, bei weitem grösslen
Theile der systematischen Zoologie gewidmet sind. Fngilich hat in neuerer
Zeit einestheils die Physiologie, andernlbeils die Anatomie der Sysi*^-
malik ihr Privilegium streitig gemacht, und jede für sic^ will jetzt als
die neigenliiche« Zoologie betrachtet werden, Indess ist die.ser Streit so
wenig erledigt, dass bis auf den heutigen Tag selbst unter den nam-
haften Vertretern unserer Wissenschaft die Ansichten über de^ren Inhalt
und Umfang weit auseinander gehen, und bald dieser, bald jener
Geber Eutwickelungsgang und Aafgabe der Zoologie. 355
Theil als die eigentliche Zoologie bevorzugt und den anderen entgegen-^
gesetzt wird.
Den unbefangenen, ausserhalb der Fachgrenzen stehenden Be-
obachter muss diese Erscheinung um so mehr befremden , als bereits
derjenige grosse Naturforscher des Alterthums , welchen die dankbare
Nachwelt als «Vater der Naturgeschichte« verehrt, Aristoteles, die
Thierkunde als das auffasste , was sie naturgemäss sein soll , als die
umfassende Gesammtwissenschaft von den Thieren. Seine klassische
»Geschichte der Thiere«, in Verbindung mit den specieller ausgeführten
kleineren Schriften, der vergleichend anatomischen Schrift von den
Theilen der Thiere , und der ontogenetischen Schrift von der Zeugung
und Entwickelung der Thiere , offenbaren uns eine so universelle und
grossartige Auffassung der Thierwelt , dass wir es begreiflich finden,
wie dieselben mehr als anderthalb Jahrtausende hindurch als zoo-
logisches Fundamental werk eine Autorität ohne Gleichen geniessen
konnten.
Bis zum sechzehnten Jahrhundert fand sich kein Forscher, der es
unternommen hatte, das von Aristotblbs begonnene grossartige Unter-
nehmen selbstständig fortzusetzen, oder auch nur bestimmte TheUe des
von ihm entworfenen Wissen schaftsgebäudes im Einzelnen auszuführen.
Vielmehr begnügte man sich damit , die Schriften des Aristoteles ab-
zuschreiben, zu übersetzen und zu commentiren.
Erst als durch die Entdeckung der neuen Welt, durch die Auf-
findung des Seewegs nach Ostindien und die zahlreichen anderen Ent-
deckunuisreisen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts eine
Fülle von neuen , bis dahin unbekannten Thieren und Pflanzen nach
Europa gebracht wurde , begann die Naturgeschichte aus ihrem langen
Schlafe zu erwachen. Zunächst anregend wirkte das Bedürfniss , die
neuen Formen zu unterscheiden, zu ordnen und zu benennen, und dies
Bedttrfniss wurde um so dringender, je mehr verschiedene Pflanzen-
arten in den Herbarien , je mehr verschiedene Thierarten in den zoo-
logischen Sammlungen sich anhäuften. Aber erst im Beginn des acht-
zehnten Jahrhunderts kam der grosse Reformator der Naturgeschichte,
der mit kühnem Geiste und mit gewaltiger Hand das riesenhaft ange-
wachsene Material ergriff, durchgreifend ordnete , und zum ersten Male
in dem künstlichen Gebäude eines streng logischen Systemes zusam-
menstellte. 4735 erschien das epoohemaohende »Systema naturae« von
Carl LiJint , und damit war der feste Grundstein für alle nachfolgende
Systematik des Thier- und Pflanzenreichs gegeben. Die von Lmffift
darin durchgeführte binäre Nomenclatur, die zwiespältige Benen-
nungsweise der organischen Formen, %\< ' - ^ch auf die Untersdieidung
356 Ernst Haeekel,
der Art (Species) und der Gattung (Genus) gründete, erwies sich so
praktisch, dass sie noch heutigen Tages in allgemeiner Geltung steht.
Nun war es mit einem Male möglich geworden , die ganze unend-
liche Fülle der Thier- und Pflanzenformen übersichtlich zu ordnen und
unter den bestimmten bleibenden Namen von Gattungen und Arten
in das. künstliche Fachwerk des Systems einzureihen. Bald wandten
sich daher ganze Schaaren von Naturforschem dem neu eröffneten Ge-
biete der organischen Systematik zu. Einerseits die Unterscheidung
und Classification der zahllosen verschiedenen Thier-.und Pflanzen-
arten, andernseits der ästhetische Genuss an der Schönheit, oder selbst
nur das neugierige Interesse an der Curiosität der äusseren Formen,
übten eine solche Anziehungskraft aus , dass die grosse Mehrzahl der
Naturforscher nach Linn£ hierin allein schon vollständige Befriedigung
fand. Selbst heute noch , nachdem schon längst im Gegensatz zu der
reinen Systematik die anatomisch-physiologische Richtung sich kräftig
entwickelt hat, ist die literarische Thätigkeit und wenigstens das nu-
merische Gewicht ihrer Vertreter so stark, dass sie noch in weiten
Kreisen als die »eigentlichen« Zoologen angesehen werden. Noch beute
beschäftigen sich weit mehr Naturforscher mit dem Sammeln , Aufbe-
wahren, Ordnen und Benennen der Thier- und Pflanzenformen, als mit
ihrer anatomischen und physiologischen Untersuchung oder mit ihrer
Entwickelungsgeschichte. Noch heute füllen dieselben die bei weitem
grössere Hälfte der zoologischen und botanischen Literatur.
Schon diese imposante Vergangenheit und die mächtige äussere
Stellung der Systematik nöthigt uns hier, unsere eigene Meinung von
derselben darzulegen, zumal die Ansichten über Werth und Bedeutung
derselben gerade jetzt sehr weit auseinandergehen. Denn während die
Einen mit LiNNfi im System der Naturkörper noch heute das eigentliche
Ziel der Naturgeschichte erblicken, während Andere darin nur einen
übersichtlich geordneten Ausdruck unserer gesammten biologischen
Kenntnisse im Lapidarstyl finden wollen , sprechen noch Andere der
Systematik überhaupt allen wissenschaftlichen Werth ab.
Um in diesem Widerstreit der Meinungen zu einem gerechten Ur-
theil zu gelangen, müssen wir unterscheiden zwischen jener rein äusser-
lichen Systematik der grossen Menge , deren Ideal ein möglichst voll-
ständiges zoologisches Museum und Herbarium ist, und zwischen
derjenigen Systematik , welche in dem natürlichen System der Orga-
nismen den hypothetischen Ausdruck ihres wirklichen Stammbaums
erblickt, und in dessen annähernder Feststellung ein eben so hohes als
schwieriges wissenschaftliches Ziel verfolgt.
\
-^
Ueber CDlwiekeluiigsgang nnd Anff^be der Zoologie. 357
Die Systematik der ersten Art, die Museums Zoologie und die
Herbariums -Botanik, wie sie bisher ganz vorwiegend getrieben wur-
den, verdient allerdings nicht den Namen einer Wissenschaft. Denn
jede Wissenschaft muss als solche einen gewissen Schatz von allge-
meinen Resultaten und Gesetzen aufweisen können ; sie muss nach dem
Verständniss der Erscheinungen , und nach der Erkenntniss ihrer Ur-
sachen streben ; sie darf sich niemals mit der blossen Kenntniss ein-
zelner Thatsachen begnügen. Das letztere ist aber bei der reinen
Systematik ganz gewiss der Fall. Diese will weiter Nichts, als alle ein-
zelnen Thier- und Pflanzenformen kennen, beschreiben, und mit Namen
unterscheiden. Eine solche rein beschreibende Naturgeschichte kann
aber nie eine Wissenschaft sein. Denn der Begriff einer rein descrip-
tiven Wissenschaft ist ein innerer Widerspruch, eine Contradictio in
adjecto. Wir sind gewiss weit entfernt davon , den hohen praktischen
Werth der descriptiven Systematik zu unterschätzen. Sie ist sowohl
für die zoologischen und botanischen Sammlungen, als auch für die
eigentlich wissenschaftlichen Untersuchungen der Thiere und Pflanzen
ganz unentbehrlich. Sie ist ebenso unentbehrlich als diese Sammlungen
selbst , und die ganze Verwerthung der zoologischen und botanischen
Kenntnisse für das praktische Leben ist von ihr abhängig. Allein eine
praktische und angewandte Wissenschaft ist eben keine reine Wissen-
schaft mehr, sondern eine Kunst, und wir werden daher die rein
descriptive Systematik der Thier- und Pflanzenformen ebenso als eine
Kunst zu betrachten haben , wie die praktische Medicin , die Pharmacie
und die Landwirlhsdiaft , denen sie ja auch in besonderem Maasse
dienstbar ist.
Gänzlich verschieden von dieser künstlichen descriptiven Syste-
matik ist diejenige wahrhaft wissenschaftliche Systematik, welche in
dem natürlichen Systeme der Thier- und Pflanzenarten den wahren
Stammbaum derselben erblickt und aufsucht. Diese genealogische Be-
handlung und Auffassung des natürlichen Systems ist freilich erst in
der jüngsten Zeit mOglicb geworden, seitdem Charles Darwin durch
seine Reform der Descendenz -Theorie uns zu einem wahren ursäch-
lichen Verständniss der organischen Erscheinungswelt geführt hat.
Freilich wird es noch lange dauern , ehe auch nur die Hauptzweige des
systematischen Stammbaums vollkommen festgestellt sein werden , und
die Aufgabe unserer genealogischen Systematik ist höchst verwickelt.
Aber dennoch gehört ihr die Zukunft! Nur durch die genealogische
Auffassung des natürlichen Systems, welche in den Kategorien oder
Gruppenstufen desselben, in den Classen, Ordnungen, Gattungen und
Arten lediglich divergente Zweige des wahren Stammbaums erblickt,
Bd. V. S. 34
ZA^.f.t^ inv/<;m vjtxjri uittir und c>-U'd<raiiiaLriuft lutüii:^;« S^fiSec
Mpjr'lie, irrj(/M^ uitrbr du' ^euiriui!«'!) fhiduni:»- ond EntvidHmusTcT—
tuiun-v- li^r iit'fittiusiitfra Vitniitm zur br<^tWD BaMS iLner 5^ st^natiscWc.
l.'fil*fv-t>^'Jiiiig zu itutctren. I>ie frtiiy-re, \on Lrirt au5£<^b«ttiir Syst*—
riwtjk Mar mv>f*Yn rem ktlnMli'-b . aU sie meisU^s dut etostlDr . vx^i
V'jn:M(t»v*ei*e äussere, If-kbl kennllic^ Herimale lur UnUi Mbriduu^
ifcrr Arte« uiwj GaUuiij^en und s*-lbsl der srösserefi Gruppen , der Onl-
nutiff^i uwlClassen, ItenuUle, und bei deren Verwerthong rein lo^isrt:
terfitbr mU^r uetii^^tens verfahren sollte. Die spdlere Sjslematit. a>«—
lievinderc vil Beginn unsere« Jahrbunilerts , fassle aber slalt ilessen
rwrlir den (firnammlen Cliarakl«r des Baues und namenllicfa die wicb—
lt)ftT<n iniHüren VVrlüllnbse ins Auge , und slflUle sich in den leuten
lfei»]rnnien audi sclion wesenüich auf die Rmbrjolotiie. Indem bqd
iuinter nwlir dieHe lelzlere, und überhaupt die gesammle Entwickeluncs-
(teM^hictile in ihrem fundamentalen Werthe erkannt und auch in der
d'tMTipliven S)Nteniatik verwerthet wurde, nahm die Classi6catioa un-
willkuriidt initiier entnchiedener ihre Richtung auf das genealo^'scfae.
wahrhaft natürliche Systtem, gab aber dabei nothneodig haufi:: ihren
loitiHcrfien Charakter auf. Denn die .streng logische Classification muss
nolhwendri; oft künstlich sein und kann sehr oft aus vielen GrOnden
nicht mit dttr genealogischen natürlichen Classification zusammen-
fallen.
Die synthetisclie, genealogische Systematik der Zukunft wird mehr
aU »lies Andere dazu beitragen, die verschiedenen isolirten Zweige der
Zoologie in einem natürlichen Mittelpunkte, in der wahren Natur-
goMchichle zu sammeln, und zu einer umfassenden geschichtlichen
Gesammtwissenschaft von Thierleben zu vereinigen. Die analytische,
deHcriptive Systematik der Vergangenheit that gerade das Gegentheil,
Indem Hio inmier bestrebt war, sich als »eigentlicheu Zoologie in den
Vordergrund /.u drängen, und diejenigen WissunschKrtszweige, die ihr
eigentlich erst ihren inneren Gehalt geben , vor allen die Anatomie und
KntwickelungHgeschicIite , aus dem Gebiete der sogenannten eigenl-
lirlieri Zoologie nuszuscliliessen. Dieses sonderbare Verhaltniss lässt
Mich grossentheils aus der schon vorher berührten Isolirung erklären,
in der sich die Anatomie und die Übrigen Zweige der Zoologie, grossen-
Ueber Gntwickeliinjo^sgang und Aufgabe der Zoologie. 359
iheils in Zusamuienbang mit anderen, fremden Wissenschaften, ent-
wickelten.
Derjenige Theil der wissenschaftlichen Zoologie , welcher vor allen
zunächst von der Systematik hätte gepflegt werden sollen , die Morpho-
logie, d. h. die Anatomie und Entwickelungsgeschichte , hat sich
eigentlich bis zum Beginn unseres Jahrhunderts vollkommen unab-
hängig von der herrschenden systematischen Zoologie erhalten. Ja selbst
jetzt noch flnden wir von anerkannten Naturforschern und weitver-
breiteten Handbüchern die Frage eröi*tert, ob denn eigentlich die ver-
gleichen deAnatomie der Thiere zur Zoologie gehöre oder nicht?
Allerdings hatte bereits Aristoteles erkannt, dass die Naturge-
schichte der Thiere auch die Kenntniss ihres inneren Baues umfasse
und hatte selbst schon vielfach Thiere zergliedert. Ja, schon sein grosser
Vorgänger, Democritus von Abdera, der Begründer der Atomenlehre,
hatte seinen Eifer für Thier-Anatomie so weit getrieben, dass ihn seine
Mitbürger für wahnsinnig hielten, und ihm den Aufenthalt in ihrer
Mitte untersagten. Allein in der Folgezeit wurde die Kenntniss vom
inneren Bau des Thierkörpers vorzugsweise durch die Modicin gefördert,
welche schon frühzeitig das dringende Bedürfniss empfand, den inneren
Bau des menschlichen Körpers genau kennen zu lernen. Da aber Vor-
urtheil und Aberglauben während des ganzen Alterthums und Mittel-
alters der Zergliederung menschlicher Leichen die grössten Hindernisse
in den Weg legten, so nahm man seine Zuflucht zur Anatomie der dem
Menschen nächstverwandten Säugethiere, und zog aus deren innerem
Bau Schlüsse auf die entsprechenden Verhältnisse beim Menschen. Der
römische Arzt Claudius Galenus, welcher im zweiten Jahrhundert nach
Christus lebte , und dessen Schriften über menschliche Anatomie und
Pathologie bis zum fünfzehnten Jahrhundert sich einer unumschränkten
Autorität erfreuten, schöpfte seine Kenntniss des menschlichen Baues
vorzugsweise aus der Zergliederung von Affen. Selbst noch im vier-
zehnten und fünfzehnten Jahrhundert wagte man menschliche Anatomie
nur in verborgenen Schlupfwinkeln zu treiben, besonders seitdem
Papst BoifiPAZ VIH. den grossen Kirchenbann über Alle ausgesprochen
hatte, welche menschliche Leichen zu zergliedern wagten. So be-
schränkten sich denn die wissbegierigen Aerzte meistens auf die Ana-
tomie der Hunde , Pferde und anderer leicht zugänglichen Hausthiere.
Auf diese Weise wurden schon mancherlei Kenntnisse über den
inneren Bau des Körpers der höheren Thiere gesammelt. Aber erst im
achtzehnten Jahrhundert fing man wieder an , auch die Anatomie der
niederen Thiere in ausgedehnterem Maasse zu untersuchen und zu ver-
gleichen, und gegen Ende desselben bereiteten namentlich Pallas, Poli
*
360 Fernst Haeckel,
und Cahpbr den Boden vor, auf welchem endlich im Anfange unseres
Jahrhunderts Gutier zum ersten Male ein selbst ständiges Lehrgebäude
der vergleichenden Anatomie errichten konnte.
Unter den zahlreichen und grossen Verdiensten, welche sich Cijtisb
um die Förderung der Zoologie erwarb , steht oben an die Unterscheid
düng der grossen natürlichen Uauptgruppen , welche er Zweige oder
Typen des Thierreichs nannte und welche er durch die wesentlichen,
Constanten Grundzüge ihres inneren anatomischen Baues cbarakterisirte.
Die wichtigsten allgemeinen Resultate der vergleichenden Anatomie
wurden dadurch zugleich zum ersten Male für die systematische Thier—
künde verwerthet, und damit der Anfang eines natürlichen Systems
gemacht. Da nun Cuyier gleichzeitig ebenso umfassende Kenntnisse in
der thierischen Systematik, als gründliches Verständniss der ver-
gleichenden Anatomie besass , musste ihm der innere Zusammenhang
dieser beiden Disciplinen völlig klar werden , so dass er sogar die ver-
gleichende Anatomie gleichzeitig als die Voraussetzung und als das Ziel
der Zoologie bezeichnen konnte.
Indessen war diese Verschmelzung weit davon entfernt, allgemein
anerkannt zu werden. Vielmehr trat in der Folge eher wieder eine
Verschärfung des Gegensatzes zwischen beiden ein , indem man einer-
seits die Erforschung des inneren Baues, welche bei den höheren
Thieren nur durch Zergliederung möglich ist , der vergleichenden Ana-
tomie, andererseits die Beschreibung der äusse ren Formen der eigent-
lichen, d. h. der systematischen Zoologie zuwies. Hierin lag aber eben
*
ein doppelter Fehler. Denn erstens ist die blosse anatomische Zerglie-
derung der Thiere und die. Beschreibung ihres inneren Baues noch
lange nicht vergleichende Anatomie, sondern vielmehr blosse
Zootom ie; die Zootomie aber verfährt bloss analytisch und beschrei-
bend; die vergleichende Anatomie dagegen, wie ihr Name sagt, syn-
thetisch und vergleichend — diese behauptet den Rang einer wahrhaft
philosophischen Wissenschaft, worauf jene niemals Anspruch erbeben
kann ; die Zootomie bleibt eine reine Kunst, so gut wie die menschliche
Anatomie, so lange diese letztere nicht vergleichend und synthetisch zu
Werke geht.
Zweitens aber ist es auch falsch , unter Anatomie bloss die Kennte
niss des inneren Baues und nicht der äusseren Körperformen zu
verstehen. Vielmehr ist Anatomie die gesammte Kenntniss von den
entwickelten oder voUendeten Formen der Organismen , gleichviel ob
dieselben äusserlich an der Oberfläche des Körpers zu Tage treten oder
nicht. Wenn z. B. Satigny in den unendlich mannigfaltig gebildeten
Mundtheilen der Insecten eine und dieselbe gemeinsame Grundform,
Ueber Entwickeln ngsgaug und Anfgabe der Zoologie. 361
einen einheitlichen sogenannten Bauplan nachw ies , so war dies reine
»vergleichende Anatomiea, obwohl die Mundtheile der Inseot^n ganz
äusserlich liegen und auch von der systematischen Zoologie beständig
verwerthet werden , aber freilich nur in entgegengesetztem , in analy-
tischem oder zootomischem Sinne.
In gleicher Welse , wie die Lehre von den Organen , welche den
Hauptbestandtheil der vergleichenden Anatomie bildet , so hat auch die
Lehre von den Elementartheilen derselben, die Gewebelehre, Histo-
logie oder Zellenlehre, durch die Medicin angeregt, von der mensch-
lichen Anatomie ihren Ausgangspunkt genommen. Allerdings begann
der grosse Italiener Margjsllo Malpighi schon vor mehr als zwei Jahr-
hunderten mit Hülfe des so eben entdeckten Mikroskopes den feineren
Bau sowohl des thierischen, als des pflanzlichen Körpers und seine Zu-
sammensetzung aus verschiedenen Geweben zu erforschen. Allein so-
wohl Malpighi und LBEUWiifHOECK, als auch die Mikroskopiker des acht-
zehnten Jahrhunderts vermochten nicht ttber eine bunte Sammlung von
zusammenhangslosen Thatsachen hinauszukommen, und selbst nachdem
Xaver BicHAT 4 801 durch seine »Anatomie generale« die erste zusam-
menhängende Gewebelehre des Menschen gegeben hatte, verflossen
beinahe noch vierzig Jahre, bis Thiodor ScHWAifpr, angeregt durch
Sgblbideii's kurz zuvor aufgestellte pflanzliche Zellen theorie, seine
epochemachenden »Untersuchungen ttber die Uebereinstimmung im Bau
und Wachsthum der Thiere und Pflanzen« veröffentlichte. Damit war
der Nachweis geliefert , dass auch der Leib der Thiere ebenso wie der
der Pflanzen aus selbststündtg lebenden elementaren Organismen oder
Individuen erster Ordnung, aus Zellen, zusammengesetzt sei , und dass
jeder vielzellige Organismus aus einer einfachen Zelle entstehe. In-
dessen wirkte merkwürdiger Weise diese Zellentheorie in der Zoologie
bei weitem nicht so mächtig und allgemein fördernd, als in der Botanik,
wo die Zellenlehre bald so sehr den Hauptbestandtheil der Anatomie
bildete, dass man beide Begriffe oft geradezu fttr identisch annahm.
Nur die menschliche Zellenlehre und die damit zusammenhängende
Gewebelehre des Wirbeithierkörpers nahm bald einen äusserst kräf-
tigen Aufschwung, da die wissenschaftliche Medicin ihre fundamentale
Bedeutung richtig begriff. Namentlich vermochte der scharfsinnige
ViRGHOw durch seine Ceilularpathologie das innere Wesen des
Zellenlebens tiefer zu ergreifen und darzustellen , als die grosse Scbaar
der bloss an den äusseren Zellenformen haftenden Histologen. Dagegen
blieb die Gewebelehre der wirbellosen Thiere ausserordentlich zurttck,
und erst das letzte Jahrzehnt hat in umfassenderer Weise die Ausbeu-
tung der unermesslichen hier verborgen liegenden Schätze begonnen.
362 ^'Oii HHCfkel,
Mehr zu heklagin bleibt aber jedenfalls, dass auch heute noch das
i^igeniliche Verständniss des Zellenlebeiis den meisten sogenannten Zoo-
logen gänzlich abgeht, und dass die Gewebelehre noch in weil hithereni
Maassc als die Organlehre, als eine Disciplin betrachtet wird, um die sich
die eigentliche Zoologie nicht sehr zu kümmern brauche.
In noch weiterem Abslande von der systematischen Zoologie, als
ilic vorgleichende Anatomie und Gewebelehre, bildete sich dieEnt-
wickelungsgeschichte der Thicre aus. Dies gilt von beiden
Zweigen derselben, sowohl von der Entwickeln ngsgeschichte der thieri-
schen Individuen, welche gewöhnlich Embryologie, richtiger Onto-
genie genannt wird, als von derjenigen der Ibicriscben Arten und
SlUiiime, der paläontologischen Enlwickclungsgeschichle odcrPhy-
logonie.
Für die crstere bildete wieder die Naturgeschichte des Henschon,
und das Interesse, welches die wissenschaftliche Mcdicin an der5etl>en
haUe, ilen Ausgangspunkt. Die menschlichen Anatomen musslen na-
Uii'lich auch den Bau und die Entwickelung des menschlichen Embryo
in ItcLrfichl ziehen. Da aber die frilhasten Stadien der embryonalen
Entwickelung beim Menschen sowohl als bei den übrigen Säugcthieren
nur schwer zugänglich sind, so wandte man sich schon frühzeitig an
dicjiiiigen nächst verwandten Wirbellbiere , die Vögel, bei denen sich
die lu)iwickelung des Eies bequem von Anfang an verfolgen lässl. Aber
(ib^iilil schon im 17. Jahrhundert eine Anzahl Darslclhingen von Wirbel—
lhii'r-p;:inbryoneo aus früheren und spateren Stadien gegeben wurden,
.so vermachte doch erst Caspar Friedrich VVolpf in seiner HS!) erschie-
nenen nTheoria generationis« das eigentliche Wüsen der thierischen
Entwickelung, als einer wahren Epigenesis, darzulegen, und selbst
dann verfloss noch ein halbes Jahrhundert, ehe dieselbe die verdiente
Anerkennung gewann.
Als nun im Beginn unseres Jahrhunderts die Embryologie nament^
lieh rliirch Pakdeb und Baer einen neuen, mächtigen Aufschwung nahm,
uiMV'ii CS wieder vor allen die Wirbelthicre, und in erster Linie die
.S.iijL;rihiero und Vögel, um deren Entwickelungsgcschichte man sich,
im lliidjlick auf diejenige des Menschen, am meisten bemühte 1 Aller-
ilinj^s zeichnete der weitblickende Bahr schon in seiner Eulwickelungs-
ge.suliichte der Thiere, welche vorzugsweise die Wirbellliiere behandelt«,
in grossen Umrissen auch die CharakterzUgc, durch welche sich die
vurscbicdenen Ilaupigruppen der wirbellosen Thiere in ihrer Onlogenic
unterscheiden. Indessen begannen eingehendere und umfassendere
Studien Über die Entwickelungsgcschichte der verschiedenen Wirbel-
losti) erst einige Decennien später angestellt in werden, und auch
Ueber Entwickeluugsgang und Aufgabe der Zoologie. 363
heute ist, trotz der zahlreichen und glänzenden Entdeckungen der ver-
flossenen Jahrzehnte , unsere zusammenhängende Erkenntniss von der
Entwickelungsgeschichte der Wirbellosen viel weiter zurück , als die-
jenige der Wirbellhiere. Jedenfalls ist aber so viel gewonnen , dass
heutzutage in der Zoologie ebenso wie in der Botanik , die wahrhaft
wissenschaftlichen Vertreter derselben die Entwickelungsgeschichte als
das unentbehrliche Fundament anerkennen, durch welches ein wahres
anatomisches Verständniss der entwickelten Formen erst gewonnen
werden kann.
Freilich beschränkte sich diese Anerkennung bisher nur auf den
einen, eben genannten Zweig der Entwickelungsgeschichte, auf die-
jenige der thierischen Individuen. Dagegen ist der andere, nicht
mindere bedeutungsvolle Zweig derselben bis in die neueste Zeit im
auffallendsten Maasse vernachlässigt worden. Das ist die paläontolo-
gische Entwickelungsgeschichte der T h i e ra r t e n , die Phylogenie. Sie
hat die Formenwandlungen zu erforschen, welche die wenigen grossen
Hauptclassen des Thierreichs, die Phylen oder Stämme, während
der langen Perioden der Erdgeschichte unter beständigem Wechsel
ihrer Arten durchlaufen haben.
Erst seitdem Charles Darwin 1859 seine epochemachende Se-
lectionstheorie aufgestellt, und dadurch der von Laharck 50 Jahre früher
begründeten Descendenztheorie ihr unerschütterliches causales Funda-
ment gegeben hatte , erst seitdem ist es möglich geworden , an diesen
wichtigen und interessanten, bisher aber nicht einmal dem Namen nach
existirenden Zweig der Zoologie, ernstlich Hand anzulegen. Es erklärt
sich das daraus, dass das empirische Material dieser Stam'mesgeschichte
sich auf einem weit entfernten Gebiete der Naturwissenschaft, ohne
jeden inneren Zusammenhang mit der Zoologie , angehäuft hat. Denn
die versteinerten Thierreste, welche im Schoosse der Erde begraben
liegen, und welche als »Denkmünzen der Schöpfung« uns die Geschichte
der ausgestorbenen Thiergeschlechter von Jahrtausenden her erzählen,
sind zuerst und vorzüglich wegen ihrer Bedeutung für die Entwickelungs-
geschichte des Erdkörpers studirt worden. Die Geologen waren es, welche
den Petrefacten zuerst eingehende Aufmerksamkeit schenkten, und daher
hat sich die Paläontologie gänzlich im Dienste der Geologie entwickelt.
Nun liegt der Werth d<T Versteinerungen für den Geologen vor
allem darin, dass sie ihm das relative Alter der über einander liegenden,
aus dem Wasser abgesetzten Erdschichten anzeigen. Der Zoolog da-
gegen erkennt in den Petrefacten die Reste von ausgestorbenen Vor-
fahren und Blutsverwandten der jetzt lebenden Thierarten, und er
muss aus der gesetzmässigen historischen Aufeinanderfolge derselben
364 Ernst Haeckel,
eine wahre Slammesgeschichte derselben, die conti nuirticbe Um-
bildung s geschieh le der Speciesformen , zu construiren suchen. Daher
haben i. B. die verschiedenen Saugetbieireste fUr den Zoologen das
höchste, fUr den Geologen nur ein sehr geringes Interesse. Anderer-
seits sind die zahlreichen versteinerten Schnecken- und Muschelarten,
welche für die Geologie als nLeitmu schein« zur Bestimmung der Ge-
birgs-Pormationen die höchste Bedeutung besitzen, für die Slammes-
geschichte der Thiere nur von untergeordnetem Werthe.
Kein Fehler hat in der bisherigen Behandlung der Zoologie lu so
grossen Missgriffen geführt, als jene unnatürliche Trennung der beiden
Zweige der E n twi ekel ungsge schichte. Unmöglich könnt« man das
eigentliche Wesen der organischen Entwickelungsgeschichte verstehen,
solange sich die Ontogcnie und die i'hylogenie, die Entwicke-
lungsgeschichte der Individuen und diejenige der Arten, nicht um
einander kümmerten. Denn thatsächlich stehen Ja diese beiden üüirten
der Entwickelungsgeschichte im allerinn igsten ursächlichen Zusammen-
hang. Die Pormenreihe , welche das organische Individuum bei seiner
kurzen und schnellen Entwickelung vom Ei an durchläuft, wiederholt
uns in grossen und allgemeinen Zügen die Formenreihe, welche seine
Vorfahren seit Beginn der organischen Schöpfung in dem langen und
langsamen Gange ihrer Stammesgeschichte oder ihres Ärtenwechsels
durchlaufen haben. Oder mit anderen Worten : die individuenge-
schichte, die Ontogenie, ist eine kurze und schnelle, durch die Gesetze
der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Slammes-
geschichte, der Phylogenie.
Die klare Erkenntniss dieses hitchst wichtigen Verhältnisses ist von
der grössten Bedeutung, nicht allein für die Würdigung der Entwicke-
lungsgeschichte, sondern auch der ganzen Zoologie. Aus dem Umstände
aber, dass dasselbe erst in der jüngsten Zeit klar erkannt wurde, kann
man schliessen , wie weit unsere Wissenschaft noch zurUck ist. Die
natürliche, genealogische Systematik, welche das System der Thier-
und Pllanaenarten als ihren Stammbaum aufzufassen hat, wird erst in
Folge jener Erkenntniss , wie wir schon vorher sahen , sich frei ent-
wickeln können.
Die bisher erwähnten Zweige der Zoologie, die Anatomie und
Systematik, die Entwickelungsgeschichte der Individuen und der
Stamme, gehören sämmtlich Jenem ausgedehnten Gebiete unserer
Wissenschaft an, welches man unter dem Namen der Formenlehre
oder Morphologie der Thiere begreift. Dieser gegenüber steht als
andere Hälfte der Zoologie die Physiologie, die Lehre von den
Lehenserscheinungen der Thiere. Wie die Morphologie in die beiden
Oeber Eutwickelungsgaug und Aufgabe der Zoologie. 365
Haupizweige der Anatomie und £ntwickeiungsgescbichie, so zerfallt die
Physiologie in die beiden Hauptzweige der inneren und äusseren , der
Conservations- und der Relations- Physiologie. Die erstere untersucht
die Functionen des Organismus an sich , die letztere seine Lebensbe-
ziehungen zur Aussenwelt. Auch diese beiden Disciplinen haben wieder
von ganz verschiedenen und weit entfernten Gebieten der Naturwissen-
schaft ihren Ausgangspunkt genommen.
Was zunächst die Siussere oder die Relations-Physiologie betriSl,
d. h. die Lehre von den Beziehungen des thierischen Organismus zur
Aussenwelt, so zerfällt diese wieder in zwei Theile, die Oecologie und
die Chorologie. der Thiere. Unter Oecologie verstehen wir die Lehre
von der Oeconomie, von dem Haushalt der thierischen Organismen.
Diese hat die gesammtcn Beziehungen des Thieres sowohl zu seiner
anorganischen, als zu seiner organischen Umgebung zu untersuchen,
vor allen die freundlichen und feindlichen Beziehungen zu denjenigen
Thieren und Pflanzen, mit denen es in directe oder indirecte Berührung
kommt; oder mit einem Worte alle diejenigen verwickelten Wechsel-
beziehungen, welche Darwin als die Bedingungen des Kampfes um's
Dasein bezeichnet. Diese Oecologie (oft auch unpassend als Biologie im
engsten Sinne bezeichnet] bildete bisher den Hauptbestandtheii der
sogenannten »Naturgeschichte« in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes.
Sie entwickelte sich , wie die zahlreichen populären Naturgeschichten
älterer und neuerer Zeit zeigen , im engsten Zusammenhang mit der
gewöhnlichen Systematik. So unkritisch nun auch meistens hierbei
diese Oeconomie der Thiere behandelt wurde, so erwarb sie sich jeden-
falls das Verdienst, das Interesse fUr Zoologie in weiteren Kreisen le-
bendig zu erhalten.
Viel geringere Theiinahme fand bis vor Kurzem der andere Zweig
der Relations-Physiologie, die Chorologie, d. h. die Lehre von der
geographischen und topographischen Verbreitung, von den horizontalen
und vertikalen Grenzen der Thierarten, oder die Geographie der Thiere
im weitesten Sinne des Wortes. Bisher bestand dieselbe aus einem
wüsten Chaos von bunt zusammengehäuflen und unverstandenen That-
Sachen , welchem selbst ein Albxaiidbr Humboldt und ein Carl Rittbr
nur hier und da ein tieferes Interesse abzugewinnen vermochte. Erst
durch Dabwin's Noubegründung der Descendenz- Theorie ist es möglich
geworden, die geographische und topographische Verbreitung der Thier-
und Pflanzenarten in ihren mechanischen Ursachen zu erkennen, und
in ihrem eigentlichen Wesen als einem lebendigen Naturprocess zu er-
klären, der wesentlich durch die Wanderungen der Spielarten und ihre
Umbildung im Kampfe uro das Dasein bedingt ist. Obschon daher noch
366 Erosl Uiicckel,
in den erslL'n Anfängen begriffen, lässt uns doch die Chorologic, ebenso
wie die Oecologie der Thiero, sclion jetzt eine Fülle der interessantesten
Resultate aus der Ferne erblicken.
Als anderen Hauptzwoig der Physiologie stellUso wir vorher der
üusseren oder der ßelatioos-Physiologie dio innere oder Conserva-
lions-Physiologie gegenüber, welche die Lebensthätigkeit des
Organismus in Beziehung auf ihn selbst untersucht, die Functionen
seiner Organe, und vor allen die wichtigsten und allgemeinsten Lebcns-
erscheinungen , die Functionen der Selbsterhaltung , des Wachslhums,
der ErnNhrung und FortpDanzung. Dieser zweite Ilauptlheil der Phy-
siologie hat, gitazlich von dem ersten getrennt, seinen Ausgangspunkt
(ebenso wie die Anatomie) von der Hcdicin genommen. Sobald dio
wisseaschaftliche Hedicin erkannt hatte, dass ftlr eine richtige Erkennte
niss des kranken menschlichen Körpers nicht nur die Kenntniss seiner
Organisation, sondern auch seiner gesammten Lebenserscheinungen im
gesunden Zustande die unerkssliche Vorbedingung sei, niusste sie dio
Physiologie des Menschen zur Voraussetzung seiner Pathologie machen.
Da aber für viele physiologische Untersuchungen , namentlich ftlr die
mit Viviseclion verbundenen Beobachtungen und Experimente der
menschliche Organismus nicht lauglich ist, so wandten sich die mensch-
lichen Physiologen schon frühzeitig an die dem Menschen nüchstver-
wandten Wirbelthiere , unter denen insbesondere der treue Hund und
der unglückliche Frosch das bcdaucrnswerthe Massenmaterial für die
Experimenta! -Physiologie liefern mussten. Freilich war diese aus dem
praktischen Bedürfniss hervorgehende Untersuchung gewisser Lebens-
erscheinungen an einzelnen Wirbelthieren weit davon entfernt, zu einer
wirklichen »vergleichenden Physiologien zu fuhren. Eine solche
esistirt auch heule noch nur dem Begriff und der Aufgabe nach, und
die Einseitigkeit der menschlichen Wirbelthier-Pbysiologen trügt daran
vielleicht nicht geringere Schuld , als die Gleichgültigkeit der syslema-
tischcn Zoologen. Soviel ist aber jedenfalls dadurch schon jetzt ge-
wonnen, dass das metaphysische Gespenst der sogenannten »Lebens-
kraft« nicht bloss von dem Gebiete der menschlichen, sondern auch
der gesamiulen ihierjschen Physiologie völlig und fUr immer verbannt
ist. Von diesem mystischen Producl« dualistischer Confusion, welches
bald als zweckthatiges Lebensprincip, bald als zweckm<tssig wirkende
Endursache, bald als organische Schöpfungskraft so viel Unheil und
Verwirrung angerichtet hat, kann jetzt bei einer wahrhaft wissen-
schafthchen Untersuchung und Grklürung der Lehen sc rsch ei nun gen
nicht mehr die Rede sein. Wir wissen jetzt, dass alle Leben sersch ei-
nungen der Thiere, ebenso wie des Menschen, mit absoluter Nolh-
Ueber Entwickelungsgang und Aufgabe der Zoologie. 367
wendigkeit nach grossen mechanischen Naturgesetzen erfolgen, dass
sie nicht durch Endzwecke (Causae finales) , sondern durch mechanische
Ursachen (Causae efficientes] bewirkt werden , und dass sie im letzten
Grunde auf physikalisch-chemischen Processen beruhen, auf unendlich
feinen und verwickelten Bewegungserscheinungen der kleinsten Theil-
chen, welche den Körper zusammensetzen. Aber auch hier in der
Physiologie, wie in der Morphologie, wird uns das volle Licht über den
natürlichen und mechanischen Zusammenhang aller Erscheinungen erst
durch Lamarck's und Darwin's Descendenz-Theorie gegeben werden. Sie
wird uns zeigen, wie gleich den Formen der Zellen und Organe auch
ihre cigenthümlichen Lebensbewegungen, ihre specifischen Functionen,
sich auf dem langen und langsamen Wege fortschreitender Entwickelung
und Ärbeitstheilung stufenweise und allmählich entwickelt haben.
Auf keinem Gebiete der Zoologie wird diese Erkenntniss grössere
Umwälzungen hervorbringen, als auf demjenigen der thierischen Psy-
chologie, aufweiche wir nothwendig jetzt noch zuletzt einen be-
sonderen Blick werfen müssen. Denn gerade die Seelenlehre der Thiere
hat sich in grösserer IsoUrung entwickelt, und ist daher auch in stär-
kerem Rückstande geblieben, als alle übrigen Zweige der Zoologie. Hat
ja selbst die menschliche Psychologie, von welcher doch alle ver-
gleichende Psychologie der Thiere immer erst ausgegangen ist, sich
bisher fast ganz im Dienste einer speculativen Phüosophie entwickelt,
welche die unentbehrlichen Fundamente der empirischen Physiologie
von vornherein verschmähte.
Was würden wir heutzutage von einem Botaniker sagen , der das
Seelenleben der Pflanzen von ihren übrigen Lebenserscheinungen
trennen und das Studium der letzteren der empirischen Physiologie,
dasjenige der ersteren aber der speculativen Philosophie zuweisen
wollte ? Und doch zeigen uns die Seelenorscheinungen mancher Pflanze
(wie z. B. der schamhaften Mimose, der empfindlichen Fliegenfalle, und
selbst unserer einheimischen Berberitzenblüthe) einen höheren Grad
der Vollkommenheit, als diejenigen vieler niederen Thiere, wie z. B. der
Schwämme, vieler Corallen, und der Seescheiden oder Ascidienl Diese
letzteren aber, dieAscidien, besitzen unter allen wirbellosen Thieren
die nächste Blutsverwandtschaft mit den Wirbelthieren ; und unter
diesen finden wir eine solche ununterbrochene Continuität in der stu-
fenweisen Entwickelung des Seelenlebens , dass wir eine zusammen-
hängende Fortschrittsreihe aufstellen können von manchen Amphibien,
deren geistige Entwickelung weit hinter derjenigen der höheren Wirbel-
losen zurückbleibt, bis zu manchen Säugethieren, die sich vieUeicht
über die niedersten Menschenstufen erheben.
368 Ernst Hjieckel,
Sobald man auf diesem dunkeln und durch mystische Specu—
laiionen noch mehr verdunkelten Gebiete diejenigen Untersuchung»—
Methoden befolgt, die uns überall in der Biologie zum Ziele führen, die
beiden Methoden der Vergleichung und der Entwickelungs —
geschichte, so muss man nothwendig zu dem Resultate gelangen,
dass auch das menschliche Seelenleben , gleich den übrigen Lebens—
functionen, sich im Kampf um^s Dasein langsam, und in gleichem
Schritt mit der fortschreitenden Vervollkommnung des Nervensystems,
historisch entwickelt hat. Die Untersuchung desselben kann mithin
keiner anderen Wissenschaft anheimfallen, als der vergleichenden
Physiologie, also einem Zweige der Zoologie.
Hier ist nun vor Allem der Punkt, wo die Zoologie in die engste
Berührung mit der speculativen Philosophie tritt. Unsere Sorge aber
wird es sein müssen , dahin zu wirken , dass diese Berührung nicht zu
einer feindlichen Abstossung, sondern zu einer fördernden Annäherung
führe. Denn die Zoologie kann nach unserer Ueberzeugung so wenig
als irgend eine andere Naturwissenschaft, der philosophischen Specu-
lation entbehren. Sie kann eben so wenig ohne dieselbe zu dauernden
Erfolgen gelangen , als die speculative Philosophie ohne die empirische
Basis der Naturwissenschaft. Die höchsten Ziele und Probleme jeder ge-
sunden Naturwissenschaft sind allgemeine Erkenntnisse philosophischer
Natur. Die tiefsten Fundamente und Stützpunkte jeder gesunden Philo-
sophie sind physiologische Gesetze empirischen Ursprungs. Nur in der
innigsten gegenseitigen Durchdringung und Förderung können die em-
pirische Naturwissenschaft und die speculative Philosophie ihr gemein-
sames Ziel erreichen : Erkenntniss der natürlichen Wahrheit.
Die Naturforscher , welche stolz auf ihre absolute Empirie , ohne
philosophische Gedanken -Operationen die Naturwissenschaft fördern
zu können meinen , sind schuld an der entsetzlichen Verwirrung der
Begriffe und Urtheile, und an den erstaunlichen Verstössen gegen die
natürliche Logik, denen man überall in der zoologischen und bota-
nischen Literatur begegnet, und die jedem Philosophen ein mitleidiges
Achselzucken entlocken müssen. Die Philosophen andererseits, welche
bloss durch reine Speculationen , ohne die empirisch - naturwissen-
schaftliche Basis, zur Erkenntniss allgemeiner Gesetze gelangen zu
können glauben, bauen Luftschlösser, die der erste beste Empiriker
mit Hülfe sinnlicher Erfahrungen umblasen kann.
Wie nothwendig für den wahren Fortschritt der Wissenschaft, und
vor allem der Zoologie, die innigste gegenseitige Wechselwirkung zwi-
schen der analytischen Empirie und der synthetischen Philosophie ist,
zeigt Nichts mehr, als die grosse Frage, welche gegenwärtig die
Ueber Ctitwiekeliinp;8gang und Aufgnbe der Zoologie. 369
denkenden Köpfe in allen Erdtheilen bewegt, die Frage von der »Stel-
lung des Menschen in der Natur«. Indem wir selbst diese Frage schon
jetzt im Sinne der Descendenz- Theorie für entschieden halten, und
deragemäss eine stufenweise Entwickelung des Menschengeschlechts
aus einer Reihe von niederen Wirbel thierformen annehmen, stützen
wir uns auf das zustimmende Urtheil der grössten jetzt lebenden Natur-
forscher, von denen wir nur die berühmten Engländer : Darwin, Lyell,
HuxLBY, HooKSR, Spbngbr, Lbwes nennen wollen, um von den uns näher-
stehenden deutschen Naturforschern ganz zu schweigen.
Gegenüber den einsichtigen und denkenden Männern, welche unter
den zahlreichen Gegnern dieser Lehre noch entgegengesetzter Ansicht
sind, können wir aber nicht umhin , hier ausdrücklich hervorzuheben,
dass jedenfalls diese »Frage aller Fragen« im eigentlichsten Sinne des
Wortes eine rein zoologische ist, und dass der Kampfplatz für ihre
definitive Entscheidung einzig und allein das Gebiet der wissenschaft-
lichen Zoologie, d. h. der empirisch-philosophischen Thierkunde ist.
Denn nur der Zoolog, welcher im sicheren Besitze gründlicher morpho-
logischer und physiologischer Kenntnisse ist , und welcher dieselben in
umfassendem Sinne denkend zu verwerthen weiss, kann das ungeheure
Gewicht der Beweisgründe richtig würdigen , welche die Descendenz-
Theorie auch in ihrer Anwendung auf den Menschen schon jetzt unum-
stösslich begründen. Wenn daher speculative Philosophen ohne die
unerlässlichen Kenntnisse in der vergleichenden Anatomie , Entwicke-
lungsgeschichte und Physiologie diese Frage behandeln wollen, so blei-
ben ihre Beiträge zu deren Lösung ebenso werthlos, wie die Producte
der rohen Empiriker, welche aus Mangel an philosophischem Verständ-
niss der Thatsachen-Reihen nicht zu deren Combination und specula-
tiven Verwerthung befähigt sind. Obgleich nun leider die allermeisten
von den zahllosen Abhandlungen , welche jetzt die Stellung des Men-
schen in der Natur entscheiden wollen , einer von den beiden letzten
Kategorien angehört , so wird doch andererseits ihre definitive Bestim-
mung durch die Bemühungen der wahren empirisch -philosophischen
Zoologie dergestalt gefördert, dass sich binnen Kurzem schon Lybll^s
Prophezeiung bewahrheiten dürfte : »Es wird hiermit gehen, wie immer,
wenn eine neue und überraschende wissenschaftliche Wahrheit entdeckt
wird: die Menschen sagen zuerst: »Es ist nicht wahrl« alsdann: »Es
streitet gegen die Religion«, und zuletzt: »Das hat man schon lange
gewusst.«
Indem ich jetzt mit dem Hinweis auf dieses höchste Problem der
wissenschaftlichen Zoologie meine Darlegung von ihren Aufgaben und
ihrer Bedeutung schliesse, so hoffe ich, dadurch wenigstens eine an-
370 Firnst Hfteckel, lieber Kiilwklielijii|tss<iiig vwi Antt^lif der Zuoloeie.
nähernde Vorstellung von der ungemeinen EnlwickeluDgsfühigkeil und
der bedeutenden Zukunft unserer jugendlichen Wissenschaft gegeben
zu haben. Nachdem die Thierknnde kaum anderthalb Jahrhundei-te als
selb ststiind ige Wissenschaft überhaupt existirt, und nachdem sie den
grdssten Theil dieser Zeit in uincr kindlichen Anspruchslosigkeit verlebt
hat, unbewusst der in ihr schlummernden Kräfte, und ohne Ahnung
von ihren hohen Zielen , hat sie seit Beginn unseres Jahrhunderts sieh
auf eine höhere Entwickelungsstufe dadui'ch vorzubereiten begonnen,
dass sie ihre einzelnen inte^irenden Bestandtheile , die sich zusammen-
hangslos im Dienste anderer, fi'emder Wissenschaften entwickelt hatten,
um sich zu sammeln begann. Seitdem aber vor zehn Jahren Chables
Dabwin das einheitliche Band knüpfte, welches alle diese weit getrennten
Disciplinen zu einem niSchtigen Gesammtkörper vereinigt, und seitdem
er damit dem jugendlichen Riesenleibe der wiedergeborenen Zoologie
neues kraftvolles Leben einhaucht«, hat sich der Gesichtskreis und das
Ziel unserer Wissenschaft unermesslich erweitert. Von allen Seiten
lockt sie strebsame und wissensdurstige Arbeiter heran , und verspricht
überall die reichste Ernte. Und selbst wenn wir alle übrigen Errungen-
schaften der Zoologie gering anschlagen wollten, so wtlrdc allein schon
ihre unauftCsliche Verbindung mit der empirisch -philosophischen An-
thropologie ihr die htJchste Bedeutung verleihen. Die monistische Philo-
sophie der Zukunft wird die vergleichende Thierkunde aus diesem
einzigen Grunde gar nicht mehr entbehren können; und so wird sich
aus dem kleinen und verachteten Samenkome der Zoologie ein Wissen-
Schaftsbaum entwickeln, der in Zukunft alle Übrigen Wissenschaften in
seinen Schatten aufnehmen wird, und aus dessen Wurzeln sie alle
mehr oder minder ihre Nahrung werden beziehen müssen.
lieber Iliaethglyoxylsänre-Aether.
Von
Dr. A. Schreiber.
Bekanntlich betrachtet Debus > die Glyoxylsiiure nach der Formel
C^H^O^* zusammengesetzt. Perkin undDuppA^, welche dieselbe Säure
durch Erhitzen des dibromessigsauren Silbers mit überschüssigem
Silberoxyd, sowie Fischer und Gbuthbr^, welche sie durch blosses
Erhitzen des Dichloressigsäure-Aethers mit Wasser und femer durch
Kochen des Natriumsalzes der »Aetherglyoxylsäure« mit Salzsäure er-
hielten , gaben ihr auf Grund dieser neuen Bildungsweisen die Formel
C^H^O^, da überdiess die von Dbbus als glyoxylsaures Ammonium ange-r
sprochene Verbindung nicht als solches gelten könne und die DBBus^sche
Formel mit der Zusammensetzung der übrigen Salze nicht in Einklang
stehe. Später führten Perkin und Duppa^ zu Gunsten ihrer Ansicht den
Nachweis, dass der Körper C^H^O-* — Clyoxylid, gebildet durch Er-
hitzen von trocknem bromglycolsauren Silber mit wasserfreiem Aether
— ein Anhydrid und nicht eine Säure ist und dass die Zersetzung der
Glyoxylsäure mit Phospborbromid nach der Gleichung
C" CH
C ^(0H)2 ^ 3PBr5 = C ^ß«"* + 3POBr3 + iBrH
OH Er
verläuft. — Einen entscheidenden Beweis für die Richtigkeit der letzteren
Formel liefert die Zusammensetzung des Aethers und Amids der Diaeth-
glyoxylsäure aus der Dichloressigsäure, deren Darstellung und Beschrei-
bung im Folgenden gegeben werden soll.
<} Annal. d. Cbem. u. Pharm. Bd. CX. S. S29.
'^) Keidl6, Lehrb. Bd. I. S. 680.
3) Jen. Zeitschr. für Med. u. Naturw. Bd. I. S. 51 u. 55.
*) Zeitscbr. für Chemie. 4868. S. 424.
Diaelhglyoxylsäure-Aether.
In einer geräumigen Retorte, deren Hals mit Kühlvorrichtung ver-
bunden ist und durch deren Tubulus fortwährend ein Strom Wasser—
stoffgas zugeteilet wird , bereitet man Aethernatron , indem man auf
90 GwLh. absoluten Alkohol 10 Gwth. Natrium nach und nach in klei-
nen Stücken eintragt. Noch ehe das Natriumalkoholat vollständig er-
starrt ist, setEt man in den Tubulus eineg Scheidetrichter mit 1 8 Gwth .
DichloressigSclure und ISsst dii; letztere anfangs iangsam, später — wenn
die Heaclion in Folge der Alkoholbilduog an Heftigkeit nachlässt —
schneller auf die Krystallmasse tröpfeln. Es scheiden sich weisse Salz-
krusten von Chlornatrium ab, wahrend die alkoholische Lüsung eine
braune Farbe annimmt. Die hierbei erfolgende Beaction kann durch
folgende Gleichung ausgedrückt werden:
Cj^" + 3C'H'(0Na) =C IIciHs + 8NaCI + C'H> (OH).
°" Sn.
Nach einstUndigem Kochen des Retorten Inhalts wird unter fortge-
setzter Wassers toffzul eilung der Alkohol abdestillirt , der Rückstand in
Wasser gelöst und ein wenig angesäuert — um den sich dabei abschei-
denden braunen FarbestoB* zu entfernen, — die Ltisung nach dem
Filtriren wieder mit NatriumcArbonat neutralisirt und zur Trockne ge-
brachl. Die Salzmasse wird mit kochendem absolutem Alkohol er-
schöpft, der Auszug eingedampft und die braune zShe Hasse mit dem
gleichen Volumen absoluten Alkohol und dem gleichen Gewichte
Jodaethyl in Glasröhren auf 100°, schliesslich auf 130o erhitzt. In sechs
bis at^t Stunden ist die Umaeteung vollendet. Nach dem Erkalten
werden die Rohren, bei deren OefToen sich ziemlich starker DnuA zeigt,
in einen Kolben entleert und mit gewöhnlichem Aetber ausgespült; die
braune ätherische Ldsung wird von dem gebildeten JwinBtrium abfil-
trirt, nach dem Abdestilliren des Aethers der bleibende dunkel gefarblf
Rückstand mit granulirtem Zink gelinde difirrin und dadurch vom Jod
befreit und schliesslich aus einem Oelbaddesiillirt. Das Destillat, schwach
sauer uud noch etwas durch Jod geftirbt, Mird mit Wasser unter Zu-
fügen einiger Tropfen Natronlauge gewaschen und mit Chlorcalcium ent-
wässert: durch wiederholte Destillation wird ausser einer nicht unbe-
deutenden Menge des von Heintz dargestellten Aelherglycol säure- Aethers
— da die Dichloressigsaure nur sehr schwer frei \an Hunocbloi-essig-
säure zu erhallen ist — ein neuer bei t9'J^\i icorr.] siedender AetUer,
der Diaethglyoxylsäure-Aether erhatten.
üeber Diaethglyoxyls&nre-Aether. 373
I. Analyse des erhaltenen Aetherglycolsäure-Aethers.
0,?567 grm. des bei 155—1600 siedenden' illals gaben 0,5115
grm. Kohlensäure, entspr. 0,1395 grm. = Xy oc. Kohlenstoff und
0,2100 grm. Wasser, entspr. 0,023333 grg» * ,1 Proc. Wasserstoff.
ber. gef.
C« = 72 54,5 54,3
H«= 12 9,1 9,1
03 = 48 36,4 —
132. 100,0.
II. Analyse des erhaltenen Diaethglyoxylsäure-Aethers.
0,2595 grm. des bei 195— 196^ siedenden Destillats gaben 0,5160
grm. Kohlensäure, entspr. 0,140727 grm. = 54,2 Proc. Kohlenstoff
und 0,2135 grm. Wasser, entspr. 0,023722 grm. =: 9,2 Proc. Wasser-
stoff.
ber. gef.
C» = 96 54,5 54,2
H16 =s 16 9,1 9,2
0* = 64 36,4 —
T767 100,0.
Der Diaethglyoxylsaure-Aether, welcher dieselbe procentische Zu-
sammensetzung wie der Aetherglycolsäure-Aether besitzt, ist eine
wasserhelle, das Light ziemlich stark brechende Flüssigkeit von bren-
nendem Geschmack und angenehm obstartigem Geruch. Sein spec.
Gew. ist 0,994 bei 18®, während das des Aetherglycolsäure-Aethers
0,978 ist. Mit Alkohol und Aether ist er in jedem Verhältniss mischbar,
in Wasser nur etwas löslich.
Diaethglyoxylsäure-Amid.
Lässt man den Aether mit conc. Ammoniak und absol. Alkohol ge-
mischt einige Tage stehen und dann die Lösung über Schwefelsäure
cindunsten, so krystallisirt Diaethglyoxyl-Amid aus in grossen
farblosen , durchsichtigen Tafeln , die dem rhombischen System anzu-
gehören scheinen. Die Krystalle besitzen auf den Tafelflächen Perl-
mutterglanz, lassen sich biegen und fühlen sich fettig an. Sie schmelzen
bei 760,5 und sub'' '^ber 1 00^ unzersetzt in Nadeln, all-
mählich schon b< iperatur. Sie sind geruchlos und
von bitterem, sal Wasser und Alkohol leicht löslich.
25
374 A. Sthreiber,
■ Hit starker Süure Übergössen, zersetzt sich das Aniid in das betr. Äm-
nioniumsalz und DiaelhglyoxilsSure. Mit Wasser eingeschlossen und
bis auf 1 00" erhitzt, bleibt es aber unverändert,
0,21-SO grm. der über Schwefelsaure getrockneten Kryslalle gaben
(),iiä3 grm. Kohlensäure, entspr. Ü,l21418grm. = 49,0 Proc. Kohlen-
stoff und 0,2074 grm. Wasser, entspr. 0,0230ii grm. = 9,:t Proc.
Wasserstoff.
ber. gef.
C« = 72 49,0 49,3
H'»= \3 8,9 9,3
N = 14 9,4 —
0= = 48 32,7 —
In der Hoffnung, durch Einwirkung von Dichloressigsäure-Aether
auf Natriumalkoholal direcl den Diaelhglyoxylsilure-Aelher zu erhallen,
Stellte ich ganz in der von Gelther' beschriebenen W^eise alkoholfreies
Aethernalron dar und goss zu ä Mgt. allmählich 1 Mgl. Dichloressig—
säure-Aeiher, die sehr heftige Reaction durch Abkühlen raässigend und
die Luft durch einen raschen WasserstofTslrom ausschliessend. Der
Versuch ergab nicht das erwartete Resultat: die Producta waren Alkohol,
Chlornalrium , wenig oxalsaurcs, aber namentlich dich loressigsaures
Natrium und ein in ziemlicher Menge sich bildender, amorpher, brauner
Körper, der nichl naher untersucht worden ist. Der in absolutem Al-
kohol lösliche Theil des Sal/gemenges wurde zur Trockne gebracht, die
braune, sehr hygroscopische glasige Masse in wässriger Lösung mit
Schwefelsaure zersetzt und mit alkoholfreiem Aether ausgezogen. Nach
Entwässerung der ätherischen Lösung mit Chlorcalcium wurde der
Aether abdestillirt : der saure Rückstand besass den constanten Siede-
punkt von 195'*, erzeugte, auf die Haut gebracht, sofort Blasen und
verhielt sich auch im Uebrigen wie Dichloressigsaure , was durch eine
überdies damit angestellte Analyse bestätigt wurde.
Da die bei dem Versuch erhaltene Menge Dichloressigsüure etwa
der llSifle des angewandtenDichloressigsäure-Aelhers entsprach, so ist
anzunehmen, dass die andere Halft*' des letzteren hauptsächlich nur
') Jen. ZeilscLr. für Med. u. Naturw. Bil. IV.
lieber Diaethglyoxyls&ure-Aetber. 375
Bildung des braunen amorphen Körpers und des Chlornatriums und in
geringer Menge zu der des Natriumoxalats verwandt wurde, unter
gleichzeitiger Abscheidung von Wasser, welches die Entstehung des
Alkohols und die Bildung des dichloressigsauren Natriums bedingte.
Als bei einem Versuch gleiche Mischungsgewichte von Aether-
natron und Dichloressigsdure-Aether genommen wurden, konnte nach
beendeter Reaction die Hälfte des angewandten Aethers unverändert
abdestillirt %'erden.
ti
Die Verwandtschaft der Töie and Farben.
W. Preyer.
Ein unbefangenes Auge unterscheidet im vollkommen reinen
Speclrum der Sonne mittlerer IntensiUll nicht mehr und nicht weniger
als acht von einnnder wesentlich verschiedene Farben — Braun, Botb,
Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett, Lavendelgrau — welche durch sprach-
lich zwar UDgcnUgcnd bezeichnete, aber deutlich empfindbare L'eber—
giinge miteinander zu einem continuirlichcn hellen Streifen verbunden
sind. Die Zahl dieser L'ebei^angsfarben ist eine endliche, denn es ent-
spricht nicht jede beliebige noch so kleine Aenderung der Schwingungs-
nahl eines farbigen Lichtstrahls einer Aenderung der Farben emphndung.
Vielmehr bcnötliigt die gcringsle Aenderung dieser eine sehr erhebliche
Aenderung jener. Eine wie grosse Veränderung — Vermehrung oder
Verminderung — der Schwingungszahlen in der Zeiteinheit erforderlich
ist, um eine eben merkbare Veränderung der Farbe n quäl itütsempfin düng
zu bewirken, dieser Grenzwerlh ist nicht ohne Einschränkungen be-
slimmbar, schon weil er für verschiedene Stellen des Spectrum ver-
schieden ausfüllt. Ein anderes ist die Bestimmung der sieben Intervalle
des spectralen Farbenfeldes oder die Ermittelung, um wieviel die OsciUa-
lionszahlen verändert werden mtlssen, damit an die Stelle einer Haupt—
farbenempfjndung eine andere Hauptfarbenemphndung ohne jedweden
Leberjjang triit. Diese Intervalle können entweder sämmtlich gleich
oder silmmtlich verschieden oder für einige der acht Farben gleich , für
andere ungleich sein.
Ich liabc gefunden, dass letzleres der F<dl ist.
Um die Farbenintervallc zu bestinmien, versuchte ich zunächst
durch Schiltzungen diejenigen Stellen eines conti nuirliehen Spectrum
/u finden, welche dem reinsien Bolh, dem reinsten Gelb, Grün u. s, w.
entsprechen. Es dienten dazu zwei Kirciihoff - Bunsk Vscho Spcrtral-
iipparale, ein kleiner mit einem Prisma und ein grosser mit zwei Prismen
Die Verwandlschal't der Töne iiud Farben. 377
aus der Werkstatt von Stki:vhkil. Lichtquellen warm luir die Sonne, *
verbrennendes Magnesium, elektrisches Kohlenlicht (mit eleklronuigne-
tischeni Regulator von Browning) und Pctrolcumnammen. Kino ver-
stellbare photographirtc Scala und die FRA.üNHOFER'schen Linien gaben
das Maass ab beim Einstellen des Fadenkreuzes.
Dieses Verfahren lieferte jedoch keine befriedigenden Resultate,
weil die Schätzungsfehler zu gross ausfielen. Brauchbar wird die Me-
thode erst, wenn man die der abzuschätzenden Farbe benachbarten
Tbeile des Spectruna abblendet. Man bewerkstelligt dies am einfachsten
durch Einfügung von zwei verlicaien schwarzen, als Diaphragma wir-
kenden Schiebern in das Lumen des Fernrohrs. Durch Annäherung
oder Entfernung derselben kann man beliebige Theile des Spectrum
abblenden und so die einzelnen Hauplfarben isoliren. Eine solche Vor- *
richtung ersann schon vor längerer Zeit Max Sghultze, an dessen
Spectroskop ich sie kennen lernte. So sehr auf diese V^^eisc die Farben-
bestimmung erleichtert wird , so bleibt doch die Ermittelung der Breite
des isolirtcn Farbenslreifens, d. h. seiner Ränder, in Wellenlängen bei
continuirlichen Spectren immer dann umständlich oder ungenau, wenn
anderes als Sonnenlicht, welches mitunter tagelang nicht zur Verfügung
steht, verwendet wird; denn im Sonnenspectrum ist sowohl die
Sehätzung durch die FRArNHOPBR'schen Linien sicherer, als auch die
Aufündung der gesuchten Wellenlängen sehr bequem durch Angström's
grosse Tafeln (Spectre normal du soleil. Atlas. Upsal I8()S) gegeben.
In anderen continuirlichen Spectra aber ist weder das eine noch das
andere genau zu erreichen , weil es an Anhaltspunkten beim Sehätzen
fehlt und man sich ausschliesslich auf die Theilstriche der Scala ver-
lassen nmss, eine directe Bestimmung der Wellenlängen also hier, wo
es sich überdies um hundertfältig zu wiederholende Beobachtungen
handelt, die Muhe nicht lohnen würde.
Um genau die Orte der einzelnen Hauptfarben und ihre Begrenzung
— ausgedrückt in Wellenlängen — zu finden, verwendete ich daher ein
anderes Mittel. Discontinuirliehe Spectra in grosser Anzahl wurden
theils für sich untersucht, theils untereinander und mit den genannten
continuirlichen Spectren verglichen und diejenigen hellen Linien oder
von dunkelen Linien begrenzten farbigen Stellen , welche das durch
den Aufenthalt im Dunkeln geschärfte Auge als am reinsten roth , am
reinsten gelb, grün, blau u. s. w. erkannte, oder welche die ent-
sprechenden Stellen des ex)ntinuirlichen Spectrum begrenzten , gaben
die gesuchten Werthe. Dieses Verfahren ist deshalb sehr viel genauer
als das ersterwähnte, weil die allmählichen Uebergänge der einen Farbe
in die andere nicht störend einwirken , sondern schwarze Zwischen-
378 W. Preyer,
* räume oder Linien mannichfaltige Abstufungen gewähren, an denen das
gleichsam tastende Auge sich ausruhen und halten kann.
Den Absorptionspectra farbiger Flüssigkeiten und Gläser kommt
hierbei wegen der Breite und meist schlechten Begrenzung der hellen
Räume nur eine untergeordnete Bedeutung zu; ich habe sie in sehr
grosser Auswahl verglichen und nur zur anfänglichen Orientirung nütz-
lich gefunden. Anders die Absorptionspectra farbiger Dämpfe. Hier
bieten die zahlreichen oft in gleichen Absländen nebeneinander liegen-
den dunkelen Linien ein treffliches Hülfsmittel, besonders Joddampf
und Untersalpetersäure sind in dieser Hinsicht ausgezeichnet. Das
Hauptmaterial lieferten aber die aus hellen Linien bestehenden Spectra
der in der BuNSEN'schen Flamme sich verflüchtigenden Metalle und der
* in GBissLER^schen Röhren durch den Inductionsfunken erglühenden 1
Gase. Ich verwendete namentlich die Spectra vom Kalium , Natrium,
Lithium, Rubidium, Caesium, Thallium, Indium, Calcium, Magnesium,
Baryum, Strontium, Kupfer, Quecksilber, Wasserstoff, Stickstoff, Schwe-
fel, Selen, Jod, Brom, Chlor, Fluorkiesel und Fluorbor, welche zusam-
men eine genügende Anzahl von reinen gesättigten und intensiven
Farben liefern. Man muss nur für einen so vollständigen Ausschluss
fremden Lichtes Sorge tragen, dass der Rand des Gesichtsfeldes, wo es
schwarz ist, sich nicht mehr erkennen lässt, was bei dem Spectralap-
parat in seiner jetzigen Gestalt nicht allzuschwer erreicht werden kann.
Schwieriger und ebenso wichtig ist es , die Intensität der Farben
weder zu tief sinken noch zu hoch steigen zu lassen , da nur bei einer
mittleren Lichtstärke die Farbenunterscheidung genau ist. Ich habe
diese Fehlerquelle nicht ganz beseitigen können, glaube aber nicht, dass
sie auch nur eine Bestimmung illusorisch macht , da meine Beobach-
tungen äusserst zahlreich sind und sehr gut untereinander übereinstim-
men , ausserdem bei der BuNSEN^schen Flamme und den GsissLER^schen
Röhr^ zu grosse Intensitäten nicht leicht vorkommen , zu geringe an
sich schon unbrauchbar sind.
*lch fand es zweckmässig bei Metall- und Gasspectren die Licht-
quelle — BuNSEN'sche Flamme oder GEissLER^sche Röhre — zwischen die
beiden Spalte meiner zwei Spectroskope zu stellen , um einen Ueber-
blick des ganzen Spectrum durch den kleineren, eine genauere Analyse
durch den grösseren fast gleichzeitig zu ermöglichen. Es würde wenig
Interesse bieten, alle meine Bestimmungen einzeln anzuführen, zumal
sie leicht wiederholt werden können, wenn man möglichst viele Spectren
combinirt — übereinander und aufeinander entwirft. Ich theile da-
her nur die Ergebnisse der Einzelbestimmungen nebst einigen Bei-
spielen zur Controle mit, indem ich die Wellenlängenbestimmungen von
Die Verwandtschaft der Töne und Farben. 379
AivGSTRÖu, Mascart, Thalen, Ditscheiner, wie sie Angström (Recherches
sur le spectre solaire. Upsal 1 868. i^) zusammengestellt hat, zu Grunde
lege und wo diese nicht ausreichen, Kirchhoff^s Tafeln zu Hülfe nehme
(Untersuchungen über das Sonnenspectrum und die Spectren der ehem.
Elemente. 2 Thle. 1862 und 1863. k^). Es sind in letzteren mehrere
o
Elemente aufgenommen , welche bei Angström fehlen , aber man kann
deren Linien leicht eintragen und so ihre Wellenlänge finden.
Meine Beobachtungen haben nun zu folgenden Ergebnissen geführt.
l bedeutet Wellenlänge in Milliontel Millimeter.
Das reinste Brann liegt in der Nähe der braunen R^Humlinie Kaa^
deren Wellenlänge nach Lecoq (Comptes rendus 6. Sept. 1 869) 768 be-
trägt. Die beiden erheblich weniger brechbaren, übrigens sehr ungleich
intensiven Rubidiumlinien sind gleichfalls braun. Beim Abblenden des
ganzen Spectrum der Mittagssonne von A an aber sah ich eine mit der
Wellenlängenzunahme schnell dunkeler werdende braune Stelle , etwa
so breit' wie A bis a, welche da, wo die Rubidiumlinien auftreten, schon
schwarzbraun istr; innerhalb dieser ultrarothen Strecke und zwar zwi-
schen X = 760 und 770 liegt die Stelle des von Roth ebenso wie von
Schwarz — dem Dunkel am Spectrumende — gänzlich freien Braun.
Diese Bestimmung ist mir, wegen der Lichtschwäche des Spectruni-
endes, wegen der Veränderlichkeit seiner Farbe je nach der Intensität,
und weil es mir ausser den Rubidium- und Kaliumlinien an braunen
Linien fehlte, die schwierigste von allen gewesen.
Das reinste Roth liegt zwischen der Lithiumlinie Lia und B^ aber
näher bei letzterer als ersterer, wie man beim gleichzeitigen Entwerfen
des Lithium- und eines hellen continuirlichen Spectrums erkennt.
Gross ist der Unterschied allerdings nicht. Aber ebenso deutlich wie
die mit C zusammenfallende Wasserstoff linie Ha neben Lia orangcroth
erscheint, wird das Roth über B hinaus schon bräunlich und die Stelle
des von Braun und von Orange gänzlich freien Roth liegt nach allen
meinen Schätzungen zwischea X s 678 und 686. Linie B hat 686,7
und 678 bezeichnet die Mitte zwischen B und Lia.
Das reinste Orange liegt im prismatischen Spectrum nahe der Mitte
von C und Z>, näher bei D als C. Die Calciumlinie Caa liefert sehr
reines Orange. Die wenig intensive Lithiumlinie Liß ist hingegen gelb-
lich orange. Ihre Wellenlänge beträgt 610,15 (Mascart). Die schon
dem Roth zuneigende Mitte des Raumes zwischen Cund D hat A = 6SS,7.
Das von Roth und von Gelb möglichst freie Orange liegt zweifellos zwi-
schen A=r 610 und 620.
Das reinste Gelb ist leicht zu finden, weil es nur einen sehr schma-
len Streifen zwischen der doppelten goldgelben Natriumlinie Naa und
380 W. Prcyer,
den lichtschvvachen grünlich gelben Baryumlinien einoiramt, weJche auf
der Z)-Seite von Bay Hegen. Eine in diesen Raum fallende intensive
zweifache Quecksilberlinie (No. 1 076 Kirghhopp) ist vollkommen rein gelb.
Ihre Wellenlänge ergiebt sich durch Eintragen in die Tafel von Angströh
zu 576,8. Ueber X «s 572 hinaus wird das Gelb schon merklich grün-
lich, über 578 hinaus goldgelb (orangegelb). Das von Grün und von
Orange vollkommen freie Gelb liegt demnach zwischen l = 572 und 578.
Das reinste OrfliI fällt in die Nähe der höchst intensiven Magne-
siumlinie, welche mit 64 von Fraunhoper'.s Gruppe 6 coincidirt, und
zwar liegt es auf der F-Seite von 64. Die Baryumlinie Ba a ist für mein
Auge schon deutlich gelblichgrün, ^a/? neigt zum Blüul ichgrün. Also
muss das reinste Grün zwischen beide, d. h. in die Nähe von h fallen.
Es liegt in dem Raum zwischen il s= 510 und 516. Dieses ist die ge-
naueste von allen Bestimmungen, w^eil ich hierbei über die grössle An-
zahl von hellen und dunkeln Linien verfügen konnte. Schon früher
fand ich ausserdem durch die Untersuchung von zwei Grünblinden * für
das reinste Grün A = 510 als Minimum. Linie 64 hat k = 516,688.
