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Jenaische Zeitschrift
für
( *^f
MEDICIN
und
NATURWISSENSCHAFT
herausgegeben
von der
medioinisch- naturwissenschaftlichen Gesellschaft
zu Jena.
Vierter Band.
Kit sieben Tafeln.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Engelmann.
1868.
\
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■* •»«•■ ■
1 ^ '
# • ^
Inhalt.
Genther» A., lieber Oxamid und Harnstoff. Versuche von £. ScheitK.
J. £. Marsh «nd A. Oeuther 1
Ueber die Zu9ammen Setzung der Krystalle Ton Aethematron '^
Scheits, Dr. E., Ueber die Einwirkung von einfach salzsaurem Glycoläther
auf Mononatriumglycolat 1*^
Pfeiffer, Dr. L., Der Typhus in der Kaserne zu Weimar von 1836—1867,
mit Berücksichtigung der anderen gleichzeitigen Epidemien 21
Flemming, Dr. H., Ueber einige Thalliumverbindungen und die Stellung
dieses Metalls im System 3^
G egenb au r, C, Ueber die Drehung des Huttems. (Taf. I.) 60
Häckel, E., Monographie der Moneren. (Taf. II. u. III) 64
Müller, Wilhelm, Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im
Jahre 1866 145
Beobachtungen des pathologischen Instituts zu Jena im Jahre 1 S67 ..170
Kirch hoff, Alfred, Caspar Friedrich Wolff. Sein Leben und seine Bct
deutung für die Lehre von der organischen Entwickelung 193
Miklucho-Maclay, N., Beiträge zur Kenntniss der Spongien I. (Taf. IV.
u.V.; 221
Geuther, A., Ueber die Einwirkung des Aethernatrons auf die Aether
einiger KohlenstoffsAuren 241
Theile, Dr. R., Ueber Legumin 264
Ueber einen neuen, dem Tyrosin und Leucin ähnlichen Körper. (Mit
3 Figuren in Holzschnitt.) 281
Geuther, A., Untersuchung über sauerstoffreiche Kohlenstoffsäuren . . . 28»
L Abhandlung. Ueber die Einwirkung concentrirter Chlorwasserstoff-
säure auf Weinsäure und Traubensäure in höherer Temperatur. Von Dr.
H. Riemann 289
Engelmann, Dr. Th. W. in Utrecht, Ueber Reizung der Muskelfaser durch
den Constanten Strom. (Mit 2 Holzschn.) 295
Zur Lehre von der Nervendigung im Muskel 307
Ueber die Flimmerbewegung. (Taf. VI) 321
Seidel, Dr. M., Beitrag zur Lehre vom Ileotyphus. (Taf. VII) 480
Pfeiffer, Dr. L. in Weimar, Die bisherigen Erfahrungen über Trichiniasis
und Fleischbeschau in Thüringen 504
IV Inhalt.
Seite
Win kl er, Dr. N. F., Ueber Stellungen des graviden und puerperalen Uterus 522
Die Zotten des menschlichen Amnio« 535
Schultse, B. 6., Die Flacentarrespiration des Foetus 541
Mikluoho-Maclay, Beitrag zur vergleichenden Anatomie des Gehirnes.
(Mit 3 Figuren in Holzschnitt] . ¥orl&llfige Mittheilung 553
Geuther, A., lieber die Bildung der Aethylessigsäure aus Aethyldiaoetsäure 570
Kleinere Mittheiloiigen.
Oeuther, A., Ueber die Constitution der log. Homologen der BUufftttre 188
Zwei Notiien ', ' \ . , . 139
Sehnltie, B. S., John Mayow ftber Apnoe nnd Flaeentarretpiration 141
— Zur foreneisehen Diegnoee det OeeehlechU. 813
Oe nthrer, A., Ueber die Conetitution einiger SilidnmTerbüidungeB ond Einiget, wu rieb
auf dM lüichiingtgewiebt des Silicium* bedeht 313
Schult xe, B. 8., üeber die narbenfSnnigen Streifen in der Haut dee Obereebenkela . . 677
Ilebw Ounid and Harastoff.
Versuche von S. Scheitx, J. E. larsh und A. Cfeuther.
Mitgetbeilt von
A. Geuther.
Die Bildung der Amide aus Saure und Ammoniak lässt sich durch
folgende Gleichung ausdrücken :
Saure + b NU» = 2. b fiO -h Amid,
wobei b die Zahl bedeutet, w^elche die Basicität der Saure angiebt.
Das heisst: für je 1 Mgt. Ammoniak, welches in Verbindung geht treten
5 Mgte Wasser aus. In Bezug auf den Ursprung des Letzteren sind
zwei Möglichkeiten denkbar, entweder stammt dasselbe nämlich aus
Wasserstoff und Sauerstoff der Säure, oder aber ist es aus Wasserstoff
des Ammoniaks und Sauerstoff der Säure gebildet worden. Die erstere
Auffassungsweise ist nur möglich für Säuren , welche wenigstens 2 b
Wasserstoff enthalten, d. h. für alle einbasischen Säuren mit wenig-
stens 2 Mgtn. Wasserstoff, für alle zwei basischen Säuren mit wenig-
stens i Mgtn. Wasserstoff, für alle drei basischen Säuren mit wenigstens
6 Mgtn. Wasserstoff u. s. f., während die andere für alle Säuren ohne
Ausnahme Anwendung finden kann , da das einwirkende Ammoniak
immer mehr Wasserstoff enthält, als solcher in Form von Wasser aus-
zutreten hat. Liesse sich nun zeigen, dass die erstere Auffassungs weise
für jene erwähnten Säuren die am meisten berechtigte sei , fände bei
ihrer Verwandlung in Amide nur die Auswechslung gleicher Volumina
Wasser gegen Ammoniak statt, so würden diejenigen Säuren, welche
diese Auffassungsweise nicht zuliessen als eine besondere Glasse von
den andern zu trennen sein. Für diese aber, deren Anzahl bis jetzt
eine sehr geringe ist und als deren Hauptrepräsentanten bei den
Kohlenstoffsäuren , auf die es uns zunächst hier ankommt , die Kohlen->
B«BdIV. 1. 4
2 A. Genther,
säure und Oxalsäure gelten können , würde eine Amidbildung nur
durch einen gleichzeitigen Reductionsprocess möglich sein
oder mit andern Worten diese Säuren würden nicht direct Amide bil-
den können, sondern erst, nachdem sie in Reductionsproducte und
zwar stickstoffhaltige übergeführt worden sind, das Carbamid und
das Oxamid wären dann nicht die Amide der Kohlensäure und Oxal-
säure, sondern die Amide der Garbaminsäure und Oxamin-
säure. Da nun aber das Carbamid und das Oxamid von der Carbamin-
säure und Oxaminsäure in ganz derselben Weise sich ableiten, wie alle
übrigen Amide, nämlich durch einfache Auswechslung gleicher Volu^
mina Wasser gegen Ammoniak , so würde sich als allgemeines Resultat
ergeben , dass eben alle Amide aus ihren Säuren auch auf diese Art
entstehen könnten.
Wir sind nun der Ansiebt, dass die letztere Auffassungsweise der
Amidbildung die am meisten berechtigte sei , müssen aber den Beweis
dafür, da sich derselbe nicht mit einigen Worten geben lässt, sondern
im engsten Zusammenhang mit der Frage nach der Constitution der
chemischen Verbindungen überhaupt steht , für jetzt zu liefern unter-
lassen und unsere Ansicht vorläufig als Postulat hinstellen.
Est ist uns nicht bekannt, ob Jemand schon das Oxamid als das
Amid der Oxaminsäure, wofür seine Bildung aus Oxaminsäureäther
und AoQmoniak, seine Verwandlung in das Ammoniaksalz der Oxamin*
säure durch Kochen mit ammoniakalischem Wasser oder wie wir ge-
funden durch anhaltendes Kochen mit blossem Wasser oder beim Er-
hitzen mit Wasser im verschlossenen Rohr auf 4 40^, spricht, dass der
Harnstoff als das Amid der Carbaminsäure betrachtet werden kann ist
neuerdings noch von Kolbü gezeigt worden. Es erscheint uns aber
auch das zunächst nicht von Wichtigkeit, wenigstens nicht, so lange
als die Oxaminsäure und die Carbaminsäure als die wirklichen Amin-
säuren der Oxalsäure und Kohlensäure aufgefasst werden — denn das
Amid einer mehrbasischen Säure ist ja nicht blos das Amid dieser,
sondern auch das Amid ihrer Aminsäure — , von Wichtigkeit ist zu-
nächst vielmehr zu wissen , ob die Oxaminsäure und die Garbamin-
säure die wahren Aminsäuren der Oxalsäure und Kohlensäure sind
oder nicht.
Unsere aus dem oben Angeführten sich ergebende Ansicht ist nun
die, dass sie das nicht sind, vielmehr stickstoffhaltige Abkömmlinge
von Verbindungen , die ihrerseits erst durch einen Reductionsprocess
aus der Oxalsäure und Kohlensäure hervorgingen , dass es s. g. Azo*-
verbindungen sind oder solche , in welchen Stickstoff Wasserstoff zu
gleichen Mischungsgewicbt^i ersetzt bat. Es erscheint dann die
Deber Oxamii und Rurustoff. 3
Oxammsfiure als Azo-hydroxyessigsäure (Azoglyoolsäure) und
das Oxamid als Azo-hydroxyacetamid (Azoglycocoll oder Azo-
glycdamid), die Garbaminsäure' als Azo-hydroxymethylalkohol
und der Harnstoff (Carbamid) als Azo-hydroxymethylamin.
Essigsäure
Hydroxyessigsäure
Azohydroxyessigsflure
(Glycolsäure^
(Azoglycolsäure)
€2J3404
€2fl406
€2fl3J«)6
Aceiamid
Hydroxyacetamid
Azohydroxyacetamid
(GlycocoH)
(Azoglycocoll)
(Glycolamid)
(Azoglycolamid)
€2flöN02
£m^o^
€2HW04
Methylalkohol
Hydroxymethylalkohol
Azohydroxymethylalkohol
(unbekannt)
(Carbaminsdure)
€flK)2
€fi*0*
€89(0«
Methylamin
Hydroxymethylamin .
Azohydroxymethylamin
(unbekannt)
(Harnstoff)
€8SN
ۀ*N02
€H^202
Für die Oxaminsäure und das Oxamid, welche sich von der Car-
baminsäure und dem Harnstoff in der Zusammensetzung nur durch
€0^ unterscheiden ist aber noch eine andere Auffassungsweise möglich,
die erstere nämlich als Ameisen-Garbaminsäure (Formylcarbamin-
säure), das letztere als Ameisen-Harnstoff (Formylhamstoff) zu be-
trachten.
Carbaminsäure Oxaminsäure
€fl3N0* /GH3N0*\
\£0^ )
Harnstoff Oxamid
€H*N202 /€H*N202\
V€02 )
Fttr diese Auffassungsweise konnte geltend gemacht werden die
Zersetzung, welche das Oxamid nach Williamson i) erleidet, wenn es
mit trocknem Quecksilberoxyd erhitzt wird, in Harnstoff und Kohlen-
säure nämlich zu zerfallen. — Die Versuche, welche Herr Sgebitz, um
dies zu entscheiden, angestellt hat, haben indessen gezeigt, dass bei
der Einwirkung von Ameisensäure auf Harnstoff kein Oxamid entsteht,
wohl aber eine damit metamere Verbindung , der
Ameisenharnstoff.
(Formylhamstoff}
4) GuBAiiDT, Tratte T. I. p. 404.
4*
4 A. Genther, «
Es wurde i Mgt. bei 400^ getrockneten Harnstoffs mit i Hgt.
Ameisensäure (erhalten aus trockenem ameisensauren Bleioxyd und
trocknem Schwefelwasserstoff] in einem Kochfläschchen zusammen-
gebracht und selbiges , da nach einiger Zeit bei gewöhnlicher Tempe-
ratur keine Einwirkung zu bemerken war, mit einem umgekehrten
Kühler in Verbindung gebracht und allmählich im Wasserbade auf 1 00^
erhitzt. Der Harnstoff ging hierbei in Lösung. Als die Einwirkung
einige Zeit gedauert hatte, wurde der Inhalt durch freies Feuer bis
zum Sieden erhitzt. Da eine Gasentwicklung begann wurde nach kurzer
Zeit das Feuer entfernt und erkalten gelassen. Die dabei immer dicker
werdende Flüssigkeit erstarrte nun zu einem Brei kleiner weisser
Krystalle , iljrem Aussehen nach wesentlich verschieden von denen des
Harnstoffs und des ameisensauren Ammoniaks. Sie waren im absoluten
Alkohol sehr schwer löslich und konnten damit von noch vorhandenem
Harnstoff, etwa gebildetem ameisensauren Ammoniak und der Ameisen-
säure befreit werden. Sie entwickelten mit kalter Natronlauge über-
gössen kein Ammoniak. Um zu sehen , ob sie ameisensaurer Harnstoff
seien , wurde der Versuch wiederholt , aber nachdem der Harnstoff in
Lösung gegangen war sogleich verschlossen und erkalten gelassen.
Nach Verlauf von etwa 12 Stunden erschienen aber grosse durchsich-
tige säulenförmige Krystalle von Harnstoff. Nach weiterem Verlauf von
24 Stunden ruhigen Stehens fingen die Harnstoffkrystalle an einzelne
weisse Puncte zu zeigen , deren Menge sich nach und nach bedeutend
vermehrte und deren Ansehen ganz dem der zuerst erhaltenen glich.
Sie sind, wie ihre Untersuchung gezeigt hat, -in der That die nämliche
Verbindung.
Die mit absolutem Alkohol vollkommen abgewaschene und bei 4 00^
getrocknete Verbindung gab bei der Analyse folgende Zahlen:
I. 0,2603 grm. gaben 0,2664 grm. Kohlensäure, entspr. 0,07265
grm. =27,9 Proc. Kohlenstoff und 0,1 Hl grm. Wasser, entspr.
0,01234 grm. = 4,7 Proc. Wasserstoff.
n. 0,2518 grm. lieferten 0,2579 grm. Kohlensäure und 0,1126 grm.
Wasser, entspr. 0,07034 grm. Kohlenstoff = 27,9 Proc. und
0,01251 grm. Wasserstoff = 4,9 Proc.
Zur Bestimmung des Stickstoffs wurden verwandt: 0,208 grm.
und erhalten 55,7 CG. Stickstoff bei 60,5 und 732,5 Mm. Barometer-
stand, was bei 0^ und 760 Mm. Druck 5f,9 CG. ausmacht, die ent-
sprechen: 0,06521 grm. =31,4 Proc. Stickstoff.
Deber Oxamid onä HarostolT.
Daraus beredinet sidi fttr sie die Formel : C^H^^q«.
ber.
€2 = 27,3
»*= 4,5
»a = 31,8
0* = 36,4
400,0
Die Bildung der Verbindung findet nach der Gleichung statt :
Obwohl dieselbe also die Zusammensetzung des Oxamids besitzt,
so ist sie doch nur metamer und nicht identisch mit demselben , wie
die folgenden Eigenschaften beweisen.
Sie löst sich leicht in Wasser , sehr schwer in kaltem , leichter in
heissem abs. Alkohol. Aus letzterer Lösung kryställisirt sie nach dem
Verdunsten des Alkohols unverändert, aus der wässrigen. Losung er-
hält man sie nicht wieder, mag man in der Wärme oder ttber Schwefel-
säure in der Kälte das Wasser verdunsten lassen , sie zerfällt dabei in
Ameisensäure und Harnstoff, welch letzterer zurückbleibt, während
die erstere mit dem Wasser verdunstet und bei genügender Conoen-
tration durch ihren Geruch wahrgenommen 'Werden kann. Natronlauge
entbindet in der Kälte aus ihr kein Ammoniak , was sofort geschieht,
wenn sie damit gekocht wird. In der zurückbleibenden Flüssigkeit
ist Ameisensäure enthalten , sie wurde mit verdünnter überschüssiger
Schwefelsäure daraus frei gemacht, überdestillirt und an ihren Re-
actionen erkannt. Wird die wässrige Lösung des Ameisenharnstoffs
mit gefälltem , fein geschlemmten QuecksUberoxyd gekocht und heiss
filtrirt, so erhält man nach dem Erkalten eine geringe Menge einer
weissen dichten Substanz , ganz vom Aussehen des Harnstoff-Queck-
silberoxyds Dabei findet keine Metallreduction statt. Dieselbe tritt
erst nach längerem Erhitzen ein oder wenn man das Filtrat Über
Schwefelsäure eindunsten lässt und zwar auch da erst, wenn die Ver-
dunstung nahezu vollendet ist.
Zu den charakteristischen Eigenschaften des Ameisenhamstoffs ge-
hört noch die bei 159o unverändert zu einer farblosen Flüssigkeit, die
beim Erkalten wieder weiss erstarrt, zu schmelzen. Wird derselbe
über diese Temperatur erhitzt (was im Oelbad geschah}, so beginnt et
bald sich zu zersetzen. Zuerst erscheint reichlich Ammoniak, dann
Cyanwasserstoff, als Rückstand bleibt Cyanursäure und poröse Kohle.
Als die Temperatur \ 90^ erreicht hatte trat ausserdem noch ein ölför-
miges flüchtiges Product in geringer Menge auf. Dasselbe löste sich in
Wasser und gab nach dem Kochen mit kobldn^aureai Nairoa und An-
säuern mit Schwefelsäure ein saures Destillat, welches Silberldsung
reducirte. Darnach könnte dasselbe Formamid gewesen sein, das
sich auf analoge Weise gebildet haben würde , wie das Acetamid beim
Erhitzen des Acetyl-Haiiistoffs oder das B^izamid beim Erhitzen des
Benzoyl-Hamstoffs. Seine Menge ist nur sehr gering, der grösste Theil
desselben wurde wohl in Blausäure und Wasser zersetzt. Bei 200^
wird der noch zähflüssig erscheinende Rückstand durch Aufschäumen
schwarz und zu poröser Kohle.
Herr Sghbitz hat nun noch versucht, ob sich der AmeisenbamsteS*
aus Formamid und Cyansäure nach der Gleichung:
£Omm -h €NO,HO « €2fl4»204
darstellen lasse, und zu dem Ende auf völlig trocknes Formamid die
Dämpfe von Cyansäure geleitet. Dabei verwandelte sich ein grosser
Theil der Letzteren in Cyamelid , während ein anderer zersetzend auf
das Erstere einwirkte, indem er unter Wasserentziehung dessen Ueber*
gang in Blausäure veranlasste, aber Ameisenharnstoff konnte nicht auf-
gefunden werden.
Da somit dem Mitgetheilten zufolge das Oxamid nicht Formyl-
harnstoff ist, so bleibt für dasselbe die erstere Deutung als Azo-Glyco-
coli oder Azo-Glycolamid noch übrig. Die im Folgenden mitgetheilten
Versuche sind von diesem Standpunct aus unternommen worden.
Oxamid und Ameisensäure.
Die Einwirkung stärkerer Hineralsäuren auf das Oxamid ist be-
kannt. Man weiss, dass es durdi die Hydrate derselben oder bei
Gegenwart von Wasser leicht in Oxalsäure und Ammoniak verwandelt
wird, ein Verhalten, welches es mit dem Glycolamid, das leicht in
Glycolsäure und Ammoniak zerfällt, theilt, nicht aber mit dem GlycocoU,
das sich mit den Säuren verbindet. Von der Wirkung starker Kohlen-
stoflSsäuren auf das Oxamid ist nur bekannt, dass Essigsäure ohne Wir<-
kung ist (Henry und Hisson) . Ebenso verhält sich , wie Herr Marsh
fand , reine Ameisensäure, selbst wenn dieselbe im Ueberschuss
längere Zeit im verschlossenen Rohr mit Oxamid auf 4 00^ erhitzt wird.
Bei 425<> dagegen findet schon Zersetzung statt, es ist Drudi vorhanden
und es strömt beim Oeffnen des Rohrs ein mit blauer Flamme brennen-
des Gas, Kohlenoxyd, aus. Dje Temperatur wurde unter mehrmaligem
Oefifhen des Rohrs schliesslich bis 250^ gesteigert und immer das gleiche
Resultat erhalten. In dem Maasse als die Temperatur eine erhöhte ge-
worden war fand die Bildung grösserer Krystalle im Innern statt und
Deber Oxund ind HArostofT. 7
schliessiioh war cKe ganze Menge Oxamid in diese verwandelt. Sie er*-
wiesen sich alsoxalsaures Ammoniak. Die Ameisensäure zerfeih
also hierbei in Kohlenoxyd und Wasser, w^h letzteres das Oxamid in
oxalsaures Ammoniak verwandelt. Es entsteht also kein Ameisen-
Oxamid (Pormyldtamid) , wie es der Fall hätte sein müssen , wenn sich
das Oxamid dem Harnstoff analog verhalten hätte oder wie es der Fall
hatte sein können, wenn Oxamid und Glycocoll Analogie zeigten.
Oxamid und Essigsflureanhydrid.
Beide Körper wurden im verschlossenen Rohr von 1 iO^ allmählich
auf 160^ erhitzt, ohne dass, eine geringe Bräunung des überschüssigen
Anhydrids ausgenommen , Veränderung eingetreten wäre. Sie waren
beide noch als solche vorhanden , wie die Trennung derselben mittelst
absol. Alkohols zeigte.
Oxamid und Benzoösäureanhydrid.
Beim Erhitzen der beiden Substanzen im offenen Rohr auf 470^
findet nach den Versuchen von Herrn Marsh keine Einwirkung statt,
denn wenn die Masse mit Alkohol behandelt wird , bleibt Oxamid un-
verändert übrig. Erhitzt man aber bis iOO^ und behandelt die Masee
auf gleiche Weise, so lässt sich in dem Rückstand , welchen die alko-
holische Lösung liefert , durch überschüssige Natronlauge nicht in der
Kälte, wohl aber beim Kochen Ammoniak frei machen, ein Zeichen,
dass Benzamid entstanden ist. Oxalsäure konnte in dem übrig ge-^
bliebenen Oxamid nicht nachgewiesen werden. Das bei dieser Tempe-^
ratur gleichzeitig sich bildende Sublimat enthält neben Benzoösäure
gleidifalls Benzamid.
Dieses Verhalten des Oxamids zu den Anhydriden unterscheidet
es gleichfalls wesentiidi vom Harnstoff, wie wir weiter unten zeigen
werden. Ob das Glycolamid mit ihm darin übereinstimmt ist nicht
untersucht, ebensowenig das Verhalten der Anhydride zu Glycocoll.
Von Letzterem ist es wahrscheinlich, dass es damit die zum Theil schon
bekannten zusammengesetzten Glycocolle bilden wird (mit Essigsäure-
anhydrid z. B. das von Kraut und Harthann erhaltene AcetylglycocoUj .
Oxamid und Kupferoxyd.
Schon ToüssAiifT i), welcher auf Veranlassung des Einen von uns
das Verhalten des Oxamids zu Kupferoxydhydrat untersuchte, fand,
4) Ueberd. Oxatalns^lui«. Uiaug. Ditaert Göttingtd 4 SSI.
g A. GeatlMr,
dass sich dasselbe damit zu veri>iiiden vermag, aber nicht in der
Weise, wie das GlycocoU, weiches bekanntlich unter Austritt von
Wasser das Metalloxyd aufnimmt, sondern so, dass es direct Kupfer-
oxyd aufnimmt, in tthnlicher Weise, wie es Dbssaignbs ^) schon früher
mit Quecksilberoxyd beobachtet hat. Die entstehendtf^erbindung be-
sitzt nach ToossAiNT die ungewöhnliche Zusammensetzung: S^^^N^CH,
5CuO. Herr Marsh hat diese Verbindung von Neuem auf die von
TovssAiNT angegebene Weise durch Kochen von überschüssigem Oxa-
mid mit Kupferoxydhydrat dargestellt und durch die Analyse die von
Letzterem dafür angegebene Zusammensetzung bestätigt gefunden.
Dieselbe Verbindung entsteht ferner auch sofort, wenn man zu
einer heissen Oxamidlösung neutr. essigsaures Kupferoxyd giesst, oder
beim Erwärmen, wenn man die Lösungen kalt zusammenbringt, jedes-
mal unter Freiwerden von Essigsäure. Zur Darstellung wurde nach
der ersteren Art verfahren und von der Lösung des Kupfersalzes so
lange zugefügt, bis die Flüssigkeit die Farbe derselben zeigte. Nach
dem Absetzen des Niederschlages wurde noch warm abgegossen und
ersterer wiederholt mit siedendem Wasser behandelt, so lange als .beim
Erkalten desselben noch eine Oxamidabscheidung stattfand. Die auf
diese Weise erhaltene Verbindung besitzt alle Eigenschaften der auf
andere Art erhaltenen , nur ist die Farbe derselben etwas lebhafter
grün. Herr Mahsh fand bei der Analyse derselben folgende Zahlen:
0,7742 grm. über Schwefelsäure getrockneter Substanz gaben mit
Natronlauge zersetzt 0,4465 Kupferoxyd »54,0 Proc. und oxalsauren
Kalk, dessen Kalkgehalt nach dem Glühen 0,2279 grm. betrug; daraus
berechnen sich 0,0976 grm. a= 42,6 Proc. Kohlenstoff. Das über-
destillirte Ammoniak lieferte Platinsalmiak, der nach dem Glühen
0,7877 grm. Platin hinterliess, was 0,4 4 47 grm. = 44,5 Proc. Stick-
stoff entspricht.