Das reinste Blan ist im prismatischen Spectrum wegen der grossen
Breite des blauen Feldes schwerer zu bestimmen. Doch bin ich zu
dem sicheren Ergebniss gelangt, dass die gesuchte Stelle sehr nahe
der in dem continuirlichen Spectrum brennenden Magnesiumdrahles
scharf abgegrenzten blauen Linie liegen muss, deren Wellenlänge
= 458,6. Genauere wiederholte Betrachtung lehrt ferner, dass das
reinste Blau nur sehr wenig nach der F-Seite dieser Linie liegt , weil
weilerhin eine Hinneigung zum Grünlichblau ebenso wie unmittelbar
auf der G-Seite eine solche nach dem Violettblau merkbar wird. Die
indigoblaue Indiumlinie hat l = 455 (Job. Müller in Freiburg). Die
hellen grünblauen Magnesiumlinien, deren ich 9 zähle, unterstützen als
feste Ausgangspunkte wesentlich das Schätzen. Vollkommen rein blau
ist ferner die Strontiumlinie Srd^ bei der l = 460,7 (Mascart), ebenso
die doppelte Caesiumlinie Csa und Csß. Diese ist, wie man sich leicht
durch gleichzeitiges Entwerfen des Strontium- und Gaesium-Spectrums
überzeugen kann, nur wenig (weniger als ihr eigenes Intervall in mei-
nem Apparat) stärker gebrochen als Srd, Im Sonnenspectrum verlegte
icli 'I. c. S. 327) im Blau von F\ G bis F| G die Stelle, welche sowohl
von grüner wie von violetter Beimischung gänzlich frei ist und zugleich
die grösste Lichtstärke hat, auf ungefähr F^ (7, was A == 467 entspricht.
Aus diesen Bestimmungen geht hervor , dass das reinste Blau zwischen
X = 458 und 468 liegt. Es ist sehr bemerkenswerth , dass Maxwell
^) In Pplüoer's Archiv f. d. ges. Physiologie 4868, S. 346.
Die VerwHiidtschrtft der Töne iiad Farben. 381
(Philos. Transacl. \'M'A)) ein Blau \on 403,8 ^uncorrigirl) als Grundfarbe
auf ganz anderem Wege fand.
Das reinsle Violett liegt in dem stark dispcrgirten Spectrum meines
Apparates ungefähr in der Mitte zwischen (*' und //„. Betrachtet man
möglichst gleichzeitig die Linien des Rubidium Rbß {X = 4 £1,7 Lrcoq;
und Rba (l = 420,3 id.), die des Kalium Kuß [l = >0ö,() id.;, des
Calcium und des Wasserstoffs lly {l = 41 0, 1 Angström), welche summl-
lich zwischen G und if, liegen, so findet man von allen stets die Wasser-
stofflinie am reinsten violett, sowohl die Rubidium- wie die Calcium-
linie erscheinen daneben merklich bläulich violett und Kaß wie etwas
verschleiert, mit Grau gemischt. Im Sonnenspcclrum ist die Aufsuchunj^
des reinen Violett unthunlich wegen der grossen Abhängigkeit dieser
Farbe von der Licbtintensität, in Kupferspectrum leichler. Im Magne-
siumlicht und elektrischen Kohlenlicht hingegen fehlt es in dem breiten
gleichmässfg violetten Felde an Anhaltspunkten zum Schätzen. Ich
kann daher nur die Gegend zwischen X = 405 [Ktiß) und 415 oder die
Umgebung der FRAu.NHOFKR'schen Linie h (A = 410/ als die Stelle des
reinsten Violetts angeben.
Versuchen wir nun, die Intervalle aus den erhaltenen Zahlen zu
ermitteln, so zeigt >ich, dass die sieben Farben nicht durch gleiche
Intervalle von einander getrennt sind. Setzt man für die sieben er-
haltenen Werlhe der Schwingungszahlen n
A n
Millioniel Miiiim. Billiunen in 1"
Braun 760 — 770 ;]t)2 — ;J87
Roth 678 — 686 4 40 - 4.^5
Orange 610 — 620 489 - 481
Gelb 572 — 578 521—516
Grün 510 — 516 585 — 578
Blau 4.58 — 468 651 — iVM .
Violett 405 — 415 7:J6 — 719
die abgerundeten Mittel und vergleicht diese miteinander, so findet
man, dass zwar Braun, Roth, Orange, Grün und Violett ziemlich be-
friedigend in eine arithmetische Reihe mit dem Intervall von etwa
48 10 13 Schwingungen in 4" passen, nicht aber Gelb und Blau, und
zwar weichen diese (>6iden Farben so stark ab, dass Beobachtungs-
fehler mit Sicherheit auszuschliessen sind. Setzt man die Schwingungs-
zahl von Braun ae I, so ist die der anderen Farben aus den runden
Mitteln berechnet:
Braun Roth Orange Gelh Grün Blau Violett
\ 1,123 4,246 1,331 1,493 1,655 1,868
382
W. fwftr.
Diese SchwiuyuiigsvLTbalinisse kouiiiien denen der Töne der diatotiM
sehen Durtonleiter von c- ausserordentlich nahe. In der Thnl kann man, '
ohne den Spielraum der direcl gegebenen Werlhc in einem Hniigen Falle
lu überschreiten, die Tonintervallc
1 l,IS5 1,25 1,333 t,S 1,666 1,875
den Farbeninter Valien substituiren und die 7 ganzen TBne der c-Dur— 1
lonleil#r volikomnien den 7 Hauplfaibea der speclralen FarbenoctaveJ
parallelisir'n, wie folgende Tabelle zeigl:
Töne
Schwinguniieii
Farben
Wellenlange in
F»Am.flo»£HS Linien,
lnl«.t^. ' Billion i» 1-
Milliuul. Mlllitn.
<■ 1
1 388,1
hraun
763.8
A 760.4
rf
! 436,7
ralh
eas.3
B 686,7
r
'>rBn6e
flH,U
C 6S6.1
1
^ 517,6
gelb
S76,*
OSSfl.i
= S8».a
«rün
Sli.t
E 5S6.9
\ 847,1)
hlBll
4SI,)
F (88,0
h
V 7i7,9
violett
409,11
G(S0,7
"' 1
S 77fl,*
grau
384,3
H2 39B,3
Diese Zusammenstellun{; verdient eitj besonderes Veilraiien durch J
den Umstand, ilaMs nicht weniger als sechs von <len acht BeslimmuDgeQL 1
der iwdlen beziehlich der vierten Columne, ganz abgesehen von ihrenitJ
vollkouinienen Einklang mit meinen süuimtlidien bis zur Erschöprung'l
des Auges immer wieder und wieder angestellten spectroskopischeD J
Beobachlungun , einer Arbeil entnommen sind, welche die unleugbftrg J
Verwiindlsnhafl der. Töne und Farben zwar im Allgemeinen nicht bfr-j
»Ireitel, aber die Identität der Ton- und Farbeninlervalle geradoKU fttt
nicht vorhanden erklärt. Diese Arbeit ist die von LiSTij^ii über die
(jrenzen der Farben im Speclrum im 1 Jt . Bande von Poggbxdobit's An-
nslen der Physik und Chemie verößentHchte. Listing kommt zu dem
Ergcbniss, dass die Farben des Spectruni eine arithmetische Reihe
bilden mit der Differenz von 48024.10" (vorbehaltlich spaterer ge-
nauerer Bestimmung) oder dem halben Farheninlervall c = i*,ä63
Billionen, wobei die einzelnen Farben in 'iÖ'i,^ bis K0U,9 Billionen
Schwingungen per Zeitsecunde ausgedruckt werden. Es würe nach
dieser Beihe das braune Spcclrumondc = 15c, die Mille des Braun
^ 16 t, die Braun-Hoth Grenze = 17 c, die Mitte des Roth = 18 c, die
Orange-Bolh Grenze = 19c, die Mitte des Orange = äOc u. s, f. bis
Mitte des Lavendel = 33c und die Lavendelgrenze des Specirum = 33c,
zusammen l!) Glieder. Gelingt es nun nachzuweisen, dass nur eines
von diesen Gliedern erheblieh von dem verlangten Werlhe abweicht.
Die Verwandtschaft der Töne und Farben. 383
«
so ist das ganze GeseU falsch. Ich bin im Stande, die Unrichtigkeit von
mehr als einem der 1*9 Glieder zu beweisen.
Die Mitte des Gelb fällt nach LisrncG auf 92 c oder A » 559,0. Ks
mUsste also Licht von dieser Brechbarkeit für sich im Dunkeln betrachtet
vollkommen rein gelb, weder goldgelb noch grünlichgelb erscheinen.
Nun zeigt es sich, dass die bekannte helle Galciumlinie Ca/? genau die
gewünschte Brechbar'veit (Mitte 559,3) besitzt. Sie erscheint aber jedem
gesunden Auge grüngelb, ebenso die helle Baryumlinie Bay, welche
in dieselbe Gegend des Spectrum zu liegen kommt. Es muss also das
reine, das von Grün freie Gelb bedeutend weiter nach D zu liegen , als
LiSTiNG^s berechneter Werth verlangt. Statt auf l ss .i59,0 zu fallen,
fällt es in Wirklichkeit, wie ich gefunden habe, auf 572 — 578. Der
Fehler beruht darauf, dass Listing die hellste Stelle im Gelb für die
Stelle des reinsten Gelb hielt, während sie grünlichgelb ist. Ferner
soll die Grenze von Gelb und Grün = 33 c oder l = 534,7 sein.
Glücklicherweise hat nach Mascart's Bestimmungen die helle Thallium-
linie Tlla eben diese Wellenlänge, nämlich 534,88. Jedermann nennt
die Farbe derselben grün oder gelbgrün, hat das Element doch von
dieser grünen Farbe seinen Namen erhalten. Wenigstens wird Nie-
mand sie für einen beiden Farben gerecht werdenden Uebergang halten,
sondern jeder normale Beobachter das erhebliche Ueberwiegen des Grün
über das Gelb constatiren. Es muss also auch die wahre Grenze von
Gelb und Grün bedeutend näher bei D liegen , als Listing^s berechnetem
Farbenscala verlangt. In Bezug auf das Blau lässt sich in ähnlicher
Weise zeigen, dass die Berechnungen nicht genau mit der Beobachtung
stimmen. Vor allem kann nach meinem Dafürhalten neben Cyanblau
nicht Indigoblau als gleich berechtigte Hauptfarbc des Spectrum mit den
anderen figuriren. Indigoblau ist nicht so verschieden von Cyanblau
wie Grün von Gelb, wie Orange von Gelb, wie Roth von Braun oder
wie irgend zwei andere Hauptfarben des Spectrum. Man kann nur ein
Blau gleichwerthig neben diese setzen , welches weder cyanblau noch
indigoblau, sondern rein blau ist, und durch cyanblau, grünlichblau,
grünblau, blaugrün in grün einerseits, durch indigoblau, violettlich-
blau, violettblau, blauviolett, andererseits in violett übergeht. Aber
allein durch den Nachweis , dass tiSTiNc's Mitte des Gelb in Wirklich-
keit grüngelb ist, fällt sein Gesetz. Die Farben des Spectrum bilden
keine arithmetische Reihe.
Es folgt natürlich aus der Unrichtigkeit zweier Hauptfarbenbestim-
niungen, des Gelb und des Blau, nichts gegen die Richtigkeit der
übrigen sechs. Ich finde sie im Gegentheil so vollkommen mit meinen
eigenen Beobachtungen im Einklang (nur Lavendel getraute ich mich
384
W, Prcyar
der Lichtsdiwaihf negt^ii nicbt zu bustiiiiiinn}, dass ich sie ohne Aen-
deruiig iils Ausdruck moinor Versuche iiinstellen konnte, und ich Liii
überzeugt, dass jeder, welcher sor^nilUg und uubcfangeo prüft, hierin
zu denscIbcD Resultaten komnien wird. Uebrigcns bat Listinu von den
lU Gliedern seiner Reihe nur ü diroct geschätzt und die Übrigen daraus
berechnet, annehmend, es komme (in dem idealen Speclrum) j«der
Farbe dieselbe Breite in Schwingungszablen ausgedruckt zu, was iiii-
zulcissig, weil willkürlich, ist.
Eine weitere mächtige Stütze erhitll die milgolheillo Zusammon-
sleMung der Hauptfarben und ganzen Töne durch Fortsetzung derselben
auf die Uebergangs färben und halben Töne. Ohne den geringsLen
Zwang fügen sich diese wie jene dem Gesetz.
Töue
Scliwingunfjeii
Wmlu j in 1* BirnoB«»
Farben
Wellenlänge in
Milliont. Miliin).
Buispiole zurCoiilr.il.
c
1
388.S
brauB
7ttS,8
A-aß768. Linie J 760,;
r.is
Vi
iOt.i
roUibraun
737,7
dm
ii
ti9,i
braunroth
711,7
d
ü
436,7
roth
6«3,a
Linio B 686,7.
dis
H
(S4,»
ornn[;erolb
655,9
Linie C 6S6,i Hu.
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Tob 534,8.
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SMS, 3
grBn
51*. 4
Linie 6, 516,6%.
gis
606,6
611,1
Itluiigriiii
grünblau
491,9
4NN.i
f'c 491,9.
Linie f (66,0 Hß.
a
l
647,0
blau
461,1
Srcf 460.6 Cj.
iUs
W
673,9
violotlbluu
448,7
b
1
69M,7
blauvioIeU
4ä7,a
(•■fl 487,1 stark.
A
¥
787,9
Violett
4 OB. 9
Ity 410,1.
ce«
il
7(5,3
grauviülcll
400,3
n 400,4.
his
W
75j*,a
violellgrati
393,5
Linie Bi 393,3 Ca.
<■;
'
776,4
lavendelgrau
384,8
-
Von den Folgerungen, welche aus dieser Parallele der Sinnes-
Physioli^ie erwachsen, will ich hier nur eine andeuten: die Gültigkeit
des FECBNER'schen Gesetzes fUr Farben in ihrer Abh<lngigkeit von den
Schwingungszahlen. Bisher hat man allgemein behauptet, das psycho-
physische Gesetz gelte für Farben nur bezüglich der Amplitude der
erregenden Schwingungen , resp. der Intensität der davon abhUngigcn
Empfindung, nicht aber bezüglich der von der Oscillationszahl ab-
Die Verwandtscliatt der Töue nnd Farben. 385
hängigen Farbenqualität. Man konnte sich nicht einmal darüber Rechen-
schaft geben , inwiefern das ganze Gesetz durch eine solche Ausnahme
in Frage gestellt würde, zumal es für Tonhöhen bedingungslos gilt.
Durch die vorliegende Untersuchung fällt die Ausnahme fort, das
WEBER-FECHNKR'sche Gcsctz hat eine neue Anwendung gefunden.
Von den in ästhetischer Hinsicht wichtigen Consequenzen der Ta-
belle sei gleichfalls nur eine hier angeführt. Wenn auch nicht alle musi-
kalischen Consonanzen angenehme Farbcnzusamnionstellungen geben —
dies war nicht zu (m* warten — und sell)st umgekehrt nicht alle ange-
nehmen Farbenzusammenstellungen musikalische Consonanzen liefern,
so ist doch im Allgemeinen , wenn es sich um nur zwei Farben han-
delt, Schönheit und Hässlichkeit an dieselben Zahlen gebunden wie
Wohlklang und Missklang zweier Töne. Die consonirenden Intervalle
innerhalb einer Octave sind (IIelmiioltz, Tonempßndungen 4863,
s. 29i, :m].
die Quinte 72
die Quarte Y-,
die grosse Sexte Y:j
die grosse Terz ^4
die kleine Terz %
(die kleine Sexte ^5)
(die natürliche Septime Y4)
Alle anderen Intervalle innerhalb einer Octave sind dissonirende
und schon die beiden letzten (cingeklammertenj sehr unvollkommen.
Ebenso sind nun alle Farbenintervnlle Va» Vj» *V:» V4» Vs» (Vs)? (V4)
angenehm oder zum Wenigsten in malerischem Sinne erträglich, es
sind aber nicht alle anderen unschön, z. B. blaugrün und braun.
Sehr schöne Quinten sind Roth und Grün (^'/g), Violett und Orange 1}/^)^
Grün und Braun (^/(.), Orange und Blau ('/a) ; Quarten: Grün und
Roth (fl'/^), Blau und Orange (7^), Braun und Grün (^/^j, Violett und
Grüngelb (V/iJ? Orange und Violett (*•/*)• Grosse Sexten sind nament-
lich : Blau und Braun (^/\!} , Orange und Grün (»/J . Grosse Terzen : Grün
und Rothorange (^^J) Violett und Grün (^/J; kleine Terzen : Grün und
Orange (ö'/^), Grünblau und Gelb C^Y/) u- s. f. So geben alle Quinten,
Quarten, Sexten und Terzen angenehme oder erträgliche Farbenpaare.
Aber es ist diese Uebereinstimmung wahrscheinlich nur zufällig, da
auch andere Intervalle nicht immer das Auge beleidigen und im Allge-
meinen zwei Farben um so besser zusammenpassen , je weniger ihr
Schwingungsverhältniss von dem Schwingungsverhältniss zweier com-
plementärer Farben abweicht. Nun liegen die Schwingungsverhältnisse
.'liier einfachen complementären Farben innerhalb der Octave zwischen
386 . W. Preyer,
1,2 und 1,6^ umfasseD also die Quinte, die Quarte, die grosse und die
kleine Terz, die kleine Sexte. 'Die natttrlichste Erklärung des Wohl-
gefallens an Farbenpaaren dieser Intervalle scheint mir die Annahme
zu sein, dass durch je zwei Farben, welche zusammen Weiss geben, die
nach YouNG und Helmholtz vorausgesetzten dreierlei farbenempfinden-
den Nervenfasern in Summa nahezu oder ganz gleich stark erregt
werden, während beim Anblick schreiender Farbencombinationen eine
Nervenart, sei es nun die rothempfindende, die grUnempfindende oder
die blauempfindende, weit stärker als die beiden anderen erregt würde.
Wie es sich mit den'Farbenaccorden verhält, ist gleichfalls noch zu
ermitteln. Ich habe diese Untersuchung in Gemeinschaft mit meinem Bru-
der Ernbst Prbter in Rom erst angefangen. Eine Thatsache aber glauben
wir bereits feststellen zu können. Sie betrifft die dreistimmigen Accorde.
Wir fanden, dass nicht jeder Stammaccord ohne weiteres in Farben
übersetzt werden kann, sondern meistens einer Umlagerung bedarf,
wenn die den drei Tönen entsprechenden Farben nicht verletzen sollen,
und zwar ergab sich, dass es für die Duraccorde vorwiegend der Quart-
sextenaccord ist, welcher malerisch am meisten befriedigt oder die
malerisch einzig zulässige , beziehlich erträgliche Reihenfolge der drei
Farben liefert. Die Mollaccorde bedürfen hingegen weniger der Um-
lagerung. Uebrigens ist es beachtenswerth^ dass gerade die schönsten
Farbenaccorde auch den wohlklingendsten musikalischen Dreiklängen
entsprechen f z. B. die berühmte Zusammenstellung der italienischen
Maler:
Roth Grün Violett entspricht d g h (G-dur). Ferner
Orange Grün Braun ,, e g c, (C-dur)
Orange Blaugrün Rothbraun entspricht e gü eis, [Cis-moW)
Rothorange Grünblau Braun ,, es as c, (As-änr).
Ich will die Parallele hier nicht weiter ziehen, und beschränke
mich auf die wenigen, aus einer sehr grossen Anzahl beliebig aus-
gewählten'Beispiele, um zunächst die Aufmerksamkeit anderer auf den
Gegenstand zu lenken. Denn es kann auf diesem Gebiete nur durch
1) Ich habe wiederholt das negative Nachbild des Ultraroth, besonders des Braun
der Robidiumdoppellinie {Rb^hsiXss. ca 790,9 und Rby = 779 Lecoq) durch längeres
Fixiren auf schwarzem Grunde mir entworfen und es stets 'blaugrün mit etwas über-
wiegendem Grün gefunden. Also selbst an dem Spectrumende würden noch alle
drei farbenpercipirenden Nervenfasern gleichzeitig erregt werden. Die Thatsache,
dass Blaugrün das negative Nachbild- von Braun (auch von Käa) ist, macht eine
Schlussfolgerung Brücke's (Pogg. Ann. 74, S. 464, 462, 584) sehr zweifelhaft, der
zufolge Lavendelgrau das Complement von Braun wttre. Bei allen anderen Farben
sind die Complementärfarben und negativen Nachbilder auf Schwarz identisch.
Die Verwandtscbart der Töne and Farben. 387
Zusammenwirken Vieler und zwar durch gemeinschafUiche Tbätigkeit
der Physiologen, der Maler und der Musiker etwas erreicht werden.
Zum Schlüsse dieser Mittheilung, welche nur als eine vorläufige
anzusehen ist, sei eine andere bisher übersehene ^ aber physiologisch
sehr berücksichtigenswerthe Analogie der Farben- und Tonperception
einerseits, der Wahrnehmung von Licht und Geräuschen andererseits
erwähnt.
Es ist eine durch Max Schultzens glänzende Entdeckungen sicher
festgestellte Thatsache, dass von den Endorganen des Sehnerven in der
Netzhaut, die Zapfen allein die Farbenperception vermittein, die Stäb-
chen nur Hell und Dunkel unterscheiden. Es geht dies schon daraus
hervor, dass in der Nacht und Dämmerung thätigc, bei Tage ruhende
Thiere, z. B. die Fledermäuse, Igel, Mäuse, Maulwürfe, Eulen nur sehr
wenige oder keine Zapfen haben, hingegen den sonnige Flächen lieben-
den Eidechsen die Stäbchen gänzlich fehlen und die Retina der Tag-
vOgel äusserst zapfenreich ist. Ferner besitzen in der Yogelretina nur
die Zapfen farbige Kugeln, welche das Licht, ehe vs in Empfindung um-
gesetzt worden , passiren muss. Die Stäbchen sind sämmllich farblos.
Endlich enthält unsere Macula lutea, die Stelle, mit welcher wir Farben
am besten wahrnehmen , nur Zapfen. Die Sonderung der Zapfen und
Stäbchen nach ihrer physiologischen Function, wie sie Miix Schultzb
aufgestellt hat, ist in der That vollkommen begründet. (Ärch. f. mikr.
Anat. II, S. 2e^3. 1866.)
Im Ohre ist eine Sonderung der peripherischen Endorgane des
Hörnerven in zwei Formen gleichfalls nachgewiesen. Während der
Schneckennerv im Connex mit den GoRTi^schen Bögen und der Mem~
brana basilaris die Empfindung der reinen Töne vermittelt, kann der
Vorhofsast mit den von Max Schultzb entdeckten Hörhärchen und den
Otolithen nicht dazu dienen , Musik als solche empfinden zu lassen , er
vermittelt höchstwahrscheinlich nur die Empfindung von Geräuschen
(Helmholtz, Tonempfindungen 4 863. S. S18. 919.)
Wie nun reine Töne auf gleichmässigen periodischen Schwingungen,
Geräusche auf einem Wechsel solcher einfachen periodischen Schwingun-
gen beruhen, so kann man auch von reinen Farben sagen, sie beruhen
auf gleichmässigen periodischen Schwingungen , weisses Licht aber auf
einem fortwährenden Wechsel solcher einfachen, es zusammensetzenden
regelmässigen Schwingungen. Man erkennt auch die Zusammensetzung
in beiden Fällen, das Ohr mit dem Resonator, das Auge mit dem Prisma.
Jenes zerlegt die Geräusche in Töne, dieses das Licht in Farben.
Ebenso wie wir durch Töne künstlich Geräusche zusammensetzen
können, sind wir im Stande, durch Mischen der Farben farbloses Licht
38S W. Pnm, Die WrwiiTiiltBcbRft in TOnc nnd FitrHen.
zu erzpiigtm und ebenso wie bfti der Perceplion dieses Lichles die
färbe II percipiren den Eiemenic (die Zapfen; mitwirki;n müssen, weil sie
die einfachen Besl^ndtbeile desselben percipiren, so muss auch bei
jedem GiTfluschi:' die nbgestimml^* Membrana basilnris' mitschwingen,
weil die Gerüusche aus Tünen KusammengeseUt sind. Aber das um-
gekehrte findet nach dieser Anschauung sowohl im Auge, wie im Ohre
in viel geringerem Grade oder gar nicht statt. Wird eine isolirte reine
Farbe empfunden, so sind nur die Zapfen thMlig, die Stäbchen ruben;
wird ein einzelner reiner Ton gehört , so werden nur die Endigungeii
des Schneclienastes unseres Hörnerven erregt, die des Vorhofsastes
ruhen.
Der Vergleich ist so wahrsüheinlieh, dass ich ihn trotz mangelnder
experimenteller Begründung — wclihe vurlüuflg unausführbar ist —
wenigstens andeuten durfte.
') Neuerdiu)^ hnt Hrlkiidlti iluri wiiliUpPii Ne(lln(>l^(^cllcfl rt das« die primdr
riiilsdhwingoiidBn Theiio im Ohre imht wip er Tiuher fui moglii li hielt die Coh-
Ti'schun Böigen sein kOnnen, da diese nach C Haese den bügeln fehlen viclmcbr
die sehr verschieden dicke und 2um Mitschwingen trefflich fteeittoete MembrnnH
hsfjilarts der Schnecke jene Holle tlhrrnehmeii kann (Heidelberger nalurhislor
Verein 23. Juni IBfiBl wie es IIehsen Tupriil nufspracli
Kleinere Mittheilungen.
ZMchemische MittheiloHgeH.
Von
E. Reichardt.
Blut und Harn bei L^nkaemie.
Die Uotersuchun;; beider Flüssigkeiten von nn Leukaemie Erkrankten ist sclion
wiederholt vorgenommen worden , jedoch sind die mir zu Gebote stehenden Ver-
öffentlichungen nur gering an Zahl und mehrfache Angaben noch zu bestätigen , so
dass ein .weiterer Beitrag nicht unerwünscht sein dürfte. Das Material verdanke ich
der freundlichen Uebermittelung durch Prof. Gerhardt.
Scherer 1 fand im Blute Leukaemischer 4) einen dem Leim ähnlichen Körper,
2) einen ei weiss- und leim ähnlichen, 3)Hypoxanthin, welches er scho/i
früher in der Milz erwiesen hatte und von Gerhardt ^ im Ochsenblute nachgewiesen
worden war, 4) Ameisensäure, Essigsäure und Milchsäure, gleichfalls
von ihm früher in der Milz erkannt. Eine spätere Untersuchung gleichen Blutes
ergab Scherer Hypoxanthin , Harnsäure, Milchsäure, Leucin und Ameisensäure 3.
PoLWARCZifY^ fand nach Scherer's Methode in gleichem Blute nur Milch- und Amei-'
sensäure , auf Essigsäure konnte nicht geprüft werden , aber weder Leim , noch
Leucin, oder H^-poxanthin. Mosler und Körner^ untersuchten Blut, durch Aderlass
einer leukaemischen Person entzogen, und fanden darin Eiweiss, Glutin, Harn-
säure, Hypoxanthin^ Ameisensäure und Milchsäure, Essigsäure
konnte nicht nachgewiesen werden. Dieselben Forscher unterwarfen jedoch auch
gleichzeitig den Harn der Untersuchung, fanden jedoch »keine sehr wesentlichen
Abweichungen in den Mengenverhältnissen der normalen Harnbestandtheile , der
Art, dass daraus auf ein der Leukaemie zukommendes, besonderes Verhalten ge-
schlossen werden dürfte«. Mosler veröffentlicht endlich 4866® verschiedene Prü-
fungen des Harn's an linealer Leukaemie leidender Personen und es gelang , darin
I) Yerliandl. dar physic. med. GesellHchftft zu WOnbnrg 1852, Bd. II, S. :ril.
<) AbendM. a. 290.
*) pbendM. 1857, Bd. TU, 125; Archiv ffir pttbol. Anatomie v. ViK<riiuw Bd. XXV, lH(i2, B. 142.
«) Wien, medic. Zeitschrift 1H58. Nro. 29-31.
») ViRüUow^ Archiv lgf>2, Bd. XXY, S. 142.
•) ViBCHow'8 Archiv Bd. »7, S. 4:{.
'Bd. V. 8. 26
390 ^t Relchardt,
stets auch Hypoxanthin nachzuweisen. Die Bestimmungen anderer Bestandtheile,
wie Harnsäure, Harnstoff u. s. w., ergaben keine besonders abnormen Verhältnisse.
In dem vorliegenden Falle wurden Harrt und Blut auf die hier in Frage ge-
stellten wichtigen Bestandtheile geprüft und folgende Resultate erhalten :
Hamnntersuchiiiig.
48. Dec, Tagesquantität 4300 C. C.
Harnstoff = Ä,5 Proc. = pro Tag 32, 5 grm.
Harnsäure = 0,08 Proc. = pro Tag 4,04 grm.
4 9. Dec, Tagesquantum 950 C. C.
Harnstoff = 2,85 Proc, pro Tag 27 grm.
Harnsäure = 0,4 4 Proc, pro Tag 4,04 grm.
24. Dec, Tagesquantum 4 050 CO.
Harnstoff = 2,64 , pro Tag 27;4 grm.
Harnsäure = 0,062, pro Tag 0,65 grm.
Schon vor diesen Bestimmungen waren ein Paar Untersuchungen desselben Harns
auf Hypoxanthin ausgeführt worden und zwar sowohl nach der von Scherer an-
gegebenen Methode mittelst Baryt u. s. w., wie nach der von Körner befolgten
(ViRCHow's Archiv Bd. 25, S. 448) durch Auskochen des eingedunsteten Urins mit
Alkohol u. s. w. Auf keine dieser Weisen konnte bei den wiederholten Prüfungen,
von 400 C. C. Harn und mehr, Hypoxanthin nachgewiesen werden.
Harnstoff und Harnsäure finden sich nach den erhaltenen Resultaten in
reichlichem, jedoch normalem Verhältnisse vor ; die Menge der Harnsäure ist gegen-
über dem Harnstoff etwas gesteigert, eine bei Leukaemie oft beobachtete Erschei-
nung. Die Reaction der Urinproben war saqer, Eiweiss nicht vorhanden.
Blut.
Von frisch entnommenem Blute wurden mir 2 Proben ^^ur Verfügung gestellt,
davon eine leider nicht auf Hypoxanthin geprüft werden konnte, die zweite war so-
fort nach Entnahme mit Alkohol versetzt worden.
Die erste Probe wurde nach Verdünnen mit Wasser durch Kochen von den Ei-
weisskörpern befreit, die nunmehr sich sehr leicht scheidende Flüssigkeit ergab mit
Salpetersäure keinen Niederschlag, dagegen mit Gerbsäure reichlich die Fällung des
Leims, dessen Gegenwart überhaupt durch die verschiedenen Reactionen er-
wiesen wurde.
Bei dem Verdunsten der wässrigen Flüssigkeit verhielt sich dieselbe analog
dem Leim , eine weitere Abscheidung eines Eiweiss ähnlichen Körpers (Scberer)
konnte nicht beobachtet werden.
Mit Schwefelsäure destillirt, wurden in dem Destillate deutlich die Reactionen
der Essigsäure erhalten , nicht diejenigen der Ameisensäure ; zweifelhaft waren
die Prüfungen auf Milchsäure.
Die zweite , direct mit etwa der doppelten Menge absoluten Alkohols versetzte
Blutprobe mochte etwa 30 grm. Blut betragen haben; die alkoholische Flüssigkeit
war klar, ziemlich farblos, die abgeschiedenen Theile sahen wie durch Kochen ge-
ronnenes Blut aus. Es wurde filtrirt und das Filtrat im Wasserbade zur Trockne
verdunstet, die geronnene Blutmasse aber nach Scherer in kochendes Wasser einge-
tragen und die niin^coagulirten Theile gleichfalls durch Fiitriren getrennt. Die zuerst
erhaltene alkoholische Lösung ergab sehr .wenig Rückstand , mit demselben wurde
nunmehr das wässrige Filtrat der Blutmasse vereint und abermals zur Trockne im
Zoocheinische Mittbeilnn^ou. 391
Wasserbade gebracht; eine Bildung von Häuichen wurde nicht beobachtet. Der
Rückstand wurde mit starkem Alkohol behandelt , wodurch eine weisse , flockige
Abscheidung eintrat, abfiltrirt löste sich letztere bis auf wenige Flocken E i w e i s s
völlig in Wasser auf und ergab eingetrocknet
0,423 grm. Leim,
wenigstens stimmten die bekannten Reactionen völlig damit überein.
Das alkoholische Filtrat wurde zur Entfernung des Weingeistes verdunstet und
der Rückstand mit Schwefelsäure versetzt, wodurch ein gelbes Pulver sich ab-
schied, welches auf gewogenem Filter gesammelt und nach dem Trocknen bei 4 OO^C.
gewogen 0,055 grm. Substanz ergab. Die Prüfung mit Salpetersäure und Kali er-
gaben unzweifelhaft die Reactionen auf Hypoxanthin.
Das Schwefelsäure haltende Filtrat wurde der Destillation unterworfen, das
Destillat reagirte sauer, reducirte Silberlösung und färbte Eisenchlorid =Ameisen-
säure; die Prüfungen auf Essigsäure waren sehr zweifelhaft.
Der Destillationsrückstand wurde mit reinem kohlensauren Kalk neutralisirt
und das wässrige Filtrat zur Trockne verdunstet , in dem Rückstande Hessen sich
mikroskopisch keine Kristalle von milchsaurem Kalke erkennen , auch traten sonst
keine Reactioneu auf Milchsäure ein , dagegen hinterblieb in reichlicher Menge ein
anderer stickstofThaltender Körper, dessen Eigenschaften genau mit einem Zcr-
setzungsproducte des Albumins übereinstimmten, welches Theile^ bei der Ein-
wirkung von Kali erhielt und das ich vorläufig, der Abstammung wegen mit dem
Namen A 1 b u k a 1 i n , bezeichnen will.
Theile', damals Assistent bei mir, untersuchte auf meine Veranlassung die Ein-
wirkung von Kali auf Albumin und Vitellin , namentlich um die Menge des dabei
auftretenden Ammoniaks zu ermitteln u. s. w. Unter den Zcrsetzungsproducten
fand er einen Körper, welcher in absolutem Alkohol schwer löslich, in starkem Al-
kohol {900/q) vollständig löslich war; die Menge desselben mochte wohl gegen
42-^45 Proc. des genommenen Vitellins betragen. Dieser Körper stellt getrocknet
eine bröckliche, braune Masse dar, verbrennt mit dem Geruch der Eiweisskörper
und zeigt sich, in dünnen Schichten eingetrocknet, unter dem Mikroskope sehr
krystallinisch , den bekannten Efflorescenzen von Salmiak sehr ähnlich, jedenfalls
regulär , so dass man zuerst an die Gegenwart von diesem Ammoniaksalz glaubte,
bis die vollständige Abwesenheit von Ammoniak überhaupt erwiesen wurde.
»
Theile fand den Körper frei von Schwefel und erhielt die Formel C^HSNO^+HO,
welche derjenigen des Glycocolls nahe zu stehen scheint :
Albukalin = CSHSNO« + HO.
Glycocoll =C*H*N03 + H0.
Vielleicht spielt das Albukalin eine ähnliche Rolle bei der Einwirkung von Kali
auf Albumin , wie das Glycocoll als Zersetzungsproduct der leimgebenden Materie
auftritt.
Die von Theile erhaltenen Reactionen, abgesehen von der Krystallisation, sind :
Die wässrige Lösung reagirt schwach sauer und giebt mit
4) schwefelsaurem Kupferoxyd eine intensiv smaragdgrüne Färbung,
aber selbst nach längerem Stehen keine Fällung ;
2} salpetersauremSilberoxyd eine weisse, flockige, bald braun-Violett
werdende Fällung;
1) Dies. Zeitschrift 1867. Bd. 3, 8. 173.
26*
392 ^" Hnchiircil. /nwlipinisciic MiKlipiliiiiKfii.
3) Platinchlnrid einen flockigen, Reiben Niederschlag;
4)SHtpetersaureDiQuccksilliproxyd einen sehr voluminösen, flockj-
gen, weissen Niedersclilag.
Aetznalron bewiriil nacii einigem Sieben einen weissen Niederschlag,
Sämmtliche Reactionen traten bei dem obigen Kürper, aus dem Blute Leukae-
misclicr erhalten, deutlich auf und eine Prüfung auf Ammoniak ergab die Abwesen-
heit desselben.
Zu der Destillation, um EüsigsHure und Ameisensäure zu erhalten, war nur ein
Thcil der SchweretsSurc haltenden Flüssigkeit verwendet worden , die zweite Por-
tion wurde nacbtrSglich ebenso behandelt und gleichfalls die Gegenwart von Amei-
sensäure erwiesen. Der Destittationsrtickstand , wie oben mit reinem kohlensauren
Kalk neutrslisirl, Hess abermals nach dem Eindunslen die charakterlsliscfaen For-
men des milcbSBUren Kalkes nicht erkennen, dagegen zeigten sich würfelige
Formen, welche bei wiederholter LOsung und Kryslallisation in dieselben salmiak-
ahnlichen Kryslalle übergingen und alle Reactionen der LOsung wieder gaben , wie
sie von dem Albnkalin bemerkt worden sind.
Da das Albukelln in bedeutender Menge als Zersclzungsproduct des Albumins
oder Vilellins durch Kali erhalten wurde , liegt die Folgerung nahe , dass es Öfters
in den Flüssigkeiten des tblcrlschen Organismus vorkommen mäge , analog den an-
deren schon bekannten Körpern , Leucin , Tyrosin etc. , und fordert diese Nachwei-
sung zu weiteren Prüfungen auf.
Die Blut- und Harnuntersuchungen führte mein Assistent, Herr Scbeerhesser,
Zusatz.
Blut und Harn, deren Untersuchung l;lerr College REicnAHDT vornahm, stammen
von einem (Bjahrigen Manne, der früher dem Branntweingenusse ergeben, als Oe-
konom öfteren Erkaltungen ausgesetzt, ohne weitere bekannte Ursache seit drei
Jahren Athemnoth bekam , die im Winter sich steigerte. Juni 1S68 bcmerkt^man
zuerst bei einer ärztlichen Onlersucbung Anschwellung des Unterleibes. Seither
Zunahme dieser Erscheinung, Entkreflung, Oedem der F'Usse, Neigung zu Diarrhoe.
Bei det Aufnahme am 45. Dec. 186S fand man die Milz der MiLlellinie als grosse
Geschwulst um 1),8Ctm. nach rechts überragend, an verschiedenen Stellen tS — 24
Ctm. breit, keine LymphdrUsenansch wellung. Das VerbSItnlss der weissen zu den
ratbcn Blutkörperelien ergab sich wie i : S,S1 — i : 2,66, Die Behandlung bestand
in Eisen innerlich und kalten Douchen in der Uilzgegend. Letztere verkleinerten
den Umfang der Milz messbar. Der Kranke verlicss nach wenigen Tagen die Klinik
wieder. —
Rleetrol?tiselie Versnclie.
4
Von
Dr. Paul BurckharcL
Die Electrolyse wurde meistens in kleinen Porzeliantlegeln ausgeführt ; für die
Scfiwefelverbindungen wurden gebogene Glasröhren benutzt, welche unien für die
Pole kleine Aussackungen hatten. Als Erzeuger des Stroms dienten sechs , nur in
einigen Fällen zwölf BrifSEN'sche Elemente; als Leitungsanzeiger das einfache
Schwefelsäure-Voltameter. Als Pole wurden meist Platin- oder Kupferdrähte , bei
den Schwefelverbindungen aber Stifte aus dichter Gaskohle angewandt. Die Electo-
lyse der schwer schmelzbaren Verbindungen wurde über der Flamme eines Glas-
bläsertisches ausgeführt.
Wismuthoxyd: Bi^O^, leitet nur, wenn es geschmolzen ist, nicht im unge-
schmolzenen Zustande. Wendet man als Pole Kupferdrähte an , so ist nach kurzer
Einwirkung, während welcher an der Anode SauerstofTentwickelung stattfindet, die
Kathode mit metallischem Wismuth überzogen. Bei Anwendung von Platindrähtcn
schmilzt das an der Kathode gebildete Wismuthplatin ab.
Borax: B*0''Na2. —Nach den Versuchen von Capschiit und Tichanowitsch *
leitet wasserfreie Borsäure selbst den Strom von 950 Elementen nicht; gewöhnliche
käufliche Borsäure, welche natronhaltig ist, leitet dagegen den Strom schon bei
Anwendung von 4 0 Elementen. Geschmolzener Borax leitet auch einen noch
schwächeren Strom ziemlich pul, nn beiden Electroden entwickelt sich dabei Gas,
wie schon Faradat angiebt. Das an der Anode entwickelte Gas ist Sauerstoff, das
an der Kathode dagegen ein solches , welches an die Oberfläche des geschmolzenen
Borax angekommen , mit gelber Flamme verbrennt. Gleichzeitig überzieht sich die
Platinkathode mit einem schwarzen , losen Ueberzug. Kocht man mit Wasser aus,
so hinterbleibl eine schwarze Masse vom Au.ssehen des amorphen Bors , welche er-
hitzt wie dasselbe verglimmt und zu Borsäure verbrennt. Ausserdem bildet sich
Borplatin von so grosser Härte , dass es Glas ritzt. Das an der Kathode zugleich
mitauftretende und mit gelber Flamme brennende Gas konnte nichts weiter als Na-
triumgas sein ; es fragte sich nur , ob die Ausscheidung des Natriums unter diesen
Umständen vom Strom bewirkt sei oder aber ob vielleicht das Natrium ein durch
die Einwirkung von Bor, resp. Borplatin auf geschmolzenen Borax erzeugtes Neben-
product .sei. Der Versuch hat die letztere Annahme als die richtige ergeben : denn
es tritt genau das nämliche Gas und die nämliche mit etwas Geräusch verlaufende
Verbrennungserscheinung auch ohne Mitwirkung des Stroms ein, wenn Borplatin in
geschmolzenen Borax getaucht wird. Die Electrolyse des Boraxes verläuft demnach
M Jakresb«r. f. 1861. S. 4».
394 P«iil Biirckhiird,
Bo, dnas derieihe durch den Slrom von Tünf Elementen in Nntriumosyd , Sauerstoff
nnd Bor zorfüllt. Das Natriumoxyd dient , kann man sagen, nur dazu, die Borstiare
zum Eiectrolylen zu macKen, erloidet seibsl aber lieine ZorsülEung,
Aehnlich dem Borai verhalten sich die Natriumphosphate , nHmlich das Pyro-
pbospliat und Mutaphosphal. Das gewöhnliche Nalriumphosphat ist unschmelzbar
und leitet selbst glühend den SlroDi nicht.
Nalrium-Pyrophosphal, PSQ'Na*. — An der Anode findet starke Sauer-
slofTentwickelunR statt, an der Kathode ist ebenfalls Gasenlwickelung bemerkbar.
Die Blasan des Gases enlzundcn sich an die Luft tretend und verbrennen mit gelber
Flamme, ganz wie es bei der Elcotrolyse von Borax der Fall ist. fileichieiti|i ent-
steht Phospborplalin , welches nacb einiger Zeit als Kugel vom Draht abschmilzt.
Eine solche isolirle Kugel enthielt 9i Proc. Platin und 6 Proc. Phosphor. Die
Eiectrolyse verläuft hier also der vom Borax analog : der Strom zerlegt das Salz in
Sauerstoff, Phosphor und Nalriumonyri, von welchem ein Thcil durch Phosphor re-
ducirt wird. ' •
Nairium-Metaphosphal, POSNa, verhall sich genau so wie das Pyro-
phosphat. Bei Anwendung einer Kupferkathode wird dieselbe stark anKCgrilTen und
Bufgelüst; gleichzeitig bildet sich glänzendes, hetlkupferfarbenes hts silberweisses,
sprödes, hrystallinisch erseheinendes Phosphorkupfer.
Natrium-Wolframiat, WoO'Na^, leitet geschmolzen den Strom. Am po-
sitiven Pol tritt SauerstotTgasentwickelung ein , wahrend sieh am negativen Pol eine
feste kryatallinische Masse abscheidet, durch die das vorher leichtflüssige Salz dick-
tllissig wird. Dabei wird der Platindrbht nicht angegriffen. Nach dem Lösen des
unzersetzlen .Salzes in warmem Wasser, dem etwas Ammoniak zugeselzl worden
war, blieb ein blaues, schweres, krystallinisuhes Pulver, das sich durch die Anaty.se
Bis blaues Wolframoiyd : WO^ erwies, 0,1673 grm. desselben veiwendeltcn sich
beim Glühen in D,3660 grm. Wolfram.süure [her. Q.S66B grm.]. — Demnach verhall
sich dasNatrium-Wolfraraiat analog der von Buff .eleclrolysirlen Molybdän- und
Vanadin saure '.
Natrium-Carbonat, CIPNa«, leitet den Strom sehr gut und wird henpt-
söchlich in Kohlensaure und Nalriumoiyd unter geringer Abscheidung von Kohle
zerlegt. Dabei ist die Gasentwickelung an der Anode so heftig, dass Theile des ge-
schmolzenen Salzes aus dem Tiegel geschleudert werden.
llalbschwcfct kup fer, Cu~S, durch Erhitzen etwas zusammengesintert,
leitet den Strom , ohne zersetzt zu worden , in gleicher Weise . wie wenn es kalt
angewandt wird.
Biantimon-Trisulfid, Sb^S^, leitet den Strom und wird dabei zerlegt in
Schwefel und Antimon , welches letztere beim LOsen des unzersetzlen Schwefel-
antimons in Kalilauge zurückbleibt.
n. d. Chem, n, Phinn. Dil. CX. S. ZiO IT.
. Electrolytiscbe Versuche. 395
Analyse eines Bronee- Ringes ans einem heidnisehen Grabe bei
Tirsehneck, nahe Cambnrg.
Von
Demselben.
Der ovale Ring war mit einer dicken Rinde Biatachit bedeckt , deren qualitative
Untersuchung neben Kupfer nur Spuren von Zinn ergab. Er wurde zuerst mecha-
nisch alsdann mit Hülfe von Essigsäure und verdünnter Salz- und Salpetersäure
vollständig davon gereinigt. Die Farbe des Metalls war die einer hellen Bronce.
Die Analyse ergab neben Kupfer und Zinn nur eine geringe Menge von Eisen.
Angewandt wurden 0,4694 grm. Substanz, welche mit einer Feile aus der innem
Seite des Rings herausgefeilt worden waren. Erhalten wurden 0,4490 grm. Zinn-
oxyd, entspr. 0,4474 grm. = 25,03 Proc. Zinn, ferner 0,0035 grm. Eisenoxyd,
entspr. 0,00463 grm. = 0,85 Pro^;. Eisen und 0,4884 grm. Kupferoxyd, entspr.
0,8498 grm. = 74,58 Proc. Kupfer. — Die Bronce enthält demnach:
Sn = 35,08
Fe = 0,35
Cu = 74,58
99,96,
sie besteht also fast genau aus 4 Th. Zinn und 3 Tb. Kupfer.
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Heber das Skelet der GliednaasseH der Wirbelthiere in Allge-
neiHei ud der HiBtergliedfliaasseH der Selachier iHsbesoadere.
Von
C. Oegenbaur.
(Mit Tafel XV u. XVI und 7 Holzschnitt-Figuren.)
In vorliegender Arbeit soll eine Reihe von mir bezüglich der
Gliedmaassen-Skelete der Wirbelthiere unternommener vergleichend-
anatomischer Untersuchungen eine Ergänzung , und auch , soweit dies
für jetzt möglich, einen gewissen Abschluss finden. Durch die von
einer kleineren Abtheilung aus begonnene , im Laufe der Jahre über
grössere Kreise ausgedehnte Untersuchung der bezüglichen Theile,
ward ich in einer dem Umfange des Forschungsgebietes stets adaequa-
ten Weise zurErkenntniss des Zusammenhanges der, für sich betrachtet,
oft sehr complicirt erscheinenden Bildungen geführt, und diese Er-
kenntniss hat sich nach Beendigung der hier mitzutheilenden Arbeit
mir noch vollständiger erschlossen. Je mehr die Gliedmaassen Oi^ane
sind, an denen die Anpassung an äussere, die Lebensweise df s Orga-
nismus bedingende Verhältnisse tiefgreifende Modificationen hervorruft,
desto wichtiger muss es sein, aas der Menge dieser Umwandlungen das
Gemeinsame herauszufinden.
Die Untersuchung des Skelets der hinteren Extremitäten von
Reptilien liess mich zuerst die schwierigen Verhältnisse des Fuss-
skelets der Vögel vergleichend beurtheilon und durch die Entwicke-
lungsgeschichte desselben gab sich zwischen beiderlei Abtheilungen eine
bedeutungsvolle Verbindung zu erkennen. In den Hinterglicdroaassen
einer den Reptilien beigezählten fossilen Form — Compsognathus
longipes — konnte eine Mittelstufe zwischen Reptilien- und Vogel-
fuss gezeigt werden^). Da die wichtigsten Eigenthümlichkeiten jener
4) Vergleichend anatomische Bemerkungen über das Fussskelet' der Vögel.
Archiv f. Anat. u. Physiol. «868. S. 450— 47 J.
Bd. V. 4. 27
GUedmaassen im Verhalten des tarsalen Abschnittes sich ergeben hatten,
ward eine Ausdehnung der Untersuchung auf den Tarsus anderer
Reptilien nicht nur, sondern auch der Amphibien und Säuge—
thiere veranlasst, welcher Untersuchung eine gleiche bezüglich des
bis dahin ebenfalls wenig beachteten Carpus sich anschioss^). — Es
hatte sich darin eine gewisse Gleichartigkeit der ersten Bildung des
Fuss- und Armskelets herausgestellt, welche Gleichartigkeit durch
divergente Difierenzirung von beiderlei GiiedmaasBen sieh auflöste. Die
urodelen Amphibien, dann unter den Reptilien die Schildkröten, liessen
die Uebereinstimmung der Skeletbildung von beiderlei Gliedmaassen
am vollständigsten erkennen. So konnte eine Grundform des Glied-
maassen-Skelets aufgestellt werden ,. def en Modificationen in Vorder-
und Hintergliedmaasse von den Amphibien bis zu den Säugethieren
nachweisbar war.
Mit jener Grundform waren die Gliedmaassen der Fische nicht
zu vereinigen. Es fand sich eine bedeutende Kluft, deren Ueber-
brückung um so schwieriger schien, als selbst die Verhältnisse der die
Gliedmaassen tragenden Skelettheile der Fische unverständlich waren,
und sogar Theile des Brustgürteis als Abschnitte des Armskelets be^
trachtet wurden. Daraus ergab sich die Nothwendi^eit einer Unter-
suchung des Schultergttrtels der Fische. Erst nachdem sich die letzteren
Theile als Bestandtheilen des Schultergürtels der höheren Wirbelthiere
«i ^ vergleichbar herausstellten, war die Vergleichung der freien Gliedmaasse
möglich. Die dem Gliedmaassengürtel angefügten, die Gliedmaasse
selbst stützenden Skelettheile in strahlenartiger Anordnung wurden als
Multipla des gesammten l^elets der bezüglichen Gliedmaassen der
höheren Wirbelthiere aufgefasst. Arm- und Fussskelet erschienen' so
als einfache Gebilde, die unter den Fischen bei den Selachiem je durch
zahlreiche bomodyname Theile vertreten sind, und bei Ganoiden und
Teleostiern eine Rückbildung von der Peripherie her erlitten. Die Be-
ziehung des Brustflossenskeiets zum^Armskelete der höheren Wirbel-
thiere konnte demnach nur durch Annahme einer bei letzteren au^e-
tretenen Reduction verstanden werden ^) .
Durch die Kenntniss einer grösseren Anzahl von Brustflossen-
skeleten aus allen Hauptabtheilungen der Fische, gestaltete sich jene
noch sehr unbestimmte Vorstellung vom typischen Baue der Brustflosse
4) Untersuchungen zur vergleich. Anat. d. Wirbelthiere. I. Carpus und Tarsus.
Leipzig 4864.
9) Ueber den Brustgürtel und die Brustflosse der Fische. Jeoaische Zei*
Schrift. Bd. II, S. 424—425.
-M
lieber das Skelet der Gliedinaassen der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 399
zu einer mehr concreten Form *). Bei den Selachiern (Und bei Chimären)
wurde gefanden, dass eine bestimmte Anzahl von Skeletstttcken die
Verbindung mit dem SchultergOrtel vermittelt, drei Basdliä, die je
eine Anzahl der knorpeligen Flossenstrahlen tragen. Danach wurden
drei Abschnitte am gesammten Plossenskelete unterscheidbar : Pro-,
Meso- und Metapterygium. Der letztere Abschnitt ergab sich als d^r
constantere. Aus leicht verstandlichen Modißcationen dieser Einrich-
tungen konnte das Flossenskelet der Ganoiden, und von diesen wieder
jenes der Teleostier sammt seinen zahlreichen Umformungen abgeleitet
werden. Es eröflhete sich aber auch ein besseres Verständtiiss der
verwandtschaftlichen Beziehungen zum Gliedmaassenskelele der höheren
Wrrbcdthiere. Durch die Erkenntniss von zwei sich verschiedeh ver-
haltenden Elementen im Flossenskelcte der Selachier, nämliöh der Ra-
dien und der BasalstUcke, die als Radienträger fungiren, war der erstö
Schritt zu jenem Yerständniss geschehen. Wenn das Metapterygium,
welches in der Selachierflosse aus einer an das Basale sich anschlies-
senden Reihe von Knorpelstüoken (der Stammreihe] und lateral daran-
gelügten Radien besteht, der constanteste Abschnitt ist, somusste.ihm
eine grossere Bedeutung zukommen als den beiden anderen Abschnit-^
ten. Es stand zu erwarten, demselben Theile wieder im Gliedmäassen-
skelete der höheren Wirbelthiere zu begegnen. Die Homologie des
letzteren mit einem Theile des Brustflossenskelets der Selachier konnte
begründet werden, wenn im Gliedmaassenskelet der höheren Wirbel-
thiere eine mit einem Basale beginnende Stammreihe und dieser late-
ral angefügte Radien gleichfalls nachgewiesen werden konnten. Der
Nachweis dieser Einrichtung vnirde geliefert. Damit war die Continuität
der gesammten Gliedmaassenbildungen der Wirbelthiere dargelegt, und
es war namentlich die lange vermisste Verknüpfung der niederen Form-
zusUlnde mit den höheren aufgefunden. Meiner damaligen Auffassung
zufolge war die Grundform des Gliedmaassenskeletd der höheren Wirbel-
thiere im Verhältnisse zur Selachierflosse etwas Rückgebildetes ; sie war
nur aus dem Metapterygium hervorgegangen, indess Pro- und Mesopte-
rygium der Selachier gänzlich verschwunden waren*). Der Ausbil-
1) Untersuchungen zur vergleich. Anat. d. Wirbelthiere. IL 4. Schultergürtel
d«r Wiri)eUhiere. 3. Brustflosse der Fische. Leipzig 1865.
i) In dieser Weise habe ich mich auch noch in meinen Grundzügen der vergl.
Anat. Zweite Auflage. S. 687 geäussert. Indem ich ausführte, dass das Glied-
maassenskelet d^r höheren Wirbelthiere aus dem Metapterygium der Sela6hier ab-
geleitet werden könne, habe ich nichts von meiner gegenwärtigen Auffassung
*^eciell Abweichendes ausgesprochen. Die, wie weiter unten dargelegt werden
einzige Differenz liegt darin, dass ich die Gliedmaassen der höheren Wirbel-
i7*
400 C. Gegenbaur,
dungsgrad des gesammten Flossenskelets hatte sich aber schon inner-
halb der Abtheilung der Selachier sehr verschieden ergeben. Durch
die ansehnliche Entwickelung des Propterygiums bei den Rochen er-
schien das Flossenskelet bei diesen vollständiger als bei den Haien,
und demnach mussten, in der Voraussetzung, dass eben jene drei Ab-
schnitte primitive seien, im Flossenskelete der Haie Rückbildungen an-
genommen werden. Das war in Anbetracht der aus dem übrigen
Verhalten beider Selachierabtheilungen hervorgehenden gegenseitigen
Beziehungen etwas Befremdendes, und ich gestehe, dass mich das Un-
natürliche der Ableitung der Haie aus Rochenformen als Consequenz
jener Auffassung oftmals gestört hat.
Eine anderweite Lösung war aus dem im Brustflossenskelete der
Selachier vorhandenen Befunde nicht leicht zu finden. Ais aber auch
in dem einer specielleren Vergleichung unterzogenen Gliedmaassen-
skelete von Plesiosaunis und Ichthyosaurus wiederum nur auf das
Metapterygium beziehbare Einrichtungen gefunden waren i) und be-
sonders bei letzterem manche auf niedere Zustände verweisende Ein-
richtungen sich ergaben, schien mir nothwendig, die Untersuchung der
Selachiergliedmaassen durch sorgfältige Prüfung der hinteren Extremität
zu vervollständigen. Diese zum Theil schon früher vorbereitete Arbeit
war nun im Stande, die oben angeführte Schwierigkeit zu lösen, und
hatte, im Zusammenhalte mit meinen älteren Untersuchungen über das
Gliedmaassenskelet, das Ergebniss der Aufdeckung einer für sämmt-
liche Wirbelthiere geltenden Grundform dieses Skeletcomplexes.
Ich habe meine Arbeit in folgende Abschnitte getheilt :
4) Das Skelet der Hintergliedmaasse der Selachier.
2) Vergleichung der Skelete der Gliedmaassen der
Selachier. Nachweis der Grundform für beide.
3) Differenzirungserscheinungen im Gliedmaassen-
skelete der Selachier.
3) Das Archipterygium als Grundform des Glied-
maassenskelets der Wirbelthiere.
thiere in Beziehung auf die Selachier nicht als durch Reduction entstanden ansehe,
vielmehr in beiden eine in divergenter Weise vollzogene Weiterentwickelung aus
einer gemeinsamen Grundform erkennen muss.
4) Heber das Gliedmaassenskelet der Enaliosaurier. Jenaische Zeitschrift
Bd. V, S. 332—349. (Auf der beigegebenen Tafel (XIII) ist Fig. 4 als Fig. 3, Fig. %
als Fig. 1 und Fig. 3 als Fig. S zu bezeichnen , in Uebereinstimmung mit der Auf-
führung im Texte.)
Deber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 401
1) Das Skelet der HintergliedmaaMen der Selaehier.
Die Untersuchung des Skelets der hinteren Gliedmaassen der Se-
laehier beginne ich mit jenem der Haie. Die Verbindung mit dem
Beckengttrtel vermitteln zwei Knorpelstttcke, von denen das eine, län-
gere, sich zum grOssten Theile im Rumpfe nach hinten erstreckt, und
nur mit seinem Ende in die freie Flosse übergeht. Ich bezeichne es in
Uebereinstimmung mit dem ähnlichen Stücke der Brustflosse als Basal-
stück des Metapterygiums, als letzteres die jenem angefügten
Theile des gesammten Flossenskelets betrachtend. (Vergl. Fig. 4 — 40.
45. 48. B.)
Bei Manchen ist dieses Basale gerade gestreckt (Acanthias) , bei
Anderen (Mustelus, Scyllium etc.) wenig, endlich bei noch Anderen
(Squatina) mehr gebogen, und dabei an seinem vorderen Theile um
ziemliches breiter als gegen das Ende hin. Auf dieses Basalstück folgen
noch zwei Stücke (6, b') bei Heptanchus (Fig. 3), welche beide zusam-
men sich wie ein Radius verhalten, jenen ähnlich, die lateral dem
Basalstücke ansitzen. Es ist von vorne herein nicht bestimmt zu sagen,
ob diese beiden Stücke wirklich einen Radius vorstellen, oder ob sie
die Fortsetzung des Basale bilden, somit der Stammreihe angehörig sind.
Sowohl die formale Uebereinstimmung mit einem Radius, als auch der
Mangel an diesen Stücken befestigter Radien, lässt sie als einen
Strahl deuten. Bei anderen Haien (Acanthias, Scyllium, Galeus, Muste-
lus) ist an der Stelle der beiden sogar nur ein einziges Stück vorhanden,
das wieder dem nächst angeschlossenen noch am Basale sitzenden
Strahl überaus ähnlich ist. Bei Squatina (Fig. 4) und manchen Gar-
charias (Fig. 4 0) sind dem Basale gleichfalls noch zwei Stücke (oder mit
einem Schaltstücke {ß) deren drei), angefügt, die, bis auf das letzte,
Radien tragen. Daraus geht hervor, dass sie der Stammreihe ange-
hören.
Das zweite, oder vordere Basalstück (Fig. 4— 40 A) trägt nur eine
geringe Anzahl von Radien. Es kann dem Basale des Mesopterygiums
der Brustflosse verglichen werden, wenn wir annehmen, dass ein Pro-
pterygium fehlt. Ob solches gerechtfertigt ist, wird aus dem Verlaufe
der Untersuchung hervorgehen. Vorläufig mag jene Bezeichnung für
den fraglichen Skelettheil als provisorisch gelten. Am ansehnlichsten
ist dieses Stück beiHeterodontus (vergl. Fig. 48), wo es sich noch
eine Strecke weit an die Seite des Basale des Metapterygiums (B) an-
legt, und damit ganz in die Reihe von Radien des letzteren einzutreten
scheint. Beachtet man , dass auch die Verbindungsart mit dem Meta-
pterygium auf dieselbe Weise wie jene der ächten Radien stattfindet
402 C. CpHCiibaiiT,
(vei^l, die Abhildunp) , so wird man keinen Zweifel darüber hegen,
dass hier einige Strahlen, oder inindcslcns einer, mit dem als Basale
bezeichneten Stücke verbunden sind. Wir wollen dieses besondere
VerhSitniss der Verbindung von Badten mit einem Bosab einstweilen
belonen, da es geeignet sein wird, auf die Natur dieses BasalstUckes
ein Licht lu werfen.
Was die Strahlen betrifll, welche den BasaJstUcken angefügt sind,
so bieten sie im Allgemeinen viel einfachere Befunde als jene in der
Brustllossc. Ganz einfach sind sie bei Cenlrophorus, wo sie auch
durch Kurze sich auszeichnen. In ahnlichem Verhalten stellen sie sich
bei Acanlhias dar. Bei allen sind Endstücke der Strahlen abgegliedert.
Immer trilft sich dies für die vorderen Strahlen, indoss die hinteren
Radien einfache Knorpelstähe sind. Die Länge der terminalen Glieder
ist zwar sehr verschieden, kommt aber nie dem Basalgliede gleich.
Etwas complicirter verhallt sich Hcptanchus. Die letzten sieben
Strahlen sind alle einfach. An den nach vorne zu folgenden Strahlen
dos MelJipterygiums ist wie bei Acanthias das Endstück als besonderes
Glied abgesetzt, und an den Strahlen des Hesoplerygiums sind Je zwei
Stucke vom Ende abgegliedeil und stellen anscheinend unregelniiissige
polygonale Plaitchen vor. Wenn man von den hintersten, AbgliederuD-
gen besitzenden Radien nach vorne zu die einzelnen benachbarten
Strahlen vergleichend prüft, so wird es nicht schwer, die unregel-
milssigen Stücke als GliedstUcke von Strahlen, und auch in bestimmter
Beziehung zu letzteren, zu erkennen. Diese Einrichtung scheint im
speziellen Verhalten einigem Wechsel zu unterliegen, da an der ander-
seitigen Flosse desselben Exemplars eine andere Anordnung der Plait-
chen bei einer anderen Form des bezüglichen Basalstückes sich vor-
fand. Eine Vergleichung der diesen Befund dursU^llenden Abbildung
[Fig. 3 A] mit Fig. 3 B wird dies ersichtlich machen.
Eine iJhnliche Abgliedcrung von Stücken von den Radien ist bei
Heterodontus [Fig. 18] wahrzunehuien. Die hintersten Radien sind
gleichfalls einfach. Dann folgen Radien an denen ein Glied abgesetzt ist,
darauf solche mit zwei Endgliedern, endlich Radien mit drei Endglie-
dern, die polygonal (meist hexagonal) gestallet sind, und damit zugleich
eine Anordnung eingehen, die bei den Notidaniden auch in der Brust-
Qosse ihre Verbreitung findet (Untersuch, z. vergL Anat. H. Tnf. IX.
Fig. \. %]. Am vorderen BasalslUck sind diese l'lüttchen unmittelbar
dem Rande angefügt, ohne Dazwischentreten liingerer ungegliederter
Strahlstücke.
Eine andere Form des Verhallens der Radien ist bei Squatina
(vergl, Fig. 1) vertreten. Die hinlcrsUm sind einfach. Darauf folgen
Deber das Skelet der Gliedmaaasen der Wirbeltbiere im Allgemeinen etc. 403
solche, die in drei Stücke gegliedert sind. Das längste Stück ist das an
das Basaie stossende. Darauf folgt ein kürzeres, dem ein kleines End-
stück ansitzt. An den vorderen Radien tiitt eine Verbreiterung ein, so
dass die terminalen Stücke sich berühren , und von diesen sind noch
kleine Stücke abgegliedert, welche auf einer Strecke den lateralen Rand
des Flossenskelets umsäumt halten. Diese weiter gehende Gliederung
ist an den vordersten Radien mit einer Dichotomie v^bunden. Am
sechsten und fünften Radius tritt diese am Endgliede auf, und am drit-
ten und ersten ist schon das zweite Glied durch kurze Knorpelpaare
vorgestellt, während der erste sehr vericürzte Radius in vier Gliedstücke
übergeht >) .
In den bisher besduiebenen Fällen war das Verhalten derart, dass
neben dem Basale desMetapterygiums noch ein Basalstück dem Schulter-
gürtel ansass, welches man dem Basale des Mesopterygiums der Brust-
flosse vergleichen durfte. Bei einer anderen Abtheilung der Haie werden
manche der bisher sicher scheinenden Punkte in Zweifel gesetzt. Es sind
die Scyllien, welche hieher gehören, dann Mustelus, Galeus, Car-
charias. Bei Scyllium canicula erscheint das Flossenskelet des Weib-
chens aus einem langen, schwach gekrümmten Basale desMetapterygiums
gebildet, dem die grüsste Zahl der Radien (13) ansitzt, indess ein
zweites mit dem Reckengürtel articulirendes Stück drei rudimentäre
Radien trägt. Diese sind nur durch je ein unansehnliches Knorpelstück
dargestellt (vergl. Fig. ^}* Es ist auffallend, dass dieses genau in der-
selben Reihe liegt, wie die abgegliederten Endstücke der folgenden
Radien. Aehnlich verhält sich auch Scyllium catulus, das in einem
männlichen Exemplare untersucht ward (Fig. 6). Die Untersuchung
eines männlichen Individuums von Scyllium canicula (Fig. 5) giebt für
die letzterwähnte Eigen thümiichkeit Aufschluss. An der Stelle des
bereits als Rasale eines Mesopterygiums gedeuteten Knorpelstückes sitzt
nämlich nur ein einfacher Radius direct am Schultergürtel. Dieser ist^
abgesehen von etwas grösserer Breite, in gar nichts von der Mehrzahl
der übrigen Radien verschieden, und besteht wie diese aus einem län-
geren Rasalstücke und einem kurzen Endgliede, welches dem folgenden
Radius dicht angeschmiegt ist. Letzterer reicht nicht bis an das Basale
4} Die von llolin (in der anatomischen Abhandlung: Sullo scheletro degli
Squali. Vol. VIII delle Momorie deir Istituto veneto di Scienze etc. 4860) dargestell-
ten Flossenskeleto sind auch für die genaueren Verhältnisse der Hintergliedmanssen
unvollkommen und sehr ungenau. Von den daselbst aufgeführten, auch von mir
untersuchten: Acanthias vulgaris, Mustelus vulgaris, Squatina vulgaris ist keine
einzige Darstellung den Anforderungen entsprechend, die man an descriptive Vor-
arbeiten stellen muss und wodurch sie allein Werth besitzen.
404 ^' Gegenbaur,
des Metapterygiums ; man kann ihn so als dem ersten Radius ansitzend
betrachten, wenn man ihn nicht als ein eingeschaltetes Stück beurthei-
len will. Wir haben also bei einem männlichen Scyllinm den Vorder-
rand der abdominalen Flosse von einem den übrigen Radien gleich
erscheinenden Skeletstücke gebildet, indess bei dem Weibchen ein
grösseres plattes Knorpelstück besteht, dem drei Knorpelplättchen, wie
sie sonst als Enden von Radien erscheinen, terminal angefügt sind.
Dieser Refund beim Weibchen mit jenem des Männchens zusammen-
gehalten, führt zu dem Gedanken, dass in dem plattenfOrmigen Stücke des
Weibchens drei verschmolzene Radienstücke bestehen mögen. Die drei
Endplättchen erscheinen dabei als unverschmolzene terminale Radien—
glieder. Diese Auffassung wird bestärkt durch die Verbindungsweise
der Knorpelplatte (Fig. 4) mit dem Schultergürtel und dem Rasale des
Metapterygiums, dem sie etwas mehr, als sonst die Verbindungsfläcbe
eines Radius einnimmt, angelagert ist. Endlich kann auch noch die bei
jener Auffassung sich ergebende nahezu völlige Uebereinstimmung der
Radienzahl in beiden Geschlechtem angeführt werden. Fünfzehn zähle
ich beim Männchen und dreizehn beim Weibchen, mit jenen drei als
verschmolzen angenommenen aber sechzehn.
Das Flossenskelet von Mustelus (Fig. 7) giebt für das bei Scyl-
lium Erläuterte neue Relege ab. Wie die Rrustflosse, zeichnet sich auch
die Rauchflosse (bei Mustelus vulgaris) durch ziemliche Rreite aus. Diese
erscheint schon am Rasale des Metapterygiums, dessen Ende ein kurzes,
einfaches Endstück trägt. Diesem schliessen sich nach aussen und
vorne zu sechzehn Radien an. Zwischen dem Endstück und dem un-
tersten Radius, dann zwischen dem fünften und sechsten Radius (von
unten aufwärts gezählt), liegt je ein Schaltstrahl, der, schmaler als die
übrigen, das Rasale nicht erreicht. Diese sämmtlichen Radien sind ein-
fach, gegen das Ende etwas verbreitert. Von den übrigen Radien ist
ein ansehnliches Endstück abgegliedert, welches sich nach hinten zu
krümmt.
Den Vorderrand bildet wieder eine grössere, vorne und median
ausgebuchtete Knorpelplatte, einem Rasale des Mesopterygiums ähnlich.
Terminal trägt sie vier Knorpelstücke, zwei vordere kleinere und zwei
hintere grösere, beide letzteren in Gestalt und Lagerung genau mit den
Endstücken von Radien übereinstimmend. Die Knorpelplatte fügt sich
mit einem dünneren Theile einem Ausschnitte des Rasale ein
also von diesem getragen zu werden. Rei genauerer Unters*
giebt sich jedoch auch eine Verbindung mit dem Reck^nfirüi
sind letzterem wieder, wie bei anderen Haien, ^
Flosse angelenkt. Von diesen finden wir jec'"
Ueber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 405
vorderste Eigenthttmlichkeiten, die in ihrer Summe für die Entstehung
dieses Stückes aus mehreren mit einander verschmolzenen Radien
sprechen.
Galeus (G. canis) zeigt die Verhältnisse des in Rede stehenden
Abschnittes ähnh'ch wie bei Scyllium gestaltet (Fig. 8) . Das fragliche
Yorderstück (/?) Hegt ganz in der Richtung der folgenden Radien und ist
von diesen nur durch grössere Rreite verschieden, sowie dadurch, dass
es mit dem Beckengürtel articulirt. Gemeinsam mit den Radien ist ihm
der Besitz eines terminalen Endstückes, vor welchen noch ein zweites
Endstück lagert, so dass auch hier die Vorstellung von zwei unter ein-
ander verschmolzenen Radiengliedem Berechtigung empfängt. Nehmen
wir hinzu, dass jenes Basalstück auch noch mit einer wenn auch klei-
nen Stelle der Basale der Stammreihe verbunden ist, so entfernt sich
das Verhalten jenes Stückes nur wenig von jenem anderer Radien.
Endlich sei hier noch des hinteren Gliedmaassenskelets von Gar-
charias gedacht, wo ich (bei G. glaucus) in dem Verhalten des vor-
dersten Randstückes im Wesentlichen dasselbe finde wie bei Galeus.
Das fragliche Stück ist nur etwas breiter , legt sich aber mehr ^dem
Basale der Stammreihe an, und tragt ebenfalls zwei Endglieder. Diese
sind eine Verschiebung eingegangen, so dass das zweite mehr dem
ersten ächten Radius anzugehören scheint. Vergleicht man jedoch Ra-
dien und Endglieder von unten her , so wird man die Zugehörigkeit
zweier Endglieder zum vorderen Randstücke als unzweifelhaft erkennen
(vergl. Fig. 9). Verschieden hievon und mehr mit Mustelus in Ueber-
einstimmung verhielt sich ein anderer Garcharias (spec. ?) , dessen
Bauchflosse in Fig. 4 0 dargestellt ist.
Wir sehen also, wie sich bei einer nicht geringen Anzahl von Haien
Einrichtungen des Flossenskelets nachweisen lassen , welche die An-
nahme eines Mesopterygiums dadurch zweifelhaft machen, dass sie den
hieher beziehbaren Abschnitt des Skelets als aus Radien hervorgegangen
darstellen. Vor dem Versuche, hieraus Folgerungen zu ziehen, wird
eine Prüfung des Flossenskelets der Rochen zur Herstellung einer
breiteren Grundlage zweckmässig sein.
Das bei den Haien als Basale des Metapterygiums beschriebene
Stück hat auch bei den Rochen (Fig. 41 — U. 24. B) den Hauptantheil
an der Gonstituirung des Skelets der Bauchflosso. Es bildet nicht nur
den grössten Theil der Stammreihe , sondern es trägt auch die über-
wiegende Zahl von Radien, die bei den Rochen fast ausschliesslich dem
Metapterygium angehören.
BeiRbinobatus (Fig. 12) ist diese Stammreihe des Metaptery-
giums am längsten. Auf das ausnehmend lange, gegen dreissig Radien
406 C. G^enbftnr,
sMltzende Basale folgen noch drei kürzere Stücke {by b\ b"), die mit
einem stark verjüngten abschlies&en. Dasselbe ähnelt einem einüachen
Radius. Kürzer ist das Basalstück bei Raja, wo es (bei R. Sduilzii
Fig. 11) nur noch ein Stück in der Stammreihe trägt.
Ausser dem Basale des Metapterygiums ist noch ein anderes Stück
an der Verbindung mit dem Beckengürtfil betheiligt. Dieses Stück
stellt beiRaja einen starken, den vorderen Rand derBauchflosse stützen-
den Knorpel vor, der an beiden Enden, besonders am proximalen, ver—
dickt ist. Am distalen Ende sitzt ihm ein um zwei Dritttheile kürzeres
Stück an , worauf noch kleinere folgen (vergl. Fig. H Ä) . Wenn wir
die in derselben Richtung gelagerten nächstfolgenden ersten Strahlen
des Metapterygiums ins Auge fassen , so wird eine Vergleichung der-
selben mit der ebenerwähnten Reihe von Knorpelstücken zu dem Re-
sultate führen, in letzteren homologe Theile zu erkennen. Jeder der
ächten Radien besteht aus einem dem Basale ansitzenden längeren
Stücke; darauf folgt ein kürzeres, schwächeres, und diesem sind immer
kleiner werdende Stücke angefügt. Der erste Radius entspricht nicht
nur in der Gesammtlänge, sondern auch in der Länge seiner einzelnen
Theile dem Verhalten der fraglichen Gliederreihe. Die Art der Gliede-
rung ist in beiderlei Tbeilen dieselbe. Es sind also nur zwei Umstände,
welche uns die Deutung jener ersten Gliedreihe noch zweifelhaft er-
scheinen lassen können. Der erste beruht in der bedeutenden Stärke
des bezüglichen Theils, der andere in der directen Verbindung jener
Giiedreihe mit dem Beckengürtel. Das erste Bedenken wird man wohl
nicht lange ernstlich aufrecht erhalten können , da es nur auf relative
Volumsverhältnisse sich stützt, die untar allen Eigenschaften am wenig-
sten ins Gewicht fallen dürfen. Um so belangreicher wird dann das
zweite Bedenken : die Articuiation mit dem Beckengürtel.
Wenn wir für die Radien der Flosse die Verbindung mit einem
Basalstücke postuliren, so ist der fragliche Theil allerdings kein Radius,
und es wäre dann die Frage zu stellen, ob er nicht eben das Stück re-
präsentire, welches wir in der Bauchflosse der Haie, wie in der Brust-
flosse der Rochen und Haie als Basale des Mesopterygiums angesprochen
haben. Ich glaube nicht, dass ein dringender Grund vorliegt, die Ver-
gleichung auf diese Bahn zu leiten, denn erstlich ist das fragliche Basal-
stück ohne Besatz mit Radien, da es sich eben nur in eine einfache
Knorpelstückreihe fortsetzt; es entbehrt somit den Charakter eines
BasalstUckes , zweitens ist der oben aufgeführte Charakter der Radien
durchaus nicht durchgreifend, denn wir kennen ganz unzweifelhafte
wirklich bis zum Schultergürtel reichende Radien in dem Brustflossen-
skelete von Raja und Myliobatus. Demzufolge wird auch jene vorderste
Ueber das Skelet der Gliedmaasseo der Wirbeltbiere im Allgemeinen etc. 407
Gliedreihe, die bei Raja ausser dem Basale des Metapterygjums mit dem
Beckengttrtel articulirt, als ein nur beträchtlich verdickter Radius anzu-
sehen sein, und das erste starke Stück dieser Reihe ist das Basalstück
eines Radius.
Bei einer anderen, mir nicht sicher bestimmbaren Art von Raja
fand ich ein ähnliches Verhalten (vergl. Fig. 24), aber in Verbindung
mit einem anderen wichtigen Umstände. Zwischen dem Basale des
Metapterygiums und dem Basale des vordersten mit dem Beckengtlrtel
articulirenden Radius war eine Lücke bemerkbar, die durch Binde-
jgewebe ausgefüllt ward. Gegen diese Lücke ragten zwei Radien (der
dritte r^ und vierte r^) vor, die also das Basale des Metapterygiums
nicht erreichten. Auch der zweite Radius (r) ergab sich in diesem
Verbalten, trat aber weiter in die Flosse zurück. Für diese drei
mit dem Basale des Metapterygiums ausser Zusammenhang befind-
lichen Strahlen würde es also nur einer geringen Verlängerung be-
dürfen, um sich selbständig mit dem Schultergürtel in Articulation
zu bringen, wozu alle übrigen Bedingungen bereits gegeben sind. Für
die oben mehrmals versuchte Deutung der vordersten Gliedreihe als
Radius ergiebt sich hieraus ein neuer triftiger Grund.
Einen von dem bisher aufgeführten verschiedenen Zustand findet
man beiRhinobatus (Fig. 42). Mit dem Schultergürtel articulirt vor
dem Basale des Metapterygiums noch ein anderes Stück, welches nicht
so leicht als einfaches Basale eines Radius zu bestimmen ist. Es
trägt nämlich an seinem terminalen Ende zwei Radien, oder genauer
die Endglieder zweier Radien, und hat vor sich noch zwei Knorpel-
stücke liegen, die den Vorderrand der Flosse vorstellen. Nach hinten
schliesst sich ihm ein Radius der Länge nach an, der das Basale des
Metapterygiums nicht erreicht, während dies beim nächstfolgenden der
Fall ist. Es hat so den Anschein , als ob hier ein Mesopterygium vor-
läge, welches drei Reihen trüge; die Vei^eichung des fraglichen Stückes
mit den Basalstücken der übrigen Radien giebt eine Aufklärung in an-
derem Sinne, und nachdem einmal die directe Articulation mit dem
Schultergürtel für die Radiennatur keine Schwierigkeit abgiebt, und
zweitens das Verschmolzensein von Radiengliedem zu breiteren Stücken
eine häufige Thatsache ist, so werden wir das grössere Articulations-
stück naturgemässer gleichfalls aus parallelen Basalgliedem von zwei
Radien entstanden uns denken. Die terminal darangefügten Endstücke
sind dann die getrennt gebliebenen Reste jener beiden Radien, so dass
also im Wesentlichen ein Verhalten besteht, welches jenem von manchen
Haien, z. B. Scyllium, Mustelus, Galeus etc. ähnlich ist. Dass dem
grösseren Stücke noch ein dritter Strahl wie angefügt erscheint, hat
408 ' C. Gegenbaur,
•
seine Erläuterung in dem vorbin für Raja beschriebenen Verhalten zu
finden, wo gleichfalls ein verkürzter Radius vorkam.
Dieser Zustand ist bei Torpedo noch vi'eiter ausgeprägt (Fig. 1 3) .
Das Basale des Metapterygiums verhält sich ähnlich wie bei Raja, und
trägt eine grosse Anzahl ziemlich weit von einander abstehender
Radien, die ein langes und schlankes Basalglied besitzen , auf welches
noch zwei kürzere Glieder folgen. Dem letzten derselben sitzen am
grössten Theii der Flosse je zwei kleine Endglieder an. Diese Radien
enden also dichotomisch. Am dritten Radius (H), von vorne her ge-
zählt, ist eines der beiden feinen Endglieder viel kleiner als das andere,
und am ersten und zweiten ist an der Stelle des Gabelgliedes ein ein-
faches zugespitztes Knorpelchen vorhanden. Der erste Radius ist nur
dreigliedrig. Das letzte Glied des folgenden Radius ist hier nicht entr-
wickelt, dagegen hat das dem vorletzten Gliede des folgenden Radius
entsprechende Endglied die Gestalt eines Terminalgliedes. Die Gabe-
lung geht also allmählich in die einfachere Endigungsweise über. Den
vorderen Rand des Flossenskelets bildet, ähnlich wie bei Raja, ein
starkes Knorpelstück, dem aber der erste Radius ansitzt, den wir vor-
hin bei einer Raja an entsprechender Stelle beginnen sahen. Was dort
aus diesem Lagerungsverhältniss als möglich gefolgert ward, [ist hier in
klarer Weise ausgesprochen.
Auch das terminale Ende des vorderen Randknorpels (jR) ist von
Bedeutung. Wir finden da zwei Knorpelstücke, einen vorderen brei-
teren platten (?*) und einen dicht dahinter liegenden schlanken (r'),
der zwei Endglieder trägt. Die Vergleichung dieser drei dem Rand-
knorpel angeschlossenen Glieder mit dem folgenden dreigliedrigen Ra-
dius (r2) lehrt, dass erstere (/) einen dreigliedrigen Radius vofstellen,
dessen erstes in den folgenden Radien sehr langes Glied bedeutend
verkürzt ist. Dieser Radius wäre demnach der erste auf das Randstück
folgende. Seine Verkürzung beträgt ebensoviel, als er mit seiner An-
fügestelle am Randknorpel nach der Flossenperipherie gerückt ist.
Wenn man beachtet, dass er im Vergleiche mit dem folgenden Radius
um ebensoviel kürzer ist , als dieser im Vergleiche mit dem nächsten,
dritten Radius, dem ersten der das Basale des Metapterygiums erreicht,
so wird die gegebene Deutung der fraglichen Gliedreihe, deren Radius-
natur man nur wegen ihrer Kürze anzweifeln könnte, völlig unbedenk-
lich sein. Wir haben also zwei am Randknorpel sitzende Radien. Was
endlich das Randknorpelstück selbst betrifit, so giebt es sich aus der
Vergleichung mit Raja als das erste Gliedstück eines Radius kund, der
in seiner ferneren Gliederung rückgebildet ist und von der ganzen Glied-
reihe nur noch ein kurzes Stück (r) trägt, jenes, welches vorhin bereits
Deber das Skelet der Güedmaassen der Wtrbelthiere im Allgemeinen etc. 409
erwähnt wurde. Die Annahme einer Verschmelzung aus zwei in ihren
Endgliedern am terminalen Abschnitte noch erhaltenen Radien widerlegt
sich sowohl durch die Cylinderform der ersten Knorpelstücke, als auch
durch die Uebereinstimmung der zweiten terminalen Gliedreihe in der
Folge der Glieder mit einem ganzen Radius. Letzteres sehe ich als den
Hauptgrund an, da durch jene Thatsache die Existenz noch eines dem
genannten Radius angehörigen Stückes , welches in das grosse Stück
aufgegangen sein könnte, wenn auch nicht unmöglich, doch äusserst
unwahrscheinlich gemacht wird.
An Torpedo reiht sich bezüglich des Bauchflossenskelets Try-
gon an, doch bestehen hier wiederum einzelne Eigenthümlichkeiten.
In der Stammreihe folgen dem ansehnlichen Basale (Fig. \ 4 B) noch
drei allmählich sich verjüngende Gliedstücke, die bis auf das letzte
Radien tragen. Bis auf den letzten sind sie sämmtlich gegliedert, und
zwar von hinten nach vorne bis zum ersten am Basale sitzenden Radius
zunehmend. Die Zahl der einfachen Gliedstücke erhebt sich bis auf
sechs. Jeder dieser Radien endigt dichotomisch. Die Gabeläste wer-
den wieder aus mehrfachen Gliedern zusammengesetzt. Der uns am
belangreichsten erscheinende Vorderrand des Flossenskelets wird,
ähnlich wie bei Torpedo, von einem ansehnlichen zum Becken-
gürtel gelangenden Knorpelstücke (R) gebildet, welches beim ersten
Anblicke in ein gegabeltes Ende auszulaufen scheint. Die genauere
Prüfung lässt aber als Fortsetzung dieses Knorpels nur eine einfach
peripherisch verjüngte Gliedreihe erkennen, vor welcher eine zweite
Reihe (R') liegt. Diese gelangt nicht zum Beckengürtel, ihr Basalstück
ist vielmehr nur durch ein ganz dünnes Knorpelchen dargestellt,
welches eine Strecke weit dem grossen Knoipel (R) sich anschmiegt, um
sich dann zu verlieren. Vor dem sonst (bei Raja und Torpedo) als
erster Radius erscheinenden starken Strahl liegt also hier noch ein
rudimentärer, der nicht in seinem Basale rückgebildet ist. Darin giebt
sich eine Uebereinstimmung mit Rhinobatus (Fig. 12) zu erkennen, bis
dann der vordere Rand gleichfalls einen rudimentären, aber am Basale
verdickten Strahl besitzt. Die auf den starken Randstrahl folgenden
Radien sind gleichfalls bemerkenswerth. Der erste davon (r) schiebt
sich zwischen den Randstrahl und den nächstfolgenden ein, ohne die
Articulationsstelle mit dem Beckengürtel zu erreichen, indess der andere
Strahl dorthin gelangt , wo er dicht vor dem Basale der Stammreihe,
theilweise noch letzterem angefügt, hervortritt.
Als Ergebniss der in vorstehender Untersuchung mitgetheilten
anatomischen Befunde haben wir einen hohen Grad der Uebereinstim^
410 C. Gegenbftttr,
mung zu oonstatiren , welche bei aller Verschiedenheit im Einzelnen
obwaltet.
Den Haaptbestandtheil des Skeleis bildet das als Basale des
Metapterygiums unterschiedene Knorpelstüek mit den darangeffigteil
Radien. Dieser Theil ist der bestandigste. Dem Basale folgt mindestens
noch Ein Knorpelstück. Bei den Haien stellt dieses nur einen Anhatig
des Basale vor, den man leicht für einen letzten Strahl, somit für ein
vom Basale verschiedenes Gebilde nehmen könnte. So bei Carcharias,
Mustelus, Galeus, Scyllium, Acanthias. Bei Heptanchus (Fig. 3) ist dieses
letzte Stück durch zwei repräsentirt, es ist gegliedert, aber dieGKederung
spricht in der Art wie sie auftritt, nicht für die Radiennatur. Die nächst^
folgenden Radien sind ungegliedert, und wo Gliederung auftiitt, wie an
den noch weiter nach vorne zu folgenden , ist das terminale Stflc^ das
kürzere , während im fraglichen Falle gerade das terminale das längere
ist, vdr werden also jene beiden Stücke (bV) nicht als einem Raditis
angehörig deuten, sondern sie als eine Fortsetzung des Baisale betrdchteni,
die mit demselben den Flossenstamm oder die Stammreifae
bildet.
Was für Heptanchus etwa noch zweifelhaft sein könnte, ist fttf
Squatina (Fig. i) völlig klar. Das Basale (B) läuft hier vmder mit zwei
Stücken aus. Das erste (6) davon ist wie bei Heptanchus kürzer aber
so breit wie das Ende der Basale, so dass von einer Deutung als Radius
keine Rede sein kann. Völlig wird diese Meinung widerlegt durch
die Verbindung dieses Abschnittes mit Radien. Er stellt sich dadurch
ganz in dieselben Verhältnisse , die den Charakter des Basale bilden,
und indem auch noch dem letzten Stücke (6') ein Radius angefügt ist,
wird für den ganzen Abschnitt die Zugehörigkeit zum grossen Basale
erwiesen. Wir erhalten also die Stammreihe bei den Haien aus min-
destens zwei Stücken gebildet. Auf das grosse Basale folgt bald nur
ein Stück , bald folgen deren zwei. Dieser terminale Abschnitt der
Stammreihe geht im männlichen Geschlecbte verschiedengradige Modi-
ßcationen ein, die unten beschrieben werden sollen, und deshalb
hier ausser Berücksichtigung bleiben mögen.
Bei den Rochen erscheint das Basale in ähnlichem Verhalten. Das
zweite Stück der Stammreihe trägt stets eine Anzahl von Radien , und
bei Rhinobatus (Fig. 1£) ist auch noch ein drittes Stück (b') in Ver-
bindung mit einem Strahl. Zugleich bieten einzelne Theile der Stamm-
reihe hier einen mehr unmittelbaren Uebergang, so dass ihre Zusammen-
gehörigkeit zu Einer Kategorie von Skelettheilen deutlich hervorgeht.
Wir fassen also die genannte Stammreihe a'ls eine Folge von Knorpel-'
stücken, die sämmtlich Radien tragen können, und von denen das vor-
Ueber das Skelet der GUedmaASseii der Wirbeltbierc im Allgemeinen etc. 411
dersie^ mit dem Beckengttrtel articnlirende als Basale sich besonders
ansehnlich entwickelt. Bei den Rochen mid bei Squatina tragen
mehrere Stücke dieser Stammreihe Strahlen, bei den Haien sind letztere
auf das Basale beschränkt, und das einzige Terminalstück erscheint (bei
den» Weibchen) in der Gestalt eines Radius (Flg. 4 u. 8 6).
Die von dem Flosseftstamme geiragetien Skeiettheile bieten unter
sveh zwar mannichfache Besonderheiten, sind aber i^mmtlich als Radien
deutbar. Wo auffeilende Eigenthümlichkeiten bestehen, sind diese
aus der Vergieichung mit den benachbarten Theiien verständlich zu
machen, so dass an der Gleichartigkeit dieser sämmtlicben Gebilde kein
Zweifel haften kann. Sie shid nicht bloss zahlreicher sondern auch
reicher gegUedert bei den Rochen , wo sie zugleich schlankere Formen
aufweisen, wahrend sie bei den Haien kürzer und nur mit Einem End-
gliede versehen sind. Die grössere Breite der einzelnen Radien corn^
pensirt die geringere Anzahl, und die fast regelmässig erscheinende
inmge Zusammenfügung der gekrümm^ten Terminaiglieder lässt das ge-
sammte Flossenskelet der Haie als ein oompacteres Gebilde erscheinen.
Es liegt dem entsprechend eigentlich nur dem medialen Abschnitt der
Flosse zu Grunde , während der laterale freie , von den sogenannten
Hornfäden eine Stütze empfängt. Letzlere bilden damit eine Compen-
sation für die geringere Ausdehnung des knorpeligen Skelets , dessen
Radien bei den Rochen bis zum freien Flossenrande vortreten ^).
Den im Ganzen wenig eomplicirtenVerhällnissen des grössten Ab-
schnittes des Gliedmaassenskelets gegenüber erscheinen die den vor-
deren Flossenrand darstellenden Theile schwieriger verständlich, da
die verschiedenen Formzustände nicht sofort von einander ableitbar
sind. Wir haben diesen Randabschnitt bald durch eigenthümliche
Plattenstücke gebildet getroffen , bald aus Gebilden , welche sich als
Radien zu erkennen gaben, und im Wesentlichen nur durch die be-
ll Eine bei der Brustflosse eines Haies fCentrophorus) bezüglich des compen-
satorischen Verhaltens der Hornftlden gemachte Beobachtung mag hier erwähnt
werden. Die Untersuchung beider Brustflossen eines Exemplares ergab bei gleicher
äusserer Form eine bedeutende Verschiedenheit der Stützorgane. Dem Knorpel-
slielete der einen Flosse fehlte ein grosser Theil des Endes, so dass das übrige, mit
der andern Flosse verglichen, einen durch zwei tiefe bogenförmige Einschnitte
»aricirten Rand besass. Die starken Hornfäden bedeckten nicht ganz die Hälfte
der Fläche, die an der andern Flosse von ihnen gebildet ward. Dagegen fand sich
an ihrer Stelle eine genau von dem eingeschnittenen Rande des Knorpelskelets be-
ginnende Masse nicht parallel gerichteter, sondern sich durcli kreuzender feinerer
Fäden vor, welche die fohlenden Theile des Knorpelskelets sowie die starken Fäden
ei|;änzten. Dieser ganze Abschnitt hatte den Anschein einer Neubildung, die nach
' "'«hr frühKeitig entstandenen Defede der Flosse aufgetreten war.
412 C. fieBe-iibiiBf,
stellende Ablösuag von der Stamm reihe [dem Basule dc^ Melaptcr^'gLutn)
sich von den übrigen Badien unterscheiden.
Dieser in seiner BeziehuDg zum Hetapt«ryginm einem Hesopterygium
ähnliuho Theil des Flossenskelets muss eingehender geprüft werden.
Entweder ist der vorderste Strahl vom Basale abgeltist und articu-
brt selbständig mit dem Beckenknorpel (Raja) , oder es sind Theile
anderer Radien mit einander verschmolzen imd das daraus entstandene
Stück ist bei eingetretener Becken Verbindung noch eine Strecke weil
mit dem Basale verbunden (z. B. Hustelus, Carcharias, Weibchen von
Scyllium]. Endlich ist die Verbindung jenes Knorpelstückes mit dem
Basale nur auf eine kleine Stelle beschrankt bei Zunahme der Becken-
verbindungsßäche (Ileplancbus, Acanthias) , und das beztlglicbe Knorpel-
stück ist fast frei, und bildet damit jene Form bei der man ein
Mesopterygium zu unterscheiden) am leichtesten versucht sein möchte.
Die Lange der Verbindungsstrecke mit dem Basale richtet sich
nach der Anzahl der mit einander verschmolzenen Radien. Wo gar
keine Radien verschmolzen sind, wie beim Männchen von Scyllium und
bei Raja , besteht jene Verbindung gar nicht, oder sie ist nur eine tan-
gentiale. Grösser ist die Verbindungsstrecke wo zwei Radien ver-
schmolzen sind (Carcharias, Galeus] oderdrei (Weibchen von Scyllium],
oder eine noch grössere Zahl (Heterodontus) . Aus dieser Vergrösserung
des Knorpelstucks unter Ausdehnung seiner Verbindungsstrecke mit
dem Basale der Stammreihe geht hervor, dass die vordere Rand-
begrenzung des Flossenskelets ein relativ festes Verhältniss bildet, und
dass das Schwankende in der Flächenausdehnung Jenes vorderen
Stückes durch eine verschieden^sse Anzahl der in es eingegangenen
Radien, die dem Basale angefügt waren, bedingt ist. Letztere sind es,
welche eben die Verbindung mit dem Basale vermitteln und bedingen.
Man kann somit sagen , dass jenes vordere HandstUck durch die Auf-
nahme hinter ihm gelegener Radienabschnitte wächst.
Dieses Verbal tni SS ist jedoch keineswegs streng durchgeführt, denn
wie einerseits die Verbreiterung eines einzigen Radius besteht, so findet
sich andererseits auch eine Verschmälerung des aus einer Mehrzahl von
Radien entstandenen Stückes. Dies trifil besonders den proximalen
Tbeil des SlUckes , welches distal noch verbreitert die Endglieder der
Radien trägt, aus deren Verschmelzung es hervorgegangen sein muss.
Scyllium catulus und Hustelus, auch Carcharias (Fig. 10), geben hieftlr
Beispiele.
Die auf diese Weise ermittelte Genese jenes Rnorpelstückes bat
nur für jene Falle ihre Gellung wo lateral, und damit, in Beziehung zu
Radien , terminal angefügte Enorpelplätlchen als Beste von Strahlen-
lieber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbeltbiere im Allgemeineii etc. 4 1 3
enden sich erkennen lassen und von der Entstehung des sie tragenden
Knorpelstuckes sprechendes Zeugniss ablegen. Unter den oben bereits
angeführten Flossenskeleten giebt es noch zwei Kategorien , die anders
zu beurtheilen sind. Die erste wird von jenen Formen gebildet wo nur
Ein terminales Knorpelplättchen vorkommt, ohne dass ein Grund für
die Annahme einer Bückbildung anderer besteht. Das Männchen von
Scyllium canicula ist ein Beispiel. Da aus dem ganzen Verhalten her-
vorgeht, dass wir es hier mit einem einzigen, nur vom Basale abge-
trennten , und etwas verbreiterten ersten Badius zu thuh haben , er-
ledigt sich dieser Fall auf einfache Weise, und ist oben bereits so
aufgefasst worden.
Schwieriger ist die Beurtheilung von Acanthias , Heptanchus und
Squatina. Bei Heptanchus (Fig. 3) trägt das vordere Bandstück (das
wir oben als Basale des Mcsopterygiums bezeichneten) ausser eini-
gen terminalen Knorpelplüttchen noch drei entschiedene Badien an
seinem hinteren, der Flosse zugewendeten Bande, und bei Acanthias
sind nur (|ie letzteren Stücke vorhanden. Fünf Badien sind endlich
bei Squatina (Fig. 1) jenem Knorpel angefügt. Diese Badien sind also
mit dem fraglichen Bandstücke auf dieselbe Weise in Verbindung wie
die dem anderen Basale angefügten Badien. Sie treten in beiden Fällen
schräg zu dem sie tragenden Skelettheile. Man kann nicht einfach an-
nehmen, dass das bezügliche Knorpelstück aus der Verschmelzung von
Theilen der ihm ansitzenden Badien entstand. Die schräge Bichtung
der Badien zu diesem Stücke würde dieser Annahme entgegenstehen,
denn wo immer im Flossenskelet der Selachier verschmolzene Theile
von Badien nachweisbar sind , steht die Längsaxe des frei gebliebenen
Theiles des bezüglichen Badius senkrecht auf die Queraxe des ver-
schmolzenen Stückes. Dass wir aber etwas auf Badien Beziehbares,
weil davon Ableitbares , vor uns haben , dürfte aus dem Verhalten bei
anderen Selachiern hervorgegangen sein. Der Befund bei Squatina
(Fig. I) und bei Heptanchus (vergl. Fig. 3fij, wo das Bandstück mit
einem terminalen Knorpelplättchen abschliesst, muss hiebei besonders in
Betracht gezogen werden, insofern daraus abgeleitet werden kann, dass
das fragliche Bandstück -ein Theil einer Folge von Knorpelstücken ist,
die zusammen einen Badius vorstellen, dass es also aus einem einzigen
Badius entstand. Ist diese Annahme richtig, so kommt diesem Badius,
der dann der vorderste ist , eine von den [übrigen , sämmtlich mehr
oder minder parallel liegenden Badien bedeutend divergente Bichtung
zu. Für das Vorkommen einer solchen Divergenz des ersten
unzweifelhaften Badius kann das Verhalten von Scyllium
canicula angeführt werden. Beim Männchen schiebt sich hier
Bd. v. I. 28
':■>!
s.
: /
414 C. Gegenbanr,
zwischen den ersten und zweiten vollkommenen Strahl ein das Basale
nicht erreichender Strahl ein, der damit diese beiden Radien aus—
einander drängt, und dem ersten Radius eine von den übrigen ver—
. schiedene Richtung giebt. Noch mehr ausgeprägt ist dies Verhalten bei
den Rochen, besonders bei Torpedo (Fig. i 3) .
Damit haben wir für die Erklärung des anatomischen Verhaltens
bei Acanthias, Heptanchus und Squatina die Basis gewonnen. Nehmen
wir an, dass der vorderste Radius eines aus parallel angeordneten
Radien zusammengesetzten Flossenskelets, anstatt durch Einen Radius,
durch drei hinter ihm eingeschobene aber nicht zum Basale reichende
Radien nach vorne gerichtet würde , und dass jene drei Radien von
verschiedener Länge wären , der kürzeste am weitesten nach vorne,
der längste nach hinten gelagert, so erhalten wir genau denselben Zu-
stand , der bei Acanthias und Heptanchus vorliegt. Bei Torpedo sind
zwei Radien (Fig. 13 r^ r^) in jener Beziehung zu finden. Der nach
vorne gerichtete vorderste Radius trägt dann die hinter ihm einge-
schobenen , die in ähnlicher Weise mit ihm verbunden sein können,
wie die typischen Radien des Basalstückes der Stammreihe. Wir sehen
also in dem Verhalten des Flossenskelets der Rochen , dann unter den
Haien bei Scyllium die erste Stufe zu der bei Acanthias und Heptanchus
weiter entwickelten Einrichtung. Der bei letzteren modificirte vorderste
Radius ist den neuen Beziehungen , die er durch die Anfügung hinter
ihm liegender Radien gewann, entsprechend angepasst, und die volu-
minösere Entwickelung seines Basalstückes, das bei Acanthias ihn allein
repräsentirt , ist im Einklänge mit den an es sich inserirenden Muskel-
massen. Am weitesten fortgebildet ist dieses Verhalten bei Squatina,
wo das verlängerte vordere Randstück der grossem Anzahl der an es
angefügten Radien entspricht. Was bei anderen Selachiem durch Ver-
schmelzung von Basalstücken vorderer Radien erreicht wird (Helero-
dontus , Mustelus , Rhinobatus) kommt hier durch Verbreiterung eines
einzigen Strahlenstückes zu Stande, und darin treffen Acanthias,
Heptanchus und Squatina mit den Rajae überein , wie sehr auch sonst
Verschiedenheiten im Flossenskelet^e sich darbieten.
Es ist gezeigt worden , dass das am Vorderrahde des Skelets der
Hintergliedmaassen befindliche, bei erster Betrachtung dem Basale eines
Mesopterygiums ähnliche Stück, aus Radien hervorgeht, dassesent-
weder durch einen modificirten, voluminöser entfalteten
Radius vorgestellt wird, oder durch Verschmelzung
mehrer Radienstücke entstanden ist. Es ist ferner gezeigt
worden , dass die Verbindung dieses Stückes mit dem Beckengürtel
keine exclusive ist, indem dasselbe auch noch mit dem Basale der
Ueber das Skelet der Güedroanssen der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 415
Stammreihe articuliren kann, Uhnlicb wie die übrigen Radien. Wenn
wir 2u dem Wesen eines derartigen a)s Radius bezeichneten Skelei-
theiles die Verbindung mit der Stammreihe rechnen, so sind jene Radien
durch ihre mehr oder minder ausgesprochene Entfremdung von dieser
Beziehung auch des Charakters der Radien entkleidet. Hierbei wird
die Frage entstehen, ob das neue Yerhältniss jener Radien als ein
primäres, oder als ein secundäres zu betrachten sei, ob jene Be-
ziehung zum Giiedmaassengürtel eine erst erworbene sei oder nicht.
Die Vergleichnng mit den übrigen Radien , vor Allem aber die That-
Sache , dass nicht bloss jener eine Radius , oder jene zu einem Stücke
zusammentretenden Radien, zum Beckengürtel vortreten, sondern dass
hinter diesen Theilen noch manche andere Radien jenes Verhalten dar-
bieten, rechtfertigt die Annahme, dass jene Verbindung des vordersten
Skeletstückes mit dem Bcckengürtel gleichfalls ein secundHrer Zustand
sein wird^). ErwSgen wir noch das Schwankende der Zahl jener in
Rede stehenden Radien, sowie die in manchen Füllen theilweise
noch bestehende Verbindung mit, dem Basale der Stammreihe (des
Metapterygium ) so wird unsere Annahme noch gesicherter sich dar-
stellen. Wir werden demnach das ursprüngliche Verhalten in der
gleichartigen Verbindung aller Radien mit der Stammreihe erkennen,
und in dem AusiIrKte eines oder mehrerer Radien von jener Verbindung
eine secundare, aus einer Differenzirung des gesammten Gliedmaassen-
skelets entspringende Erscheinung sehen. Welche Ursache jene Ab-
lösung von Radien bewirkt hat, bleibt unbekannt; möglich ist, dass der
am Vorderrande des Flossenskelets inserirten, die Flossen nach vorne
zu anziehenden , und besonders bei den Rochen auf die Ausbreitung
der Flosse wirkenden Muscülatur biebei eine Rolle zukam. Aber auch
eine Vermehrung der Radienzahl , sowie eine Verkürzung der Basale
dos Flossenstamms kann dabei wirksam gewesen sein.
Durch die aus meiner Vergleichnng entstandene Auffassung der
am Vorderrande des Flossenskeletes gelegenen Radien als aus dem ur-
sprünglichen Verbände getretener und auch sonst dvfferenzirler Ge-
bilde, gelangen wir nicht schwer zur Conslruction einer Grundform
dieses Skeletes. (Holzschnitt Fig. I.)
4) Die Zosammensetzang des Bauchflossenskelcts der Selachicr aus zwei von
einander verMhiedenen Tbeüen hat bereits Meciel (System d. vergl. Anal I. S. a04)
für Rajft angegeben, indem er die Radien von der Stammreihe unterschied und zu
ersteren auch den direct mit dem Becicengürtel articulirenden Strahl zuzählt.
Meckel war darin also gegen Cuvibr voraus, der in dem Basale eines ersten Strahls
Aehnlichkeiten mit einem Femur, und in dem Basale der Stammreihe Aehnlich-
keiten mit einer Tibia finden wollte, und demnach die Bezeichnung wfihlte.
18*
416
C. Gegen banr,
Wir finden diese Grundform durch eine Anzahl an
einander gefugter Knorpelstucke gebildet, den Stamm
des Flossensketets, an welchem lateral eine grössere
Zahl von schwächeren Knorpels tücken als Strahlen auf-
gereiht ist,
I Wenn wir die Gliederung als das Resultat
einer DitTerenzirung ansehen, so wird der
1^ rt t*sJl niederste indifferenteste Zustand sowohl den
J^^^ S?0 Stamm der Flosse als auch die Radien aus un-
^s>-.^ s^^ gegliederten Knorpelsläben erscheinen lassen
(Fig. I. 1), aus welcher Form die andere, ge-
gliederte (Fig. I. 2) unmittelbar abzuleiten ist.
Je Dach der Zahl der Stucke der Stammreihe,
nach der Zahl und Gestaltung der Radien, der
Art ihrer Gliederung und der Gestalt ihrer
Gliedstücke , femer je nach der Verbindung
einzelner Badienglieder unter einander, und
der Ablösung der vordersten vom BasalstUcke
der Stammreihe: entstehen jene oben ge-
schilderten mannichfachen Formzustände , welche die Vergleichung als
Modificationen, oder besser als DifTerenzirungen der Grundform kennen
Flg. I.
2) Vergleichung des Skeleta der vordem nnd hintem Oliedmaauea.
der Selacbier. Nachweia der Grundform fnr beide.
Der Nachweis einer aus der Stammreihe und seitlich angefügten
Radien bestehenden Grundform des Skelets der hinteren Gliedmaassen
scheint die Vergleichung mit dem Skelete der vorderen zu erschweren.
Von den von mir frUher an der Brustflosse unterschiedenen drei Ab-
schnitten des Glicdmaassenskelets ist nur das Hetepterygium an den
hinleren Gliedmaassen vertreten, nachdem das was auf ein Hesoptery-
gium bezogen werden konnte , und vordem auch so von mir aufigefasst
wurde, einer andern Deutung weichen muss.
Es fragt sich nun, wie man auf diesen neuen Grundlagen die Ver-
hältnisse der vorderen Gliedmaassen mit den hinteren in Verbindung
bringen kann. Da das Hctapterygiuro bereits die für die hypothetische
Grundform erforderten Einrichtungen »n sich trügt, werden vorzüglich
Pro- und Mesopterygium in Frage kommen. Genauer formulirt wird
die Frage sich so gliedern: Ist das Pro- und Mesopterygium, wie wir
es an den vorderen Gliedmaassen kennen, ein neuer, in den Elementen
Ueber das Skelet der Gliedroaassen der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 417
der hinteren gar nicht existirender Thcil , und ist der Mangel dieser
Abschnitte ein einfacher Wegfall , etwa durch allmähliche Rückbildung
zu Stande gekommen , oder ist im Skelet der Vordergliedmaasse eine
Weiterentwickelung des in den hinteren Gliedmaassen Bestehenden
vorhanden.
Die erste Alternative hat wenig Aussicht auf affirmirende Begrün-
dung, da alle oben gegebenen Darlegungen nur dahin führten , die an-
scheinenden Basalstücke eines Mesopterygiums von-einfachen oder ver-
schmolzenen Radien abzuleiten. Da kraft dieses Nachweises kein
triftiger Grund zur Annahme eines ehemaligen Vorhandenseins eines
Pro- oder Mesopterygiums in den Hintergliedmaassen besteht, rauss
auch die Annahme einer Rückbildung als ungerechtfertigt gelten. Da-
mit gewinnt die zweite Alternative, zu der wir uns wenden wollen.
Betrachten wir zuerst in wiefern die Wahrscheinlichkeit für diese
Alternative spricht, um daraus eine weitere Untersuchung zumotiviren.
Es erscheint als eine allgemeine Regel, dass homodyname, ungleichartig
entwickelte Körpertheile an den hinteren Abschnitten indifferenter er-
scheinen als an den vorderen , dass besonders die Gliedmaassen des
Schultergürtels viel reichere Umgestaltungen eingehen als jene des
Beckengürtels , an denen sich das ursprüngliche Verhalten länger und
vollständiger bewahrt. Ein Blick auf die Vordergliedmaassen der
Wirbelthiere lässt die Vielgestaltigkeit derselben gegen die Monotonie
der hinteren lebhaft contrastiren. Die durch die Lagerung bedingte Be-
ziehung zum Gesammtkörper setzt die Vordergliedmaassen häufiger
und intensiver der Umgestaltung durch Anpassung aus, als die Hinter-
gliedmaassen, denen im Falle allgemeiner Gleichartigkeit der Leistung
stets eine verhältnissmassig untergeordnete Rolle zukommt. Die grössere
Divergenz in der Entwickelung des Skelets der Vordergliedmaassen
spricht sich nicht minder auch innerhalb engerer Abtheilungen , so
schon bei den Selachiem aus, und ebenso sehen wir in den hinteren
ziemlich übereinstimmende Verhältnisse, selbst in jenen Gruppen die,
wie die Rochen und Haie, einen so verschiedenen Bau des Skelets der
Brustflossen aufweisen. Man vergleiche die Abbildungen , die ich von
letzteren früher gegeben habe , und ebenso jene , die ich gegenwärtig
von den Hintergliedmaassen mittheiie. Das Gemeinsame besteht bei
den letzteren viel mehr als in der Vorderextremität, bei der ganze Ab-
schnitte , die bei der einen Abtheilung vorkommen , in einer anderen
fehlten oder verkümmert waren. So sprechen also sowohl die allge-
meinen Verhältnisse von beiderlei Gliedmaassen zu einander, als auch
die speciellen Befunde an jenen der Selachier für die Wahrscheinlich-
keit, dass in den Hintergliedmaassen der letzteren ein niederer, weil
418
C. lieKenhÄiif,
minder differonzirler ZusUind der GUcdniansscnbildiing im Allgcmt^ioen
vorliegt.
Schreitot man nun zum Versuche der Verf^leichung des Skelels
von beiderlei GUedmaassen, so werden hiezu verschiedene Wege ge-
wählt werden können. Man kann einmal aus dem allen Gliedmaassen von
Einer Arl Gemeinsamen den Typus der Gliedmaassen aufsuchen, und
so die fUr beiderlei Arten von Gliedmaassen gewonnenen Typen in Ver—
gleichung bringen. Da aber hiebei die innerhalb einzelner Abtheilungen
auflrclfinden Vei-schieden heilen immer noch zu bedeutend mit in die
Wagschale fallen können, ziehe ich einen andern Weg vor, der zugleich
der nächste ist. Wenn n<imlich die oben gegebene Voraussetzung
richtig ist, dass beiderlei Gliedmaassen ursprünglich gleicbmiissig ge-
baute Organe waren, bei denen die Sonderung der Vordergliedmaasse
durch Wcilerenlwickelung der in der Hinlcrgliedmaasse sieben geblie-
benen, oder in anderer Richtung entwickelten Einrichtungen vor sieh
ging, so ist die Möglichkeit vorhanden, dieses selbst bei derselben Gat-
tung, Ja sogar im Individuum nachweisen zu können. Jene Form wird
hiezu am geeignetsten sein, welche die bei anderen offenbar mehr um-
gewandelten Einrichtungen weniger verändert hat. Als solche For-
men betrachte ich die Bocheu, deren hinlere Gliedmaasse minder
complicirte Verhallnisse des Skelets aufweist, indess auch in der Vor-
dergliedmaasse bei aller Verschiedenheit in der voluminösen Entfal-
tung viele einfachere Einrichtungen vodiegen.
In der hinteren Gbedmaasse von ftaja findet
H sich ausser dem fast sämnillichc Radien tragen-
den RasalstUcke noch ein als Radius nachweis-
barer Theil in directcr Gelenkverbindung mit
. dem Beckengtirt«!. Wir konnten diesen als
einen freigewordenen Radius erklären (Fig. \\R],
da die Vergleichung mit dem homologen Stücke
hei manchen Haien (Scyilium etc.) denselben
Radius noch in llieilweiserVerbindung mit dem
Basale des Stammes nachwies, in dieser Bezie-
hung also daselbst einen niederen Zusland auf-
deckt. Bei einer anderen Raja (Fig. 3t) war
jener vordere Bandradius nicht der einzige
ausser Verbindung mit dem Basale gcralhene.
Wir fanden die drei nücbstcn Radien gleichfalls
ausser jenem Zusammenhange, und zwar den zweiten und dritten der-
selben mit ihrem proximalen Ende gegen den z\^ischcn dem Basale des
f^iamnies und dem maehUgen Bandradius liegenden Baum gerichtet.
lieber das Skdet der GliedinaaMeii dtr Wirbelllilera im MlptmeiiieD de. 419
Der erste hinter dorn Randradius gelegene Slrabl ergab sieb dagegen
fluffallend verkürzt (siehe die Abbildung). Wenn man ihn nicht
vüIJig freiliegend, sondern in Zusammenhang mit irgend einem an-
deren Skelettbeil der Flosse sich vorstellen wollte, so konnte man
ihn in keinem Falle mehr dem Stamme anreiben (mit dem er wohl
ursprunglich verbunden war) , und dem BeckengUrtel liesse er sich
ebenfalls nioht anfügen, da er vpn ihm zu weit entfernt liegt. Es bliebe
somit nichts Übrig, als ihn dorn Basalgliede des Bandradius verbunden
sich vorzustellen. Dass ein Badius nicht mehr die Basalreihe erreicht,
sondern sich an den vorbeigehenden Radius anschliesst, ist auch
bei Rhinobatus u. a. beobachtet, nur ist der Bandradius hier nicht
in so einfachem Zustande vorbanden. Dagegen ist dies bei Tor-
pedo (Fig. 12) der Fall, wo zugleich der bei Raja in seiner Verbin-
dung schwankende Strahl (ri) dem starken ersten oder Randradius (H)
ansitzt, der ausserdem weiter nach der Peripherie noch einen zweiten
Strahl (r^) tr9gt. In jenem an sich unscheinbaren Verhalten erkenne
ich einen sehr nichtigen Umstand, der zur Aufklä-
rung der Homodynamie von beiderlei Gliedraaassen ^
fuhren kann. Denkt man sich nSmlich an der Stelle
der beiden bei Torpedo (Fig. III) vorhandenen ver-
kürzten Radien deren eine noch grössere Anzahl,
so werden dieselben von hinten nach vorne zu in
allmählich abnehmender Lange sein mUssen, da ihr
proximales Ende immer weiter gegen das distale Ende
des Raodradius [H] vorgerückt, immer weiter von
der Basis desselben entfernt sein wird. Diese Radien
werden sich so am Randradius in ähnlicher Weise aufreihen, wie die
anderen an der Stammreihe des Flossenskelets sich finden.
Eine derartige Vermehrung der au den Randradius sieb inseriren-
den Radien wird zweierlei Verhältnisse des ersteren umändern. Erst-
lich wird dieser Vorgang eine Verlängerung des Flossenskelets bedingen
und damit, bei nicht in entsprechendem Maassstabe sich vergrössemder
Basis, dem vorderen oder Randradius eine andere Richtung geben. Bei
geringerer Badienzahl wird der aus dem mit dem Basale der Slamm-
reihe gebildete spitxe Winkel in einen rechten Winkel übergehen. Bei
bedeutender Zunahme der Radien wird jener Winkel einen rechten
Überschreiten und immer mehr sich öffnen, bis die Längsaxc des Rasale
der Stammreihe in jene des nach vorne und dann median gelagerten
Randradius sich fortsetzen wird. Die zweite Veränderung des Rand-
radius belrifH dessen Beziehung zu anderen Radien. Während in dem
bei Raja gegebeneu Falle, wo nur Ein Strahl gegen den ersten oder
420 C. Gcgenbfinr,
Itnndratiius gcricluet ist, die Natur der lelzterea dadurch Dicht oder
(lo'li kniiiJi i;i'iiinlcrt wird, bringt die auf gleiche Weise zu Staude
kommende Vennehning der ihm aDsiUenden Ra-
dien ihn aus den ursprünglichen Beziehungen und
macht ihn zu einer Stutze von Radien, womit der
geänderten functionellen Bedeutung entsprechend
sein Volum wachst. Ein Radius wird zumStrahten-
trüger [Fig. IV. R) und tritt damit in die gleichen
Verhältnisse, welche nur der Stammreihe {B) der
Flosse anfänglich zukamen. Aus dem Randradius ist
ein derStammreihe gleichartiges StUck geworden,
dessen mit dem GtiedmaassengUrtel articulirendes
BasalslUck dem Basale der Stammreihe ähnlich
ist , sowie die folgenden GliedstUcke (das Ende
des ursprünglichen Radius) mit jenen der Stamm—
reihe verglichen werden können. Dieses aus einer
angenommenen Weiterentwickelung der bei Itaja
um) Torjx'ilci Lii'i^ilicnen Anfänge abgeleitete Verhalten findet hei Squa-
liii;i .si'iiw'iL riMli'ti Ausdruck. Der ganze vordere Abscbnilt des Skelets
(ii^r lliiii<>r^liril]iiii,iiise ist in jene Umformung eingetreten. Dasselbe
Slilck {II; , il;is v\ ir hei Raja und anderen deutlich als Glied eines Radius
sahen, ist zu einem eine Mehrzahl von Radien
tragenden Basale geworden, das selbst in seiner
gekrümmten Gestalt dem fainleron Basale Uhn-
\^ jT lieh ist.
" Y^^^"^ ^ Vom Gliedmaasseogunel gehen in Folge der
J,,,*-^. geschehenen Veränderungen zwei Stamm-
J[_ reihen aus, die hintere, primitive, und die vor-
^"~' dere, durch Umwandlung der Beziehungen eines
^^ Radius hervoi^egangene. Jede dieser beiden
-^ Stammreihen beginnt mit einem stärkeren Basal-
*"-- stücke und trägt eine Anzahl lateral gerichteter,
^ in den PlossenkOrper verlaufender Hmiien.
Die so zu Stande gekommeni; l-'arni des
Flossenskelets (Fig. V) entsprit^l in ilcn Haupt-
punkten dem Skelete der Bnistflosso der Iloehcn.
Das hier vorhandene Proptcryj^ium (ß)
I den umgebildeten Raudradiiis und die
Mahlen repräsen tirte Abschnitt. Diis Msta-
iit dem schon vorher unter diesem Namen ^lufgpflihrten
1 homodynamen Theil. Es handelt sich dIso nur nwti
Ueber diu Skelet der riiedmussen der Wirbfllhiere im Mlgeneine d ett.
421
um das Hesoplerygium. Wenn dieser Abscbattt durch das Pro- und
He(apl«rygium bestimmt wird, indem er alles dazwiacbeo liegende in
sich begreift, so werden wir die zwischen den beiden BasalstUcken zur
Articulation mit dem GliedmaassengUrte) gelangenden, oder doch die
hier beginnenden, mit keinem der beiden Basalien (des Pro- und Heta-
pterygiums) verbundenen Radien als HeprSsentanteu eines Mesoptery-
giums ansehen müssen. Die Zahl der in diesem Falle befindlichen
Radien wird eine verschiedene sein können. Wir wissen nun aus dem
Verbalten der Brustflosse von Hyliobatus und der Vergleichung der-
selben mit jener anderer Rochen, dass solche zum GliedmaassengUrtel
vortretende Radien mit ihren proximalen Gliedern unter einander sich
verbinden und dadurch platte KnorpdstUcke herstellen kVnnen (vei^l.
meine Untersuchungen z. vergl. Anat. II, S. lii). Wenn wir nun
schob an der abdominalen Gliedmaasse erfahren, dass einfache Radien
direct zum BeckengUriel treten, wenn wir femer die Thatsache in Be-
tracht nehmen , dass Gliedstilcke von Radien zu Enorpelplatten ver-
schmelzen kennen, so werden wir ein zwi-
schen dem Basale des bereits oben statuirten
Propterygiums und jenem des Metapterygiums
liegendes, lateral in Radien Übergehendes,
d.h. Radien tragendes KnorpelslUck (Fig. VI.
m] ebenfalls als aus mit einander veii)unde-
nen GliedslUcken von Radien hervorgegangen,
ohne Wagniss deuten können. Ein solches
durch Concrescenz von Basalglie-
dorn von Radien entstandenes
SkeletstUck ist das Basale des
Hesopterygiums.
Wir sehen so die Ausführbarkeit der
Ableitung des vorderen Gliedmaassenskelels
von den an der Hinlerglied maasse bestehen-
den Einrichtungen. Wenn wir zunächst no<^
bei den Rochen verweilen, so würde der Vorgang in der Kürze in Fol-
gendem sich darstellen lassen. Der vorderste Radius richtet sich nach
vorne zu, indem die hinler ihm gelegene Anzahl von Radien, die nicht
mit dem Basale der Stammreibe verbunden ist, sich vermehrt und all-
mählich sieb ihm anfügt. Dieser Abschnitt bildet das Propterygium <).
<j Bb ist bemerkenawerlb , daM d«r das Propl«ryglum bvgend« Radius bei
Torpedo noch aus derselben Anubl von GliedslUcken beslehl, welche die meisten
der Radien des Brustflossenskelcls aufw*' — — "'-'1 iene, die en das Basale jener
Radien und ins Basale des Heso- u- ' sind.
I
422 €. Gegeubanr,
Eine Anzahl direct zum Schultergürtel tretender Radien stellt das Heso-
pterygium dar, welches sein Basale durch Verschmelzung von Radien- .
Stücken entstehen lässt. Als Metapterygium erscheint dann der übrige
Theil des Flossenskelets, welcher durch den mindest veränderten
Abschnitt des ursprünglichen Skelets der Gesammtflosse vorgestellt
wird.
Ich glaube hervorheben zu müssen, dass bei dieser Ableitung keine
Erscheinung in Anspruch genommen wird, die nicht ihre thatsächliche
Begründung hat. Wir haben alle Theile bereits als gegeben vor uns,
zum Theil sogar in demselben Verhalten. Was wir zur Construction
jener Vergleichung als scheinbar neu in Anwendung brachten^ war nur
einß Vermehrung von Radien, die wir annahmen. Indem sie aber für
die Brustflosse (im Vergleiche zur Bauchflosse} zutrifft, ist diese Auf-
nahme nicht blos eine erlaubte, sie ist eine nothwendige.
Nachdem wir das Skelet der Vordergliedmaasse aus einer der der
hinteren entsprechenden Einrichtung aßgeleitet haben, können wir
umgekehrt in dem Skelete der Hintergliedmaasse jene Theile nach-
weisen, welche denen der vorderen entsprechen. Ueber das Metaf)ie-
rygium der Hintergliedmaasse kann nicht der geringste Zweifel ent-
stehen. Es war bereits anfänglich erkannt. Als Propterygium wird
bei Raja, Trygon und Torpedo (vergl. Fig. 49) der Randstrahl [Rj zu
gelten haben , und als Mesopterygium die beiden Radien , welche zwi-
schen beiden Basalstücken gegen den Beckengürtel gerichtet sind. Bei
Rhinobatus fehlt das Mesopterygium wie bei Raja Schul tzii, bei Trygon
und Torpedo. Das Propterygium wird dagegen von vier Radien ge-
bildet, von denen die beiden mittleren ihr erstes Glfedstück zu einem
Basale verschmolzen haben.
Die Haie liefern Bestätigungen «ier für die Rochen gewonnenen
Auffassungen. Hinsichtlich des Verhaltens des vordersten Abschnittes
des Bauchflossenskelets können wir zwei Gruppen unterscheiden,
die eine umfasst die Scyllien, Carcharias, Galeus, Mustelus und Hetero-
dontus. Hier ist der vordere Flossenrand von einem oder mehreren
mit einander verschmolzenen Radien gebildet. Dieses Stück articulirt
stets mit dem Beckengürtel. Nach dem für die Rochen Dargelegten,
werden wir dasselbe, sowie die ihm distal verbundenen Theile, als
Propterygium deuten müssen. Das Mesopterygium fehlt, wie auch in der
anderen Gruppe, die aus Squatina, Heptanchus und Acanthi^is besteht.
Hier finden wir aber in der zu der Längsaxe der Radien bestehenden
Winkelstellung der Basale des Propterygiums eine wichtige Thatsache,
die an das Verhalten des Brustflosse bei den Rochen anknüpfen
lässt.
Urber ins Skelet der Gliednutscu der Wirbrll liiere in Allgemeinen ele. 423
Das vordere Basalstück, welches von einem «infacben Radius ab-
geleitet wurde, ist bei den genannteD Haien vorwärts gerichtet, und
hat genau jene Stellung, die wir bei dem Versuche, das Brustflossen-
skelet der Rochen als eine Umwandlung der in der hinteren Gliedmaasse
besiehenden einfacheren Form zu deuten, postuliren mussten. Am
wenigsten ist jenes Verhultniss bei Acanthias vorgeschritten , wo der
Winkel gegen das Basale des Hetapterygiums ein rechter ist. Den
rechten überschreitet er bei Heptanchus und auch bei Squatina uro
Bedeutendes (vergl. Figg. 1,9, 3) und besonders bei letzlerer bietet
sich eine ziemliche liebere in Stimmung mit dem Skelete der Brustflosse.
Wir können also, alles zusammeDgefasst, kein Bedenken tragen, jenes
vordere Basalsttick der Bauchflosse als homodynam mit dem Basale des
Propterygiums der Brustflosse anzusehen.
Indem wir einen Abschnitt des Bauchflossenskelels der Selachier
mit dem Propterygium des Skelets der Brustflosse vergleichen
konnten, und der ganze übrige Theil des erstgenannten Skelets
aus dem in der Brustflosse als Hetapterygium unterschiedenen
Abschnitte besteht, ist fUr die Bauchflosse der Selachier
das Fehlen eines ausgebildeten Hesopterygiums tu
constatiren. Wenn auch, wie oben bemerkt, bei Baja durch
einige Strahlen gebildete Andeutungen besteben, so fehlt doch
ein differensirtes Basale. Darin liegt der
wesentlichste Unterschied gegen das Skelet
der Brustflosse. Da wir das Hesopterygium
mit einer Vermehrung der Badien und
Verbreiterung der Flossenbasis in Zu-
sammenhang stehen sehen, so kQnnen wir
das Auftreten jenes Theilea mit einer
FlächenvergrOsserung des bezüglichen
Gliedmaassen skelets in Verbin düng bringen,
eine Erscheinung, die aber in derDivergenz
der Ausbildung von beideriei Gliedmaassen begründet ist. Der Hange)
eines Hesopterygiums im Skelete der Bauchfiosse ist ebensowenig ein
Ausfall , als das Vorkommen eines solchen Theiles in der Brustflosse
eine absolute Neubildung ist. Wahrend in der BauchflosBe eine geringe
Anzahl von Radien die Verbindung mit dem Basale des Hetapterygiums
aufgiebt, mit dem Schultergtlrtel in Verbindung tretend, gebt in der
Brustflosse (Fig. Vllj eine grössere Anzahl in dieses Verhalten über,
und lässt ihre BasalstUcke in zwei Knorpelplatten [R. m] verschmelzen,
welche als Basale des Pro- und Hesopterygiums von mir aufge-
führt worden sind. Das Hesopterygium ist also wie das Propterygium
eine Differenzirang aus pinem einfacheren ZusUrade, der in der llinler-
gliedaiaassc ersichtlich ist.
Durch die erwiesene Möglichkeit der Ableitung des Skeletes der
Brustflosse der Selnchier von einer Form, die im Skelele der Bauch-
tlosse erhalten ist, gelangen wir zu der Frage nach einer Grundform
des Gliedmaassenskelets. Für die hinteren Gliedmaassen der
Selachier ist eine solche oben bereils aufgestellt worden. Ob dieselbe
auch fUr die Vordergliodmaassc gellen darf, ist Gegenstand einer neuen
Erörterung. Die wichtigsten Anhaltspunkte dafür finden wir zwar
schon bei den Selachiern gegeben , allein unsere Schlüsse werden
sicherer sein , wenn wir ihrer Begründung eine grössere Ausdehnung
geben. Ich ziehe daher andere Abtheilungen der Fische in den Kreis
der Betrachtung. Da wir ausscbb esslich Rückbildungen im Bnistflossen-
skelet der Ganoiden und Teleosticrn im Vergleiche zu den Selachiern
antreffen und da auch im Skelete der Bauchflossc ähnliche Verhältnisse
walten, müssen diese Äblheilungen hier ohne Berücksichtigung bleiben.
Es sind also nur die Chimären undDipnoi übrig. Für beide habe
ich bezüglich des Skelets der Brustflosse bereils früher Mittheilung ge-
macht. Hinsichllich des Skeleta der hinleren Gliedmaasse ist für Lepi-
dosiren [Rhinocryptis) dieUebereinstinimung milden vorderen in allent
Wesentlichen nachgewiesen, Peters ') zeigte, dass beiden ein geglie-
derter Knorpelstrahl zu Grunde liege. An diesem finden sich zahlreiche
secundüre Knorpelstrahlen, die an der Brustflosse in der ganzen Länge,
an der Bauchflosse nur vom Kweiten Drittheile an aufgereiht sind.
Was Chiniiira betrifll, so findet sich das Bauchflossenskelet, wie
jenes der Brustflosse, dem der Selachier ähnlich. Mit dem Beckcn-
knorpel articulirt aber nur ein einziges Basalslück (Fig. SO B). Dieses
trägt die knorpeligen Strahlen, und lauft gegen den vorderen Fiossen-
rand in eine Knorpelplatle (fl) aus, die ein eigen thümliches Verhalten
bietet. Beim Mannchen ist dem Basale ein den sogenannten Copulations-
apparal tragendes Stück angefügt, welches, wie der letztere, dem Weib-
chen fehlt. In allen Übrigen Punkten kommt das Flossenskelet des
MUnnchens mit jenem des Weibchens ilbcrein. An dem Basalstück der
Flosse Zclhle ich elf Radien, die beiden hintersten, kleinsten, sind dem
vorhergehenden ebenfalls unansehnlichen Bitdius angeheftet. Alle tra-
gen ein vom breiteren Ende abgegliedertes Stück. Zwischen dem End-
gliede des 4. und 5., sowie des 5. u. 6. und des 6. u. 7. Radius ist je
i) Arcliiv f. Anal. u. Phys- tS45, S, s.
Ueber das Skelet der Gtiedmaassen der Wirbeltbiere im All^meinen etc. 425
ein dreieckiges KnorpelsiUckchen eingeschaltet, welche ich als die
eigeDtlichen Enden der je vorhergehenden Radien betrachte. In der
punktirten Linie ist das angedeutet worden. Längs des ersten freien
Radius lagert die mit dem Basale verbundene Knorpelplatte des vor-
deren Flossenrandes. Sie trägt lateral drei in der Reihe der terminalen
Glieder der Radien liegende Rnorpelplättchen, davon das letzte einem
durch einen Einschnitt von der Platte theilweise getrennten Theile an-
sitzt. Dieser ist nach seinem ganzen Verhalten (vergl. Fig. 20) ein
unvollständig mit der Platte verwachsener Strahl, und dient dazu, im
Zusammenhalte mit den terminalen Plättchen das ganze von dem Basale
ausgehende KnorpelstUck {R) als aus verschmolzenen Strahlen entstan-
den zu erläutern. Ein mit lateralen Strahlen besetztes Knorpelstttck
bildet also auch hier die Grundlage des Flossenskelets und lässt die
Chimären auch bezüglich der Hintergliedmaasse in der Hauptsache mit
den Selachiem übereinstimmen.
Das Skelet der Bauchflosse einander sonst ziemlich ferne stehender
Abtheilungen, wie Selachier, Chimären und Dipnoi, bietet demnach mit
Beziehung auf seine Grundform übereinstimmende Verhältnisse dar.
Da wir aber das Skelet der Brustflosse der Selachier von
jenem der Bauchflosse ableiten konnten, so ist anzu-
nehmen, dass auch in ihm die nämliche Grundform zur
Differenzirung gekommen sei, so dass also beiderlei
Gliedmaassenskelete aus völlig homodynamen Bildungen
hervorgingen. Diese hypothetische Skeletform, die oben bereits für
die Hintergliedmaassen dargelegt ward, will ich als Archipterygium
bezeichnen (vergl. Holzschnitt Fig. 1).
Sie ist uns nicht blos wichtig , weil aus ihr die übrigen Flossen-
skelete, sowohl jene der vorderen als jene der Hintergliedmaasse in den
genannten Abtheilungen der Fische abgeleitet werden können, sondern
weil auch die Gliedmaassen der höheren Wirbelthiere aus ihr hervor-
gehen. In letzterer Beziehung ist bereits früher aus der Vergleichung
der Gliedmaassen der Amphibien die nOthige thatsächliche Basis ge-
wonnen worden. Da aber von den Selachiem her auch die Gliedmaassen-*
skelete der Ganoiden und von diesen jene der Teleostier ihre morpho-
logische Deutung empfangen, so bildet jenes Archipterygium den Aus-
gangspunkt für die Gliedmaassenbildung in dem gesammten Stamme
der gnathostomen Wirbelthiere.
Durchgeht man mit Bezugnahme auf das Archipterygium die vor-
züglichsten Formzustände, so müssen wir den Dipnoi die niederste
Stufe einräumen. Die Stammreihe ist in beiderlei Gliedmaassen gleich-
artig. Die Strahlen stimmen gleichfalls überein, und nur der Mangel
426 G. GegeDbanr,
der letzteren am vorderen Abschnitte der Hintergliedmaassen ergiebt
eine Verschiedenheit. Bei Chimiira besteht an der HintergUedmaaase
eine Verschmelzung von vorderen Radien mit dem Basale des Stammes,
welchem nnr noch eine geringe Anzahl terminal gegliederter Radien
ansitzt. In der Vorder^liedmaasse ist ausser dem Basalstück des Stam-
mes noch ein zweites Stück zum Schultergelenk gelangt, welches ich
als den vordersten Radius betrachte, der als Endglied eine Knorpelplatte
trägt. Diese wird entweder aus einem verbreiterten Gliedstücke des
ersten Radius, oder aus mehrfachen mit einander verschmolzenen Ra*
dien entstanden sein müssen. Sie bildet mit dem sie tragenden Basale
und einigen an ihrem Hinterende sitzenden Radien das Propterygium,
indess der übrige Theil des Flossenskelets das Metapteryginm vorstellt.
In diese beiden Abschnitte ist also hier das Archipterygitmi gesondert
worden ^) ,
Für die Selachier ist das Archipterygium an der Hintergliedmaasse
gleichfalls am wenigsten verändert. Der vorderste Radius tritt vor der
Verbindung mit dem Basale heraus an den Beckengttrtel. Er bleibt
entweder einfach, wenn auch das Volum seiner Glieder wächst (Raja),
oder er verschmilzt wenigstens mit seinem ersten Gliede mit den ent-
sprechenden Gliedern nachfolgender Radien. In der Lagerung behält
er entweder mit den folgenden Radien parallelen Verlauf, oder er richtet
sich nach vorne, mit den folgenden divergirend. Ersteres ist der FaH
bei Mustelus, Scyllium, Galeus, Carcharias, wo GKedstücke von zwei
oder drei Radien zu einem Stücke verbunden sind. Eine Mehrzahl ist
bei HeterodoDtus verschmolzen. Sie stellt das Basale des Propterygtnms
dar. Der andere Fall ist bei Torpedo, Acanthias, Heptanchus nnd
Squatina gegeben. Der erste, terminal meist rudimentäre Radius trägt
4 ) In der vorgetragenen Auffassung weiche ich von meiner vor vier Jahren
(Untersuchungen z. vcrgl. Anat. II, S. U5) gegebenen Deutung der Theile des Brust-
flossenskelets der Cliimära ab. Was ich damals als Basale des Mesopterygiums
bezeichnete, muss ich, den oben für die Hintergifedmaasse der Selachier gewönne^
nen Resultaten gemäss, als Theil eines Radius oder mehrerer Radien ansehen.
Durch die Bildung eines Propterygiums bei mangelndem Mesopterygium kommt das
Brustflossenskelet der Chimären viel mehr mit dem Skelete der Bauchflosse der
Selachier, als mit dem der Brustflosse derselben überein, und zeigt damit einen
relativ niederen Zustand. Denkt man sich die ersten Radien des Arcbipterygiums
an den Schultergürtel gelangt und unter bedeutender Verbreiterung hi zwei kurze
Stücke gegliedert, so erhält ro&n die bei Cbimära bestehende Form. Da aber auch
möglich ist, dass nur das Basale des Propterygiums jenem ersten Radius angehört,
und das zweite Stück aus verschmolzenen, jenem anfänglich getrennt ansitzenden
Radien entstand, ist die versuchte neue Deutung keineswegs ganz sicher. Durch
jede der beiden Deutungen ist jedoch an's Archipterygium anzuknüpfen.
Ueber das Skelei der Güedinaassen der Wirbelthiere im AHgeineinen etc. 427
als Basale des Propterygiums mehrere (2 — 5) Radien, das Proplerygium
ist daher vergrössert. Durch die wechselnde Zahl der das Propterygium
zusammensetzenden Radien sind diese Abschnitte des Flossenskelets
nicht völlig homolog. Wenn wir auch den vordersten Radius des
Archipterygiums als homolog annehmen wollten — was sich kaum fUr
alle Selachier sicher begründen lassen dürfte — so sind in einem Falle
mehr, im andern weniger Radien mit ihm verbunden und bedingen
damit die Unvollständigkeit der speciellen Homologie. Der nicht zum
Propterygium verwendete Theil des Archipterygiums bildet als Meta-
pterygium den grössten Theil des Flossenskelets.
Im Skelet der Brustflosse ist bei den Rochen der erste Radius des
Archipterygiums als Träger einer grösseren Radienzahl bedeutend ent-
faltet. Er ist vom Stamme des Archipterygiums weiter abgerückt und
ISsst dadurch eine grössere Anzahl anderer Radien zum Brustgürtel ge-
langen. Bei Trygon hat sich aus verschmolzenen Gliedstücken solcher
Radien ein besonderes basales Knorpelstück geformt, welches die zwi-
schen Pro- undMetapterygium befindlichen Radien trägt, und mit ihnen
einen neuen Flossenabschnitt, das Mesopterygium bildet. Hinter dem
Basale des Mesopterygium tritt bei Pristis^) ein einziger Radius (vorgl.
4) Bezüglich des Brustflossenskclets von Pristis sei Folgendes bemerkt: Die
Brustflosse ist hier durch ihre verhältnissmässig geringe Ausdehnung scheinbar
mehr im Anschlüsse an die Einrichtungen bei Haien , doch ergiebt schon die ge-
nauere Vergleichung des äusserlichen Verhaltens, besonders des vorderen Flossen-
randes die Beziehungen zu den näheren Verwandten, den RocheUi zu erkennen.
Das Flossenskelet selbst ist damit in vollster Uebereinstimmung. Drei Basalslücke
stellen die Verbindung mit dem Schultergürtel her. Das Basale des Propterygiums
erscheint als ein ähnlich wie beiRaja gekrümmtes, aber viel kürzeres Knorpelstück,
welches keine Gliederung besitzt (vergl. Fig. 28 B), Das zweite Basalstück (m) ist
ihm unmittelbar angeschlossen und stellt eine ungleicliscitig dreieckige, mit dem
spitzen Winkel gegen das dritte Basalstück gerichtete, aber dasselbe nicht erreichende
Knorpelplatte von unansehnlichem Umfange vor. Zwischen diesem und dem Basale
des Metapterygiums liegt Bindegewebe. Das dritte Basalstück (B) ist länger, nur
etwas schlanker als das erste, dabei weniger gekrümmt. Es läuft in ein dünneres
Endstück aus.
Die Radien der Flosse sitzen sflmmtlich an der Seite der Basalia und verlaufen
am Pro- und Mesopterygium ziemlich gerade nach dem freien Rande der Flosse»
dem bezüglichen Basalstücke fast rechtwinkelig angefügt. Die des Mesopterygium
bilden den lateralen Winkel der Flosse, sind somit die längsten. Jene des Meta-
pterygiums nehmen allmählich eine schräge Verlaufsrichtung an , richten sich all-
mählich in spitzem Winkel zum Basale, so dass die letzten endlich fast in der Fort-
setzung des Basalstücks zu liegen scheinen. Sie erscheinen alle als einfache, cylin-
drische Knorpelstücke, die auf ihrem Verlaufe Je nach der Länge verschiedenemale
gegliedert erscheinen, bis sie am Ende in mehrere feinere Gliedstücke übergehen.
Von der zweiten Hälfte des Propterygiums an halten sich die Radien in ziemlich
428 G. Gegenbaiir,
Fig. 28), bei Raja mehrere Radien für sich zum Schultergttrtel, und bei
Myliobatus sind aus solchen Radien einige neue Stücke durch Ver—
Schmelzung entstanden, so dass also das Mesopterygium mehrere Basalia
besitzt. Während ich früher diese Stücke für einander ungleichwerthig
hielt, bin ich jetzt durch die bessere Erkenntniss des Verhallens des
Mesopterygiums anderer Ansicht, und sehe sie als auf die gleiche Weise
aus gleichartigen Stücken entstandene Theile an. Durch die Entwicke—
lung eines Mesopterygiums und eines ansehnlichen Propterygiums tritt
der übrige Abschnitt des Archipterygiums als Metapterygium im Flossen—
skelete derRajiden zurück und bildet bei Torpedo sogar den bei weiten
kleineren Theil des gesammten Skelets der GKedmaasse ^j .
gleicher Richtung von einander, die an der Insertionsstelle sehr gering Ist, so dass
sie sich dort fast unmittelbar berühren. Verschieden hiervon verhält sich die vor-
dere Hälfte des Propterygiums, die nur von acht Radien eingenommen wird (vergl.
Fig. 28), weiche fast um die Hälfte ihres ^Dickedurchmessers auseinander gerückt
sind. Es sind dies zugleich die kürzesten Radien des gesammten Flossenskelets,
die ebenso der Gliederung, wie der peripherischen Verjüngung entbehren. Dieser
Abschnitt des Flossenskelets ist äusserlich nicht bemerkbar, und trägt also nichts
zur VergrOsserung der Flosse bei. Den kurzen spärlichen Strahlen dieses Ab-
schnittes kommt somit ein anderer Werth zu als den übrigen, und wenn wir diesen
Abschnitt mit dem homologen anderer Rochen, z. 6. den Rajae, vergleichen, so
werden wir nicht anstehen können , darin eine Rückbitdung zu sehen. Das ganze
Verhalten dieses Abschnitts bewahrt also noch vollkommen das Typische der
Rochenflosse und bedingt durch seine Lage die ventrale Stellung der Kiemen-
spalten.
Der Rochentypus spricht sich auch in dem Befunde der Basalstücke, vorzüg-
lich jenes des Mesopterygiums aus. Sie halten die Mitte zwischen den bei Trygon
und bei Raja von mir beschriebenen Einrichtungen (Untersuchungen z. vergl. Anat.
d. Wirbelthiere. H, S. U3). Während bei Trygon das Basale des Mesopterygiums
an jenes des Pro- und des Metapterygiums stösst, ist dasselbe Basale bei Pristis von
Jenem des Metapterygiums durch eine ziemliche Schichte Bindegewebes geschieden.
Dieses Bindegewebe hindert den directen Eintritt mindestens Eines Knorpelradius
zur Verbindung mit dem Schultergürtel. Wir werden uns vorstellen dürfen^
dass bei etwas weiterer Entfernung des Metapterygiums ausser jenem einen Radius
noch andere näher an den Schultergürtel rücken, und dann erhalten wir die Ein-
richtung die bei Raja besteht, wo fünf Radien jene Verbindung erlangt haben. So
füllt also die Flosse von Pristis in jener Beziehung eine Lücke aus, und wir können
für das Verhältniss der allmählichen Vermehrung der in das Flossengelenk eintre-
tenden Stücke eine Reihe formircn, die von Torpedo und Trygon, wo nur die drei
Basalia als Verbindungsstücke bestehen, durch Pristis zu Raja, und von da zu
Myliobatus verläuft, bei welchem ausser den drei Basallen noch zwei aus je einer
grösseren Anzahl verschmolzener Radienglieder gebildete Verbindungsstücke vor-
kommen.
4) Bei Torpedo ist das Metapterygium bezüglich des Basale wie bei Trygon,
aber die Gestaltung dieses Theiles, der sonst bei Raja, Myliobatus und Trygon
lieber das Skelet der GlIedmaKsseu der Wirbelthiere im Allgemeinen etc. 429
Unter den Haien isl die Ausbildung der drei Abschnitte bei Squa-
tina am vollständigsten , wobei eben der überwiegende Antheil des
MetapterygiucDs am Flossenskelet diese Form den übrigen Haien näher
bringt als den Rochen. Das Arcbipterygium ist bei dem Ueberwiegen
des Metapterygiuois in der Brustflosse aller Haie weniger als bei den
Rochen modißcirt. Am geringsten ist die Modification bei Scym^us, wo
sie nur in einer Verbreiterung des Basale sich ausspriobt , indem Pro-
und Mesopterygium gänzlich fehlen. Von den üebrigen, soweit sie mir
bekannt wurden , fehlt nur bei Gentrophorus (Fig. 25) und Heterodontus
das Propterygium , welches die Andern, wenn auch nur in einem oft
unansehnlichen BasalMÜcke, besitzen. Die an dem Skelete der Hin-
tergliedmaassen wahrgenommenen Verhältnisse lehren , dass die Ent-
stehung des Propterygiums keineswegs an einen dem der Rochen gleich-
kommenden Zustand des bezüglichen Skelets geknüpft ist, dass viel-
mehr nur die Modification eines oder einiger Radien jene Bildung her-
vorruft. Wenden wir diese Thalsache auf die Vordergliedmaassen der
Haie an , so finden wir bei Vergieichung der bezüglichen Skeletab-
schnitte , dass nichts jener Deutung entgegensteht , ebenso wie für das
Basale des Mesopterygiums die Annahme einer mit dem der Rochen
gleichen oder mindestens ähnlichen Bildung gewiss vorausgesetzt wer-
den darf.