ToUSSAUfT.
her. gef. gef.
€* « 42,8| 42,6^
08=:47,4i —
5CuO = 53,0 54,0 53,5 53,7
400,0
Das Oxamid- Kupferoxyd stellt ein leichtes , lockeres , sehr hygro-
skopisches Pulver dar und wird , wie schon Toussaint gefunden hat,
4) Annal. de chim. et de pbys. 8* Ser. T. XXXI V. p. 444.
Deber Oxaind nnd Harnstoff. 9
durch stiirkere Mineralstturen zerlegt Wirken dieselben in der Kalte
darauf ein , so tost sich das Kupferoxyd allein und das Oxamid bleibt
zurück. Ebenso wirkt conc. Essigsäure und conc. Ammoniak , ver-
dttnnte Essigsäure und verdünntes Ammoniak dagegen sind fast ohne
Wirkung. Wird^die Verbindung in Wasser vertheilt der Einwirkung
von Schwefelwasserstoff ausgesetzt , so wird sie gleichfalls leicht zer-
setzt. Aus dem abgeschiedenen Schwefelkupfer kann durch Kochen
mit Wasser leicht das Oxamid ausgezogen werden. Das Oxamid-
Kupferoxyd ist ungemein beständig in der Warme. Toussaint ver-
wandln zu seinen Analysen bei 4 40^ getrocknete Substanz; aber es
kann ohne wesentlichen Gewichtsverlust zu erleiden, noch »höher er-
hitzt werden : ein Beweis , dass dasselbe eine völlig wasserfreie Sub-
stanz ist.
Herr Marsh fand , als er die über Schwefelsaure getrocknete Ver-
bindung einer allmählich steigenden Temperatur wahrend 8 Tagen
aussetzte, dass dieselbe bei U0<^ 4,6 Proc, bei 4G0<)S,1 Proc., bei
180^ 3 Proc. und bei 490<^ 3,6 Proc. verloren hatte und von unver-
ändertem Aussehen war. Erst bei 4 94^ beginnt die Zersetzung unter
Schwärzung und nun ist der Verlust bedeutend , bei 800^ betrug ,er
schon 39,0 Proc. und nach dem Erhitzen auf 220^ ist das Gewicht des
schwarzen Rttckstands nur noch 56,7 Proc. Er besteht aus fast reinem
Kupferoxyd, von dem die Verbindung 53,0 Proc. enthalt.
Ausser der Verbindung des Oxamids mit Kupferoxyd ist nur noch
eine solche mit Quecksilberoxyd von der Formel: €2fi4f2Q4^HgO be-
kannt, welche Dsssaignbs erhalten hat. Mit Bleioxyd und Silberoxyd
konnte Pxloczb^) das Oxamid nicht vereinigen, auch uns gelaQg es
nicht durch Kochen von Oxamidlösung mit Silberoxyd eine Verände-
rung beider Substanzen wahrzunehmen. Eine Lösung von essigsaurem
Silberoxyd wird durch eine kochende Oxamidlösung gleichfalls nicht
verändert. Ebenso verhalt sich eine n utrale essigsaure Bleilösung;
wird Oxamidlösung aber zu einer Lösung von bas. essigsaurem Blei-
oxyd gefügt, so entsteht sofort ein starker Niederschlags welcher indess
kein Oxamid in Verbindung enthalt, sondern nur Oxalsäure und wahr-
scheinlich der nämliche ist, den Pblouzb^j erhielt, als er die wassrige
Lösung des Oxamids mit wenig Ammoniak versetzt zu Salpeter- oder
essigsaurer Bleioxydlösung fügte, nämlich bas. oxalsaures Bleioxyd:
6PbO,€20«.
Eine heisse Oxamidlösung wirkt ferner nicht ein auf die neutralen
4) Gmilir, Handb. Bd. V, p. 46.
5) Ghilir, Haodb. Bd. IV, p. S59 o. Bd. V, p. 46.
] 0 A« ClMthcr,
essigsauren Salze des Biseiioxyduls , Eisenoxyds, Manganoxyduls,
Nickeloxyduls, Zinnoxyduls und Queoksilberoxyds. Die Lösung des
essigsauren Quecksilberoxyduls wird durch dieselbe beim Kodien
reducirt.
Das eben erwähnte Verhalten des Gxamids den Metalloxyden und
Salzen derselben gegenüber ist nicht allein merkwürdig des unter-
schiedenen Verhaltens halber, sondern auch der Art der Verbindungen
wegen. Letztere entstehen nicht wie die der meisten Amide so , dass
für Wasser, welches austritt, Metalloxyd eintritt, sondern es fügt sich
das Metalloxyd einfach zu dem Oxamid, denn das Verhalten der Kupfer^
oxydverbiadung in der Wärme schliesst die Annahme, dass es eine
wasserhaltige Verbindung sei , aus. Es ist femer nidit anzunehmen,
dass die Kupferverbindung eine Art basischer Verbindung ist , obwohl
in ihr SIY2 Mgte Kupferoxyd auf 1 Mgt. Oxamid kommen, da sie unter
Freiwerden von Essigsäure entsteht.
Von anderen Amiden , welche sich mit Metalloxyden direct ver-
einigen sind uns ausser dem Harnstoff keine bekannt. Denn die von
FEBLino 1) mit Bisuccinamid dargestellten Bleioxydverbindungen sind
nach den Untersuchungen Tbughbrt's ^) als Sucdnaminsäure-Salze zu
betrachten. In gleicher Weise ist offenbar die von Arpfb"^) mit dem
homologen Bipyrotartramid erhaltene Bleiverbindung (^€%^NO^,5PbO,
5flOj aufzufassen, als ein anderthalb basisches Bleioxydsalz
einer Pyrotartraminsäure.
2€ßH7NOS 5PbO, 5H0 = [2 («»flSNO», PbO) 4- 3 (PbO,flO)].
Ob eine Verbindung , welche das Fumaramid mit Quecksilberoxyd
bildet, und von der Dbssaignes ^) blos die Quecksilberbestimmung aus-
geführt hat, ohne irgend etwas anderes von ihr zu sagen , als dass sie
ein weisses Pulver darstelle , hierher gehört, ist ganz zweifelhaft.
Durch die Fähigkeit des Oxamids sich mit gewissen Metalloxyden
direct zu vereinigen, unterscheidet sich dasselbe wesentlich von dem
Glycocoll. Ob das Glycolamid nicht im Stande ist sich mit den Oxyden
gewisser schweren Metalle in analoger Weise zu vereinigen ist bis jetzt
nicht untersucht worden. Die Angaben über das Verhalten des ihm
homologen Lactamids lauten nur dahin , »dass sich in wässriger Lacta-
nüdlösung kein unlösliches Oxyd lösta (Brüiong) ^] . Käme aber auch
4) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 40, p. 496.
1) Ebend. Bd. 484, p. 455.
8) Ebend. Bd. 87, p. 235.
4) Annal. de chim. et de phys. 3. Ser. T« XXXIV, p. 44S.
5) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 404, p. 407..
Ueber Oimid nad larnstofT. 1 1
dem- Glyeolantid die Fähigkeil , solche Verbindungen wie das Oxamid
zu bilden , nicht zu , so würde daraus doch keineswegs die oben er-
wähnte Ansidit als imzutreffend gefolgert werden können.
Oxamid und Wasserstoff.
Um zu sehen, ob im Oxamid ein Tbeil oder der ganze Stickstoff-
gehalt gegen Wasserstoff ausgewechselt und es in GlycocoU oder Glycol-
amid oder Glycolsäure übergeführt werden könne, unterwarf Herr
ScBBiTz dasselbe der Einwirkung von Zink und Essigsäure, welche
letztere für sich keine Einwirkung darauf äussert, wie sehen Hbhrt
und Plisson fanden und wir bestätigen können. In einem Kolben
wurde das Oxamid mit Zink und viel Wasser in Berührung gebracht
und langsam Essigsäure in dem Maasse, als die Wasserstoffentwicklung
gering^wurde, zugefügt. Der Kolben wurde bis etwa 60<^ erwärmt und
so lange stehen gelassen , als beim Erkalten eine Oxamidabscheidung
noch wahrgenommen werden konnte , was etwa 8 Tage lang währte.
Darauf wurde aus der Flüssigkeit das Zink mit Schwefelwasserstoff
entfernt und dieselbe schliesslich im Wasserbade zur Trockne gebracht.
Es hinterblieb eine strahlig krystallinische, in Alkohol lösliche Masse, die
schon in der Kälte mit Natronlauge Ammoniak entwickelte. Sie besass
saure Reaction und stimmte in ihremAussehen mitdem sauren Ammoniak-
salz der Glycolsäure , wie esHEiNTz^) beschrieben hat, überein. Ein
Theil derselben wurde in Wasser gelöst, mit Kalkhydrat gekocht, wobei
Ammoniak entwickelt wurde , aus dem Filtrat der überschüssige Kalk
durch Kohlensäure entfernt und zur Krystallisation eingedampft. Die
erhaltenen Krystalle hatten ganz das Aussehen von glycolsaurem Kalk.
Das bei 100<> getrocknete Salz gab nach dem Glühen 23,2 Proc. Kalk;
der glycolsaure Kalk enthält 22,9 Proc. Es war demnach wirklich
glycolsaurer Kalk und das Oxamid also in Glycolsaure und Ammo-
niak verwandelt worden. Die Entstehung von GlycocoU konnte hier-
bei nicht wahrgenommen werden.
Harnstoff und Essigsäureanhydrid.
Das Verhalten des Harnstoffs zu den Hineralsäuren und einer Reihe ,
von KohlenstoflBsfluren ist bekannt. Er bildet damit Verbindungen , in
welchen er die Rolle einer einsäurigen Basis spielt. Er zeigt also das
Verhalten , wie es von einem Azo-hydroxymethylamin wohl erwartet
4) PocGBivDOAFP, Anoal. Bd. 114« p. 449.
12 A. GeaCher,
werden kann. Das Verhalten des Harnstoffs zu Säureanhydriden ist
bis jetzt nicht untersucht gewesen.
Wird Harnstoff mit Essigs&ureanhydrid (1 Mgt. des ersteren auf
2 Mgie des letzteren) einige Zeit bis zum Siedepunct des Anhydrids er-
hitzt und dann erkalten gelassen, so scheidet sich auf Zusatz von Wasser
Acetylharnstoff aus, der durch Umkrystallisiren aus heissem Wasser
leicht rein erhalten werden kann. Nur wenn die Erhitzung längere
Zeit fortgesetzt worden ist , enthalten die Krystalle etwas Cyanursäure
beigemengt. Durch Kochen der wässrigen Lösung mit kohlensaurem
Silberoxyd kann diese leicht entfernt werden. Er besitzt alle die
Eigenschaften, wie sie Zinin ^) für denselben angegeben hat.
I. Unmittelbares Product etwas cyanursäurebaltig.
0,2161 grm. gaben 0,276 grm. Kohlensäure, entspr. 0,07527 grm.
Ä 34,8 Proc. Kohlenstoff und 0,1136 grm. Wasser, entspr. 0,01262 ,
grm. =5,9 Proc. Wasserstoff.
H. Mit kohlensaurem Silberoxyd gereinigtes Product.
0,2455 grm. gaben 0,3185 grm. Kohlensäure, entspr. 0,086869 grm.
= 35,4 Proc. Kohlenstoff und 0,136 grm. Wasser, entspr. 0,01511
grm. = 6,1 Proc. Wasserstoff.
ber.
gef.
I. n.
€3 = 35,3
34,8 35,4
Ä« = 5,9
5,9 6,1
N2 » 27,5
— —
0* = 31,3
— —
100,0
Der Acetyl-Harnstoff entsteht nach der Gleichung :
€fl*N202 + 2 €2H303 =; €3fl6N204 + £^^0^.
Seine Bildung geht so leicht von statten , dass dies die bequemste
Methode seiner Darstellung ist.
Harnstoff und Benzoösäureanhydrid.
Erhitzt man Benzo^säureanhydrid mit Harnstoff zu gleichen
Mischungsgewichten, so findet bei 120^ die Schmelzung des Harnstoffs
unter dem geschmolzenen Anhydrid statt, ohne dass ein gleichförmiges
i) ADoal. d. Cbem. u. Pharm. Dd. 92, p. 40a.
Deber Oxanld asd HarnstofT. 1 3
Gemisch entstände; auch durch Umschtttteln kann ein solches nicht
erhalten werden. Lässt man erkalten , so krystallisirt der HarnstoflT
wieder unter dem flüssigen Anhydrid. Hält man die Temperatur
aber einige Zeit bei 1 20^ , so tritt vollständige Mischung der Flüssig-
keiten ein und beim Erkalten entsteht eine terpenthinartige Hasse, die
selbst nach tagelangem Stehen nur wenig Krystallbildung zeigt. Sie
löst sich vollkommen und leicht in absolut. Alkohol , enthält demnach
keinen Benzoyl-Hamstoff. Wird dieselbe einer Temperatur von 4 40 —
1 50^ längere Zeit ausgesetzt, so beginnt die Abscheidung kleiner säulen-
förmiger Krystalle. Hat die Erhitzung lange genug gedauert, so
krystallisirt beim Erkalten die ganze Masse wieder leicht. Wird die-
selbe nun mit kaltem absol. Alkohol behandelt, so bleibt ein Rückstand
von Cyanursäure und Benzoyl-Harnstoff, während neben über-
schüssigem Anhydrid Benzamid in Lösung geht. Durch wiederholtes
• Umkrystallisiren aus ammoniakalischem Wasser entfernt man die
Cyanursäure, welche in Lösung bleibt und erhäU man den Benzoyl-
HarnstoflT in farblosen nadeiförmigen Krystallen , die in kaltem Wasser
sehr schwer löslich sind. Sie besitzen die von Zinin dafür angegebenen
Eigenschaften , sie krystalJisiren aus Alkohol in Blättclien , schmelzen
gegen 200^ (208^), geben auf dem Platinblecb vorsichtig erhitzt zuerst
den Geruch von Benzonitril und hinterlassen einen Rückstand von
Cyanursäure , im Röhrchen über ihren Schmelzpunct erhitzt beginnt
die Masse zu schäumen und erfüllt sich mit Nadeln von Cyanursäure,
indem Benzamid sublimirt.
Die Ausbeute an der Verbindung ist immer nur gering , da das
Wasser, welches vom Benzoösäureanhydrid fortzugehen hat, sich, wie
mir scheint, nicht zu letzterem begiebt und damit Benzoesäure bildet,
sondern zersetzend auf Harnstoff einwirkt. Man bemerkt in der That
auch während der Operation immer eine Gasentwicklung.
Die Analyse mit wenig Substanz (0,1097 grm.) ausgeführt, hat
kein ganz genaues Resultat ergeben, es wurden nämlich gefunden;
55,6Proc. Kohlenstoff und 5,4Proc. Wasserstoff, während derBenzoyl-
Harnstoff: 58,5 Proc. Kohlenstoff und 4,9 Proc. Wasserstoff verlangt.
Das oben angeführte Verhalten der Substanz lässt indess keinen
Zweifel, dass sie der Hauptsache nach diese Verbindung war.
Als einmal gleiche Mischungsgewichtc Harnstoff und Benzoesäure-
anhydrid im Luftbad rasch auf \S0^ erhitzt wurden, fand lebhafte
Gasentwicklung statt, es entwich viel Ammoniak und es bildeten sich
in der geschmolzenen Masse vollkommen farblose grosse nadeiförmige
Krystalle von Cyanursäure. Sie blieben nach dem Behandeln mit ab-
solut. Alkohol allein zurück, ohne Benzoyl-Harnstoff.
14 A. C^iiiiwr,
Harnstoff und Metalloxyde.
Von Harnstoff sind nur Verbindungen mit Silberoxyd und Queck-
silberoxyd bekannt. Sie stimmen mit den Oxamid-Metalloxyden darin
ttberein , dass sie einfache Verbindung von Harnstoff mit den Oxyden
sind und ohne Austritt von Wasser entstehen. Liebig fand für die
Silberoxyd Verbindung die Formel: «H^^o^^aAgO und für die drei
Quecksilberoxydverbindungen die Zusammensetzung €8^^^,2HgO ^j,
€H4N302,3HgO und €H«N202,4HgO.
Die essigsauren Salze des Kupferoxyds und Quecksilberoxyds
werden durch eine HamstofflOsung nicht gefällt.
Harnstoff unJ^^asserstoff.
In gleicher Welse wie das Oxamid hat Herr Marsh Harnstoff mit
Zink und Essigsaure behandelt. Auf 42 grm. des ersteren wurden 60
grm. der letzteren angewandt. Als die Reaction zu Ende war, wurde
die Flüssigkeit, in welcher noch viel Harnstoff durch Salpetersäure
nachgewiesen werden konnte mit Natronlauge im Ueberschuss versetzt
und deslillirt. Das Uebergehende wurde in Salzsäure aufgefangen, zur
Trodine gebracht, mit abs. Alkohol ausgezogen und der nach dem
Verdampfen des letzteren bleibende Rückstand mit Aether-Alkohol
abermals behandelt. Nachdem das Lösungsmittel wieder verdunstet
war , blieb so gut wie kein Rückstand. Das Ungelöste war nichts als
Salmiak.
Einen zweiten Versuch stellte Herr Marsh in der Weise an , dass
er 8 grm. Harnstoff in 40 grm. Eisessig löste und diese Lösung in einem
Retörtchen mit aufgerichtetem Hals, das mit einem umgekehrten Kühler
verbunden war, auf überschüssige Eisenfeile goss. Es fand unter ge-
ringer Erwärmung nur geringe Gasentwicklung statt, dieselbe wurde
reichlicher, als die Reaction durch Feuer unterstützt wurde. Nachdem
eine Stunde lang bis zum Siedepuncte der Essigsäure erhitzt worden
war, wurde die Masse noch einige Tage sich selbst überlassen. Sie
war fest geworden. Sie wurde nun in viel Wasser gelöst, die Lösung
zum Sieden erhitzt, abfiltrirt, mit Natronlauge im Ueberschuss destillirt
und das Uebergehende in Salzsäure aufgefangen. Als dasselbe zur
i) Dkssaignbs giebt für diese die Formel : €H^HgN^^HgO, indess seine analy-
tischen Resultate , welche untereinander selbst sehr abweichen , zeigen , dass die
von ihm untersuchte Substanz nicht rein war [a. a. 0.).
Deber Oxamid oud Harnstoff. 1 5
Trockne gebracht und mit Aether-Alkohol behandelt wurde, ging nur
sehr wenig in Lösung. Dieses bestand zum Theil aus Salmiak, zum Theil
aber aus einem an der Luft feucht werdenden Salz , das mit Natron-
lauge ausser Ammoniak den Geruch von Aminbasen zeigte. Die Menge
war indess so gering, dass ein wesentlicher Theil des Harnstoffs in
diese Substanz nicht verwandelt sein konnte. Das in Aether-Alkohol
Ungelöst gebliebene war reiner Salmiak. Es wurde also der Harnstoff
auch durch dieses Reductionsverfahren nicht verändert , seine Bestän-
digkeit reducirenden Einflttssen gegenüber ist also viel grösser als die
des Oxamids.
s.
lieber die ZusanimeiisetaiDg der Krystalle von Aethematron«
Von
A. Geather.
Es ist bekannt , dass wenn man Natrium auf abs. Alkohol ein-
wirken lässt, nach dem Erkalten aus der warmen dicken Flüssigkeit
völlig durchsichtige farblose nadeiförmige Krystalle abgeschieden wer-
den. Wendet man auf t Th. Natrium 10 Th. Alkohol an, so befindet
sich nach Beendigung der Reaction Alles in Lösung oder ist wenigstens
durch Erwärmen leicht in diese zu bringen ; wendet man nur 8 Th.
Alkohol an , so ist schon eine anhaltende Erwärmung nöthig, um dies
zu erreichen und bei noch weniger Alkohol, etwa 6 Th., gelingt es gar
nicht mehr eine völlige Lösung zu erhalten, auch wenn man noch wäh-
rend der Einwirkung für genügende Erwärmung Sorge trägt: es über-
zieht sich das Natrium mit weissen, undurchsichtigen, unkrystalli-
nischen Krusten, welche die weitere Einwirkung sehr verlangsamen.
Dieselben lösen sich leicht, wenn man mehr abs. Alkohol zufügt und
es erscheinen dann beim Erkalten, wie in den übrigen Fällen blos jene
langen klaren Krystallnadeln. Es hat nicht den Anschein , als ob die
weissen Krusten und die durchsichtigen Krystalle einerlei Zusammen-
setzung hätten.
Um die Verbindung C^fl^^NaO'^ aus diesem Product der Einwirkung
von Natrium auf abs. Alkohol zu erhalten , genügt es nicht es einer
Temperatur von 400^ auszusetzen um sämmtlichen überschüssigen
Alkohol zu entfernet!, man muss dieselbe vielmehr bis auf 1 80® steigern.
Die zurückbleibende Verbindung erscheint vollkommen unkrystallinisch
und zeigt an vielen Stellen noch die Gestalt der ursprünglich vorhan-
denen Krystalle , die aber nun das Aussehen einer stark verwitterten
Substanz besitzen.
Oeber die toMuntteiiseiliiiig rfer Krystalie ton Aethernatrön. Ü
Diese Erschefnunjg, zusammen mit der schwierigen Yerflttchtigung
des Alkohols liess vermuthen , dass die zuerst entstehenden farblosen
durchsichtigen Rrystalle nicht blosses Aethematron, sondern vielmehr
eine Verbindung desselben mit Alkohol seien.
Die analytische Untersuchung , welche Herr Dr. Sgheitz mit den-
selben vorgenommen, hat diese Yermuthung bestätigt und für sie die
ZusammensetsuDg €285^3024- 9 €^«0^ ergeben.
Zu ihrer Darstellung verwandte Herr Dr. Scbeitz ein , am einen
Ende zugeschmolzenes, am andern ausgezogenes längeres Glasrohr, in
dem auf 8.Th. absoluten Alkohol i Th. Natrium wirken gelassen wurde.
Nachdem Alles durch Erwärmen in Lösung gegangen war, wurde das
Rohr zugeschmolzen , nach dem Erkalten durch Umdrehen desselben
die Mutterlauge von den Krystallen so viel wie möglich ablaufen ge-
lassen und in dieser Stellung die Spitze abgebrochen und die Mutter-
lauge entfernt. Die Krystalle wurden dann entweder sogleich oder erst
nach raschem Abwaschen mit wasserfreiem Aether, wobei sich freilich
ein grosser Theil löste, aus dem unmittelbar über ihnen abgeschnittenen
Rohr auf Fliesspapier gebracht, damit möglichst rasch und vollkommen
abgepresst und gewogen. Abs. Alkohol löst sie noch leichter als Aether.
7,3297 grm. lieferten nach dem Lösen in Wasser und Neutrali-
siren mit Schwefelsäure 3,1872 grm. neutr. schwefelsaures Natron,
entspr. 4,3946 grm. Natron ss 49,0 Proc.
0,6422 grm. der mit Aether gewaschenen Krystalle gaben desgl.
behandelt 0,2657 grm. schwefelsaures Natron entspr. 0,4 46 grm. oder
49,0 Proc. Natron.
her. gef.
€2|iH)| = 23,4 — ^ - '
NaOJ = 49,4 49,0 49,0
2€2fl602 s 57,5 — —
Da die Krystalle im leeren Raum über Schwefelsäure unter Ver-
witterungserscheinungen ihren Alkohol verlieren und zu der Verbindung
€%^NaO^ werden, so wurden zur Bestimmung des ersteren 6,546 grm.
wohlabgepresster Krystalle über Schwefelsäure unter die Luftpumpe
gebracht und während 8 Tagen unter wiederholtem Auspumpen da
belassen. Das Gewicht derselben betrug nach rasch vorgenommener
Wägung noch 3,583 grm., also fand ein Verlust von 2,933 grm. d. h.
45,0 Proc. statt. Sie wurden sofort wieder unter die Luftpumpe ge-
bracht und weitere 8 Tage da gelassen. Ihr Gewicht betrug jetzt:
2,570 grm., der Gesammtverlust demnach 3,946 grm. oder 60,6 Proc.
Nach weiteren 8 Tagen betrug der Gesammtverlust: 4,046 grm.
oder 62,4 Proc. und nach noch weiteren 8 Tagen 4,4685 grm. oder
Band IV. 1. S
1 9 A. Gentter , O^er die {amwHisetHW i» Kn^Mik f oo AfOrnatron.
6i,0 Proo. M^n siebt, class der bei den beiden leUleo Wligungtn er-
haltene pabessu constante Verlust gleicb iei 4,&resp. 1,9 Free, und
offenbar uicht einend W^gang von Alkohol, der mit deo Krystall»
noch in Verbindung gewesen wttre xwuscbreiben ist, sondem durdi
den Einfluss der Feuchtigkeit der Luft auf die Substanz, wtthread ihres
Berausnehn^eus aus der Luftpumpenglocke und Wagens beding ist
Die Substanz hatte nach der zweiten Wägung , b^ welcher der Ge-
sammtyerlust 60, Q Proo. betrug, bereiti; allen Alkohol verloren und da
sie sphon aweimal gewogen worden war , noch einen weiteren durch-
schnittlichen Verlust von i mal 4,7 Pnoc. erlitten, also in Wirklichkeit
einen Verlust an verbundenem Alkohol von 60,6 Proo. minus 3,4 Proc.
d. b* 57,9 Proc. ergaben. Es stimmt dies Resultat fast genau mit dem
von dpr obigen Formel verlangten, nämlich 57,5 Proc, tiberein.
•"> % II
rTdU
Ddker die Biawirkng to« eisfaeh sahsanresi Clyrolätker aif
IHoneBatriHmglyMlat.
Vott
Dr. K SoheiüL
Bei derEiiiwirkung von einfecb essigsaurem GlycoUtber auf Mono-
natriumgiycolat erbiete Mobs ^) hanptsacblich Diglj'colalkobol. Da
die Sauerstoffs^fureätber des Glycols sieb in mancber Weise aber ab-
weichend TerhaitoB vod deo Ikiloidatbern , so war es von Interesse
zu erfahren y ob aueh bei dieser Einwirkung dies der FaH sein wttrde.
Es wurde nach der Methode von Wdrtz dargestellter efnfacb chlor-
wasserstoffsaurer Glycolather auf in einem Retörtchen bereitetes Mono-
natriumg]ycola& gegossen, und der in die Hftfae gerichtete Haks des
Gef^sses mit einem umgekehrten Kühler verbanden. Da bei gewöhn-
licher Temperatur keine Einwirkung erfolgte , wurde das B^törteben
im Oelbad allmählich auf 180<^ erhitzt. Es entwich Biemtioh viel eines
mit blauer Flamme brennenden Gases, dessen Menge bei einer Steige-
rung der Temperatur auf 450<^ sich noch vermehrte. Nach Verlauf
einiger Stunden, als kaum noch eine Gasentwicklung im Innern zu
bemerken war, wurde der Retortenbals sammt Ktthler geneigt gestellt
und die Temperatur bis %bO^ gesteigert. Dabei destillirte eine gelb-
liche ölige Flüssigkeit. Der Retortenrückstand bestand neben Spuren
einer organischen Substanz und etwas Natron aus Ghlomatrium. Das
Destillat bestand aus wenig finter i 80^ Siedendem , aus viel zwischen
I 94 und 496<> Uebergehendem und aus wenig zwischen 835 und 245<^
Destillirendem. Nach mehrmaliger Rectification wurde das zwischen
4 94 und 196<> und das zwischen 835 und 84 5<^ Uebergehende für sich
gesammelt und analysirt.
I) Diese Zeitscbiifl. Bd. III. p. 45.
20 I^r- £• SebeiU, Ueber die Eiowirkaiig tob einfaeh sibsiareB GlycolIUier ete.
0,4946 gnn. des ersteren lieferten 0,9674 gnn. Kohlensifurey
entspr. 0,07292 grm. Kohlenstoff = 37,3 Proc. und 0,1726 grm. Wasser
entspr. 0,04947 grm. Wasserstoff = 9,9 Proc.
Der bei gleicher Temperatur siedende Glycolalkohol verlangt:
38,7 Proc. Kohlenstoff und 9,7 Proc. Wasserstoff; es war also dem-
nach fast reiner Glycolalkohol.
0,3035 grm. des zweiten lieferten 0,54 4 4 grm. Kohlensäure entspr.
0,4394 grm. Kohlenstoff = 45, 9 Proc. und 0,2365 grm. Wasser, entspr.
0,0263 grm. Wasserstoff =8,7 Proc.
Der Diathylenalkohol, mit dem dieses Product den Siedepunct ge-
mein hat verlangt: 45,3 Proc. Kohlenstoff und 9,4 Proc. Wasserstoff.
Eine grosse Menge der angewandten Glycol Verbindungen war in
jenes mit blauer Flamme brennende Gas , das offenbar nichts anderes
als Aethylenoxyd war, übergeführt worden.
Die Producte der Einwirkung sind hauptsächlich also: Aethylen-
oxyd, und Glycolalkohol und nur sehr wenig Diglycolalkohol. Die Ein-
wirkung verläuft demnach anders als bei der Anwendung von einfach
essigsaurem Glycoläther, wobei als Hauptproduct Diglycolalkohol ent-
steht.
Das Verhalten des einfach essigsauren und einfach chlorwasser-
stoffsauren Glycdläthers zu Hononatriumglycolat ist also analog dem
verschiedenen Verhalten jener Aether zu Kalihydrat.
Die Reaction verläuft nach der Gleidiung : '
€2fi2| flo „^, ^ €2g2( »OHO _ €««2 j go«0 €«2| Ä^^ _^ ^^^i
jgQ«fci+ iMONaO"" (äOäO"*" } -l-«afei
Der Diglycolalkohol verdankt seine Entstehung der Einwirkung
von Aethylenoxyd auf Glycol.
Der TyphK in 4er Kaserne n Wenar vra 1831 — IM?, mü
BerieksichtigMg der asderea gleitAieitigea RjpideBien.
Von
Dr. L. Pfeiffer in Weimar.
Angeregt durch die Untersuchungen Buhl's ttber den Zusammen-
hang von Typhus mit den Schwnnkungen des Grundwassers in Httn-
eben , die im Verein mit den jetzt anerkannten Entdeckungen Psttbn-
kopbr's über die Uilfsursaehen für Gboleraepidemien d^r Öffeütlichen
Gesundheitspflege gans neue und praktisch verwerthbareGesichtspuncte
liefern , versucht Verfasser in Nachfolgendem die auffaltende Typhus-
morbilitüi su beleuchten, wie diese in den Journalen des Weimariseben
Militärspitales seit 4836 niedergelegt und ihm durch die Güte des Herrn
Oberstabs- und Regimentsarttes Dr. Homf in Weimar zugänglich ge-
macht ist. An Stelle der jahrelang fortgeführten Grundwassermessüngen
in München , deren sehwankender Werth so genauen Schritt haH mit
den Schwankungen der Typhustodesiblle y kann Verfasser nur einige
Aohaltepuncte bieten, die indessen beweisen , dass in der anscheindnd
so gesund und hochgelegenen Kaserne zu Weimar eine fOrttrafende
Kette von Typhnaerkraiiküngen in ungünstigen UntergrüDdsverhait^
nisaen ihre Uraach« hat und dasa das zeitweilige epidemische Auftreten
des Typbus daselbst mit Peuehtigkeits Verhältnissen traterbalb der Bauselr
in Verbindung stehen muss.
Es findet sich der Typhus (Abdominaltyphus) in Thüringen in sehr
grosser Verbreitung. Ebensowohl die volkreichen Städte an der nörd-
liobea Abdachimg des Thüringer Waldes , als Orte im Gebirge selbst
liefern jedes Jahr eine grössere oder kleinere Anzahl von Erkrankungen
und auch der im Westen an den Thüringer Wald sich anschliessende
Gebirgsstock der Rhön hat auf seinem Basaltboden einzelne ganz ver-
beerende Epidemien gehabt.
22 Dr. L. Pfeiffer,
Fortlaufende Ketten von Typhuserkrankungen i) finden sich in
Eisenach (Ackerhof, Untergasse, Fischerstadt), in Gotha (Gegend am
Brühl), in Weimar (Graben, Brühl, Bahnhofstrasse etc.) , in Apolda
(Heidenberg), in Wiche etc. und giebt die auffallende Localisation der
Cholera von 1866 in denselben Districten fast Gewissheit, dass die
Aetiologie dieser beiden Krankheiten sehr viel Gemeinschaftliches haben
muss.
Es ist zur Zeit uoch nicht genügendes Material vorhanden , um in
Thüringen die Beziehungen von Typhuslocalitöten zu Cholera einer-
fteilSy ttttd Wetter zu Malaria, für welch Letztere ein räumlicher Anta-
gonismia «be&]bU6 niobi tu bealohea scheint, ins Klare bringen zu
können. Bei der umschriebenen Verbreitung der Cholera und bei der
kleinen raumlichen Ausdehnung der Malaria in Thüringen ist die hier
angeregte Frage eine mit verhältnissmässig weniger Schwierigkeiten
verknüpfte und findet der neu gegründete arztliche Verein von Thürin-
gen hier jedenfalls ein dankbares Feld.
Nach beifolgender üebersicht der Typhuserkrankungen ist die
Verlheilung derselben über die einzelnen Monate des Jahres im Ganzen
eine uemlicb g^eichmUssige, zumal wenn man die beiden grösseren
Epidemien von h Sa? und < 867 in Abrechnung bringt. Von den beiden
grösfieren Epidemien fällt eine in den Herbst (mit 64 Erkrankungen) ,
die anderq auf den Winter (44). Die Typhuserkrankungen der Kaserne
stehen in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit gleichen Jtrkran*
kungen in der auf dem andern Ufer der Um gelegenen Stadt. In den
Jahrein 4859 — 66 sind in der Stadt mehrfach gehäufte Erkrankungen
von den Aerzten beobachtet worden und zum Theil von dem ärztlichen
Verein zu Weimar zur Feststellung einer Typhuskarte benutzt worden,
während unter dem Militär dieselben sich nicht über das Durchschnitts*
ttittel erheben. Im leUten Jahre (4 867) war im Frühjahr die Stadt fast
frei mtA nur in den , im Rücken der Kaserne liegenden Ortschaften
Oberweimar und Ehringsdorf, kamen vereinzelte Erkrankungen vor.
Die Dttrcbschnittsanzehl von Typhuserkrankungen beträgt nach
beifolgender Zusammenstellung fast 7, und ist dieses Mittel in dem vor-
liegenden Beobachtungsmaterial von 34 Jahren nur 6 mal überschritten
(Worden, in den Jahren 1839, 4840, 4844, 4856, 1857 und 4867.
Die Epidemie von 4839 (gewöhnlicher Dienstbestand in der Ka-
serne 5 GompagnieQ ä 50 Mann, mit den Eingezogenen c. 500 Mann),
die stärkste aller beobachteten , fällt zusammen mit der Berbstein-
giehung. Es erkrankten viele der Weueingaiogenen und bestätigt sich
4) AttsfUhrlieberes in: CholeraTerftällniss« Thüringens vom Verfasser. Mün-
chen, Oldenhourg 4867.
Der Typhus in der Kasan» w Wlumff von t83t— 1867 eto.
28
Tab. I.
Uebersicht der Typbuserkrankungen im Militärlazareth zu Weimar
4836 — 1867.
Jahr
48ae
1837
4888
1839
1840
f841
484S
1848
1844
1845
1846
1847
I84S
1849
1850
1851
185a
1858
4m4
18M
1856
1857
1858
1859
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1863
1864
1865
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9
•4
248
Mli ▲«snahiiw der beMoD grOasDr^n fipidoiaMea von
1889 und 4867 verlbetiea sich die Übrigen 128 Er-
krank angen von 28 Jahren folgendermaassen :
^
9
1
1
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1
4
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2
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646
598
687
—
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888
1048
744
—
4048
—
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4448
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1042
1457
1699
4441
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1 I 9 I 6 |40^40|44| 9 |28ll6|40
ft 8 128
24 'Bu L. PMf^
die Thatsache, dass Umzug vom Land in die Stadt (d. h. engere Wohn-
räume, mehr Aufenthalt in schlechter Luft etc.) die Disposition steigert.
Specielle Ursachen ausser den in früherer Zeit sehr beschränkten
Wohnungsverhältnissen können nicht angegeben werden.
Für die zweitstärkste Epidemie (gewöhnlicher Dienstbesland 700
Mann) des Jahres 4 867 lässt sich eine derartige Schädlichkeit nicht an-
führen und muss, da in den letzten 1 0 Jahren sowohl die Wohnungs-
ais auch die Nahrungs Verhältnisse der Soldaten bedeutend verbessert
wurden , eine Ursache dieser plötzlichen Zunahme nur in Einflüssen
gesucht wenien, die ausserhalb der socialen Beziehungen stehen müssen.
Die schlossähnliche Kaserne liegt weit hin sichtbar an dem Rande
eines Plateaus, c. 1 50 Fuss über dem Spiegel der nahe vorüberfliessen-
den Um und c. 800 Fuss über dem Heere. Nach der Um und nach der
jenseits derselben liegenden Stadt zu fällt das Terrain ziemlich steil
ab, weniger steil nach SO, nach Oberweimar zu. Nach 0. dehnt sich
das Plateau , einzelne Terrainfalten abgerechnet , weit aus , mit zahl-
reichen und starken Quellen in den Terrainfalten (Papierbach von Ober-
weimar, Quelle im Park, Quelle im Rebhühnerpark auf den sogenannten
90 Aeckern und nach starkem Regen auf den Aeckem nach N. von der
Kaserne, auf der »Grossmutter« und im Webicht).
Den geologischen Untergrund dieses Plateaus bilden theilweis
dünne Muschelkalkbänke, die in bröcklichen unregelmässigen Schichten
n^it Letten abwechseln. Der grösste Theil aber besteht aus Alluvionen,
wie sie sich jenseits der Um nach dem Gottesacker zu (Vorwerksgasse)
finden (Lehm) und aus KiesgeröUen , wie sie bei Süssenborn über 80
Fuss hoch zu Tage liegen.
Die Kaserne mit den Nebengebäuden liegt in einer der oben ge-
schilderten wasserreichen Terrainfalten des Plateaus und finden sich zu
beiden Seiten der ganzen Wilhelmsallee zahlreiche Brunnen. Die jetzige,
im Jahrä i 855 neu erbaute Kaserne ist zum Theil aus den dünnen
Muschelkalkplatten gebaut, die unter dem östlichen Flügel des Ge-
bäudes selbst gebrochen wurden. Der westliche Flügel steht auf Geröll
und »Knatz« (Keuperletten ?) und hat sich nach der Vollendung des Baues
so gesenkt, dass das Gebäude in der Mitte starke Risse bekomtnen bat.
Die Abtrittsgrube befindet sich am östlichen Flügel in dem früheren
Steinbruche angelegt. Die frühere Kaserne mit sehr ungünstigen Räuin-
lichkeiten befand sich in dem jetzt zum Lazareth eingerichteten Ge-
bäude und steht dasselbe wahrscheinlich ganz auf Alluvium. Die
Brunnen am Kasernenberge haben eine wechselnde Tiefe von 18 — 26—-
30 Fuss und variiren im Wasserstand bedeutend.
Der Einfluss socialer Miss^tände lässt äich in Bezug auf den Aus-
j
Der Typhos in der Kasene n Weimar von t83(l— 1867 ete. S>
bnieb von Typhusepidomien beim Militttr leichter übersehen, als bei
der CivilbevOlkefung. Es giebt die Kaserne zu Weimar den Beleg, dass
ohne sociales Elend (Simon) doch Epidemien entstehen können und ist
das sociale Elend als ätiologisches Moment tlberhaupt ein Factor, der
sich zu allen Zeiten auch unter einer relativ gesunden Bevölkerung in
grösseren und kleineren Orlen jederzeit nachweisen tösst. Wenn man
auch der früheren Kaserne zu Weimar den Vorwurf machen konnte,
dass sie übervölkert war, so trifft dies doch kaum die jetzige Kaserne,
dis luftig gelegen, nicht durch Mauern eingeengt ist, in welcher den
Bewohnern eine ausreichende Kost verabreicht und in welcher dienst^
lieh auf Reinlichkeit der Räume und der Bewohner gesehen wird. Un-
günstige Einflüsse von Seiten der Beschäftigung der Soldaten können
nidit stark prädisponirend eingewirkt haben , da bei ziemlich gleich^
massiger Beschäftigung in 30 Jahren nur 6 mal eine stärkere Typhus-
morbilität vorkam.
Zur Erklärung der Exacerbationen des Typhus bedarf es, wie
Buhl sagt, einer Ursache im grossen Styl, die , wie sie für München in
den Schwankungen des Grundwassers sicher nachgewiesen und be-
rechnet >), auch für die frühere und jetzige Kaserne zu Weimar vor-
handen ist.
Die dem Militär zugehörigen Baulichkeiten stehen (mit Einschluss
des östlichen Hügels der neuen Kaserne) auf einem porigen , für Luft
und Wasser durchgängigen Untergrund , der bei c. %b Fnss Grund-
wasser führt.
Das Grundwasser unterliegt bedeutenden Schwankungen, wie
der schwankende Wasserstand der Pumpbrunnen daselbst beweist.
Der Wasserstand war im Herbst i 866 so hoch , dass nach N von der
Kaserne auf den e. 900 Puss entfernten Aeckem eine Quelle zu Tage
trat. Im Februar i 867 halte der Brunnen vor dem Lazareth auffallend
wenig Wasser, war am ganzen Kasemenberg Wassermangel , der erst
im März und April sich wieder ausgeglichen hatte. Es triflPl somit die
Typhusepidemie vom Winter i 867 mit einem tiefen Stand des Grund-
wassers zusammen und scheint auch das Erlöschen mit dem Steigen
desselben in Beiiehong zu stehen.
Aehnliche Verhältnisse constatirte der ärzUiohe Verein für die im
Frohjahr 4866 in dem Typhusbezirk von Weimar (Brühl, Wagnergasse,
Töpfergasse , Kirchgaasen etc.] auffallend spät eingetretenen Erkran-
kvngen. Es ging dieser Epidemie ein starkes Fallen des Grundwassers
in jenen Stadttheikn voraus.
4) SiioKL, Zeitschrift für Biologie, Bd. I.
96 I^- 1'« i'feMer»
Verschiedene kleinere Epideafiien , die Verissser im Sommer und
Herbsi 4865 in der Umgebung von Eisenadi im AnsoUudft an die
Epidemie von Meningitis des Winters 64/65 ^) zu beobaebten Gelegen-
heit hatte, treffen ebenfalls mit einem Eingeben der dort allein vorium-
denen Pumpbrunnen zusammen. Zumal in dem Dorfe Uelterode war
ein solch unerhörter Wassermangel und eine so starke Typhasepidemie,
wie sich kein Einwohner eines Gleichen erinnern konnte.
Die Hauptpuncte des von Buhl aufgefundenen Zusammengehens
von Grundwasserschwankungen und Typhusmorbilität finden sich
dempach im Untergrund der Kaserne. — Die von dem arztlichen Verein
zu Weimar schon längst angeregten ständigen Grundwassermessungen
werden voraussichtlich eine Bestätigung der anderweitigen interessanten
directen beiderseitigen Abhängigkeit, eine Bestätigung des Gesetzes,
ergeben:
dass die Dauer und Raschheit der auf- oder abwärtsgehenden
Bewegung des Grundwassers das Haass enthält fUr die In- und
Extensität des Typhus, d. h.
dass plötzliches tiefes Zurückgehendes Grundwassers z. B. eine
starke Epidemie mit stärkster Mortalität im Beginn derselben
vorhersagen lässt.
Es finden wahrscheinäch die für das Auftreten und die Verbreitung
der Cholera jetzt anerkannten Grundsätze auch hier ihre Anwendung,
muss für epidemische Verbreitung des Typhus eine Regeneration des
Gontagiuma, das audi hier in d^i Entleerungen zu suchen ist, im Bo-
den statt haben und ist der dazu günstige Zustand des Bodens vorhan-
den, wenn beim Zurückgehen des Grundwassers durch die nachfolgende
Luft die im Boden deponirten Abtrittsstoffe in Fttnlniss ttbergehen.
Durch die sehen jahrelange Anhttufirag von Soldaten auf dem
oben als porös geschilderten Boden ist die Imprägnation desselben mit
durch das Grundwasser gelösten excrementieUen Stoffen auf jeden Fall
eine sehr bedeutende.
Die Lage der Senkgrube^ an einer hohem Stelle des Terrains nach
O. von der Kaserne, muss ein Sickern derselben unter der Kaserne
hinweg nach dem Abhänge des Plateaus zu veranSasseu.
Eine verhältnissmässig starke Fäulnissentwickelung beim Zurück-
gehen des Grundwassers wird die natürliche Folge sein und findet dies
eine Bestätigung daria, da« mehrere Brunnen jedesmel beim Beginn
von Typhusepidemien mussten geschlossen werden wegen jauchiger
4) Diese Zeitschria. Bd. II. 4869.
Der Typliii8 io der Kaame n Weimr von 1836—1867 ete. S7
Beschaffenheit des Wassers. Auch nach Gebrauch anderen, guten
Wassers sind dann noch fortgesfdlste Erkrankungen vorgekommen.
Die immer noch in Frage geateUte GontagiosiUtt des Abdominal-
typbus können wir durch Beispiele siebt erhärten. Der persönliche
Verkehr ist in einer Kaserne viel zu verwickelt!, als dass sich für der-
artige Untersuchungen Anhallspuncte Onden Hessen. Die in der Poli-
klinik zu Jena durch Lotholz (Inauguraldissertation) zusammengestellten
Beobachtungen Über das Incubationsstadium des Abdominaltyphus
(18 — 28 Tage!) bestätigen den von GansmcsR aufgestellten Satz, dass
eine Ansteckung von Seiten Typhuskranker erfolgt. Die sehr einCachen
Verhältnisse der verschiedenen kleinen, jenen Beobachtungen zu Grunde
liegenden Epidemien in wenig bevölkerten Orten finden sich so selten,
dass diesen Beobachtungen ein doppdter Werth beigelegt werden muss.
Fttr die Erklärung der auffallenden Thatsache , dass seit 34 Jahren
der Typhus eigentlich nie in def Kaserne erloschen ist, braucht aber
nicht einmal eine öfter erneuerte Ansteckung von Einwohnern der
Kaserne, oder eine öftere Importe tion von Typhusoootagium angeoom-
men zu werden.
Die Tenacität des Typhusoontagiums ist eine ungeheure. In der
Erlanger Klinik erkrankten 3 Jahre lang alle Kranken am Typhus, die
in ein Zimmer gelegt wurden , in dem vor Jahren Typhuskranke ge^
legen hatten und kann die hier 30 Jahre lang zu verfolgende Reihe
von Typbusfällen auf die Tenacität des Gentagiuras bezogen werden,
welches event. jedes Zurückgehen des Grund weassers zu neuer, aua^
gedehnterer Regeneration benutzt.
In directem Anachluss an die Typhoserkrankungen im Febnuir
und März 1867 kamen im Militärlazareth zahlreiche Weehseifielier-
erkraokuDgen zur Beobachtung, von denen es anfangs zweifelhaft war,
ob dieselben nicht gleichen ätiologisohen Ursprunges mit der voraus-
gegangenen Epidemie seien. Vereinzelte oder auch mehrfaehe Weebsel-
fiebererkrankungen kommen aHjährlieh vor,
48iQ. 4842. 48U. 1846. 4847. 4»48. 4849. 4851. 4853.
4. 4. *. 4. 8. 7. 7«. 3. &.
4854. 4 855. ' 4 856, , 4 858. 4859. 4860. 4862. 4863. 4865.
8, 7. 5. 3. 2. 4. 6. 5. 4.
4866. 4867.
3. 42.
Doch sind die Erkrankten meist Recruten aus den Ddrfem kn
Aieth der Gera und der Unstnit, oder solohe, die auf der Wanderschaft
Fieberorle besuchten. 8o kommen s. B. von den 7 Wechseifieber^
kmnkea de» Jahres 4855
26 Dl. L. Pfeiler»
2 auf Allstedt.
2 - Kalbsrieth.
4 - Wolferstedt.
4 - Niederpälmtz.
4 - Heigendorf.
Nur die gehäuften Erkrankungen im Jahre 1849 und 4867 liessen
sieh nicht auf so einfache Weise erklären , zumal 1 867 ein so directer
Anschluss an die eben so unerwartete Typhusepidemie statt hatte:
fFebruar 40. 24. 22. 23. 27. 27. 27.