Prüfen wir diese Verhältnisse näher. (Vergl. dazu die Abbildungen
aufTaf. IX des zweiten Heftes meiner Untersuchungen.} In allen Fällen,
wo das Propterygium aus mehr Stücken als aus dem blossen Basale be-
steht, giebt sich die Radiennatur ziemlich deutlich zu erkennen. So
bei Acanthias , Galeus, Carcharias, (Fig. 26) Pristiurus, Scyllium.
Hemiscyliium (Fig. 27). Die dem Basale folgenden Stücke lassen bei
Acanthias und Pristiurus nur einen einzigen Radius annehmen. Bei
übereinstimmt, ist eigenthümlich verschieden und besitzt keine sicheren Spuren
einer Entstehung durch Verschmelzang von Strahlengltedern, vvic sie an den andern
wahrnehmbar sind. Das Stück stimmt in der Form mit dem Basalstück
eines einzigen vcrgrösscrtcn Radius, und als solches möchte ich es jetzt
ansehen. Eswürde also beiTorpedo ausser dem ersten Radius desArchipterygiums
noch ein zweiter zu einem Träger von Strahlen geworden sein. Diese Deutung be-
stärkt sich durch die Thatsache, dass an dem nach vorn gerichteten Ende der
fraglichen Basale noch ein kleines Knorpelstück liegt, das nur als Gliedstück eines
Radius angesehen werden kann, und dann muss es dem Basale des Mesopterygiums
zugetheilt werden. Im spcciellen Verhalten ist also die Brustflosse der Zitterrochen
von jener der übrigen Rajiden sehr verschieden, und führt uns auf einen anderen
Entwicklungsgang. — Den andern Rajiden schliesst sich auch Prtstis an , bei dem
hinler dem Basale des Mesopterygiums ein freier Radius sich einschiebt , der so-
mit das Verhalten von Trygon und Raja verknüpft.
Bd. V. 4. 29
430 C. Cei^euljHur,
Prisliurus isl allerdini;s das zweite Glieilslück dieses ersten Radius be—
deuleod verbreiten, das lerminale GliedslUck isl dagegen unverändert.
Dem nüherl sich Scyilium, an dessen Propterygium-Strahle ausser dem
Basale drei Glieder bestehen, davon das miUlere ins Gebiet des Meso-
pterygiums Übergreift. Zwei Glieder folgen auf das Basalglied bei He-
miscyll^m (b'ig. 97, B). Bei Galeus erscheint das zweite Glied des in
Frage siebenden lladius mit dem Mesoplerygium aogehürigeD Radien—
stucken zusam menge Qossen und nur das Endsltlck isl rudimentär er-
halten. Carcliarias scheint im Propterygium zwei Radien zu besitzen,
von denen einer mil seinen Endgliedern am vorderen Flossenrand liegt,
indess ein Glied des folgenden mit einem Gliede eines Radius des
Mesopterygiums zu einer Knorpelplatte verbunden ist.
Was das Mesoplerygium bctrilTt, so ist für die ZusammenseliUHg
von dessen Basale aus Radien gliedern nur bei wenigen der mir be-
kannten Haie ein sicherer Nachweis zu führen , doch fehlen bei den
Meisten Andeutungen nicbl ganz. Bei Prisliurus ist das auf das kleine
Basale folgende Sltlck dem entsprechenden Abschnitte des Pi-oplerygiinns
Uhnlich, und ist wie dieses mit einem einzigen Endgüede versehen.
Wenn wir das Propterygium von einem Radius ableiten durften, ergiebl
sich die gleiche Berechtigung auch für das Mesoplerygium. Aehnlich
verhalt sich llemiscyllium. Zwischen dem Basale des einem Radius ent-
sprechenden Pi-opterygium und dem Metaptorygium lagert ein Plallen-
sttlck, dem zwei nur theilweise verschmolzene Radienglieder folgen,
die mil plaltenfbrmigen Endstücken versehen sind. Es kann kein Be-
denken bestehen, dass das ersterwähnte Plattenstuck aus den völlig
verschmolzenen Basalgliedern jener zwei, terminal noch freien Radien
entstand, dass also dem Mesopterygium , wie wir diesen Abschnitt be-
zeichnen dürfen, wenn der noch in PlallenstUcke modiücirte Radius (R)
das Propterygium bildet, im Ganzen zwei Radien zu Grunde liegen.
Dazu kommt endlich das Verhalten der Rochen, das gewiss bei der
Beurlheilung derllaie nicht ausser BorÜcksichUgung bleiben darf. Wenn
wir sehen , dass der bei den Rochen schwankende Befund des Basale
des Mesopterygiums bei den Haien in constanten Zustand übergegangen
ist, so ergiebl sich aus dieser Vcrgleichung , bei einmal festgehaltener
Homologie , dass die für die Enlätuhungsge schichte jenes Basale bei den
Rochen sich ergebenden Verhältnisse auch für die Haie mil in die
Waagschale fallen. Das in Rede stehende Basale isl aber auch für die
Haie kein Skelellheil sui generis, sondern durch Umwandlung von Ra-
diengliedern entstanden aufzufassen. —Die Ableitung desBrust-
flossenskeletsder Haie aus dem Archipterygium wird also
folgendermaassen darzustellen sein: der erste Radius des Archiptery-
lieber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbelthiere im AltgemeineD etc. 431
giura ist an den Sdhnltergttrtel getreten und bildet mit seinem vcftdem
Glied das Basale des Propterygiums. Bei Sqoatrna richtet sieh der erste
Radius nach vorne, an seinem ursprünglich hinteren, nunmehr lateralen
Rande ßnden nur Radien ihre Insertion. Bei den übrigen Haien behält
derselbe Radius die gleiche Richtung mit den übrigen. Seine Endglie-
der bleiben entweder auf derselben Stufe wie die der übrigen Radien,
(Scyllium , Hemiscynium , Pristiurus) oder sie erleiden Rückbildungen
(Galeus, Carcharias, Äcanthias). Wo das Propterygium nur aus dem
Basale besteht (Heptanchus) , sind die übrigen Glieder entweder rück-
gebildet oder verschwunden, oder es ist ein Stück davon ins Basale des
Mesopterygiums mit aufgenommen, und die Endgliedersitzen dann dem
Basale des Mesopterygiums an. Welcher von beiden Fallen wirklich be-
steht, kann vorläufig nicht entschieden werden. Ebenso zweifelhaft
ist HeterodoDtus. Aus dem Auftreten grosser Knorpelplatten , die in
ihren Begrenzungslinien die Spuren der Zusammensetzung aus einer
Mehrzahl von Radtenglfedem zeigen , ist zu ersehen , dass am vorderen
Flossenrand ein ergiebiger Terschmelznngsprozess stattfand. Es ist
nicht unwahrscheinlich, dass dieser zu einem Aufhören der Selbststän-
digkeit des gesammten Propterygiums führte , dessen Basale dann mit
jenem des Mesopterygiums zu einem Stücke zusammengetreten ist.
Da wir die Basalstücke des Pro- und Mesopterygiufms von Radien
herleiteten, also von Theilen, die eine vielfach nachweisbare Concres-
cenz eingehen , so fällt auf die Vereinigung dieser Theile im Ganzen
wenig Gewicht. Es kann aber auch daran gedacht werden , dass jene,
nur zwei Basalia erkennen lassende Form des BruslUossenskelets gleich
m dieser Weise entstand, dass nämlich in ähnlicher Weise, wie es im
Skelet der Hintergliedmaassen sich findet, nur einer oder weniger Radien
zur Articulation mit dem Gliedmaasengürtel gelangen. In diesem Falle
wird ausser dem Metapterygium nur noch ein Propterygium bestehen.
Durch die Prüfung derBnrstflosse von Centrophorus wurde ich zu dieser
Meinung geführt, indem hier (Fig. 25) vor dem sehr breiten Basale des
Hetapterygiums (B) nur ein relativ kleines dreieckiges Knorpelstück (R)
lagert, welches angefügter Radien gänzlich entbehrt. Dieses Verhalten
würde grossartige Reductionen voraussetzen, wenn wir das vordere
Randstück auf ein Mesopterygium deuteten , denn dann müsste nicht
nur ein grosser Thcil des Mesopterygiums (alle Radienenden), sondern
auch das Propterygium weggefallen sein. Ein einfacheres Deutungs-
verfahren lusst uns dagegen in dem fraglichen Randknorpel nur
das modificirtc Basalstück eines Strahls erkennen, dessen Verän-
derung jener anderer, am vorderen Flossenrand befindlichen Ra-
dien ganz entspricht. Der Bau des Bruslflossenskelets von Genlro-
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432 ^* Gegenbaur,
phorus ^) bietet zugleich eine Vermittelung der meisten übrigen GaU-
tungen mit Scylliuoi, wo das Archipterygium sich in der Brustflosse un—
4) Das Brustflossen skelet von Centrophonis ist noch in anderer Beziehung
sehr wichtig. Dem Basale des Metapterygiums (B in Fig. 25) sitzt ein längliches
strahlentragendes Knorpelstück [b) an , an dessen medialem Rand ein zweites «ihn-
liches {h') angefügt ist. An diesem finden wir wieder, wenn auch nur sehr kurze,
Radien und zwar mit denen des ersterwähnten Stückes divergirend. An der Seite
dieses zweiten länglichen Knorpels ist ein drittes , viel kürzeres Knorpelstück (6'0
gelagert, dem ein viertes noch kleineres folgt. Beide tragen gleichfalls einige kurze
Radien. Durch diese radientragenden Stücke und die fast rechtwinkelig abbiegende
mediane Richtung von b* und 6'' empfängt das Gesammtskelet der Gliedmaassen
eine eigenthümliche ConGguration, die in manchem mit der von Acanthias, bezüg-
lich der medianen Endkrümmung auch mit dem Brustflossenskelete der Carcharias
(Vergl. Fig. 26) und der Chimären Achnlichkeit besitzt. Die Frage nach der Ent-
stehung dieser Krümmung hängt mit der Deutung der beiden längeren radientra-
genden Knorpelstüoke (6, V) zusammen. Ihre Anreih ung an das Basale (B), sowie
ihre Beziehung zu Radien , lässt gegen ihre Deutung als Gliedstücke der Basalreihe
schwerlich ein Bedenken zu. Die bestehende einseitige Ausdehnung, durch welche
eine Verbindung mit einer grösseren Radienzahl möglich wird (beide Stücke zu-
sammen tragen 43 Radien), muss eine Aenderung der Längsaxenrichtung des End-
abschnittes der Basalreihe zur Folge haben. Da^ ganze Verhalten ist somit ein An-
passungszustand der Basalreihe an eine grössere Radienzahl.
Indem die Structur des Brustflossenskelets von Centrophorus sich durch die
gegebene Deutung der einzelnen Theile erklären lässt, wird uns damit zqgleich die
Aussicht eröffnet zum Verständnisse eines in dem Brustflossenskelete der Notida-
niden vorkommenden eigenthümlichen Verhaltens. An dem medialen Rande des
Endes des Brustflossenskelets findet sich sowohl bei Hexanchus als bei Heptancbus
ein längliches aber schmales Knorpelstück, dem auf das Basale des Metapterygiums
folgenden , anscheinend der Stammreihe angehörigen Stücke angefügt. Bei Hexan-
chus schiebt sich zwischen dieses Stück und die Stammreihe sogar noch ein anderes
kleines Knorpelstück ein. Ich habe diese Verhältnisse in meiner Arbeit über die
Brustflosse der Fische (Abhandlung z. vergl. Anat. der Wirbelthiere II.) abgebildet,
(Taf. IX, Fig. 4 u. 2) mit Enthaltung von jeder beurthellendon Aeusserung, da der
ganze Befund mir damals noch unvei^tändlich war. Wenn wir die vorerwähnten,
die fraglichen Knorpel an der medialen Seite tragenden Stücke zur Stammreihe
rechnen, die medialen Knorpel aber als Radien betrachten — wie es bei der gege-
benen Voraussetzung nicht anders geschehen kann — so wird, bei dem ohnehin nor-
malen lateralen Radienbesatz , der Stammreihe eine Art von doppelter Fiederung
zukommen. Sie würde nach beiden Seiten, medial und lateral, radientragend ange-
sehen werden müssen. Daraus würde aber eine wesentlich andere Grundform des
Archipterygiums resultiren, dem ebenfalls eine doppelte Fiederung zukommen
müsste.
Die Vergleichung mit dem Brustflossenskelete von Centrophorus macht nun
eine andere Deutung möglich und rettet zugleich die Aufstellung des Archiptery-
giums vor einem sonst schwer zu beseitigenden Einwurfe. Wir erfahren nämlich
bei Centrophorus , dass auch Stücke der Stamm reihe durch einseiUge Entwick-
lung der Länge nach neben einander sich lagern können (6, b'). Daraus wird mög-
Deber du Skelel der Rlicdnussen der Wirbetthiere im Allt^neinen elc. 433
verändert fortorha'i^n zu haben schcini , da nur ein einziges Basale
vorkomiDl.
Versuchen wir die BrustHossenskclele der Haie nach dem Verhalten
der BaRalstUcke zu ordnen , so ist der einfache Zustand von Srymnus
voran zu stellen. Das durch verbreitertes Basale ausgezeichnete Arcbi-
pterygium bildet das gesammte Gliedmaassenskelet, Bei Centrophorus
ist ein Radius noch zum SchultergUrtel getreten. Er ist aber nur im
Basale vorhanden. In Heterodontus ist vor dem Basale des Metaptery-
giums eine grossere Anzahl von Badien in der Schullcrgelenk Verbin-
dung ; diese Verbindung vermittelt ein einziges Knorpelstuck , welches
wir aus der Concrescenz von Basalgliedem jener Radien entstanden
betrachten. Bei den Notidaniden' büdet ein vorderer Radius ein
Basalglied (Propterygium) , hinler welchem ein zweites Basale eine
grltssere Anzahl von Badien trügt (Mesopterygium) . Es bildet den
grossem Abschnitt des Fiossen^kelcts. Das Metaplerygium ist da-
gegen elwas zurückgetreten , und ist auch in seinem BasalstUckc
verhältnissmtissig unansehnlich. Hieran reiht sich Acanthias, bei
welchem aher das Propterygium durch seine Endglieder sieb deut-
licher in seiner genetischen Beziehung zu einem Radius darstellt, in-
dess das grosse Basale des Mesopteryglums wieder emcr Hehrzahl von
Radien entspricht.
Ist in diesen Fällen eine grossere Anzahl von Radien ausserhalb
direcler Verbindung mit dem Reste des Archipterygiums , indem ihre
Basalglieder grflsstenlheils zum Basale des Hetapterygiums zusammen-
getreten sind, so linden wir in einer anderen Reihe mit dem Bestehen
dreier Basalta dennoch ein bedeutendes Ueberwiegen des Hetaptery-
giums. Bei Galeus und Carcharias entspricht das Propterygium nur
einer ganz geringen Badienzahl. Bei Carcharias glaucus wird es von
nur einem Badius voi^estt^ltt , bei C. melanopterus (Fig. är<J besteht es
scheinbar aus zweien, indem noch ein Gtied.'ittlck eines im Mesoptery-
gium liegenden Radius mit ihm (r) verwachsen ist. Auch bei den
lieh, Jone median der Stammrethc angelagerten Knorpel der Notidaniden zu ver-
stehen , indem man sie Rlr den Rest eines Sliickcs ilcr Slammrcihe deutet. Denkt
man sich bei Ccnlrophorus das Stück C der Stsmmroihc auf einen sclimiileren
Knorpelstrcif redacirl , und dabei die weiter mediannarLs ihnen nngcfligtcn Theile
(6") tiammt den hier ohnehin sehon rudimcnlHren Radien gttnxlicb verschwunden,
so gehl daraus das bei Heptancbus heslehendo Verhalten hervor.
Damit kann aus dem Vorkommen jener medialen Knorpel l>ci den Notidaniden
kein Grund für die Annahme einer doppelze iligcn Aufrcihung der Radien im Ar-
cliipterygium geschtipfl werden , es ernieht sich vielmehr nur , dass das Verhalten
von Cenirophonis auch in Rückbildungsxuaianden repräsenlirt int.
434 ^- ^<*efnbMir,
ScyllicD und hei I'risUurus mindern die beiden vor dem Hotaplerygiuni
liegenden ßasalia nur wonig den Werlh dor letzlorn , da sie nur ganz
wenigpji Radien eulsprechen, dreien ])oi Hemisc.ylliuni, zweien beiPris-
tiurus. Ausser bei Scyllium, von dem wir ausgingen, ist bei den letet-
erwabnlcn Gattungen das Archiplerygium am geringsten niodificirt.
Im Brustflossenskelet der Haie ist daher eine weitere Differenziruny
der bereits im Skeiel der HinUirgliadmaassen wahrnehmbaren Biohlung
zuerkennen, und damit eine weitere Entfernung von dem Zustande,
den wir im Archipterygium annehmen. Die grüsste Verschieden heil
bietet der vordere Itandabschnitt , sowohl in Beziehung zum Archiple-
rygium , als auch im Vergleich der einzelnen Formen unter sich, wäh-
rend im hinteren Abschnitte, dem Bfetapli'rygium, der Zustand des
Archiptfirygiums am vollständigsUm erbalten ist. Dem Verhalten dieses
Vorderrandes bei der Action der Gliedmaassen, die mit diesem Ab-
schnitte dem Widerstände des nassen Elementes zuerst zu bogt^non
hat, sowie den Beziehungen zu der an diesen T heilen sich inserirenden
mächtigen Musculatur entsprechen die genannten Umwandlungen voll-
kommen, wie auch die Auflösung des Archiptcrygiums in die drei Ab-
schnitte des Pro-, Meso- und Metapterygiunis mit der Verbreiterung des
Flosscnskelcts und diese wieder mit einer Steigerung von tfcsson Lei-
stung im Einklänge steht.
Die Ergebnisse unserer Untersuchung fllhrten uns somit zu einer
Bestätigung der oben angenonmienen Urform des Gliedmaasenskelets,
indem die Vergleichung der einzelnen Formzusti^nde die Abweichungeu
von dieser Urform als Differenzirung nachweisen konnte. Vorderen
wie hinteren Gliedmaassen liegt also gleichmässig die-
selbe Skcietform im Archipterygium zu Grunde.
3) DifferensiningBerscheinungeii im Glied msaBBenskoIete der
Selachier.
Die bei der Vergleichung der verschiedenen Formen des Glied-
maasscnskelels der Selachier sich ergebenden, die Hannichfaltigkeit
der Einzelbcfundc bedingenden Erscheinungen verdienen eine ni4here
Betrachtung. Wenn sie auch dieselben sind, die an andern Skeictthcilen,
ja noch an den Gliedmaassen höherer Wirbelthiere eine wichtige Rolle
spielen , so ist doch hier bei den Selachiem der Grad der Excursinn,
innerhalb dessen sieb die Erscheinung bewegt, um vieles bedeu-
üeber das Skelei der GHedmaassen der WirbeKhiere im Allgemeinen etc. 435
tender. Viele der Eracheinungen sind zugleich einfacher, in ihrer Be-
deutung fUr das Gesammtorgan, in dem sie auftreten, leichter verständ-
lich. Dies steht in Zusammenhang mit dem niedern Zustande der Ver-
bindung der Skelettheile unter sich, die niemals complicirte Gelenke
bilden.
Nehmen wir den Ausgang von dem Archiptergyium , das wir uns
aus einem den Stamm bildenden und zugleich die Verbindung mit dem
Gliedmaassengürlel vermittelnden Knorpelstttcke und diesem seitlidi
angefügten Radien vorzustellen haben, so werden die Modificationen
theils den Stamm, theils die Radien betreffen. An ersterem, welcher
als Stamm des Hetapterygiums fortbesteht , finden wir neben Volums-
und Gestaltveranderungen als wichtigste Hodification die Gliederung,
die entweder aus einer Sondemng des ursprünglich einfachen Knorpel-
stttckes, oder aus einer Neubildung hinter dem primitiven Knorpel ge-
legener Stücke , somit aus einer Art von Sprossung hervoi^eht.
Belangreicfaer sind die Modificationen des lateralen, aus den Strah-
len bestehenden Abschnitts. Sie lassen sich in folgender Weise dar-
stellen.
a) Anzahl. Der grosse Breitegrad der Variation tritt sdion in der
im Flossenskelet vorhandenen Anzahl von Radien hervor. Sie ist am
bedeutendsten bei den durch bedeutende Entfaltung des Proptergyiums
der Brustflosse angezeichneten Rochen , bei Myliobatus weit über 4 00
steigend. Auch bei Trygon und Raja noch gross, ist sie am geringsten
bei Torpedo, auf 50 — 60 beschränkt, weiche Zahl unter den Haien
nur von Squatina überschritten wird. In der Bauchflosse sind wieder
die Rajae mit der grtfssten Radienzahl ausgestattet; man zählt bei Rhi-
nobatus 32, bei Raja 26 Strahlen. Sie überirefien darin die Brustflosse
der Haie, bei denen Ueptanchus mit 86 Strahlen am höchsten geht. 25
finde ich bei Hexanchus und Acanthias, 21 bei Heterodontus ; bei Ga-
leus 20, Scymnus 17, und die geringste bei Scyllium (44). In der
Radienzahl der Bauchflosse der Haie steht wieder Squatina mit 34 Radien
obenan. Heptanchus hat 23, Acanthias 48, Scyllium 45. Das
Schwankende der Zahl betrifft nicht blosdieGattungen,
sondern findet sich, wenn auch in geringerem Maasse,
innerhalb der Art. Ich habe in dem Brustflossenskelet von Acan-
thias vulgaris zweimal 26, einmal 30 , und dreimal nur 24 Radien ge-
funden, auch bei niehreren Exemplaren von Scyllium canicula ähnliche
Schwankungen notirt. Diese Thatsache halte ich für bedeutsam im
Vergleiche zu der Beständigkeit des Zahlen Verhältnisses , die uns im
Skelet höherer Wirbelthiere entgegentritt. Der die Schwankungen in
der Zahl der Skelettheile auf ' ^ — «'""vus muss als der
r
436 C. Gegnnbiinr,
im höheraii Maassstsbe veränderbure und damit anpassungsfähigere
gelUin.
b) Gliederung. Das Vorkommen von einfachen Knorjwlstäben
in gewissen Regionen des Flossenskeieis, sowie die Einfachheit dieses
Ziistandes lüsst annehmen, dass solcheKnorpelstabedem Archipleryginm
ollgciiiein zukommen, wie denn derartige Gebilde auiA bei den Dipnoi
als einzige Badienform fortbestehen. Die Gliederung der Knorpelstabe
in FolgGStttcke ist somit der Ausdruck einer Sonderung, die in der Begel
mit einer gewissen Langenentfaltung verbunden ist.
Die Zahl der einem Radius zukommenden Gliedstucke ist sehr ver-
schieden. Am reichsten ist sie bei bedeutender Breite des Flossenskelels,
wie bei den Kochen. Doch leigt die geringe Ausbildung der Gliedenmg
an der langstrahligen Brustflosse von Carcharias, dasg sie noch tod
andern Verhältnissen abhängig sein muas. Sie läuft bald gleichmässig
durch Reihen von Radien, bald bildet sie unterbrochene Beihen, oder
beschrrinkt diese auf Abschnitte des Skelets. Am einfachsten verhält
sie sicli an den Radien der Bauchflosse der Haie, die meist nur in swei,
höchstens in drei Stücke getheilt sind.
c) Dichotomie. Theilung eines Radius in zwei getrennt endende
Strahlen scheint in ziemlicher Verbreitung vorzukommen. Es wird je-
doch wahre und falsche Dichotomie zu unterscheiden sein. Die
letztere findet sich besonders in der Brustüosse der Haie. Sie entsiebt
durch Verschmelzung zweier benachbarter BasalstUcke von Badien,
deren Enden dann getrennt auslaufen . Die Verschmeltung der betreJfen-
jjen Glieder ist häufig unvollständig , und auch bei voll ständiger Ver-
schmelzung bleiben nicht selten Spuren der Trennung fortbestehen.
Die wahre Dichotomie ist nur bei Bocben und Squatina vorhanden, und
zwar nur in der Peripherie des Fl ossen skelets , indess die falsche näher
an der Basis besieht.
d) Gestaltveränderung der Radien ist bei den Haien hau-
fic-er als bei den Rochen vorbanden. Als einfachste Form betrachte ich
die cylindrische, die sowohl bei den Bochen in grosser Verbreitung ge-
troETcn wird , als auch bei Haien an solchen Badien vorkommt , welche
noch durch den Hangel von Gliederung einem niedern Zustand ent-
sprecbon. Letztere Radien finden sich am Ende der Hintergliedmaassen
z. B, hei Scyllium (Fig. 5, 6) Carcharias (Fig. 8), Galeus (Fig. 9). Ais
Modilicütion dieser Form ist die Verbreiterung anzuführen , welche mit
einer Minderung der Badienzabl verbunden zu sein scheint. Sie tritll
den Rfidius entweder gleichmässig in seiner ganzen Länge, oder nur
dnsEnde desselben. Eine gleichmässige Verbreiterung besteht z. B. an
den vordem Radien der Brustflosse von Heianchus, an den meisten
i^
Üeber das Skelei der Gliedmaassen derWirbelthiere im Allgemeinen etc. 437
Radien der Bauchflosse von Mustelus (Fig. 7) und manchen andern.
Die terminale Verbreiterung ist die häufigste, in beiderlei Gliedroaassen
vorkommend. Sie geht bei gegliederten Radien atif die Gliedstücke
über und lässt die distalen Glieder sich aneinander schliessen, v^^ährend
die proximalen Radienstttcke (BasalstUcke) bei schlanker Gestaltung
durch Interradialrilume von einander getrennt sind. Beispiele dieser
terminalen Verbreiterung an ungegliederten Radien bietet die Bauchflosse
von Mustelus (Fig. 7). An gegliederten Radien ist sie sehr ausgeprägt
in der Brustflosse von Heterodontus , Galeus und Scyllium. Bei be-
deutender Verbreiterung der Gliedstücke von Radien kommt es zur Plat-
tenbildung. Die Glieder geben dabei allmählich ihre Beziehungen zu
Radien auf und bilden fünf- oder sechsseitige Tafeln. In der Brustflösse
von Heterodontus und der Notidaniden ist dieser Vorgang vom Meta-
pterygium auf das Mesopterygium in allen Uebergängen verfolgbar. Im
Skelete der Bauchflosse findet er sich seltener vor, z. B. am Proptery-
gium von Heptanchus und Squatina.
e) Veränderung der Richtung. Der einfache Formzustand
der Radien äussert sich auch in der Anordnung am Stamm des Flossen-
skelets. Die einfachen Radien in der Bauchflosse der Rochen sind
grösstentheils parallel aufgereiht, ähnlich den Rnorpelfäden in den
Gliedmaassen von Lepidosiren. Eine Divergenz macht sich erst am
hinteren Flossenabschnitte geltend , wo die letzten Radien sich gegen
die verlängerte Längsaxe des Stammes zu richten beginnen , und das
Flossenskelet entweder noch über den Stamm hinaus nach hinten zu
fortsetzen , oder mit dem Ende des Stammes parallel sich lagern. Die
Interradialräume sind in diesen Fällen bei der terminalen Verjüngung
der Radien immer an der Peripherie des hinteren Flossen theiles in ziem-
licher Ausdehnung zu finden, während sie am vorderen Abschnitte der
Flosse von gleicher Breite sind. Von dieser Art der Vorsdiiedenheit in
der Richtung der Radien sind zwei andere Fälle zu trennen , die eine
Divergenz von Radien herbeiführen , und unserer Betrachtung näher
liegen, da sie aus der Beschaffenheit der Skelettheile selbst hervorgehen.
Der eine Fall von Divergenz der Radien wird durch terminale Verbrei-
terung der Radien bedingt. Mit dünnen Basalstücken dicht aneinander
gereihte Radien müssen aus der parallelen Lagerung in die divergirende
übergehen, wenn sie gegen das distale Ende zu breiter werden. In
sehr vielen Flossenskeleten ist dies der Fall. In der Brustflosse von
Ilexanchus, von Scyllium und von Squatina ist diese Divergenz sehr auf-
fallend. Dasselbe Resultat wird bei Rochen (Torpedo) durch die ter-
minale Dichotomie erreicht.
Der weitere Fall von Veränderung der Richtung erscheint durch
«8 f-
Aofl/elea neuer, kflnerer Badiea x« tscben aadeno bedingt. Ob dicj^
den Slaam nidit ermdKnden Bedien wirUicbe Nmgebilde süd, o«^-
Badien, die die Verbinduo^ mit dem Stamme vrriomi and i
nur iwiscbeo andere Badien eing^scbobra sind, miss noch <
fntae bletht-n. Am Ende der Bauchflosse von Maslelas Tt^ 7; findet
sicfo eiD bkrfaer gebdrigos Beispiel , (eroer am Vordertlieile dersettmi
Fhttum vaoScyUiutaTifLö,, wo der Torderele Badios gc^eo den zweüea
voHständigen dunb ein keiKöriDiges Einscfaiebäel divergirl. Dieselbe
Divergenz ergiebl sidb aucb ffir den fTsteo Badius \oo Torpedo iFic.
1 2, ß; . Die Di vef^cnx diese« ersten Badias (A; mit den Obri^eo Radkv
muw zooehmen mit der Vermebmiig der aof äbnlicfae Art hinler ihm
auftretetiden , aber oidil zum Flosseoslamm gtiai^eodeu Radien. Diese
werden dann an dem crwäbotra ersten Radios (Aj sidi anfreibea
mUssen und damit den genannten Radius in andere Beziehoi^eB
briiiK6D. (Vergl. oben S. (19) Somit geht ans der allmähbdien AUen—
kung aus einer rrUbereo Richtung ein ganz neues Veihalloiss berver,
das zu einer Sonderung des Pro- und Mesopteryginms aus dem Arcfai-
pterygiam binfubrt. Die ersten Anfänge dieses Verhallens ergiebt das
BauchAosscnskelct; am weitesten ist es da bei Sqoalina vM^esdiritten
und im Bnisinosseoskelcl der Bocben erlangt es die höcbsle Stufe.
f) Veränderungen inderADfUgungderRadien. Siemacben
sich dadurch geltend , dass der vorderste Badius vom Stamm abgelöst
ist und direct mit dem GliedmaasseDgUrleJ sieb veiitindet. Im Skelete
der hinteren Gltedmaassen ist diese Ablösung in versduedenui Stadien
anzotreffeD. Rei Haien (ScylliuDi, Fig. 5, Huslelns, Fig. 7; ist der
erste Radius (Rj noch in Iheilweiser, aber sehr deutlicher Verbindung
mit dem Flossenslamm , oder die Verbindung be-s<'JiräDkl sich nqr auf
eine kleine Stelle (Galeus, 1 iy. <t . Im.i di-i, Ho.
(Fig. 10) ganz geschwundi-n , der itsU' Küdius (/fj
dem ReckengUrtel. Diesen Wi-g rinden wir auch i
betreten. Er wird angi'hahnl durch die EntriTniu
von der Andlgestelie des Flossen Stammes, so dal
sehen beiden Skeletstticken zuiu Scbullergilrlel J
der Brustflosse der Rochen LrelTen wir Beispiele^
rung dieser Radien bildet sich die sub e :
dos ersten Radius aus, wobcii eine An?-il>l
dius sich anrilgt, damit also wieder in n
AnfUgoslcllcn der Radien sind also dioiti l<
dem Stamme des Archlplerygiums , nw !<
das Mclaplerygium bildet. Zweitens Ireilci
hörige Bildimg bescbri.l»m Ml. >o Mr MrsKuu..
gescMohw wird sich .eigeo, d«8 dies mil Unre.-I
438 G. 6eg«nbaur,
Auftreten oeuer, kürzerer Radien zwischen anderen bedingt. Ob diese
den Stamm nicht erreichenden Radien wirkliohe Neugebilde sind, oder
Radien, die die Verbindung mit dem Stamme verloren und demnach
nur zwischen andere Radien eingeschoben sind, muss noch offene
Frage bleiben. Am Ende der Rauchflosse von Mustelus (Fig. 7} findet
sich ein hierher gehöriges Reispiel , ferner am VorderÜieile derselben
Flosse vonScyllium (Fig. 5), wo der vorderste Radius gegen den zweiten
vollständigen durch ein keilförmiges Einschiebsel divergirt. Dieselbe
Divergenz ergiebt sich auch für den ersten Radius von Torpedo (Fig.
\%jR). Die Divergenz dieses ersten Radius (R) mit den übrigen Radien
muss zunehmen mit der Vermehrung der auf ähnliche Art hinter ihm
auftretenden , aber nicht zum Flossenstamm gelangenden Radien. Diese
werden dann an dem erwähnten ersten Radius (R) sich aufreihen
müssen und damit den genannten Radius in andere Reziehuogen
bringen. (Vergl. oben S. 419) Somit geht aus der allmäblichen Ablen-
kung aus einer früheren Richtung ein ganis neues Verbältmss hervor,
das zu einer Sonderung des Pro- und Mesopterygiums aus dem Archi-
pterygium hinführt. Die ersten Anfänge dieses Verhaltens ergiebt das
Rauchflossenskelet ; am weitesten ist es da bei Squatina vorgeschritten
und im Rnistflossenskelet der Rochen erlangt es die höchste Stufe.
f) Veränderungen in der Anfügung der Radien. Sie machen
sich dadurch geltend , dass der vorderste Radius vom Stamm abgelöst
ist und direct mit dem Gliedmaassengürtel sich verbindet. Im Skelete
der hinteren Gliedmaassen ist diese Ablösung in versdiiedenen Stadien
anzutreffen. Rei Haien (Scyllium, Fig. 5, Mustelus, Fig. 7) ist der
erste Radius (/?) noch in theilweiser, aber sehr deutlicher Verbindung
mit dem Flossenstamm , oder die Verbindung beschränkt sich nur auf
eine kleine Stelle (Galeus , Fig. 9) . Unter den Rochen ist sie bei Raja
(Fig. 4 0) ganz geschwunden , der erste Radius (R) articulirt nur mit
dem Beckengürtel. Diesen Weg finden wir auch von andern Radien
betreten. Er wird angebahnt durch die Entfernung des ersten Radius
von der Anfügesteile des Flossenstammes, so dass mehrereRadien zwi-
schen beiden Skeletstücken zum Schultergürtel gelangen können. In
der Brustflosse der Rochen treffen wir Beispiele hierfür. Bei Vermeh-
rung dieser Radien bildet sich die sub e aufgeführte Lageveränderung
des ersten Radius aus, wobei eine Anzahl von Radien jenem ersten Ra-
dius sich anfügt, damit also wieder in andere Beziehungen tritt. Die
Anfügesteilen der Radien sind also dreierlei. Endlich finden sie sich an
dem Stamme des Archiplerygiums , an jenem Abschnitte, der später
das Metapterygium bildet. Zweitens treffen wir sie direct am Glied-
^
lieber das Skelet der Gliedroanssen der Wirbeltbiere im Allgemeinen etc. 439
maassengUrtel , das Mesopierygium bildend , und endlicb drittens an
einem zum Radientrüger gewordenen Radius als Propterygiuin.
g) Verschmelzung (Concrescenz) von Radien trifiPt nur die
Gliedstttcke derselben. Zwei oder mehr parallel gelagerte Glieder ver-
binden sich unter einander zu einem Plattenstück. Am häufigsten sind
basale Glieder in diesem Zustande anzutreffen und bilden dann nicht
selten die Calsche Dichotomie (siehe sub c) , selten sind es terminale,
mit denen immer eine Verschmelzung der betreffenden Basalabschnitte
vorkommt. Die Verwachsung lässt häufig deutliche Spuren zurück.
Wir erkennen diese entweder in dem Verhalten der Plattenränder, oder
an der Oberfläche der Platte , durch das Fortbestehen des den ur-
sprünglichen Gliedern zukommenden Relief ausgedrückt. Auch eine nur
theilweise Concrescenz ist zu beobachten, z. R. am Mesopterygium der
Rnistflosse von Scyllium. Am häufigsten findet sich die Concrescenz
am Propterygium der Rnistflosse der Haie.
Der wichtigste Fall von Concrescenz findet sich am Mesopterygium
der Rnistflosse. Rei den Rochen bildet sich aus den Rasalgliedern eine
Anzahl am Rrustgürtel articulirender Strahlen, ein Plattenstück, (meh-
rere bei Myliobatus) , welches auch bei Haien , aber mit Verlust der
Verschmeizungsspuren vorkommt. Es wird zum Rasale des Mesoptery-
giums und erscheint dem Rasale des Pro- und dos Metapterygiums
Bssimilirt. Die Rildung sowohl dieses meistsehr ansehnlichen Rasale, als
auch die anderer Plattenstücke , kann mit den functionellen Verhält^
nissen der Flossen in Verbindung gebracht werden, welche zwei ander
Flossenbasis massivere Skelettheile erheischen . AuchdieConcres-
cenz zeigt sich innerhalb der Art in grosser Variation, wie
ich besonders bei Scymnus fand. An den von drei Exemplaren unter-
suchten Rrustflossenskeleten besass jedes einige Abweichungen, die in
einer Verschmelzung der Rasalia von Radien begründet waren.
h) Veränderungen des Volums der Radien sind in einem
und demselben Flossenskelet , vorzüglich am vorderen und hinteren
Ende wahrnehmbar. Wie am vorderen Flossenrande meist eine Volums-
zunahme besteht , ist am hinteren häufig eine Abnahme wahrnehmbar,
die selbst in bedeutendere Rückbildungen übergeht. Die erwähnte Zu-
nahme des Volums erstreckt sich in der Rauchflosse bald über alle Glie-
der eines Radius (z. R. bei Raja) , bald beschränkt sie sich auf das Ra-
salglied (z. R. Heptanchus , Acanthiasj , wobei die folgenden Glieder
auch gänzlich rückgebildet sein können. Die bedeutendste Volumsver-
grOsserung wird dem vordersten Radius mit seiner Umwandlung zu
einem Träger des Propterygiums in der Rauch- und Rrustflosse von
Squatina und in der Rrustflosse der Rochen zu Theil.
442 Cl. Gegenbanr,
selben Glieder mehrerer Radien entstanden. Die Gleichartigkeit der
functionellen Beziehungen verwischt die Spuren des heterogenen Ur-
sprungs und sehr häufig ist bei Haien die Gesammterscheinung der drei
Basalstücke eine übereinstimmende.
Aus Rüdibildung des peripherischen Theils des Flossen^ielets der
Sekickier geht jenes derGanoiden hervor. Der im Metapterygium
unverändert bestehende Rest des Arcbipterygiums ist noch cteutlich er-
kennbar ^ dabei sind einzelne, dem Pro- und Mesopterygium bomologe
Radien gleichfalls in Verbindung mit dem GliedmaassengürteK Zu-
weilen ist die primitive Verschiedenheit des Archipterygium- Stammes
und seiner Radien dadurch ausgedrückt, dass ersterer knorpelig bleibt,
indess letztere mit einem Knochenbelege sich bekleiden (Amia). Wäh-
rend bei den Gsnoiden in der Aufreihong von Radi^ oder den Rudi-
menten derselben am Stamm, der Zustand der Grundform noch kenni-
lieh war , ist bei den Teleostiem eine weitere Rückbildung eingetreten.
Bei Manchen erhält sich noch die Verbindung des primitiven Flossen-
stammes mit Strahlen (Siluroiden) , aber auch da sind ursprüngliche
Strahlen dem Basale jenes rückgebildeten Stammes assimiUrt, und nur
die Vergleichung mit dem bezüglichen Skelete der Ganoiden lässt die
Beziehung erkennen , welche bis zu den Selackiem hinabreiciifl. Bei
den meisten Teleostiem ist die Assimilirung desFlossenstammresles mU
rudimentären nur durch ein Gliedstück repräsentirten Radien eine voll-
ständige geworden, und das reiche Gliedmaassenskelet der Selachier ist
bis auf einige (4—5) unansehnliche, dem Gliedmaassengttrtel verbun-
dene Rnochenstücke verschwunden.
Das aus dem Integumente hervorgegangene secundäre Flossenskelet
compensirt das rückgebildete des ausdem Archipterygium entstandenen
primären , und lässt die modificirten Reste des letztern nur als Stiltzen
erscheinen, die es zugleich dem Gliedmaassengttrtel verbinden.
In der vorgeführten Abtheilung der Wirbelthiere erschien das
Archipterygium durch zahlreiche Radien ausgezeichnet. Bei Lepi-
dosiren sind sie zahlreicher als bei den meisten Selachiem , wo wieder
die Haie gegen die Rochen zurückstehen. Im Allgemeinen ist das Skelet
der Vordergliedmaassen reicher an Radien , als jenes der hinteren Ex-
tremität , auch bei Chimären , bei welchen gegen dreizehn Radien die
niederste Zahl bilden.
Ausser dieser Vielzahl von Radien und der bei Selachiern und Chi-
mären ausgeprägten Erscheinung der Ablösung von Radien vom Stamm*
des Archipterygiums ist das Variable der Radienzahl eine Eigentbüm-
Hchkeit jener Abtheilung. Darin drückt sich der niedere Zustand
der gesammten Skeletbildung der Gliodmaassen aus. Es ist eine In-
Deber das Skelet der Gliedmiiasseii der Wirbeltbiere im Allgemeinen etc. 443
differenz in der Zahl, welche auch noch innerhalb der Species ihre
Geltung hat.
Diesem aus dem vielstrahligen Ardiipterygium gebildeten Verhalten
stellt sich das Güedmaassenskelet der höheren Wirbeltbiere gegenüber.
Die in der Zahl beschränkten Radien treten niemals zum Gliedmaassen-
gtlrtel , so dass der Stamm des Archipterygiums jene Verbindung aus-
schliesslich vermittelt, er wird mit seinem Basalsttlcke an den Vorder-
gliedmaassen zum Humerus , an den hinteren zum Femur.
Der folgende Theil des Stammes gliedert sich in eine Anzahl von
Knochensttlcken , von denen die dem Basalsttlck (Humerus , Femur)
folgenden Radien tragen, indess der erste schon an dem Basalstück
sitzt. Die Art der Gliederung der Radien und des Stammes des Archi-
pterygiums ist eine mannichfach verschiedene. Bei Ichthyosaurus sind
die Gliedst&cke beider Theile gleichartig und dabei in grosser Zahl vor-
handen. Die Anzahl der Radien seh wankt noch, scheint aber sechs oder
sieben nicht zu übersteigen.
Die übrigen Wirbelthiere lassen neben der Stammreihe nur noch
vier Strahlen unterscheiden, mit meist unansehnlichen Resten efnes
fünften. Die Stücke der Stammreihe wie der einzelnen Radien sondern
sich nach mehreren aufeinander folgenden Abschnitten, in denen die
einzelnen Gliedstücke eine mehr oder minder gleichartige Differenzimng
nehmen. Diese transversalen Abschnitte sind dem Basale des Archipte-
rygiums angefügt, und die Bedeutung der aus dem Stamme des letztern
hervorgegangenen Skeletstücke der Gliedmaassen bewahren nur in we-
nigen, namentlich dem terminalen Ende angehörigen Eigenthttmlich-
keiten die Spuren der ursprünglichen Verschiedenheit. Die auf den
Humerus folgenden Abschnitte sind : Vorderarm mit Radius und Ulna,
dann Carpus und darauf Metacarpus mit den Gliedstücken, welche den
Fingern zu Grunde liegen. Der erste Finger (Daumen) ist das Stamm-
ende des Archipterygiums , durch die Radiaiseite des Armskelets er-
streckt sich diese Stammreihe zum Basale , dem Humerus.
In den Hintergliedmaassen ist die transversale Differenzirung eine
^ homodyname. Auf das Femur folgt das Skelet des Unterschenkels,
Tibia und Fibula; diesem folgt der Tai*sus, welchem wieder mittelst
des Metatarsus die Enden der Radien und des Stammes des Archiptery-
giums ansitzen. Das Skelet der grossen Zehe ist das Ende der Stamm-
reihe , welche durch die tibiale Reihe der Knochen des Fussskelets zum
Femur lüuft.
Die Skelelthoile der einzelnen Abschnitte bieten in ihren Formen
bestimmtere Verhältnisse. Die beiden proximalen Abschnitte jeder Glied-
maasse (Humerus, Femur, Radius, UIna, Tibia, Fibula) bestehen
* <F
444 , C. Gegeubaiir,
aujs längeren Stücken. Im Carpus und Tarsus bleiben die Gliedstücke
in den niederen Abtheilungen in mehr indifferentem Zustande und
stellen kurze Knorpel- oder Knochenplatten vor. Dagegen ist Mittel-
hand undMittelfuss wieder durch längere Knochen repräsentirt, welche
Formen in ähnlicher Weise in den Phalangen der Finger und Zehen wie^
derkehren.
Diese Erscheinung der Bildung transversaler Gliedmaassenalx-
schnitte kann als }>Umgliederungtt bezeichnet werden. Aus dem
Zustande der primitiven Indifferenz gehen neue Abschnitte hervor , in
welchen ungleichartige Theile (Radien und Theile des Stammes) in an-
scheinend gleichartige Theile umgewandelt sind. Die Umgliederung ist
zugleich eine Differenzirung in neuer Richtung. Den differenten Ab-
schnitten kommen neue Verrichtungen zu. Das Wesentlichste spricht
sich in der Auflösung des in der Flosse repräsentirten Hebelarmes aus,
der zu einem Systeme von Hebeln sich umgestaltet, in demselben
Maasse, als zwischen jenen einzelnen Abschnitten Gelenkbildungen
stattfinden. Aus der einfachem Leistung geht somit eine Summe ver-
schiedener Leistungen hervor.
Während die Skelettheile des Oberarms und Oberschenkels , des
Vorderarms und Unterschenkels im Allgemeinen übereinstimmende Ver-
hältnisse darbieten , findet eine bedeutendere Divergenz bezüglich des
Carpus und Tarsus statt. Eine geringe Anzahl (0) von Skelettheilen er-
scheint in der einfachen Plattenform als Carpus und Tarsus von Ple-
siosaurus, alle übrigen Wirbelthiere besitzen die Grundform dieses
Skelütabschnittes aus zehn Carpus- und Tarsusknochen zusammenge-
setzt. (Bezüglich der Plesiosauren siehe diesen Band, S. 332.) Dazu
kommt noch als elftos Stück das dem ulnaren Carpusrande angehörige
Pisiforme, als Rest eines bei Plesiosaurus noch durch mehrere Stücke
repräsentirten Strahls.
Die Grundform des aus zehn Stücken bestehenden Mittelabschnittes
der Gliedmaassen (decamerer Carpus und Tarsus) bleibt nur ganz sel-
ten unverändert bestehen. Die für die einzelnen Abtheilungen meisl
charakteristischen Veränderungen sind immer Reductionen jener Zahl.
Diese gehen theils durch Concrescenz von zwei und mehr Stücken,
theils durch Rückbildung einzelner oder mehrerer Stücke hervor. Das
letztere Verhältniss sondert sich wieder nach mehreren Richtungen , je
nachdem die Rückbildung von einem Schwinden des Strahlenendes
(Fingers oder Zehe) begleitet ist oder nicht. Der erstere Fall ist aber
als Rückbildung und Schwinden eines grösseren Strahlabschnittes auf-
zufassen. Der letztere Fall dagegen kommt vielmehr auf Rechnung einer
localen, meist in den Gelenkverhältnissen sich äussernden Verände-
lieber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbeltbiere im allgemeinen etc. 445
rung. Die einzelnen, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere be-
treffenden Einrichtungen und Modificationen von Carpus und Tarsus
habe ich schon vor längerer Zeit in ihrem Zusammenhange verständlich
zu machen gesucht. (Untersuchungen zur vergleich. Anatomie derWir-
belthiere 1.), womit die Anknüpfung aüt^'iler different^sten Formen an
das Archipterygium , oder vielmehr die Ableitung von demselben sich
leicht ergiebt.
Bei den Amphibien zeigt sich das Skelet der Vorderglied maassen
unter den Urodelen am wenigsten umgestaltet. Nur das Ende der
Stammreihe ist verkümmert oder fehlt , so dass die vier vorhandenen
Finger nur den vier Radien entsprechen. Die beiden Gentralia sind nur
durch ein Knorpelstück vertreten. Concrescenz einzelner Stücke des
Carpus ist sowohl bei Urodelen , als auch bei Anuret) , und zwar bei
diesen in höherem Maasse vorhanden. Ob ^solche Verwachsungen auch
in dem schwer verständlichen Carpus von Proteus und Siren vorliegen,
ist zweifelhaft, und es darf für diese die Möglichkeit der Abstammung
von anderen Formen als jene mit decamerem Carpus nicht ganz aus-
geschlossen werden. Bezüglich der Hintergliedmaassen sind die Uro-
delen wiederum die niederst stehenden. Bei Cryptobranchus ist jene
Tarsusform ganz unverändert; bei anderen ist in dem Vorkommen eines
einzigen Centrale die bedeutendste Modification gegeben. Das meist
fünffingrige Gliedmaassenende stimmt darin mit jenem der Anuren
überein ] bei d^nen der Tarsus wieder bedeutend umgewandelt ist.
Da der Befund dieses Tarsus nicht sogleich aus der decameren Form
sich ableiten ISIsst, könnte man hier wieder die Beziehung auf diese
Form in Frage stellen, und dies um so mehr als am tiblalen Tarsus-
rande noch Skelettheile vorkommen, welche eine Hexadactylie anzu-
deuten scheinen , utid auch In der That so aufgefasst worden sind.
Wenn man hier nicht auf das klarere Verhalten der Urodelen Gewicht
legen will, so wird man doch die Vordergliedmaassen der Anuren in
Betracht ziehen dürfen, in weichet) die Verhältnisse der Grundform noch
deutlich zu erkennen sind. Da nun dieBildung desSkölets an beiderlei
Gliedmaassen bezüglich der fundamentalen Einrichtungen eine allge-
mein tibereinstimmende ist (wie aus zahlreichen Thatsachen zu er-
sehen) , so ergiebt sich daraus die Folgerung, dass auch der Hinter-
gliedmaasse der Anuren kein Von der vorderen wesentlich verschiedener
Zustand %n Grunde liegen wird. Jene fraglichen Skelettbeile können
daher für jetzt nur als accessorische Bildungen gellen.
Für die Reptilien ist die Abstammung des Gliedmaassenskelets
von der bei den Amphibien wallenden Grundfonii in hohem Grade evi-
dent. Die Vordergliedmaassen det* Schildkröten bieten den Amphibien-
Bd. V. 4. 80
446 . f'- GeK^nbuiir,
Carpus unveiündcrt, und nilluTn sirh sop.ir nodi nifhrder Grundform,
da in der Zahl ili^r Fint;er keine Reiluclion Pinl/. ^lifl". Giilssi'iv Veriin-
dei-ungen sind dagegen bei den Eidech.sen aufgetrefen. Ein bei den
Sf^hildk ritten vorhandenes CarpusstUck (Inlermediuiii) ist nicht mehr
discrel vorhanden. Noch bedeutender ist dieModißcation beidenCroco-
dilen, von denen aus VerknUpfun^jen mit dem Ärmskelet der Vögel
nachzuvkoisen sind. Auch beittlglich der Hinlergliedmaasse ei^iebt sich
die Dißeii'naimng in derselben Folge, wenn auch die Bicbtung dieser
Erscheinung von jener an der Vordei^liedmaasse eine ganz verschie-
dene, eine divergente ist. Die Schildkröten lassen die Verknüpfung mit
der Grundform am deutlichsten erkennen. Bei ihnen sind aber im Tar-
sus bereits Einrichtungen angedeutet, die bei Eidechsen weiter enl-
wickell und bei VOgeln noch einseitiger ausgeprägt sind, indess die
Crocodile im Tarsusbau zwar eine nahe Verwandtschaft mit den
Eidechsen offenbaren , aber durch Manches ausserhalb der zu den
VHgeln führenden Reihe sich stellen.
Da es nicht schwer ist, auch für die Säugelhiere die Ableitung
des Gliedmaassenskelets von der erwühnlf^n, mit decamerem Carpus
oder Tarsus versehenen Grundform vorzunehmen, so sind die liier vor-
handenen Einrichtungen gleichfalls als Differenz irungen des Archiptery-
giums anzusehen. An beiden Gliedmaassen sind die als Carpus und
Tarsus erscheinenden Abschnitte, wenn auch in mancher BeziehuD|i
reptilienartig differenzirt , doch vollständiger als bei den Beptillen (den
Carpns der Schildkröttm ausgenommen), so dass die Anknüpfungs-
punkte erst unterhalb dieser Abtheilung zu suchen sind. Das selbsl-
sljindige Fortbestehen eines Centrale, welches im Tarsus der Säugi--
ihiere als Naviculare allgemein, im Carpus dagegen nur in einzelnen
Ahtheiiungen, und auch da nur bei kleineren Gruppen vorkommt,
bielel eine wichtige Verschiedenheit vom Gliedmaassenbaue der
Reptilien.
Innerhalb der bedeutenderen, für jede grössere Abtheilung der
höheren Wirhelthiere geltenden Modificalionen besteben dann noch zahl-
reiche, hier nicht näher zu würdigende llmllnderungen , theils Ausbil-
dungen einzelner Theile nach bestimmten, den verschieden artigsten
Anpassungen entsprechenden Richtungen, theils Iteductionen kleinerer
oder grösserer Abschnitte, die zum gänzlichen Schwinden' der Glied-
maassen selbst führen können. Sie sind uns hier nur untergeordnete
Verhältnisse, weil sie selbst in ihrem ausgesprochenen Befunde nur ge-
ringe Abweichungen des im Gliedmaassenbau der betreffenden grösseren
Ahlheilung ersichtlichen Typus darbieten.
Daher betrachte ich die mannichfachen Gelenkcoostructionen, die
lieber das Skelet der Gliedmaassen der Wirbeltbiere im Allgemeinen ete. 447
zahllosen Reductionen der Finger und Zehen , wie ihrer einzelnen
Gliedstttcke, Verschmelzungen und Yolumsmodificationen u. s. w. als
abseits von der Aufgabe liegend , die ich mir stellte und die wesentlich
auf den Nachweis der in den grossen Abtheilungen der Wirbelthiere
hen*schenden typischen Organisation des Gliedmaassenskelets und auf
die Ableitung dieser mannichfaltigen Zustände von einer gemeinsamen
Stammform gerichtet war.
Die bedeutendsten Modificationen dieser im Archipterygium ge-
fundenen Stammform stelle ich schliesslich in folgender Uebersicht zu-
sammen :
I. Archipterygium mit inconstanter Badlenzahl
(Polyactlnote Form).
4. Stamm- und Radienglieder ungleichartig differenzirt
a) unverändert b) verändert
DlPNOI
durch Concre sc enz und aufgelöst durch Ab-
vonRadien lösung und Verbindung
Chihära (h. Extr.j von Radien mit dem
Gliedmaassengürtel
Ghihära (vord. Extr.)
Selaghier
mit peripherischer Re-
duction
GaN OIDBN
Teleostibr
^. Stamm- und Radienglieder gleichartig differenzirt
Ichthyosaurus
IL Archipterygium mit constanter Badienzahl
(Tetractinote Form).
Transversale Differenzirung in einzelne constante Abschnitte
/ \
4. Hexamere Grundform des 2. Decamere Grundform des
Carpus und Tarsus Ca rpus und Tarsus
Plbsiosaurus Amphibien
• Reptilieii, Vögel
Säugsthiere
Jena, November 4 869.
80*
lieber <iie NodiicatioMCN des Skelets der Hinte^icdMaasseH
bei itm NäBBchea der Selachier nad ChinäreB.
Von
C. Oegenbaur.
HiezuFig. 1S-S4 auTTarel XVI,
In der vorhergehenden Darstellung habe ich einen Theil des Ske-
lets der Hinterglied maasse, def ein eigen thUinliches Anpassungsverbält-
niss eingeht, nur ganz in der Kürze beillhrt, es ist dies der letzte Ab-
schnitt des Flossensljtmmes, der bei den Männchen der Selachier
wie der Chimären zu einer Art von Begattungsorgan verwendet wird.
Obgleich diese Organe langst bekannt und Ihr Skeiet schon von Cutieb
als eine Modificatlon des Flossenskelets gedeutet ist, bleibt doch noch
vieles zu ermitteln. Von dem ganzen in einKelnen Abtheilungen sehr
complicirten Apparat, der auch in seiner Function viel Räthsethaftes
darbietet, sollen hier die Skeietverhültnisse bei einigen Gattungen dar-
gelegt werden. Die einfachsten Verhilltnisse bietet Scyllium. Das
zweite und letzte Glied der Stamoireihe ist hier bei den Männchen um
bedeutendes grösser als hei den Weibchen und wird von einem cylin—
drischen , an beiden Enden etwas verjüngten Knorpel vorgestellt , der
zugleich durch etwas weichere Beschaffenheit sich auszeichnet. Bei
Scyllium canicula ist der Knorpel (Fig. 5, b) fast ums Doppelte grösser,
als bei Scyllium catulus (Fig. 6, b] , womit auch die Ausdehnung des
Organs, dem er eine Stütze abgiebt, in Einklang steht. An der media-
len Fläche des von diesem Knorpel durchzogenen Anhangs findet sich
ein Langsschlilz oder eine Furche, welche in einen hinter dem Anhang
beginnenden , schon von J. Davv ') bei Sc. Edwardsii beschriebenen,
1{ Researcbea, Physiological and Analomical. London f839. vol. II. S. 1S9.
— Von Haja sind gleichfalls nur die Weichtheile der rraglichen Organe genauer
beschrieben.
lieber die Modifieationen des Skelets der HiutergUcdmaassen etc. 449
blind geschlosseneD Sack führt. Derselbe tritt zwischen dem Anhang
und dem letzten Radius der Flosse auf die Ventraliläche der letzteren,
auf der er sich nach vorne zu erstreckt.
Carch'arias (C. glaucus) schliesst sich bezüglich des Skelets enge
an die Scyllien an. Der erwähnte Knorpel trißl an Gestalt und Umfang
mit jenem von Sc. catulus überein (Fig. 9, b) .
An diese einfacheren Zustände, in denen der bezüfi;liche Skelettheii
der Männchen nur durch sein Volum von dem homologen der Weibchen
(Vergl.Fig. 4,5,6) sich unterscheidet, reiht sich ein anderer, bei* welchen
die sexuelle Differenzirung weiter gediehen ist. Ich finde diesen bei
Raja repräsentirl, und zwar in einer Weise, welche mit den mir be-
kannten bisherigen Darstellungen dieser Theile in Widerspruch steht.
Nach CcvMR^j wird der Genitalanhang der Bauchflosse mit demFlossen-
skelet durch einen Knorpel verbunden, der wie eine Art von Astragalus
erscheint , und an seiner Seite einen ovalen , am unteren Rande zuge-
schärften Knorpel trägt. Cuvibr hat diesen als Calcaneum bezeichnet.
Dieses Calcaneum articulirt nach hinten mit einem anderen Hauptstücke
des Skelets, welches Metatarsus benannt wird, und aus der Verschmel-
zung anderer hervorgegangen sein soll. Dann kommen noch sieben ver-
schieden gestaltete Stücke, die alle zur Zusammensetzung des Anhangs-
skelets beitragen. Die CuviER'sche Darstellung scheint für die meisten
späteren Beschreibungen die Grundlage abgegeben zu haben. Stannius ^)
sagt im Allgemeinen , dass die Stütze des Organs durch zahlreiche
Knochen- und Knorpelstücke gebildet werde, welche zum Theil blattartig
eingerollt, auch eine kurze Strecke weit durch laxe Hautbrücken ver-
bunden seien. Die Zahl der einzelnen Stücke wird bei Raja auf i 3 an-
gegeben. Von dieser ganzen Complication (man vergleiche die bezüg-
lichen Originalstellen) kann ich gar nichts finden, sodass ich vermuthen
inuss, dass die Beschreibung von trockenen und damit sehr veränder-
ten Skeleten entnommen ward.
DiMn Basale des Flossenstammes folgt ein kürzeres, eigenthümlich
r Legons d'anatomie compar^e. S^c. Edit. I, p. 573 und VIII, p. 805.
2) Handbuch der Anat. der Wirbolthiere, zweite Aufl. Fische. S. 94 und S. 278.
Die Angabo von 13 Knorpelstücken bei Raja scheint Mater (Fror. N. Not. Nr. 876)
entnommen zu sein , dessen Aufsatz von Stannius als Beschreibungen der fraglichen
Anhänge enthaltend citirt ist. Diese Beschreibung ist aber nur eine Reproduction
der CuvicR'schen. Dabei scheint ein eigenthümliches Missverständntss sich einge-
schlichen zu haben. Cuvier giebt nttmlicb beim Geschlechtsapparat noch einmal
den Bau des FlossenskeleU (VIÜ, p. 806), von welchem er die als Femur und Ttbia
benannten Stücke namentlich aufführt. Ztthlt man diese zu den von Cüvier einzeln
beschriebenen Skelettheilen des fraglichen Apparates , so erhält man 4 3 Stücke.
450 (^- (>eKeiil)aiir,
gekrümmtes SlUck [Fig. 21, b] , welches noch Radien Irügl, ausserdem
aber einen langfin, selbst die lilngslcn Radien weil tihertreflenden cy—
lindrischen Knorpcislab, den ich in dioi Abtheilungen (ft' 6" 6"') ge-
gliedert finde. Dieser Abschnitt bildet die Stutze ansehnlicher Weich-
iheile. Er ist nicht schwer von einer Verlängerung des Flossenslam nies
iiblcitbar, und ist gegen die vorerwähnte einfachere Form wesenüieh
nur durch die aufgetretene Gliederung bifher difierenzirt.
Diese Verlängerung der Slammreihe ist die ganze ModilicalioD des
BauchUossenskelels der Männchen. An den Radien habe ich keine hf-
sonderen Abweichungen getrofTen. Sic haben auch gar keine direclin
Beziehungen zu dem Fraglichen Anhange, mit dem sie nur dadurch in
Verbindung stehen, dass die, die bekannte DrUso borgende Tasche der
untern [ventralen) Flüche der letzten Radien auflagert. Dieselbe tritt,
wie oben bei Scyiliuni ci-wühnl, mit einer medialen schlitzförmigen
Oeffnung beginnend, zwischen dem letzten Radius und dem langen
Knorpelstabü des Stammes auf die ventrale Flüche tlher.
So ist also an dem Skelet dieses Apparates bei Raja wederein rin-
nenförmiger Knorpel vorhanden, noch bestehen eiugerolKe Lamellen,
und das ganze Organ enthält nichts, was es als azan gen artiges» bezeich-
nen lassen könnte. •)
Eine dritte Form finde ieli bei Acanthias und Helerodontus.
Sie ist die complicirlesl«, wie auch die Flossenanhünge selbst eine be-
deutendere Ausdehnung besitzen. Das Basale des Flossen stamm es ist
ebenfalls hier der Trager des Stützapparates. Bei Heterodontus nimnil
übrigens auch der letzte Radius [Fig. IS, 19, r) desFlossenskeletsTheil
an dem Apparate. Kr ist durch ein KnorpcIslUck vorgestellt, welches
zwar, wie die vorhergehenden, ungegliedert ist, aber durch seine be-
deutende Grösse und divei^irende Richtung sich von ihnen unterschei-
det. Bei Acanthias dagegen ist der letzte, theilweise dem Basale des
Stammes ansitzende Strahl der kleinste von allen. Auf das Basale folgen
bei Heterodontus zwei, von vorn gesehen gleichgrosse Stücke (Fig. 18,
ß, ß') , von denen das vordere lateral (Fig. 1!)) verschmälert, das hin-
tere dagegen in demselben Maasse höher ist. Ich will sie als Zwischen-
glieder bezeichnen. Sie tragen hinten [dorsal] einen gleichfalls dem
Basale verbundenen Knorpel {b) , der, mildern zweiten Zwischenglied
1) Die Angaben Ciivied'ii, welche Raja rulius C. bttrelTcn, forderten mich auf.
eine i^rässera AdzhIiI niännliclier Rajae in Unlersucliung zu nehmen, Es waren
fleren seuhs Exemplare, sanimllich in Weingeist nufbewahrt. Kiinf dBVon pehorli-rt
den Arieu H. clavala, R. hatis und R. Schulzii an. In ülJeinWesenÜichen slimmleii
r^ic übercin , dti tlie Dinureiizc.>ri nur dii; Lä\tpy und [Jicko der einzelnen KnorpeJ-
sliii:liu he Im feil.
lieber die Modilicationeii des Skelets der HiutergliedmaHSseii etc. 451
gemeinsam das HauptstUck (b^^) des gesammten Skeletcomplexes an
sich angefügt hat. Ein ähnliches Verhalten ist auch bei Acanthias zu
erkennen, nur werden die beiden ZwischcngliedstUcke durch ein ein-
ziges (Fig. 15, 16, ß) repräsentirt. Wenn wir diese Theile von einer
Gliederung des Flossenstammes ableiten wollen, so gerathen wir durch
das Schaltstück (6) in einige Verlegenheit, da es etwas der gewöhn-
lichen transversalen Gliederung dieser Theile fremdes ist. Dass es aber
dennoch dem Stamme angehört, halte ich für sehr wahrscheinlich. Ich
glaube sogar, dass dieses Verhalten auf ein bei Squalina (Fig. I, ß)
vorhandenes, auch bei Carcharias (Fig. 10, ß) noch erkennbares Knor-
pelstückchen bezogen werden kann, welches bei diesen zwischen dem
Ende des Basale und dem ersten Gliede derSlammreihe von der radien-
Iragenden Seite her eingeschaltet ist. Da nun bei Acanthias das Zwi-
schenstück (6) noch einen Radius trägt , der sogar stärker ist als der
vorhergehende, so wird das Zwischenstück als der Radialseite des
Flossenstammes zugehörig gelten müssen , und wird dem von Squatina
und Carcharias oben erwähnten homolog sein , oder den beiden Zwi-
schenstücken (fe, b] von Ileterodontus. Das Schaltstück sehe ich dem-
gemäss als die eigentliche Fortsetzung des Flossenslammes an, an dem
sich an der radientragenden Seite ein oder zwei Knorpelslücke, die im
Gliedmaassenskelete anderer Selachier (Weibchen von Carcharias und
Squatina} angedeutet sind, dißcrenzirt haben.
Der ansehnlichste Theil des Apparates wird von einem Knorpel-
slabe repräsentirt, (Fig. 15, 16, 18, 19 6*) welcher an Länge dem Ba-
sale gleichkommt, oder es sogar (bei Heterodontus) übertrifft. Bei Ile-
terodontus kommt diesem Stücke durch eine dicke, verkalkte Rinden-
schichte eine grosse Festigkeil zu. Es ist von beiden Seitenflächen her
etwas comprimirt und bietet auf der lateralen Fläche eine Längsrinne
dar, die bis in eine von den vorhin beschriebenen kleineren Knorpel-
stUcken gebildete Vertiefung verfolgt werden kann. (Vergl. Fig. 19).
Am oberen Theile des HauptstUckes ist die Rinne fast verstrichen, unten
dagegen ist sie beträchtlich tief und wird von einem Fortsatze (a) über-
ragt, der vom vorderen , resp. untern Rande des Hauptknorpels aus-
geht und lateral und aufwärts (die Flosse in natürlicher Lage gedacht)
gerichtet ist. Bei Acanthias ist dieselbe Rinne vorhanden, beginnt aber
erst an der untern Hälfte des Hauptstückes. Der sie unten bedeckende
Fortsatz (Fig. 15, 16 a) ist bedeutender aufwärts gebogen, so dass
zwischen ihm und dem entgegengesetzten Rande der Rinne nur eine
schmale Spalte bleibt. Diesem Forlsatze sitzt ein beweglicher Stachel
an, der bei Heterodontus (Fig. 18 «*) kurz, länger dagegen bei Acan-
thias ist, wo er eine säbelförmige Krümmung zeigt. Neben diesem
452 C. Gej^Biibnur, ^^^
Stachel findet sich noch eine Anzahl anderer Fortsätze, welche vooi
Ende dos Haiiplstückes ausgeben und ciue in beiden Geltungen ver-
schiedene DifTeieiizirung besiUL'n. Bei Helerodonlus folgt uniniUelbar
auf den Stachel ein beweglicher Fortsatz (e) , der bei Acanlbias einen
KnocbeobeleE; besitzt und eine etwas gekrümmte Kinne bildet, die in
eine löffeiförmige Platte ausläuft (Fig. 17 e). Das nHchsle StUek (ij isi
die unmittelbare Fortsetzung des UauptstUckes. Es entbehrt aber der
Kalkki'tiste und schmiegt sich bei Acanthias [Fig. 17) enge an den Sei—
tenrand des löffel form igen Fortsatzes an. Auch bei Helerodonlus passt
es genau in die Lücke seiner NacbbarstUcke , nenn die Spitzen derseJ—
ben einander parnllfl gerichtet sind. Das daran angeschlossene Stück
bietet in beiden Galtungen ein sehr veischiedenes Verhalten. Ein arti-
culii-endes KnorpolslUck [b] ist es bei Heterodontus (Fig. 18, I !l, SiM.
bei Acanthias dagegen ein knöchernes, mit einem Widerbakeu en-
digendes Gebilde (Fig. 16, 17 c). Der Haken legt sich in die Gruhe
des Löffels, der ihm angepasst erscheint. Das Vexhallcn beider
Stucke ühnelt den verdeckten Haken, wie sie als chirurgische In-
strumente gebraucht werden. Der deckende LöfTel articulirt zugleirh
derart inil der Basis des zuerst erwähnten Stachels, dass eine den letz-
teren aufrichtende Action zugleich die Schutzrinne vom Haken entfern,
so dass die drei knöchernen ölUckc, von einander divergireud, in eine
rechtwinkelig zum Hauptstucke gelagerte Ebene sich legen können. Bei
Heterodontus konmit zu diesen Theilen noch ein dem KnorpelslUcke nur
lose angefügtes schlankes Knorpelstuck [Fig. 19 u).
Wenn der j^anze Apparat aus Theilen des Flossenskelets entstand,
so werden die ihn zusammensetzenden Gebilde auch auf jene bezogen
werden dürfen. In dieser Hinsicht ist das die beweglichen Enden tra-
gende Hauptstuck als ein ansehnlich vergrössertes Glied der SUimuiroihe
anzusehen , dem eine Anzahl modiÜcirtcr Radien angcfUgt ist. Bei lic-
lerodonlus ist nur einer dieser Radien mit einem Knochenbelege ver-
sehen, in einen Stachel umgewandelt, indess die Übrigen SlUcke, wenn
auch formal differenzirt , doch noch knorpelig sich forlerhalten . Bei
Acanthias ist diese Differenzirung weiter gediehen , da drei der End-
stücke sehr verschieden gestaltete Werkzeuge vorstellen, die stimnillich
knöcherne Textur besitzen.
Ueber die functionellen Beziehungen dieser OcgaffC^n^iaus dem
Baue des Skelets derselben keine ganz bestimmten Urtheile zug^M^^
nen. Doch kann die Ausrüstung mancher Organe mit Stacheln und
Haken für die Meinung, dass sie als Halteapparate fungiren, an^^cfulirt
werden. Die grosse Verschiedenheit, welche im Skelet dieses Theiles
der Hinlergliedmaassen sich vorfindet, wird jedoch ohne Zweifel audt
Ueber die ModificatioDeu des Skelets der Hintergliedmsiassen ele.
453
für die YerrichtUDgen bedeutungsvoll sein , so dass wenigstens das
Eine sicher erscheint : dass das functiouelle Verhalten keineswegs als
gleichartiges sich herausstellen wird. Die Untersuchung einer grösseren
Anzahl wird den von mir aufgeführten Formen wohl qoch manche neue
hinzufügen , oder solche , die vom einfacheren Verhalten zum compli-
cirtern, wie es hei Acanthias besteht, Uebergänge darbieten. Schon
aus älteren Beschreibungen, z. B. jener, die Blainville von Selache
maxima gegeben hat ^j , 'geht das Bestehen einer grösseren Mannichfal-
tigkeit hervor.
Die den mannlichen Selacbiem zukommenden Anhänge der Bauch-
flosse finden sich auch bei Chimära, aber in vielen Stücken so sehr
verschieden, dass sie vielmehr als eine selbstsUindig erworbene An-
passung, dann als eine von gemeinsamer Stammform ererbte Einrich-
tung angesehen werden dürfen. Da die fraglichen Organe , soweit mir
bekannt, nur wenig untersucht sind , möge mir gestattet sein, sie hier
naher vorzuführen. Wie Leydig'^) angiebt, kommen den männlichen
Chimären, ausserdem hakenförmigen, an derStirne befestigten Organe,
«vor und hinler dem After zwei Paar eigenthümliche Halte- (?) Apparate»
zu, «das vor dem After gelegene stellt eine rundliche, feste Scheibe
dar, mit verschmälerter Basis und innerem sägezähnig gekerbtem Rande».