Typhus 4867 ^März 2. 3. 3. 4. 5. 5. 5. 8. 8. 42. 45. 25.
(April 3. 43.
[April 8. 42. 48. 24.
Wechselfieber 4867 ^Mai 44. 48. 48. 20. 23. 29.
[j
[Juni 42. 20.
Auffallend war, dass unter den Wechselfieberkranken sich nur
Soldaten des I. Bataillons befanden , welche im August 4 866 in Rastatt
in Kasematten (Friedrichsfeste) gelegen hatten und dass vom 11. und
IIL Weimarischen Bataillon mit Quartieren in Ulm kein Einziger er-
krankte. An eine Infection in Weimar war, da die Soldaten des 111.
Bataillons in derselben Kaserne und unter sonst gleichen Verhältnissen
sich befinden , nicht zu denken und niuss demnach trotz des langen
Imnibationsstadiums von 6 Monaten die Infection auf die Friedrichsfeste
in Rastatt bezogen werden.
Räthselhaft würde diese Epidemie geblieben sein, wenn nicht be-
reits fttr die massenhaften Wechselfiebererkrankungen des Jahres 4849
sich ähnliche ätiologische Beziehungen hätten finden lassen. Im August
und September 4848 war das Weimarische Militär in der Stärke von
4 000 Mann nach Schleswig ausgerttckt mit Quartieren in und in der
Nähe von Flensburg. Bereits auf dem Heimwege erkrankten einzelne
am Wechselfieber, aber erst im Frühjahr 4849, also ebenfalls wieder
nach einer fast 6monatlichen Latenz , kam es zu den massenhaften Er-
krankungen unter dem damals geringen Dienstbestand und viele
mittlerweile Entlassene überstanden ihre Krankheit in der Heimath.
Zahlreichere Typhuserkrankungen kamen damals nach Tab. I nicht
vor. Man kann die Salubritätsverhältnisse der Kaserne nicht beschul^
digen, dass gerade durch sie eine frühere Infection zur Perfection ge-
kommen sei.
Die anderweiten im Militärlazareth beobachteten epidemiacben
Krankheitsformen haben wegen der geringen Zahl der vorgekommenen
Fälle nur untergeordnetes Interesse. Die beigegebene Tabelle U. giebt
Der Typhös in der Rasen« n Wehisr voa 189^1867 ete.
29
Tab. U.
Im Jahre
Januar bis
Mfirz
April bis
Juni
Juli bis
September
October bis
Dccember
Summa
4886
Yarioloiden S
Yarioloiden 2
Yarioloid. 44
Varioloiden 4
Yarioloiden 49
4840
Parotidis 8
Parotidis 8
4842
Yarioloiden 4
Yarioloiden 4
Varioloiden 5
4844
Yarioloiden 2
Yarioloiden 2
4845
Parotidis 4
Erysipelas 2
Erysipelas 4
Parotidis 4
Erysipelas 3
4847
Morbillen 8
Morbillen 2
4848
Morbillen 8
Yarioloiden 4
Yarioloiden 4
Morbillen 3
4849
Parotidis 4
Morbillen 3
Yarioloiden 7
Erysipelas 2
Yarioloiden 8
Yarioloiden 9
Yarioloiden 4 9
Parotidis 4
Erysipelas 2
Morbillen 3
4850
Erysipelas 8
Yarioloiden 4
Parotidis 4
Erysipelas 2
Erysipelas 4
Yarioloiden 4
Erysipelas 2
Influenza 4
Yarioloiden 2
Parotidis 4
Erysipelas 44
1
4854
1
Influenza 8
Erysipelas 4
Parotidis 4
Erysipelas 3
Parotidis 4
Erysipelas 4
Influenza 4
4859
Erysipelas 8
Erysipelas 4
Erysipelas 4
4858
Erysipelas 4
Erysipelas 7
Parotidis 44
Erysipelas 7
Parotidis 44
Erysipelas 48
4854
Yarioloiden S
Yarioloiden 2
Erysipelas 5
Erysipelas 4 2
Erysipelas 4
Yarioloiden 4
Erysipelas 48
t
4855 ■
1
Yarioloiden 4
Parotidis 4
1 Erysipelas S
1
i
Yarioloiden 4
•
Erysipelas 40
Influenza 8
Erysipelas 8
Influenza 8
Influenza 2
Yarioloiden 2
Parotidis 4
Erysipelas 45
Influenza 8
1
4866 1
1
1
Erysipelas 8
Yarioloiden 8
Erysipelas 5
Erysipelas 8
Morbillen 8
Erysipelas 4
Erysipelas 4
Yarioloiden 8
Erysipelas 48
4857
Erysipelas 8
Vari« »leiden 3
Erysipelas 4
Morbillen 4
Erysipelas 2
Varioloiden 8
Erysipelas 47
Morbillen 4
30
dr^UPfeMMT,
Fortsetzung Ton Tab. IL
Im Jahre
Januar bis
MHrz
April bis
Juni
Juli bis
September
October bis
Deoember
Summa
1
4858
Scarlatioa 4
Erysipelas 4
ScarlatinaJ
Erysipelas 5
Morbillen 4
Varioloiden 2
Varioloiden 2
Erysipelas 9
Scarlatina und
Morbillen 3
1
4859 1
Varioloiden 2
Parotidis 4
Varioloiden 2
Parotidis 4
Erysipelas 8
Parotidis 2
Erysipelas 4
Erysipelas 4
Varioloiden 4
Parotidis 7
Erysipelas 46
4860
Erysipelas 2
Erysipelas 5
Erysipelas 8
Erysipelas 40
4864
Morbillen 3
Erysipelas 5
Erysipelas 4
Erysipelas 6
Morbillen 8
4862
Erysipelas 7
Erysipelas 3
Erysipelas 40
1
1
4863
Brysipelas 2
Erysipelas 5
Varioloiden 2
Erysipelas 5
1
Varioloiden 6
Erysipelas 2
Influenza 42
Varioloiden 8
Erysipelas 4 4
Influenza 42
4664
Varioloiden 2
Erysipelas 4
Erysipelas 8
Erysipelas 3
Erysipelas 2
Varioloiden 2
Erysipelas 9
4865
Parotidis 8
Erysipelas 2
Erysipelas 3
Erysipelas 5
Erysipelas 2
Parotidis 8
Erysipelas 42
4866
Parotidis 8
Erysipelas 8
Morbillen 40
Scarlatina 4
Erysipelas 8
Erysipelas 3
Erysipelas 4
Cholera 2
Cholerine 4
Parotidis 8
Erysipelas 40
Morbillen 40
Scarlatina 4
Cholera 1 ^
Cholerine^
4867
Erysipelas 2
Diphtherl-
tis44
Erysipelas 2
Summa
olme
4867
Varioloid. 40
Parotidis 4 3
Erysipelas 23
Morbillen 24
Scarlatina 2
Inlhienza 3
72
Varioloid. 22
Parotidis 5
Erysipelas 85
Üorbillen 3
Scarlatina 4
Influenza 3
449
Varioloid. 25
Parotidis 47
Erysipelas 72
Morbillen 2
Scarlatina —
Influenza 3
449
Varioloid. 49
Parotidis 8
Erysipelas 24
Morbillen --
Scarlatina —
Influenza 45
63
Varioloiden 76
Parotidis 43
Erysipelas 201
Morbillen 26
1 Scarlatma 8
I Influenza 24 (?)
373.
Dtr tjfku i« in KMtriM m Weimr fm Vm^mi ele. 31
eint Ueberaicht der io dm 30 Jabren noiirlen Fälle von Erysipelas,
Yarioloiden , Morbillen , Scarlatina , Parotidis und Influenza. Leider ist
die Uphtherilis in den Krankenrapports nioht berttoksiohiigt.
Die Uebersicht xeigi eise forUauCende Anzahl ^on ErysipelaslälleD
(mit Ausschluss von Lyinphangitis und Phlegmone) durch eine lange
Reihe von Jahren , die im Durchschnitt mehr auf die wärmere Jahres-
zeit fallen und die häufig sporadisch , in manchen Jahren aber auch in
grösserer Anzahl mit acuten Exanthemen zusammen vorkommen. Bös-
artige Formen sind kaum zur Beobachtung gekommen. So nach der
Typhusepidemie von i 867 ein Fall , in dem fast 1 Quadratfuss Baueb-
wand mit einem grossen Theil des Zellgewebes am Scrptum und Peoia
brandig ausgestossen wurde , und der in Heilung ausging.
Kleinere Epidemien von Parotidis sind verhältnissmässig häufig
zur Beobachtung gekommen, doch lässt sich hier ebenso wenig wie für
die Fälle von Rothlauf irgend ^in äusseres ätiologisches Moment geltend
machen. Meist findet sich die Parotidis vor oder nach oder auch gleich-
zeitig mit acuten Exanthemen , und im Ganzen ziemlich gleichmässig
Über das ganze Jahr vertheilt.
Parotidis wurde beofiachtet
Blattern 1850, 1855, 4859.
Erysipelas 4853, 4859, 1866.
Influenza 4 854.,
Masern 4866.
Scharlach 4866.
Gleichzeitig mit <
, . (Rothlauf 4853.
Vorausgehend vor j^j^^^^^^g^^
^T 1^* , j t (Blattern 4849.
Nachfolgend auf jp^^^l^^j^ggg
*"•''* '«840 (Typhus).
Halsentzündungen kamen durchschnittlich 30 — 40 in jedem Jahre
in Behandlung; Ausnahmsweise stark vertreten in den letzten Jahren
4860. 4861. 4 862. 4863. 4864. 4865. 4866.
" 30. 39. 22. 40. 4 45. 446. 89.
jedoch ist nicht mehr nachzukommen, wie sehr diphtheritische Processe
hierbei betheiligt sind (die in neuerer Zeit entschieden häufig vor-
kommen).
Lediglich der Vollständigkeit wegen sei noch angeführt, dass jähr-
lich 2—5 bis höchstens 4 4 Lungenentzündungen vorkamen.
32 Dr. L. Pfeiffer, Der Typhm in der KaseiBe t« Weimiir voa t8d6— 1867 ete.
Acute Gelenkrheumatismen durchschnittlich 4 — 2 — 3 in jedem
Jahr.
Nagelgeschwttre durchschnittlich 33, Minimum 42, Maximum 63.
Muskelrheumatismen in folgender Vertheilung :
4849. 4850. 4851. 4852. 4853. 4 854. 1855. <856. 4857.
40. 55. 60. 85. 64. 64. 78. 46. 54.
4 858. 4859. 4860. 4864. 4862. 4 863. 4864. 4865. 4866.
36. 4 00. 4 04. 93. 63. 4 20. 464. 480. 134.
wobei zu berücksichtigen ist, dass der Dienstbestand der letzten Jahre
fast das Doppelte ist von z. B. dem des Jahres 4 839.
r
»
tJeW ewige ThiHiuiTerbhiliagea u4 die Stelliig A«s«f
Hetells ia Systevi
von Dr. H. Kemming,
Die im Folgenden mitgetheilten Unfenncbiuigen über das Thallium
wurden von mir auf Veranlassung des Herrn Dr. Somm ifsaanr in BerUa
in dessiü Laboratorium begonnen und im Laboratorium des Herrn Pnn-
feasor Dr. GaoTaia in Jena su Ende geführt.
Dieselben sollten sich nur auf die Dai*stellung und Untersilohiuig
etwaiger Verbindungen des Thalliumoxyduls mit Molybdänsünre, Wolf-
rarostture und Arsensüure, sowie auf das Studium der Einwii^ong ▼•»
trooknem Ammoniakgas auf metallisches Thallium beschrttiiken. Nach-
dem ich schon lungere Zeit mit den einleitenden Arbeitan besohaftigt
war, kam mir erst eine Abhandlung »On the combinations of ThaDium,
Inaugural-Dissertation at the Georgia-Augusla University by Pkl. Jos.
OiTTu«aa« zu Gesicht , in welcher ein Theil der von mir beabsichtigten
Untersuchungen schon enthalten war. Da Obttingbe indesa die von ihn
erhaltenen Salze auf ihren Wassergehalt zu untersuchen versäumt hatte,
so habe ich geglaubt, die beabsichtigte Untersuchung nicht unterlassen
zu dürfen.
Verbindungen des Thalliumoiyduls mit Wolframaäure.
OBTTiNGsa erhielt, als er wolframsaures Nation zu salpetersaurem
Thalliumoxydul goss, einen weissen in Wasser qnittslichen Niederschlag,
für den er nur auf Grund einer Wolframsfiurebestimmung die Formel:
Tl O 2 WoO*. HO aufstellte. —
Fügt man wolframsaure Alkalien zu nicht zu verdünnten Lösungen
der Thalltumoxydul-Salze, so erhält man weisse amorphe Niederschläge.
Dagegen entstehen, wenn beide Li^aungen kochend und stark verottnnt
zusammengebracht werden, in der erkaltenden Flfissigkeit ataiii lidlit*
brechende RryaUllblattohen, welche unter dem Mikroskop die Form sechs-
seitiger Tafeln zeigen, ohne jede Abscheidung amorphen Salzes. Ob
I. IV. 1. I
^
34 H. Fleraming,
die Krystalle dem rhombischen oder hexagonalen System angeboren,
wage ich nicht zu entscheiden.
Man erhält die nämlichen Krystalle , wenn man Wolframsäure län-
gere Zeit mit kohlensaurem Thalliumoxydul kocht und heiss filtrirt.
Ich habe den weissen amorphen Niederschlag durch Zusammen-
giessen kalter nicht zu verdünnter Lösungen von kohlensaurem Thal-
liumoxydul und NaO. WoO'. 2 HO dargestellt und analysirt. Derselbe
erleidet^ wenn lufttrocken angewandt, weder nach 3tägigem Trocknen
über Schwefelsäure, noch nach 12slündigem desgleichen bei 100" C,
noch nach 6 stündigem bei f 50^ C irgend welchen Gewichtsverlust.
Er ist also wirklich wasserfrei. In kohlensaurem Natron löst er sich
beim Kochen; beim Erkalten der Lösung entstanden die erwähnten
Krystalle. Zur Analyse wurde die Substanz durch kohlensaures Natron
in Lttfivng gebracht, das Thailhim durch lodkaliom gefüllt ^), abfiltrirt
und nadh dem- Trocknen bei 400^ G. gewogen. Das Filtrat wurde mit
fialpeteraanrem Quaeksüberoxydul yollkommen ausgeftlllt undVer Nie-
derschlag von wolframsaurem Qoecksilberoxydul und lodquecksilber
voraichtig geglüht.
4,125 grm. Substanz gaben 4,034 grm. TU, entsprechend 0,669t
%m. TIO as 58,8 Procent und 0,4645 grm. WoO^ ^ 41,2 Procent.
£s entsprechen diese Zahlen allerdings nicht einem neutralen Salz,
Bbei* attoh nicht einem sauren ; sie kommen am Nächsten der Formel :
4T10, ö WoO».*)
lob halle es für das Wahrscheinlichste, dass das Mehr an Wolfram-
Säure bloss neutralem, rasch und deshalb amorph ausgeschiedenem Salz
beigemengt sei.
4) Dies geschah immer nach der von Willm*) gegebenen Vorschrift. Der-
selbe räthdas Thallium in einem vorher gut gereinigten offnen GefUss in der Kttite zu
flilleii, da ^siob öesselbe leicht an die Wanänngen des Glases ansetze, 4 •—42 Stun-
den absetzen zu lassen, einmal zu decantiren und den Niederschlag mit einer klei-
nen Quantitöt Wasser, ^"^Iches man vorher mit ein paar Tropfen lodkaliumlösung
versetzt hat, aufs Filter zu bringen und abtropfen zu lassen. Dann wird mit reinem
Wasser ausgewaschen, so lange, bis die obe« ste Schiebt des Filtrats anfangt, sich
zu trüben. Das Filter muss bei 4 00®C. getrocknet und gewogen sein und man
wiederholt diese Operation, nachdem man das lodthallium darauf gesammelt hat.
— Die Resultate sind, wie ich bestätigen kann, sehr genau.
*) Recherches surle Thallium, Th^se pr^sent^e äla Facult^ desSciencesde Paris,
par M. J. Edhond Willm, Paris, 4 865 vollst, abgedr Annales de Chim. et de Phys.
4, V, p. 5— -401.
i) Das Aequivalent des Thalliums habe ich hier, wie bei allen meinen Analysen
mit Lantiu SOi aogenommeo.
Geber einige TbAUiom?erbiDdttngM md Ae Siellong die^ MelftUs im System. $5
ber. gef.
4T10 59,4... 58,8
6WoO« 40,6. .. 44,2
400
Krystallisirtes wiriframsaures TbaUiumoxydul erhielt ich durdiVer*
mischen kochend heisser, stark verdünnter Lösungen von kohlensaurem
Thalliumoxydttl mit NaO. WoO'. 2 HO und Abfiltriren der, in der er-
kaltenden Flüssigkeit schnell entstehenden Krystalle. Es verliert beim
Trocknen etwas an Glanz und Lichtbrechungsvermögen , erleidet aber,
nachdem es lufttrocken geworden ist, weder beim Trocknen Ober Schwe-
felsäure, noch bei 100, noch bei 150® G. irgend welchen Gewichtsver-
lust. Es ist also auch wasserfrei.
Zur Analyse wurde das Salz gleichfalls in kohlensaurem Natron ge-
löst, das Thallium als lodtballium gefüllt und gewogen , das Filtrat hie-
rauf unter Zusatz von Salzsäure eingetrocknet, die dabei theilweise
reducirte Wolframsäure durch einige Tropfen Salpetersäure wieder oxy-
dirt, Wasser zugefügt, die zurückbleibende Wolframsänreabfiltrirtund
mit Salmiak haltigem Wasser ausgewaschen , getrocknet , geghlht und
gewogen.
Ein anderes Mal habe ich krystallisirtes wolframsaures Tballium-
oxydul , durch Kochen von Wolframsäure mit kohlensaurem Thallium-
oxydttl dargestellt; in der heiss abfiltrirten Lösung scheiden sich die
Krystalle rasch aus. Das Salz wurde ganz wie das vorhergehende ana-
lysirt.
L Salz durch Umsetzung mit NaO. WoO'. 2 HO erhalten:
4,9325 grm. gaben: 0,634 grm. WoO* *) :m 32,6 Prooent und:
4,945 grm. TU, entsprechend 4,^46 grm. TIO » 64,5 Proceni.
U. Salz beim Kochen mit WoO' erhalten:
0,8t 35 grm. Substanz lieferten : 0,8205 grm. TU, entsprechend
0,5255 grm. TIO » 64,5 Procent^ femer 0,290 grm. WoO' wt 35,6
Procent.
Demnach ist das Salz neutrales wolframsaures Thattiumoiydul.
ber. gef.
TIO 64,5 . 64,5 . 64,5
WoO« 35,5 . (32,6) . 35,6
400
4) M dieser Wotframtiare-Bestimmung ging Etwas verloren.
• ♦
36 H. PtonDlngv
Ich habe auch versucbt ein saures wolframsaures Salz des Thallium-
oxydul's zu erhalten dadurch , dass ich eine verdünnte heisse Lösung
von kohlensaurem Tballiumoxydul mit einer desgleichen von saurem
wolframsaurem Natron versetzte. Bei geringem Zusatz bilden sich wah-
rend desEricältens die mehrfach beschriebenen Krystalle, bei grösse-
rem Zusatz entst^t eine Trttbung der Flüssigkeit, und, wenn man noeh
einige Zeil kocht^ scheidet sich am Boden gelblich grüne WolframsSure,
imlerEiistht mit amorphem Salz aus. Die hierbei entstehenden Kry«*-
stalle waren anfangs klar und durchsichtig , aber nach Verlauf Ven 2(
Stunden waren sie trüb und undurchsichtig geworden. Da sie si<^
durch Abschlämmen von dem amorphen Niederschlag gut trennen
lassen , habe ich auch von ihnen eine Thallium-Bestimmung gemacht.
Sie Hod damach gleichfalls neutrales Salz.
4,7S45grm. des krystallisirten Salzes gaben : 4,7645 grm. TU,
•Dtsptieofaeiid i^iUi gpm. T10s64,5 Proeent.
y^r bin düngen des Thalliumoxyduls mit Molybdän säure.
Giesst voan eine heisse st^rk vendttnnte Losung von NaO. MoO'.
SfllO mit eiper gleichfalls beissen und slaric verdünnten Lösung von
kjoblensaurem ThaUiumoxydul za3ainmen , so scheiden sich beim Er-*
kalten 4^ Flüssigkeit Kry$UilUlitter au^, die unter dem Mikroskop ganz
dieselbe Form und ein gleich ausgezeichnetes Lichtbrechungsvermögen
zeigen , als die schon beschriebenen Krystalle des neutralen wolfram-
säuren Salzes. Sie scheinen im \Vasser noch schwerer löslich zu sein,
alj^-jfiia; durch kohlensaure Alkalien werden aie gleichfalls gelöst und
bei genügender ConcentcBtlon beim Erkalten wieder erbalten.
Zur Analyse wurde die lufttrockne Substanz verwandt; sie erlitt
sowohl über Schwefete^urje , «Is bei 100, als bqi i50^G. keinen Ge-
wichtsverlust. Das Salz war also ebenfalls wasserfrei. — Nach dem
Lös^ in kofalebBaurem Natron wurde das Thallium durch iodkalium
ausgeftUtv
1,0593 grm. des getrockneten Salzes gaben: 4,S30 grm. TU,
ents^^end 6,7898 grm. T10s=74,4 Precent.
Demnach ist das Salz neutrales molybdänsaures ThaUiumoxydul.
ber. gef.
TIO ,...,. 74,6 . . 74,4
MoO» 25,4 . . —
100
Diese Krystalle kann mm auch durch Kochen von Molybdänsäure
Deber einige ThaUiomrerbiudongeD uid äe Stellung dieses Metalls im System. }T
mit einer Lösung von kohlensaurem ThaUiumoxydul erhalten ; filtrirt
man letztere noch helss von der ungelöst gebliebenen Molybdansaure
ab, 80 ersoheinen dieselben beim Erkalten im Filtrat.
FOgt man eine Iltisse und stark verdünnte Losung von i^eiüadi
molybdänsaurem Natron — erhalten durch Zusammenschmelzen von
4 Miscbungsgßwicht NaO. CO^ mit 3 desgleichen MoO^ — zu einer
heiasen , stark verdünnten Lösung von kohlensaurem Thalliumoxyduli
so entsteht anfilnglicb kein Niederschlag, aber bei weiterem Zusatz des
molybdänsaur^d Natron entsteht ein, durch die ganze Flüssigkeit ver^
breitetes , voluminöses , weisses Präcipitat, welches mit wenigen cou^t*
pacteren Krystallen vermengt ist. Es setzt sieh sehr langsam ab ; die
unterste und schwerste Schichte zeigt eine gelbliche Farbe. In einer
hinreichenden Menge siedendcoi Wassers löst es sich wieder auf ; fügt
man daiu von Neuem molybdäosaures Natron, so entsteht mich einigem
Kovhen ein gelber, schnell zu Boden sinkender Niederschlag. Wird
dieser, nach dem Auswaschen mit Ammoniak behandelt , so verliert er
seine gelbe Farbe, es bleibt eine weisse Masse zurück und in der
Flüssigkeit findet sich Thallium und Molybdän^Aure. Eine qualitotive
Analyse dieses gelben Salzes, welche angestellt wurde, um zu entscheiden ,
ob dasselbe vielleicht ein Doppelsalz von TIO. MoO» und NaO. MoO^
sei, ergab die Abwesenheit von Natrium.
Das sich zuerst abscheidende und schwer abseUienda I^rlbeipitaAi
welches sowohl von gelbem , als auch von krystallisirtem Si^ze Jeicht
durch Schlamme^ getrennt werden kann, wurd^über Sohw^fel^ltuirf
getrocknet und analyvrt. Es konnte ohne Gewichtsverlust bis 4^0^ G.
erhitzt werden und ist also wasserfrei.
4,04285 grm. lieferten 4,1075 TU, entspiechend 0,7093 TVO »
68,5 Procent.
Das Verhaltniss des ThaUiumoxydul's zur Molybddnsdure bere^i^p^t
sich danach wie 8:44 oder 4 : 57.. Es ist wohl möglich , dsAs dasMt^
ein Gemenge amorphen neuiralen Salzes mit freier Molyb4^n,s)lure ist. —
Das vorher erwähnte gelbe Sab verii^l, wenn es {ufttrooken if^
weder über Sehwefeisflure, noch Im tOO resp. 450<^G. ßu Gewicht .
0,74475 desselben gaben: 0,6835 gnp. TU, eptsprechend 0,3999
grm. TIO iB 53,6 Prooeot.
Damach enthttlt es also 46,4 Proeent MolybdttnsHiure, welche Zablfp
anntthamd einem Sab von der ZusummeiMtzung BTIO, 8; M^Q^ ent-
sprechen.
0BTT4i«4ia erhielt durch WeohseUerselzung von s^^eterfaur^ffi
ThaUiumoxydul upd molybdänsaorem Natron gle^hfalls das nfuZualf
Salz, blr das er die richtige ZnaavmenseUwg apgegeb^n b^t.' ^ -
$g H. Flemming,
Verhalten des Thalliumoxyduls gegen Kieselsäure.
Dass das Thalllumoxydul das Vermögen besitzt, Kieselsäure aufzu-
lösen , ist schon von den Entdeckern dieses Metalls bemerkt worden ;
es ist jedoch, so weit ich habe in Erfahrung bringen können, nie
das Verhältniss untersucht, in welchem beide sich mit einander zu
vereinigen im Stande sind. — Die von mir zu den Versuchen ver-
wandte Kieselsäure war bei der Darstellung der Kieselflusssäure als
Nebenproduct gewonnen, sie wurde vollkommen ausgewaschen und
ungeglttht angewandt. Das Thalliumoxydulhydrat war durch Wechsel-
zersetzung von schwefelsaurem Thalliumoxydul mit Barythydrat in
verschlossenem Cylinder und Eindampfen der verdünnten Lösung in
einer Retorte erhalten worden. Diese Lösung wurde mit viel über-
schüssiger Kieselsäure etwa 24 Stunden lang im Kochen erhalten und
dann abfiltnrt. Das Filtrat wurde getheilt, ein Theil diente dazu, das
relative Lösitchkeitsverhältniss der Kieselsäure im Thalliumoxydul fest-
zustellen, der andere, um zu sehen, ob bei weiterem Eindampfen etwa
eine krystaUisirte Verbindung erhalten würde.
Die ersterwähnte mit Salpetersäure angesäuerte Flüssigkeit wurde
zur Trockne gebracht, wieder mit Wasser aufgenommen und von der
ausgeschiedenen Kieselsäure abfiitrirt ; im Filtrat wurde das Thallium
als lodthallium bestimmt.
Es wurden erhalten: '4,629 grm. TU, entsprechend 1,0433 grm.
TIO und 0,04355 grms. SiO».
Demnach waren gelöst in 100 Theilen Thalliumoxydul 4,17 Theile
Kieselsäure.
Die nach einiger Conoentration aus dem zweiten Theil nach dem
Erkalten sich abscheidende Substanz war weiss und krystatlinisch ; sie
verlor, lufttrocken angewandt, über Schwefelsäure 5, 3 8 Procent Wasser,
nichts weiter indessen beim Erhitzen auf 150^G.
Zur Analyse wurde dieselbe mit Salpetersäure einige Zeit gekcfdit,
im Wasserbade zur Trockne gebracht , mit Wasser wieder aufgenom-
men , von der ausgeschiedenen Kieselsäure abfiitrirt und im Filtrat das
Thallium als lodüiallium gefällt.
0,2345 grm. gaben: 0,073 SiO* = 31,1 Proc. und 0,23875 grm.
TIJ, entsprechend 0,1529 grm. TIO = 65,2 Proc.
Man sieht, dass die Analyse einen Vertust von 3,7 Procent ergiebt,
über den ich mir Rechenschaft nicht zu geben vermag. Es wäre denk-
bar, dass die Substanz Wasser, welches bei 150^C. noch nicht aus-
getrieben wurde , enthalten hätte. Das gefundene Gewichtsverhältniss
von TIO und Si 0* entspricht dem Hischungsgewicbtsverhältniss 4:9;
Deber eiuigo TbalUamyerbiDdongMi md dh Slellaug dieses Metalls ira System. S9
We Lttsung voo Kiesdsttiire und ThaUhiinoxydul wird durch Kohlen-*
aKore unter Abseheidong von Kieselsäure «ersetzt, aber die leteiere ist
doch auoh im Stande, die Kohlensflnre auszutreiben , da eine kochend«!
Lösung von TIO. CO^ Kieselsäure zu lösen vermag. Beim Erkalteff
trübt sich die Flttssigkeit, wird aber durch erneutes Rochen wieder
klar. Beim abermaligen Erkalten tritt die Trübung von Neuem etn
und nach einigem Stehen scheidet sich eine , in ihren äussern Eigen-"
schaden der vorher ailalysirten ganz ähnliche Substanz aus.
* ■
Verhalten des Thallium gegen Stickstoff.
Für diesen Versuch, wie fVif die folgenden, habe, ich wv TMUifm
nach Willh's Vorschrift aus oxalsaurem Thalliumoxydul dargestellt.
Wenn man dieses Salz erhitzt, so schmilzt es unter starkem Aufschäu-
men zu einer anfangs sohwarzeo, dann rothbraun^ Masse , au^ wel-
cher sich plötzlich der Begulus hervordrang. Fast imiper ist derselbe
an seinen Rändern nodi v<m Qioem scbraaleD Bingß braunen odeit
schwaraen Oxydes umgeben, von welchem man das Aussige Metall
leicht durch Drel\en des Glasrohrs (Kugelröbren). ablaufen lassen kitftn^)
lieber das dergestalt reducirle glänzende Metallkorn wurde Stiok-:'
^s aus einem Gasometer, über Sohwefel^säure und CUorcalciumgeti^ook-f
net und über gllthende Kupferspähne geleitet, treten gelassen. Eswurda
allmählich die Hitze gesteigert« Die Metallkugel blieb völlig blank und
unverändert, selbst als die Temperatur die Sohmelzbitse des büluiiiiicbfia
Glases erreicht hatte. . . -^
Die gleiche Un Veränderlichkeit des Metalls beobachtete OBTTiifOBa«(
als er trocknes Ammoniakgaa 2 Stunden lang Über in einer Glaisretortci
geschmolzenes Thallium leitete. i
Verhalten des Thallium gegen^ K'ohlensäu-re. • «/
Reipe trockne Kohlensäure Ubtayf blankes Tballiuiu» selbst bei
einer Hitze, welche das böhmische Glas erweiphen maeht, nicht, die {je**
ringste Wirkung aus. Es entsteht keine Spur Kohlenoxyidgas oder
Thalliumoxydul.
Einwirkung von Kohlenoxydgas auf die Oxyde
des Thallium.
Obgleich nach der von Wu.lk gemachten Entdeckung , daas beim
Erhitzen von oxalsaurim Thalliumttxydül metalÜBohes Thallium env-
40 H. PlMuiiDi»
Stabe 7 und nadi dem Resultat des vorfaerigen Versaohs es beinahe als
selbstverständlich anzusehen war, dass die Oxyde des Thallimn dur^
Koblenos.Ydgas reducirt werden, so .stdlte ich doch, da der direole
Versuch noch nicht gemacht war, denselben an.
Idi leitete über das beim Glühen des salpetersauren Thalliumoxy-
duls erhaltene Product -^ nach Laht ein Gemenge von Thalliurnoxydid
und Tballiurotrioxyd — das sich in einem Porzellanschiffchen und dieses
wieder in einem böhmischen Glasrohr befand , Kohlenoxyd. — Sohon
nach kurzer Zeit zeigten sichMetallkttgelchen und es gelang nach länge-
rem Gltihen, das Gemenge der beiden Oxyde vollständig zu reduciren.
Verhalten des elektrischen Stroms gegen salpeter-
saures Thallinmoxydur.
Es ist mehrfach von den Chemikern, welche sich mit Unter-
suchungen Ober das Thallium beschäftigten, bemerkt worden, dass bei
Reduction desselben mittelst des elektrischen Stromes aus einer Sulfat^
LMung sich am positiven Pol eine schwarze Masse ausschied. Dieselbe
trat stets in zu geringen Mengen auf, um damit Reactionen anstellen zu
können; man vermuthete nur, dass es Thalliumtrioxyd sei. Auch ich
beobachtete diese Substanz bei der Reduction des Metalb durch den
dektrischen Strom , welche ich derjenigen durch Zink weitaus vorzu-
siehen gelernt hatte. Wenn dieselbe wirklich Superoxyd war, so konnte
ihre RHdung in grösserer Menge bei der Zersetzung des salpetersauren
Salzes erwartet werden. In der That geschieht diess. Es scheidet sich
am negativen Pol Metall, am positiven Thalliumtrioxyd In be.ti^cht-
Heher Menge als dichte, schwarzbraune Masse aus, welche dieselben
Reactionen, wie das auf anderem Wege dargestellte Trioxyd liefert. *)
Verhalten des Thaüiumoxydulhydrats gegen Phosphor.
In schmale Streifen geschnittener , weisser Phosphor in eine Lo-
sung von schwefelsaurem Thalliumoxydul gebracht, erzeugt in der-
selben nach wochenlangem Stehen am dunkeln Orte keine Veränderung.
Phosphor-Stttcke in eine concentrirte Losung von Thalliumoxydul-
hydrat, welches durch Zersetzen von TIO. SO' mit Barythydrat unier
mOglichstemLuftabaohluss dargestellt war, gebracht, bedeoken sich fast
augenblicklich mit einer schwarzen Haut , die beim Kochen zu einem
4) Usk ersehe eben aus dem 9. Hefts des Jahrgangs 4SSS p. 67 der »Seitocbrift
für Gfaemie«, dass BdiTSia bereits dasaeUM beobscbtat hak
Ueber einige TlMülina?erbiD(loogei ui Ae Slelloiig dieses MettUs im System. 41
melallgblnseiideii Debenug wird. Id verdünnter SO' lOsle sieh derselbe
sehr langsam.
Pbosj^ber^Sttloke mit ThalUnrnoxydidhydrat in eine hiShre einge-
schlossen und 24 Stunden im Wasserbade erhitit, werden ebenfiaUs sa
einer schwarten aotBoden bleibenden Masse, wfihrend weissliche kleine
Krystalle sieh an den Gefosswttnden ansetaen. Beim Oeffnen der Röhre,
welche nur wenig Druck zeigt, ist der Geruch nach Phosphorwasser*<
Stoff wahmdimbar; die in der Röhre befindliche Flttssigkeit enthält
viel Thallium und etwas phosphorige Säure.
Die schwarze Masse wurde zur Entfernung Überschüssigen Phos-
phors mehrmals mit Schwefelkohlenstoff behandelt, aus welchem sich
nach dem Abgiessen alsbald rother amorpher Phosphor ausschied. Die
surttckbleibende Masse wurde über Schwefelsäure getrocknet, gewogen
und hierauf mehrere Standen mit verdünnter Sehwefelsäure gekocht;
es entwickelte sich dabei ein starker äusserst unangenehmer Geruch,
dem des Schwefelaethyrs vergleichbar. Ein geringer Theil, welcher
ungelöst blieb, wurde abfiltrirt und in der mit NaO. CO' neutraUsirteft
Lösung das Thallium als lodthallium niedergesdilagen. Phosphersäwe
war im Filtrat nicht nachweisbar.
0,4565 grm. Substanz lieferten: 0,664 grm. TU, enteprechend
0,409 gnn. Thallium »89,6 Proeent.
Der in Schwefelsäure ungelöst gebliebene nicht w^ler gewogene
Rückstand löste sich in Salpetersäure nnter Freiwerden von salpetriger
Säure ; derselbe enthielt nur noch geringe Mengen Thallium , dagegen
verbältnissmässig viel Phosphor. Es mag diess wohl ein Phosphorlhal-
lium gewesen sein, aber die geringe Menge der vorhandenen Siriistaai
erlaubte keine genaue quantitative Analyse.
Im Anschluss hieran habe ich einen Versuch angestellt über daa
Verhalten des Thallium gegen Phosphordämpfe bei
höherer Temperatur.
Es wurden Phosphordämpfe über in der Gltthhitse gcechmebeaee
Thallium in einem Kohlensäurestrem geleitet. Die Metallkogel bleibt
blank und zeigt nach dem Erkalten auf der Qberfliiohe nur eine dünne
Schicht einer blasigen schwärzlichen Masse ; die Kugel lässt sieh leidü
zerschneiden, die Schnittflächen sind völlig melaUgiänzend, ganz wie
bei reinem ThaUium. Nachdem sie längere Zeit in Wasser gelegen
hatu* , wurde die äussere schwarze Schicht durch Salpetersäure weg-
gelöst ; die Lösung enthielt Phoq>horsäure, das Uebrige der Metallkugel
war reines Thallium, denn:
4f R> Ptemniing,
l,04S5 griD. trockner Substanz lieferten: 4,04495 grm. TU, entspre-
chend 4,04 45 grm. oder 99,9 Proc. Thallium.
Dass die äusseren schwarzen Schichten der grösstentheüs unver-
änderten Thaltiumkugel ein Phosphorthallium gewesen sind, glaube ich
nach dem Angeführten annehmen zu dürfen ; aber es ist dadurch auch
Gonstatirt , dass die Verwandtschaft dieses Metalls zu Phosphor in der
Glühhitze nur sehr gering ist.
Ich war leider verhindert, diese Versuche zum völligen Abschluss
bringen zu können.
lieber dte Stellug iles ntllira Im Sjrsten.
Das Thallium hat das wunderbare Schicksal gehabt , zuerst unter
die MetalloYde, dann unter die Metalle und da wieder zu den leichten
und schweren gerechnet worden zu sein.
Grookbs glaubte anfangs , als er wohl nur Schwefelthallium und
nicht das Metall unter den Händen hatte, es gehöre zur Schwefel-Selen
Gruppe, später jedoch, als er die Eigenschaften des reinen Metalls stu-
dirte, stellte er es zwischen Blei und Silber.
Laht , der zuerst das Thallium in reinem Zustande erhielt , sprach
die Ansicht aus, es sei in die Gruppe der Alkalimetalle zu stellen. Nach
ihm hat Dumas in einem Bericht an die Akademie ^) das bis dahin über
Thallium Bekanntgewordene zusammenfassend, sich ebenfalls für die
LAMv'sche Ansicht ausgesprochen. Auch Willm bekennt sich am Schlüsse
setner vortrefflichen »Recherches sur le Thallium« zu der Ansicht
LamVs, was eigentlich zu verwundern ist, d)a fast alle von Willm neu-
gefundenen Thatsachen darauf hinweisen ^ dass das ThaUium den
schweren Metallen beizuzählen sei.
Von deutschen Gelehrten hat sich mit Bestimmtheit eigentlich nur
WnrfHEii bei Gelegenheit seiner Arbeiten über das Thallium fttr dessen
Stellung in die Alkaligruppe ausgesprochen. — In den Eiu>MAiiN*schen
sowohl, wie in den ScadKBBiN^schen Arbeiten habe ich entschiedene
Erklärungen hierüber nicht gefunden.
SrRBGusR , der über die Verbindungen des Thalliumtrioxyds ge^-
arbeitet hat, stellt das Element in seinem Lehrbuch unter die schweren
1) Comptes rendus des s^ances de rAcadömie de-i Sciences, s^ance du
45. Decembre 4862.
Ueber einige ThallinrnverbinduDgeii mid die Stelluag dieses Metalls im System. 43
Metalle und beschreibt es unmittelbar hinter dem Blei ; allerdings fügt
er am Schlüsse die Bemerkung hinzu ; «Der chemische Charakter des
Thallium ist so eigenthümlich , dass es mit keinem andern Metall
verglichen werden kann. Während es in mehreren Beziehungen den
Alkalimetallen ähnlich ist, zeigt es besonders wegen seiner Fäll-
backeit durch Schwefelanimonium und der leichten Reduction durch
Zink ane seinen Salzlösungen mehr Beziehungen zu den schweren
Metallen <l.
In dem Lehrbuch von Grahah-Otto wird es in der Einleitung der
zweiten Abtheilung des zweiten Bandes , welche über die allgemeio^n
Eigenschaften der Metalle handelt, zu wiederholten Malen unter den
schweren Metallen genannt und in unmittelbarer Nähe des Bleies auf-
geführt. — WöHLER stellt es in seinem Grundriss gleichfalls neben da^
Blei. — Man sieht also, dass über den, dem Thallium anzuweisenden
Platz unter den Chemikern noch keineswegs Einigkeit herrscht.
Diejenigen y welche das Thallium zu den Alkalimetallen rechnen^
führen für diese Ansicht an : l j die Löslichkeit des Thaliumoxyduls ki
Wasser und die stark alkalische Reaction dieser Lösung, ä) die Fäll-
barkeit mancher Metallsalze , z. B. Zinkoxydsalze durch das Thallium*^
oxydul, 3) die Existenz eines Thalliumalkoholat's , 4) die leichte Lös^
lichkeit des Thalliumfktorürs , des kohlensauren und schwefelsauren
Thalliumoxyduls und die Isomorphie des letzteren mit dem schwe-
felsauren Kali, 5) die Bildung von Thalliumoxydulalaunen, 6} die Lös-
lichkeit der phosphorsauren Thalliumoxydul- Salze, des Cyan-, des
Ferro- und Ferridcyanthallium , 7) die Unlöslichkeit des Thallium*
platinchlorids.
Ehe ich jetzt zu den zahlreichen gewichtigen Momenten übergebe,
welche dafür sprechen, das Thallium unter die schweren Metalle zu
zählen, muss ich noch einige Worte über die Beziehung sagen, in wel-
cher das Mischungsgewicht des Thallium zu denen .der Alkalien nach
Dmus stehen soll, sowie über die aus der specifischen Wärme abgelei-
teten Argumente Willm's.
W. in seiner oben citirten Abhandlung sagt : d Herr Düsas in sei-
nem so klaren Bericht über das Memoire des Herr Laut fügt, nachdem
er die Gründe erörtert hat, welche das Thallium unter die Alkalimetalle
zu stellen zwingen, hinzu, dass, diesen Satz zugegeben, das Lithium,'
wenn man die numerischen Beziehungen betrachtet, welche zwischen
ihren Aequivalenten bestehen, den ersten Platz in der Reihe dieser Me-
talle einnimmt, indem es das niedrigste Aequivalent bat, während das
Thallium am andern Ende der Reihe mit dem höchsten Aeqüivaleni
sich befindet. Diese Reihe ist folgende :
44 H. Flemiiiuig»
Lithium
. • . 7
Natrium .
. . . 23
Kalium
. . . 39
Rubidium. .
. . . 85
Caesium . .
. . <23
Thallium .
. . . 204
Ueber diesen Qegenstand ist noch bemeiiit worden, fOgi Daui
hinzu :
\ ) Dass das Aequivalent des Natrium genau die Httifte der Aequi-
valente des Kalium und des Lithium ist, ^^ + ^ = 23.
2
2) dass , wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium sum
Gewichte des Kalium fügt, man das Gewicht des Rubidium erhttlt:
46 + 39 = 85,
3) dass, wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium asum
Doppelten des Gewichts des Kalium fügt, man liahezu das Gewicht
des Caesium erhält: 46 + 78 » 424,
4) dass, wenn man das Doppelte des Gewichts des Natrium zum
Vierfachen des Kalium hinzufügt, man nahezu das Gewicht des Thal-
lium erhalt: 46 -h 456 === 202.«
Zu 3) erwähnt W. in einer Anmerkung , dass durch spätere For-
schungen freilich das Aequivalent des Caesium zu 133 festgestellt sei,
dass sich aber auch diese Zahl in den Zusammenhang der Reihe bringen
lasse, wenn man sie betrachte als gleich dem vierfachen Gewicht des
Natrium plus dem Gewicht des Kalium : 92 + 39 = 1 31 .
Schliesslich bemerkt er, dass Dums, indem er diese Reziehungen
aufsuchte, dadurch nicht eigentlich habe ein neues Reweismittel für die
Stellung des Thallium unter die Alkalimetalle bringen wollen, sondern
dass er diesen Punct bereits hinlänglich erwiesen achte und nur bei-
läu6g ein numerisches Rand zwischen den Aequivalenten der Alkalien
habe aufsuchen wollen.
Wie bcker und künstlich gemacht der hier aufgestellte Zusammen-
hang ist, scheint mir am Klarsten daraus hervorzugehen, dass, wenn
das Aequivalent des einen Elements nach neueren Forschungen sich
plötzlich um 10 ht^her stellt, die aufgestellte Rechnung den Autqren des-
halb um Nichts unwahrscheinlicher erscheint^ sondern, dass es schnell
gelingt ein neues Verhältniss berzusteUen.
Der Zusammenhang unter den Aequivalent-Zablen verwandter
Elemente ist bis jetzt noch so wenig aufgeklärt , dass es durchaus un-
statthaft erscheint, aus einer darauf gegründeten Combination einen
Ueber einige Thalliumrerbindangeo oad die SteUnng dieiMS Metalls im System. 45
RttokflcUoss cu machen. Por den vorliegenden Fall Ittsst sich das sehr
leioht in einem Beispiel erOrtem.
Han ist jetst allgemein darüber einig, dass das Thallium nicht wie
Groous anfongiich annahm , zu den MetalloYden resp. der Schwefel-
Selen^ruppe gehöre« Es würde aber diesem Chemiker leicht gewesen
sein, swiscben dem Aequivalent des Thallium und jenem der 3 Ele-
mente Schwefel, Selen und Tellur einen eben solchen Zusammenhang
aoftufinden, als es Dumas mit dem Thallium und den Alkalimetallen ge-
lungen ist. — In der Reihe :
Schwefel ... 46
Selen .... 39,5
Tellur .... 64
ist der Zusammenhang bekannt. Fügt man nun das Doppelte des Aequi-
Talents des Selen zum Doppelten des Tellur, so kommt man dem Ae-
quivalent des Thallium fast ebenso nahe, wie DtvAs mit der Zahl 208 ;
denn 79 -4- 428 « 207.
Ich sollte meinen, dass dieser Trugschluss allein genügte, um das
Dmus'sche Argument zu entkräften.
WiLLM sagt weiter, indem er daraufhinweist, dass das Aiomge-^
wicht des Thallium, aus seiner speciflschen Wanne abgeleitet, sich,
ebenso wie das des Kalium, zu 408 berechnet, es müsse das Thallium,
ebenso wie das Kalium, als einatomig angesehen werden, während das
Blei, dessen Aequivalent 4 03,5 mit dem berechneten übereinstimmt,
als Eweiatomig cu betrachten sei.
W. übersieht dabei, dass sich aus der angeführten Thatsache ebenso
gut eine Aehnlichkeit des Thallium mit dem Silber ableiten Ittsst, denn
das Aeqvivalent desselben berechnet sich aus der specifischen Wttrme
gleichfalls nur au 54, während es doch allgemein zu 408 angenommen
wird. ^ Nun hat auch in sehr vielen anderen Beziehungen das Thal-
linm mit Silber kaum weniger Aehnlichkeit, als mit Blei, und es würde
gewiss, wenn es unter die schweren Metalle zu ziihlen sei , bei beideti
seinen Platz erbelten müssen.
Durch das Beispiel des Silbers wird gleichzeitig auch ein Argument
entkräftet, welches W. als das gewichtigste für die Placirung des Thal-
lium unter die Alkalimetalle bezeichnet, nümlich der Isomorphismus
einiger ThaliiHmoxydulsalse mit Kalisalzen, besonders der Sulfate.
Durch MrrscHBiucR's') Untersuchungen ist bekannt, dass sehr viele
Djibcf salze mit Natronsalzen isomorph ^nd. Ich nenne hier nur das
aehwefelsavre Silberoocyd und das unterschwefelsaure Silberoxyd. Zwar
4) Pogg. Annal. Bd. XN. p 13S, u. Bd. XXV. p t9\.
46 &• Fiemmiugf
])at man bis jetzt durch Versuebe nur festgestellt, dass das uoter-
schwefligsaure Silberoxyd mit den unterschwefligsauren Alkalien und
alkaHiscben Erden Doppelsalze bilde, aber in Folge des oben besproche-
nen Isomorphismus würde es höchst wahrscheinlich gelingen, die ent-
sprechenden Natronsalze in Doppelverbindungen durch Silbersalze ver-
treten zu lassen, i^d man könnte vielleicht auch Silberalaune erhalten,
wenn die dahin gerichteten Versuche nicht etwa an deriSchwerlö^ch-
keit des schwefelsauren Silber-oxyd's scheitern sollten. Dadurch würde
auch das Vermögen des schwefelsauren ThalliurnoxyduFs, Alaune und
andere Doppelsalze, wie sie Wertber mit isomorphen Sulfaten der
Magnesia-Reihe erhalten hat , zu bilden , leicht erklärlich , und, weit
entfernt, für die alkalische Natur des Thallium zu zeugen, würde es
vielmehr den Beweis liefern , dass die Thatsachen des Isomorphismus
von uns durchaus noch nicht in ihrer letzten Ursache erkannt sind.