Diese aSägeplatte», wie ich sie nennen will , wird von einem Knorpel-
stück gebildet , welches von seinem medianen Rande her von einer
festen Knochenschichle bedeckt wird , von welcher sechs hakenförmig
gegen die Basis der Sügeplatte gekrümmte Zähnchen ausgehen. Diese
nehmen gegen die Basis an Grösse zu. Der laterale Theil der Knorpel-
platte ist verdünnt, und entbehrt des Knochenbelet:es. Dieses Organ
sitzt am vordem Rande des Beckenknoipels , der Medianlinie genähert.
Seine Form ist aus Fig. 22 A und Fig. 24 A zu ersehen. Es liegt jeder-
seits in einer, zum grössten Theile vom äussern Integument gebildeten
Tasche, aus der es hervorgestreckt werden kann. Es sind nämlich
Muskeln an die Basis der Sägeplatte befestigt, welche ihr verschiedene
Stellungen geben können. Beim Weibchen ist nichts auf dieses Organ
Beziehbares bekannt.
Die hinter dem After gelegenen mäimlichen Organe (Vergl. Fig. 2i)
stellen zwei ansehnliche, mit der Basis der BauchQossen am hintern
medialen Rande zusammenhängende Gebilde vor. An ihrer Wurzel fassen
sie die äussere Oeflhung {g) des inneren Geschlechtsapparates zwischen
1) Annalei» du Mus"
2} Zur Anatomie
rbyhiol. 1851, 8. 264.
^ 125.
^r Chimaera monslrosa , Archiv f. Anat. und
1
•.*
,' 4
454 C'. Gegeiibaur,
sich und unmittelbar vor ihnen liegen die Mtlndungen (h) der Perito-
nealcanäle. Jedes Anhangsorgan beginnt mit einem musculösen, von
glatter Haut überzogenen Abschnitt^), der etwa ^5 der Länge des gan-
zen Anhanges beträgt. Von diesem Abschnitte , dem WurzelstUcke
(Fig. 24 m) laufen drei dicht aneinander geschlossene Fortsätze aus, von
denen jeder eine solide, aber unbewegliche Stütze empfängt. Zwei die-
ser Fortsätze sind ihrer ganzen Länge nach, aber nicht an der ganzen
Oberfläche, von weichem Gewebe bekleidet, welches eine spongiöse
Beschaffenheit besitzt und wahrscheinlich ein Schwellgewebe vorstellt.
Das dieses Gewebe überziehende Integument ist mit sehr feinen , nach
vorne gerichteten Häkchen dicht besetzt und bildet an einem der beiden
Forlsätze (q) nahe am Ende einen lateral gerichteten polsterartigen
Vorspiaing.
Der dritte der Fortsätze entbehrt des Besatzes mit spongiöseni Ge-
webe , und wird nur durch ein cylindrisches, leicht gekrümmtes Stück
des Skelets gebildet, wi^lches median und zugleich oberflächlich ver-
läuft (Fig. 2i /). Er i^st ilem einen der beiden mit Schwellgewebe ver-
sehenen Fortsätze (s) enge angelagert und drückt sich in den Ueberzug
derselben so fest an , dass man glauben könnte . jener Ueberzug sei
theilweise auch mit diesem, nur mit einer dünnen Inlegumentalschichle
überzogenen Forlsatze verwachsen. Wenn njan jedoch das etwas vor-
ragende freie Ende des letzten (.s) vom unterliegenden Polster abzuhe-
ben versucht, vermag man sich zu überzeugen, dass jene Verbindung
nur an der Basis besieht, und dass zwischen beiderlei Theilen nur eine
innige Auslagerung staltfindet. An dem medialen Rande des nackten
Fortsatzes wird bei jener Manipulation eine gegen den bekleideten Fort-
satz (ä) gebildete Rinne bemerklich, welche sich an der Wurzel jener
Fortsätze in einer leichten Spiraltour aufwärts und nach vorne zu wen-
det. Sie geht in einen am hintern obern (dorsalen) Theile des Wur-
zelstückes gelegenen liefen Halb - Canal über, der nur mit einer
schmalen Längsspalle nach aussen communicirt. Diese Längsspalle
erweitert sich dicht am Ursprünge des gesammten Anhangs zu einer
rundlichen Oefl'nung, welche der Mündung (Fig. ii y) der innern Ge-
schlechtsorgane benachbart liegt. Die ganze am Wurzelstücke des An-
hangs gelegene Strecke dieses Canals ist von weichem , längsgefal-
tetem Integumente ausgekleidet.
Wie der nackte Forlsatz dem einen mit spongiösem Gewel
deckten anliegt, so sind auch die beiden letzteren, zwar nicht diretl"
aber eben durch ihren Uel>erzug, dicht aneinandergelagerl, und lassen
eine bis nahe an den Ursprung der Fortsätze reichende Spalte
zwischen sich. Diese Spalte hat aber nichts mit der vorerwähnten
L
Ueber die Modificationeii des Skelets der HiiitergliedmiiASseH etr. 455
Spalte zu thun, welche in die an der Gcnilalöffnung beginnende Rinne
führt.
DasSkelet dieser Anhänge wird vom Basale (Fig. 22 B) des
Flossenstanimes getragen und besieht aus nur drei discreten Theilen.
Das erste Stück ist eine breite , aber senkrecht gestaltete Knorpelplatte,
(h) welche lateral rinnenförmig vertieft ist, und nach vorne einen
schwach gekrümmten Fortsatz [x] aussendet, an welchem starke Mus-
keln sich befestigen. Man wird dieses Stück als ein Glied der Stamm-
reihe ansehen dürfen. An ihm sitzt ein zweites, welches eine mit
• *
schmalem Fortsatz entspringende, stark gekrümmte Knorpellamelle vor-
stellt, welche die auf dem Stücke b befindliche Rinne überwölbt und
mit ihrem vordem Rande den Eingang des oben erwähnten Canals be-
grenzen hilft. Dieses Stück entspricht einem Radius, wie es denn auch
nahe am radien tragenden Rande des Flossenstammes befestigt ist. Das
dritte Stück endlich ist das complicirteste. Es fügt sich mit breitem
Rande an das hintere Ende des vorhergehenden an und kann in einen
Körper und drei FortsHtze unterschieden werden , welch' letzlere die
Stützen der schon oben erwcihnten , zum Theil mit spongiösem Gewebe
umkleideten Gebilde sind. Der Körper (6*) ist lateral rinnenförmig vor-
tieft und bildet damit die Fortsetzung der schon am vorhergehenden
Knorpel gelagerten Rinne. Diese Rinne am Körper wird gegen das Ende
zu überbrückt durch eine schräge , etwas spiralig verlaufende Kante,
welche in den Forlsalz c ausläuft, während die Rinne in eine zwischen
s und / befmdliche Spalte sich verlängert. Die beiden letzterwähnten
Fortsätze liegen dicht aneinander, in Fig. 22 und ^3 sind sie gegen d.is
Ende etwas von einander entfernt dargeslellt. Neben dem ihnen zu
Grunde liegenden Knorpel besitzen alle drei Fortsätze einen festeren
Ueberzug, der von einer verkalkten Schichte gebildet wird. Eine Glie-
derung ist weder am Körper, noch an den Fortsätzen wahrzunehmen,
sie sind aneinander unbeweglich und bieten nur elastische Eigenschaf-
ten dar. Der Spiralverlauf des Anfanges eines der drei Forlsätze, sowie
die dadurch entstandene Rinne auf der lateralen Seite des Körpers wird
von einer Drehung des Körpers dieses SkelelslUckes abzuleiten sein.
Denken wir uns den Körper abgeplattet, so werden sich die Fortsätze
so ordnen, dass s der medial gelegene ist und q lateral sich anschliesst.
Es ist bemerkenswerth , dass an dem Stücke b'' bei Chimära die-
selbe auswärts gerichtete Spiraldrehung besieht, wie sie am Ende des
bei Acanthias und Heterodonlus beschriebenen llaupUslückes (b^) eines
ähnlichen Apparates in einer lateral gerichteten Lamelle {a) vorkommt.
Dadurch wird die Vergleichung mit jenen Gebilden erleichtert, indem
^^ir auch die Zwischenstücke der Organe der genannten Selachier in
456 (^- Gegenbuir,
dem KDorpel 6 der Cbimara wiederflnden. Aber die Endtheile bleiben
dabei bctiächtlich verschieden, da sie bei Chinieira conti nuirliche Fi>rt—
Sätze des HauptslUckes sind , ber jenen Haien dagegen bewegliche und
sehr verschiedenartig differeniirte Gebildet Ob diese auf die Portfiätte
der Chiinära bezogen werden können , muss für jetzt noch oQene Präge
sein. Wenn das dreifach gelheille Endstück der Chimära, wie kaum
zu bezweifeln , dem Flossen stamme angehörl , von dem es die directe
Fortsetzung vorstellt, so können seine Fortsätze nicht Bedien sein, als
welche die Endanhange bei Acanthias und Heterodontus wegen ihrer
Beweglichkeit gedeutet werden konnten. Doch ist immer noch die Hög-
. lichkoit vorhanden, dass diese Annahme nicht richtig ist und dass
doch nur Sonderun^cn von Theilen des Slam mskel eis derGliedmaassen
vorliegen, die bei Chimära in einem indifferenten und damit niedeni
Zustande geblieben sind.
.iena, November 1869.
Ueber dfts Skelet der GliedniAXBseii der Wirbelthiere im Alfgemeiueii ete. 457
ErUlroBg der AbbAdtugen.
Taf. XV.
Fig. 4 — 40 stellt die Skelete der Hintergtiedmaassen von Haien dar, Fig. U
bis 44 solche von Rochen. Sttmmtliche Figuren sind in natürlicher Grösse dar-
gestellt.
Fig. 4. Squatina vulgaris f.
Fig. 3. Acanth ias vulgaris f.
Fig. 3. A. Heptanchus cinereus f. B. Vordertheil des Flossenskelets der
andern Seite.
Fig. 4. Scyllium canicuta fem.
Fig. 5. Scyllium canicnla mas.
Fig. 6. Scyllium catulus mas.
Fig. 7. M ustelus vulgaris f.
Fig. 8. Galeus canisf.
Fig. 9. Carcharias glaucus m.
Fig. 49. Carcharias spec?
Fig. 44. Raja Schulzii.
Fig. 43. Rhinobatus laevis.
Fig. 43. Torpedo oculata (Vordertheil des Flossenskelets).
Fig. 44. Trygon pasti naca.
Figuren-Bezeichnung. Bei Allen :
B Basale
ö, 61 5^ folgende Glieder
R Randradius (Propterygium)
r, r* r2 Radien.
I des Flossenstammes.
Taf. XVL
Fig. 45. Skelet der Hintergliedmaasse eines männlichen Acanthias vulgaris.
Fig. 46. Endstück derselben Gliedmaasse in der lateralen Ansicht.
Fig. 47. Die Anhänge des Endstückes von der medialen Seite.
Fig. 48. Skelet der Hintergliedmaasse von Heterodontus Philip i.
Fig. 49. Das Endstück von der lateralen Seit«.
Fig. 20. Die Anhönge desselben von der medialen Seite.
Fig. S4. Skelet des Stammes der Hintergliedmaasse von Raja (spec. ?) m. Von den
Radien sind nur die Basaltheile dargestellt.
45S C. Geg«nbiiiir, Ueber die ModIflcnllDiifii des Ükelris iler HiiilergliedniiiiissFu flc
Fig. ÜS. Rechk! Mine des Beckcngürtels mit der IliDlcrglicilinanssp eiuer intinn-
liehen C h i m ii rn , von vorne (ventral) gesellen.
A Bewegliche, am BcckengUrtel sitzende Knnrpelplallc.
C BecWoiigUnol. « raj*;j AbsohDlU J...cll»n.
Fig. 13. Endstück der Hintei^liedmaiiiise von CtilnnärB von der tateralni Spil«'
gesehen.
Fip. H. KinTheil der BBunliflHche einer männlichen Cliimai-a mit den Hiiitert!lied-
mBDSSen und den Anhängen derselben.
A Anhangsslbck des Beckens, hervorgesl reckt, auf der andern Seite in
die Tasche des Inlegumenles zurückgezogen darf^eslellt.
C Cloake.
p Mündungen der PeriloneaicanHIe.
g Miindung der Innern Geschlechtsorgane.
in Anhange der BaucMlosse,
I I q ForlsBtze derselben.
Fig. an. Skelet der Vorderglicdniansse von Ccnli'ophorusorepidalbus.
Fig. !6 Skelet der Vordergliedmaasse von Carchariss raelanopturus.
Fig. 97. Skelet der Vordergiiedmaa>ise von Hemiscylliumplagiosum.
Fig. IB. Skelet der Vordergliedmaasse von Prislis (spec.?). Die Radien sind mit
Ausnahme der vordersten aehl nicht in ihrer genxen LUnge dargestellt.
Figuren-Bezeichnung i
i UM Int „ 1 r-i- 1 I des Gliedmaassen Stammes.
o, 0' 0' folgende (ilieder I
B Randradius (Propleiygium) ,
r, r' r^ etc. Tolgende Radien.
-^
Heber einen Spectralapparat am Nikraskap.
Von
E, Abbe.
Es gilt in der Beobacblungskunst itn Allgemeinen als Gi undsaiz,
die lechnischen Hilfsmiltel zum Studium der Naturerscheinungen , In-
strumente und Apparate, je für eine recht eng begrenzte Verwendung
einzurichten, damit nicht durch die Rücksichtnahme auf mehrerlei wenn
auch einander nahe liegende Zwecke die möglichst vollkommene An-
passung an einen Hauptzweck verhindert werde. Diese Regel ist un-
zweifelhaft wohl begründet und namentlich niemals ohne Schaden ausser
Acht zu lassen, wenn es sich in irgend einer Richtung um die äussersten
Leistungen der experimentellen Kunst handelt, die nach dem jeweiligen
Stande der Technik als möglich erscheinen. Indessen schliesst dies
keineswegs aus , dass es in besondem Fällen auch wieder gerechtfer-
tigt und angemessen sein könne, auf die möglichste Erweiterung des
Wirkungskreises von Werkzeugen des wissenschaftlichen Gebrauchs
Bedacht zu nehmen ; zumal wenn es solche sind, die vermöge ihrer all-
gemeinen Verbreitung ein Beobachtungsfeld, auf welchem sie Anwen-
dung finden können , Vielen zuganglich machen , die ihm sonst wegen
Mangels der erforderlichen Hilfsmittel fern bleiben würden. — Von
diesem Gesichtspunkte aus mag man die Vorrichtung beurtheilen, die
im Folgenden beschrieben werden soll. Sie bezweckt, den Bereich der
Anwendung eines so weit verbreiteten Instruments, wie das Mikroskop
ist, auf ein Gebiet auszudehnen, das bisher nur durch besondere,
einestheils ziemlich kostspielige, anderntheils auch schwieriger zu hand-
habende Apparate zugänglich gewesen ist, nämlich auf das Gebiet der
Beugungs- und Spectralphänomene ; und sie erreicht — wie der Ver-
fasser nach den gemachten Erfahrungen glaubt sagen zu dürfen — die-
sen Zweck mindestens in so weit, dass sie nicht nur den Bedürfnissen
des physikalischen Unterrichts , sondern auch den gewöhnlichen An-
460 E. Ahbf,
Sprüchen beim wissenschaftlichen Gebrauche des Physikers und Che-
niikers GenU^e leisten kann.
Das Wesenlliche der Sache ist leicht darzulegen. Handelt es sich
etwa um die Beobachtung des Farbenspectrums , welches ein Prisma
von einer hellen Linie entwirrt, und zwar unler der Anforderun.^, dass
das Spectralbild dem Auge UDler grösserem Gesichtswinkel als beini di-
reclen Sehen erscheine, so kommt es bekanntlich darauf an, durch
eine geeignet« Sammellinse ein objecttves Bild des Spectrums zu ent-
werfen und dieses sodann durch eine vergrUssernde Linsencombination
dem Auge zur Wahrnehmung zu bringen. Bei den üblichen Spec'ro-
skopen wird Beides durch ein h'emiohr erreicht ; sein Objectiv erzeugt
das verlangte Bild des Speclrums genau so wie das eines beltebiiieo
andern entfernten Objecles , wofern der licbtgebende Spalt entweder
wirklich in grosser Entfernung sich beÜndet oder (was gewöhnlich ge-
schieht) durch eine Hilfslinse künstlich in solche versetzt wird; sein
Ocular lässt sodann , als Lupe wirkend, jenes Bild unler dem ver-
grösserten Gesichtswinkel beobachten. Dabei ist die Brennweite des
Objectivs nur insoweit von Bedeutung, als dieOrOsse des reellen Bildes
von ihr abhangt und daher, je kürzer sie ist, ein um so schürferes
Ocular erfordert wird, damit eine vorgeschriebene Vergrässerung er-
reicht werde. Wenn es aber mttglich ist, ohne mit den sonstigen An-
forderungen an die Vollkommenheit der Wirkung in Coilision zu kom-
men, die Ocularvergrßsseriuig beliebig zu steigern, so hindert nichts,
die Brennweite des Objectivs beliebig zu reduciren. Eine solche Stei-
gerung um ein Wesentliches über das übliche Maas hinaus kann aller-
dings mittelst eines gewöhnlichen Oculars nicht oder nur in sehr man-
gelhafler Weise bewirkt werden , recht gut aber, und zwar in sehr
weitem Spielräume, mit Hilfe des zusammengesetzten Mikroskops. Die
Anwendung eines solchen zugelassen, darf demnach die Sammellinse
zur Erzeugung des Objectivbildes auf so kurze Brennweite gebracht
werden , dass sie selbst sowohl wie das erforderliche Prisma mit dem
Mikroskop an dessen eigenem Stativ verbunden werden kann, zugleich
aber auch eine ziemiicb nahe Lichtquelle ihr gegenüber dieselben Ver-
hallnisse bietet , wie für ein Fernrohr von gewUhnlicben Dimensionen
eine sehr entfernt gelegene.
Dem entsprechend besteht der fragliche Apparat der Hauptsache
nach aus einem geeigneten Linsensystem von ca. SS Mm. Aequivalenl-
brennweile und 12—20 Mm. Oeffnong, welches, in eine cylindrisrhe
Hülse gefasst, durch Einstecken in die TischOffnung eines Mikroskops
unterhalb des Tisches so befestigt wird, dass seine optische Axe mit
der des Mikroskops zusammenfällt und sein oberer Brennpunkt naiu'zu
Ueber einen Spectralapparat am Mikroskop. 461
in die Tischebene zu liegen kommt. Dieses Linsensystem trägt vor sei-
ner untersten Linse, durch einen angeschraubten Ring mit seiner Fas-
sung verbunden , ein Prisma von entsprechenden Dimensionen, dessen
brechende Kante horizontal und zur optischen Axe des Ganzen senk-
recht hegt und welches mittelst eines vorstehenden Knopfes um einen
gleichfalls horizontalen Zapfen beliebig gedreht werden kann.
In einem Abstände von 400 — 500 Mm. vom Mikroskop ist ein klei-
nes Stativ aufgestellt, welches den lichtgebenden Spalt trägt. Er ist
natürlich der Prismenkante parallel, also gleichfalls horizontal gerichtet
und befindet sich in derselben oder etwas grösserer Höhe tlber der ge-
meinsamen Grundfläche (der Tischplatte) als das Prisma. Die Strah-
len, die von ihm ausi;ehen, wenn ihm durch einen Spiegel Son-
nen- oder Wolken licht zugeführt wird, oder wenn man eine leuchtende
Flamme hinter ihm aufstellt , gelangen daher in horizontaler oder in
wenig geneigter Richtung zum Prisma , durchdringen dieses bei geeig-
neter Orientirung unter den Redingungen der kleinsten Ablenkung und
treten , durch die Dispersion in die verschieden gerichteten farbigen
Strahlenbündel zerlegt, in der Richtung der optischen Axe des Instru-
ments aus ; daher denn das Linsensystem im Tische desselben ein Ob-
jectivbild des Spectrums in der gewöhnlichen Einstellungsebene des
Mikroskops hervorbringt, welches nun genau so wie jedes andere mi-
kroskopische Object unter beliebiger Vergrösserung zu betrachten ist.
Zur Verwirklichung der hier bezeichneten Forderungen gehört
erstens, dass das Prisma gegen die vom Spalte her einfallenden Strah-
len so gerichtet werde, dass diese innerhalb des Normalschnittes und
zugleich unter dem Minimum der Ablenkung hindurchtreten; zweitens,
dass die Axe des Mikroskops in die Richtung der austretenden Strahlen
gebracht werde. — Das Erste wird dadurch erreicht, dass man Prisma
sammt Linsensystem um die Axe des letztern und zugleich das Prisma
um den zu dieser senkrechten Zapfen , mittelst dessen es von der
Fassung getragen wird, so weit dreht, bis der Normalschnitt durch die
Mitte des Spaltes geht und die vorderste brechende Fläche von den ein-
fallenden Strahlen unter dem Einfallswinkel der Minimalablenkung ge-
troffen wird. Das zweite setzt voraus , sofern ein gewöhnliches ein-
faches Prisma Verwendung finden soll, dass man die gemeinsame op-
tische Axe des Spectralsystems und des Mikroskops in verticaler Ebene
bewegen und in einer bestimmten Richtung feststellen könne. Welches
diese sei, ist leicht zu berechnen, wenn man den brechenden Winkel
des Prismas und seinen mittleren Ri-echungsindex , sowie die Neigung
der vom Spalte her einfallenden Strahlen gegen die Horizontale
kennt. Rezeichnet 9) den brechenden Winkel, n den Rrechungsex-
Bd. V. 4. 84
ponenU'n
knnnllich
ind II Hi(> Minim.nl.iblenkunq des
Denki man liiiTaus u brreclind, so findcl sidi ci.T Winkel /?, welchen
dii.> in dt<rMiniiiinlabli>nkung nustn>li)n<it>ii Slrahlini mit der Morizonliilen
bilden , also die d<^r Mikrnskopaxe zu erthnilendo Lage,
wonn unliT x der entsprcchcndi' Winkel der einfnlleiidcnSlrahlpii vei-
slandoii wird.
Bei Mikroskopen, welclie, wie die nach enjilischem MusUr ftehnu-
len , zum Umlegen «^ingericlilel sind, kann die erforderliehc EinsU-tlun^
nalUrlich ohne Weilen« bewirkt werden; bei Staliven der gewöhn-
lichen Einriehlung dagegen milssle man den Fuss des Instrumenlt-s auT
einer keilförmigen Unterlage (deren Winkel im einzelnen Falte nach
vorstehender Regel gefunden werden kann) ^efesltgen. Die bioraus ent-
springende Unbequemlichkeit lasst sich jeiloch vermeiden , wenn ni.-in
ein Prisma verwendet, wel-
ches ausser durch die zwei-
malige Breahung noch durch
Totalreflexion an einerdrillen
Flüche ablenkend wiriit. —
Um dies zu übersehen, denke
man sieb ein Prisma, desst-ii
NormalscIiniU dieGestall des
Dreiecks^fiC besitzt, in sol-
cher Stellung, dass irgend
ein in der Richtung 0/* ein-
fallender Strahl die Flüche
" AC unter einem EiAfallswin-
kel toi trifft, an der Flache Aß total refleclirt wird und nach einer zwei-
ten Brechung an BC unter einem Winkel m^ austritt. Der Verlauf
dieses Strahls ist nun offenbar vom Punkte Q ab derselbe, wie wenn
er in einer Richtung 0' P" angelangt würe, die das Spiegelbild von OP
ist, und die nämliche Brechung , die vorher an AC stattfand , an einer
Flüche AC' erfahren hatte, die das Spiegelbild von AC ist; und da ein
Gleiches für alle Strahlen, welches ihr Einfalls\^inkel und welches ihi-
Brechungsindex sein mag, Geltung behitit, so folgt, dass obiges Prisma
hinsichtlich der durch Brechung vermittelten , also vom Brecbungsindex
abhängigen Wirkung, namentlich also in Hinsicht auf die eintretende
Farben Zerstreuung, durchauseinem einfachen Prisma mit dem brechen-
Ueber einen Spectralapparat am Mikroskop. 463
den Winkel ß — a äquivalent ist. Hingegen ist die Gesanimtablenkung
jedes Strahls, wie man leicht erkennt, um den constanten Winkel 2a
grösser als diejenige, die ein unter dem gleichen Einfallswinkel durch
das einfache Prisma geleiteter Strahl von derself>en Farbe erfahren ha-
ben würde. — Demnach hat man durch ein Prisma von obiger Form in
seiner Gewalt, die Richtungsverschiedenheit zwischen eintretenden und
austretenden Strahlen auf ein vorgeschriebenes Maass v zu bringen und
gleichzeitig die Dispersionswirkung eines gewöhnlichen Prismas von ge-
gebenem Brechungswinkel y zu erzielen , dabei für eine Farbe — etwa
die Mitte des Spectrums — den Bedingungen der Minimalablenkung
Genüge leistend. Man hat, wie leicht zu sehen, die beiden Winkel a
und ß nur so zu bestimmen , dass die beiden Gleichungen
ß-^a^ q>
t^ «1- 2a =r i;
erfüllt sind , also
« = — ^ — ; ^ = y H j- —
zu wHhlen , hierbei unter f«, wie oben , den aus n und q> abzuleitenden
Werth der Minimalablenkung für das zu ersetzende einfache Prisma
verstanden. Soll der Forderung einer totalen Reflexion genügt sein, so
muss der Einfallswinkel der Strahlen an der Fläche AC. welcher -^
' a
betrügt, natürlich kleiner als der Grenzwinkel der Totalreflexioi>
bleiben.
Soll z. B. die Richtung der eintretenden Strahlen um 10® gegen
die Horizontale geneigt sein , der AustriU aber in verticaler Richtung
erfolgen ,. so ist der geforderte Werth der Gesammtablenkung v = 1 00<^.
Hat das betreflfende Material — wie es bei dem vom Verfasser ver-
wandten stark zerstreuenden Flintglase der Fall ist — einen Brechungs-
index 71= 1,73 und soll damit die Wirkung eines Prismas von (iO® er-
zielt worden, so wird, wie die Rechnung zeigt, ii gleichfalls 60® (auf
die Minute genau) ; daher muss a = 20®, ß «= 80® gesetzt werden , wo-
bei dann , da a 4- ^' = 500 der Bedingung vollsUlndiger Reflexion
sclbstversUindlich gentigt ist.
So weit die Einrichtungen, welche für die Verwendung des Appa-
rats zur Beobachtung des prismatischen S[)ectrums erforderlich sind.
Es ist höchstens noch hinzuzufügen, dass die bei Spcctroskopon übliche
Scale, welche eine Lagenbestimmung der einzelnen S|)ectrallinien mög-
lich ma(ihen soll , leicht ersetzt werden kann durch ein in das Ocular
eingelegtes Glasmikrometer mit etwas starken Suichen und nicht zu
engen Intervallen. Projicirt sich ein continuirliches Spectrum auf eine
8^*
464 E. Abbe,
solche Mikromelerscale , so treten die Thellstriche auf dem farbigen
Hinlergrunde hinreichend kenntlich hervor. Bei Beobachtung discon-
linuirlicher Spectren dagegen kann man das an sich dunkle Gesichts-
feld vorübergehend so weit als erforderlich erhellen, indem man etwas
diffuses Licht in das Mikroskop gelangen Uisst, sei es mittelst der Spie-
gelung einer Prismenfläche, sei es durch ein Stück weissen Papiers,
welches man in der Richtung der Axedes Instruments unter dem Prisma
hinlegt.
Um den Apparat für das Studium der BeugungsphSnomene geschickt
zu machen , ist nichts weiter erforderlieh , als dass man das Prisma von
der Fassung des Spectralsyslems entferne und an seiner Statt einen Ring
anschraube oder anstecke , mittelst dessen sich die nöthigen Objecle,
feine Oefl'nungen verschiedener Form, Glasgitter etc., vor der untersten
Linse befestigen lassen. Um die Lichtstrahlen, welche vom Spalte oder
von einer anders gestalteten Oefl'nung an seiner Stelle ausgehen, in die
Axe des optischen Systems zu leiten — die jetzt natürlich eine beliebige
Lage haben darf — kann für die gewöhnlichen Versuche der an jedem
Mikroskop befindliche Planspiegel vei'wandt werden. Handelt es sich
jedoch um vollkommenere Bilder, wie sie gefordert werden, um z. B,
die Fraunhofer'schen Linien in einem Gitterspectrum sichlbar zu machen,
so benutzt man ein kleines Reflexionsprisma, welches mittelst eines
auf den Spiegel aufgeschobenen Ringes vorübergehend an diesem be-
festigt wird.
Was nun die theoretische Beurtheilung der Leistungsfähigkeit der
hier beschriebenen Einrichtung anlangt, so werden hierbei wesentlich
drei Dinge in Frage kommen: die zu erreichende Vergrösserung , die
Vollkommenheit der Bilder und die Helligkeit, welche bei einer bestimm-
ten Vergrösserung erwartet werden darf. — Nach dem, was oben übi?r
die Functionen der einzelnen Theile gesagt wurde , w onach das Spec-
tralsystem das Objectiv , Alles zum Mikroskop gehörige dagegen das
Ocular eines gewöhnlichen Fernrohrs vertritt, können die für das letz-
tere giltigen Regeln auch hier zu Grunde gelegt werden. Es darf also
erstens die Vergrösserung, da der Abstand der Lichtquelle (des Spaltes)
— ca. 400 Mm. — gegenüber der Brennweite F des Spectralsystems
— 25 Mm. — schon als sehr beträchtlich erscheint, ohne merklichen
Fehler dem Verhältniss zwischen dieser und der Aequivalentbrenn-
weite des Mikroskops gleichgesetzt werden. Gewährt nun das Mikro-
skop, d. h. irgend eine bestimmte Combination von Objectiv und Ocu-
lar an demselben, für sich betrachtet eine Vergrösserung = iV, diese
für die gewöhnlich angenommene Sehweite von 250 Mm. berechnet, so
ist seine Aequivalentbrennweite /^bekannthch
\
Ueber einen Spectralappurat am Mikroskop. 465
demnach die gesuchte Vergrösserungsziffer
n = — = — —^ — , abgerundet = -^ N.
Also wird schon durch eine hundertfache Mikroskopvergrösserung,
die mit einem ziemlich schwachen System bequem herzustellen ist, die
Wirkung eines zehnfach vergrössernden Fernrohrs erzielt, also dieselbe,
welche ein gewöhnliches Spectroskop auf Dreifuss mit Fernrohren von
etwa zehn Linien Oeffnung meistens gewährt; und man sieht, dassauch
eine Steigerung der Vergrösserung betrifchtlich über das obige Maass
hinaus immer noch durch Mikroskopsysteme möglich bleibt, welche
kaum zu den mittleren an den heutigen Instrumenten gerechnet werden.
In Hinsicht auf das zweite, die Reinheit und Schärfe der Bilder,
kann nicht zweifelhaft sein , dass die Anforderungen , welche bei der
in Rede stehenden Einrichtung gestellt werden müssen, verhältniss-
mässig höher und also schwieriger zu erfüllen sind wie bei den Gon-
structionen der gebräuchlichen Art.
Die Ansprüche an die Vollkommenheit eines Fernrohrobjectivs,
durch dessen Vermittelung Bilder von vorgeschriebener Gesammtver-
grösserung erzielt werden sollen, steigern sich zwar an sich nicht noth-
wendig mit abnehmender Brennweite und proportional wachsender
Ocularvergrösserung ; sie bleiben jedoch nur dann relativ dieselben,
wenn die lineare OelTnung der Linsen in gleichem Verhältniss mit der
Brennweite abnehmen darf. Da dies nun aber, wegen der Rücksichten
auf die Lichtstärke im vorliegenden Falle unbedingt ausgeschlossen ist,
die lineare Oeffnung vielmehr trotz der verminderten Brennweile ein
bestimmtes Maass einhalten muss, so wird der Oeffnungswinkel der das
Objectivbild formirenden Strahlenkegel mit abnehmender Focaldistanz
rasch grösser und es müssen deshalb die Schwierigkeiten, das Objectiv
in dem erforderlichen Grade aberrationsfrei zu machen, beträchtlich
zunehmen. Indess darf hieraus keineswegs geschlossen werden , dass
es bei der hier angenommenen Einrichtung unmöglich sei , den Grad
der Vollkommenheit zu erreichen , den ein gutes Fernrohr unter sonst
gleichen Umständen gewährt; es folgt vielmehr daraus nur, dass solches
mit denselben einfachen Mitteln nicht möglich sei. Bei den Grössenver-
hältnissen der nach der früher gegebenen Beschreibung ausgeführten
Apparate, bei welchen der Brennweile il'y Mm. eine freie Oeffnung von
20, resp. 42 Mm. entspricht, der Oeffnungswinkel also nahe 60<> resp.
30^ erreicht, konnte also nicht daran gedacht werden, bei einer ge-
wöhnlichen achromatischen Linse als Objectiv stehen zu bleiben ; wohl
466 E. Abbe,
aber war zu erwarleo, dass diii'di eine angemessene CoiubinatJon mos.
mehreren Linsen die Aberralionen auch für diese grossen OeM'iiuiigcD
sich so weit würden beseitigen lassen, als es zurErzielung hinivicfacDd
scliarfer Bilder von namhiifletVergrüsserungnöLhig ist. Dies bähen deou
iiucL die in der optischen Werkstatl des [Icirn Carl Zeiss in Jena aus-
gcfuhticu Instrumente vollkommen besläligl. DasSonncnspectruni z. B.
erscheint bei rrclit sorgfülliger Rcgitliniiig von Spalt und Prisma in
allen seinen Theilen so rein und scharf, dass — nach einer boiliiuB^en
Schülzung — etwa die Hillfte der in der bcVinnton KirchholTscbcn
Zeichnung aurgifuhrk-n Linien wahrgcnojiinieu werden können ; scbou
bei etwa acliLzig- bis liunderiracher Mikroskopvergrüsscrung isL das
l-'raunhorer'sclie D deutlich als Uuppi-Ilinie und sind die dunkeln Strei-
fen in der Niihe von G als Gruppen aus sehr vielen feinen Linien zu er-
kennen. — ScIbslviTsUindlieh ist dabei vonmsgeselKt, dass das Mikro-
skopsystem, welcbes man zur Beobachtung des Speelral - oder Beu-
gungsbildes verwendet, für den in Betracht kommenden Oeffnungswinkel
(60* resp. .10"] in gleiehem Maasse vollkommen „ d. h. hinreichend
aberralionsfrei sei, was bei den sebwaeheren und mittleren Systenten
aus den bessern Werkslällen heut zu Tage wohl immer zulreü'en wird.
Was endlich drittens die LiehlsL<irke des besehrieltenen Spectro-
skops anlangt, so ist leiclil zu sehen, dass diese, wie bei jedem Fern-
rohr, in der Hauptsache nur vom Durchmesser des Objectivsystems
abhängt, vorausgesetzt, dass der OelTnungswinkel des zur Beobaehtun);
dienenden Hikruskupsystems mindestens dem Oellnungswinkel der von
jenem ge liefer L<.'n Sirahlenkegel gleichkoumil ; und zwar wird, wenn
man von der Verschiedenheit der zufälligen LichtverlusLe absieht, die
gesuchte Licblslürke im Wesentlichen Übereinstimmen mit der eines
gewöhnlichen Femrohrs von gleicher Gesammtvergrttsserung, dessen
Objectiv gleiehcn Durchmesser mit der untersten Linse des Spectral-
systems besitzt. In den beiden Formen, in denen das Instrument aus-
geführt wurde, betrügt dieser Durchmesser, wicschon bemerkt, in dem
einen Falle ^0 Mm. , im andern nur \'i Mm, ; und man wird auch über
das erslcreMaass nicht erheblich hinausgehen dürfen, wenn nicht einer-
seits die Bequemlichkeit der Handhabung, die wesentlich durch die
compendiöse Form bedingt ist, leiden, andererseits nicht die Ucrstel-
lung bedeutend kostspieliger worden soll. Ks kann daher die neue
l'iinriehtung in Hinsicht auf die Lichlslürke nur mit Fernrohren von
htiehstens niiUlcren Dimensionen concurriren ; in der grossem Form
ausgeführt, wird sie etwa denen von zehn Linien Duiehmesscr , die
man an SpecLioskopen gewöhnlich findet, gleichsli.'ben. — Indessen
hindert diese Besclirünkung keineswegs, die Vorlheile auszunutzen,
Heber einen SpectrAlappariit «im Mikroskoj». 467
welche der Gebrauch slürkerer Vert» rosse runden imler geeigneten Uni-
sländen bieten kann, indem ausser in ganz exceptionellen Fallen grade
die Lichtstarke — wie dem Verfasser scheint — das am wenigsten
entscheidende Moment bei den in Hede stellenden Anwendungen ist.
Denn benutzt man directes Sonnenlicht, so hat man fast ohne Ausnahme
mehr umMässigung, als um Steigerung der Helligkeit sich zu bemühen;
und wie wenig ausserdem bei grossen Instrumenten auf Ausnutzung
ihrer Lichtstärke Bedacht genommen wird, ist schon daraus ersichtlich,
dass man die Beleuchtung des SpaUes durchweg nur mit einem ebenen
lleliostatspiegel bewirkt findet , wobei , wie sich leic(^t beweisen lässl,
wegen des geringen Winkeldurchmessers der Sonnenscheibe immer
nur ungefähr der hundertste Theil von der Fläche desFernrohrobjectivs
wirklich nutzbar geniacht wird. Bei Beobachtung von Flammenspectren
andrerseits ist das llinderniss für dieWahrnehnmng der lichtschwachen
Theile meistentheils weniger ihre geringe Helligkeit an sich , als viel-
mehr das gleichzeitige Auftreten intensiverer Stellen innerhalb dessel-
ben Sehfeldes ; und dieses llinderniss wird offenbar durch blosse Stei-
gerung der Lichtstärke, so wünschenswerth diese natürlich ist, nicht
beseitigt , wohl aber dadurch , dass man die intensiv leuchtenden
Theile thunlichst aus dem Gesichtsfelde entfernt und auch ausserdem
vom Auge alle Einwirkungen abhält, welche die Empfindlichkeit für
schwache Lichtreize abstumpfen. Ersteres geschieht bei dem hier in
Rede stehenden Spectroskop leicht durch eine kleine Drehung des
Trismas, resp. der Mikroskopaxe , wenn nothig unter Beihilfe einer das
Gesichtsfeld verengenden Blendung , die man vorübergehend in das
Ocular einlegt. Für das andere ist es wesentlich ~ natürlich nur, wenn
es sich um schwierige Objecto handelt — dass man nicht allein das
Auge gegen blendendes Seitenlicht schütze , sondern auch die nächste
Umgebung des Spaltes und des Mikroskops, soweit von ihr direct oder
durch Spiegelung an den Prismenflächen Licht in das Gesichtsfeld ge-
langen kann, möglichst verdunkle; weshalb u. A. der Fuss des In-
^lruments am besten mit einem Stück schwarzen Tuchs oder Papiers
bedeckt gehalten wird.
Ents|)rechend dem hier Gesagten macht sich denn auch bei dem
beschriebenen Apparat ein Bedürfniss nach grösserer Lichtstärke in
keiner Weise bemerklich. Schon die kleinere Form, bei welcher Lin-
sensystem und Prisma nur 1^ Mm. Durchmesser haben, lässt bei
Flammenspectren augenscheinlich das Nämliche und dieses auch mit
derselben Leichtigkeit erkennen, wie ein Spectralapparat der bekann-
ton Einrichtung in den gewöhnlichen Dimensionen, und erlaubt u. A.
468 E. Abbe,
das prisiTiritiscbe Sonnenspectrum schon ciil Bcnulzuog des Lieble« einer
hellen Wolke unter schwacher Verdrösse riing zu beobachten.
InBclreffderAiifstellLinsdeslnstriiriii'nlsunddicOrientiruiigseinOT
Theile reichen wenige Bemerkungen aus. — Dass der Spalt parallel sei
der Grundfläche desSttitivs, welches ihn Irtigt, die brechende Kante dt-s
Prismas parallel dem Ziipfen, um den es sieh drehen lüsslund mit dieser
senkrecht zur optischen Axe des Spectralsystems — diese drei Bedin-
gungen können bei der Anfertigung ein für allemal erfüllt werden, we-
nigstens in soweit, als es irgend erforderlieh ist bei einem Gebrauch,
bei dem es sich nirgends um esncle Messungen handelt. Dies voraus-
gesetzt, besieht die Aufstellung in folgenden Manipulationen :
1. Man stellt Spalttriiger und Mikroskop auf einer ebenen Tisch-
platte ca. iOO Mm. von einander entfernt auf und richtet den Spall
nach Augenmaass (vielleicht unter Beihulfe eines kleinen Lineals) senl.-
recht zur Verbindungslinie.
2. Man befestigt das gpeclralsystem in der Tischöfthung des Mi-
kroskops, so dass die Kanlim des Prismas gleichfalls senkrecht zu jener
Verbindungslinie zu liegen kommen.
3. Bei Verwendung eines Prismas mit total refleclirendcr Flachi-
bleibt das Mikroskop vertikal stehen; l)ei einem Prisma der gewöhnlichen
Form dagegen bringt man die Mikroskopaxe in der durch den Spall
gehenden Vcrticfliebene annlihernd in diejenige geneigte Lage, welche
der Minimalahlenkung der mittleren Strahlen entspricht; wobei es zur
Vermeidung mehrmaligen Probirons wilnschcnswcrth ist, dass man den
Betrag dieser Minimalablenkung fUr das betreffende Prisma vorher be-
stimmt oder vom Verfertiger die betreffenden Notizen erhallen habe.
Nach diesen Vorbereitungen wird der Apparat stets so weit orien-
trrt sein , dass, wenn man den Spalt etwas weil öD'net, auf ii^end eine
Art beleuchtet und sodann mit einer schwachen Vcrgrösserung (der
schwUcbslen , welche das Mikroskop erlaubt) auf den Kocus des Objec-
livsyslems nahe in der Ebene des Tisches einstellt, hei einer Drehung
des Prismas um seine horizontale A\e sowohl die Spiegelbildcrdes Spal-
tes, welche durch Bcflexion an den Prismenflitchcn entstehen, wie auch
das Spectralbild desselben nacheinander durch das Gesichtsfeld des Mi-
kroskops hindurch passiren. Die lelzte Regulirung von hieraus bat
nun nichts weiter zu bewirken, als dass jene drei Bilder ungefähr durch
die Mitte des Gesichtsfeldes hindurchgehen. Man erreicht dies durch
kleine Drehungen des Prismas um die optische A.\e des mit ihm ver-
bundenen Spcctralsjslems, welche man, wenn das Mikroskop die Ein-
richtung eines drehbaren Tisches hesilzt , natürlich durch diese , sonst
aber durch Drehen der Hülse des Systems in der Tischöffnung oder
Ceber einen Sp6ctnilii|)para( am Mikroskop. 469
durch vorsichtiges Verschieben des ganzen Stativs auf seiner Standfläche
ausführt. — Ist das Genannte annähernd erreicht , so richtet man
schliesslich das Prisma so , dass das Spectrum grade in der Mitte des
Gesichtsfeldes erscheint und kann nun, nach Regulirung der Spalt-
breite, zur Betrachtung desselben mit stärkerer Vergrösserung übergehen .
Für die Beugungserscheinungen sind der Vorbereitungen noch we-
niger. Hat man an Stelle des Prismas an die Fassung des Linsensystems
die Blendung befestigt, welche das zu beobachtende Object, eine enge
Oeffnung, ein Glasgitter oder dergl. trägt, so wird der Planspiegel des
Mikroskops oder das auf ihm befestigte Reflexionsprisma mit der Hand
so gerichtet, dass das betreffende Spectrum oder irgend ein Theil des-
selben in der Mitte des Gesichtsfeldes erscheint. Beobachtet man mit
einer punktförmigen Lichtquelle, so ist natürlich ihre Stellung gegen
das Mikroskop völlig gleichgiltig ; sind aber gitterartige Objecte durch
eine lineare Lichtquelle zu beleuchten, so müssen die Linien des Gitters
dem Spalte parallel gerichtet werden , wozu die Betrachtung des Bildes
selbst die nöthigen Anhaltspunkte bietet.
Es mag noch bemerkt werden , dass bei allen Beobachtungen mit
Sonnenlicht ein Heliostat keineswegs ein wesentliches £rforderniss ist.
Ein kleiner planer oder flach eoncaver Glasspiegel, an einem hinter dem
Spalte stehenden Stativchen so angebracht, dass man ihn mit der Hand
beliebig rücken kann, reicht vollkommen aus, das Licht der Sonne
(eventuell auch das einer weissen Wolke} so auf den Spalt zu leiten,
dass es zum Prisma oder zum Mikroskopspiegel gelangt, nur dass man
alsdann wegen der Bewegung der Sonne öfters nachzuhelfen genö-
thigt ist.
Nach der eben gegebenen Anweisung ist der in Rede stehende Ap-
parat ohne Umstände und Zeilverlust für den Gebrauch in Stand zu
setzen. Seine Handhabung während der Beobachtung ist jedenfalls
nicht unbequemer, als die jedes andern Spectroskops , hat vielmehr,
wegen der compendiöseren Gestalt des Ganzen und wegen der senk-
rechten oder wenig geneigten Richtung des Sehens eher einen kleinen
Vortheil gegenüber den anderen Einrichtungen. Namentlich scheint
dieses der Fall für die Beobachtung der Beugungserscheinungen, die
man mit dem kleinen Instrument ganz in demselben Umfang , aber mit
einfacheren Mitteln und weniger UmsUinden wie mit einem Fernrohr
zur Anschauung bringen kann. Alle von Schwerd und Fraunhofer stu-
dirten Erscheinungen dieser Glasse, besonders die mannigfaltigen Far-
benspectra, welche enge Gitter, einfach oder paarweise gekreuzt, zei-
gen, lassen sich theils mit Lampenlicht, (heils mit Sonnenlicht auf das
Schönste vorführen. Bei diesen Versuchen sc " * Vi denjenigen
(I>>ni pmmatisclx'n S|>t'Clr'itni, koinnil ilii- l.eidiLi[;kril xii Slatimfl
iiiil welcher man Mos durdi Wrcharln des SjaU-iiiü udw des C
am Mikroskop <)io Vm-grOsserung des Bildes zwiscbcn wulUrn Gra
veründem kuDii, Eioi' si'hwaclio Vorj^rilssoruiiB erlaubt, das \
Spoiilral- üdor lk<ugungshild in oiner di'i- des natürlichen Sehoe
glcidi kommende II llellij^kcrt triit cjni'ni Bliukc zurAnsdiauung tu brin-
gcfi; der Ltelicigniii; /.n einer betriielillidi sUirkert'u |!esUilk-t,
(tincr kli^inpn Di'<-hiini^ des fiiRiniis oder des Bcli'iiciiUingssiiiegels C
einzelni-u Tlieik' snwe.ssiv /u iliinlirimsli rii un(! <iiir feinere Details Sd]
unlersiiehen.
Die lieschi'ieln-no Vurrii'.litunf;, die niieli den Angidw^n des Verb»
sers in der nptisihon Werkstatt des Herrn Carl Zeiss in Jena anj^ürurtj«
wurde, kann auH dieser in lx'kanntervor7.lli!liclii>i'Ausr(lhnin^utiiFnasst-l
gon l'ieis lieKo^eil werden, und /.%var iu den beiden l'ori
oben Erwiilinun); yeseliehen isi.
X
Untersuchungen aber Bau und Entwicklung der Arthropoden.
Von
Dr. Anton Dohm.
8. Die Utfberreste des Zoea- Stadiums in der ontog^enetischen £nt>
wicklang der verschiedenen Cr nstaceen -Familien.
Das Zoea -Stadium in der onlogonetischen KiUwic*klunt|; der De-
capoden ist so ausgeprä^^t und so weil verhreitel, dass, was einsl
bei Begründung der Krebs -Embryologie durch Hathkb^s Entwicklung
des Flusskrebses als Flegel erschien, nämlich die Entwicklung des
Krebses ohne Z oea-Sla^lium, überhaupt ohne Verwandlung, — heute
das grade Gogentheil , die Ausnahme geworden ist. Man kennt bereits
eine bedeulc»nde Zahl von Zoiia- Formen der Brachyuren, Ma-
cruren und Anomuren und Fritz Müllkr hat uns auch mit der
Z 0 0 a - Form zweier S l o m a t o p o d e n bekannt gemacht. *) Durch des-
selben Forschers mehrfach angedeut<*le Meinung*-^ , in der Zoöa den Ur-
sprung der Insecten suchen zu wollen, hat diese l.ai vi ngestalt ein ganz
aussergewöhnliches Interesse ttekonmien. Dieselbe Anschauung Über
die genealogische Verbindung der Insecten mit der Zo(»a hat sich wei-
ter ausgebreitet. Zuerst und am ausdrücklichsten folgte ihr IIaeckkl'^j,
welcher zugleich die Spinnen undMyriapoden aus derselben Quelle her-
zuleiten versuchte. Denselben Weg versuchte ich selbst geraume Zeit
l«mg; einen Ausdruck fand dies Bestreben in zwei Aufsätzen *). Dann
4) Bruchstuck zur Eiit>vicklungs{;cscli. der MaulTussor. Arch. T. Nalurg. 4862,
|>. 354—364.
2) Verpl. dio Vcrwaiuüung der Gonioelen. Arcli. f. Nalurg. 4 863, p. 4 3. Fit-
iier: Für Darwin p. 33 u. 94.
3) (ieiierellc Morphologie der Organismen, II, p. XCI. . . Derselbe: Natürliche
Schöprungs^eschiclito.
K) On Ihe Morplioiogy uf tlie Artbropoda. Journal of Anatomy a. Physiol. IL,
|) 80 und: Zur Embryologie der Arthropoden. HabUilalioobschrifl 4 868.
472 Dr. ^u^. Dofarn.
nahm Bessels dieselben Gedanken auf) , indem er mit dem kugelför-
migen Oriian der Amphjpoden den iirsjirllnglidit'n KeiniliautliUgel im
Spinnen-Eie verglich. Dann erwShnl dieselben Meinungen, — ohne
aie zu llieilcn — Braubk''), und neuerdings haben sich ihr in bedingter
Weise angeschlossen GjiNtN*) und Van Bhnkdhn jun. *).
Witr die von den genannten Forschern erstrebte Genealogisiruni;
zu Recht bestehend, so t^cwann in der Thal Zo^a eine Bedeutung , die
weil über die ihr bisher i^egebene hinausging. Meine eignen Untersu-
chungen, die sieh ininicr weitiTausbreilelen, hatten recht eigentlich di<-
Feststellung dieser Fragen zum Vorwurf; wenn ich mich auch vorlau%
Aber das Endresultat nur kurz aussprechen will, so habe ich doch niil-
zutheilcn, was ich über die Stellung der Zoi>a innerhalb der ganzen
Crustaceen-Classc herausgebracht xu haben (glaube.
Daeckel, und mit ihm wahrscheinlich die meisten Zoologen, sehen
in der Zoüa eine l.aivenform, weiche ausschliesslich in der Vorfahrcn-
reilic derMalacostraka heslanden hat. Daraus folgte, dass die gesanini-
len Enlomostraken, die Phyllopoden, Cirripeden, Daphnien und wir
alle die merkwürdigen Formen heissen, — sich von dem gemeioKani
seit Nauplius durchirblen Sljimm bereits abgetrennt hätten, ehe es noch
zur Bildung einer Zoea gekommen war. So weitwirnun dieOntogenes*'
der Criislai'eeii keimen, lindet sich nur bei Decapoden und Stomatopo-
den ein Zoi'a-Sbidium, und nach Fsitz Müllers Meinung liissl dicRe-
spirationsweibc von Tanais darauf schliessen, dassotnslmalsaucb die
IsopodencineZo^a-Gcslait bcsassen. In meinen bereits citirlen Aufsätzen
vermehrte ich dann die Beweise für ein Zot'a-Sladium innerhalb der
Edriophlhalmen, das freilich längst als selbständiges Larvenstadium
untoiTlrUckl ist, indi'iii ich den sog. Micropylapparat im Rticken der
Ämphjpoden- und Isopoilen-Embryonen für den letzten Ucberresl i\f»
Bllckenslachels der Zoi'a erklii^t4^ Darin ist mir ftlr dicAmphipodendie
Beislimmung Bessels geworden, der auf solbsiandigeni Wege zum glet-
I) Einlt;<: Worte über {litt GtilwicklunK-sgescIiicIile und den niorphologiäclieii
Werlh des kii|jel form igen Orgnns dyr Aniphipoden. Jensisclie üeilKclii'. f. Med. u.
Naiurw. V., p. gl,
3) Betmchlungcii über die Verwandlung der Inseclen im .Sinne der Desci^n-
denzlheoric. In: Verliandl. d. k. k. zoolng.-liotnn. GcsellS(;haU in Wien ISfi9., |i.
S99 ff.
3) Beilrage zur Krkennlnjss der Enlnicklungsgesi'.hichte tiei den Inseclen.
Zellsulir. r. wiss. Zuolog. MX., p. 39( u. Hl.
i) Ri^(-Iici't;lies sur l'KmbryoKi'nle des C.rustac^s. Develnppemenl des Mjsis.
Bull. a. 1 AcBil. roy. d. Belgique XXVIII., p. 139 u. t(7.
Diitersiichiiniseii Ober Bau und Kutwickluiig der Arthropoden. 473
rhen Resultat kam , wio in dem oben cilirten Aufsätze näher ausgeführt
worden ist.
Ich vermag aber nicht, in den bisher gebrauchten Kriterien zur
Definition der Zo^a mehr als nur einen Theil der Eigenthümlichkeiten
betont zu sehen. Fritz Müller bestimmt dieselben folgendei'maassen * :
,,Ich möchte den Namen Zol*a auf alle Krebslarven ausdehnen, die zwei
Paar Fühler, drei Paar Mundtheile und zwei bis drei Paar Füsse an der
Brust besitzen, aber noch der fünf bis sechs letzten Paare der BrustfUsse
entbehren.^' Diese Definition passt unzweifelhaft auf die Zot^a-Gesl^lten,
die uns jetzt als Larven erhalten sind, aber sollte eine Definition der-
jenigen Zoöa gegeben werden, welche als phyletische Entwicklungsstufe
des Krebsstammes bestanden, so v^ürden Geschöpfe einbegriffen wer-
den müssen, die der Zot^a, soweit sie Larvenform und uns bekannt ist,
nicht gleichen möchten , da doch in jeder Abtheilung der Krebsr , also
auch bei den Entomostraken einmal ein Stadium bestanden haben
inuss, wo sie jener fünf bis sechs letzten Paare der BrustfUsse entbehr-
ten. Ob dies Stadium aber so ausgesehen hat, dass wir es gleichfalls
mit dem Namen Zoija belegen würden, wenn wir es heute fänden, dar-
über vermag uns jenes Kriterium der Zahl der Gliedmaassen allein
eben nicht aufzuk.lären , — wir müssen nach andern Kennzeichen su
eben. Die charakteristischen EigenthUndichkeiten der Zoi^a erblicke ich
aber in ihren verschiedenen Stacheln, die wir als Rücken-, Stirn- und-
Seitenstacheln kennen. Fritz Müller scheint der Meinung zu sein, diese
Stacheln seien keine Eigenthümlichkeit der phyletischen Entwicklungs-
stufe Zo^a gewesen, sondern erst von den Larven der Malacostraka selbst
erworben. Anders wenigstens vermag ich die folgenden Worte nicht zu
verstehen 2) : ,,Wie die Stachelfortsätze der Zoöa, so sind die ScheeVen
am vorletzten Fusspaare des jungen Brachyscelus als von der Larve
selbst erworben anzusehen.** Sollte ich diese Stelle aber auch
inissverstehen , jedenfalls scheint mir, dass wir mit Sicherheit auf
die Stachelausrüstung der Ur-Zoi*a schliessen können, aus den
überall verbreiteten Rudimenten dieser verschiedenen
Stachel.
Dass jener «Micropylapparat» am RückenderAmphipoden-Embryo-
nen als Ueberbleibsel des Stachels gedeutet werden müsste, erschien mir
so wahrscheinlich, dass ich an eine ins Einzelne gehende Beweisführung
ursprünglich nicht dachte. Erst als mir von mehreren Seiten darin
4) Bruchstück zur Entwicklungsgeschichte derMaulfüsser, p. 364, Anmerkg.
5) Für Darwin, p. 85.
474 Dr. hat. Dohru,
widersprochen wurde, sah ich mich genölhigl, weilpre Aufst-hlUssr /u
suchen und einen voHsUindiReren Beweis zu versuchen. Derselbe w.m
nur so zu führen, dass hei Docapoden, deren Zoi'i» keinen Sl>ichel mehr
entwickelte, an derselben Skulle, wo dieser Slachel hatte sitzen soll<-n.
eine Zellenanhäufung nachgewiesen wui-de, welche mit derjenitji'o von
Edriophlhalmen-Embryonen mehr oder weniger identisch wiJre.
Dieser Beweis gelang mir, als ich in Hessina die Embryonen von
P.indalus Narval untersuchte. Die Z oS a dieses Krebses besitzt nur
einen Stirnstachel, der BUckenstächel und die Scitenstacheln sind ver-
schwunden. Untersucht man aber den l-'mbryo in den Eihfiuten , so
gewahrt man dicht an der hinteren Gi'enze des Panzers auf dem RUckcu
über dem Herzen gelegen einen Zellhaufen , der bei leichtem Druck dfs
DeckglHscliens sich als eine Vorragung ergicbt, die aussen an die
Blnstodcmihaut stösst, weiche hier sowohl, wie bei allen andern De-
capoden - Embryonen von mir aufgefunden wurde. Dieser Zellhaufen
wies in der Hitte eine Vertiefung auf, in die anfilnglich die Blastoderin-
haut iricbtei'förmig hineingezogen war. Die vorragende Partie des Hau-
fens best^md aus kleineren Zellen von fl,OüäMni. Durchmesser; umge-
ben war dieser Haufen von grosseren Zellen der Bückenwand, weldie
weniger dicht waren und 0,018 Mm. maassen. Die Breite des Haufens
betrug 0,08 Mm. Die Dicke oder, wenn man will, die Höhe 0,03 lim.,
.während die BUckenwand nur 0,00i Hm. maass. Diese Angaben zu-
sammingehallen milderThalsaclie, dass diefertigeZoÜa keinenBUcken-
Stachel besitzt, machen es höchst wahrscheinlich, dass der eben be-
schriebene Zellhaufe das letzte Budiment dieses Stachels bildet.
Diese Angaben können indess noch vervoltsl;indigt werden, wenn
ma'n einen Blick auf die Art der Anlage des Stachels wirft, wie .sie bei
der Zoöa des Portunus puber sich finden. Der Stachel legi sieb
dort als solider Zellkegel an, dessenSpitze nach vorn zu liegt, während
die Basis halbkn^sförmig in die BUckenwand sich hineinwölbt. Rund
herum liegen die Zeilen der seitlichen Wulste , welche die Wurzeln des
Stachels in der BUckenwand bilden und allmülig in die letztere über-
gehen. Duchten wir nun, eine Rückbildung trijtc ein, so würde zuerst
die Spitze sich nicht mehr so weit Über die BUckenvtand nach vorn
legen, das ganze Gebilde wUrde sich im Gcgcntbeil nltmälig nur aai
seinen Grundtheil beschrilnkcn und seine H&htung wUrde als jene Ver-
tiefung y.urUckbleiben, wir würden somit das Gebilde erhalti-n, wel-
ches wir von Pandalus Narval beschrieben haben.
Ich habe noch weitere Bezüge ausder Entwicklungsgeschichte des
Palinurus anzuziehen. Wir treffen in der Entwicklung dieses merk-
würdigen Krebses kein Zoüa-Stadium mehr als freie Larveoform Die
Uiitersuchunjyreii übfr Bau und Fiiitwiekluiig der Arthropoden. 475
Larve, welche das Ei verlässt, ist ein Phy llosoma*). Man hat sich
in vielfachen Bedenken bewegt, wie dies Stadium sich zu dem Knl-
wicklungsgange der andern Decapoden verhielte, ob nicht aus ihm eine
Schwierigkeit für die Genealogisirung erwüchse. Ganz und gar nicht!
Die Loriralen P a I i n u r u s und S c ) 1 1 a r u s — wahrscheinlich auch
Ibacus, Pseudibacus etc. — überschlagen das Zoi^a-Stadium, das
zu einer gewissen Periode im Ei zu erkennen ist, und verlassen die
Eihülleu als eine merkwürdig abgeflachte, fast vollständig entwickelte
Krebslarve, die etwa dieEntwicklungsböhe einer Krabbenlarve zwischen
Zoea und Mega lops- Stadium besitzt. Die charakteristische Abge-
flachtheit der Phyllosomengestalt erschwert nur für den obeHliichlichen
Blick die Homologisirung , denn der breiteste vordere Abschnitt ist
nichts als der Zoi^a- Panzer, in dessen Höhlung die in vielfache SchUluche
getheilten Lebern liegen. Dächte man die Lebern wieg, oder zu ein-
fachem Organen gebildet und näher der Mittellinie liegend, so würden
die Seitenräume des flachen Panzerschildes sich nach unten biegen
lassen und man hätte eine Zo^a vor sich, die freilich keinerlei Stacheln
mehr trüge und bereits den Weg zur Megalops-Form halb zurückge-
legt hätte.
Dass dem in derThatso ist, geht aus dem Rudiment des Rücken-
stachels hervor, das man an den Embryonen des Palinurus ßndet.
Dasselbe sitzt grade am Hinterrande des vorderen breiten Schildes,
dessen Homologie mit dem Zo^a -Panzer ich eben betonte, und bildet
einen Wulst der Rückenwand. Die Breite der Wandung belrägt 0,02
Mm. und ist dreimal so stark als die Rückenwandung; die Breite des
ganzen Wulstes ist 0,070 Mm. An einem Embryo gewahrte ich, dass
bei leisem Druck das Rudiment, als ein napfförmiger Wulst sich nach
innen senkte, die Wandungen derselben waren viel dunkler als die
Rücken wandiing, das Ganze erinnerte mich sehr an die Ge/>talt des
Haftorgans der Daphniden- Embryonen und der E v a d n e. An zwei
andern Embryonen löste sich bei Druck die Cuticula des Rückens ab,
und die Zellen der Rückenwand wölbten sich jede einzeln nach aussen
vor; dagegen bildete der Wulst keine Vorwölbung und keine einzelne
Zelle ward discret sichtbar, das ganze Gebilde grenzte sich mit flacher
Linie nach aussen ab.
Wie l)egreiflich , ist die Strudur des Rudiments hier noch ver-
wischter und rückgebildeter y als bei den Zoäa selber, denn wir haben
CS schon mit einem Stadium zu thun, welches das Zo^a-Stadium be-
deutend Überschritten hat.
4) Vergl. Dohrn, zur Entwicktungsgescbicfate der Fanzerkrebse. Zeitschr. f.
w. Zool., XX.
476 Dt. Aut. Dohrn,
Bei den Embryonen voD Homaru& liab» icli acLliusslicb gar Lrini-
Andeutung des BUckenslaehel- Rudiments mehr {jefunden : die Ent-
wicklung [;ebl dorl raschoi- und nhgekUrzter, und obwohl ein Stirn-
slscbel sieb noch bei den ausgekrochenen Larven ßndet, sind ducb schon
frühzeitig vom RUckenstachel keine Spuren mehr zu sehen.
Von der Embryologie der Stoma topoden wissen wir nicbts:
weder Fritz Müller noch mir rsl es gelungen, Eier und Embryonen zu
nnlersuchen, Dass wir aber an den jüngsten Larven dei'seiben, «Ifn
Alimo's und Erich thus sowohl Stirn-, wie Rücken- und Seilen-
stacheln Qnden , ist bei'eits durch Fritz Hüllgh's oben cilirte Untersu-
chungen bekannt und wird durch eine ausfuhrlichere üarlegun^ di-r
._ Larvenstadien von SquiUa und Gonodactylus, welche ich in dif
Reihe dieser AuTsiilze einfügen werde, bestUligt werden.
Zahlreicher dagegen sind unsre Erfahrungen überdasAurtreleii des
Stachelrudimenls innerhalb der Amphipoden und Isopoden. In
ersterer Abtheilung ist dasselbe, wie oben bereits erwähnt, zuerst auf-
gefunden und fälschlich als Hicropylappnrat gedeutet worden. Dass wir
diesen Zellhaufen der Edriophthalmen-Emhryonen nun aber in der Thal
für das Rudiment des BUckenstachels und somit für ein Honumenl de»
Zotja- Stadiums zu hallen berechtigt sind, — das glaube ich durch die
vorstehenden Hittheilungen bewiesen zu haben.
Fritz Müller weist auf dieses Rudiment hin, als allen Amphipoden
zukommend ; ich habe es auch bei Idolhea- Embryonen gefunden und
auf derTafel zu meiner Habilitationsschrift abgebildet. Es ist dort ilhn-
lich wie bei Palinurus-Embryonen nur noch ein dicker Zellhaufen ohne
sonderliche Umbildungen. Bei Asellus und andern Isopoden habe ich
keine Spur von demselben mehr entdeckt. Dagej^en beschrieb ich eine
vollkommen identische Bildung bei denCumaceen-Embryonen'} und
den F^mbryonen von Pranizamaxillaris^). Bei beiden erlangt der
Apparat keine wesentliche Umbildung, erscheint vielmehr als ein ein-
faches Rudiment.
Bei den Amphipoden dagegen finden wir allerhand merkwürdige
Umbildungen. Ich habe in der citirEen Habilitationsschrift die erste An-
lage des Apparates beschrieben. Dieselbe erfolgt , wenn die Reindiaul
bereits den ganzen Dotter Überzieht , und wird dargestellt durch einen
Haufen grosser kugliger Zellen^). Aus diesem Haufen gehen nun aller-
hand sonderbare Umbildungen hervor. Man findet die Larveohaut stels
i) Jenaische ZeiLichrin V., p. B6,
i] ZciUchrirt f. Wissenschaft]. Zoologie XX.
B| Vergl. die Darstellung Bessei'sa. a, O,, p. 96.
ÜntersuehnngeD Aber ßan und Entwicklung der Arthropoden. 477
in Verbindung mit demselben ; mitunter wird sie durch einen Aufsatz,
der wie eine Krone aussieht, gehalten , manchmal durch eine gruben-
odercanalartige Vertiefung, dann fand ich bei einerLysianassa aus der
Scylla bei Messina ein gewölbtes Gitter — kurz die verschiedenartigsten
Bildungen , die recht deutlich beweisen, dass dies Organ keine wesent-
liche Function mehr erfüllt und darum nicht an eine bestimmte Gestalt
gebunden ist. (Vielleicht bieten diese Verschiedenartigkeiten einen
brauchbaren Wegweiser für die genealogische Verknüpfung der Amphi-
poden unter sich.) Die krönen- oder gitterartigen Aufsätze danken, wie
ich direct beobachten konnte, einzelnen umgebildeten Zellen, die ihren
Inhalt und Kern verlieren und ganz in die Bildung einer äussern und
innem Cuticula aufgehen, ihren Ursprung.
Somit finden wir also diesen Rttckenstachel entweder vollständig
ausgebildet bei vieleii Zo^a der Brachyuren oder als Rudiment bei
Macruren; wir sehen ihn bei Larven der Stom atopoden und als
Rudiment bei Cumaceen, Isopoden und Amphipoden. Und da-
mit stände denn iir Einklang, dass man die Malacostraken als von
der Z o 6 a gemeinsam ausgehend darstellt. Denn ebenso wie H o m a r u s
undAstacus, wiePalinurus und Scyllarus das freie Zo^astadium
unterdrückt haben , so ist dasselbe geschehen von den Cumaceen,
von Mysis und den Edriophthalmen.
Die Entomostraken, die Branchiopoden, Girripeden,
kurz alle andern Crustaceen sollen dagegen ihre definitive Ausbildung
erlangt haben , ohne durch ein Zo^astadium gegangen zu sein. Diese
Ansicht hat vor allen Dingen die Thatsache für sich , dass wir keiner
Zoea als freier Larve in dem Entwicklungsgange irgend einer der an-
geführten Familien begegnen. Aber sie hat gegen sich , dass wir Ge-
stalten wie Nebalia finden, die sichtbar zu den Malacostraken hin-
überweisen, dass wir ferner zwischen Phyllopoden und Mala-
costraken Homologieen in der Weise aufstellen können, dass erstere
die einfacheren, ursprünglichem, letztere die daraus hervorgehenden,
verwickeiteren Gestalten bilden, — wir haben schliesslich als ausschlag-
gebendes Argument anzuführen , dass sich das Zo^a-Stachel-Rudiment
bei fast allen Familien der Entomostraken nachweisen lässt.
Leider habe ich trotz aller Bemühungen noch keine Phyl lo p o-
den-Eier bekommen können; ich muss also mich begnügen, fremde
Forschungen zu benutzen. So sagt Sibbold >) : »Mit dem nidiuicntären
einfachen Auge darf jenes problematische blasenförmige Organ nicht
verwechselt werden , welches hinter den zusammengesetzten Augen
4) Vergleichende Anatomie der wirbellosen Thiere, p. 445, Anmerk. 8.
Bd. Y. 4. 83
478 Dr. Ant. Dohrn,
gewisser Phyllopoden und Lophyropoden angebracht ist. Bei Apus ent-
hält dies Organ einen viertheiligen Kern (s. Schäfer , der krebsartige
Kieferfuss, Tab. IL, Fig. i 6, oder Zaddacb De Apodis cancriformis
anatonoie et historia evolutionis p. 48, Tab. II, Fig. 10 P und Fig. 25) ;
der blasenförmige Körper, welcher sich beiLimnadia hinter dem Auge
aus dem Innern des Kopfes gegen die Slime hin erhebt (s. Broghiart,
Memoire sur le Limnadia , in M^moires du Mus6e d^histoire naturelle
tom. VI, p. 88, pl. 13, Fig. 6)^ soll nach Strauss zur Anheftung des
Thieres dienen können (vergl. Museum Senckenberg. Bd. II, p. 126, oder
F6russac Bulletin des sciences naturelles. Tom. 22, 1830, p. 333j.u
Aus diesen Citaten wähle ich die folgenden aus. Die Angaben Zad-
DACHES lauten: »Praeter oculos compositos, adultis in animalibus organon
quoddam reperitur, quod oculum simplicem esse putavit SchaefTer.
Inter margines enim oculorum compositorum posteriores emineotia
quaedam parva invenitur forma rotunda, margine acute. Superficies
hujus eminentiae albida et nitens est, media autem in ea macula quae-
dam conspicitur, quae quasi quatuor lobulis composita, stdlae sive
crucis formam refert et viventibus animalibus colore sanguineo, mortuis
obscuriore et nigro est. NQn semper autem tarn distincte inter se dis-
juncti sunt lobüli, ut figura nostra eos ostendit, sed interdum mihi qui-
dem in unam maculam rotundam confluere videbantur. — Haec est
hujus partis species externa, quaestione anatomica id reperi. Si testa
cephalothoracis externa abstrahitur , ille ejus locus , qui eminentiae su-
perficiei insitus erat, pelluciduset illis testae partibus simillimus repe-
ritur , quae oculos compositos obtegunt. Tum si eminentiae illius su-
perficiem contemplaris , maculae illae rubrae integerrimae adhuc con~
spiciuntur. Apparet autem superßciem obtegens membrana quaedam
tenerrima et moUissima, hoc modo constructa. Media ejus pars om-
nino est pellucida , margo autem latus colore albido et nitente stru-
cturam, ut ita dicam, imperfecte radiatam praebet, quum innumerabiies
lineae tenerae ac multis modis inter se conjunctae connexaeque a mar-
gine ad mediam partem decurrere videantur. Si haec membrana, quae
solute tantum eminentiae insita est et saepe ad testam conternaro ad-
haerescit, removetur, subito omnes diversi colores auferuntur et tota
superficies unum modo colorem subrubrum praebet. Ipsa autem emi-
nentia, parieti posteriori illius cavitatis insita, quae ventriculi cordis
arteriosi pars anterior est ac supra diligentius descripta, multis filamen-
tis solidis componi videtur, quae a margine ejus radiatim ad partes
adjacentes se conferunt, a parte media autem per cavitatem illam libere
pervadunt et hujus parieli inferior! afiFixa sunt. Nequaquam autem haec
filamenta nervosa, sed magis tendinosa esse videntur et tanta sunt
rJ
(JntersQchniigen Ober Baq und Entwicklung der Arthropoden. 479
soliditate , ut difiTicile discerpi et dissecari possint. lilam quidem cavi-
tatem nervus, cujus jam supra mentio facta est, e nervo oculi juvenili
animali proprii ortus intrat et duos in ramos finditur, sed porro hos
persequi non potuit. — Et baec habeo , quae de his pariibus dicere
possim; ut accuratius perquiram^ apta exemplaria mihi deerant. Itaque
quamquam de vera hujus organi natura et functione dijudicare non
possum y id minime intelltgi polest , quomodo hae partes oculi vice fun-
gantur, quum nee lentis nec-corporis vitrei vestigium reperiatur. Contra
maculae illae rubrae , quae in superficie eminentiae conspiciuntur , eo
tantum effici videntur, quod per partem illius membranae supra de-
scriptae mediam ac pellucidam iilae partes , quas sanguis corde pro-
pulsus ioterfluat, conspiciuntur. — Hoc totum organon in juvenilibus
animalibus omnino desiderari et tum demum, quum jam omnes fere
ceterae corporis partes perfectionem adeptae sint, existere, infra vide-
bimU8.((
Soweit Zad»ach's Angaben über Apus. Derselbe Forscher erwähnt
auch ein Giiataus Jurüvs^s Mittheilungen über Arguius, wo dasselbe
Org^n als Gehirn beschrieben wird.