Neben diesem Beispiel des Isomorphismus der Salze solcher Me-
talle, die ganz verschiedenen Gruppen angehören , erscheint es unnö-
thig, noch daraufhinzuweisen, dass Isomorphieen zwischen . Blei*- und
Strontian- resp. Baryt-Salzen , sowie auch zwischen Zinn- und Mag-
nesia-Salzen etc. vorkommen. Deshalb hat man indess sich nie be-
wogen gefunden , daraus Schlüsse über die chemische Stellung dieser
Körper zu ziehen.
Eine von Vielen betonte Aehntichkeit des Thallium mit dem Kali-
um soll darin bestehen, dass seine Salze mit Platinchlorid ein unlös-
liches Doppelsalz bilden. Dieser Umstand scheint mir indess wenig zu
beweisen; erstlich ist das Verhalten der Alkalimetalle selbst in dieser
Beziehung verschieden , indem bekanntlich Ghlornatrium ein löslidies
Doppelsalz, das mit 6 Aequivalenten Wasser krystallisiren kann, liefert,
während die andern Chloralkalien unlösliche Salze geben, und zweitens
ist durch die Untersuchungen v Bonsdorff^s^) dargethan worden, dass
nicht allein Chloride der Alkalien , sondern auch Chloride der Metalle
und der alkalischen Erden mit Platinchlorid Doppelsalze bilden. Die-
selben haben die allgemeine Formel KCl, PtCP + xaq. Es sollen das
Strontium- und Calcium-Salz mit 8, das Barium-Salz mit 4, das Mag-
nesium-, Eisen-, Mangan-, Zink-, Cadmium-, Kobalt-, Nickel- und
Kupfer-Salz mit 6 Aequivalent Wasser krystallisiren ; die acht letztge-
nannten sind isomorph. Sowie sich also hier Magnesium, Eisen, Mangan
etc. an die Seite des Natrium stellen , ohne dass man daraus geschlos-
sen hat, sie gehörten in eine Gruppe, ebensowenig lässt sich behaop-
ten, dass das Thallium , welches sich der andern Gruppe der Alkalien
4) Pogg. Annal. Bd. XVII. p. S50, fid. XIX. p. 837.
Oeber einige TbaliiamrerbiDdungea oail 4ie Stellnng dieses Metalls im System. 47
moksiehtlich Beines Verhaltens bu Plaiinchlorid anscUiesst , deswegen
nicht unter die schweren Metalle zu rechnen sein dürfte.
Dass Thallium- Verbindungen die Flamme färben , ist eine Eigen-
schaft, die sie bekanntlich nicht allein mit den Alkalien , sondern auch
mit den Salzen des Kupfers theilen.
Aus dem spectralanalytischen Verbalten des Thallium und seiner
Verbindungen hat W. Allen Miller^) ganz die entgegengesetzten Schlosse
gezogen, als die franz()sischen Chemiker. Während nUmlich das auf ge-
wöhnliche Weise im BuNsiN-KiECHHorp'schen Apparate erzeugte Speo-
trum des Thallium nur die bekannte grüne Linie zeigt, enthält das
Spectrum des zwischen zwei Thallium-Drähten überspringenden elek-
trischen Funkens mehrere neue Linien, welche die fttr die Metalle cha-
rakteristische Eigenschaft zeigen, an den Enden viel intensiver zu sein,
als in den mittleren Theilen. Uie Photographie des Spectrums erinnert
am Meisten an das des Gadmium und Zinkes, Weniger an das des Blei's.
MuLSA bekämpft auf Grund dieser Beschaffenheit des Spectrums die
LAHY-DoMAs'sche Ansieht und ist der Meinung, dass das Thallium in die
Nähe des Bleils und Silber*$ gestellt werden müsse.
Man hat aus dem Umstände, dass blankes Thallium an der Luft
schnell anläuft und sich mit einer Oxydschicht bedeckt, auf ein gros-
ses Vereinigungsstreben des Metalls zum Sauerstoff geschlossen, aber
abgesehen davon, dass dasselbe nach Scböhbbik^s') Untersuchungen in
trockenem und ozonfreiem Sauerstoff ganz unverändert bleibt, spricht
auch der Umstand, dass das Thallium die Kohlensäure und das Wasser
nicht zerlegt, und, wie ich gezeigt habe, durch Kohlenoxydgas aus sei-
nen Oxyden leicht redncirt wird , desgleichen die leichte Reducirbar-
keit aus seinen wässrigen Salzlösungen durch den elektrischen Strom
durchaus nicht für eine grosse Verwandtschaft zum Sauerstoff.
Es ist zudem eine bekannte Thatsache, dass auch blankes Blei sich
nach einiger Zeit mit einer Oxydschicht überzieht und die Versuche
vieler Chemiker, unter andern die von Elsnbr und Noad') haben gelehrt,
dass es in Berührang mit Wasser und Luft sich äusserst schnell mit
weissem Bleioxydbydrat bedeckt, welches von Wasser in nicht unbe-
deutender Menge gelöst wird, so dass durch Schwefelwasserstoff braune
und schwarze Färbung entsteht. — Mag auch das TbaUinm etwas grös-
\) Sog. Roy. London, 45. Jan. 4S63 ; Annales de Chim. ei de Phys. 111. S^rie,
T. LXIX, p 507.
t) Joarn. f. pract. Chem. XCIII, p 85.
I) Chem. techn. IfUthellg. 1854-->5S. p. tt; Jahresber. v. Likbm und Korr,
4854. p. 646.
48 H. Henittiiig,
sere Verwandtschaft zum Sauerstoff haben, als andere schwere Metalle,
jedenfalls kann dieselbe mit derjenigen , welche die Alkalimetalle sei-^
gen, nicht yerglichen werden: denn« dieselben zersetzen bekanntlich
sowohl das Wasser, als auch die KohlensSiure unter Peuerersoheinaog.
Derjenige Umstand, der unstreitig am Meisten geeignet wäre, dem
Thallium den Platz unter den Alkalimetallen anzuweisen , ist die Lös-
lidikeit des Oxyduls in Wasser. Man ist allerdings gewohnt, die UnlOs-
lichkeit der Ox.yde als eine charakteristische Eigenschaft der schweren
Metalle, die Lösiichkeit als eine solche der alkalischen Erden und Alka-
lien anzusehen, aber es muss constatirt werden, dass innerhalb der
verschiedensten Gruppen sich ausserordentliche Differenzen in dieser
Hinsicht zeigen: Kalihydrat und Lithionhydrat , Barythydrat und Mag-
nesiahydrat, selenige und tellurige Säure, Phosphorsäure und Antimon-
atture. Dasselbe gilt für die schwefelsauren , phosphorsauren und koh-
lensauren Salze: schwefelsaurer Baryt und schwefelsaure Magnesia,
schwefelsaures Quecksilberoxyd und schwefelsaures Bleioxyd, phos-
phorsaures Kali und phosphorsaures Lithion, kohlensaures Kali und
kohlensaures Lithion. Dazu kommt die Unl0sli(^keit des cbromsauren
Thalliumoxyduls, des Chlor- , lod- und Bromthallium der Löslichkeit
der entsprechenden Alkalisalze gegenüber. Man sieht daraus, dass Lös-
licbkeits Verhältnisse der Verbindungen Nichts entscheiden, wenn es
sich um die chemische Stellung einer Substanz handelt.
Es spricht aber femer gegen die Alkalinatur des Thallium , dass
dasselbe noch ein unlösliches Oxyd bildet, welches, wenn es auch leicht
Sauerstoff abzugeben und mit concentrirter Salzsäure Chlor zu ent-
wickeln vermag, doch mit Sauerstoffsäur^n Salze bildet und dadurdi
von den Superoxyden sich wesentlich unterscheidet.
Wenn man überhaupt zugeben muss, dass die Löslichkeit des
Oxyduls nicht unbedingt ein Criterium für die alkalische Natur des
Thallium abgiebt, so fällt damit das letzte Argument für die La«t-Do-
nUAS'sche AuJBTassung hinweg. Denn die sonst noch bemerkenswerthen
Eigenschaften des Thallium, so die alkalische Reaction und der laugen-
artige Geruch der Oxydulhydratlösungen und ihre Eigenschaft , Kiesel-
säure zu lösen, sowie die Löslichkeit der Cyanverbindungen , die Bil-
dung von in Alkohol löslichem Thalliumalkoholat werden in der Löslich-^
keit des Oxyduls eine genügende Erklärung finden.
Ganz direct gegen die Alkalinatur des Thallium sprechen aber
vor Allem drei Eigenschaften: i) die Abscheidung desselben durch Zink
aus den wässrigen Lösungen seiner Salze, 2) die Reducirbarkeit seiner
Gxydationattufen durch Kohlenoxyd und 3) die Fällbarkeit durch Schwe-
felammonium.
Ueber einige TbilliamTerbiodaiigen nni die Stellnng dieses Metalls im System. 4d
Will man sich darnach ein Bild von der Stellung des Thallium im
System machen, so wtlrde man sagen müssen , es sei das Metall, wel-
ches die Gruppe der Alkalien und alkalisehen Erden mit der Eisen-
und Bleignippe verkntlpfe.
Schliesslich nehme ich Gelegenheit , den Herren Dr. SoififENSCHEiic
und Professor Dr. Gbuthm, unter deren Anleitung ich die vorstehenden
Untersuchungen ausführte, für die gütige und bereilwilligeUnterstützung,
welche mir dieselben dabei zu Theil werden Hessen — und meinem
geehrten Freunde , Herrn Dr. CAftSTANJBN in Berlin für die Liberalität,
mit welcher er mir das erforderliche Ifaterial zur Verfügung stellte,
meinen wfirmsten Dank auszudrücken.
Jena, Januar 1868.
Baad IV. 1.
lieber die ftrehnug des Hnmenis.
Von
. C. Oegenbaur.
(Hieriu Taf I.)
Unter der Bezeichnung » Drehung a (Torsion] des Humerus machte
Charles Martins i) eine Erscheinung bekannt, welche an sich nicht we^
nig interessant, für die Yergleichung der beiden Extremitäten aber von
grösster Wichtigkeit ist. Sie gibt für diese Operation einen Factor ab,
der die Mehrzahl der grossen, hier auftretenden Schwierigkeiten besei-
tigt. Obgleich ich selbst bei meiner Yergleichung der vordem und hin-
tern Gliedmassen der Wirbelthiere zu wesentlich denselben Resultaten
gekommen war, wie der vorgenannte Autor, so hatte ich damals den-
noch Bedenken gegen jene Aufstellungen, und legte Lageveränderun-
gen der proximalen Enden von Ulna und Radius das Hauptgewicht bei.
Diesen Verschiebungen jener Enden muss ich auch heute noch das Wort
reden. Allein ich halte sie nicht mehr für das Ausschliessliche, ja nicht
einmal für das Hauptsächlichste bei der Umgestaltung welche die Lage-
rungsverhältnisse der Theile des Armskelets im Vergleiche mit dem
Skelete der hintern Gliedmassen darbieten. Eine genaue Prüfung der
Angaben von Martins, noch mehr aber das Auffinden positiver Nach-
weise fürden genannten Vorgang lassen mich nicht nur jener Auffassung
vollkommen beipflichten , sondern geben auch zu diesen Zeilen mittel-
baren Anlass. Diese meine gleich von vornherein erklärte Zustimmung
bezieht sich jedoch nur auf die Drehung der Humerus. Bezüglich der
4) Nouvelle Comparaison des membres pelviens et thoraciques ches rhomme
et chez des Mammiföres däduite de la torsion de THuroärus. Extrait des M^rooires
de rAcadcmie des Sciences et letlres de Montpellier T. HI. p. 474. Montpellier
4857. — Auch in den Ann. des sc. nat. Sär. IV. Tome 8. 4857. p. 45.
beber die l)ifttHiiig dei Üumenid. 5t
Deutttogen von Otecraooii und Pmella müsa ich auch jeitt n^ch andrer
Meinung sein.
Beaehteu wir snoächsi die Angaben von Mahtibis. Er >üagi in dem
der Vergleiehung des Eamur mit dem Humerus gf»widme(^n Abschnitt«
seiner Abhandlung: x>Der Humerus des Menschen isl ein ui« seie« Axe
in einen Winkel von i 80 Grad ^drebtor Knochen. I^ Femur kl^ ein
gerader Knochen, ohne Drehung. Da der Humerus ein gedrehtes FemiKf
vorstelit, so muss man bei der Vergleiehung dieser beiden Knochen vor
allem den Humerus zui^Uckdrehn (delordre); das Resultat dieser Ope-
ration wird sein , dass die Epitrochlea nach aussen, der Epipondylua
nach innen gerichtet sein wird. Alsdann bietet die Vergleiphupg der
Brust- und der BeckengUedmassen gar keine Schw ierigkeit qiehr. Der
Kopf des Humerus bleibt dabei unverändert in seiner Lage Oßcb innen
(median) wie jener des Femur.a
9 Die Körper beider Knochen besitzen ihre Kanten parallel ihrer
Axe. Die convexe oder trieipitale Flilche des Oberarmknochens findet
sich vorne, wie die vordere, convexe oder trieipitale Fläche des Ober-
schenkelknochens. Beide Knochen sind somit einander ähnlich; ihre
Condylen sind nach hinten gerichtet. Der innere Theil, der nunmehr
zum äussern geworden ist, entspricht durch seinen stifrkern Vorsprung
dem sich tfhnlich verhaltenden äussern Condylus des Femur ; das Ole-
cranon liegt wie die Patella nach vorne zu ; diese tsl an den vordem äussern
Theil des Kopfes der Tibia befestigt, welcher die mit einander verbun-
denen und verschmolzenen Köpfe der Ulna. und des Badius vorstellt.«
»FUr den Unterschenkel und den Vorderarm scheinen nun die
Schwierigkeiten gteichfaUs gelöst. Wenn die Gliedmasse steh in <Supi-
nation befindet, so lässt die Rückdr^ung (d^torsien) des HumefUB den
Vorderarm eine Drehbewegung ausführen, welehe die Stfeckflödie nach
vorne bringt , die Beugefläehe nach hinten ; folglich wird der der Tibta
analoge Radius sich innen finden; dfeUtna, der Fibula analog, aussen.
Der Daumen und die grosse Zehe sind beide innen, der kleine Finget*
nnd die kleine Zehe aussen geiagert.«
Um sieb von der Richtigkeit dieser Aufstellung eu ttberzeugen, ge-
nügt es nach Martins »am Humetiis des Menseben oder irgend eines
SMgethieres die rauhe Linie lu verfolgen welche vom Epio^dylus an
sich schräg gegen die hintere Fläche wendet, diese längs der Rjnn^ fl|r
deo Radialnerv umzieht, und sich mit d «r Insertioosoberfläche des An-
oonaeus internus foitsetxt, um unterhalb des Humeru^s-Kopfes an einer
ausgezeichneten Stelle des Halses zu enden, gerade am andern Ende des
Querdurch messe rs dr« Knochens. Diese Drehung ist von vielen Anibfo-
poioBien beachtet i^\oi:den.«
52 C. Gegenbanr,
»Doch zogen diejenigen, welche die Thatsache constattrten keines-
wegs die sich daraus ergebenden Folgerungen. Dass diese von einem
Botaniker verstanden wurden, ist jedoch nicht auffallend, wenn man
weiss, dass die Drehung an den Stengeln der Gewächse eine sehr ge-
wöhnliche Erscheinung ist. Man muss ihr beständig Rechnung tragen,
da sie die symmetrische Anordnung der Anhangsorgane , der Knospen,
Blätter, Blttthen etc. stört.«
»Da die Drehung des Humerus eine unbestreitbare Thatsache ist,
so ist es klar, dass man logischer Weise diesen Knochen nicht mit dem
Femur vergleichen konnte, ohne ihn zurückzudrehen, und aus ihm einen
ebenso geraden Knochen darzustellen als es das Femur ist; denn es ist
die Drehung welche den Sinn der Beugung der Beckengliedmassen um-
kehrt, weil der Vorderarm sich nach vorne, der Unterschenkel dagegen
nach hinten beugt.«
»Die Drehung ist keine ausschliessliche Eigenthümlichkeit des
menschlichen Humerus, sie ist allgemein in den drei obersten Abthei-
lungen der Wirbel thiere, der Säugethiere, Vögel und Reptilien, leben-
der sowohl als fossiler; sie beträgt 480® beim Menschen und den Land-
oder Wassersäugethieren ; 90® bei den Chiroptern, den Vögeln und den
Reptilien.« ^
»Beim Menschen nnd den Land- und Wassersäugethieren beträgt
die Drehung zwar immer 180®, allein die Verhältnisse der Axen des
Halses und den Trochlea sind nicht in der ganzen Reihe dieselben. Es
gibt davon zwei Modificationen.«
»Beim Menschen und den anthropomorphen Affen , wie der Orang,
Chimpansee^ der Troglodytes Tschego, der Gorilla und die Gibbons, sind
die Axen des Halses des Femur wie des Humerus parallel und alle beide
gegen die Wirbelsäule §erichtet, d. h. von aussen nach innen und von
unten nach oben. Die eine wie die andere , ebenso wie die Axen des
Körpers beider Knochen , sind in derselben Ebene etwas vertical und
senkrecht gegen die Vertebro-Sternal-Ebene. Diese Richtung der
Axen ist die mechanische Bedingung für die Drehbewegung des Arm-
and des Schenkelknochens in ihrer Gelenkpfanne.«
»In dieser Thiergruppe ist wie beim Menschen die Axe der
Trochlea des Humerus ebenso parallel der Ebene in welcher die Axen
des Halses und des Körpers desselben Knochen liegen ; und man kann
wenn das Thier aufrecht auf seinen Füssen steht, in physikalischer
(nicht in mathematischer Beziehung) sagen , dass die Axe des Hu-
merushalses , des Körpers dieses Knochens , und die seiner Trochlea,
ebenso wie jene des Femurhalses, die Axe dieses Knochens und die
Ueber die Draliiing des Hnmerns. 53
seiner Condylen deutlich in einen und derselben verticalen Ebene lie-
gen, die senkrecht gegen die Medianebene des Körpers gerichtet ist.«
»Bei den Land- und Wasser-Säugethieren ist die Axe des Feniur-;
halses wie beim HensCihen gelagert, und die Ebene welche man durch
die Axe d^s Knochens, sowie jene des Femurhalses legt, ist eben-
falls senkrecht zur Medianebene des Körpers. Aber nicht dasselbe ist
an den vorderen Gliedmassen der Fall : die Axe des Humerushalses ist
von vorn nach hinten und von unten nach oben gerichtet. Diese Axe
und jene des Humeruskörpers liegen in einer Ebene, welche parallel
zu der Stemovertebralebene steht. Daraus folgt, dass die Ebene, in
der die Axe des Knochens und jene seines Halses liegen, senkrecht zur
Axe der Trochlea liegt«, »während beim Menschen diese drei Axen in
eine und dieselbe £bene fallen. Wenn wir als Vergleiehungspunct
die Axenrichtung des Femurhalses nehmen, welche bei allen Thieren
dieselbe ist, so können wir zugeben, dass beim Menschen und den
hohem Affen der Humeruskopf an der Drehung. des Körpers dieses
Knochens keinen Antheil nimmt. Im Gegensatz hierzu hat bei den nie-
dern Affen wie bei den übrigen SSugethieren das unt,ere Ende des nu-
merus eine Umdrehung von 180^ erlitten, und das obere, anstatt wie
beim Menschen unverändert zu bleiben , ist gleichfalls um 90^ gedreht.
Diess wird bewiesen durch die relative Lagen Veränderung der Rauhig-
keiten, welche die Bicepsrinne begrenzen. Die Tuberositas externa
beim Menschen wird bei den Säugethieren zur vordem, die Tuberositas
intema des Menschen zur hintern , was eine Drehung von 90® voraus-
setzt.« »Die Folge dieser Lagen Veränderung ist die Bewegung der
Vordergliedmassen des Säugethieres in einer Ebene, indem es nur ganz^
unvollkommen die Drehbewegungen vollführen kann, welche den Men-
schen und die anthropomorphen Affen auszeichnen.«
»Bei den Chiroptem, den Vögeln, und den Reptilien beti*ägt die
Drehung des Humerus nur 90®, die Axen des Femurhalses und des Hu-
roerus sind wie beim Menschen gerichtet, nämlich die Axe des Körpers
des Knochens und jene des Halses liegen in einer zur Medianeben<>
senkrecht stehenden Ebene. Da jecioch der Körper des Humerus blos
um 90® gedreht ist, so iSt die Trochlea nach aussen gerichtet. Bei diesen
Thieren ist die Ebene, in welcher die Axe des Knochens und jenr
seines Halses liegt , senkrecht geriditet gegen die Axe der Humerus-
Trochlea , und ebenso geschieht die Bewegung des Vorderarms gegen
den Oberarm nach auswärts in einer senkrecht auf die Sterno-vertebral-
Ebene stehenden Ebene.«
Das vorstehend mitgetheilte umfasst einige der wichtigsten Sätze
der genannten Abhandlung, welche ich ausführlicher miizutheilen mir
54 ö. €0g0frfcanr,
erlaubte, da die Arbeil in Deutsohbnd wenig gekannt, oder dödh min-
destens nfcht gebtthreod beachtet ist. *) Der Verfasser erlSntert wei-
terbin nooli die Beziehungen, welche diese verschiedenen Axenstel-
lungen der Extremftdtenknochen zu den von den ExtremitSHien aus-
geführten Hauptbewegungen besitzen, und in den andern Gapiteln
der Abhandlung wird die Vergleichung, sowohl der Skelettheile als der
übrigen Thelle der Extremitäten — Muskeln, Nerven, Arterien — durcb-
gefllhrt. Es ist indessen keineswegs meine Absicht auf alle diese Ver-
hältnisse einzugehen , vielmehr will ich nur an die Erscheinung der
Drehung des Humerus anknüpfen, da diese ja für die Vergleichung der
beiden Extremitäten nach Martins ohnehin den Cardinalpunct abgibt.^)
Nach Hartims soll der Humerus des Menschen im Vergleiche zum
Femur eine Drehung von i 80® um seine Axe vollführt haben ; so dass
der ulnare Epicondylus ursprünglich aussen, der radicale dagegen innen
4 ) Berücksichtigt finde ich sie im Heodbueb der Anatomie von Cru veilrieb (Trait^
d'Anatomie descriptive. Quatri^me Edition, Tome I. ParivSl862. In einem derVer-
l^leichung beider Extremitäten gewidmeten Abschnitt S. 262 heisst es : »M. Merlins
a bien voulu faire, pieces en main, la dämonstration de son ingenieuse tfaeorie de-
vant la Socidtö akiatomiqne , et nous devons dire qo'it nous a parfaitement con*
vaincu, ainsi , qae tous les membrea de la Soc\6i6 qui assistaient ä cette Avance.«
Die MAHTiNS'scbe Angabe einer Drehung von 480° für den Humerus des Menschen
wird dabei als richtig angenommen. —
2) Die Geschichte der Vergleichung findet sich bei Martins gleichfalls ausführlich
besprochen. In gedrängterer Form habe ich in meiner Ahandlung über den Carpus
und Tarsus das Wichtigste darüber zusammengestellt. Von einigen damals mir nicht
zugänglichen Abhandlungen war mir inzwischen Einsicht zu nehmen gestattet.
Die eine , Etüde d'Anatomie philosopbique sur la msin et le pied de Thoinme et
sur les Exträmites des Mammiferes ramenöes au type pentadactyle , par les pro-
fesseurs N. Jolt, et A. Lavocat, Toulouse 4 853, vertritt die Principien der Geopfrot-'
sehen Schule. Wenn diese auch als »die wahren Grundlagen einer wirklichen
wissenschaftlichen Vergleichungsmethode « aufgeführt wurden, so bewahren sie sich
doch nur sehr wenig als solche, wie alsbald aas der Aufstellung vun zwei je fünf
Stücke umfassenden Reihen von Carpus oder Tarsusknocben hervorgeht. Hierfür wie
für andere Aufstellungen sucht man vergeblich nach einer »wirklich wissenschaft-
lichen« Begründung, denn das »Gesetz der Analogie« Iftsst auch hier im Stich. Viol
wichtiger ist die Arbeit von G. M. Humphry Observations on the limbs of verte-
brate animals, Ihe plan of Iheir construction ; their homology; and the comparlson
of the fore and hind limbs. Cambridge and London, 48GO. Obgleich keine neuem
Thatsacben bringend, ist die Abhandlung dooh reich an trefflichen Bemerkungen.