BaoaifiART sagt über Limnadia dagegen Folgendes: »La töte offre
ä sa partie sup^rieure un peiit appendice v^siculaire , droit , incolore,
dont j^ignore Tusage.« In einer Besprechung der Mittheilungen TnoHsoif's
über die Larven der Cirripeden sagt dann Stravss DüRCKasia in F^
russac^s Bulletin : »et, ce qui les (Limnadia et Pentalasma) rapproohe
encore davantage, c^est que, dans les Limnadia il existe au devant du
Corps un pödoncule court , renfl6 en haut , par le moyen du quel ces
aniraaux se fixent momentanöment aux oorps, absolument comme les
Pentalasma le fönt d'une manidre permanente.« Und in Uebereinstim*
mung mit den Angaben Zaddacb^s bei Apus sagtLsaiBOULLET in seinem
»Döveloppement de la Limnadie de Herrmann« (Annal. d. scienc. natur.
5. Serie Y. p. 308) : ]>L^«f>pendice pyriforme qui surmonte le front chez
l^adulte n'existe pas encore dans la Limnadie , dont la carapace n'est
pas achev^. II se forme peu ^ peu par un redressement de la partie du
front silu^ derni^re les veux.«
Von Limnetis sagt Giubb ^) : »Ebensowenig scheint ein andrer,
vor dem einfachen Auge gelegener Körper (vielleicht eine blos anders
beschaffene Stelle der Kopfbck leidung) eine solche Bedeutung su haben.
Es ist dies ein länglichrundes, mit einet Reibe von Hürcben besetztes
Mal (arca oblonga Loven) , welches wie eine fensterartige Verliefung
aussieht und von dem sich ein dicker herabgekiilmmter Strang zum
4) Bemerkungen über die PhylloptHjUen p. 82.
81*
480 Dr. Anl. Dolirii,
Unterrande des Auges begiebt, er hat nichl das Ansehen eines Muskels,
ist tjflers gelblich geförbt und zeigt mitunter einen gewissenScIi immer, u
Es scheint mir, als wenn die hier besclii-iebene Uildung mit dem in
Rede stehenden Rudiment zusammen gehöre.
Bine andere wichtige Aeussening habe ich aus Levdig's Aufsalx
Über Branchipus anzuführen'). Es heissl dort: »Bei Brancbi-
p US liegt in der Hillellinie hinler dem StimQeck ein Gebilde, über
dessen Bedeutung ich gar nichts auszusagen weiss. Es besteht aus
einem Ring, der von der Cuticula gebildet wird — der umschlossene
Raum betragt 0,0t05"' — und nach innen sitzen unter der vom Binpie
begrenzten Stelle kleine Sückchen, die hell sind und 0,OOIJ7£>"' messen.
Bei Larven ist dies Gebilde grösser als beim entwickelten Thier. An
Ariümia habe ich es vermisst.« Lbvdig nennt dies Organ »rilthsel-
haflesOrgaou. Aber sowohl die lop(^raphischen Bestimmungen, als dite
Erwähnung der kleinen Sitckcheu deuU^n zur Genüge an, dass wir es
mit einem Gebilde zu thuD haben , welches die nächsten Beziehungen
zu dem Stachelrudiment der Malacostraken-Embryonen hat und somit
nicht anders gedeutet wei'den kann als jenes. Ist aber das RudintPiii
da, so muss auch einmal das volle Gebilde bestanden haben, mithin
müsse» die Phyllopoden ein ZoCastadium gehabt haben. Damil
stimmt denn auch ihre Berührung mit den Mala costraken durch
Nebalia und die Abteitbarkeit der Ualacostraken-OrganisRtion
aus dem Phyllopodcnkfirper.
Strauss' Nachricht, dass jenes nr-lilbselhafte Organu im Nucken der
Limnadien zur Anheftung diene, affnet uns nur den Weg zur Heran-
ziehung der Cladoceren. In meinem Aufsatz über die Entwicklung
der Daphnien^] habe ich auch der Entwicklung dieses uHaftorgansu ge-
dacht. Die Lage, in der wir es finden , entspricht vollkommen derjeni-
gen, in welcher es bei den Halacostraken-Embr\onen sich zeigt, und
seine Structur weicht nur insofeme ab , als hier das Organ nichl func-
tionslos ist. Rudimentär mtlssen wir es immerhin nennen, insofern es
das Rudiment des ursprunglichen Stachels ist; aber als Rudiment hat
es eine neue Function gewonnen und infolge dessen auch eine etwas
verschiedene Structur. Aufsätze od»' gruben artige Vertiefungen linden
wir nun nicht mehr, aber wirerkennen einecirculUreWulstung, welche
als Saugnapf dienen kann. Besonders ausgebildet ist dieselbe bei
Evadne; leider habe ich zur Zeit, als ich Evudne zu Tausenden ge-
t) Debet Arlcmia saltna und Branchipus ^ln^nalis. in Zeltsi:ljritl [, wiss. Zon~
logtc m., p. 304.
3} Jenaiscbe Zeitschrift t. Ued. u. Nalurw. V. p.
riitersiichuugen über Bau und Eutwickliiiig d«r Arthropoden. 4g]
fangen halte, noch keine Boachlung für dieses Gebilde bezeigt, inu^s
also auf eine nur oberflächliche Zeichnung, die ich vor Jahren nahm,
und die Nachrichten Loybn's und Leugkabt^s mich stützen. Wie be-
kannt, beschreibt Ersterer jenes Gebilde als kreisrunden Muskel, wäh-
rend Lbuckabt ausführlicher darüber spricht ^) . Ich setze aus Leuckabt^s
Aufsatz nichts Einzelnes her, weil er für die Frage nach der Natur des
Rückensaugnapfes der Gladoceren ganz und gar von Wichtigkeit ist,
und wohl nachgelesen zu werden verdient. Genug , wenn aus all Die-
sem hervorgeht, dass wir in dem Saugnapf das ursprüngliche Stachel-
rudiroent zu erkennen haben und damit zugleich das Ergebniss ge-
winnen, dass auch die Daphnien einstmals als Zo6a bestanden
haben.
Sollte aber irgend Jemand Ansloss daran nehmen, dass ein Rudi-
ment eines Stachels sich zu einem Saugnapf ausbilde , so ist dagegen
zu sagen , dass dies nicht merkwürdiger ist ^ als wenn ohne ein solches
Rudiment ein Saugnapf irgendwo am Körper auftritt. Im Gogcntheil ;
grade da , wo das Rudiment besteht , ist die Vorbedingung zur Ent-
stehung eines Saugnapfes bereits gegeben : die kreisförmige Verdickung
der Haut. Und der Rückenstachel der Zo^ ist ohnehin nicht etwa als
eine Guticular-Bildung anzusehen , die durch Auswachsen einer Hypo-
dermiszelle zu Stande gekommen sei; der Stachel ist imGegcntheil ur-
sprünglich eine Verlängerung des Schildes , wie uns anderweit anzu-
stellende Betrachtungen lehren , und in seine Bildung geht eine höchst
bedeutende Zahl von Hypodermiszellen ein. Darüber haben wir freilich
weder Nachrichten noch Vcrmuthungen ^ was die erste Ausbildung des
Saugnapfes bewirkt hat. Indess auch diese Frage wird sich noch eher
beantworten lassen , wenn wir das Stachelrudiment als vorhanden an-
sehen , als wenn wir glauben müssten , der Saugnapf habe sich aus
heiler Haut plötzlich eingestellt.
Bei den Ostracoden lässt sich bis jetzt keine Spur des Organs
auffinden ; weder hat C la us in seiner neuesten Darstellung der Ent-
wicklung von Cypris ovum^ eine Angabe darüber gemacht, noch ist
es mir gelungen, irgend etwas auf das Rudiment Bezügliches mit
Sicherheit zu erkennen. Es ist sehr wohl denkbar , dass alle Spuren
desselben völlig erloschen sind, wie ja auch dasNaupliusstadium sofort
den Charakter des Erwachsenen annimmt durch die Schalenbildung.
Dagegen finden wir die mächtigste Entwicklung des Stachelrudi-
4) Carcinologisches. Archiv f. Naturg. XXV., p. 968.
5) Beitrüge zur Kenotoiss der Ostracoden. Würzburger naturw. Zeitschrift
1868, p. 454.
482 I^r. Ant. Dobrn,
ments bei den Cirripeden. Die wichtigste Nachricht darüber ver-
danken wir PageiNsteghbr^). Derselbe berichtet: »Was die Art der An-
heftung von Lepas betrifft, so war ich früher nach den mit Henrn Pro-
fessor Leogkart in Helgoland gemachten Beobachtungen der Ansicht,
das wesentlichste Element für dieselbe sei in einem Napfe nach Art des
bei Evadne vorkommenden gegeben, weicher provisorisch wirke, bis
eine Ankittung an die Unterlage durch Secret^chichten denselben ent-
behrlich mache. Es besteht allerdings bei diesen Larven ein Höcker in
der Medianlinie zwischen den beiden Antennen, dessen Spitze eine von
einem muskulösen Wulste umgebene Grube darstellt, und derselbe ist
für die Stielbildung von Wichtigkeit. Aber hauptsächlich fungiren jeden-
falls die Antennen als Haftorgane, — etc.« Und weiterhin : »Von jener
napfShnlichen Hervorragung am Scheitel ausgehend, entwickelt sich
als eine breitere , durch die Muskelthätigkeit angedrückte FlSk^be mit
verdickter Haut die Basis des sich allmHlig ausziehenden Stiels*. . etc.«
Diese napfähnliche Hervorragung ist nun wieder nichts Anderes als das
Rudiment des Zo^astachels , das hier eine colossale Weiterentwicklung
erlangt und zu dem Stiel der Lepaden wird. Auf diese Meinung ver-
fiel ich, ehe ich Kenntniss von der ursprünglichen Entstehung des Stiels
hatte , weil die topographischen Beziehungen des Stiels und des Saug-
napfes der Cladoceren identisch sind und die Function des Lepaden-
Stiels sich aus der ursprünglicheren jenes Saugnapfes ableiten Idsst.
Aber viel früher hatte schon Leuckart^) aus denselben Gillnden diese
Homologisirung angedeutet, die er noch besonders durch den Hinweis
auf eine Beobachtung Thohson\s zu unterstützen weiss. Letzterer sage
nämlich, »dass sich die zweischaligen Larven dieser Thiere mit dem
Rücken anheften , und dass man hier , in der Nath zwischen den Scha-
len bei den noch umherschwirrenden Individuen bereits die spätere
Befestigungsstelle unterscheiden könne«.
Wir sehen somit, dass auch diese , früher so heterogen erschei-
nende Krebsgruppe sich leicht in den Stammbaum der Krebse einfügt,
und in allernächster Beziehung mit den übrigen steht. Sie hat eben-
falls ihr Zo<$astadium gehabt und ist somit auch den Malacostraken
aufs Nächste verwandt*).
4) Untersuchungen über niedere Seelhiere aus C6tte II. Zeitschr. f. wiss. Zoo-
logie XUI., p. 94.
2) A. a. 0. p. S64.
3) Dieser Aufsatz war bereits in den Druck gegeben, als mir durch die Freund-
lichkeit des Herrn Professor Claus desselben neueste Schrift »Die Cypris>ähnliche
Larve (Puppe) der Cirripeden und ihre Verwandlung in das festsitzende Thier. Ein
Beitrag zur Morphologie der Rankcnfüssler. Marburg und Leipzig. 4869«, zuging.
Untersuchungen aber Bau niid Entwicklung der Arthropoden. 483
So bleibt uns nur noch eine Familie zur Untersuchung übrig : die
Gopepoden. Es scheint keine Spur eines Rttckenstachel-Rudiments
bei den frei lebenden Gopepoden mehr vorzukommen. Der Monograph
Diese Schrift scheint den hier vorgetragenen und später auf das Ausföhrlichste aus-
einanderzusetzenden Ansichten jeden Boden zu entziehen , — ich gebe daher ihre
wesenUichen Resultate hier im Auszuge und setze meine abweichenden Meinungen
in Kürze dagegen.
Herr Professor Claus hat die Cypris- ähnlichen Larven von Lepasfasci-
cularis und pectinata, sowie von Conchoderma virgata untersucht;
ausser diesen benannten jedoch noch mehrere grosse und kleine , welche nicht zu
bestimmen waren. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen sind die folgenden :
4) Der von Pagbnstbchbii beschriebene geöffnete Vorsprang an den vorderen
Seitentheilen der Schale , welchen Darwik als Oeffoung eines GehOrganges in An-
spruch nahm , soll auch nach Claus das Residuum der seiUichen Stirnhörner der
zugehörigen Naupl iusform sein. »Wenn aber derselbe Autor (Pagenstecher} be-
merkt, dass dieser conische Höcker keinerlei weitere Organe anzudeuten scheine,
so kann ich dem um so weniger beistimmen , als das Seitenhora der N aupl i us-
larve an seiner Spitze einentschiedenesSinnesorgan trägt , dessen Spuren
auch im späteren Larvenstadium nachweisbar bleiben.«
2) Die Haftantonnen der Autoren hält Claus mit Krobn , Fritz Müller , Pagen-
8TECBBR undMsczNiKOW für die umgewandelten ersten Extremitäten der zugehörigen
Naupl i US larve. Er hält dies Resultat für um so sicherer, als er in dem »Vor-
kommen eines sehr mächtigen blassen Cuticularanhanges an den Endgliedern der
angehefteten Antennen« das Homologon der zarten blassen Riechfäden erkennt, die
an den ersten Antennen bei Entomostraken sowohl wie bei Malacostraken vor-
kommen.
8) Für die Haftantennen nimmt Claus vier Glieder in Anspruch, deren erstes
und zweites mächtige Muskulatur enthalten und gegen einander knieförmig ge-
bogen sind. Das dritte Glied bildet die Haftscbeibe, das vierte sitzt frei an dieser
und trägt Borsten und jenen Cuticuta ran hang , der als Sinnesorgan gedeutet ist.
4) An den Cementdrüsen unterscheidet man einen verengerten röhrenförmi-
gen Ausführungsgang, der grossentheils in der Antenne verläuft, während der stab-
förmige (?), am Ende zuweilen mehi*fach ausg^buchtete Drüsenschlauch mitunter
im Grandglied der Antenne, mitunter aber auch weit hinein in die Mantelduplica-
tur der Schale sich erstreckt.
5) Die Mundextremitäten deutet Claus fblgendermaassen : die sog. Mandibeln
mit dem sog. Taster der Oberlippe seien die eigentlichen Maxillen, — homolog den
gleichen Theilen der Gopepoden — die Aussenmaxillen und Innenmaxillen Dar-
wiv's aber als äusseren und inneren Kieferfüsse der Gopepoden ; — diese Deutung
gilt aber nur, falls es sich bestätigt, dass das dritte Extremitätenpaar der Nau-
pl i u s larve abgeworfen wird.
6) Claus hält seine frühere Homologisirung des Cirripedienleibes mit dem
der Gopepoden aufrecht , weist dagegen den Vergleich mit den Ostracoden
zurück. Er glaubt die Homologisirang der Gopepoden -Schwimmbeine und der
Rankenfüsse als zweifellos ansehen zu dürfen , und nimmt an, dass das letzte Ran-
kenfusspaar dem Paare von Höckera entspräche, welche sich bei den Gope-
poden am Genilalsegmente oberhalb der Geschlechtsöffnung erheben. Der
484 Dr. Ant. Dolirii,
der letzteren, Claus, erwähnt nichts derart und ich kann trotz des aus-
drücklichsten Suchens während eines Winters in Messina nichts zur
Ergänzung seiner Forschungen in dieser Beziehung beibringen. Man
Schwanzanhang des Cirripedienleibes würde dann dem Cyclops schwänze ent-
sprechen.
7) Claus leugnet vollständig die Anwesenheit eines Saugnapfes, mittelst dessen
sich die jungen Larven zuerst festsetzen sollen , dessen weitere Entwicklung dann
den Cirripedenstiel hervorbrächte.
»Man überzeugt sich alsbald , dass der Stiel nichts weiter als den sich ver-
längernden Kopftheil des Krebses in Verbindung mit den verschmolzenen Basal-
stücken der Haflantennen darstellt und keineswegs etwa der Auswuchs eines am
Scheitel zwischen den Antennen gelegenen Höckers mit napfTörmiger Grube ist, wie
von Pagenstecher behauptet wird.« Freilich giebt auch Claus die Anwesenheit eines
»kurzen , conischen Vorsprungs zu, in welchen die Vförmigen Chitinsehnen hinein-
ragen , welcher gewissermaassen den Verbindungsabschnitt für die Basalglieder der
Antennen bilde und mft denselben während der nachfolgenden Häutung eine völlige
Verschmelzung zur Bildung des Stieles eingehe«.
Hieraus folge, dass in gewissem Sinne der Vergleich des Lepadidenstieles
mit dem langausgezogenen Kopfe des Leucifer, den Darwin anführt» zu-
treffend sei.
Es folgen dann noch Angaben über die Bildung der typischen fünf Schalstücke
der Cirripeden , die uns hier nicht weiter interessiren.
Diesen Angaben setze ich folgende Meinungen entgegen , deren Begründung
demnächst in einem Aufsatz : »Eine neue Naupliusform (Archizoäa gigas)« und in
der grösseren Schrift: »Geschichte des Krebsstammes, nach embryologischen,
anatomischen und palaeontologischen Quellen entworfen. Ein Versuch«, geliefert
werden soll :
4) Der offene Vorsprung an den Seitentheilen der Schale ist allerdings der
Ueberrest des Seitenhorns der Nau pl iuslarve, trägt aber ebensowenig wie dieses
ein Sinnesorgan.
%) Die Haftantennen sind die Seitenhörner der Naupliusform, welche Cuti-
cularanhänge tragen und in ihrem Innern eine Drü^e mit röhrenförmigem Ausfiib-
rungsgange besitzen.
3) Diese Drüse ist die Gementdrüse.
4) Die Homologisirung des Cirripeden leibes mit den Copepoden ist un-
statthaft. Vielmehr sind die Cirripeden auf Limnadia-ähnliche Krebse zu-
rückzuführen. Die Copepoden sind durch Vermittlung der Siphon ostomen
auf die Cirripeden zu reduciren.
5) Zwischen Kopf und erstem Rankenfusspaar der Cirripeden sind ungeführ
zehn Extremitätenpaare und Segmente ausgefallen.
6) Der Stiel ist hervorgegangen aus einem Homologen des Saugnapfes der
Daphnien und der P h y 1 1 o p o de n , welche in dieser Schrift als Rudimente des
Zoc^astachels gedeutet werden. Die Befestigung mittelst der Seitenhörner und der
Cementdrüsen ist der Folge nach secundär , aber die hauptsächlichste. Der Ver>
gleich des Lepadidenstieles mit dem langausgezogenen Kopfe des Leu elf er
lässt sich in morphologischer Beziehung nicht festhalten.
Zu %] bemerke ich noch , wie allerdings eine Möglichkeit , aber , so viel ich
J
Uiitersucbuiigeii über Bau und Entwicklung der Arthropoden. 4S5
könnte darauf hin behaupten, die Copepoden hätten den Weg ihrer
Entwicklung gemacht, ohne durch dieZo^a zu schreiten. Wäre es,
aber nicht nahliegender, zu verrouthen, dass die Copepoden die
Zo 6a Stadien unterdrückt haben, als zu glauben, dass diese einzige
Familie der Grustaceen vom Nauplius an einen anderen Weg einge-
schlagen hat, als alle übrigen und dennoch in so naher Berührung mit
den übrigen geblieben wäre, dass wir die Homologieen ohne Schwie-
rigkeit auffinden können?
Wenden wir uns aber zu den parasitischen Copepoden, so wird
es uns möglich, diese Vermuthung zur Wahrscheinlichkeit oder zur Ge-
wissheit zu erheben , so weit in Fragen dieser Art von Gewissheit 2U
reden ist. Schon Leugkart deutet in dem erwähnten Aufsatze darauf
hin. In einer Anmerkung sagt derselbe: »Möglicherweise dürfte auch
der fadenförmige Haftapparat an der Stirn von Chalimus und ge-
wissen Arten von Caligus als Analogen des Rückensaugnapfes bei den
Daphniden betrachtet werden können.« Und es liegt gewiss sehr nahe,
diese sonderbaren Haftapparate so zu deuten , nachdem einmal die £r-
kenntniss gewonnen ist, dass der Stiel der Lepadiden nur ein stark
entwickelter und etwas veränderter Saugnapf ist. Indem wir aber auch
hier die Entwicklungsgeschichte befragen und das früheste Stadium,
das wir von der Bildung des Haftstranges kennen , zu Rathe ziehen,
gewinnen wir mehr als eine blosse Vermuthung über die Ableitbarkcit
des Haftapparats aus dem Stachelrudiment, denn wir ßnden, dass in
der That die erste Anlage des Stranges in einem Zellhaufen zu suchen
ist, der genau den Stachelrudimenten gleicht, welche wir bei den Ma-
lacostraken kennen gelernt haben.
Schon V. NoRDMANif berichtet in seiner Beschreibung des Embryo
von Achth eres percarum^) von diesem Haftstrange Folgendes:
»Eins der ersten Organe, die sich bei der Bildung des Embryo erkennen
lassen , ist das Auge. Es zeigt sich gross, rund und macht sich zwar
nicht durch ein gefärbtes Pigment, aber durch eine dunkle Begrenzung
leicht bemerkbar.« Darauf beschreibt er einen spiraligen Strang, der
sich an dies »Auge« begiebt. Hören wir aber , was der spätere Unter-
socher Claus darüber sagt 3] : »An dem vorderen Ende des Leibes, da
wo der Stimrand der späteren Larve liegt , bildet sich ein eigenthüm-
sehen kann , keine Wahrscheinlichkeit besteht, dass der kleine Anhang an den
Haflplatten das rudimentäre erste Extremitäten paar der Nauplinslarve sei.
1 ) Mikrographische Beiträge zur Naturgeschichte der wirbellosen Thiere, zweites
Heft. p. 80.
%) Zeitsohr. f. wiss. Zoologie XI, p. S89.
486 Dr. Aul. Dobni,
liches OrgHn, welches schon v. Nob&hahk »tekannl, aber fttlschlichor-
weise für das Auge gehallen bat. Dieses Gebilde, dessen EnlstehuiiG
wir etwas nüher verfolgen wollen, ist nichts als ein spMicrcs Haflorgan,
mit welchem sich die Larve nach der zweiten Häutung befestigt. Das-
selbe wird angelegt in Gestalt eine? ovalen, mit Kernen durchsetzten
Körncbenhsufens, der sich zuweilen in eine rechte und linke Hälfte ge-
tbeilt zeigt. Später hebt sich aus demselben nnd 7,war in der Mittel-
linie, ein glänzender homogener Körper hervor, uekfaer dem Stein-
rand der Larve dicht anliegt. Hit diesem Stimzapfeii im Zusammen-
hange tritt ein ebenfalls fettig glänzender medianer Strang in dem
feinkörnigen Gewebe auf, der sich auf Kosten des letzteren vergrösserl
und in spiraligen Windungen zusammengelegt wieder nach vorn zu-
rtlckbiegt. . .a Die ganze Entwicklung des Achlhcics zeugt von he-
deutenderVeiiiilrzung; die äusserst frühzeitige Ausbildung des »ovalen,
mit Kernen durchsetzlen Kürnchenhaufens <> legt deutliches Zeugniss
davon ab, dass dasselbe einem der frühsten Stadien in der ph jletischen
Entwicklung des Acbtheres angehört hat. Die Ausbildung und Ver-
bindung desselben mit andern Gebilden gehört späterer Zeit an, ebenso
wie die Stielbildung der Cirripeden. Wir haben tiberall, bcsonderss
aber bei den Malacostraken das frühzeitige Auftreten des Zellhau-
fens kennen gelernt, — es wird also nichts dagegen einzuwenden sein,
wenn wir beide Zellhaufen mit einander homologisiren und daraus fol-
gern , dass auch unter den Vorfahren des Achtheres sich eine Zoea
befunden hat. Da aber erst nach erfolgter Anlage und Ausbildung des
Haftapparats die Cyclopsgestalt auftritt, so können wir schliessen, dass
da, wo überhaupt ein Cyclops erscheint, das Zoeastadiuni zwar
vorhergegangen, aber unterdrückt sei, dass also auch für die freiloben-
den Gopepoden durch Vermittlung der Entwicklungsgeschichte auf ein
Zoeastadium geschlossen werden kann.
So finden wir also die phyletische Entwicklung des Krcbsslammea
bedeutend langer , als bisher angenommen wurde, in einer einzigen
Entwicklungsreibe enthalten, aus der erst später die verschiedenen
Ordnungen sich differenzirten. Ich behalte mir die Darslcllung dieser
Scheidung derOrdnungen lUr einen späteren Aufsatz vor : hier will ich
noch kurz erwähnen, dass auch von den Seitenslachcln der Zo^a sich
Rudimente vorfinden , und dass sich allein hierauf die blattförmigen
Anhänge der Asellus-Embryonen zurückftihrcn lassen, wh aus der
bereits mitgelheillen Entwicklungsgeschichte einer T a n a i s her-
vorgeht.
Diese Anhünge sind freilich von andern Forschern anders aufge-
fassl worden. In seiner ausgezcicbneten Histoire naturelle des Crusta-
Untersuchungen Aber Bau und Gntwiekinng der Arthropoden. 487
ces d'eau douce de Norv^ge 4. livraison p. 191 saf^t G. 0. Saks, er
fy;1aube, diese Anhänge seien dazu bestimmt, die eiweissartige Flüssig-
keit der Bruttasche aufzusaugen und den Embryo so zu ernähren. In
derselben Weise erklärt sich dieser Forscher auch das Rttckenstachel*
rudiment der Amphipoden- Embryonen. Aber zu einer solchen An-
nahme berechtigt uns nichts ; ich muss mich Van Benkdbn jun. an-
schliessend welcher in seiner Bearbeitung der Asellus- Embryologie^)
dieser Hypothese jede Grundlage abspricht. VanBbnedbn sagt an dieser
Stelle: t> — aussi je pr6före les oonsid^rer avec Mr. Dohm oomme ne
remplissant chez ces animaux aucune fonction sp^iale, et peut-Mre
repr^sentent-ils ä l'^tat rudimentaire un organe qui, chez d^autres
crustac6s , ont jou^ un r^le important dans le developpement de Tem*
bryon. Nous dirons, en passant, que nous avons d6couvert, chez les
embryons de Mysis un organe qui, par sa Situation, son developpement
et sa structure , parait Mre la repr6sentant morphologique des appen-
dices foliac^s des Asellus , mais qui est plus rudimentaire encore que
chez cet Isopode.« In einer zweiten Arbeit ttber Hysis^) sagt derselbe
Verfasser dann: r> — Get organe apparatt sous forme d'un mamelon cel-
lulaire dans la concavitd de la courbe dtorite par lesantennes sup6rieu-
res, par cons^quent, sur les flancs de Tanimal. Quand Tembryon s'est
entour6 de la cuticule nauplienne et quil est sur le point de quitter les
enveloppes de Toeuf., le tubercule cellulaire a pris une forme ovale al-
longee, et on y reoonnatt une couche externe de cellules cylindrotdes,
serr^es les unes contre les autres, circonscrivant une petite cavit^ rem-
plie d'un liquide r^fringent , qui parait communiquer avec la masse
deutoplasmatiquc. Quelle est la signification de cet organe , et quelles
sont ses fonctions?« Hiernach weist Van Bbnbdbn darauf hin , dass die
beschriebenen Bildungen mit den blattförmigen Anhängen des Asellus
homolog seien, und schliesst mit dem Satze: »Quant ä la question de
savoir quelle est la signification et la r61e de ces organes , je la crois
insoluble dans F^t^t actuel de nos connaissances.« Ich hatte brieflich
Herrn Van Bbnbdbn meine Meinung mitgetheilt; derselbe antwortet mir
aber, er könne sie nicht theilen: »si on considöre que ces organes
apparaissent et quMls atteignent tout leur developpement, avant que
l'embryon ait atteint la forme zo6enne , et alors qu^il est pourvu seule-
ment des appendices caract^ristiques du NaUplius, il me semble que
on doit cherchcr Tbomologue de cet organe, non chez la Zoöa mais
1 } Recherebes sur TEmbryog^nie des Crustac^s. Observations sur le Deve-
loppement de TAsellus aquaticus. Bull. d. TAcad. roy. d. Relgique XXVIII, p. 27.
i) ReclMrches c(c. D^veloppoment des Mysis. Bull. d. l'Acad. XXVIII, p. 944.
488 Dr. Ant. Dohrii,
chez les formes naupliennes.« Dieser Grund wäre sicherlich ausschlag-
gebend, wenn nicht bei der grossen Verkürzung der Entwicklung, die
wir hier finden , das Ineinanderschieben der Stadien so gross wäre,
dass wir nicht ohne Weiteres den Gmndsatz befolgen können , unter
allen Umständen das ontogenetisch früher entstehende auch phylogene-
tisch früher entstanden zu glauben. Sicherlich bestand das Herz der
Zo^a zusammen mit nur wenigen Extremitätenpaaren, und alle übrigen
Paare der Malacostraken werden erst später erworben : nichls 'desto
weniger werden in sämmtlichen Embryonen fast alle Extremitätenpaare
angelegt und ziemlich weit ausgebildet , ehe das Herz gebildet wird.
Ebenso ist es unzweifelhaft, dass die gabelförmigen Anhänge des Pleon
bei Asellus den Buderorganen entsprechen, welche neben dem Telson
an der Zoea und allen Malacostraken als letztes Pleopodenpaar bestehen
und viel eber in der Siammesentwicklung auftreten , als die übrigen
Pleopoden undPereiopoden. Dennoch legen sich im Embryo des Asellus
die Pcreiopoden eher an , als die sämmtlichen Pleopoden , das letzte
Paar, die gabelförmigen Anhänge, mit eingeschlossen. Bei den Embryo-
nen von Tanais dagegen entstehen die Pereiopoden zuerst, dann die
gabeiförmigen Anhänge, und erst spät die übrigen Pleopoden. Ebenso
ist es bei Cuma. Dies ist ein gutes Beispiel von der Schwierigkeit ge-
nealogischer Untersuchungen. Ehe man nicht einen Ueberblick über
die gesammten Formen eines Thierkreises gewonnen hat, wii*d man
grosse Schwierigkeiten finden in der richtigen Deutung der rudimen-
tären Organe ; und was die anzuwendenden Principien genealogischer
Forschung anlangt, so haben sie noch erst ihre Dauerhaftigkeit zu er-
proben , haben zu erweisen , ob sie als Gesetze oder als Begeln auf-
treten , ob sie als letztere ihre Ausnahmen haben , oder als erstere aus-
nahmslos gelten. Bis jetzt ist noch keine einzige Arbeit geliefert, aus
der man ersehen könnte , welchen Werth die deducirten Sätze und
Principien haben, wie weit die Anwendung sie umgestalten wird. Wir
werden darum auch um so weniger erstaunt sein dürfen, wenn wir auf
viele Widersprüche stossen , — allein nur auf diesem Wege können
wir endlich zu einem wirklichen Besitz genealogischer Methodik
kommen.
Ebenso wie die blattförmigen Anhänge gleichzeitig, ja sogar noch
vor der Anlage der ersten Extremitäten entstehen , legt sich auch das
Rückenstachelrudiment der Amphipoden vorher an. Dennoch bezweifle
ich nicht seine Natur als Stachelrudiment. Dächten wir uns andrerseits,
bei den Cumaceen- Embryonen kämen dieselben blattförmigen An-
hänge vor, wie bei dem Asellus, so würden sie gleichfalls grade über
der Leberanlage ihre Insertion haben. Diese Stelle der äusseren Kör-
Outersnehnngeii Aber finn niid Gntwieklnng der Arthropoden. 489
perwandung gehört aber den Seiienstücken des Cephalothorax an , der
bei den Cumaceen im Gegensatz zu den Isopoden noch besteht. Der
Cephalothorax würde also seitliche Fortsätze tragen. Morphologisch-
genealogisch betrachtet ist aber das Gephalothoraxschild nichts andres,
als das ausgestaltete ZoSaschild , wir hätten also dann seitliche Fort-
sätze auf dem ZoSaschilde anzunehmen, und diese Fortsätze wären
identisch mit den Seitenstacheln. (Van Beheben irrt ausserdem in der
Behauptung , die blattförmigen Anhänge entständen aus dem hinleren
Theile der Kopfplatten ; sie entstehen vielmehr hinter den Kopfplatten
in derselben Queraxe , in welcher die Leberanlagen liegen. Die Kopf-
platten gehören nur dem späteren Kopf und seinen Theilen an , und
dieser trägt keine Seitenhörner bei Zoöa.)
Ferner habe ich anzuführen , dass ich eine Zeit lang zweifelte , ob
nicht die Saugnäpfe der Daphnien auf ein Rudiment des Stim-
stacbels zurückzuführen wären , weil sich am Hinterrande der Schale
ein langer Stachel entwickelt, der erst allmälig mit den Schalenhälften
verschmilzt, anfänglich aber frei liegt. Ich bin indessen von dieser
Meinung zurückgekommen und halte das von mir als uScbalenstachel«
beschriebene ^) Gebilde für einen neuen Erwerb der Daphnien.
Nun bleibt mir aber noch ein wichtiges Capitel zur Besprechung
übrig. Schon Eingangs bemerkte ich, welche Bedeutung der Unter-
suchung über die Verbreitung des Zo^stadiums unter den Crusta-
ceen zukäme. Fast sämmtliche Foracher, welche die phyletischen
Verhältnisse der Arthropoden erörtert haben, sind eben von der
Meinung ausgegangen, dass die Zoöa ausser den Malacostraken auch
sämmtlichen Insecten, Spinnen und Myriapoden Stammvater gewesen
sei. Wie schon oben bemerkt, theilte ich diese Ansichten.
Nach mehrjähriger vergleichender Untersuchung der Arthropoden-
Embryologie bin ich aber davon zurückgekommen. Je schärfer sieb
nachweisen lässt, dass der Nauplius der Stammvater, die Zoüa
der Durchgangspunkt aller Crustaceen gewesen ist, um so hinfälliger
werden alle Kriterien, auf welche die Homologisung der Crustaceen
mit den übrigen Arthropoden gegründet wurden. Ist es nicht ein
merkwürdiges Factum , dass an der Lösung einer seit Okbn's Zeit auf-
geworfenen Frage alle Zoologen, und darunter die bedeutendsten und
scharfsinnigsten, vergeblich gearbeitet haben? Oder wäre die soge-
nannte Gliedmaassentlieorie heute auf gesicherterem Boden als ehedem?
Man vergleiche nur einmal die Homologisirung innerhalb der verschie-
denen Wirbelthier-Abtheiiungen mit derjenigen, welche die Lehr-
1) Vergl. Jenaiscbe Zeitfichrift V.
490 ni. .\rjt. Dobni.
bUcher über die Artbröpoden milzulheilen wissen . — und man wrd
einen Gegensatz finden, wie zwischen einem massiven Gebdude und
einer StrobbüUe. Und können wir nach so vielen, besonders in der
lelzlen Zeil gewonnenen Kenntnissen etwa uns rühmen, einer wahren
Gliedmaassen-Theorie näher gekommen zu sein? Wahrlich nichl. Der
Fehler liegt aber nicht in unserer zu geringen Kenntniss der An;itonii<-
oder Entwicklung der Atthropoden , sondern darin, dass wir glnu-
hen, die Frage, welche einer vergangenen Periode der Zoologie ange-
höil, müsse nolhwendig positiv beantwortet werden. Eine wirkliche
Homologie der Gliedmaasscn zwischen Krebsen, Inseclen , Spinnen
und TausendfUssen kann aber nur versucht werden, nachdem vnr-
gängig festgestellt worden, dass diese Thierclassen aucb auseinander
hervorgegangen sind. Dass dies der Fall sei . ist aber bis jel^i nur An-
nahme, freilich eine sehr alte, sie lässt sich aber nach meiner Meinung
nach den Fortschritten , welche die vergleichende Embryologie gemacht
hat, nicht mehr festhalten, — im Gegenlheil, sie Ittssl sich mit Erfoli;
bekiSmpfen. Es wird gewiss Niemand eingefallen sein, die Crusln-
ceen aus den Inseclen, Myriapoden oder Spinnen genealogisch her-
leiten zu wollen; die Annahme war immer, dass die Cruslaceen, dass
der Nauplius das Ursprüngliche und alle Arthropoden -Ablheilungeii
aus ihm ableitbar waren. Allein je sicherer wir in den verschiedenen
Abiheilungen der Krebse das Naupliusstadium aufßnden können, selbst
wenn es nur noch als eine blosse Haut persistirt, um so unniüglicher
wird es, etwas Äehnliches für die Inseclen z. B. nachzuweisen und
auch die scheinbaren Annäherungen der Ichneumoniden-Larven, die
wir durch Ginin kennen gelernt haben, beweisen nach meiner Ueber-
zeugung hiefUr nichts. Bessels sowohl wie ich selbst haben versuchl,
die Embryonalhäute der Inseclen mit der Larvenhaut der Crustaceen
zu idenlifioiren , — allein diesen Versuch muss ich als gänzlich miss-
lungen betracblen. Freilich wissen wir nach den bisher beobachtelen
Erscheinungen absolut nichts mit diesen Hauten anzufangen; ihre Auf-
fassung als Hüllen kann nur provisorische Gellung haben und kann
ebensowenig ihre funclionelle als morphologische Bedeutung erschöpfen.
Aber die neueren Untersuchungen fremder Forscher und meine eignen,
die ich zur Aufklärung dieser schwierigen Verhältnisse geführt habe,
lassen auch liefer in die hier verheißenen Geheimnisse blicken, unil
sobald ich diese Untersuchungen zu einem l>estimmlen Abschlüsse ge-
führt habe, werde ich sie veroßeutlichen, und nachweisen, dass diesen
oHuUenu die weitgreifendste Bedeutung fUr den Aufbau des lnstu:len~
körpers zukommt und jede Homologisirun^ derselben mit llUllenniem-
branen oder l.arvt'nhüuten giluziiclj unstalthafl ist.
Untersuchungen Qber Bau und Entwicklung der Arthropoden. 491
Mit diesen Andeutungen muss ich mich hier begnügen. LSsst sich
aber der genealogische Zusammenhang der Insecten und Crustaceen
nicht anders feststellen , als dass man zugiebt , sie stammen beide aus
den Wtirmem ab , so fallen damit auch die Homologisirungen ihrer
Gliedmaassen weg. Dann haben wir erst zu suchen , ob sie beide aus
einem Punkte des Würmerkreises entspringen , oder ob sie nicht, weit
von einander getrennt, aus jenem gemeinsamen Mutterschooss aller
höheren Thierabtheilungen entstanden sind. Es ist sehr schwer , dar-
auf auch nur vermuthungsweise heute zu antworten, ich enthalte mich
auch jeder Meinungsäusserung , d4e vielleicht doch nach neuen Unter-
suchungen modificirt werden müsste. Es ist auch genug, auszusprechen,
dass und warum hier noch Alles in der Schwebe ist
BeitrSf e zar PlastideadieArie.
Ernst Haeckel.
Hiuiiu Tar. XVn und XVIII.
1) Die PiMtidontbMrie und die Zsllentheorie.
Die biologische Theorie, welche ich als Piastidentheorie im
dritten Buche meiner generellen Morphologie, und vorzüglich im neun-
ten Capil«l begillndet habe , ist entsprungen aus dein BedUrfniss, die
Zellentheorie auf dem gegenwärtigen Standpunkte ihrer Entvvickelung
mit der Descendenztheorie in Verbindung und Einklang zu setzen'].
Fast alle Naturforscher, die nach dem Erscheinen von Daiwin's
Werk über die Entstehung der Arten sich zu Gunsten desselben aus-
sprachen und in der Descendenztheorie dieeinzig mögliche Lüsung aller
morpholi^ischen Fragen erblickten, gingen zunächst auf die organische
Zelle, als auf das gemeinsame Formelemenl /utUck, :111s welchem
durch unendlich mannichfaltige Anpassung und Uuiliildung der ganze
unermessliche Formenreichthum des Thier- und PIlanKenreichs ent-
sprungen sei. Die Thatsache , dass fast alle Thiere und Pflanzen ihren
individuellen Ursprung einer einfachen Zelle verdanken , dnss fast alle
Sporen und Eier von Thieren und Pflanzen^) wirklich einfache Zellen
sind, rechtfertigte unmittelbar den hOchst wichtigen Schluss, dass auch
die Arten und Stämme, alle grlisseren und kieincrt^n FDrriiengru|^M>n
<) Habcul, Generelle Horpbologie der Organlsnun 1966, Vul. I, Csp. IX
Morphologische Individuen erster Ordaung : Plaslideii adcv l'lasmuslltckt).- p> KSt,
bis 389.
1) Unter Pflanzen-Ei versiebe ich hier natürlich nicJil dns, ves
bisher meiste ns o n passe ade rwoise so nannten, sondi.T» vielmehr die eqttl
zelle, welche bei den Pbaaerogaoien "KelmblHscben " u<ti'r Kiiiln^ntiliKU'äitfn B
nanal wurde.
Beitr&ge mt PlastideDtheorie. 493
•
von Organismen, ihren gemeinsamen historischen oder phyletischen
Ursprung einer einzigen einfachen Zelle verdanken. Dieser höchst be-
deutende Rttckschluss von dem einzelligen Ursprung der Individuen
auf den einzelligen Ursprung der Phylen oder Stämme ist unmittelbar
gerechtfertigt durch das biogenetische Grundgesetz, welches ich
im XX. Capitel der generellen Morphologie (im fünften Buche} mit den
folgenden Thesen ausgesprochen habe - »40. DieOntogenesis oder die
Entwickelung der organischen Individuen, ist unmittelbar bedingt
durch die Phylogenesis, oder die Entwickelung des organischen
Stammes (Phylum) , zu welchem dieselben gehören. 44. Dio Onto-
ge n es is ist die kurze und schnelle Recapitulation der Phylogenesis,
bedingt durch die physiologischen Functionen der Vererbung (Fort-
Pflanzung) und der Anpassung (Ernährung). 42. Das organische In-
dividuum wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner
individuellen Entwickelung die wichtigsten von denjenigen Formverän-
derungen , welche seine Voreltern während des langen und langsamen
Laufes ihrer paläontologischen Entwickelung nach den Gesetzen der
Vererbung und Anpassung durchlaufen haben. 43. Die vollständige und
getreue Wiederholung der phyletischen (paläontologischen) durch die
ontetische (individuelle) Entwickelung wird verwischt und abgekürzt
durch secundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen immer
geraderen Weg einschlägt ; daher ist die Wiederholung um so vollstän-
diger, je länger die Reihe der successiv durchlaufenen Jugendzustände
ist. 44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen
durch die ontetische Entwickelung wird getischt und abgeändert durch
secundäre Anpassung , indem sich das Bion während seiner indivi-
duellen Entwickelung neuen Verhältnissen anpasst; daher ist die Wie-
derholung um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedingungen
sind, unter denen sich das Individuum und seine Vorfahren entwickelt
haben. a (Vergl. auch Fritz Müllbr, »Für Darwina).
Ich habe mir erlaubt , dieses biogenetische Grundgesetz von dem
wirklichen Causalnexus der Ontogenie und Phylogenie,
der individuellen und paläontologischen Entwickelungsgeschichte hier
wörtlich zu wiederholen, weil ich dasselbe für höchst wichtig halte und
auch für die nachfolgenden Erörterungen stets im Gedäcbtniss zu be-
halten bitte. Denn die physiologischen Gesetze der Vererbung und An-
passung und ihre Wechselwirkung im Kampfe ums Dasein gestatten
uns , mit Hülfe jenes Grundgesetzes die Vorgänge der organischen Ent-
wickelung wirklich zu verstehen und als die nothwendigen Folgen von
mechanisch wirkenden Ursachen (Gausae eSicientes) zu erklären. Ohne
Bd. T. 4. 88
jenes Grundgesetz dagegen ist ein wirkliches VerstSndniss der Er-
scheinungen in der Entwickelungsgeschichte überhaupt nicht mdglich.
Wenn es nun also durch die Anwendung jenes Gesetzes unmiUel-
bar müglich wurde , auf eine einfache organische Zelle , als auf die ur-
sprüngliche gemeinsame Wurzelform aller Organismen zurückzugeben,
und wenn demgemSss die einfache Zelle nicht blos das anaiomiscbi:-
Fomielement, der gemeinsame Baustein aller Thiere und Pflanzen blieb,
sondern auch ihre historische Urform, ihre gemeinsame Stammwürze!
wurde, so musslen sich doch alsbald neue Schwierigkeiten für diese
Theorie aus den beiden Fragen ergeben : Wo kam die erste Zelle her,
welche die Stammform aller folgenden wurde? Und wie verhallen sieb
jene zahlreichen niederen Organismen, die weder selbst denPormwerlti
einer Zelle besitzen , noch aus echten Zellen zusammengesetzt sind ?
Indem wir die Beantwortung der ersten Frage einer nachfolgenden Be-
trachtung Ufoer Honeren und Urzeugung vorbehalten , wollen wir hier
zunitchst die Erörterung der zweiten Frage in Angriff nehmen.
Als Ausgangspunkt für diese Erörterung muss immer dieThatsacfae
festgehalten werden, dass noch gegenwärtig eine grosse Anzahl von
niederen Organismen existirt, auf welche wirklich derBegriff der Zelle
in dem üblichen Sinne durchaus nicht angewendet werden kann. Den
Begriff der Zelle halten wir dabei in derselben Um^nzung fest,
in weicherer nach dem Vorgange von Max Scbultzs gegenwürtig von
der grossen Hehrzahl der Ilistologcn angenommen und beibehalten wor-
den ist. Diese Feststellung des heutigen Zellen- BegritTs, die bedeu-
tendste und folgenreichste Beform der Zellenlehre seit Schlriden und
ScBWANN, war zwar schon durch Rekiks wichtige Untersuchungen über
die hüllenlosen Furch ungskugeln und Embryonalzellen [1850 — )H55j
angebahnt, bestimmt und mit dem vollen Bewusstsein ihrer weitrei-
chenden Tragkraft jedoch erst von Max Scdultie 1 860 in seinem Aufsatze
über: »Die Gattung Cornuspira unter den Honothalamien etc.o mit
den Worten ausgesprochen : »Die Zelle auf dem ursprünglichen
membranlosen Zustande stellt nur ein nacktes Proto-
plasma-KlUmpchen mit Kern dar.« (I. c. p. 399). Die aus-
führlichere Begründung dieses Satzes gab derselbe dann 1861 in dem
Aufsatze: »Ueber Huskclktiiperchen und das, was man eine Zelle zu
nennen habe.« Der Hauptsatz desselben : »Eine Zelle ist ein KlUmp-
chen Protoplasma, in dessen Innerem ein Kern liegt« (I. c. p. 11] ist
daselbst ausführlich begründet und durch Beispiele erläutert.
Ich selbst hatle mich schon, gelegentlich meiner in Neapel (im Som-
mer 1 859) und in Hessina (im Winter 1 859/60) angestellten histologi-
schen Untersuchungen, bei vielen niederen Thieren davon Ubfiiieugt,
Beiträge lur PUstideiitheorie. . 495
dass wirklich vollkommen merobranlose Zellen existiren , die geformte
fremde Körper mittelst amoeboider Bewegungen in ihren nackten, wei-
chen Protoplasmaleib aiifnehmen können. An einer Thetis fimbria,
welche ich behufs Untersuchung des Gef^sssystemes mit in Wasser fein
zertheiltem Indigo injicirt hatte, machte ich am iO. Mai 1859 in Neapel
die Beobachtung, dass die Indigokömehen in das Innere der Blutzellen
massenhaft aufgenommen wurden , und lieferte damit zum ersten Male
den thatsachlichen Nachweis, dass feste Körper von nackten Zellen
nach Art freier Amoeben »gefressen«, in das Innere ihres hüllenlosen
Protoplasma - Leibes aufgenommen werden können*).
Den Fortschritt, welchen die Zellentheorie durch den wirklichen
Nachweis vollkommen membranloser Zellen und durch die von Max
ScHULTZB darauf begründete Reform des Zellenbegriffes machte , war
höchst bedeutend, und viel folgenreicher, als damals von den meisten
Histologen geahnt wurde. Unter allen Fortschritten, welche sowohl die
Morphologie , als die Physiologie der Zelle in dem letzten Decennium
gemacht haben , kann sich keiner an folgenschwerer Wichtigkeit mit
jener Reform messen. Mit der Hülle, welche nach der herrschenden,
von ScHLBiOBN uud Schwann überkommenen Anschauung jede Zelle
umschliessen sollte , mit diesem Dogma von der Bläschen -Natur der
Zelle fielen die wichtigsten Schranken , welche bis dahin den freien
Fortschritt und die weitere Entwicklung der Zellentheorie gehemmt
hatten.
Allerdings entstanden schon gleich im Beginn dieser weiteren Ent-
Wickelung neue Schwierigkeiten. Die umfassenden Studien, welche
grade in jenen Jahren über viele bis dahin wenig oder gar nicht be-
kannte niedere Organismen angestellt worden waren, die Untersuchungen
von Max Sghultze über verschiedene Rhizopoden, von De Bary über die
Myxomyceten, von Clapar^dk und Laghmann über die Infusorien, meine
eigenen Arbeiten über die Radiolarien, lehrten eine Menge von Organis-
men kennen, bei denen der kaum gewonnene neue Zellenbegriff aufs
Neue durch die Thatsachen gefdhrdet oder überhaupt nicht anwendbar
erschien. Indessen war Max Sguultzk, der diese neuen Schwierigkeiten
wohl erkannte, auch sogleich bemüht, sie aus dem Wege zu räumen.
Er führte schon in der Arbeit über Cornuspira den Nachweis, dass
die contractile, festfiüssige , eiweissartige Substanz, welche den wich-
tigsten Leibesbestandtheil der genannten Organismen und insbesondere
aller Rhizopoden bildet, und welche seit Dijardin unter dem Namen
Sarcode bekannt war, mit dem Zellen -Protoplasma der höheren
4) Habckel, Mo no^raphie der Radiolarien (4862), p. 104.
33
496 Brost Haeckel,
Thiere und Pflanzen identisch sei. Scevltzb nahm an, dass dieses Pkk
toplasma oder die Sarcode der Rhizopoden, welche, nackt in das um-
gebende Wasser hineinragend, die bekannl«n formwechselnden Pseu-
dopodien bildet, aus Zellen entstanden sei, und glaubte damit
den »Triumph der Zellentheorie auch tlber diese niedersten organischen
Gebilde ausgedruckt zu haben«. In seiner ta^fllicben Schrift Ober »das
Protoplasma der ßhizopoden und der Pflanzenzetlen« (1 863] ist diese
Anschauung ausführlich begründet. Ich werde darauf nachher in dem
Abschniu tlber adie Pisstiden und das Protoplasma der RhizopodeDi Doch
n^er zurückkommen.
Die Theorie, dass die früher st^enannle Sarcode der Bhizopoden
und anderer Protisten wirklich als freies, nacktes, hüllenloses Proto-
plasma, gleich demjenigen der Tbier- und Pflanzenzellen zu betrachten
sei , und dass also in allen Oi^anismen ohne Ausnahme Überall eine
ei w eissartige, festflussige , contractile Substanz, das Plasma oder Proto-
plasma , der wichtigste Körperbestandtheil und der eigentliche TrSger
der Leben serschei nun gen sei, diese nProtoplasma-Tbeorie« kann
jetzt als fast allgemein anerkannt gellen. Denn in der That bat sich bei
allen Organismen , ohne eine einzige Ausnahme , dieses Protoplasma im
ersten Beginne der individuellen Existenz des Organismus , im Etxu-
standeoder im Sporenzuslande, als der wesentlichste, wenn nicht ein-
zige EOrperbestandtheil herausgestellt. Anders aber verhalt es sich mit
dem zweiten Theile von Sgbultzb's Theorie, dass das nackte Protoplasma
oder die Sarcode vieler niederen Organismen in allen Fällen »aus Zellen
entstanden« sei. Für viele der niedersten Organismen ist dieser Satz
nicht hallbar und grade dieser Umstand hat mich zu meiner Piastiden-
Theorie geführt.
Efi sind nämlich inzwischen , zum grossen Theile durch meine
eigenen Untersuchungen, eine grosse Anzahl von niedersten Organismen
bekannt geworden, deren Sarcodekörper oder Plasmaleib zu keiner Zeit
dea^ Lebens eine Spur von Kernen zeigt, und bei denen demgemSss
nach Schultzr's eigener Zellendelinition von einem Zusammenhange mit
einer Zelle überhaupt nicht die Rede sein kann. Vergeblich suchen wir
nach Kernen in dem stnicturlosen Kfirper der Moneren , der zeitlebens
einzig und allein aus homogenem Protoplasma besteht. Vergeblich su-
chen wir nadi Kernen in dem Sarcode -Kbrper der meisten Polytha-
lamien und vieleranderenAcytlarienoder niederen Rhizopoden. Ebenso
assen sich keine Kerne auffinden in dem Proto[rfasma von vielen ande-
ren Organismen aus jener zweifelhaften, zwischen Tbierreich und
Pflanzenreich mitten inne stehenden Gruppe von niederen Oi^nismen,
die weder echte Thiere, noch echte Pflanzen sind, and die ich als
Beitrüge zur Piastidentheorie. 497
DReich der Protisten « im siebenten Gapitel der generellen Morphologie
aufgestellt und in meiner Monographie der Moneren näher erörtert
habe.
Dass dieser absolute Mangel von Zellenkemen in dem Protoplasma
zahlreicher Protisten eine Thatsache von schwerem Gewichte ist und
nothwendig eine Modification der Zellentheorie bedingen muss, habe
ich schon an jenen Orten ausgeführt und in meiner Piastidentheorie aus*
gedrückt. Denn ich bin mit Schultzb, Gegbubauh und anderen Histologen
der Ansicht, dass der Zellenkern ein histologisches Element von
grOssterBedeutung bleibt, wenn uns auch seine specielle Function
noch heute fast eben so dunkel ist, wie zu Schlbidbns und Schwanns
Zeiten. Vielleicht vertheilen sich in der kernhaltigen Zelle die beiden
formbildenden Functionen des elementaren Organismus in der Weise
auf ihre beiden activen Hauptbestandtheile , dass der innere Kern die
Fortpflanzung und Vererbung, das äussere Protoplasma die Ernäh-
rung und Anpassung vorzugsweise und oft vielleicht ausschliesslich
vermittelt (Gen. Morph. I, p. 287) . Vielleicht ist die Arbeitstheilung zwi-
schen Nucleus und Plasma von anderer Bedeutung. Wenn wir aber
bedenken, dass der Kern in den wichtigsten organischen Zellen, in
denjenigen , welche ursprünglich den ganzen individuellen Organismus
für sich repräsentiren , in den Eiern und Sporen aller höheren Thiere
und Pflanzen niemals fehlt , und wenn wir femer erwägen , dass in
allen echten Zellen der Kern und das Plasma ursprünglich die beiden
einzigen Formbestandtheile sind , und oft zeitlebens die einzigen blei-
ben, so geht schon hieraus die fundamentale Bedeutung des Kernes un-
zweifelhaft hervor. Dieselbe hier besonders zu betonen erscheint dess-
halb passend , weil in neuerer Zeit von mehreren Seiten Versuche ge-
macht worden sind , den Nucleus als einen ganz unbedeutenden und
untergeordneten Bestandtheil der Zelle in seinem morphologischen und
physiologischen Werthe herabzudrücken und etwa den Fettkömem,
Stärkekörnem und anderen secundären »Zelleninhaltstheileno oder
»Plasma -Producten« an die Seite zu stellen. Wenn in neuester Zeit
sogar einzelne Beobachter so weit gegangen sind, |den Kern als ein
»Kunstproduct« , als einen in natura nicht präexistirenden Bestandtheil
hinzustellen, so lässt sich dagegen nur erwidern, dass diese Histologen
niemals durchsichtige Theile von lebenden Thieren untersucht haben
müssen , in denen man , vorzüglich in den ganz durchsichtigen pela-
gischen Seethieren, den Kern innerhalb derZellen, in den unverletzten
lebenden Thieren jederzeit mit Leichtigkeit nachweisen kann.
Wenn man nun einerseits diese hohe Bedeutung des Zellenkemes
und seine allgemeine Verbreitung in den Zellen der höheren Organis-
498 ErusI nmM,
mcn, Jiiidorerseits aber dipThalHacho crwiijjl, dass in deniProloplasma-
LeibLi vieler niedpi'cr Organismen wirklich jeder Nucleus zcillebnns
fehll, so lässl sich nieJner Ansicht nach dieses Verhültniss nur dadurch
üinfacb und klar in die Zellontheorie einfügen , dass man die ochU>n,
d. h. kern balligen Zellen als höher entwickelte E lernen tu r-Orpa-
nismen belrachtel und scharf unlerscheidel von den niederen , kern-
losen PlasniastUcken , ftlr welche ich in nneiDerlndividualilütslebre d'iv.
Bezeichnung Cytoden oder Cell inen voi^eschlagcn habe.
Beide verschiedenen Formen von Elementar-Organismen betrachte
ich als selbslündise »Individuen erster Ordnung« und fasse sie als solche
unter dem Namen der Bildnerinnen oder Plastidon zusammen.
Für die phyletische Entwickelungsgeschichte der Organismen ist bIkt
diese Unterscheidung der kernlosen von den kernhaltigen Plasliden von
der grösslen Bedeutung. Denn die ersteren, dieCytoden oder Cellinen,
stellen den ursprünglichen und niederen Zustand der Plastide dar, die
lotzieren, die Zellen, den spütercn und höher entwickelten Zustand.
Durch Urzeugung können ursprünglich nur ganz einfache Cytoden,
wie die Moneren sind, entstanden sein. Erst spüter liaben sieb imLaufe
de'r phyletischen Entwickelung aus den kernlosen Cytoden durch Diffc-
renzirung des inneren Kernes und des liusseren Cytoplasnia die Zellen
entwickelt. Diesen phyletischen Enlwickelungsprocess würden uns
noch gegenwllrtig im Laufe ihrer individuellen Entwickelung jene Pla-
sliden wiederholen, und dem oben angeführten ontogcnelischen Grund-
gesetz ontsprochcnd recapituliren , welche aus dem ursprünglichen
kernlosen Cytoden -Zustande i^ptller in den kernhaltigen Zelleni'.ustiinif
übergehen. Durch diese Pias tiden-Theorie wird die Zellon-
Theorie in einer Weise modificirt, welche es gestattet, dieselbe mit
dem Beginne der Phylogenic, mit der Urzeugungshypothese und mil
der ganzen natüHichen Geschichte der Erde in Zusammenhang zu
bringen, und ein wirkliches bistorisohes VerslUndniss von
derpalHontologiseben EnlwickelungilesZellcnlebens zu
gewinnen.
Bei allen denjenigen Organismen [und das istdie grosse Mehrzahl),
welche ihren individuellen Ursprung aus einer kernhaltigen Zelle neh-
men, sei dieselbe nun Ei oder Spore, können echte und ursprüngliche
Cytoden natürlich nicht mehr vorkommen, Denn alle spater den Körper
zusammensetzenden Piastiden müssen von jener ersten echten Zelle ab-
stammen und gleich dieser ursprünglich komhallige Zellen sein. Wenn
idso auch hier spüler oft kernlose Piastiden sich vorfinden, .so müssen
dieselben durch Bückbildung, durch Verlust des Kernes, aus echten
ki'rnliiilligen Zellen hervorgegangen sein. Solche Schein- Cytoden sind
Beiträge znr Plastideiitbeorie. 499
z. B. die rothen Blatzellen und die verhornten Epidermisplatten der
Säugethiere. Um diese rückgebildeten kernlosen Zellen von den ur-
sprünglich kernlosen Gytoden zu unterscheiden, ist es vielleicht passend,
die ersteren mit dem Namen Dyscytoden zu belegen.
Die grOsste Bedeutung messen wir natürlich unserer Piastiden-
theorie für das Yerstjindniss der Entwickelungsgeschichte oder Bio-
genie der Pias ti den bei, und auch hier muss noth wendig wieder
das biogenetische Grundgesetz von dem Causalnexus der phyletischen
und on tetischen Entwickelung zur Geltung kommen. Vielleicht werden
uns hier die ersten Vorgänge bei der Entwickelung des individuellen
Organismus mit Hülfe jener Theorie noch zu sehr wichtigen Erkennt-
nissen verhelfen. Wie bekannt, sind noch gegenwärtig die Ansichten
über das Verbalten der Eizelle und ihres Kerns bei dem Beginne der
Furchung getheilt. Die Einen behaupten , dass die Kerne der Fur-
chungszellen directe Abkömmlinge des Eikernes sind und aus dessen
Tbeilung hervorgehen. Dies Ver&allen ist von Bär bei Echinus , von
JoHANNKs MÜLLBR bei Eutoconcha , von Gegenbaur bei Sagitta und ver-
schiedenen Siphonophoren , von Letdig bei verschiedenen Wirbellosen
und neuerdings von mir selbst wieder bei mehreren Siphonophoren
positiv beobachtet worden. Die Anderen behaupten dagegen , dass in
vielen (keineswegs in allen) Fällen das Keimbläschen verschwinde und
dann nachher ein neuer Kern entstehe, aus dessen wiederholter Thei-
lung die Kerne der Furchungszellen hervorgehen. Wenn diese letztere,
negative Beobachtung richtig ist , so wäre dieser Vorgang vielleicht als
ein Rücksch lag der Zellenform in die ursprüngliche Gy-
todenform aufzufassen. Der individuelle Entwickelungscydus würde
dann mit einem ontetischen Zurückgehen auf jenes primitive Gytoden-
Stadium des einfachen Moncres beginnen , welches wir rückbeziehen
müssen auf den phyletischen Anfangszustand des ganzen Stammes, aus
dem sich der betreffende Organismus entwickelt hat.
2) BathybioB nnd das freie Protoplaima der Meerestiefen.
Hierzu Taf. XVll.
1. Hu XL BY^ 8 Untersuchung des Bathybius.
Unter allen bisher beobachteten Moneren -Formen vielleicht die
wicbiif'cin unA mnr|^wtirdigste ist der von IIuxley entdeckte und als
500 Ernst Hneckel,
fiathybtus Baeckelü beschriebene Organismus']. Dieses hftchst
interessant« Honar scheint in ungeheuren Hassen die tiefst«ii Äbgiitnde
des Meeres, gewöhnlich von 5000 Fuss an bis über 95,000 Fuss hin-
unter zu bedecken, bald in Form von amoeboiden Cytoden, gleich der
Protamoeba, bald in Form von ne Ufa rm igen Plasmodien, gleich einem
ausgebreiteten Protogenes oder Myxodictyum , und gewöhnlich in Ver-
bindung mit den eigen thüm liehen RCrpercben , welche Htnu-Ev als Dis-
colithen, CyatbolitJien und Coccosphaeren beschrieben hat.
Die wichtigste Thatsache, die ausHuxLsv's sehr sorgfditigen Unter-
suchungen des Bathybius hervorgeht, ist, dass der Heeresgrund
des offenen Oceans in den bedeutenderen Tiefen [unter-
halb 5000 Fuss] bedeckt ist mit ungeheuren Massen von
freiem lebenden Protoplasma, und dieses Protoplasnia verharrt
hier in der einfachsten und ursprünglichsten Form, d. h. es hat über-
haupt noch gar keine bestimmte Form, es ist noch kaum individualisirt.
Man kann diese höchst merkwürdige Tbaisache nicht ohne das tiefste
Staunen in nähere Erwügung ziehen , und niuss dabei unwiilkührlicb
an den sUrschleimB Okens denken. Dieser universale Urschleim der
alteren Naturphilosophie, der im Heere entstanden sein und der Urquell
alles Lebens, das productive Material aller Organismen sein sollte, die-
ser berühmte und berüchtigte Urschleim , dessen umfassende Bedeu-
tung eigentlich schon implicito durch Hax Scdultzb's Protoplasma-
Theorie begründet war, — er scheint durch Hi:xley'.s Entdeckung des
Bathybius zur vollen Wahrheil geworden zu sein!
Die äussere Veranlassung zur Entdeckung dieser submarinen Ur-
schleim-Lager gaben die grossartigen Untersuchungen des Tiefseegrun-
des, welche seit dem Jahre 1857 in dem N o rd -Atlanti sehen Ocean be-
hufs Legung des transatlantischen Telegraphen-Kabels angestellt wur-
den. Zuerst stiess man darauf bei der Untersuchung des atlantischen
»Telegraphen -Plaleauu, jener müchtigen Tiefsee -Ebene, welche mit
einer durchschnittlichen Tiefe von 12,000 Fuss sich von Irland bis Neu-
fundland erstreckt und nach Süden gegen die Azoren hin in noch be-
trächtlichere Tiefen abfällt. CapitSn Daybah , der Commandant des
englischen Kriegsschilfes »Cyclopsa, welcher 1857 zuerst dieses Tele-
graphen-Plateau genauer untersuchte, fand seinen Boden überall mit
einem äusserst feinpulverigen, zähen und klebrigen Schlamme bedeckt.
HtiiLEv, der einen Theil dieses Schlammes zur Untersuchung erhielt,
fand darin grosse Mengen von eigenthümlichen nindenKörperchen, die
I) HciLKT, On some or^oniBins livtng st grent deplbs in the north-allaatic
ocean. Journal of microscopical science, Vol. Vltl, N. S. IBflS; p. 1 , PI. IV.
BeitrUge mr Plastidentheorie. 501
er Goccolithen nannte. Dieselben waren meist elliptische Scheiben
und bestanden ausconcentrisch geschichteten Lagern von kohlensaurem
Kalk, die ein heileres Centrum einschlössen; sie zeigten eine gewisse
Aehnlichkeit mit Protocoecus- Zellen oder mit gewissen Formen von
Amylum-Kömem.
Dieselben Goccolithen wurden sodann von Dr. Walligh wieder ge-
funden , welcher die Expedition des englischen Kriegsschiffes »Bulldoga
begleitete , die unter Führung von CapitSln Mc. Clintock i 860 den at-
lantischen Tiefgrund zwischen den Far-Oer, Grönland und Labrador
zu untersuchen hatte. Auch hier enthielt der feinkörnige klebrige Mee-
resschlamm Massen von Goccolithen , und ausserdem grössere kugelige
Körperchen , die fast aussahen , als ob sie aus vielen Goccolithen zu-
sammengesetzt seien . Dr. Wallich nennt diese Kugeln Goccosphae-
ren und vermuthet, dass die Goccolithen aus Gocoosphaeren hervorge-
gangen, und dass sie identisch seien mit ähnlichen Körperchen, welche
schon früher Sokbt in der Kreide beobachtet hatte.
In der That enthalt die Kreide Mengen von Goccolithen und Gocoo-
sphaeren, welche nach den übereinstimmenden Untersuchungen von
SoEBT und HuxLBY ganz denjenigen gleichen , die noch jetzt so massen-
haft in dem klebrigen Schlamme der grössten Meerestiefen vorkommen.
Schon SoaBT hatte behauptet, dass dieselben nicht etwa krystallinischer,
sondern organischer Natur seien.
Im Jahre 4 868 nun nahm Huxlbt eine erneute Untersuchung jenes
Tiefseeschlammes mit Hülfe eines ausgezeichneten Mikroskops von Ross
vor, und die höchst bedeutsamen Resultate dieser Untersuchung sind
in dem vorher erwähnten Aufsatze mitgetheilt und durch eine Tafel Ab-
bildungen illustirt.
Das Wichtigste , was Huxlbt bei der erneuten , gründlichen und
durch sorgfältige mikrochemische Analyse erweiterten Untersuchung
des atlantischen Tiefseeschlammes entdeckte, war der Nachweis , dass
dieser Schlamm zu einem sehr grossen Theile aus nackten , freien Pro-
toplasma-Klumpen besteht. »Diese Klumpen sind von allen Grössen,
von Stücken , die mit blossem Auge sichtbar sind, bis zu äusserst klei-
nen Partikelchen. Wenn man sie der mikroskopischen Analyse unter-
wirft, zeigen sie — eingebettet in eine durchsichtige, farblose und
structurlose Matrix — Kömchen , Goccolithen und zufällig hineingera-
thene fremde Körper.« Die Kömchen variiren in Grösse vom vierzig-
tausendsten bis zum achttausendsten Theile eines Zolles und sind in
Haufen von verschiedener Grösse und Reschaffenheit versammelt. Die
einen Haufen sind ganz unregelmässige Streifen , während die anderen
eine bestimmt umgrenzte, ovale oder rundliche Form besitzen. Einige
502 Bmat H^fckel,
llaiifon erreichen einen Durchmesser von ein TausendsM Zoll und mohr,
wMhreud Hudere nicht mehr als den dritten oder vierten TheÜ so gross
sind. Die kleinsten Körner sind rund. Von den grösseren sind n)3nche
biconcave ovale Scheiben , andere rullienförmig, die grössten unregel-
mtissig. Jod färbt die Körner gelb , wührend sie die Matrix nicht uff!-
cirt. Verdünnte K SS igsifure löst lasch alteKörnchen bis auf die feinsten,
scheint aber die Matrix nicht zu verändern. In massig starken kausti-
schen Alkalien schwillt die Matrix auf Die Körnchen werden durch
schwache Alkalien wenig aflicirt, aber durch starke gelöst. Hdzlbt
konnte an den Kömerhaufen weder eine Spur von eiuem eingeschlosse-
nen Kern , noch von einer umhüllenden Membran entdecken. In der
Hehrzahl der Kömerhaufen fand er einzelne oder mehrere Coccolithcn
liegen, bald mehr oberflächlich, bald mehr in der Hitle derROmerhau-
fcn ; im letzteren Falle sind sie fast immer klein und unvollkommen
entwickelt.
HuxLEv unterscheidet zwei verschiedene Formen von Coccolithen,
welche er Discolilhen und Cyatholithen nennt. Die Discolitben sind
ovale, concentrisch geschichtete Scheiben, plan- oder etwas concav-
convex , mit einem schmalen vorspringenden Rande auf der convexen
Seite , so dass sie die Form eines Spucknapfes oder einer Blumentopf-
Unterschale annehmen. DieC yatbolithen haben eine noch auffallen-
dere Gestalu Sie gleichen nämlich ganz den gewöhnlichen Hemde-
knöpfchen oder Hanchetlenknöpfchen und bestehen aus zwei parallelen,
ovalen oder kreisrunden Scheiben, welche durch einen sehr kurzen,
cy li ndrischen Mittel th eil fest miteinanderverbundensind. Wie gewöhn-
lich bei den Manch elten knöpfchen, ist dieeinevonden beiden parallelen
Scheiben plan , die andere concav - convex.
Die Coccolithen bestehen keineswegs bloss aus kohlensaurem
Kalk, sondern zugleich immer aus einer gewissen Menge organischer
Substanz , die auf das Innigste mit ersterem verbunden ist; wie die
chemische Reaction ersieht, ist diese oi^anische Substanz als mehr
oder weniger verändertes Protoplasma aufzufassen. Durch starke Säu-
ren werden die Coccolithen rasch und vollständig aufgelöst. Wenn man
aber langsam schwache Essigsäure einwirken lässt, so wird der koh-
lensaure Kalk allmählich ausgezogen und es bleibt ein äusserst zarter,
fein granulirter Best von organischer Substanz zurück, der inForm und
Grösse ganz dem ursprünglichen Coccolithen gleicht. Durch starke Lö-
sungen von kaustischen Alkalien werden die Cyatholithen ebenso wie
die Discolithen vollständig zerstört.
Die Coccosphaeren fand HiixLBy immer sehr spärlich im Verhäll-
niss zu den Coccolithen. Er unterscheidet von crslcren zwei verschic
Beitrüge snr PlMtideiitheorie. 503
dene Formen , einen lockeren und einen compacten Typus. Die com-
pacten Coccosphaeren scheinen aus dicht zusammengedrängten, die
lockeren Coccosphaeren dagegen aus lose zusamroengehäuften Cyatho-'
lithen zusammengesetzt zu sein. Während Sorby glaubt, dass die
Gyatholithen durch Zertrümmerung der Coccosphaeren entstehen , hält
HuxLE¥ es umgekehrt für mehr wahrscheinlich , dass die Coccosphaeren
durch Aggregation von Cyatholithen zu Stande kommen. Vielleicht ha-
ben aber auch beide Formen nichts mit einander zu thun. Jedenfalls
würde nicht eine von beiden Formen als nothwendigesEntwickelungs-
Stadium der anderen anzusehen sein , da man sowohl von den Cocco-
sphaeren als von den Cyatholithen Formen von allen verschiedenen
Grössen findet.
Was nun endlich die Deutung dieses höchst merkwürdigen Befun-
des betrifft, so glaubt Huxley, dass alle diese verschiedenen Formen
von Ralk-Rörperchen, und zwar die Coccosphaeren sowohl als die
Coccolithen (Discolithen und Cyatholithen) als verkalkte Protoplasma-
stücke zu betrachten sind, und morphologisch vergleichbar den Spi-
cula der Radiolarien und Spongien. Die massenhaft im Tiefseeschlamme
zerstreuten Protoplasmak lumpen , welche Hüxley unter dem Namen
Bathybius als eine besondere Monerenform beschreibt, würden sich
demnach zu den darin enthaltenen Coccolithen und Coccosphaeren ähn-
lich verhalten, wie die Weichtheile von Sphaerozoen oder von Spongien
zu den von ihnen producirten Spicula.
Dem Exemplare der genannten Abhandhing über den Bathybius,
welche mir Huxley freundlichst übersendete , hat der Verfasser noch
eigenhändig am 4 6. October 1868 die sehr wichtige Bemerkung beige-
fügt: »In einer der Tiefsee - Grundproben , welche ich soeben durch
Carpentbr und Wyvillb TnoMsoN aus der Nordsee erhalten habe , finde
ich den Bathybius Haeckelii in Form eines Netzwerks von
Protoplasma.«
Bei der ausserordentlichen Bedeutung , welche der merkwürdige
Bathybius für die Piastiden- Theorie und die Urzeugungsfrage be-
sitzt, musste es mir natürlich äusserst erwünscht sein , 'diese wichtige
Monerenform selbst untersuchen zu können, im letzten Herbste wurde
mir dazu unverhofite Gelegenheit. Mein verehrter College, Herr Pro-
fessor Prbybr , hatte die Güte , mir ein Gläschen mit Tiefseeschlamm zu
überlassen , welches er durch Herrn Randropp in Thorshavn auf den
Faroer erhalten hatte. Dieses Gläschen trägt die Aufschrift: »Dredged
of Professor Thomson and Dr. Carpbnter witb the Steamer Porcupine
on n'A^ r«iK«„,„ oo i»i: 4j^69^ Lgt. 47» 38". Long. 42« 4".«
iescs Gläschen in Weingeist wohl conser-
504 Brost timM,
virt erfüllte, zeigte die bereits bekannlen Charaktere und zeicfanetesictj
nameotlich durch seine enorm klebrige BescbaSenheit aus. Selbst in
dem Weingeist war diese zähe Adhasionskraft, die offenbar vorzugs-
weise, wenn nicht ausschliesslich, den darin enthaltenen Protopiasma-
massen zuzuschreiben ist, noch so auffallend, dass der Schlamm an
eingestochenen Nadeln beim Herausziehen eben so fest haßete, wie etwa
eine dickflüssige Lösung von Canada- Balsam oder Honig. In Weingeist
zeigte der äusserst feinkörnige Schlamm eine blass bi^unlich graue
Farbe und eine scheinbar ganz homogene Beschaffeuheit. Getrockoet
bildete er ein äusserst feines , grauweisses Pulver , sehr ähnlich feiner
Schlemmkreide.
lieber dieResultalemeinerUntersuchungdiesesSchlammes, welche
ich mit möglichster Sorgfalt und Vorsicht auszulühren bestrebt war,
kann ich mich im Ganzen ziemlich kurz fassen. Im Wesentlichen kann itdi
alle Angaben von HtixLBi bestätigen, doch auch nacheinigen Richtungen
hin dieselben vervollständigen und erweitem. In Betreff des wichtig-
sten Verhältnisses , nämlich des freien Protoplasma , habe ich nament-
lich durch die Anwendung der Carmin-Tinction , die von Huubt nicht
versucht worden zu sein scheint , einige wichtige ei^anzende Resul-
tate erhalten.
S. Zusammensetzung desBathyhius-Schlammes.
Heine ersten Versuche mit dem Bathybius - Schlamme waren dar-
auf gerichtet, die Qualität undQuantitat des freien Protoplasma in dem-
selben näher zu bestimmen. Die Rehandlung desselben mit ammo-
n iakali scher Carminlösung gab in dieser Beziehung die Überraschendsten
Resultate. Es zeigte steh sofort, dass die Quantität der durch Carmin
roth gefärbten Substanz, die ich auch auf Grund anderer ergänzender
Reactionen entweder als eigentliche ProtoplasmakSrper, oder doch als
diesen nächstverwandte, stickstoffhaltige und sicher zum grtlsslen Theile
eiweissartige Verbindungen ansehen mussle, hflchst beträchtlich war.
In der mir übersendeten Grundprobe scheinen diese durch Carmin sich
roth färbenden Substanzen sehr gleichmässig durch die ganze Schlamm-
masse verbreitet zu sein, in den versdiiedenen Formen, die ich so-
gleich beschreiben werde. Soweit eine annähernd sichere Schätzung
in diesem Falle möglich ist, scheint mir in den meisten von mir unter-
suchten Theilen der Grund probe die gesammte Quantität der durch Car-
min sich roth färbenden Substanz mindestens ein Zehntel bis einPUnflel
des Gesammtvolums zu betragen. An manchen Präparaten betrug sie
selbst die grössere Hälfte. Daher erscheint der mit Carmin gefärbte
Schlamm auch fUr das blosse Auge grau-r&tblich oder blass-bräunlicb-
Beiträge snr Piastidentheorie. 505
roth (selbstverständlich nach sorgfältigem Auswaschen der gef<lrbten
Masse). Noch viel intensiver tritt die röthliche Farbe hervor, wenn man
durch verdünnte Salzsäure allen kohlensauren Kalk entfernt hat. Die
Menge der geformten , in dem Protoplasma zerstreuten Kalkkörperchen,
der Coccolithen und Goccosphaeren , war in meiner Grundprobe höchst
beträchtlich. Nach ganz ungefähren Schätzungen mag sie bald
etwa ein Drittel oder ein Viertel , bald nur ein Zehntel bis ein Zwan-
zigstel von der Quantität des Protoplasma betragen. Bevor ich
nun die verschiedenen Formen beschreibe , welche die durch Carmin
sich roth färbenden nackten Köiperchen des Sdilammes darbieten, will
ich erst noch die Übrigen geformten Bestandtheile anführen, die
ausserdem den Schlamm constituiren. Es sind folgende :
1. Globige rinen in sehr grosser Menge, und in allen Grössen
und Stadien der Entwickelung , zum grössten Theile noch vollständig
mit Protoplasma erfüllt. Auch Hdxley fand in seinen Grundproben,
dass die Globigerinen einen sehr ansehnlichen Theil des Schlammes
ausmachen, und wirft dabei die Frage auf: »In Erwägung, dass alle
Spuren von Reproductionsvorgängen bei den Globigerinen zu fehlen
scheinen , ist es vielleicht möglich , dass diese einfach mit Schalen ver-
sehene Abkömmlinge von so einfachen Lebensformen wie Bathybius
sind , der sich gewöhnlich nur in seiner nackten , einfachsten Form
fortpflanzt?«
S) Acyttarien (Monothalamien und Polythalamien)
aus verschiedenen Familien , in sehr geringer Menge , insbesondere
einzelne Rotalien , Textilarien und Polystomellen ; ferner einzelne sehr
grosse Monothalamien. Unter diesen sind bemerkenswerth mehrere
Formen von Comuspiren , Ovulinen und Verwandten.
3) Radiolarien in ziemlich grosser Menge, obwohl viel spär-
licher als die Globigerinen , meistens leere Kieselschalen , selten mit
wohl erhaltener Centralkapsel und übrigen Weichtheilen. Die meisten
Radiolarienformen gehören den Familien derCyrtiden, Ommatidenund
Disciden an. Selten sind dazwischen einzelne Schalen von anderen Fa-
milien und zerstreute Spicula von Sphaerozoen.
4) Diatomeen in ziemlich grosser Menge, jedoch zum grössten
Theile nur Coscinodisken, sehr wenige andere Formen, Navi-
cula, Surirella etc.
5) Spicula von Spongien, und zwar nur Kieselnadeln, in
sehr geringer Menge und meist zertrümmert.
6) Anorganische Fragmente, theils krystallinischer, theils
nicht krystallinischer Natur , in ansehnlicher , jedoch verhältniss-
massig nicht bedeutender Mense. Einerseits sind dieselben meistens
506 l^iusl Uiveckel,
nur sehr klein , und andererseits treten sie auch im Ganzen gegen die
überwiegende Masse der genannten organisirten Bestondtheile nuf-
fallend zurück.
Bei dieser ganz eigenthümlicben und wie es scheint sehr constan-
ten Zusammensetzung des von mir untersuchten Tiefsee-Grundschlan)-
mes ist es vielleicht nicht ohne Interesse, alle diejenigen harten Skelet-
llieile von Seelhieren nambaß zu machen, die man mit mehr oder
mindfir grosser Wahrscheinlichkeit noch in demselben erwarten sollte,
die sich aber merkwürdigerweise entweder gar nicht oder nur in s«br
geringen Spuren , in ganz vereinzelten Fragmenten vorßnden. Diest-
verinissten Bestandtheile sind :
]] Knttcberne Skelettheile von Pisch&n.
3j Chitin-Skelettbeile von Crustaceen.
3) Kalkscbalen von Mollusken.
4) Kalkskelele von Echinodermen .
'oj Kalkskelete von Korallen.
Was nun den Ursprung der verschiedenen vorher aufgeführten Be-
standtheile des Bathybius schlämm es anbetrißl, so darf nicht Uberseh«-n
werden, dass ein grosser Theil derselben wahrscheinlich die Skelel-
theile oder Skelete von pelagiscben Organismen sind, die an der Ober-
fläche des offenen Meeres lebten , die aber nach dem Tode auf den Bo-
den sanken. Dies gilt namentlich, wie schon Huxlbv hervorhebt, wahr—
scheinlich von allen Radiolarien und Diatomeen (mit Ausnahme <ler
Coscinodisken ?) , vielleicht auch von einem Tbeile der Globigerinen . (i)
Ich komme nunmehr zur Beschreibung der verschiedenen Formen
von Pi otoplasmakßrpern in diesem Schlamme, welche ich als solche mit
Recht in Anspruch nehmen zu dürfen glaube. Alle diese Formen zer)^n
die chemischen BcHCtionen, welche allgemein als charakteristisch für
das Protoplasma angesehen werden.
'■i. Struclur und Form des Bathybius-Proloplasmn.
Obgleich das Protoplasma von Bathybius wie, von den übrigen Mo-
neren, in gewissem Sinne als uformlos und structurlos« zu bezeichnen
ist, so zeigen sich dennoch einerseits in den äusseren Umrissen der
PlasniastUcke , andererseits in der histologischen Beschaßenbeit dersel-
ben mehrfache Verhaltnisse, die eine besondere Erörterung nothif
machen. DieStruclur- undFormverhilltnissedes Protoplasma von Ba-
thybius zeigten sich in der von mir untersuchten (irundprobe man-
nichfalliger und zum Theil auch anders, als es nach Hixlbv's Angaben
in dein von ihm unlersuchlen Grundschlamme der Fall war. Ich werde
dieselben daher hier so genau als möglich schildern. ^
Beitrüge zur PUslidentlieorie. 507
HuxLKT unterscheidet in dem Protoplasma seines Bathybius zweierlei
Substanzen , nämlich erstens eine farblose , formlose und structurlose
durchsichtige Matrix, und zweitens verschieden geformte Haufen
von Körnern, welche in diese eingebettet sind. Obwohl er beide
zusammen für Protoplasma erklärt, so giebt er doch selbst bemerkens-
werthe Unterschiede in dem chemischen Verhalten derselben an. Die
»Kömerhaufena färbten sich durch Jod gelb und wurden durch ver-
dünnte Essigsäure rasch gelöst, wahrend die gallertartige »Matrix« durch
beide Reagentien nicht afificirt wurde. Dagegen bewirkte eine massig
starke Lösung von kaustischem Alkali eine Anschwellung der Matrix,
während sie die Kömchenhaufen wenig veränderte. Huxlby vergleicht
fernerhin diese gallertartigen Protoplasmamassen einem »Meerqualster«
von Sphaerozoen, aus dem man die »Centralkapselna entfernt hat. Die-
ser Vergleich ist in der That ziemlich zutreffend.
In dem von mir untersuchten Grundschlamme ist das Protoplasma
zum grössten Theil in anderer Form enthalten, nämlich ohne die »gal-
lertige Matrix« von Huxlby. Allerdings kommen daneben auch vielfach
structurlose Gallertstücke vor, welche Protoplasmahaufen einschliessen
und das von demselben beschriebene Verhalten zeigen (Fig. 5] . Allein
die grössere Hälfte der von mir untersuchten Plasmastücke ( — ich glaube
annehmen zu dürfen , mehr als zwei Drittel derselben — ) zeigt keine
Spur von jener Matrix. Keineswegs ist dieselbe ein constanter Beglei-
ter der »Kömerhaufen« , vergleichbar einer »Grundsubstanz«, in welche
die letzteren eingebettet sind.
Was nun zunächst die eigentliche Beschaffenheit dieser »gallertigen
structurlosen Matrix« betrifft, so kann dieselbe nach Hiilby^s eigenen
Angaben nicht als wirkliches Protoplasma betrachtet werden. Schon
allein der Umstand , dass dieselbe durch Jod nicht gelb gefärbt wird,
scheint mir dies hinreichend zu beweisen. Denn wie verschiedenartige
Modificationen auch das Protoplasma zeigt, so verliert es doch als sol-
ches niemals die Eigenschaft, durch Jod mehr oder minder intensiv gelb
oder gelbbraun gefärbt zu werden. Dazu kommt nun aber noch, dass,
wie meine oft wiederholten Versuche zeigen , jene Matrix auch durch
Carmin nicht roth, durch Salpetersäure nicht gelb gefärbt wird. Auch
Salzsäure und verdünnte Schwefelsäure bringen keinen besonderen
Effect hervor , ausser einer massigen, offenbar durch Wasserentziehung
bedingten Schrumpfung. In Alkalien dagegen quillt sie auf. Alle diese
Reactionen beweisen, dass dieMatrix jenen wasserreichen, indiffei*enten
Gallertformen ziemlich nahe steht, wie sie die Hauptmasse des Medu-
senkörpers bilden. Hl'xlbt selbst vergleicht sie auch ganz passend der
structurlosen , in ihren Reactionen sich ähnlich verhaltenden Gallert-
608 Ernst Hneckel,
masse, welche von den sterbenden fladiolarien aüS|;i.'Sfliuit7,l wirit.
Ich möchte daher auch annehmen, dass diese Gallertmatrix beim leben-
den Bathybius gar nicht existirt, und vielmehr ein «Leichenphanoment
ist, ein Plasmaproduct, welches beim Absterben desselben entsteht.
In dieser Vermuthung bestärkt mich der Umstand , dass die meisten
Plasmastucke, welche von einer solchen Gallertscbicht umgeben sind,
nicht dieForm von amoeboiden Stttckea, netzftirmigen Strängen n. s. w.
zeigen, sondern von abgerundeten Rlumpeu, welche mehr oder minder
zusammengezogen oder bröckelig erscheinen (Fig. 5).
Als echtes Protoplasma des Bathybius betrachte ich nur die-
jenigen Stücke, welche folgende , für diese Substanz charakteristische
Reaotionen zeigen : i ) Bothe Färbung durch ammoniakalisdie Cannia-
lösung ; 3) gelbe Färbung durch Jod (Jod in Jodkalium gelost] ; 3) gelbe
Färbung durch Salpetersäure. Diese drei Eeactionen , die zuverlässig-
sten und unfehlbarsten unter allen für Protoplasma angegebenen, fand
ich bei allen den Protoplasmastücken , welche ich in den folgenden
Zeilen als solche beschreiben werde. Die in der mikrochemischen Praxis
wichtigste Reaction, die rothe Carminförbung, trat bei Bathybius
bald mehr, bald minder intensiv ein, besonders scbUn, nachdem das
Präparat vorher mit verdünnter Essigsäure oder Salzsäure behan-
delt war.
Gegen saure und alkalische Lösungsmittel verhalten sich be-
kannüich die verschiedenen Modificationen des Protoplasma ziemlich
verschieden. Dasjenige des Bathybius wurde durch verdünnte Essig-
säure stark afficirt. Hcxlet giebt an , dass 'zu seinen Präparaten die
Protoplasmakömer, mit Ausnahme der kleinsten , dadurch rasch gelöst
wurden. Eine Lösung derselben habe ich an meinen Präparaten nie-
mals beobachtet, wohl aber eine sehr starke Quellung. Unmittelbar
nach der Einwirkung der Essigsäure werden die PlasmastUcke oder
Cytoden sehr biass, wasserhell und sehr schwach lichtbrechend, so dass
man die zarten Contouren oft kaum mehr wahrnimmt. Wenn man dann
aber das Präparat wieder mit Wasser auswäscht, so ziehen sich die
aufgequollenen Piastiden wieder zusammen und gewinnen nahezu ibre
frühere Form und Grösse. Ebenso wie verdünnte Essigsäure wirktauch
verdünnte Salzsaure. Aehnlich wirken auch verdünnte kaustische Al-
kalien und kohlensaure Alkalien ein. Die Cytoden quellen und werden
durchsichtiger, blasser contourirt. Durch concentrirte kaustische Alkalien
quellen sie noch stärker und werden bei nachfolgendem Wasserzusatz
völlig aufgelöst. Durch concentrirte Schwefelsäure werden die Plasma-
stUcke unter blass rosenrother Färbung gelöst.
Wenn man die Protoplasmastfloke oder Cytoden des BaÜiybius,
BeitrXge mr Plastidentbeorie. 509
welche durch die angegebenen Reacitonen sich als solche documentiren,
mit Hülfe der strirksien Vergrösserungen genau untersucht, so gewinnt
man in einigen Filllen ein BiJd , als ob die scheinbar structuriose Masse
aus einer Menge sehr kleiner runder Kömchen (jedenfalls von weniger
als 0,001 Mm. Durchmesser) zusammengesetzt sei , welche durch eine
minimale Quantität heterogener Substanz verbunden seien. In vielen
anderen Fällen dagegen ist man nicht im Stande , von einer derartigen
Zusammensetzung ii^end eine Spur wahrzunehmen , und es ist daher
wohl leicht möglich, dass jenes Bild durch leichte Unebenheiten auf der
Oberflache der Cytoden veranlasst wird.
Die Grösse der Bathybius-Gytoden unterliegt sehr beträchtlichen
Schwankungen. Doch habe ich in der von mir untersuchten Probe keine
Protoplasmastücke isoliren können, welche mehr als 0,3 Mm., oder
höchstens 0,5 Mm. Durchmesser erreicht hätten. Die grösseren Stücke,
insbesondere die vouHuxlby schon erwähnten Klumpen, die mit blossem
Auge sichtbar sind, ergeben sich bei genauerer Untersuchung als
lockere Aggregate von mehreren zusammengeklebten, aber nicht wirk-
lich verschmolzenen Massen. Die Mehrzahl der grösseren Cytoden hat
einen Durchmesser von 0,05 — 0,08 Mm. Doch gehen sehr viele bis zu
0, 1 Mm. Die kleineren Cytoden haben die verschiedensten Dimensio-
nen, bis unter 0,005 Mm. hinab.
Was nun die Gestalt der Protoplasmastücke des Bathybius be-
iriflt, so ist dieselbe durchaus unregelmässig, wie schon ein Blick auf
die Figuren i — 10 ergiebt. Ifti Allgemeinen kann man compacte Klum-
pen und netzförmig verbundene Stränge unterscheiden. Die compacten
Klumpen (Fig. 5 — 1 0) haben sehr häufig ganz dieselben Umrisse , wie
gewöhnliche Amoeben. Die Protoplasmanetze dagegen haben dieselben
Conturen, wie viele Myxomycetenformen. Meistens sind die Stränge
des Saroodenetzes breit (Fig. 1,2), seltener schmal (Fig. 3j, und sehr
selten so fein fadenförmig , wie es bei den Rhizopoden gewöhnlich
der Fall ist. Die Pseudopodien, die unregelmässigen Fortsätze des
Protoplasma, die an der Peripherie der Klumpen und Netze her-
vortreten, sind gewöhnlich stumpf abgerundet und sehr unregelmässig,
sehr selten spitz.
Ausser den unregelmässigen Stücken und Netzen des Protoplasma,
welche man als eigentlichen Bathybius betrachten muss , finden sich in
dem Schlamme dazwischen auch spärlich Kugeln von Protoplasma zer-
streut, von 0,005 bis zu 0,03 Mm. Durchmesser. Bald sind diese nackt
(Fig. 1 1 ), bald von einer ziemlich dicken (bisO,002Mm. Dicke erreichen-
den) hellen, structurlosen Cyste umschlossen (Fig. 12). Niemals habe
ich in diesen Protonlasmakuseln Discolithen oder Cyatholithen ange-
Bd. V. 4. 84
. 510 Ivrasl Hncrkel,
trollen. Ob dieselben zu den Cytoden des Balhybius in genetischer Be-
ziehung stehen, bleibt dahin gestellt.
Das MengenverhüiLniss, in welchem die Discolilhen und Cyatho-
litben in die ProtoplRsmEikürper des Bathybius eiogebellct sind, ist
sehr wechselnd. Das gewöhnliche Durchschnittsverhüllniss stellt Fig. 1
dar. F.s gieht aber auch Cylodrn , welche von Coccolithen so vollge-
pfropft sind, dass dtis Volum derselben sieb zu dem des Protoplasma
wie ) :3, oder selbst wie 2; 3 viihalten mag. Andererseits ist jedoeti
hervorzuheben, das.s auch viele yrö.ssereund kleinere Cytoden zu finden
sind, welche gar keine Cocculithen enthalten. Solche sind in Fig. Sund
'.t dar^esleli). Aus.ser den Coccolithen und ausser den zußlllit^en frem-
den Einschlüssen enthalten die meisten ProtöplasmaslUcke noch eine
gewisse Quantität von sehr kleinen, ganz un rege Imi issig g<>fnnnlen
Kürnchen , welche zum Theil weder in Sifuren, noch in Alkalien löslich
sind (Fig. 6).
Sehr zahlreiche Coccolithen, sowohl Discolitben als Cyatbolitbfii,
sind in dem Bathybiusscblamme stets frei, nicht in ProtöplasmaslUcke
eingeschlossen, zu linden. Da.tselbe i{iltvcn allen Cnccosphaecen, welche
ich beobachtet habe.
4. Die Coccolithen und Coccosphaeren.
Die kleinen geformten Kalkkttrperchen , Coccolithen und' Cocco-
sphaeren , welche man in so ungeheuren Menj-en in den Grundproben
' der grösst«Ei Meereslieren antriflt , sind üusserst merkwürdige Körper.
Die Coccolilben sind, wie schon bemerkt, zuerst 1Ki)8 von Huxlbt, die
■ Coccospliaereo dagegen 18fiO von W*lligh entdeckt und benannt wor-
den. Beide Kßrperchen sind dadurch noch von besonderem Interesse,
dass sie ebenso massenhaft, wie in dem heutigen Tiefseegrund, auch
fossil in der Kreide vorkommen , wie zuerst von Sohbv nachgewiesen
worden ist. Uebrigens sind die Coccosphaeren immer viel seltener als
die Coccolithen, und IrelPD ganz gegen letztere zurück. In lien von
mir untersuchten Tiefseegrund proben sind die Coccosphaeren äusserst
selten; es kommen hier vielleicht auf hunderttausend oder selbst auf
eine Million Coccolithen höchstens eine oder einige wenig« Coccosphae-
ren. Den von Huxj-Bv , Wai.liuh und Sobh* gegebenen Beschreibungen
der Coccosphaeren vermag ich nichts wesentlich Neues hinzuzufügen:
dagegen bin ich durch sehr ausführliche L'ntersuchungen, welche ich
mit Htllfe einer Vergrösserung von 700 — 4200 über die Coccobthen
ausgeführt habe, in den Stand gesetzt, die Kenntniss dieser sonder-
baren Gebilde mehrfach zu e^v^ eitern. Ich werde jetzt zunächst Uoss:
Beiträge xur Rlastidentheorie. 511
die Beschreibung der Coceoliihen geben und erst nachher ihre Bedeutung
für den Bathybius ertöutern.
HuxLEY unterscheidet von den Goccolithen zwei verschiedene For-
men» welche er Discolithen>undGyatholithen nennt. Die Discolithen
(Fig. 43—49) sind einfache Scheiben (Monodisci). Die Cya-.
tholithen (Fig; 54—80} dagegen sind Doppelscheiben* (Amphi-
disci), zusammengesetzt aus zwei einfachen Scheiben, welche sehr
nahe bei einantfer und mit ihren Flächen parallel liegen , und- im Gen-
trum durch eine kleinere HitteJscheibe oder erne dicke centrale Axe
fest miteinander verbunden sind. Sehr trefifend' vei*glbicht sie Huxley
mit einem Hemdeknöpfchen oder Manchettenknöpichen. Im Bau glei-
chen sich beide Formen von Goccolithen Übrigens ganz , wie sich so-
gleich aus der näheren Beschreibung ergeben wird. Man kann jeden-
falls anatomisch (und wahrscheinlich auch genetisch) die Gjalho-
lithen als paarweise verbundene Discolithen betrachten , in gleicher
Weise wie die Goccosphaeren kugelige Haufen von verwachsenen Goc-
colithen darstellen.
hn Allgemeinen lassen steh an den Goccolithen (sowohl Discolithen
als Gyatholithen) bei sehr genauer Untersuchung von innen nach aussen
folgende fünf verschiedene Theile unterscheiden , die wegen ihrer ver-
schiedenen Lichtbrechung sich scharf von einander abheben : f ) Ein
einfaches oder doppeltes Gen tral körn (a) , stark lichtbrechend.
2) Ein heller, dünner, das Centralkorn umgebender Ring, das Mark-
feld (b) , schwach lichtbrechend. 3) Ein dunkler, dicker, das Mark-
feld umschliessender Bing, der Mark ring (c), stark lichlbrechendl ^)
Einoialter, granulirler, breiter, den Markring umgebender Riiig , der
Granularing oder Körnerting (<tj , schwach lichlbpechendi 5) End-
lieh zu änseerst ein dunkler, structurloser , schmaler Ring, der Aus-
senrii^g («). Wir werden diese fünf Zonen sogleich bei den einzelnen
Formen der Goccolithen noch näher betrachten, wollen jedoch schon
hier die Bemerkung verausschieken , dass nicht immer alle ftlnf Zonen
entwickelt sind. Am stärksten lichtbiv^chend isi der Markring (c),
näohsldem das Centralkorn (a) ; dann* folgt der Aussenriog (e) ; noch
schwächer Hohtbreohend ist det* Kornerring (d) und am schwächsten*
das Markfeld (6).
In chemischer Beaiebung verhalten sich alle drei Formen von Gon^
cretionen wesentlich gleich. Sowohl die Discoiilhen, als die
Gyatholithen und Goccosphaeren bestehen* aus kohlen-
saurem Kalk, verb'Unden mit organischer SuVstanz. T)'\v
Verbindung der beiderlei Substanzen ist so* innig,- dass die- Perm d^r
Gonoretion ziemlieh unverändert bleibt, wenn man sehr vorsichtig
84*
512 Ernst Hueckel,
durch allmähliche Einwirkung sehr verdünnter Säuren den Kalk aus-
zieht. Durch plötzlichen Zusatz starker Süuren werden sie dagegen
völlig zerstört. Ebenso werden sie durch caustisch« Alkalien , welche
sie in der Kälte wenig oder gar nicht angreifen, beim Erhitzen zerstört.
Die organische Grundlage der Concretion , welche bei vorsichtiger Ex-
traction des Kalks zurückbleibt, als ein sehr zartes, biegsames Hüut-
chen , wird durch Jod blass gelb , durch Carmin blass roth gefilrbt,
durch Alkalien gelöst. Am stärksten färbt sich diejenige Schicht der
Concretion, welche wir sogleich als Granularzone beschreiben werden.
Die Discolithe.n (Scheibensteinchen) oder die monodisken
Goccolithen sind entweder kreisrunde oder elliptische, einfache
Scheiben (Fig. 13 — 49). Die kleinsten erkennbaren Anfänge derselben
messen kaum 0,001, die grössten ausgebildeten Formen 0,0S Mm. Die
Mehrzahl der grösseren Discolithen hat einen Durchmesser von ungefähr
0,01-0,015 Mm. Fig. 13—25 zeigt die kreisrunden, Fig. 26—40 die
elliptischen Scheiben in der Flächenansicht. Fig. 41 — 4 9 giebt die ver-
schiedenen Profilansichten.
HuxLBY giebt von den Discolithen folgende Beschreibung : Die Dis-
colithen sind ovale scheibenförmige Körper mit einem dicken , stark
lichtbrechenden Rand und einem dünneren Centralstück, das zum gröss-
ten Theil von einem matten, wolkenäh nlicben Fleck eingenommen wird.
Der Contur dieses Fleckes entspricht dem der inneren Kante des Ran-
des^ von dem er durch eine helle durchsichtige Zone getrennt ist. Ge-
wöhnlich sind die Discolithen leicht convex auf der einen, leicht concav
auf der anderen Seite, und der Rand springt auf der convexen Seite in
Form und Gestalt eines dünnen Riffes vor (ganz ähnlich wie bei einem
gewöhnlichen Untersatz von einem Blumentopf).
Diese Beschreibung passt nicht auf alle Discolithen , sondern bloss
auf einen Theil der Körperchen , die ich als so^phe hier zusammenfasse.
Ich glaube mich ttberzeugt zu haben, dass auch ein grosser Theil der
kreisrunden Scheiben einfache Discolithen, und nicht amphidiske Gya-
tholithen sind, wieHuxLEY anzunehmen scheint. Die kreisrunden Schei-
ben sind jedoch von etwas anderer Structur als die ovalen oder ellip-
tischen , wesshalb sie eine besondere Betrachtung verdienen. Indessen
ist zu bemerken , dass beide Formen nicht scharf zu trennen , vielmehr
durch allmähliche Uebergänge miteinander verbunden sind.
Die kreisrunden Discolithen (Fig. 13 — 25) lassen in ihrer
am meisten entwickelten Form (Fig. 24, 25) von innen nach aussen die
vorher schon angeführten fünf Theile unterscheiden. 1 ) Ein centrales
Stück, das Centralkorn (a) von kugeliger oder unregelmässig rund-
licher, bisweilen etwas eckiger Form, von ungefähr 0,001 Mm. Durch-
Beiträge zur Plast identheorie. 5 1 3
messer, stark liehthrechend. 2) Ein heller, schwach lichtbrechender
Ring, das Markfeld (6) , slructurlos, blass, anscheinend dünner, als
der übrige Theil der. Scheibe, ungefähr, 0,001 Mm. breit, oder noch
etwas breiter. 3) Ein dunkler, stark lichtbrecfaenderRing, der Mark -
ring (c), anscheinend der dickste Theil der Scheibe, jedoch oft nur
ungefähr 0,0005 Mm. dick, anderemal mehrals doppelt so dick. 4) Ein
körniger, schwach lichtbrechender Ring, der Körnerring (d), durch
seine granulirtc Beschaffenheit von der übrigen Scheibe auffallend ver-
schieden, ebenso durch den un regelmässigen, oft fast wellenförmigen
Contur, durch welchen er sich von dem fünften Ringe absetzt, ge-
wöhnlich 0,003—0,004 Mm. breit. 5] Zu äusserst ein schmaler heller,
structurloser Äussenring (e) von 0,001—0,002 Mm. Breite ^ »biswei-
len deutlich radial gestreift.
Die grosse Mehrzahl der kreisrunden Discolithen zeichnet sich vor
der Mehrzahl der elliptischen dadurch aus , dass das Gentralkom (a)
fehlt (Fig. 20—22). Das Gentrum der Scheibe wird also von dem Mark-
feld (6) gebildet, welches von dem Markring (c) umschlossen ist. Die
stufenweise Entwicklung dieser Discolithen lässt sich leicht verfolgen
[Fig. 13 — 19). Zuerst entsteht bloss das Markfeld (Fig. 13). Um dieses
lagert sich der Markring ab (Fig. 14). Um den Markring herum bildet
sich der Kömerring (Fig. 15, 16, 21, 22). Endlich zuletzt entsteht der
Äussenring (Fig. 19, 20).
Die elliptischen oder ovalen Discolithen (Fig. 26 — 40)
haben selten .einen ganz regelmässig elliptischen , meist einen etwas
unregelmdssigen , liinglich runden Umriss. Die Rilnder sind gewöhn-
lich etwas verbogen. Der längere Durchmesser ist in der Mehrzahl
nahezu doppelt so gross, als der kürzere, selten noch grösser. Oft ver-
hält sich aber der längere zum kürzeren auch nur « 3:2, oder selbst
^ 4:3. Die länglich-runde Gestalt dieser Scheiben wird offenbar schon
durch die längliche, stäbchenförmige Gestalt des Centralkoms (a) be-
dingt, um welches sich dann die vier anderen Zonen in entsprechend
gestreckter Gestalt anlagern. Auch hier bei den elliptischen (ebenso
Vi\e bei den kreisrunden) Discolithen lässt sich die Entstehung derGon-
crelion leicht von Anfang an verfolgen. Man begegnet vielen in dem
Protoplasma vertheilton kleinen stäbchenförmigen Kalkkörperchen , die
0,002—0,004 Mm. lang und etwa ein Viertel so dick sind. Das sind
dieGentralkörner (Fig. 26). Viele von diesen zeigen bereits einen
hellen, schmalen Band , das Markfeld (Fig. 27). Um dieses letztere
bildet sich dann ein dunkler dickerer Ring, der Mark ring (Fig. 28,
^9). Diese letzteren Formen sind die von Hcxley als Discolithen be-
schriebenen Formen. Nun kommen aber auch noch grössere Scheiben
51 4 Fernst VmVti,
vor, welche tniin liei Belrachlung von der Flache mil HUsgehildrt''ti
Cyiilholilhen vpiwaphseln könnte (Fig. ;)0 — 3?). Wenn man sie aber
fluf den Rand sl^Ul (Fig. 15— 19) , zeigt sich, dass sie keine Doppel-
scheiben , sondern einfache Scheiben sind. Der Markring (c) ist hier
noch von einem breiten , granulirten Körnerring (rf) umgeben, der
sich ganz wie bei den Cyatholithen verhsll, und einen un regelmässig
höekeriiien oder w elieirftirmigen äusseren Contur zeigt. L'm diesen
IwtEleren legt sich endlich bei den grösslen Formen (Fig. 31, 32) noch
ein dunkler schmaler Aussanring {e).
Die eitiplischen DiscoliUien zeichnen sich sehr hitufig dadurch aus,
dass das Centralkorn doppellisl (Fig. 33—40). Das Marlcfeld,
welches die beiden Cenlralkömer umscbliesst, zeigt dann häufig in der
Mitte zwischen beiden eine Einschnürung (Fig. 34) , die oft als eine
scharfe Querlinie auftritt (Fig. 37, 38) und dann wohl als Verwnchs-
ungsnalh der beiden Dülflen eu deuten ist. In diesem letzteren Falle
scheinen also die beiden Cenlralkömerersl miteinander zu verwachsen,
nachdem schon das Markfeld um beide sich gebildet hat. Andcremab
dagegen bildet sich letzleres vielleicht gleidizcitig um zwei nahe bei-
sammenliegende Cenlralkörticr [Fig. 33, 3i). Die weiUTe Enlwicke-
lung der concentriischen Ringe litsst sich audi hier ebenso wie iwi den
kreisrunden Discolilhen leicht verfolgen (Fig. 36^—40).
Die Cyatholithen (NapFsteinchen) oder die amphidisken
Coccolithen haben eine höchst sonderbare Gestalt (Fig. 54 — 80i.
Dieselbe ist bereits vonHixi.EV richtig erkannt undvortreHlich beschrie-
ben worden. Doch bleibt immerhin noch manches hinzniuftigen , und
wie ich glaube , auch anders lU deuten. Wie schon bemerkt, besteht
jeder Cyatholith aus zwei Scheiben , welche mit ihren Flächen parallel
und sehr nahe aneinander liegen, und in der Mitte durch eine kurze
und dicke, im Centrum beider angebrachte Axe fest verbundeji sind.
Wenn man die Profilansichl (Fig. 61—69) mit der Flächenansidil (Fig.
70—80} vergleicht, wird dies vollkomnoen klar werden. Gewöhnlich
ist die eine Scheibe kleiner, flach und kreisrund , die andere Scheibe
grösser, convex vorgewölbt und elliptisch. Somit haben die gewöhn-
lichen CyatWithcn ganz die Form eines ordinären Hemdeknapfchens
oder Manchett^nknöpfchens.
Wenn man die Cyatholithen von derFlache betrachlcl (Fig. 7fl — 80),
so scheinen sie genau die Structur der eben be schriebe tion DiscnlHhen
zu haben. Auch hier liegt im Centrum der Concretion ein stark lichte
brechendes Centralkorn (n) , entweder einfach (Fig. 78, 78} oder dnp-
peU (Fig. 73, 78, SO). Das helleMarkfeld [b], welches das Centralkorn
umscbliesst, wird nach aussen von dem dunkeln Markring (c) umgeben.
E-=T=— 1
Beiträge zar.riaatidentheorie. 515
Dann folgt die breite Körnerzone [d] utid endlich der dunklere schmale
Aossenring (e), letztere beide oft deutlich radial gestreift. Von der
Fläche betrachtet, sind also die monodisken und amphidisken Cocco-
lithen nicht zu unterscheiden. Sobald man sie jedoch auf den schmalen
Rand stellt und nun im Profil betrachtet, gewahrt man, dassdieersteren
einfache, die letzteren paarweise* verbundene Scheiben sind.
Die Randansicht der Cyatholithen gewährt übrigens keineswegs
immer dasselbe Bild , sondern varürtmanaichfach (Fig. 61 — 69). Ge-
wöhnlich allerdings ist die kleinei^ Scheibe eben, oder nur wenig con-
vex gegen die grossere gewölbt; die grössere dagegen ist stärker nach
aussen .vorgewölbt, coocav-convex (Fig. 62, 65,- 66). Seltener sind
beide Scheiben eben (Fig. 61,6^). Es kommt aber auch vor, dass
beide Scheiben nach aussen convex vorgewölbt sind, und somit ihre
GoBcavitäten gegen einander kehren (Fig. 69) . Der seltenste Fall scheint
zu aein , dass beide Scheiben nach aussen ooncav , dagegen mit den
coavexen Flächen gegen einander gewölbt sind (Fig. 63).
Am schwierigsten zu beurtheilen ist die Natur der Zwiscfaensub-
stanz und der centralen Axe, welche die beiden Scheiben miteinander
verbindet. Huxlet spricht sich darüber nicht näher aus. Er unter-
scheidet ein centrales , ovales , dickwandiges Körperchen in der Axe
zwischen beiden Scheiben , und rings um dieses herum eine körnige
«inlermediale substance« , von der Ausdehnung der kleineren Scheibe,
wahrscheinlich Protoplasma. Auch meine sehr sorgfältige und gedul-
dige Untersuchung von Tausenden von Cyatholithen hat mir darüber
keinen sicheren Aufschluss gegeben. Doch glaube ich , die körnige
«intermediate Substanz«, welche der breiten i>Kömerzonea (d) beider
Scheiben entspricht, und mit derselben wirklich zusammenhängt, als
eine Lage von modificirteni Protoplasma mit ziemlicher Sicherheit deu-
ten zu düifen. Das oenirale Körperchen dagegen isl ein Kalkzapfen,
welcher die Contra beider Sdieiben fest verbindet.
Bei der ganz ausserordentlichen Schwierigkeit, Welche die Deutung
des mikroskopischen Bildes bei so kleinen und schwer zu untersuchen-
den Kör[>erchen darbietet, ist es gerathen, selbst die subjective Auf-
fassung der einfacheren Verhältnisse nur mit grosser Vorsicht proviso-
risch hinzustellen. Das gilt auch von der folgenden Ansicht über die
Entstehung der Cyatholithen, welche von Huxley's Deutung abweicht,
welche aber noch sehr der weiteren Prüfung bedarf. Es scheint mir
nämlich bei der Mehrzahl der Cyatholithen die kleinere flachere Scheibe
aus einem kreisrunden Discolithen ohne Centralkom, die grössere con-
vexe Scheibe dagegen aus einem elliptischon Discolithen mit Central-
kom gebildet zu sein. Das zapfenförmig verlängerte und konisch vor-
516 ErnBi Huckel,
springende Centralkorn der 1 eitleren ist eingesenkt in das centrale Hark-
feld derersl^re". welches ent^-ede^ uineverdünnlp Sphnibpnmitle, oder
selbst ein centrales Loch entbütl. Wahrscheinlich pnUtehen dicCyalHo-
lithen von Anfang an, wenigstens zum grössten Tht?il, als Doppel-
scheiben. Vielleicht aber verbinden sich in vielen Fallen auch spä-
ter ei-st Ewei schon ausgebildet« Discolilhen durehcentrüle Verwachsung
miteinander.
Neben den gewöhnlichen Cyatbolitben, welche aus einem kleineren
kreisrunden und einem grltsseren elliptischen Discolithen zusammenge-
setzt sind, kommen übrigens iiuch vielfach Cyalbolithen vor, welche
aus zwei ovalen oder elliplisRben , und noch zahlreicher kleinere Cya-
Iholithen, welche aus zwei kreisrunden Discolithen i^usammengesetzl
zu sein scheinen. Bei der grossen Schwierigkeit aber, welche die
Isolation der winzig kleinenCyatholithen und ihre Beti-acbtung auf dem
schmalen Hände darbietet, isl es zur Zeit sehr niisslich, etwas Bo-
gtimml«s über das Vcrbtiltniss dieser verschiedenen Formen zu einan-
der zu sagen.
Aus demselben Grunde ist auch ihre Genese so schwer zu beur-
theilen. Man findet in jeder Probe von Bathybinsschlamm massenhaft
Coccolitben von allen Entwickelungsstadien durcheinander, kreisrunde
und elliplische , einfache und Doppelscheiben. Man kann den Ansatz
der vier äusseren concen Irischen Binge um das CentralsLück sehr leicht
verfolgen. Wie sich aber die monodiskeu zu den .imphidisken Cocco-
lilhen bezüglich ihrer Entstehung verhallen, isl sehr schwer zu
sagen.
Ueber die Coccosphaeren'oder Kemkugeln kann ich mich sehr
kurz fassen. In der von mir untersuchten utlantischen Gmndprohe von
14,600 Fuss Tiefe, welche die Batbybius - Cyloden mit ihren Cocco-
lithen in so ungeheuren Mengen enthalt, sind die Coccosphiieren da-
gegen nur äusserst spärlich vorhanden. Einige derselben habe ich in
Fig. 30 — 53 abgebildet. Vielleicht kommt hier<nuf eine Million Coceo-
lithcQ kaum «ine Coccospbaere. Der Bau dieser Kugeln ist sehr schwie-
rig zu untersuchen. Sie erscheinen ziemlich undurchsichtig und stark
lichtbrechend; und da sie so selten und schwer zu isoliren sind, so
kanu man nicht viel Versuche mit ihnen anstellen. Ich glaube jedoch,
dass die Coccosphaeren weiter nichts, als Aggregate von Discolithen
(vielleicht auch von Gyatholithen] sind, die orsl secundar durch Ver-
klebung und Verkittung von mehreren vorher getrennten Coccolilhen
entstanden sind. Die entgegengesetzte Ansicht vonSoRRv und Wallicii,
dass die Coccolilhen durch Zerbrechen von Coccosphaeren entstunden,
halte ich mit Hcxi-rt für unwahrscheinlich.
Beitrüge zur PUstideDtheorie. 51 7
Die einzelnen Kalkscheiben , welche in tangentialer Lagerung die
Coccosphaeren zusammensetzen (Fig. 50 — 53) , sind in ihrer Struetur
nieht von Disoolitben zu unterscheiden. Ich glaube an solchen Stücken,
weiche ich durch Zcrdrtlcken der Kugeln isolirie , alle fünf Theile der
Coccolithen wahrgenommen zu haben, auch die Granularzone, welche
HuxLSY vermisste. Für die Identität der einzelnen Coccosphaeren theile
mit den Coccolithen scheint mir auch der Umstand zu sprechen , dass
man alle verschiedenen Formen derDiscolithen in den ersteren wieder-
findet. Manche Coccosphären sind aus kreisrunden Discolithen zusam-
mengesetzt (Fig. 53] , andere aus ovalen oder elliptischen; und bei die-
sen letzteren sind die Discolithen bald mit einem einfachen Centralkorn
versehen (Fig. 50, 51) , bald mit einem doppelten (Fig. 53). Sehr be-
merkenswerth erscheint jedoch der Umstand, dass die Scheiben einer
und derselben Coccosphaere meistens (nicht immer!) von einerlei Art
sind. Wichtig für die Identität der Coccolithen und derCoocosphaeren-
stücke erscheint mir endlich die Thatsache, dass die ähnlichen (oder
identischen?) Concretionen der Myxobrachia ebenfalls zum Theil
Coccolithen , zum Theil Coccosphaeren sind.
5. Ursprung und Natur des Bathybius.
Die Thatsache, dass ungeheure Massen von nacktem lebendem Pro-
toplasma die grösseren Meerestiefen in ganz überwiegender Quantität
und unter ganz eigenthttmlichen Verhältnissen bedecken, regt zu so
zahlreichen Reflexionen an , dass man darüber ein Buch schreiben
könnte. Was ist dieser Bathybius für ein Organismus? Wovon lebt er?
Wie entstand er? Was wird aus ihm? Welche Bedeutung hat er für die
Oekonomie der Natur in diesen ungeheuren Abgründen , die ausserdem
nur von wenigen Protisten bewohnt werden?
Dass die Cytoden des Bathybius, weiche gcwissermaassen eine le-
bendige Schleimdecke auf dem Boden der Meeresabgründe bilden,
hier wirklich leben , geht aus allen eben beschriebenen Verhältnissen
mit Sicherheil hervor, und ist ausserdem im letzten Sommer von Car-
PBNTBR und Wtvillb Tbomso?! direct beobachtet worden. Dieselben
nahmen die charakteristischen Protoplasma ^Bewegungen an dem eben
heraufgeholten Bathybius wahr. »This mud was actually alive ; it stuck
togelher in lumps, as if there were white of eggmixed with it; and the
glairy mass proved, under the mieroscope, to be living sarcode>).a
Auch sind die wohl erhaltenen Formen der todten, in Weingeist aufbe-
1) Wyville Thomsov, On the depths of Ihe Sea: Ann. and Mag. of nat. hist.i
1869. Vol. IV, p. 4J4.
Sl 8 KrM) HiKcksl,
wahrten Protoplasnuistttclte ganz dieselben , wie die boknnnteii anioc-
boiden Forineo der HyKomycelen, Prolamoeben u. s. w.
Die vielleichl sidi zunächst aufdrängende Vermuthunf, dass die
fretOD Protoplasmaktjrper des Bathybius von irgend einem andern Oi^a-
Btsmiis hemüiren, wird bei eingehender Betracblung durch Nichts be-
stätigt. Wovon sollen sie beriiomnien? Der elnKigc Mitbewohner der
Meeresgründe , der hierbei noch in Frage kHme, würde die Globigerina
sei«. Docb ]ässl sich leineriei genetischer Zusaninienbang zirriscfaen
«tieserund dem Bathybivs nachweisen. WivaLG Thoxson nieinl, dass
die freien Proloplasmelager des Bathybius «eine An von diffusem My-
celinm der verschiedenen Spongien seienv, d^esich bisweilen in grösse-
ren MeeresLiefen vorfiiid«n. Aber diese letzteren sind vid zu seilen,
um jene H()s»en in erklüi'en , abgesdiea davon , dass jene Vermuthunt:
an sich sehr kllnslli<.-h und gezwungen erscheint. Wie wäre dann der
ZusammeDbang der Coccolit^n und Coccosphaeren mit den Bathybius-
Cytoden zu erklären? Auch enthalten ansehnliche Mengen des Tief-
grundscblamtnes oft keine Spur von Schwatainnadeln , die man doch
sonst in betrachtlicher Quantität finden mUsste,
Es bleibt demnach nichts übrig , als die von Buxlev ausgespro-
chene Ansicht, dass die Proloplasmakörper des Bathybius
selbststand ige lebende Organismen von denkbar einfnch-
sterArt seien, mtfgen nun die Coccolilhen und Cocco-
sphaeren daiu gehören oder nicbt. Jedenfalls wird dann Ba-
thybius nach Huklet's Vorgang zu meinen Honeren zu stellen sein,
und diese niederste Protisten k lasse mit einer höchst interessanten und
Wichligen neuen Gattung vermehre.
Dass die Coccolilben und Coccosphaeren als Ausscheidungen des
Bathybius - Protoplasma zu betrachten und also den Spicula der
Schwämme und Badiolarien zu vei^leiclien sind, wie HuxLti meint,
halte ich zwar für sehr wahrscheinlich, aber doch nicht für ganz sieber
ausgemacht. Ich habe nämlich in dem atlantischen Ocean bei den c;i-
narischen Inseln eine höchst sonderbare Radit^arienfonn, den Thalassi-
oollen nflchstverwandt, beobachtet, die sich durch den Besitz von Kalkspi-
cula Husieichnet, welche den Coccolilhen und Coccosphaeren jedenfalls
höchst ähnlich, wenn nicht mit diesen identisch sind, leb werde diese
otcrkwürdige Protistenform in dem folgenden Abschnitt als Myxo-
brachia nähf»- beschreiben (Vergl. Taf. XVIII).
Die schwierigste!) Rathsel bieten die Verhallnisse dei' Ernährung
und PorlpOanzung des Bathybius und der mit ihm gesellig lebenden
<>lobigerinen dar. Wo kommen alle diese Protoplasmaniengen her? Wie
erhallen sie sieb am Leben? Was wiixi aus ihnen? Den herkömmliehen
Beiträge itir Phistidmitbeone. 519
Anschauungen folgend, wcrdcB die Meisien sowohl den Baifaybius al^ -
die Giobigerincn für Tfaiore halten. Wenn dieselben aber als Thiere
leben und sich erndbren seilen , wo «lehmen sie das Protoplasjoia her,
das sie zu ihrer ErnArung braudien? Das Pflanzenreich, aus welchem
das Thierreiofa dircct oder indirect seine Proioplasma-NahruBg bezieht,
kommt hierbei gar nicht in Betradit; dcDB obgleidi die neueren Tief-
grund-Uniersuchungen dargethan haben , dass das ThiciM^eo tiefet*
hinabgeht, als man bisher glaubte, dass viele Thiere bis 3000 Fuas und
einzelne bis unter 5000 Fuss hinabgehen, so stinnnen doch alleBeobach*
ter darin tlberetn , dass das Pflanzenleben schon bei 4 000 Fuss höchst
spttrlicfa und bei 2000 Fuss Tiefe gHnzlich erloschen ist. Wenn nun a«ch
für jene Thiere die erforderliche Nahrungszufuhr aus den zahlreichen
aufgelösten organischen Stoffen angenommen werden kann , die bis in
jene Tiefe hinab im Meerwasser vertheilt vorkommen, so erscheint diese
Annahme doch kaum mehr möglich filr die ausgedehnten Abgründe des
offißnen Ooeans, die zwischen30,000und 30,000 Fass Tiefeerreichen. Und
was wird dann weiter aus dem BathytNus , selbst wenn seine Ernäh-
rung sidi so erklären .fiesse? Entsteht nicht kkr vieUeteht fortwährend
das Protoplasma durch Urzeugung? Hier stehen wir vor einer Reihe
von dunkeln Fragen, auf welche erst von späteren Untersuchungen Ant-
wort zu hoflbn ist.
S. Myzebraehia von Lanierola.
Hierzu Taf. XVlIl.
•
Die Coccoltthen und Coccosphaeren, welche in so ungeheuren Massen
den Boden der Meeresabgrttnde bedecken und so wesentlichen Antheil
an der Kreidebildung nehmen , sind bisher nodh nirgend anderswo an-
getroffen worden. Ein Zusammenhang derselben mit irgend einem an-
deren Organismus, als denCytoden des Bathybhis, war bisher völlig
unbekannt. Um so mehr scheint es gestattet, hierein zwar noch dunkles
aber jedenfalls sehr merkwürdiges Verhältoiss zu beschreiben, welches
ich im Februar 1867 auf der canarisohen Insel Lanserote beobachtete.
Ich fand dort nttmlieh Kalkkörperchen , welche den Goccolithen und
Coccosphaeren höchst ähnlich — wenn nicht identisch I — sind, einge-
bettet in den extracapsularen Sarcodekörper eines Radiolars, welche
den Tbalassicollen nächstverwandt ist.
Wenn man bei Windstille und glaUer See aus dem Hafen der Insel
Lanzerote (Puerto del Ar " ' '^'-«ecke weit binausrudert , so bo-
520 £rnst Haeckel,
merkt man bisweilen schon vom Boote aus an der Oberflciche schwim-
mend sonderbare farblose Gallertkörperchen von ungefähr einem hal-
ben Zoll Länge, welche bald die Form einer langgestreckten Keule haben
(Fig. 1,2), bald gewissen Echinodermenlarven ähnlich sehen (Fig. 3,
4). Die letzteren zeigen einen länglich -runden Körper, von welchem
eine Anzahl kegelförmiger schlanker Arme herabhängen. Jeder Arm
ist von einem gelben Axenstreifen durchzogen. Diese Streifen vereinigen
sich in einem gelben Flecke, welcher die Mitte der ovalen Gallertmassen
einnimmt. Durch die Axe der einfachen keulenförmigen Gallerimassen
geht nur ein gelber Streifen der Länge nach hindurch. Das untere
dtlnne Ende dieser letzteren und ebenso die Armspitzen der ersleren
Form sind trüb weisslich, undurchsichtig, mit einem Knopf besetzt.
Beim ersten Anblick weiss man nicht, was man aus diesen son-
derbaren Körpern machen soll. Bringt man dieselben jedoch unter das
Mikroskop, so erkennt man sofort, dass die gelben Streifen aus Massen
von gelben Zellen der Radiolarien zusammengesetzt sind , dass in der
Mitte eine Gentralkapsel liegt und dass von der Oberfläche der Gallert-
masse dichte Pseudopodienbündel ausstrahlen. Man weiss jetzt, dass
man ein Radiolar aus der Gruppe der ThalassicoUen vor sich hat, aber
durch seine sonderbaren Fortsätze ganz von der gewöhnlichen Form
abweichend. Wir wollen vorläufig dasselbe als Repräsentanten einer
besonderen Gattung, Myxobrachia (Schleimarm) betrachten, und
die vielarmige Form M.pluteus, die einarmige M. rhopalum nennen.
Um jeden Verdacht, dass die sonderbaren Formen Kunstproducte seien,
zu vermeiden, bemerke ich, dass sie mit der grössten Vorsicht, ohne
sie irgend zu berühren , mittelst eines geräumigen Glashafens von der
Oberfläche des Meeres geschöpft wurden , und sich darin mehrere Tage
lebendig erhielten. Sie schwammen beständig an der Oberfläche, in-
dem die abgerundete obere Seite des Körpers den Wasserspiegel (M.
bis N. Taf. XVIII.) berührte, während die Arme frei herabhingen.
Myxobrachia rhopalum (Fig. 4, S) ist eine keulenförmige Gal-
lertmasse, welche bald mehr birnförmig (Fig. 1), bald mehr langge-
streckt keulenförmig erscheint (Fig S). Das dicke Ende der Keule be-
rührt mit seiner Wölbung die Oberfläche des Wasserspiegels, während
das dünne Ende senkrecht herabhängt. Die beiden abgebildeten For-
men stellen zwei Extreme der Keulengestalt dar. Die gedrungene Form
(Fig. 1) war 8 Mm. lang, bei 6 Mm. grösster Breite. Die gestreckte
Form (Fig. 2) besass 1 4 Mm. Länge bei 5 Mm. grösster Breite.
Myxobrachia pluteus (Fig. 3—10) stimmt in den meisten we-
sentlichen Verhältnissen, namentlich im Bau der Gentralkapsel und der
diese umschliesende AI veolenhüUe ganz mltM. rhopalum ttbereinund
Beitrüge xnr PlABtidentheorie. 521
unterscheidet sich wesentlich nur dadurch, dass die Sarcode -Gallerte
sich nicht in einen herabhängenden Forlsatz oder Arm verlängert,
sondern in sechzehn Anne , welche ihr ein höchst sonderbares Aus-
sehen geben. Die langer gestreckte Form von M. pluteus (Fig. 3) ist
\2 Mm. lang und 6 Mm. breit; die flacher ausgebreitete Form (Fig. 4)
i.st ungefähr 8 Mm. breit und 6 Mm. lang.
Die kugeligeCentralkapsel (Fig.1 — 4c, Fig. 6] ist in beiden
Myxobrachiaformen von derselben Grösse und Zusammensetzung. Sie
hat einen Millimeter Durchmesser, ist ziemlich fest, ganz undurchsich-
tig und bei auffallendem Liebte schneeweiss gefiirbt. Bei schwacher
' Vergrösserung erscheint ihre Oberfläche sehr regelmässig von blutrot hen
Punkten besetzt. Die Membran der Centralkapsel ist sehr fest
und derb, 0,004 Mm. dick, structurlos, und dicht von sehr feinen ra-
dialen Porenkanälen durchsetzt.
ImCentrum der Centralkapsel liegt die ansehnliche Binnen blase
[Yesicula intim aj, deren Durchmesser ein Drittel von dem der er-
stei*en beträgt (Fig. öj. Diese Binnenblase zeigt ganz dieselbe eigen-
thttmliche Beschaffenheit, welche bis jetzt nur bei meiner Thalassi-
colla pelagica bekannt war (Radiolarien, p. 248, Taf. I, Fig. 5).
Der kugelige Mittelkörper der Binnenblase ist nämlich mit sehr zahlrei-
chen fingerförmigen Aussttilpungen besetzt, welche in radialer Richtung
von dem ersteren abstehen. Die Zahl dieser radialen Blindsäcke ist auf
ungefähr 100 (bei verschiedenen Individuen 80—120) zu schätzen, also
viel bedeutender, als bei Thalassi colla pelagica (30—40). Auch
sind die Blindsäcke viel länger, als bei letzterer, indem ihre Länge dem
Durchmesser des kugeligen Mittelkörpers gleichkommt, oder ihn sogar
noch Übertrifft. Die ganze Binnenblase sammt ihren fingerförmigen Aus-
stülpungen ist von einer eiweissartigen (?) Substanz erfüllt, welche
structurlos , zähflüssig , wachsähnlich , schwach lichtbrechend und von
gelblicher Farbe ist. Die Membran der Binnenblase ist sehr zart und
dünn , aber doch ziemlich fest.
Die Zwischenräume zwischen den Blindsäcken der Binnenblase sind
von zähflüssigem , trübkömigem Protoplasma erfüllt, das sich auch in
geringer Quantitjlt zwischen den kugeligen Zellen findet, die den haupt-
sächlichsten Inhaltsbestandlheil der Centralkapsel bilden. Diese Zellen
sind hier von zweierlei Art. Der äussere, peripherische Theil des Kap-
selrauras wird von sehr kleinen , hellen kugeligen Zellen einge-
nommen (Fig. 6 1, Fig. 12), welche mit den bei allen Radiolarien in
der Centralkapsel constant vorkommenden »wasserhellen, kugeligen
Bläschen« identisch sind (Radiolarien , S. 71). Dieselben sind echte,
kernhaltige ^.008 Mm. Durchmesser, mit klarem Inhalt^ von
S32 lernst ihlMkd,
ehier zarUa Membran umschlossen (Fig. 1%). Wahrscheinliob bfib«o
sie die forieulung von Sporen oder KeimkOniern. Weiter nach innen,
in der anmittelbaren Um^bimg der Binnenbtase, liegen stritt deren
drei bis viermal grössere , dunklere, stark tichlhrechende ku-
gelige ZelleD', welche einen grossen Nucleus und Nucleolus ein-
schliessen (Fig. 7). Oft sieht man sie in denTheilung begriflpn, paar-
weise oder zu vieren verbunden (Fig. 1 B^C). Endlich belindeVsiitb nocb
unmittelbar an der inneren Fkiche der Centralkapsel, ibrer Membran
fest anliegend und durch diesolbe hindurch schimmernd , eine grosse
Anzahl ven kleinen blutrothenOelkugeln (Fig. 6 Q. Diese haben
nur O,00fi Hm. Durchmesser und sind in ZwiscbenWume» von ß,l>49
Mm. sehr regelmässig vertheill, wodurch die zierliche rolhc t'unklirung
der Kapseloberfläcbe entsteht
Die Hauptmasse des Körpers wird bei beiden Myxobrachiaarton
von einer slnidurloBen Sarcode-Gallert (d) gebildet, deren ganze
glatte OberflUch« dicht mit sehr zahlreichen , feinen und kurzen Pseu-
dopodien bedeckt ist (e). Das Volum dieser gallertig aufgequollenen
Protoplasniamasse ist so bedeutend, wie man es bisher nur bei den Po-
lycyltarien (den Radiolacien mit zahlreichen Central kapseln) kannte.
Bei einem lebenden Honocyttarium (einem ßadiolar mit einfacher
Gentralkapsel) war eine so ansebnllche QuentitAt von Sarcodegallert bis
^tat noch nicht beobachtet. ExcenUlseli> in äem oberen Theile dieses
ziemlich festen und conBisteel«n SatlertkOrpers liegt die Gentralkapsel
[c). Sie ist rings umschlossen von einer voluminösen Hülle, gebildet
aus jenen sonderbaren heilen Blasen, die ich (1fi6S) in meiner Mono-
graphie der Badiolarien als extraoapsulare Alveolen beschrieben
habe (Fig. 1 — ia, Fig. &a). Dieselften erscheinen hier als kugelige
oder ellipsoide, oft auch' eifilrnrige Blasen , die kleineren von 0,1 Um.,
die grOssten von 1 — l'/jHm, Durohmesser. Sie scheinen aus einer
dünnen I^toplasmabttlle, dib einen Kern enthält und eine wassciij^e
Flüssigkeit umscbliesst, zu bestehen und demnach <len Foi-mweilh von
eehlen, kernhaltigen Zellen zu. haben. Vielleii^t ist der Vergleich die-
ses Alveolengewebes mit derjenigen grosszeUigenHodiricnlion des Binde-
gewebes, welche bei niederen Thieren (Würmern, Mollusken, Crusta-
«een) ala vBlasengewebea so verbreitet ist, nicht nnpassend. ÜieAlveo-
len bilden bei beiden Arten von Mysobrachia dicht zusanimengedrüngl
^ne bimförmige Masse, welche in ihrem dtinner, nach unten gekehrten
Ende die excentrische Cenlralkapsel umschliessl. Die OberQäcbe der
birnftfrmtgen Alveolenmasse, welche 4 Mm. laog , 3 Mm. breit ist, er-
schftint ganz scharf von der Sarcodegallert abgegrenzt, von welcher sie
rings umschlossen ist. Die Cenlralkapsel ist unten, io dem dUnnt-i>
AeitrUge Mr ^feaü^irtheorie. 523^
Eku1<0 der bimfOrmigen Alveolenhttlle , nur Yon einer dünnen Schicht
sehr kleiner Alveolen bedeckt^ während sich oberhalb derselben die
grossen Alyeolen zu einem dicken Haufen aufthctrmen (Fig. 4— 4d).
Rings um dieCentralkapsel, innerhalb der AlveolenhUlle und zwi-
schen deren Blasen zerstreut , liegt eine sehr grosse Menge von geH)en
Zellen und von Oelkugeln. Die extracapsularen Oelkugeln oder
Fetikugeln (/) sind im Ganzen bei den Radiolarien sehr selten zu finden.
Ich habe sie zuerst bei Collozoum pelagicum beschrieben (R^fNo-
hirien, p. 5^5; T»f. XXXII, Fig. 4j. Beide Formen von Myxobrachio
beailzen sie in grosser Menge, mindestens einige hundert. Es sind stark
laiQhtbrechende , farblose und structurlose Fettkugeln , alle von nahezu
gleicher 6r5sse (0,H8 — 0,024 Mm. Durchmesser}. Von den kleinsten
Alveolen, die diesett)e Grösse haben, unterscheiden sie sich auffallend
durch ihre viel stSf'kere Lichtbrechung. Sie sind so angeordnet, dass
sie von der oberen Pbtehe der Centralkapsel in radialen Reihen nach
oben hin ausstrahlen. Je näher der Centralkapsel , desto dichter ge^
drängt liegen dieOelko^ln in den radiafen^ Reihen, deren man zwischen
30 und 50 zählen kann; auf jede Reihe kommen 5— 10 Oelkugeln. Die
obere (von der Centralkapsel entfernte) Hälfle der Alveolen4)ütle ist frei
vo» Oelkugeln. Auch in der Saroodegallert sind die letzteren nicht zu
findenc
die extracfrp«ularen gelben Zellen (9) welche Amylumkör-
ner enthalten und welobe ungefähr halb se gross wie die Oelkugeln
sind (von 0^019 — 0^,015 Mm. Durchmesser) Hegen in dichten Haufen um
die Centralkapsel herum und strahlen von da reihenweise in dve Alveo-
lenhttille au&. Jedes Individuum von Myxobrachia enthalt mindestens
tausend, oft wohl mehr als zehntausend gelbe Zellen. Die gelben Zel-
len , welche mit den Protoplasmastrtfmen durch den Körper wandern,
beschränken sich zu Zeiten auf die AlveolenhUlle, in dev sie radiale
Streifen b«4den^(Fig. f) ; zu anderen Zeiten dagegen, und zwar gewöhn-
lich, erstreckt sieb beiM. rhopalum ein dicker Axenstreifen, weMier
aus hunderten von* gelben Zellen ztisammengesetzt Ist, aus der Alveo-^
lenhttlle in den Keulenstiel , in den langen Fortsatz der Saroedegallert
hinein, welcher nach unten frei hinabbängt (Fig. %). Ebenso läuft hei
M. pluteus ein* dicker, aus zahlneichen gelben Zellen zusammenge-
setzter Strang in der Axe jedes der sechzehn Arme bis zur Spitze
(Fig. 3,' 4). Die Vermehrung der gelben Zellen zeigt Fig. 4>1.
Der Safüodektfrper oder Aas e'xtpaeapsulare Protoplasma
bildet, wie bei athm Radiolarien, eine dicke Schleimschicht (Matrix),
welche unraittelfaar cüeCentfalkapsel umschliesst und von weicher zahl-
reiche Str«»n- *"*" co..««-^« oj^r Protoplasma ausstrahlen. Diese ver-
524 Erast Haeokel,
zweigen sich zwischen den Alveolen und treten schliesslich ander Aus-
senflache derAlveolenhülIe in die mächtige Sarcodegallert über, welche
die letztere umschliesst {d). Niemals bilden die Protoplasmafäden
zwischen den Alveolen die sonderbaren grossen Sarcodeplalten^ welche
die nahe verwandte Thalassicolla pelagica auszeichnen (Radio-
larien, S. 247, Taf. l, Fig. l). Die dicke Masse der Sa rcodegnllerl
{(l) j welche ungefähr die Consistenz eines massig derben Medusen-
schirms besitzt , erscheint structurlos , jedoch fein und dicht radial ge-
streift. Bei starker Yergrösserung erscheinen die strahlenden Streifen
BUS sehr kleinen SarcodeköiTichen zusammengesetzt. Die Sarcodegallert
besitzt äusserlich eine glatte Oberfläche, von welcher tausende von
sehr feinen und kurzen Pseudopodien (e) dichtgedrängt ausstrahlen.
Diese zeigten an den lebend im Glase gehaltenen Myxobrachien tage-
lang das Phänomen der Protoplasmabewegung, das Verästeln und
Verschmelzen der Fäden , die Kömchenbewegung etc. in sehr klarer
Weise.
Der sonderbarste und eigenthümlichste Körperlheil derMyxobrachia
sind die langen Arme, die Fortsätze der Sarcodegallert, von denen
einer beiM. rhopalum, sechzehn beiM. pluteus in das Wasser bin-
abhängen. Wie schon bemerkt, ist die Axe derselben von einem Strange
von dicht gedrängten gelben Zellen durchzogen, welche von derAlveo-
lenhülIe aus bis in die Spitze der Arme hineingehen. Am Ende der
letzteren befindet sich eine'knoptfürmige kugelige Anschwellung, welche
undurchsichtig und bei auffallendem Lichte weiss ist. Bei starker Ver-
grösserung ergiebt sich, dass dieser weisse Knopf aus sehr
zahlreichen (mindestens mehreren hundert) Kalkconcrementen
besteht, welche den Coccolithen und Coccosphaeren des
Bathybius höchst äh nlich, und vielleicht mit ihnen identisch
sind (Fig. 9, 10).
Bei Myxobrachia pluteus erhält der Körper durch die kuppei-
förmige Wölbung des oberen Theils , welcher den Wasserspiegel des
Meeres berührt und durch die regelmässige Vertheilung der sechzehn
herabhängenden Arme ein höchst sonderbares Ausseben, das sehr an
gewisse Echinodermenammen (Pluteus, Brachiolaria) erinnert (Fig.
3, 4). Die Form wechselte übrigens bei einem und demselben Indivi-.
duum im Laufe eines Tages mehrmals , indem der Körper vermöge sei-
ner Contractilität bald länger und schmäler (Fig. 3) , bald kürzer und
breiter wurde (Fig. 4). Dabei blieb jedoch während der beiden Tage,
an denen ich das Radlolar in. meinem Glase lebendig hielt, die Zahl,
Grösse und Beschaffenheit der sechzehn Arme unverändert. Diese letz-
teren waren dergestalt vertheilt , dass man durch den ganzen Körper
Beiträge znr Piastidentheorie. 525
zwei auf einander senkrechte Ebenen legen konnte, von denen jede den
Körper in zwei congruente Gegenstücke oder Äntimeren zerlegte. My-
xobrachia pluteus hat demnach die stereometrische Grundform der
Orthostauren oder der Rhombenpyramide (Generelle Morpho-
logie, I, S. 488). Die sechzehn Arme sind in der Weise vertheilt, dass
zwei bedeutend längere Arme in der Mitte parallel nebeneinander her-
abhängen. Die übrigen vierzehn Arme bilden zwei übereinander lie-
gende Gürtel, von denen der obere acht, der untere sechs Arme trägt.
Jeder Arm ist kegelförmig und am Ende mit einem Knopfe versehen.
Die zahlreichen gelben Zellen, welche von der Alveolenhulle ausgehend,
in Form eines centralen Axenstranges jeden Arm durchziehen, erschei-
nen gegen die Spitze bin dichter zusammengehäuft.
Die Concretionen von kohlensaure m Kalk, welche dicht
zusammengedrängt die knopffßrmige Anschwellung am Ende jedes Armes
von Myxobrachia pluteus, und ebenso die einfache untere An-
schwellung von M. rhopal um erfüllen, verdienen jedenfalls besondere
Aufmerksamkeit, mögen dieselben nun mit den Coccolithen und Gocco-
sphaeren des Bathybius identisch sein oder nicht. Zu meinem grossen
Bedauern kann ich diese wichtige Frage nichtentscheiden, da ich leider
keine Präparate von Myxobrachia mehr besitze und auf Lanzerote ver-
säumt habe dieselben zu messen und möglichst genau auf ihre Structur
zu untersuchen. Nach den mitgebrachten Zeichnungen (Fig. 8, 9, 1 0)
wird bei beiden Formen von Myxobrachia die grössere Hälfte der
Kalkkörperchen von Scheiben gebildet , welche den Coccolithen ganz
ähnlich sind (Fig. 9A—C) , die kleinere Hälfte dagegen von kugeligen
Conglomeraten solcher Scheiben , die die grösste Aehnlichkeit mit Coc-
cosphaeren zeigen (Fig. 40 fi— C). Unter den ersteren sind sowohl
kreisrunde (9 A) , als ovale Scheiben , und die letzteren theils mit ein-
fachem (9^) , theils mit doppeltem Cenlralkom (9 C). ImUebrigen lau-
fen die concentrischen Ringe ganz ähnlich wie bei den Coccolithen um
das Centralkom herum. Ob die Scheiben alle Monodisken waren
(wie die Discolithen des Bathybius) , oder ob auch Amphidis-
ken (wie dieCyatholithen) darunter vorkamen, habe ich leider fest-
zustellen versäumt. Die kugeligen Concretionen (Fig. 4 0) , welche den
Coccosphaeren höchst ähnlich waren, zeigten sich gleich diesen bald
aus wenigen (6 — 8) , bald aus zabhreichen (20—40) scheibenförmigen
Concretionen zusammengesetzt. Wenn man die beiderlei Bildungen
mit verdünnter Essigsäure oder Mineralsäuren behandelt, so bleibt
(ganz ebenso wie bei den Coccolithen und Coccosphaeren des Bathy-
bius) ein organischer Rückstand von derselben Form und Grösse zu-
rück , jedoch geschrumpft und unregelmässig.
Bd. V. 4.
526 Ernst Haeekel,
Was sind und was bedeuten nun diese r^thselhaften Kalkkörper-
chen in den canarischen Myxobrachien? Als ich dieselben auf Lanze-
rote untersuchte, glaubte ich sie als eine eigenthümliche Form von Spi-
cula deuten zu müssen , wie dergleichen bei so vielen anderen Badio-
larien (Thalassosphaeren und Sphaerozoen) voii^ommen. Allerdings
waren Kalkausscheidungen bei den Radiolarien bisher nicht nüt
Sicherheit bekannt. (Das angebliche kalkschalige Radiolar , wel<Aes
Alexander Stuart als Coscinosphaera ciiiosa beschrieben hai, ist
die lüngstbekannte Polythalamienform Globigerina). Indessen be-
steben auch nicht alle Radiolarien-Skelete aus Kieselerde. Femer finden
sich ähnliche Concretionen als Spicula beiThalassosphaera morum
(Radiolarien, S. S60). Freilich muss ich gestehen, dass ich jetzt etwas
zweifelhaft bin , ob jene Kalkspicula w irklich der Myxobradiia ange-
hören, und nicht vielmehr aus einem anderen Organismus aufgenommen
sind. Wnre das Letztere der Fall , so würde die regelmässige und auf-
fallende Gestalt derMyxobrachia pluteus schwer zu erkkirenseir..