Da jedoch zum Verstöndniss der unterhalb der Säugethiere stehenden dessen
durchaus neue Untersuchungen nöthig waren . so würde sie schwerlich einen Ein-
fluss auf die Ergebnisse meiner Arbeit gehabt haben. Da die Abhandlung auch der
MARTtits-schen Drehung des Humerus entgegentritt, werde ich in dieser Arbeit da-
t auf zurückkommen müssen.
lieber die DK4«iig des Humenis, 55
sich befand. Diese Drehung wird allerdings nicht als thatsäehlich sich
iToUsiehend angenommen , sondern nur im Vergleiche zuta Femur sau-
wohl , als zur Humerusstellung niedrer Wirbelthierclassen als virtuell
vorhanden aufgeslelll. Zur Prüfung dieser AufsteHung ist vor Allem
ein bestimmterer Nachweis des Verhaltens des proximalem und distalen
Humerusendes nöthig, denn die Angaben von MaztinS) dass eine durch
den Hals des Hnmerus gelegte Axe in derselben Ebene liege mit der durch
das distale Ende gelegten Queraxe ist nicht sicher erwiesen, und ergibt
sidi schon bei blosser Betrachtung mehrerer Humeri als keineswegs
durchgreifend. Eine zweite Frage betriffi die Jugendzustände des Hu-
mems, aus welchen zu ermitteln wäre, ob die Stellung der beiden
Enden zu einander stets die gleiche sei.
Fttr die erste Frage ist eine von Lucas ^) gemachte Beobachlung
von Bedeutung, nach welcher beim "Neger das distale Ende des Hume^
rus eine andere Stellung zum Gelenkkopfe besitzen soll, als beim Euro*-
pKer. Wblczxe hat das durch mehrere Messungen bestätigt, die von
, Lucas veröffentlicht worden sind.^) Dem Verhalten beim Neger wird
der Befund des Humerus ein^s Europäers und eines Juden entgegen-
gestellt. Das Verfahren Wzlgur's bestand darin »auf dem Caput hu-
meri eine Linie aufzutragen, welche die Richtung bezeichnet, in wel-
eher der Gelenkkopf sich nach der Sdiiilter fainwendeU. Sie verläuft
an der Insertionsfacetie des Muse« supraspinatus nach dem unteren
etwas lippenförmig prolongirten Rande des Gelenktlberauges hin«,
sodann wunden den Condylen desCubitalendes zwei Stecknadeln ein-^
gefttgt. Der Knochen wurde non in einem Glaskasten senkrecht auf-
gestellt, Kopf naeh oben , und zunächst dieser mit dam Fadenkreuzdi-^
opter nach der LucAS^schen Methode gezeichnet. Die auf das flaput
humeri aufgetragene Linie »wurde in die Zeichnung mit aufgenommen,
zugleich aber auch diejenigen Theile des Cubitalendes , welche bei
dieser Aufstellung des Knochens sichtbar waren semmt den Steck-
nadeln. Hierauf wurde der Knochen' mit dem unteren Ende nach
oben aufgestellt, und die Unterseite des Processus cubitalls sammtden
Stecknadeln gezeicbnet. « Durch ^ebertragung der einen Zeichnung
auf die andere unter Anpassung an die daselbst angezeichneten Axen-
Union konnte dann der zwischen beiden bestehende Winkel gemessen
werden.
Aus den auf diese Art ausgefCIhrten Messungen Wai^st^s geht zwar
hervor, dass die Stellung des distalen fi^des zum Bnineruskopf beim
4) AbhaDdl. der Senkenberg, natarf. Gesellsch. V. Bd.
1) Archiv f. Anthrapologla II. S. 178.
56
C Gegeabanr,
Neger eine vom Verhalten beim Europäer abweichende ist, Lucas will
aber darin keinen »typischen Unterschied zwischen Europäer und
Neger erkennen , da noch einige bei Europäern gemachte Messungen
ziemliche Schwankungen ergaben.« Bevor verglichen werden kann,
wird aber erst eine Norm in dem aus zahlreichen Messungen sich er-
gebenden Mittelwerthe aufzustellen sein.
Meine eigenen Untersuchungen erstreckten sich auf Messungen von
36 Oberarroknochen Erwachsener. Die Objecto gehörten theiis dun
osteologischen Unterrichtsmaterial der hiesigen anatomischen Anstalt,
iheils den Skeleten der Sammlung an , die Messung habe ich ganz in
der von Welgker geübten Weise vorgenommen. Da aber , wie dieser
selbst zugesteht, verschiedene Beobachter die eine Linie »um 4 — 2
Winkelgrade verschieden a legen können, so hielt ich es nicht für nOthig
auch die Decimalen mit in Anschlag zu bringen. Vielmehr möchte ich
der Möglichkeit einer verschiedenen Linienlegung einen viel grösseren
Breitegrad der Schwankung einräumen. Zunächst sind ja die beiden
Stellen, zwischen denen 'Wblgur die Linie über das Caput humeri
zieht , keine festen Puncto. Die Supraspinatusfacette ist verschieden
gross, und der »unlere lippenförmig prolongirte Rand des Gelenküber-
zugesa fehlt sehr häufig vollständig. Eine Linie zu suchen die über die
Mitte des Gelenkkopfes hinwegziebend in eine durch die Langsame des
Humerus gelegte Ebene fällt, hat mir dann das Rathsamste geschie-
nen. Für die Linie am distalen Ende des Humerus ergeben sich ge-
ringere Schwierigkeiten. Die verschiedene Gestaltung der Epicondylen
erhöht jedoch gleichfalls die Unsicherheit. In den einzelnen untersuchten
Humeris ergab die Winkehnessung zviisohen jenen beiden Linien fol-
gende Zahlen:
\.
10«
15.
12»
Weib.
i.
14»
altes Weib.
16.
3»
1
3.
38«
Mann.
17.
80»
—
4.
23»
Weib.
18.
5»
—
5.
20»
-
19.
18»
Weib V. SIS Jahren.
6.
«2«
—
•20.
6»
Mann.
7.
5»
Mann.
21.
11»
Mann v. 50 Jahren.
8.
10»
—
22.
12»
Mann.
9.
23»
—
23.
10«
-
<0.
13«
Mann v.
64 Jahren.
24.
8«
^ 1
41.
15*
Mann v.
30 Jahren.
85.
2"
—
4S.
19»
Mann.
26.
14»
—
13.
5»
—
27.
14»
—
14.
10»
— >
88.
11»
Weib.
üeber die Dnkwig des Haneras. 57
99. 9^ Weihv. iO Jahren. 33. U® Mann.
30. 4^ Mann. 34. 49®
3<. 8» - 35. 6«
32. 9» - 36. 40
Das Mittel von diesen 36 Fällen ergibt einen Winkel von 49®. Als
grttsster Winl&el erscheint einer von 32* , als geringster einer von 2*
In 1 1 Fällen bleibt der Winkel unter 1 0®. In H 8 Fällen bewegt er
akb «wischen 4 0—20* Nur in 4 Fällen übersteigt er 20*. Eine Ver-
schiedenheit des Verhaltens in beiden Geschlechtern kann nicht er-
kannt werden. Mit dem gefundenen Mittelwerthe stimmen auch die
wenigen von Anderen vollführten Messungen überein, Wblcvbr gibt für
einen FaU 2,5% Lucas für drei Fälle 8*, 10® und 43® an. Zähle ich
diese meiner Beobachtungsreihe bei , die dadurch auf 40 Fälle sich er-
hebt, so wird der Mittel werth nur wenig verändert, er wird sich dann
auf M ,8® stellen. Da die beiden Linien also noch nicht in eine durch die
Längsaxe des Humerus gelegte Ebene fallen, so ist folglich im Anschlüsse
an die MARTiNs'sche Auffassungsweise keine Drehung um 480® vorhanden,
sie wird im Mittel nur als eine von 468® bezeichnet werden dürfen.
Wenn sich nun schon von hier aus ein Vergleiehungsobject mit
den Stellungen der Humerusenden bei anderen Rassen oder bei Thieren
finden liesse , so schien mir wichtiger zuerst die zweite der oben be-
rührten Fragen ins Auge zu fassen, nämlich den Befund dieser Verhält-
nisse in jüngeren Lebensaltem. Das in dieser Richtung untersuchte
Material darf ich keineswegs als ausreichend bezeichnen , allein es hat
pennoch einiges Bemerkenswerthe ergeben.
Ab Humeris von Embryonen aus der 42 — 10. Woche, die ich in
Untersuchung zog , war mir bedenklich die Messung auszuführen. Die
Beschaffenheit der knorpeligen Enden gestattete nicht , jene Linien mit
der annähernden Sicherheit zu bestimmen , dass die Ergebnisse einer
Winkelmessung mit jener an den Humeris von Erwachsenen vorge-^
nommenen, einen gleichen Anspruch auf Zuverlässigkeit hätten machen
können. Ich nahm daher die Untersuchung von älteren Embryonen auf.
Von der 4 6 — 33. Woche habe ich 8 Exemplare untersucht , und die
Winkd jener beiden Linien stellten sich wie folgt heraus.
f. f6. Woche 48® 5. 20. Woche 48®
2. 47. - 49® 6. 24. - 43®
3. 48. - 50® 7. 33. - 22®
4. 49. - 30® 8.«) 33. - 59«
Da ich nicht eine grossere Anzahl aus gleichem Alter untersucht
4) Vergl. Taf. I. Fig. 111.
56 C. Oeginrfmiir,
habe , so können die gefundenen Zahlen in Anbetracht der Möglichkeit,
ja sogar Wahrscheinlichkeit einer bedeutenderen Schwankung, keines-
wegs als Normzahlen für einzelne fötale Lri>ensperioden gelten , und
ich muss mich sogleich gegen jede derartige Unterstellung verwahren.
Aber aus der kleinen Untersucbungareihe kann dennoch geschlossen
werden, dass die Winkelstellung der beiden Linien eine bedeutend an-
dere ist, als beim Erwachsenen. Winkel von 59^, 50^, 49^, selbst 43**,
fehlen in der oben vorgeführten Reihe von Humeris Erwaohaeiif»r
gänzlioh. Wir können also nur das, aber auch mit Sicherheit behaup-
ten , dass der Mittelwerth der Winkel jener beiden Linien beim Fötus
ein bedeutend grösserer ist, als beim Erwachsenen. Er stellt sich
etwas über 4H®, gegenüber 18® bei Erwachsenen.
Daran schliessen sich einige Messungen von Neugebomen; Ich
fand an solchen die Winkel :
1. 35«» 3. 45®
2. 590 4. 40»
Wir erhalten hieraus im Mittel fast 45®. Der Winkel ist somit
offener als bei den Embryonen. Wenn man von letzteren ausgeht, so
könnte man schliessen, dass der Humerus in einer Lebensperiode wie^
der eine rückläufige Drehung vollführe. Das dürfte aber doch ein grober
Irrthum sein, Die ftlr Neugeborne gefundenen Grade sind zw«r im
Mittel höher als das Mittel der Grade bei Embryonen betrügt, allein hier«*
bei ist nicht zu vergessen , dass jene Mittelwerthe aus einer verhalt-
nissmässig sehr geringen Anzahl von Einzelfällen gewonnen sind. Vier,
und Sieben. Jeder neuhinzukommende Fall kann den Mittelwerth be~
deutend anders stellen. Nehme ich an, dass von den Embryonen
No* 4 u. 7 nicht untersucht worden wäre, so würde das Mittel der an
den fünf andern gemessenen Winkel fast 48® ergeben babetn, somit im
Vergleich zu dem Resultate bei Neugebemen einen um 5® offenem
Winkel. Ich halte also dieae Messungen keineswegs für zahlreiob ge-*
nug, um ganzspecielie Schlüsse daraus zu uehen.
Dasselbe muaa ich auqh von den Messungen sagen die von Kindern
aus dem ersten Leben^ahre genommen wurden. Daraud habe ich die
Humeri von sieben Individuen ^) untersucht, die ich in eine nach dem
Alter geordnete Reihe stelle:
4) Ich halle nicht filr überflüssig anzuführen, dass die Untersuchungen der
lugeBdfusMtodo des HuQieru$ in keinem Falle an trookeaen ExiemplaFen angestellt
wurden, die hierzu vollständig ungeeignet Mjnd Dither kam es auch, dass ich mich
auf eine geringe Anzahl beschränken, und das ganze von der anatomisoheo Samm-
Ueber die Dickvif des Ramerus. 6$
1) 3 Monnte .
. S.) 0
«)») 3 -
34»
3)- 5 -
39«
4) 6 -
380
5) 8 -
28«
6) 9 -
37»
7) 9 -
40»
Als Mittel ergibt sich hieraus nahebei 38 <^. Von den 7 Fällen bietet
nur Einer einen Winkel dar , der an die bei Erwachsenen gefundene
Reihe sich anschliesst; ein anderer reicht nahe heran, aber auch da
zählen diese zu den, höhern. Die fünf übrigen Fälle ergeben Winkel,
deren Gradzahl sich selbst weit über die bei Erwachsenen gefundenen
extremen Fälle erhebt. (Von älteren Kindern habe ich nur bei einem
I jährigen Knaben den Humerus untersucht und da einen Winkel von
Vorgefunden, welchen sehr vereinzelten Fall ich jedoch nicht mit in
Anschlag bringen will.) Es kann also für die bei Kindern aus dem ersten
Lebensjahre gefundene Stellung des Humerusendes Aehnliches wie für
die Humerusstellung bei Embryonen und Neugeborenen ausgesprochen
werden, dass nämlich der Winkel, den jene beiden durch die Gelenk-
enden gelegten Linien mit einander bilden, ein bedeutend oSbnef
ist. Rechnen wir alle einzelnen (1 9} Fälle , die oben in verschiedenen
Kategorien vorgeführt wurden, zusammen, so erhalten wir für die Stel-
lung beider Gelenkenden im tbtalen und ersten Rindesalter einen Win-
kel von nahezu 42 ^, Somit ergibt sich ein nicht unbeträchtlicher Unter-
schied gegen die Stellung des Gelenkendes der Erwachsenen, und man
wird das letzte Verhalten nur dann aus dem frühern ableiten können,
wenn man mit der allmählichen Ausbildung des Humerus eine ebenso
allmähliche Aenderung der Queraxenrichtung des untern Gelenkendes
statuirt. Angesichts dieser Thatsache wird eine Drehung des Hu-
merus um seine Längsaxe als erwiesen betrachtet werden
dürfen. Der Humerus muss um von dem frühern Zustande der Stellung
der beiden Queraxen in den spätem überzugehen, eine Drehung um
seine Längsaxe vollführen, durch welche der ulnare Epicondylus weiter
nach innen, der radiale weiter nach aussen rückt. Ein die drei ersteh
Figuren auf der beigegebenen Tafel vergleichender Blick gibt der Vor-
stellung von jener Veränderung eine Unterlage. In Fig. ÜL sind die
beiden Gelenkenden des Humerus eines 8 monatlichen Fötus nach der
hin;;; gebotene Material an trockenen Skeleten aas verschiedenen jugendlichen Altern
an benutzt lassen musste.
4) Vergl. Taf. I. Fig. II.
($0 G. GegeRbanf,*
WELGKER^schen Weise in eine Ebene in einander gezeichnet. Fig. 11.
stellt in gleicherweise den Humerus eines 3 Y2 Monate alten Kindes dar.
Fig. I. endlich kann als Schema für die aus meinen Fällen berechnete
Mittelstellung des Humerus der Erwachsenen gelten. Von den dargestellten
Axen wird in Fig. III. b nither an B und a an A rüdiLen müssen um in
die in Fig. II. dargestellte Stellung zu treten, sowie in dieser Figur der
gleiche Vorgang Platz greifen muss um in die in Fig. I. vom erwach-
senen Humerus dargestellte Lage zu treten. Damit hätte also die Mar—
Tnvs'sche Theorie von einer Drehung des Humerus im Allgemeinen eine
Bestätigung gefunden, wenn auch nicht nachgewiesen wurde, dass dem
Humerus anfänglich eine mit dem Femur gleiche Stellung zukommt,
und dass die Drehung sich über 1 80^ erstreckt. Der Nachweis einer
Drehung widerlegt zugleich die von Humphrt gemachten Einwürfe
(op. cit. p. 22), und wenn auch zunächst nur der zweite derselben,
dass nämlich zu keiner Entwickelungsperiode eine Drehung beobachtet
worden sei , haltlos werden dürfte , so fallen doch nicht minder auch
die übrigen, und zwar um so leichter, als sie nur auf theoretische Be-
denken gegründet sind.
In welchem Maasse die Erscheinung zu verschiedenen Perioden
der fötalen Entwickelung sowie des jugendlichen Alters fortschreitet,
ist aus meinen Beobachtungen, die nur an ganz wenigen gleichaltrigen
Knochen angestellt wurden, nicht zu ersehen, und nur das eine möchte
ich daraus noch anführen , dass während des ersten Lebensjahres im
Vergleiche mit der embryonalen Periode die Drehung noch eine unbe-
deutende ist. Es lässt sich also nur vermuthen, dass die Zeit des gross-
ten Längswachsthums des Körpers wohl auch für den Humerus jene
Veränderung am raschesten herbeiführen wird. Die dabei thätigen
Vorgänge werden selbstverständlich weniger in Resorptions- und Neu-
bildungserscheinungen an der Oberfläche des Knochens gesucht werden
dürfen, als in dem Wachsthum durch Knorpel an den^G^elenkenden oder
vielmehr an den Enden der Diaphyse.
Vergleicht man mit dem von mir für die Jugendzustände des Hu-
merus angegebenen Verhalten die vom Humerus der Neger bekannt ge-
wordene Stellung der distalen Gelenkenden , so wird in letzteren ein
beim Europäer vorübergehender Zustand zu erkennen sein. Wblgker
fand für drei Fälle den betreffenden Winkel zu 26^ 29^ und 40».
Lucas gibt eine Messung zu iS^ an. Ich selbst habe an zwei Ske-
leten gleichfalls Messungen angestellt, und fand an dem einen männ-
lichen Skelete den Winkel zu :^9^ dagegen an dem andern, weiblichen,
von nur 4^^. Dadurch stellt sich dieser Humerus weit über das für den
Europäer nachgewiesene Mittel. Das letztere Ergebniss mahnt sehr drin-
Ueber die Drehung des Hameras. %\
geod derartige UDtersucfauBgen lo mdglichsl-weit ausgedehntem Maass-
siab« ausKufilkren, oder doch dem vereinzelten Falle nur den geringsten
Werth zuzuschreiben. Aus den drei von Wblckcr untersuchten Fallen
ergibt sich ein Mittel vtm 32^, rechnet man dazu noch den von Ldcab ^)
üofgeftthrten, sow|e meine beiden, so stellt sich das Mittel auf 26<>, also
doch noch bedeutend verschieden von den für Europäer gefundenen.
Diese Stellung der beiden Axen am Negerhumerus stellt Fig. IV. .auf
dw beigegebenen Tafel dar.
Wenn Lucas anzunehmen scheint, dass die Schwankungen, welche
sowohl bei Negern als bei Europäern in der Winkelstellung des distalen
Gelenkendes des Humerus bestehen, nach keiner Seite hin einen Aus-
schlag geben, so wird dies doch nur auf die von ihm angeführte ver-
einzelte Messung sich beziehen müssen. Allein selbst in diesen Schwan-
kungen lässt sich nicht nur ein bestimmter Breitegrad nachweisen, son-
dern auch das aus ihnen hergestellte Mittel erscheint als ein ganz
anderes für den Neger-Humerus als für jenen des Europäers. Würden
die begonnenen Messungen fortgesetzt, so wird sich ohne Zweifel mit
bedeutenderer Sicherheit ein positives Urtheil gewinnen lassen. Auch
wird sich gewiss die Vermuthung Lugae's bestätigen , dass dem Neger
der grossere Winkel keinesfalles allein zuzuschreiben sein möchte.
In dieser Hinsicht ist die von demselben Autor gemachte Angabe, dass
der fragliche Winkel beim Humerus eines Malayen-Skelets sogar 51 ^
betrug, sehr bemerkenswerlh. Es wird aller Wahrscheinlichkeit gemäss
nachzuweisen sein, dass, bei aller Schwankung individueller Zustände,
im Ganzen genommen doch die Rassenverschiedenheit auch an jenen
Verhältnissen sich kundgibt, die dadurch an ihrem anscheinend unter-
geordneten Werthe heraustreten müssen.
Diese Verschiedenheit der Winkelstellung der Gelenkenden, mag
sie sich aus einer Vergicichung verschiedener Rassen der Menschen^
oder aus einer Vergleichung des sich entwickelnden Humerus mit dem
ausgebildeten ergeben, empfängt ihre tiefere Bedentung erst durch eine
über andere Wirbelthierklassen ausgedehnte Vergleichung, wie sie von
Martins versucht worden ist. Sind auch die bezüglichen Angaben die-
ses Forschers keineswegs genau, wie schon aus dem oben für den
i) Obgleich Locab eine andere Messungeweise hat, indem er die untere Quer*
axe durch das Cubitaigelenk und nicht durch die Epicondylen legt , so glaube ich
doch seine Messung hier beirechnen zu dttrfen , denn einmal sind die Unterschiede
nicht sehr bedeutend, und zweitens bandelt es sich doch hier nur um sehr provi-
sorische Ergebnisse.
6i t, ^MgMiinMit,
menschliobe« Humeras zin^Genüge hervorg^t, ^) so ist dooh die Baupir-
iMiche ricbtig, da^s in den untern Abtiieilungen der oft beregte Winkel
ein viel grösserer ist. Bei denReptttten, auob beiden Vdgeln, kommt er
nabeKU einem recbten gleich. Bei den Säugetbii^en , wo, dem oben
angeführten zufolge , von Martins noch die Stellung des Gelenkkopfes
zur Medianefoene des Körpers mit in Betracht gebogen vfMy soll er 180^
beiragen , allein es soll aucAi das proximale Ende des Humerus um 90*
gedreht sein, wie aus der Stellung der Tubercaia hervorgehen aolL
Gegen diese letztere Auffassung möchte ich Bedenken äussern. Die Dre-
hung bezieht sich nämlich dann nicht mehr auf den Humerus allein,
sondern auf ihn und seine Stellung zum Körper, wodurch die in Be-
tracht zu ziehenden Instanzen ausserordentlich complicirt werden. Will
man hierauf eingehen , so müsste die Stellung der Scapula vor allem
berücksichtigt werden. Bei einer Beschränkung der Untersuchung auf
den Humerus — und diese ist bei einer am Humerus sich vollziehenden
Erscheinung gewiss für's erste gerechtfertigl — ergibt sich für die Mehr-
zahl der Säugethiere auf keinen Fall eine viel grössere Drehung als bei den
Reptilien. Ich finde bei der Hauskatze in einem Falle einen Winkel von
106<^, in einem zweiten von 93^. BeimTieger fand ich 92<^; beim Bären
94®. Ferner beim Rinde 6^ (bei einem i Fuss langen Rinderfötus aber
gleichfalls nur 62^]. Von Affen habe ich Gynocephalus hamadryas unter-
sucht. Der bezügliche Winkel beträgt 51®. Vom Orang gibt ihn Lucak
auf 45® an. Eine beiläufige Schätzung vieler anderer Säugethier-Hume-
rus lässt mich annehmen , dass der Winkel seltener einen rechten vor-
stellen möchte, dass er also meist geringer ist als bei Reptilien.')
4) Auch die Annahme dass am Pemur ein Zusammenfallen der durch don 6e-
lenkkopf und der durch die Co4idylen gelegten Axen in eine Ebene bestehe, ist,
wie längst bekannt, nicht richtig. Ich finde den Winkel den beide Axen zu einander
bilden am Femur der Erwachsenen in 6 Fällen sehr verschieden: 10^ '7*, IT*, i^*,
M^ 4^ Die untere Axe stellt sich median hin ler die obere, somit erscheint ein
dem Huaierus analoges Vec^bttltniss, das men unter. der allerdings hier nooh nicht
erwiesenen Vorausaetcung eines anDlnglicheu ZusammenfaUens beider A]ien gleich-
falls als Drehung um die Läng^axe bezeichnen könnte.
2) Bei den Winkelmessungen am Humerus von Söugethieren habe ich dasselbe
Verfahren wie bei den Messungen am menschlichen Humerus eingeschlagen. Dass.
wie nicht anders zu erwarten, auch hier individuellen Schwankungen bestehen,
zeigen die beiden Messungen an Katzen. Der Werth einzelner Maassangaben ist da-
her auch hier ein sehr «ntergeordneler , so dess ich den »ngeHihiieo Zahlen der-
selben kein besonderes Gewicht beilegen iLOnn, und auch hier wmnsolien nuttchte,
dass ein reichliches Mnteriat {«'Benutzung gezogen werden ntftclito Selbst die An-
gaben eines Mittels für den menschlichen Honierus bin icii getteigl für scAm* |trnvi**
sorisch anzusehen.