Dafür , dass die Kalkconcremente mit der Nahrung aus einem an-
deren Organismus aufgenommen sind und möglicherweise erst in Folge
ihrer Ansammlung an bestimmten Körpersiellen die sonderbare Form
des Ganzen hervorgebracht haben, spricht vielleicht noch der Umstand,
dass bei Lanzerote ziemlich hHufig eine echte Thalassicolla (Radiolarien,
S. 246) vorkommt, welche in der Bildung der Ceniralkapsel und der
Alveolenhülle vollständige speciiisi'he Uebereinstimmung mit der Myxo-
brachia zeigt. Ich will dieselbe wegen der rotbpunktirten Gentralka|>-
sei Thalassicolla sanguinolenta nennen. Insbesondere ist die
Form der Bi^nenblase , der Inhalt der rothpunkiirien , milcbweiSBen
Centralkapsel , ferner der Mangel des extracapsularen Pigments, an
dessen Stelle in der Alveolenhülle die sonst so seltenen extracapsu -
laren Oelkugeln liegen , bei beiden Radiolarien ganz übereinstimmend.
Die sonderbaren Arme aber und die an ihren Enden befindliehen Knöpfe
mit Kalkconcretionen , welche den eigentlichen Charakter der Myxo-
brachia bilden, fehlen derThalassicolla sanguinolenta gänzlich.
Vielmehr ist hier der ganze Körper, vne bei den andei^en echten Tha-
lassicollen , eine regelmässige Kugel ohne alle Fortsätze und ohne Spi-
cula. Die Alveolenhülle umgiebt die Centralkapsel in Form einer con-
centrischen Kugel und die Pseudopodien, sowie die begleitenden radia-
len Streifen von gelben Zellen , ebenso die radialen Reihen von exlra-
capsularen Oelkugeln an der OberflXdie der Centralkapsel, strahlen
nach allen Richtungen hin gleichmässig aus. Da jedoch alle beobach-
teten Exemplare der Thalassicolla sanguinolenta kleiner als die aus-
nehmend grossen Myxobrachien waren , so wäre es immerhin möglich,
Beitrilge lus PiMtidentheorie. 527
ilass die ersteren die Jugendform der letzteren bilden , und dass die
Myxobrachia erst secundär, durcrf Entwickelung der Arrae und Bildung
der Spicula aus der TlialassicoHa entsteht.
Wenn die Kalkkörperchen derMyxobrachien wirklich mit denCoc-
colitben und Goccosphaeren identisch sein sollten (was jedenfalls noch des
Beweises bedarf) , so wird die räthselhafte Natur der letzteren dadurch
Dicht aufgeklart. Wie kommen sie an die Oberfläche des Meeres? Und
in welcher Beziehung stehen sie einerseits zu dem nur die Abgründe
bewohnenden Bathybius, andererseits zu den reia pelagischen Myxo-
bracbien? Dass die ungeheuren Massen der alle Abgründe bedeckenden
Cocooltthen- und Goccosphaeren-Myriaden weiter nichts seien , als die
Spicula von pelagischen Myxobrachien, welche nach deren Tode auf den
Meeresboden gesunken sind , ist wohl höchst unwahrscheinlich. Jede
weitere Speculation aber über den Zusammenhang und die Bedeutung
dieser sonderbaren Formen erscheint gegenwärtig verfrüht. Licht ist
erst von ferneren Beobachtungsreihen zu hoffen.
Wenn die Myxobrachia mit ihren sonderbaren Armen und Spicula-
knOpfen eine constante Badiolarienforro und nicht bloss eine zufällige
Bildung sein sollte , so würde sie eine besondere neue Gattung in der
Familie der GoUiden und in der Subfamilie derThalassosphaeriden bil-
den, mit folgendem Gattungscharakter : Myxobrachia: Gentralkapsel
kugelig , mit Binnenblase (Vesicula intima) . Der extracapsulare Sar-
codekörper in einen oder mehrere herabhängende armartige Portsätze
verlängert , deren kni^ffOrmige Enden Haufen von Kalkconcretionen
(Spicula) umschliessen. Die Gentralkapsel liegt excentrisch in der bim-
förmigen Alveolenhülle, welche nach dem oberen (den Armen entgegen-
gesetzten und kuppeiförmig gewölbten) Theiie des Saroodekörpers hin
kolbenförmig angeschwollen ist.
4> Ua Plaitiden und das Protoplasma der Blucopodon.
Eine d^r wesentlichsten Stützen für meine Piastidentheorie liefert
die höchst interessante und formenreiche Glasse der Wurzelfüsser oder
Rhizopoden. Ich verstehe hier diese Protistenelasse in demselben Um-
fange , in welchem ich sie 4 866 in der generellen Morphologie begrenzt
habe. Ich scheide also aus der Rhizopodenclasse aus die Moneren , die
Protoplasten oder Amoeboiden (Amoeben, Arcellen, Gregarinen etc.)
und die Myxomyceten. Dem»^**''** Ki^;Kpn als echte Rhizopoden übrig
35*
528 Brust Haeckel,
die beiden grossen Subclassen der Acyttarien. (Monothaianiien und
Polylhalamien) und der Radiolafien (Monocytlarien und Polycyt-
tarien), sowie auch die kleine, zwischen beiden Subclassen in derMiile
slehendeGruppeder Hello zoen (Actin osphaerium Eichhornii,
von Stein, C ystophrys Haeckeliana und C. oculea von Archer)
und deren Verwandte.
Die Veranlassung , das Verhältniss dieser echten Bhizopoden zur
Piastidentheorie hier noch besonders hervorzuheben , liegt für mich
einerseits darin, dass diese Protisten mir ganz besonders für das Vei-
ständniss meiner Theorie wichtig und lehrreich zu sein scheinen und
andererseits darin, dass ich gegenwärtig, der letzteren entspi'echend,
meine früher ausgesprochenen Ansichten über die Sarcode oder das
freie Protoplasma der Rhizopoden etwas modificiren muss.
Was zunächst diesen letzteren Punkt beirifR, so habe ich 1862 in
meiner Monographie der Radiolarien den Beweis zu führen gesucht,
dass das Protoplasma sämmtlicher Rhizopoden (sowohl der Radiolarien,
als derlieliozoen und Acyttarien) entstanden sei aus der Verachmelzung
von mehreren Zellen (1. c. p. 107, 165 etc.). Diese Auffassung befand
sich in voller Uebereinstimmung mit Max Schi ltze^s Protoplasmatheorie,
in welcher sich derselbe mit folgenden Worten über dieses Verhältniss
ausspricht : »Als nacktes , freies , contractiles Protoplasma deute ich die
contractile Substanz aller grösseren Rhizopoden. Ob sie aus einer Zeile
oder aus mehreren Zellen entstanden ist, bleibt zunächst gleichgültig.
Sie ist Protoplasma und damit ist ihr Wesen und ihr Ursprung
bezeichnet. — Man hat sie bisher Sarcode genannt. Wenn ich jedoch
vorschlage , sie von jetzt ab Protoplasma zu nennen , so liegt darin der
Triumph derZellen theo rie auch über diese niederstenorganischen
Gebilde ausgedrückt. . — Bei allen Protozoen , und das möchte ich für
charakteristisch halten , waltet wenigstens in gewissen Bezirken des
Körpers und behufs Erfüllung gewisser Functionen die Neigung der
Zellen vor, zu einer grösseren Protoplasma masse zu-
sammenzuschmelzen, in welcher dann nur die Zahl der persisti-
renden Kerne etwa noch den Ursprung der Masse aus Zellen an-
deutet.« (Max Schultzb, die Gattung Comuspira etc., p. 300).
Diese Auffassung der Rhizopoden -Sarcode ist zum Theil gewiss
richtig und gilt wahrscheinlich für alle jene Rhizopoden, deren Körper
wirklich aus echten Zellen, d. h. aus kernhaltigen Protoplasma-
klümpchen ganz oder theilweise besteht und also wahrscheinlich auch
aus einer echten Zelle hervorgeht. Solche Zellen finden sich in der cen-
tralen Körpermasse von Actinosphaerium. Solche echte Zellen
kommen aber auch im Körper aller ausgebildeten Radiolarien vor.
Beilrüge xur PUstidentbeorie, 529
AlsunzweifelhafteZellen desRadiolarienkörpers habe
ich schon in meiner Monographie (1863) eine Anzahl von verschiedenen
Formeleoienten nachgewiesen. Dahin gehören vor allen die merkwür-
digen , ausserhalb der .Centralkapsel befindlichen und an den Fäden
der extracapsularen Saroode fortbewegten gelben Zellen (I.e. p. 84),
über deren kürzlich von mir entdeckten Amylumgehalt der nächstfol-
gende Abschnitt nähere Angaben bringen wird. Dahin gehören ferner
die intracapsularen Pigmentzellen und Alveolenzellen (1. c. p. 77], die
centripetalen Zollgruppen von Physematiumu. s. w. Dagegen habe
ich mich damals über die Zellennatur der »kugeligen, wasser-
hellen Bläschen«, welche den wichtigsten und allein constanten
Inhaltsbestandtheil der Centralkapsel bilden , sehr vorsichtig und zu-
rückhaltend ausgesprochen (1. c. p. 71). Ich erklärte es zwar für »sehr
wahrscheinlich, dass sie in der That als Zellen, und zwar als zur
Fortpflanzung dienende Keime (Eier- oder Keimzellen) anzusehen sind«
und führte als Argument für ihre Zellennatur besonders ihre regel-
mässige Grösse und Vermehrung durch Theilung an. Indessen ver-
mochte ich doch den wichtigsten Beweis, die Erkenntniss des Zellcn-
kerns, damals nicht mit Sicherheit zu führen. Neuere Untersuchungen,
die ich mit Hülfe stärkerer Yergrösserungen und vielfacher mikroche-
mischer Versuche an lebenden Radiolarien auf der canarischen Insel
Lanzerote ausführte, haben jenen Beweis vollständig geführt. Insbe-
sondere eingehende Untersuchungen an verschiedenen Thalassicollen,
an der vorher beschriebenen Myxobrachia und an mehreren Arten
von Collozoum und Sphaerozoum haben mich vollständig von der
Anwesenheit eines genuinen Zellenkerns in jenen »Bläschen« überzeugt ^j .
Sowohl dieser Nucleus , als das umgebende wasserhelle , hyaline Pro-
toplasma des ganzen kugeligen Bläschenkörpers forben sich durch Car-
min intensiv roth , durch Jod dunkelgelb. Der Kern wird dunkler als
ilas Plasma gefärbt. Die in der Centralkapsel aller Radiolarien vorkom-
menden »kugeligen wasserhellen Bläschen« sind also in
derThatechteZellen. Meine schon 1 862 ausgesprochene Vermu-
thung, dass diese Zellen Fortpflanzungszellen seien, ist mir
zwar durch meine neueren canarischen Untersuchungen bis zur vollen
persönlichen Ueberzeugung wahrscheinlich geworden ; jedoch habe ich
leider den objectiven Beweis für diese subjective Ueberzeugung noch
nicht führen können , da auch meine neueren Bemühungen , die fast
ganz unbekannte Ontogenic der Radiolarien aufzuklären, resultatlos
4) Taf. XVllI, Flg. 4SI zeigt drei von '•— * »'»-*—« intracapsularen kugeligen
Zellen der Myxobrachia ; die grösseren s*
530 l'^riisi Haeckel,
geblieben sind. Das Wahrscheinlichste ist, dass jene in der Central-
kapsei enthaltenen Zellen Sporen sind, welche entweder innerhalb
derselben , oder nachdem sie durch Bersten- der Kapsel frei geworden
sind, sich durch wiederholte Theilung zu eiaetn vielzelligen Körper
entwickeln. Von den Zellen dieses letzteren und ihren Abkömmlingen
werden sich einige zu gelben Zellen, andere zu Pigmentzellen, andere
zu Sporen ausbilden , während noch andere wahrscheinlich durch völ-
lige Verschmelzung den Sarcodekörper oder das freie Protoplasma der
Radiolarien bilden werden. Bei Jugendformen von Radiolarien aus ver-
schiedenen Familien , insbesondere verschiedenen Acanthometren,
Acanthodesmiden und Sponguriden, welohe ich 1866 auf Lanzeroie
beobachtete, habe ich mich überzeugt, dass eine Centralkapsel noch
nicht existirt, dass der centrale Theil des Protoplasmakörpers aber den-
noch eine Anzahl von Zellen umschliesst. Die jugendlichen Ra-
diolarien, denen die Centralkapsel noch fehlt, sind also
morphologisch den Heliozoen (Actinosphaerium, Cysto-
ph.rysetc.) äquivalent.
Während es nun einerseits nicht zweifelhaft sein kann , dass im
Körper aller Radiolarien , sowohl innerhalb als ausserhalb der Central-
kapsel echle, kernhaltige Zellen vorkommen, so steht es andererseits
eben so fest, dass mindestens einem Theile der Acyttarien (Monothala-
mien und Polythalamien) , ja vielleicht allen Acyttarien echte
Zellen völlig fehlen. Wenn wir die Anwesenheit eines Kernes für
den Begriff der Zelle als unentbehrlich ansehen , so suchen wir bei den
meisten Acyttarien ganz vergeblich nach solchen. Allerdings finden sieh
in der Sarcode oder dem freien Protoplasma bei einigen Formen von
Gromia und Gl obige rina, sowie bei einigen anderen Acyttarien
rundliche granulirte Körperchen , welche gewöhnlichen Zellenkemen
sehr ähnlich sehen. Allein abgesehen davon , dass die wahre Nucleus-
natur dieser »Kerne« noch nicht näher untersucht und sicher bewiesen
ist , müssen wir auf der anderen Seite die Thatsaohe hervorheben, dass
bei der grossen Mehrzahl der Acyttarien keine Spur von solchen »Ker-
nena im Protoplasma zu finden ist. Dasselbe erscheint entweder voll-
kommen homogen und structurlos , wie bei Protogenes , oder es be-
ginnt sich in eine differente Rinden- und Markschicht zu sondern.
Echte Zellenkerne oder Nuclci kon^men dabei nirgends zum Vorschein.
Auch in derOntogenie der Acyttarien, soweit man diese bis jetzt kennt,
ist von Kernen, und mithin von Zellen, nirgends die Rede. Die Poly-
thalamien, welche die Hauptmasse, der Acyttarien bilden, scheinen sich
in der einfachsten Weise durch Sporenbildung fortzupflanzen, indem
einzelne kleine Stückchen ihres homogenen Plasmaleibes sich von dem
Beiträge lur FlastidcDtheorie. 53 1
umgebenden Protoplasma sondern und (oft noch innQrhalh des Muller-
leibes] zu neuen Individuen entwickeln. Diese Koimkörncr oder Sporen
sind aber auch kernlose Cytoden, keine kernhaltigen Zellen.
Da nun der Protoplasmakörper aller oder doch der meisten Acyt-
tarien (sowohl Monolhalamien als Polythalamien) zu keiner Zeit ihres
Lebens Kerne enthält, so kann weder von einer »Zusammensetzunga
desselben aus Zellen die Rede sein , noch dürfen wir sagen , derselbe
sei »durch Verschmelzung von Zellen entstanden«. Dieser Satz gilt so-
wohl in ontogenetischer, als in phylogenetischer Beziehung. Sowie der
individuelle Sarcodekörper der Äcyllarien nicht »durch Verschmelzung
von Zellen entstandena ist, so ist auch diese ganze Abtheilung von Rhi-
zopoden nicht aus einer oder mehreren Zellen hervorgegangen. Viel-
mehr haben wir es hier überall nur mit Cytoden, mit kernlosen Plasti-
den zu thun. Phylogenetisch betrachtet sind demnach die
Acyttarien auf der primitiven Stufe einfacher Cytoden
oder Cellinen stehen geblieben und repräsentiren somit den ur-
sprünglichen Stamm der Rhizopodenclasse. Erst später können aus
ihnen durch Differenzirung von Kernen im Protoplasma , also durch
wirkliche Zellenbildung, die höheren Rhizopoden entstanden sein. Unter
diesen bilden aber noch heute die Heliozoen (Actinosphaerium,
C ystophry s etc.) eine vortrefflich vermittelnde Uebergangsstufe zu den
echten Radiolarien, die sich durch den Besitz der Centralkapsel so we-
sentlich auszeichnen.
Für die Systematik der Rhizopoden ergeben sich hieraus folgende
Reflexionen: DaskünstlicheSystem, welches eine streng logische
Classification erstrebt, muss die Acyttarien (wenigstens die grosse Mehr-
zahl der Monolhalamien und Polythalamien) von den übrigen Rhizopoden
trennen und mit den Moneren vereinigen , weil ihr Protoplasma keine
Kerne enthält, also auch nicht aus » Zellen a zusammengesetzt ist ; da-
gegen würden hiemach die Heliozoen und Radiolarien , als wirklich
zeili[;e Organismen, mit den ebenfalls zelligen Myxomyceten verbunden
werden können. Jedoch entsteht hierbei die Schwierigkeit, dass das
freie Plasmodium der Myxomyceten späterhin kernlos ist, obwohl die
Sporen echte , kernhaltige Zellen darstellen. Der kernhaltige Proto-
plasmakörper, welcher hier wirklich durch Verschmelzung echter Zellen
entstanden ist, geht später, durch Verlust der Kerne in einen homo-
genen Sarcodeleib über, welcher, streng morphologisch betrachtet,
keinen Zellencomplex mehr darstellt, sondern einen Cytodcncomplex,
oder genauer : einen »Dyscylodencomplex« (s. oben S. 499; .
Das natürliche System der Rhizq)odon dagegen, welches eine
wahre genealogischeClassificationerstrebt f "^^^^incs-
532 ^">^^ IJuckel,
wegs logisch die Charaktere der Gruppen feststellen irniss!) «ird im-
merhin, auf Grund der sonstigen nahen VerwandtschatubeKiehungen,
diu cylodigen Acyttarien mit den xelligen Heliozoen und Radiotsrii-n in
derselben Classe vereinigt lassen können und die ersloren einfach als
die früheren phyletischenEntwickelungsKuslände der letzteren betrach-
ten. Die Stufenleiter, welche von den Acyttarien aufwärt« durch die
Heliozoen zu den Radiolarien empor steigt, stellt eine phylogenetische
Forlschrittsreihe dar.
5) Amylnm in dsn gelben Zellen der Kadloliuien.
Als ich im Laufe des letzten Herbstes meine Badiolariensammlung
durchmusterte, um womüglich noch einiges Genauere über die Be-
schaffenheit der Zellen im Körper dieser Prolisten feslzustellen, wurde
ich nicht wenig durch die ganz unerwartete Entdeckung überrascht,
dass die sonderbaren extracapsularcn »gelben Zcllena derselben
Stärkemehlkitrner enthalten. Als ich namlicb Radiolarien aus ver-
schiedenen Familien mit Jodlösung behandelte, um das ProtnpiRsma
der Zellen in den Centralkapseln gelb zu färben, wurden zu meinen)
Erstaunen die gelben Zellen ausserhalb derCentralkapael dunkel violett-
blau gefärbt und die nun vorgenommenen Versuche mit anderen Hea-
gentien ergaben, dass der Inhalt dieserZellen sich auch in jeder anderen
Beziehung wie echtes Stärkemehl verhall.
Die exlracapsularen »gelben ZelEene der Badiolarien habe ich in
meiner Monographie derselben ausführlich beschrieben und durch Ab-
bildungen erläutert']. Sie linden sich conslanl bei allen ausgebildeten
Badiolarien, mit Ausnahme der Acanthomelriden, und liegen stets
ausserhalb der Centralkapsel. Hier ßndet man sie bald unmilletbar an
deräusserenOberflachederCentralkapsel, eingeschlossen in die Schleini-
schicht der »Malrixa, welche die letztere umhüllt, bald weiter ausser-
halb an den Pseudopodien , die von diesem Sarcodemutlerboden aus-
strahlen. Durch die strOmenden Bewegungen, welche in der Sarcode
oder dem Protoplasma der lebenden Radiolarien bestandig staltlinden,
werden die gelben Zellen passiv mit fortgerissen, und linden sich daher
() Haecml, BadioIarieD p. 8* — 87. Vergl. die Abbildungen der Eelben Zellen
von ThalBSsicoIlB {Tal. I. Fig 3, Taf. 11. Fig. 3) , von ThalBSSOSphaera (Tat. XU,
Fig. 11, vonRhizospbaera (Taf. XXV, Fig. (, 8), von Sphaeroioum (Taf. XXXIll,
Fig.«. 4|, voDCollospbaera [Tar XXXIV, Fig. 3, S) und von Collozoum (Inf. XXXV,
Fig, 8, <4-U).
Beiträge xur Piastidentheorie. 533
in der mannichfaltifiisten Weise ionerhalb der Strahlenzone, die durch
die Pseudopodien gebildet wird, zerstreut.
Die Zahl und Grösse der gelben Zellen ist bei den verschiedenen
Radiolarien sehr wechselnd , und auch bei einem und demselben Indi-
viduum zu verschiedenen Zeiten verschie^den. Bisweilen ist jede einzelne
Centralkapsel von mehr als hundert gelben Zellen umgeben , während
andermale nur zwei bis fünf, oder selbst nur eine einzige sich findet. Die
grössten haben 0,085, die kleinsten 0,005 Mm. Durchmesser. Der ge-
wöhnliche Durchmesser beträgt zwischen 0,008 und 0,018 Mm. Die
Form der gelben Zellen ist meistens rein kugelig , seltener abgeplattet
oder ellipsoid verlängert (Taf. XVIII. Fig. 44). Die derbe Membran der
kugeligen Zellen umschliesst einen festflüssigen Protoplasmakörper von
ziemlicher Consistenz, der sich durch constant gelbe Färbung auszeichnet.
Das Gelb variirt von blassem Schwefelgelb bis zu dunkelm Braungelb,
ist aber meistens lebhaft citrongelb oder goldgelb Das' gelbe Proto-
plasma umschliesst einen Zellenken}, dessen Durchmesser gewöhnlich
die Hälfte oder ein Drittel des Zellendurchmessers beträgt. Der Kern
ist ein scharf contourirtes , helles, gewöhnlich kugeliges Körperchen,
welches oft noch einen deutlichen Nucleolus enthält. Neben dem Kern
findet sich in dem Protoplasma der gelben Zellen eine gewisse Anzahl
von Kömern, meistens 3 — 6 grössere und 80 — 30 kleinere Gra-
nula. Die grössten Kömer übertreffen bisweilen den Kem an Durch-
messer und erreichen ungefähr die Hälfte des Zellendurchmessers. Die
Form dieser Granula ist verschieden, bald kugelig, bald scheibenförmig,
bald unregelmässig rundlich oder vieleckig. J. MCllbr beschrieb schon
\ 855 diese »äusserst kleinen Kömchen« und erklärte dieselben für die
Ursache der gelben Farbe. In meiner Monographie bin ich dieser An-
nahme gefolgt (p. 85), fügte jedoch hinzu : »dass ausser den gelben Pig-
mentkömchen auch der übrige flüssige Zelleninhalt (das Protoplasma)
noch (gelb) geftirbt sei, habe ich bisweilen mit Bestimmtheit ermitteln
können.« (p. 86). Durch meine neueren Untersuchungen bin ich zu der
Ansicht gelangt, dass die gelbe Färbung nicht von den Kömern her-
rührt, sondem auf Rechnung einer gelben Pigmentlösung zu setzen ist,
welche das ganze Protoplasma der Zellen durchtränkt.
Dass die gelben Zellen der Radiolarien echte Zellen im strengsten
histologischen Wortsinne sind , und zwar von einer Haut umschlossene
kernhaltige Zellen , darüber kann nicht der geringste Zweifel obwalten.
Auch sind dieselben von allen Beobachtern der Radiolarien als solche
anerkannt, mit einziger Ausnahme von Albxandei Stuait, welcher die-
selben »eher als Kerne zu betrachten aeneif^t ist«. Diese Differenz erklärt
sich sehr einfach darar >ine gelben Zellen gesehen
534 • Ernst llAeckel,
hat. Denn das Radiolar (Coscinosphaera ciliosa], vod welchem er die-
selben beschreibt, ist kein Radiolar, sondern ein Polythalamiiun ^).
Nichts beweist sicherer die unzweifelhafte Zellennatur der gelben
Zellen, als ihre jederzeit leicht zu beobachtende Fortpflanzung,
welche schon von Johannes Müller und später von mir ausführlich be-
schrieben worden ist (1. c. p. 86). Man kann fast an jedem Radiolar
neben den einfachen gelben Zellen solche antreffen, die in Theilung be-
griffen sind. Zuerst zerfällt der Kern in zwei Stücke , dann das Proto-
plasma. Noch innerhalb der Mutterzellen umgiebt sich jede der beiden
kugeligen Tocbterzellen mit einer Membran und wird dann frei, ind^ni
die Haut der Mutterzelle gesprengt wird. Nicht selten sah ich a«ch vier
Tochterzellen in einer Mutterzelle (vergl. Taf. XVIII, Fig. IIA — C, ferner
meine Monographie, Taf. XXXIII, Fig. 8; Taf. XXXV, Fig. 44—13).
Wenn man die gelben Zellen der Radiolarien mit carminsaurem
Ammoniak behandelt , so förbt sich der ganze Inhalt der kugeligen Zei-
len lebhaft roth , jedoch der Kern viel intensiver als das Protoplasma.
Wenn man aber dann die gefärbten Zellen in Wasser zerdrückt, so sieht
man, dass die den Kern umgebenden Körner, die angeblichen »Pig-
mentkörner« sich nicht durch das Carmin gefärbt haben. Der Nucleus
tritt auch durch Essigsäure deutlich hervor. Auch in allen übrigen
Reactionen verhält sich Kern und Protoplasma der gelben Zellen , wie
bei jeder gewöhnlichen Zelle. Nur der gelbe Farbstoff, welcher an dem
Protoplasma zu haften scheint , bedingt gewisse Eigenthümlichkeiten.
Durch concentrirte Minaralsäuren wird derselbe blass grünlich gelb.
Ganz eigeuthümlich ist das Verhalten der gelben Zellen gegen Jod.
Schon 1 855 gab Johannbs Müller an , dass die gelben Zellen durch Jod
intensiv gelbbraun oder dunkelbraun gefärbt werden , im Gegensatz zu
den »Nestern« (Centralkapseln) , deren Inhalt durch Jod heller oder
dunkler gelb wird. Er fand ferner , dass Jod und Schwefelsäure, oder
Jod und Salzsäure die Färbung der gelben Zellen in ein intensives
Schwarzbraun verwandelt, während die Centralkapseln dadurch nicht
dunkler werden. Setzet man dann aber kaustisches Kali oder Natron
hinzu, so werden die gelben Zellen ganz hell, farblos und durchsichtig.
Wird nun wieder das Alkali durch Schwefelsäure oder Salzsäure neu-
tralisirt, und nochmals Jod zugesetzt, so tritt wiederum die intensiv
4) Die von Stuart (Zeitechr. f. w. Z. 4S66. XVi, p. 828; Taf. XVIII) in F^. 3
und 8 abgebildote Form von Coscinosphaera ist die längst bekannte, mit feinen
Kalkstacbeln besetzte Globigerina echinoides, welche in grossen Mengen an
der Oberfläche des Mittelmeers schwimmt; die in Fig. 4 abgebildete Form ist die
abgelöste letzte Kammer derselben (Orbnlinaechinoides). Natürlich hat sie
keine Centralkapsel. Die aDgpbtichen »gelben Kerne« sindfHgmentkönier.
Beitrage %nr Plastideiiibeorie. 535
dunkelbraune oder schwarzbraune Färbung ein. Wie schon Müller
fand, kann man diese abwechselnde Behandlung der gelben Zollen
mit Alkalien , welche sie entfärben , und mit Jod und Schwefelsäure,
welche sie schwärzlich rdrben, mehrmals wiederholen.
Ich habe die Versuche Müllbr's an den lebenden Radiolarien, welche
ich in den Jahren 1856 — 1867 in Nizza, Neapel, Messina und auf der
canariscben Insel Lanzerote untersuchte , vielfach wiederiiolt und be-
stätigt gefunden. Jedoch fiel mir schon damals auf, dass die Färbung
der gelben Zellen durch Jod und Schwefelsäure häufig nicht »intensiv
dunkelbraun oder schwarzbraun « , sondern vielmehr violettbraun, rein
violett, oder selbst violeltblau erschien. Aber im HinblidL auf die sehr
geringe Grösse des Objectes wagte ich nicht, daraus auf einen Gehalt
an Amylum oder Gellulose zu schliessen.
Als ich nun im letzten Herbste mit stärkeren Yergrässerungen, als
mir früher zu Gebote standen, (mit Objectivsystemen vonZsiss und von
Hartnagk, die ein klares Bild noch bei einer Yergrösserung von 700 bis
1 000 geben) wiederum die gelben Zellen der Radiolarien untersuchte,
kam ich zu der sicheren Ueberzeugung, dass die gelben Zellen
wirklich echtes Amylum enthalten, oderdoch eine diesem ganz
nahe siehende , geformte , stickstofffreie KohlenstofiVerbindung.
Die Radiolarien, an denen ich diese histologischen Untersuchungen
anstellte, waren von mir theils in Messina, theils in Arrecife (auf der
canariscben Insel Lanzerote) gesammelt und gehörten folgenden Species
an : ThalassicoUa pelagica (Monographie der Radiolarien, Taf. I) T. nu-
cleata (Taf. III, Fig. 1 —5) , Coilozoum inerme (Taf. XXXV) , Sphaero-
zoumitalicum, S. spinulosum, S. ovodimare, S. punctatum (Taf. XXXIII),
RhaphidoBOum acuferum (Taf. XXXH, Fig. 9, 10) und Collosphaera
Huxleyi (Taf. XXXIV). Alle diese Radiolarien gehären zu jenen Grup-
pen , die sich wegeii der besonderen Grösse ihrer gelben Zellen vor-
züglich für diese Untersuchung eignen, und da das Resultat der Unter-
suchung bei allen Arten dasselbe war, kann ich dasselbe, ohne auf die
einzelnen Specios einzugehen , kurz in Folgendem zusammenfassen.
Voraussohicken muss ich , dass alle untersuchten Radiolarien in
Liquor conservativus aufbewahrt waren , und ihre feineren histologi-
schen Eigenthümlichkeiten darin trefiFlich erhalten hatten. Dieser Liquor,
aus zwei Theilen Kochsalz, einem Theil Alaun und einer geringen Spur
Sublimat zusammengesetzt, hatte vielleicht insofern chemisch ändernd
auf die Präparate eingewirkt, als darin der Sublimat, wie gewöhnlich,
sich zersetzt hatte, und somit wahrscheinlich eine sehr geringe Quan-
lität Salzsäure frei geworden war. Auch war möglicherweise etwas
Alaun z^" h eine Spur Schwefelsäure frei geworden.
5^6 Ernst HHerkel.
Sobald ich nun ein in dieser Flüssigkeit conservirles Baiiolar mit
einem Tropfen Joditisung (Jod in Jodkalium gelöst) bohandell bri einer
Vergrtissening von mindestens 700 unter dasHtkroskop brachte, \^'urde
ich stets von einer intensiv blauen Färbung der gelben Zellen tiber-
zeugt. Das Blau war ganz reines Dunkelblau, und wie beiden ver-
schiedenen Modifiea Honen des Amyluni bald mehr indigo-, bald mehr
violettblau, rOihlich blau oder schwarzblau. Die Fiirbung haftete
ganz deutlich nur an den im Protoplasma liegenden ge-
formten Ebrnern, welcheJonANNEsHüLLER und ich selbsl früher für
gelbe Pigmentkffrner gehalten halten. Das Protoplasma selbsl, souie
der Zellenkern waren durch das Jod intensiv gelb gefcirbl, wie sich be-
sonders deutlich beim ZenlrUckcn der Zellen zeigte. Innerhalb der
Zelle wurde der gelbe Kern meist ganz durch die blauen Kftmer
verdeckt. Je zahlreicher und grösser die im Protoplasma liegenden
Kömer waren , je mehr sie den Zellenraum erfülllen, desto intensiver
schwarzblau war die ganzeZelle. An jungen Zellen, welche blo&seines
oder ein paar kleine K&mer enthielten , wurden bloss diese blau ge-
färbt, und die tlbrige Zelle gelb.
Die blaue Färbung der gelben Zellen trat unmittelbar nach dem
Zusatz der Joditfsung ein, und zwar ganz ebenso, wenn vorher Säuren
eingewirkt hatten, als wenn dies nicht der Fall gewesen war. Auch
der nacbherige Zusatz von Schwefelsaure, Saizsciuro, Essigsüuro, ver-
änderte die blaue, durch Jod allein hervorgerufene Färbung nicht.
Dii> Central kapseln wurden bei derselben Behandlung intensiv goldgelb
gefärbt. Beim Zerdrücken derselben zeigte es sich, dass die grossecen-
trale »Oelkugeiu , welche bei den Collozoen , Sphaerozoen, Collosphae-
ren u. s. w. in der Mitte derCenlralkapsel liegt, farblos geblieben war,
und dass die. intensiv gelbe Färbung bloss von den kugeligen oder po-
lycdrischen Zellen herrührte, die rings um die centrale Oelkugcl den
Kapselraum erfüllen, und die ich vorher als die wahrscheinlichen Spo-
ren der Badiolarien in Anspruch genommen habe.
Die dunkelblaue Färbung der gelben Zellen durchJod verschwand
sofort nach Zusatz kaustischer Alkalien. Sobald das Kali oder Natron
eingewirkt hatte, quoll die gelbe Zelle beträchtlich auf, und woirde
ganz hell, farblos und durchsichtig. Die Umrisse der deutlich aufge-
quollenen Kürner waren dann als feine Linien noch sichtbar. Wenn
ich das Alkali durch eine Säure (Schwefelsäure, Salzsäure oder Essig-
saure] neutralisirle , und dann wieder einen Tropfen Jod zusetzte, so
trat sofort wieder die intensiv blaue Färbung der gelben Zellen ein.
Dieselbe erfolgte aber ebenso, wenn ich das Alkali durch reichliche.''
Abspülen mit Wasser von dem Präparate entfernt halte, und rfni'«
Beitrüge xor PUstideiitheorie. 537
einen Tropfen Jodldsung hinzusetzte. Die blaue Färbung trat ebenso
wieder ein , wenn ich Jodldsung in grossem Ueberschuss zu dem Al-
kalipraparate gesetzt hatte. Die abwechselnde Färbung durch Jodldsung
und Entfärbung durch Alkali konnte ich drei bis vier Mal wiederholen,
ehe die gelben Zellen mit ihrem Inhalte zerstört wurden.
In allen diesen Beziehungen verhielten sich die Kdrner in den gel-
ben Zellen der Radiolarien genau wie echteAmylumkörner. Auch
in allen übrigen chemischen Beziehungen konnte ich nicht den gering-
sten Unterschied auffinden. ZurControlle stellte ich bei jedem Versuche
mit den gelben Zellen einen parallelen Versuch mit verschiedenen Sor-
ten von Stärkemehlktfrnem an und erhielt in allen Fällen genau dasselbe
Resultat. Auch die wiederholte Entfärbung durch Alkali und Blaufär-
bung durch Jod erfolgte bei den gelben Zellen und bei den vegetabili-
schen Amylumproben genau in derselben Zeit und in derselben Weise.
Ich kann demnach nicht den geringsten Zweifel mehr darüber hegen,
dass die geformten Körner in den gelben Zellen derRadio-
larien aus einer Substanz bestehen, die nicht von dem
Amylum der Pflanzen unterscheidbar ist.
Die abweichenden Angaben , die Johannes Müller und ich selbst
früher über die Jodreaction der gelben Zellen gemacht haben , erklären
sich , wie ich jetzt glaube, einfach daraus, dass wir bei unseren frühe-
i*en Untersuchungen zu schwache Vergrösserungeu anwendeten. An
den lebenden Radiolarien verdeckte bei nicht hinreichend starker Ver-
grOsserung die intensiv gelbe Färbung des Protoplasma die durch Jod
erfolgte blaue Färbung der darin versteckten Kömer. Das dunkelgelbe
Protoplasma zusammen mit dem violetten Blau der Körner gab eine dun-
kelbraune oder schwärzlichbraune Färbung. Auch bei den kürzlich von
mir untersuchten Präparaten aus Liquor conservativus tritt die blaue
Farbe erst bei. 400 maliger Vergrösserung deutlich hervor, und wird um
so klarer und reiner, je stärker die Vergrösserung wird, und je mehr sich
die rein blauen Kömer von dem umhüllenden gelben Protoplasma ab-
heben. Bei so kleinen Körpern , wie es die Amylumkörner der gelben
Zellen sind, ist dieser Umstand von grosser Wichtigkeit. Bei einer Ver-
grösserung von nui* 300 und darunter erscheinen die gelben Zellen nach
Jodfärbung gewöhnlich schwärzlich, weil das Violettblau der Kömer
mit dem Dunkelgelb des Protoplasma und desNucleus zusammenwirkt.
Vielleicht tritt aber die blaue Farbe an den in Liquor aufbewahrten
Präparaten auch desshalb deutlicher hervor, weil durch den Liquor die
natürliche gelbe Pigmentirung des Protoplasma vernichtet wird. An
allen Liquorpräparaten erscheinen die gelben Zellen entweder ganz
farblos, oder nur ganz schwach gelblich gefärbt. Wahrscheinlich ist
538 EtQBt Bneckrl,
diese Entfärbung der Wirkung des Alnun , vjelleidit auch einer Spur
von freier Snlisäui-e zuzuschreiben. Jedenfalls erleichtert sie das Her-
vortreten der blauen Jodreaclion.
In dieser Weise erklärt sich, wie ich glaube, die abweichende Ad-
giibe, welche JoHiKNiis Mullbh zuerst von der Jodreaction der gcllieD
Zellen machte, und welcher ich in meiner Monographie nicht zu wider-
sprechen wagte, trotzdem mir schon damals hiluGg der Farbenton der
durch Jod sehr dunkel oder fast schwürzlich gefürbten gelben Zellen
eher blau statt braun zu sein schien. Will man diese Erklttruui: nicht
gel.ten lassen , so mllsste man annehmen , dass die Substanz der Gra-
nula in den gelben Zellen durch die mehrjülirigo Aufbewahrung in Li-
quor conservativus erst in Amyluni umgewandelt worden sei. Diese
Annahme scheint mh- aber wenig Vertrauen zu verdienen, und man
würde auch dann noch annehmen müssen, dass jene KörnersubsinnK
BUB einer dem Stärkemehl sehr nahe stehenden Verbindung lieslebe,
die sich durch Jod allein braun oder gelb filrbe , ähnlich dem Inulin der
Pflanzen. Die Spur von freier Salzsaure (aus zersetztem Sublimat ent-
standen), oder von fi-eier Schwefelsäure (aus zci'HetzU>ui Alaun i^ntslan-
den], die mi^icherweise in dem Liquor conservativus vorhanden c,e-
wesen wäre, mUasle dann genügt hüben, jene amyloidcRlsmersubstanz
in wirkliches Amylum überzuführen.
Es entsteht nun die Frage, wie dieser sonderbare Fund von Amy-
lum in Radiolarienzelkn physiologisch und s\stematisch zu verweithen
ist. Dass die gelben Zellen zu dem Organismus der ßadiolarien gehfi-
i-en , und dass die Starkekörner sich in den golben Zellen erat gebildet
haben, kaDu nicht zweifelhaft sein. Von aussen können sie in die von
einer derben Membran fest umschlossenen Zellen nicht hinein gelantü
sein. Sie müssen also Produote des SlolTwetJisels eben dieser Zellen
selbst sein. Und dass dieselben jedenfalls irgend eine bedeutende ptn-
siologisohe Halle im Organismus dieser Pmtisien spielen müssen, scheiol
ebensowohl aus ihrer allgemeinen Verbreitung bei allen Itadiolarien,
wie aus ihrem massenhaften Entstehen und Vci'gehen hervorzugehen.
WeDU man erwfigt, welche hohe physiologische Bedeutung, be-
träditliche Anhüufung und allgeoieino Verbreitung de^m Amylum im
PDanzenorganismus sukommt, und wenn man andrerseits bedenkt, wie
selten, spSriicb und bedeutungslos sein Vorkommen im Thierküiper ist,
so konnte man wohl geneigt sein, in dem massenhaften Vorkommt'ii
von Stttrke bei den Badiolarien einen Charakter zu finden , der ihren
systematischen Platz im Protisten reiche von der aninialen Grenzmaritc
eutEemt und der vegetabilen Grenzmarke nithert. Obgleich gewiss an
sich die blosse fredudimi grosser Amylumnicngcn nichts fUr die vcge
Beiträge lar PlMtidetttbeorie. 539
tabilisehe Natur eines Organismus beweist ( — so wenig als der Gel-
lulosemantel der Tunicaten oder das Chlorophyll der Hydra viiidis — )
so darf man doch andrerseits nicht vergessen , dass ein solcher chemi-
scher Yegetabiliencharakter bei einer zweifelhaften Protistengruppe ein
ganK anderes Gewicht besitzt, wie bei einer unzweifelhaften Thier-
gruppe. Jedenfalls wird dadurch bei den Radiolarien die Existenz von
wichtigen Vorgängen des Stoffwechsels und der Ernährung dargethan,
welche im Pflanzenreich fast allgemein verbreitet sind, im Thierreich
sehr selten eder fast nie vorkommen. Und dabei ist femer noch zu be-
denken, dass dieQuantitüt des Amyluro, das in den gelben Zel-
len der Radidarien sich bildet, in vielen Fällen höchst beträcht-
lich ist. Bei manchen Tbalassicollen , Collozoen und Sphaerozoen, wo
auf eine einzelne Gentralkapsel mehr als hundert gelbe Zueilen kommen,
und wo die Gentralkapsel selbst weniger als hundert, und viel kleinere
Zellen einschliesst, wird das gesatnmte Volum des Amylum, das darin
abgelagert ist , grosser sein , als das ganze übrige Volum des Körpers.
Mehr als dieHälftedes ganzen Radiolarienorganismus
wird in diesen Fällen aus Stärkemehl bestehenl
Leider sind nun zur Zeit die Mittel zur Lösung dieses Räthsels nur
sehr ungenügend. Die eigentliche physiologische Bedeutung der son-
derbaren gelben Zellen , die unter allen ProiisAen nur den Radiolarien
zukommen , war uns bis heute noch so gut wie unbekannt. Johanhbs
MöLum hatte antenglicb die Vermuthung geäussert, dass die gelben
Zellen bei der Fortpflanzung betheiligt, und entweder Sporen oder
Keime von jungen »Nestern« (Centralkapseln) seien. Später zeigte er
selbst , dass diese Annahme unhaltbar sei , wagte jedoch keine andere
Vermuthung über ihre Bedeutung auszusprechen. Nur der Curiosität
halber mag hier beiläufig ein possierlicher Einfall von Alexander Stuart
erwähnt werden, »dass das Aufsteigen und Niedersinken der Radiola-
rien im Meere auf plötzlichem Ortswechsel der gelben Körper beruht,
die bald nach aussen auf die Pseudopodien treten , bald in das Innere
des Weichkörpers sich zurückziehen« 1 1 Diese physikalische Theorie
lässt sich nur mit derjenigenMünc hbausen's vergleichen, der siph an
seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen wollte ; sie schliesst sich
den übrigen Ideen und Angaben Stuarts würdig an.
In meiner Monographie der Radiolarien hatte ich zu zeigen ver-
sucht, dass die* einz%e physiologische Function der gelben Zellen , von
der man sich eine einigennaassen klare Vorstellung bilden könne, auf
dem Gebiete der Ernährung oder des Stoffwechsels liegen müsse. Aus
dem massenhaften Entstehen • Mer gelben Zellen, aus ihrer
lebhaften Fortpflanzung un ' ^n Verhalten glaubte ich
540 ^nst HMekel)
auf eine sehr kurze Lebensdauer derselben schliessen zu können , und
knüpfte daran weiter die Vennutbung, dass die gelben Zellen nsecer-
nirende Zellena seien, gewissermaassen freie Leberzellen oder einzellige
Verdauungsdrusen , deren durch Bersten der Membran frei werdender
Saft zur Auflösung der aufgenommenen Nahrung durch die Sarcode mitr-
wirkt (1. c. p. 437j. Auch jetzt noch scheint mir diese Hypothese, in
Ermangelung einer besseren , nicht ganz zu verwerfen , wenn sie auch
noch wesentlich zu modificiren sein dürfte. Jedenfalls hat die Ent-
deckung des Amylum meine Behauptung, dass die eigentliche physio-
logische Bedeutung der gelben Zellen im Gebiete der Ernährung zu su-
chen sei , nur bestätigt. Es wird dabei nicht unpassend sein , an die
grosse Rolle zu erinnern , welche das Stärkemehl bei der Emährungs-
thätigkeit der Pflanzen spielt.
Bekanntlich wird das Amylum im Pflanzenorganismus als einer der
wichtigsten Reserve Stoffe betrachtet, als ein überschüssiges Pro-
duct des Stofiwechsels , welches in den Pflanzenzellen abgelagert und
aufgespeichert wird, um später bei gelegener Zeit wieder gelöst und als
Baumaterial für die Cellulosemembranen etc. verwendet zu werden. Da
jedoch die letzteren im Radiolarienorganismus fehlen und auch sonstige
Theile desselben nicht bekannt sind, für deren Aufbau die aufge-
speicherten Amylumkömer als Reservematerial unmittelbar verwendet
werden könnten, so muss die specielle Erforschung der Rolle, welche
das Stärkemehl in den gelben Zellen bei der Ernährung derRadiolarien
spielt , künftigen Untersuchungen überlassen bleiben.
6) Die Identität der Fümmerbewegung and der amoeboidon Proto-
plaimabewegong.
Gelegentlicli der Untersuchungen über lebende Kalkscbwämnie,
welche ich im August und September 1869 bei Bergen an der norwe-
gischen Küste anstellte, gelang es mir, die unmittelbare Verwandlung
von flimmernden Epithelialzellen in amoeboide Zellen nachzuweisen,
und somit ein histologisches Desiderat zu erfüllen, welches durch die
Untersuchungen der letzten Jahre immer mehr in den Vordergiiind ge-
drängt worden war. Die neueren physiologischen Untersuchungen über
die Flimmerbewegung, vor allen die sehr ausführliche und vortreffliche
Arbeit von Dr. Wilhelm Engelhann ') , femer namentlich die früheren
4) Th. W. EngslmanNi über die FlimmerbeweguDg. Vergl. diese Zeitschrift
4868, Vol. IV, p. 324, und namentlicb p. 470—478.
Beitrüge rar Plasiidentheorie. 541
*
ÜDtersuchuDgen von Dr. M . Roth ^) haben die nahen Beziehungen cter
Flimmerbe^egung zu der amoeboiden Bewegung immer stärker her-
vorgehoben und dargethan , dass (entgegengesetzt den früheren An-
nahmen) in physiologischer Beziehung die Flimmerbewegung der amoe-
boiden Bewegung näher steht, als der Muskelbewegung.
Die frühere Annahme , dass die Flimmerhaare äusserlich der »Zel-
lenmembrana aufgesetzt , oder als Auswüchse der letzteren zu beteach-
ten seien, darf jetzt als ganz beseitigt angesehen werden. Viele (viel-
leicht die meisten) Flimmerzellen sind nackte, membranlose Zellen.
Die flimmernden Fortsätze der Zelle, seien dieselben eine einfache Geissei
oder mehrfache Gilien, sind stets directe Fortsetzungen des Protoplasma
der Zellen , und man sieht daher mit Recht die Flimmerbewegung als
eine Fdge der Contractilität an , die dem Protoplasma und seinen un-
mittdbaren Fortsetzungen innewohnt, ledoch gilt es in der Histologie
noch nicht als empirisch bewiesen, dass wirklidi die Flimmerzellen
aus contractilen Zellen sich entwickeln. Roth sagt in seinen Untersu-
chungen : »Es wäre nun noch , was mir bisher nicht mit Sicherheit hat
gelingen wollen, der Nachweis zu liefern, dass die Flimmerzellen aus
contractilen Zellen sich entwickeln.« Audi Engblhaniv sieht die Identi-
tät der Flimmerbewegung und derProloplasms^wegung noch nicht als
erwiesen an , obwohl er die nahe Beziehung zwischen beiden Bewe-
gnngsfermen ausdrücklich hervorhebt.
Beobachtungen über versdiiedene niedere Organismen , die ich im
Laufe der letzten Jahre angestellt habe', führten mich schon seit län-
gerer Zeit zu der Annahme, dass die Fiimmerplastiden unmit-
telbar durch Yerwandlung von amoeboiden Piastiden
entstehen, und dass mithin die Flimmerbewegung nur
eine bestimmte Modification der amoeboiden Protoplas-
mabewegungist. Gegenwärtig kann ich für diese Annahme den
directen Beweis liefern. Bei der nachfolgenden Darlegung dieses Ver-
hältnisses erscheint es von Wichtigkeit, die beiden Modificationen
der Flimmerbewegung zu unterscheiden, welche ich «n meinem
Aufsatze über den Organismus der Schwämme eto. ^) als Geisseibe-
wegung und Flimmerbewegung getrennt habe. Denn es ist sicher
nicht ohne tiefere Bedeutung, dass in einer ganzen grossen Classe
von Thieren , wie die der Schwämme ist , alles Flimmerepithel aus-
4) Dr. M. Roth, über einige Beiiebungen desFlimmereiilthels cnm eonti^ctUen
Protoplasma. Vircbown ' '^4.
5) lUicsel , tlber Schwämme etc. (Diese Zeitschrift Bd.
V, p. sis).
Bd.V.4. .16
542 ' lernst Haeckel,
schliesslich Geisseiepithel (E. flagellatum) ist, dessen Piastiden
nur je eine Geissei, ein isolirtes Flimmerhaar, tragen, während bei den
meisten höheren Thieren das Wimperepithel (E. ciliatum) vor-
herrscht , dessen Piastiden mit je zwei oder mehreren Flimmerhaaren,
Cilien oder Wimpern versehen sind. Wenn auch die Flimmerbewegung
bei den einhaarigen Geisselplastiden und bei den vielhaarigen Wimper-
plastiden wesentlich identisch ist, so sind doch beide Formen als zwei
mehr oder minder bedeutende Modificationen eines gemeinsamen Grund-
phänomens (Motus vibratoriusj aufzufassen.
Die Verwandlung der Geisseibewegung (Motus flagel-
laris) in die amoeboideProtoplasmabewegung habe ich in
der einfachsten Form bei Pr otom y xa aura ntia ca nachgewiesen ^) ;
sie lässt sich ebenso bei der norwegischen P r o to monas Huxleyi ver-
folgen. Die nackten Protoplasmakugeln, welche bei diesen Honeren aus
dem Zerfall des encystirten kugeligen Sarcodekörpers hervorgehen und
welche nachher als »Schwärmsporen« die Fortpflanzung vermitteln, ver-
wandeln sich noch innerhalb der Kapsel in eine bimförmige Cytode
mit einem langen haarfeinen Fortsatze. Nachdem sie die Cyste ver-
lassen haben, schwärmen sie eine Zeit lang, wie ein Flagellat, mittelst
jener Geissei umher, und gehen dann unmittelbar in amoeboide Gyto-
den tlber. Die Geissei wird nur noch als amoeboider Fortsatz benutzt
und gleichzeitig treten andere ähnliche spitze Fortsätze an verschiedenen
Stellen des kleinen Plasmastückes hervor.
Die betreffenden »Schwärmsporen« der Protomyxa sind kernlose
Piastiden, also Cytoden. Aber auch bei Schwärmsporen, welche einen
Kern enthalten , also echte Zellen sind , ist derselbe Uebergang aus der
Geisselzelle in die amoeboide Zelle schon mehrfach constatirt worden.
Die erste und älteste, hierher gehörige Beobachtung dürfte von De Bart
herrühren, welcher in seiner Monographie der Myxomyceten^) aus-
führlich beschreibt, wie die nackten Fortpflanzungszellen dieser Pro-
tisten aus ihrer Sporenhülle in Gestalt einfacher Amoeben hervorschlü—
pfen , dann eine Geissei hervorstrecken und in Form von Flagellaten
umherschwimmen, und endlich in den Amoebenzustand zurückkehren,
um darin zu verharren. In gleicher Weise sah Glark einzelne Flagel-
laten ihre Geissei einziehen und sich nach Art der Amoeben durch Aus-
strecken und Einziehen formveränderlicher Fortsätze umherbewegen ^).
4) ÜAECKEL, Monographie der Moneren. S. 85.
2) De Bart, Die Mycetozoen, Zeitsclir. für wiss. Zool. 4860,. Vol. X, S. 455.
3) James Clark, Spongiae ciliatae as Infusoria Fiagellata. Memoirs of Boston
Society nat. bist. 4867, Taf. IX, X.
BeilrAge zur PlHslideiitbeorie. 543
Man könnte diesen BeobaclUungcn entgegenhalten , dass es sich
hier um einzelne, selbstständig lebende Piastiden handle, nicht aber um
solche Piastiden, wie sie schichtenweis aggregirt in den Flimmerepithelien
auftreten. Um so wichtiger war es mir, durch die Eingangs erwähnte
Beobachtung feststellen zu können , dass auch an flimmernden £pithe-
lialzellen dieselbe Umwandlung vorkommt. Als ich nämlich bei Bergen
an lebenden Kalkschwämmen aus der Gattung Leucosolenia, Bowbr-
BANK (Grantia, Libberkühn) das Flimmerepithel untersuchte, welches
dort in Form einer einzigen Lage von Geisseizellen das ernährende Ca-
nalsystem auskleidet , bemerkte ich zu meiner grossen Ueberraschung,
dass die durch Zerzupfen isolirten Geisselzellen nach einiger Zeit in
amoeboide Zellen übergingen. Die lange und ziemlich starke Geissei,
welche jede Epithelialzelle desEntoderm trägt, und welche sich wäh-
rend des Lebens lebhaft schlagend bewegt, fing zuerst an, langsamer
zu schwingen. Allmählich wurden die Schwingungen sehr langsam und
ganz unregelmässig. Zugleich wurde der geisseiförmige Fortsatz des
Protoplasma kürzer und dicker , und endlich ganz in den nackten Pro-
toplasmaleib der Zelle zurückgezogen. Gleichzeitig aber begann der
letztere, eine grössere Zahl (bis gegen 20 und 30] von spitzen, geissel-
artigen Fortsätzen an verschiedenen Stellen seiner Oberfläche hervor-
zustrecken , diese bewegten sich langsam und wurden wieder eingezo-
gen , während neue spitze Fortsätze an anderen Stellen der Oberfläche
vortraten. Kurz, die einzelnen Zellen nahmen die Form einer kleinen
Amoeba radiosa an und krochen in dieser wechselnder Form lange Zeit
umher. Aber auch bei solchen Epithelialzellen der Leucosolenia , die
noch reihenweis oder selbst in grösseren Lappen zusammenhingen, war
gleicherweise der Uebergang der Flimmerzellen in amoeboide Zellen
wahrzunehmen , nur mit dem Unterschiede , dass hier die amoeboiden
Fortsätze nur an den beiden freien Flächen des Lappens oder Streifens
hervortraten, der durch die noch fest zusammenhängenden, zahlreichen
Geisseizellen gebildet wurde. Ich werde diesen Vorgang in meiner, in
der Ausführung begrifTenen )>Monographie derKalkschwämme<( ausführ-
lich beschreiben und durch Abbildungen erläutern.
Die Entstehung der Wim per beweg ung (Motus ciliaris)
aus der amoeboiden Protoplasma bcwegung habe ich zuerst
1866 auf der canarischen Insel Lanzerote beobachtet, und zwar an den
Furchungskugeln , welche aus der Eifurchung der Siphonophoren her-
vorgehen ^j. Diejenigen Zellen, welche an der Oberfläche des kugeligen.
4) Haeckel, Entiwickelungsgeschichte der Siphonophoren. Utrecht, 1869. Taf.
VI, Fig. 36; Taf. XIV, Flg, 98.
«
86»
544 GniBt Hnecktl,
aus gleichartigen nackl«n Furchungszellen zusaintnengGselzU?n Zellen-
haufens sich befinden , beginnen nach Art der Amoehcn zahlreiche,
formwechselnde Fortsätze hervorzustreclten. Diese langsam sich bewe-
genden Fortsätze der nackten amoeboiden Zellen gehen naciiber direcl
in schlagende Wimpern oder Cilien über. So Überzieht sich der ganze
kugelige ZeUenbaufen mit einem znsammeDhängenden Flimmerepithel.
Jede Bpithelialzelle tragt mehrere Flimmerhaare, und diese gehen un-
mittelbar aus den stumpfen fingerförmigen Fortsätzen der amoeboiden
Zellen hervor.
Die gleiche Beobachtung habe ich im letzten Herbste an einer sehr
sonderbaren neuen Protistenform gemacht, die ich demnächst unter dem
Namen Magospbaera planula beschreiben werde. Dieselbe reprS-
sentirt eine neue selbstslSndige Gruppe des Protistenretchs. Die mit vie-
len Wimpern bedeckten birnfOrmigen Zellen , welche den ki^eligen
Körper zusammensetzen , gehen aus amoeboiden Zellen hervor und
geben nachher selbst wieder in amoeboide Zellen tiber.
7) Sie Plaitidentheorie und di« KohlaaitoflUlwuris.
Die lebhaften Kämpfe , welche gegenwärtig noch über die Enl^
wickelungstheorie geführt werden, und welche frilher oder später mit
ihrem vollständigen Siege endigen müssen , bringen schon jetzt den
grossen Vortheil, dass die flach gewordene empirische Naturforschung
sich wieder zu vertiefen und auf die philosophischen Grundfragen der
Erkenntniss zurückzugehen beginnt. Unter diesen Grundfragen drängt
sich eine immer mehr in den Vordergrund. Giebt es nur eine Natur,
in iei überall und jederzeit dieselben nothwendigen Gesetze gelten?
Oder giebt es zwei grundverschiedene Naturgebiete , eine anorganische
Natur, in welcher nolhwendig wirkende Ursachen (Causae efficien-
tes) ausschliesslich tbätig sind, und eine organische Natur, in welcher
daneben noch zweckmässig scbaSende Ursachen [Causae finales)
wirksam sind? Die Anhänger der Entwickelungstheorie bejahen die
erslere, die Gegner die letztere Frage. Die erstcren stützen sich auf
ihre monistische und mechanische , die letzteren auf ihre dualistiscbe
und teleologische Naluranschauung.
Die Gründe , welche für die monistische Ansicht von der Einheit
der Natur sprechen, habe ich im zweiten Buche meiner generellen Mor-
phologie , und namentlich im fünften Kapitel derselben ausführlich be-
handelt. Als letzte Gonsequenz der universalen Entwit^elungsUieoTie,
Beitrüge sor Plastidentbeorie. 545
•
durch welche zugleich jene monistische Weltanschauung auf das Festeste
gestutzt wird , habe ich daselbst meine Rohlenstofilheorie begründet.
Da diese KohlensloStheorie eben so entschiedenen Beifall bei den An-
hängern derEntwickelungslehre^], als lebhaften Widerspruch bei ihren
Gegnern^ hervorgerufen hat, sei es mir hier schliesslich gestattet,
nochmals auf den innigen Zusammenhang hinzuweisen , welcher zwi-
schen der Kohlenstoflftheorie und der Piastidentheorie besieht. Es ge-
nügt dafür die denkende Erwägung der nachstehenden Sätze, für welche
die ausführlichen Beweise im zweiten und dritten Buche der generellen
Morphologie enthalten sind.
4. Die Formen der Organismen und ihrer Organe entstehen sämmt-
lich durch ihre Lebensthätigkeit und zwar allein durch die Wechsiiel-
Wirkung, welche zwischen zwei physiologischen Functionen, der Ver-
erbung und Anpassung* besteht.
2. Die Vererbung ist eine Theilerscheinung der Fortpflanzung , die
Anpassung dagegen eine Theilerscheinung der Ernährung der Organis-
men. Diese beiden physiologischen Functionen beruhen aber , wie alle
anderen Lebensthätigkeiten , auf der Beschaffenheit der physiologischen
Organe, durch welche sie bewirkt werden.
3. Die physiologischen Organe des Organismus sind entweder ein-
fache Piastiden (Cytoden oder Zellen) ;, oder sie sind Theile von Plasti-
den (z. B. Kerne der Zellen, Flimmerhasre des Protoplasma) ; oder sie
sind aus mehreren Piastiden zusammengesetzt (die grcAse Mehrzahl der
Organe). In allen diesen Fällen sind die Formen und Leistungen der
Organe auf die Formen und Leistungen der Piastiden zurückzuführen.
i. Die Piastiden sind entweder einfache Cytoden (structurlose und
kernlose Protoplasmastücke) oder Zellen ; da aber auch diese letzteren
durch Differenzirung des inneren Kerns und des äusseren Protoplasma
ursprünglich erst aus Cytoden entstanden sind , so lassen sich die For-
men und Lebenseigenschaften aller Piastiden auf einfachste Cytoden als
ihren ersten Ausgangspunkt zurückführen.
5. Die einfachsten Cytoden , aus denen alle übrigen Piastiden (Cy-
toden und Zellen) erst durch Vererbung und Anpassung entstanden
sind, bestehen wesentlich und noth wendig aus weiter nichts, als
aus einem Stückchen von structurloseft) Protoplasma, einer eiweiss-
artigen, stickstofihaltigen Kohlenstoffverbindung ; alle übrigen Bestand-
4) GsoftG Seidliti, die Bildangsgesetze der Vogeleier in histologischer und ge-
netischer Beziehung, und das Transmutationsgesetz der Organisnaen. Leipzig 4869.
1) HEiifftiCH BuFP (Professor der Physik in Giessen) : Ueber den Entwickelungs-
gang der Naturwissenschaflen. GiesseOi 4868.
546 • l^ri^st Haeckel,
theile derPlastiden sind erst secundär aus dem Protoplasma entslaDden
(»Plasmaproducte«) .
6. Die einfachsten selbstständigen Organismen, welche wir kennen,
und welche überhaupt denkbar sind, die Moneren, bestehen in derThat
zeitlebens aus weiter nichts , als aus einer einfachsten Cytode , einem
structurlosen Sttlckchen Protoplasma ; und da sie dennoch alle Lebens-
thätigkeiten (Ernährung , Fortpflanzung , Reizbarkeit, Bewegung) voll-
ziehen, sind diese letzteren hier offenbar an das structurlose Protoplasma
gebunden.
7. Das Protoplasma oder der Bildungsstoff (auch Zellstoff oder Ur-
schleim genannt) ist daher die einzige materielle Grundlage, an welche
ausnahmslos und nothwendig alte sogenannten »Lebenserscheinungen«
ursprünglich geknüpft sind ; will man die letzteren als Ausfluss einer
besonderen , von dem Protoplasma unabhängigen Lebenskraft ansehen,
so muss man nothwendig auch die physikalischen und chemischen
Eigenschaften jedes anorganischen Naturkörpers als Ausfluss einer be-
sonderen, nicht an seinen Stoff gebundenen Kraft ansehen.
8. Das Protoplasma aller Piastiden ist, gleich allen anderen eiweiss-
artigen oder Protelfnkörpern, aus vier unzerlegbaren Elementen, Koh-
lenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff zusammengesetzt, zu
denen sich häuflg, jedoch nicht immer, als fünftes Element noch Schwe-
fel gesellt.
9. Die Formen und Lebenseigenschaften des Protoplasma sind be-
dingt durch die eigen thümliche Art und Weise , in welcher sich der
Kohlenstoff mit den drei oder vier anderen genannten Elementen zu ver-
wickelten Verbindungen zusammengesetzt hat ; kohlenstofflose Verbin-
dungen zeigen niemals jene eigenthümlichen chemischen und physikali-
schen Eigenschaften , welche nur einem Theile der Köhlenstoffverbin-
düngen (den sogenannten )X)rganischen Verbindungen«) ausschliesslich
zukommen ; desshalb hat auch die neuere Chemie die Bezeichnung »or-
ganische Verbindungen« durch die tiefer greifende Bezeichnung: »Koh-
lenstoffsrerbindungen« ersetzt.
10. Der Kohlenstoff ist demnach dasjenige Element, derjenige un-
zerlegbare Grundstoff, welcher vermöge seiner eigenthümlichen physi-
kalischen und chemischen Eigenschaften den verschiedenen Kohlenstoflf-
verbindungen ihren eigenthümlichen »organischen« Charakter aufprägt
und insbesondere das Protoplasma, den »Lebensstoff« , zur i;uateriellen
Basis aller Lebenserscheinungen gestaltet.
1 1 . Die eigenthümlichen Eigenschaften , welche das Protoplasma
und die davon secundär abgeleiteten übrigen Gewebe und Körperbe—
standtheile der Organismen auszeichnen , insbesondere ihr festüüssiger
Beiträge iiir Plast ideiitbeorie. 547
Aggregatzustand, ihr beständiger Stoffwechsel (einerseits die leichte
Zersetzbarkeit , andererseits die leichte Assimilationsfähigkeit) und ihre
übrigen »Lebenseigenschaftena sind also einzig und allein durch die
eigenthUmlichen und verwickelten Verhältnisse bedingt, in denen sich
unter gewissen Umständen der Kohlenstoff mit den übrigen Elementen
zu verbinden vermag.
12. Die sämmtlichen Eigenschaften der Organismen sind demnach
in letzter Instanz durch die physikalischen und chemischen Eigenschaf-
ten des Kohlenstoffs und der mit ihm verbundenen übrigen Elemente
ebenso mit Noth wendigkeit bedingt, wie die sämmtlichen Eigenschaften
jedes Salzes und jeder anorganischen Verbindung durch die physika-
lischen und chemischen Eigenschaften der sie zusammensetzenden Ele-
mente bedingt sind.
Wenn diese zwölf, in der generellen Morphologie ausführlich be-
gründeten Thesen richtig sind, wenn demnach mit Hülfe meiner Plasti-
dentheorie und KohlenstoflFtheorie die »Einheit der Natur« erwiesen
ist, so dürfte damit, wie Sbidlitz ([1. c.) hervorgehoben hat, ein Fort-
schritt zu dem hohen Endziel der Biologie gethan sein , welches Carl
Ernst Barr in seiner klassischen Entwickelungsgeschichte der Thiere
mit den Worten bezeichnet hat : »Die Palme aber vnrd der Glückliche
erringen , dem es vorbehalten ist , die bildenden Kräfte des thierischen
Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltr-
ganzen zurückzuführen.«
Il
EiUänuig der AbbUdongeii.
BHtbybius Haeckelii (Huilet).
Fig. 1—11. Protoplasmakörper vod Bathybius.
Fig. 4. Eine grossere Cylode von Bathybius mit eiogebetlelen Coccolithen. Das
Protoplasma, welches viele Disco litheu und Cyalholithen enthalt, bildet ein
Netzwert mit breiten SlrHngen. Vergr. 700.
Flg. 9. Bine grössere Cytode von Bathybius, ohne eingelagerte CeccoIiUien. Das
Protoplasma , welches viele sehr kleine unrcgelmflssige EOrpercben enl-
ball, bildet ein Netrwerk mit breiten Strängen: Vei^. 700.
Fig. 3. Eine kleinere Cytode von Bathybius ohne eingelagerte Coccolithen. Das
I>rotoplBSn}a bildet ein weitmaschiges Netzwerk mit schmalen StraDgcn.
Vergr. 700.
Fig. 4. Eine grossere Cylode von Bathybius, deren eingelagerte Coccolithen durch
SHure gelost sind. In dem Protoplasma , das ein Netzwerk mit breiten
Strängen bildet, sind viele unlösliche kleine Körperchen zurUckgebliet>en.
Vei^r. 700.
Fig. 5. Eine kleinere Cytode von Bathybius, deren Proloplasmaktirner theilweise
durch ausgeschwitzte Gallertmasse (■Hatriia) getrennt sind. Vergr. 700.
Fig, 6. Eine kleinere Cytode mit verzweigten Fortsätzen [Pseudopodien). Vgr. 700.
I'lp. 7. Eine ainoeben förmige grosse Cytode, welche zwei Cyatholithco unt-
schliesst.
Fig. S. Bine amoebenfOrmige kleine Cytode, welche einen kreisrunden Discolithon
umscbliesst. Vergr. 700.
Fi^. s. Ein Kaufen von grosseren Protop lasmakOrnem. Vergr. tOOO.
VHi. to. Ein Haufen von kleineren Protoplasma körn ern. Vergr. 1000.
Fip. t1. Eine nackte Protoplasmakugel (Plasraosphaera). Vergr, 10OO.
Fi(;. 1 j. Eine encystirte Protoplasma kugel (Plasmocystis). Vergr 4O0D.
Fig. 13— IS. Kraismnde Discolithen'aul verschiedenen Entwickelungsstufen , von
der Flache gesehen. Vergr. 1000.
Fig. 16— iO. Elliptische Discolithcn auf verschiedenen Entwickelungsstufen, von
der Fische gesehen, Vei^r. 1O0O,
Fig. 1 1 — 19. Kreisrunde und elliptische Discolithen , von dem schmalen Rande ge-
sehen. Vergr. lOOO.
Fig. 5v — St. Coccosphaeren. Vergr. 1000.
Beiträge wr Piastidentheorie. 549
Fig. 54—60. Cyatholithen , halb voa der Fläche (der kleineren Scheibe), halb von
dem Rande gesehen , auf der grösseren Scheibe schräg aufliegend. Vergr.
1000.
Fig. 64 — 69. Cyatholiihen, von dem schmalen Rande gesehen. Vergr. 4000. .
Fig. 70—74. Cyatholithen , von der Fläche- der unteren, kreisrunden, kleineren
Scheibe gesehen. Vergr. 4000.
I Fig. 72—80. Cyatholithen, Ton der Fläche der oberen, elliptischen, grösseren
Scheibe gesehen. Vergr. 4000.
Die Buchstaben bedeuten von Fig. 48—80 dasselbe, nämlich : a) Cen-
tralkorn, b) Markfeld, c) Markring, d) Kömerring, e) Aussenring.
Taf. XVILL
Myxobrachia.
i Fig. 4, 2. Myxobrachia rhopalum.
I Fig. 3— 40. Myxobrachia pluteus.
Die Buchstabei> bedeuten in allen Figuren dasselbe, nämlich :
a) Extracapsulare Alveolen.
I b) Binnenblase (Vesicula intima).
I c) Centralkapsel.
d) Sarcodegallert (extracapsulares Protoplasma).
e) Pseudopodien an deren Oberfläche.
f) Extracapsulare farblose Oelkugeln.
g) Gelbe amylumhaltige Zellen.
h) Concretionen (Coccolithen und Coccosphaeren ?) .
t) Intracapsulare kleine heile Zellen (Sporen?).
k) Intracapsulare grosse dunkle Zellen.
l) Intracapsulare rothe Oelkugeln.
M N Der Wasserspiegel des Meeres.
Fig. 4. Myxobrachia rhopalum, die zusammengezogene, gedrungene Form.
Vergr. 40.
Fig. i. Myxobrachia rhopalum, die langgestreckte schlanke Form.
Vergr. 40.
Fig. 8. Myxobrachia pluteus, langgestreckt, mit herabhängenden Armen.
Vergr. 40
Fig. 4. Myxobrachia pluteuSi abgeflacht, mit ausgebreiteten Armen.
Vergr. 40.
Fig. 5. Die Binnenblase (Vesicula intimn). Vergr. 480.
Fig. 6. Die Centralkapsel , links geöffnet, so dass man in der Mitte die Binnen-
blase und nach aussen davon die kleinen Zellen sieht. Rechts sieht man
die Oberfläche der Centralkapsel , durch welche die intracapsularen Oel-
kugeln (I) als rothe Punkte durchschimmern. Oben ist noch ein Theil der
extracapsularen Sarcode erhalten , und der Alveolenhülle , zwischen denen
• Alveolen sie sich ausbreitet. Vergr. 60. - *
Fig. 7. Grosse Zellen aus der inneren Zone des Inhaltes der Centralkapsel, welche
zunächst die Binnei^biftse umgeben. A, Eine einzelne Zelle. B, Zwei zu-
sammenhängende Zellen (Theilung?). C. Vier zusammenhängende Zellen
(Viertheilung?). Vergr. 400.
ttnal Uiuxkfl, Drilrä[!C iiir ClKStidenllieori«'.
I. Das Ende eines annartigen Fortsatzes der Sareode-Gallert, mit den ler
minalen Knopfe , doi' mit kalkipen Concrelionen (Cnocolithen und Cocco-
sphaeren?) ermilt iät. Vergr. 100.
). Scbeibenförmijje Kalkkürper, welche den Coccolitlien sehr abnlich sind.
A. Kreisrunde Scheibe. B. Ovale Scheibe mit einfaühem Centralkorn. C.
Ovale Scheibe mit doppeltem Centralkoni. Vergr. 500 '?
). Kugelige Concrelionen, aus scheibenförmigen Kalkkorpern zusammengi;-
setit, welche den Coccospham'en sehr ahnlich sehen. A. Kleinere, B. rnilt-
lerc, C. grüBsere Form der kugeligen, CocccsphaerejishDlicbeDKalkkÖrpcr.
Vergr. SOO?
t, Exlracapsular? , amylnrnhallige gelbe Zellen. Die Kürner rings um den
Kern der Zellen sind Starkemehlkörner. B. Zwei gelbe Tochlerzellen in
einer Multerzelle. C. Vier TochterzeUen in einer Mullerzelle. Vergr. 400.
l. Drei kleine helle Zellen (Sporen ?) aus dem peripberlschsD Theile des In-
halts der Centralkapsel. Vergr. *00.
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Jenaische Zeitschrift Bd. V.
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