Üeber die firebnng ikss Homeras» 63
Eine ühnliche Bewegung wie ich sie 'oben für den Verlauf der
Entwickelung des menschlichen Huroerus gezeigt habe, wird sich also
auch innerhalb der Reihe der intt vergleichbaren Vordergliedmassen
ausgestatteten Wirbetttiere herausstellen. Nehmen wir als Ausgangs-
punct fttr diese Dr^ung jene Stellung an , wo der radiale Epicondylus
median, der ulnare lateral gerichtet ist, so dass also die Vorderextremi-
tjki zu der hinteren noch vollständig homotyp erscheint, so wird der
radialB Epicondylus allmählich nach vorne sich richten, dadurch rückt
der ulnare nach hinten* Bfi den Rt ptUlaa wird dann eine solche Dre-
hung um \iO^ erfolgt sein; ähnlich bei den Vögeln. Vollständiger wird
die Umdrehung bei den Säugethiereh ; so beträgt sie, wie aus obiger
Winkelmessung hervorgeht, beim Rinde 149^, bei Gynocephalus
429®, beim Orang 135®. Am Matayen-Humerus nur 129®; am Humerus
der Neger (im Mittel) 1 48®. Am fatalen Humerus des Europäers beträgt
sie 1.39®. Im ersten Lebensjahre 141®; beim Erwacfisenen im Mittel
168®, in einzelnen Fällen sich auf 179® erhebend, aber auch auf 148®
stehen bleibend. Im ftflalen EustaAde bietet «der Humerus des Europäers
eine Stellung seiner Gclenkenden die jener bei niederen Rassen nahe
kommt, und, wenn auch etwas entfernter, an die bei Säugethieren ge-
gebenen bleibenden Zustände sich reihen lässt. Aus dieser Vergleichung
ist die Erklärung für die Verschiedenheit der Stellung der Gelenkenden
des Humerus der Erwachsenen und des Fötus zu entnehmen. Der
fötale ZusUmd bietet uns hier, wie auch an so vielen anderen Organen,
die durch Vererbung überkommene Einrichtung dar, aus welcher all-
mählich das erst später erworbene Verhalten sich ausbildet.
trUanmg nr Tafel.
Alle vier Figuren sind nach der l.ucAE-WELciBR'scheu Weise geteicbneke. Utti^
risse dar beiden Geleaiiefiden des Homerus.
A— B stellt die durch den Gelenkkop/ gelegte Aie vor,
a— b reprttsentirt die durch das distale Humerusende gelegte Axe.
Fig. I. Schema der mittleren Axenstellung für den Erwachsenen.
(Niich dem sub No. 2S aufgeführten Humerus).
Fig. II. Von einem 8*/, Monate alten Kinde.
Fig. fll. Von einem 8 monatlichen FOtus.
Fig. IV. Von einem Neger (das aus den bis jetzt bekannten Messungen
rtch erge* ende Mittel darstellend.)
^
Von
Ernst HäckeL
(Hierzu Taf. II. und lU.)
I. Gescjiichtliche Einleitung.
•
Moneren 1) habe ich in meiner Generellen Morphologie der Orga-
nismen *) diejenigen auf der tiefsten Stufe der Organisation stehenden
Lebewesen genannt, deren ganzer Körper in vollkommen entwickeltem
und frei beweglichem Zustande aus einer gänzlich homogenen und
structurlosen Masse , aus einem lebendigen ^ mit Ernährung und Fort-
pflanzung begabten, Eiweissklümpchen besteht. In vielfacher Beziehung
sind diese einfachsten und unvollkommensten aller Organismen*) vom
höchsten Interesse. Denn offenbar tritt uns hier die eiweissartige orga-
nische Materie als das materielle Substrat aller Lebenserscheinungen
nicht nur unter der einfachsten wirklich beobachteten Form , sondern
unter der einfachsten Form die überhaupt denkbar ist, entgegen. Ein-
fachere, unvollkommenere Organismen, als die Moneren sind, können
nicht gedacht werden.
Der ganze Körper der Moneren stellt in der That, so befremdend
dies auch klingen mag, weiter Nichts dar , als ein einziges , durch und
durch homogenes, in fest flüssigem Aggregatzustande befindliches
4) fiopiqQfig, einfach. Am passendsten dürfte die Bezeichnung als Neutrum ge-
braucht werden : to ^oitj^ts, das Moner.
5) Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. Berlin, 4866. Erster
Band : Allgemeine Anatomie der Organismen Zweiter Band : Allgemeine Ent-
wickelungsgeschichte der Organismen.
8) 1. c. Vol. I, Cap. V. Organismen und Anorgane, p. 486. Cap. VI : Schöpfung
und Selbstzeugung, p. 48i. U c. Vol. 11, Systematische Einleitung, p. XXII.
MonogT»p)iie der MoDeren. 65
Eiweisskörperchen. Die äussere Form ist ganz unbestimmt, in fortwäh-
rendem Wechsel begriffen, im Ruhezustand kugelig zusammengezogen.
Von einer inneren Structur» von i9ilier Zusammensetzung aus ungleich-
artigen Theilchen, ist auch bei Anwendung unserer schärfsten Unter-
scheidungsmittel ki&ine Spur wahrzunehmen. Da die gleichartige Ei-
Weissmasse das Monerenkörpers noch nicht einmal eine Differenzirung in
einen inneren Kern (Nucleus) und einen äusseren Zellstoff (Plasma) er-
fea&llen lässt, vielmehr der ganze Körper aus homogenem Plasma oder
Protoplasma besteht, so erreicht hier die organisirende Materie noch
nicht einmal den Formwerth einer einfachsten Zelle. Sie bleibt auf der
denkbar niedrigsten Stufe der organischen Individualität, auf derjenigen
einer einfachsten Gymnocytode stehen.
Die seit zwanzig Jahren so vielfach behandelte Frage von der Grenze
zwischen Thier- und Pflanzenreich wird durch die Moneren zur Ent-
scheidung gebracht; oder richtiger, es wird durch sie bewiesen, dass
eine vollkommene Scheidung beider Reiche in dem Sinne , wie sie ge-
wöhnlich versucht wird, nicht möglich ist. Offenbar sind die Moneren
so indifferente Organismen, dass man sie mit gleichem Rechte, oder
vielmehr mit gleicher Willkür , als Urthiere oder als Urpflanzen be-
trachten könnte. Sie könnten eben so gut als die ersten Anfänge der
thierischen, wie der pflanzlichen Organisation angesehen werden. Da
aber kein einziges entscheidendes Merkmal sie auf diese oder jene Seite
drängt, erscheint es vorläufig das Richtigste, sie als Mittelwesen zwischen
echten Thieren und echten Pflanzen aufzufassen, und nebst den Rhizo-
poden, Amoeben, Diatomeen, Flagellaten etc. in jenes unbestimmte,Thier-
und Pflanzenreich verbindende Zwischenreich zu verweisen, welches
ich das Reich der Urwesen oder Protisten genannt habe. ^)
Die Moneren sind in der That Protisten. Sie sind weder Thiere
noch Pflanzen. Sie sind Organismen der ursprünglichsten Art, bei de-
nen die Sonderung in Jhiere und Pflanzen noch nicht eingetreten ist.
Aber selbst die Rezeichnung Organismus scheint auf diese einfachsten
Lebewesen kaum anwendbar. Denn in dem ganzen Regriffe des »Orga-
nismustt Hegt nothwendig die Zusammensetzung des Ganzen aus un-
gleichartigen Theilen, aus Organen oder Werkzeugen. Mindestens zwei
verschiedenartige Theile müssen verbunden sein, um in die'sem ur-
sprünglichen Sinne die Rezeichnung eines Körpers als Organismus zu
rechtfertigen. Jede echte Amoebe, jede echte (d. h. kernhaltige) thie-
rische und pflanzliche Zeile, jedes Thier-Ei ist in diesem Sinne bereits
4)' ro ngtuTtatov, Das Allererste, Drsprüagllche. Generelle Morphologie, Vol. I,
p. «08, S«5; Vol. II, p. XX.
BcadlV. 1. 5
66 . Ernst Hick«l,
ein elementarer Organismus, aus zwei verschiedeneili Organen, dem
inneren Kern (Nucleus) und dem äusseren Zellstoff (Plasma oder Proto-
plasma) zusammengesetzt. Mit diefsen letzteren verglichen sind die
Moneren eigentlich »Organismen ohne Organe.« Nur in physio-
logischem Sinne können wir sie noch Organismen nennen , als indi—
viduelleTheile der organischen Materie, welche die wesentlichen Lebens-
thätigkeiten aller Organismen, Ernährung, Wachsthum und Fortpflan-
zung vollziehen. Aber alle diese verschiedenen Functionen sind noch
nicht an differente Theile gebunden. Sie werden alle noch von jedem
Theilchen des Körpers in gleichem Maasse ausgeübt.
Wenn schon aus diesen Gründen die Naturgeschichte der Moneren
sowohl für die Morphologen wie für die Physiologen vom höchsten In-
teresse sein muss, so wird dies doch noch gesteigert durch die ausser-
ordentliche Bedeutung, welche diese einfachsten Organismen für die
wichtige Lehre von der Urzeugung oder Archigonie (Generatio spon-
tanea) besitzen. Dass die Annahme einer einmal oder mehrmal stattge-
fundenen Urzeugung gegenwärtig zu einem logischen Postulat der
philosophischen Naturwissenschaft geworden ist, habe ich in meiner
generellen Morphologie gezeigt. Die meisten Naturforscher, welche diese
Frage verständig behandelten, glaubten als die einfachsten, durob Ur*
Zeugung entstandenen Organismen, aus denen allb übrigen sich ent-
wickelten, einfache Zellen annehmen zu müssen. Allein eine jede echte
Zelle zeigt schon die Zusammensetzung aus zwei differenten Theilen,
aus Nucleus und Plasma. Offenbar ist die unmittelbare Entstehung
eines solchen Gebildes durch Urzeugung nur schwer denkbar, viel
leichter dagegen die Entstehung einer ganz homogenen organischen
Substanz, wie es der structurlose Albumin-Leib der Moneren ist.
Aus diesen und anderen später zu erörternden Gründen scheint es
angemessen, schon jevzt, wo wir erst im Anfang unserer Kenntnisse
von diesen äusserst interessanten Urwesen stehen, Alles darüber Be-
kannte zusammenzufassen. Den unmittelbaren Anstoss zu diesem mo-
nographischen Versuch gab mir eine Reihe von neuen Beobachtungen
über einige bisher unbekannte Moneren, welche icli im Winter 1866/67
an der Küste der canarischon Insel Lanzarote anzustellen Gelegenheit
hatte. Bevor ich diese Beobachtungen mittheile, scheint es mir zweck-
mässig, eine kurze geschichtliche Skizze der bisher veröffenUichien
sicheren Mittheilungen über Moneren zu geben, loh bemerke dabei,
dass ich mich dabei ganz auf die eohten Moneren beschranke, d. h. auf
nackte Plasroakörper ohne Kerne und sonstige Organe, und dass ich die
durch den Besitz eines oder mehrerer Kerne unterschiedenen Protoplaslen
(Amoeben, Arcellen etc.) sowie die durch eine differenzirte Sdialeoder
Monogr^ybif 4er Moneren. 67
Meaibran ausgasK^iotixieten Rhizi>podan , Sipbooeen etc. dabei nicht he-
rttcksichli^o werde.
Das erste Moner^ d^Sfisn Naturgeschichte vollständig verOffeptlicht
wurde, ist Protogenes primordialis, welchen ich im Frühling
1864 iDi Mittelmeere bei Nizza beobachtete, i) Frei im Seewasser
schwimmend ersdiian dieses Moner als ein durchsichtiges , Kugeliges
SchlfliskUfimpchen von ungietähr I Mm. Durchmesser (die kleineren
Exemplare nur von 0,1 Mm. Durchmesser). Nur ungefähr e\n Drittel
dieses Durchmessers kam auf die innere Centraln;i9Sße des ({^(Mrpers,
eine homogene, solide Sarcodek^geJ, während die äusseren apwjei Drittel
sich auf eine peripberiscbe Kugelzone vertheilten, die lediglich aus l,du-
senden von feioei» radialen Schleim^den bestand. Diese Fäden, die
sogienaonteD Pseudopodien, welche theils einfach, theils verzweigt und
aaastomosArend nach der Peripherie liefen, sU*ahiten unmittelbar von der
Peripherie des centralen Eiweisskörpers aus. Sie zeigten durchaus
dieselben Lebenser^cbeinungen , wie die gleichyeQ Sarcode-F/$den der
edUen Rhizopoden (Acytiarien und Radiolariei^). Die festflUssige Ei-
weissmaase des ganzen Kilrpers war in beständiger Bewegung, einer bald
langsanverei), bald rascheren Strömung begriffen, weiche an der pßssiven
WanderiiAg der feinen, gewöhnlich zdhireich in der Eiweissmasse ver-
theillen K4rucben leicht zu verfolgen war. Die Sarcodefäden wechsettep
beständig an Zahl, Form und Git^sse; sie veirästelten sich und anasto-
mosirien, flössen wieder auseinander und wurden in die centrale Bauptr-
masse zurückgezo^^. Kurz sie zeigten ganz dasselbe Schauspiel, wel-
ches Max ScituLTr^B ajo den Polythalaoiien ^j und ich selbst an den Radio-
larien^ so ausführlich und vielfach beschrieben haben. Auch die
NahniogfiaufBahme des Protogenes war dieselbe, wie bei den letzt-
genaanien echten Rhizopoden. Kleinere Körper (Diatomeen , einzellige
Alj^ott etc.) blieben an der klebrigien Oberfläehe der Eiweissfäden, wenn
sie zufällig mit ihnen in Berührung kamen, hängen, wurden von ihnen
umflossen, und dann langsam jn^ii^ centrale Eiweissmasse hineinge-
zogen. Grössere Körper, wie z. B. Peridinien (I. c. Fig. i) wurden in-
Jetzt v^Uatüodig von dem P ro togen eskörper umflossen ; erst nachdem
dieser dan brauchbaren Köiperinhalt'des Opfers assimilirt, zpg er sich
viOD der UBverdaulichen Schale wieder herab. In einem flachen Uhr-
4) Ebvst HACciit, über den Sarcodekörper der Rhizopoden. Zeitschrift für
wUseofch. Zoologie, 4 SM. XV. Bd. p. 860. Taf. XXVI. Fig 4, %.
5) Max Scrultzb» über den Organismus der Polythalamien. (Leipzig, 4854. p.
47 ff.)-
8} RmfST Haeckbi.» Die R9diol«rien, eine Monographie Berlin, 4862 p. 86 ff.
6*
>
68 Ernst Hftekel,
glaschen mit wenig Seewasser längere Zeit stehen gelassen, breitete
sich der Protogenes auf dessen Boden in Form einer dünnen hyalinen
Schleimplatte aus. Diese Platte erhielt sehr unregelmässige lappige Um-
risse, und einen Durchmesser von 3 — 4 Mm. Das Wichtigste jedoch,
was ich an dem Protogenes constatiren konnte, war seine Fortpflanzung
durch Selbsttheilung. Dieselbe erfolgte durch einfachen Zerfall des
kugeligen Schleimkörpers in zwei Hälften, ohne dass ein bea<»derer
Ruhezustand, eine Encystirung etc. vorhergegangen war.
Meinem Protogenes primordialis sehr nahe verwandt ist
wahrscheinlich die von Max Schültzb im adriatischen Meere beiAncona
beobachtete Amoeba porrecta.^) Dieses Moner ist zwar sehr viel
kleiner, als der Protogenes primordialis, aber durch die geringe
Consistenz des SarcodekOrpers, sowie durch die lebhafte KörnchensUrö-
mung , Verästelung und Anastomosenbildung der Pseudopodien dem-
selben sehr ähnlich. Auch fehlen ihm der Kern und die contractile Blase,
welche die echten Amoeben auszeichnen. Es würde daher richtiger als
Protogenes porrectus zu bezeichnen sein. Da jedoch seine Fort-
pflanzungs- und Entwickelungsgeschichte unbekannt ist, und ohne
deren Eenntniss, wie wir sehen werden , über die systematische Ver-
wandtschaft und Stellung der Moneren nicht sicher geurtheilt werden
kann, so muss die Natur der Amoeba porrecta als eines echten
Protogenes zweifelhaft bleiben.
Von der grössten Wichtigkeit für die Naturgeschichte der Moneren
sind die »Beiträge zur Kenntniss der Monaden a, welche L. Cunkowski
1 865 veröffentlichte. ^) Diese interessanten Mittheilungen sind um so
wichtiger, als sie von einem Naturforscher herrühren, der eben so scharf
und genau zu beobachten, als vorsichtig und kritisch zu schliessen ver-
steht. CiBNKOWsKi beschreibt die Lebensgeschichte von fünf verschie-
denen Organismen der einfachsten Art, welche er in zwei verschiedene
Gruppen bringt: Monadinaezoosporeae, welche sich durch
Schwärmsporen fortpflanzen; 1) Monas (amyli), %) Pseudospora,
3) Colpodella; und Monadinae tetraplastae, welche sich durch
Bildung von zwei oder vier actinophrysähnlichen Keimen fortpflanzen:
4)Vampyrella und 5)Nuclearia. In beiden Gruppen geht eine Ency-
stirung und ein Ruhezustand der Fortpflanzung der nackten Plasma-
körper, welche sich den Rhizopoden gleich ernähren, vorher. Die drei
4) Max Schultzb, Ueber den Organismus der Polythalamien , p. 8. Taf. VII.
Fig. 4 8.
2) L. CiBNKOWSKi, Beiträge zur Kenntniss der Monaden. Schultze's Archiv für
mikroskopische Anatomie. 4865. Bd. I. p. 20t. Taf. XII^XIV.
MoDOgrapbie der Moneren. 69
Crenera Pseudospora, Golpodella und Nuclearia interessiren
uns hier nidit weiter, da ihr Plasmakörper bereits einen Kern und
Yacuolen umschliesst^ nrilbfai den Formwerth einer Zelle besitzt. Da-
gegen sind Monas (amyli) und Vampyrella echte Moneren, deren
nackter Plasmaktfrper weder Kerne noch contractile Blasen besitzt.
Da der Auadruck Monas sehr vieldeutig ist, so habe ich die Monas
amyU, auf welche Cienkowski diese Gattung beschränken wollte, um
Verwechselungen zu vermeiden, Protomonas amyli genannt (Gen.
Morphol. Vol. 11, p. XXIII).
Protomonas amyli war bisher das einzige Moner, bei welchem
SchiA^ärmsporenbildung beobachtet worden ist. Der homogene Plasma-
körper derselben lebt in faulenden Nitellen , und gleicht einer kleinen
Aciinophrys oder einer kleinen Amoeba porVecta, ohne Kern
und ohne contractile Blasen. Wenn er sich in den Ruhezustand be-
giebt, zieht er sich in einen rundlichen Plasmakörper zusammen,
welcher sich sodann mit einer Membran umgiebt (encystirt). Dann
zerfällt der Körper in eine grosse Anzahl homogener Schwärmsporen,
welche spindelförmig und sehr contractil sind , und sich ähnlich einer
Anguillula schlängelnd mittelst einer oder zweier langer Cilien bewegen.
Oft fliessen mehrere Schwärmer [durch Verwachsung) zusammen und
bilden ein Plasmodium, welches nach erfolgter Nahrungsaufnahme wie-
derum in den ruhenden Zustand übergeht (Cienkowski, 1. c. p. 213,
Taf. XII, Fig. 4—5).
Das Genus Vampyrella pflanzt sich nicht durch Schwärmsporen,
sondern durch zwei oder vier actinophrysartige Keime fort. Der ho-
mogene Plasmakörper ist durch ziegelrothe Farbe ausgezeichnet.
CuNKOWsKi unterscheidet von diesem Genus drei verschiedene Arten.
Vampyrella Spirogyrae (I.e. Fig. 44 — 56) bildet im Ruhezustande
kugelige Blasen , deren dünne Membran einen homogenen rothen Plas-
makörper umschliesst. Dieser zerfallt durch Theilung erst in zwei,
dann in vier Keime, welche die HttUwand durchbrechen und dann
als rotbe Amoeben* mit spitzen Fortsätzen , in sehr wechselnder
Form sich umherbewegen. Mit ihren spitzen Pseudopodien bohren
diese Keime die Zellenwände der Spirogyra an, worauf sie den
Plasroainhalt derselben herausziehen unjl in sich aufnehmen. Der
grüne Inhalt der ersteren erhält bei der Verdauung eine rothe Farbe.
In ähnlicherweise bohrt Vampyrella pendula (1. c. p. 23t, Fig.
57 — 63) die Zellen anderer Algen (Oedogonien , Bulbochaeten) an und
saugt deren Plasma heraus. Sie unterscheidet sich durch einen faden-
förmigen Fortsatz, welcher von dem Plasmakörper der birnförmigen Cyste
durch deren zugespitzten Stiel hindurch zur Ansatzstelle derselben geht.
iO Ernst HScldi
und durch Mangel der Kdroch^nstt-ÖDiüDg an defi actläopbrys-fibnlioheri
Pseudopodien. Vatapyrella vorax, eine dritte Art, lebt dagegen
von Diatomeen, Euglenen utid Destnidiädeeti , \<'elche ihr formloser
Plasdiakörfi^r übersieht, um dann Cysiefi von sehr verschiedener Form
und Grösse zu bilden (I. c. p. 223, Fig. 64—73).
Als Protamoeba primitiva endlich habe ich in meiner gene-
rellen Morphologie (Vol. I. p. 133, Anm.) ein kleines amoebenahnlicbes
Moner beschrieben , welches sich von den vorhergehenden Monadinen
CusNKOWSKi^s dadurch unterscheidet, dass es sich einfach durch Thei-
lung fortpflanzt, ohne vorher in einen Ruhezustand überzugehen oder
sich zu encystiren. Es gleicht in dieser Beziehung dem ProtogeneS
primordialis, von dem es sich aber durch die kurzen, stumpfen,
flicht cohflüirenden Pseudopodien unterscheidet. Die nähere Beschrei-
bung dieser Protamoeba wird unten folgen.
Itti Jahre 1866 sind mehrere meinem Protogen es primordialis
sehr ahnliche Moneren , gleich diesem von ansehnlicher Grö^ise , von
RlcHAHl) GkEBPF an der Kttste von Ostende beobaculet worden. Der-
selbe zeigte niii^ zahlreiche Abbildungen, aus denen sich die grosse
Form Veränderlichkeit derselben, ahnlich den Plasmodien der Myico-
myceten, ergab- Mitiheilungen darüber sind bis jetzt noch nicht
publicirt.
Als ich im Winter 1866 — 67 drei Monate auf der canarischen Insel
Lanzarote verweilte, um daselbst Beobachtungen über niedere Seethiere
anzustellen , war mein Augenmerk neben den Hydromedusen und den
echten hhizopoden vorzüglich auch auf die Moneren gerichtet, und
meine Hoffnütig , auch dort dergleichen aufzufinden , würde nicht ge-
tauscht. Die auf Taf. I. dargestellte Protomyxa und das auf Taf. II.
abgebildete Myxastrum bereichern die Naturgeschichte diesef einfach-
sten Organismen mit neuen Thatsachen. Es ist wahi^cheinlich , dass
Monereh seht- verbreitet vorkommen, und es ist möglich, dass dieselben
boch fortwährend durch Urzeugung entstehen. Das Schwierigste bei
iht*er Untersuchung ist die erste ErkeimtnisS, da die meisten Beobachter
auf den ersten Anblick nicht geneigt sein werden , in dem kleinen,
fok-mlosen , durch und dut^h homogenen SchleimklQmpchen einen
selbststandigen und ausgebildeten Organismus anzuerkennen. Mögen
daher die Moneren fortan der besonderen Aufmerksamkeit der mikro-
skopirendett Naturforscher warm empfohlen sein.
r
r
^ Monographie d«r HoDeren. 71
II. iesckreibiBg neuer ■•■erea.
n. I^Protomyxa auraniiaca.
(Hierzu Taf. II, Fig. 4-^18).
An vielen RUstenstrecken der canarischen Inseln finden sich in
grosser Menge die spiralig aufgewundenen Kalkschalen der Spirula
Peronii vom Meere ausgeworfen. Besonders zahlreich fand ich die-
selben an der Südosiküsie der Insel Lanzarote angehäuft, z. B. an
den kleinen flachen Inselbünken und Halbinseln, welche vorder Hafen-
Stadt Puerto del Arrecife liegen und deren Hafenbecken tbeil weise uni-
scbliessen. Während meines dreimonatlichen Aufenthaltes in Arrecife
hielt ich beständig die HolTnung aufrecht, lebendige, oder wenigstens
zur anatomischen Untersuchung taugliche Exemplare dieses merkwUr-*
digen Gephalopodon zu erlangen, von dessen weichem Körper man
nur höchst unvollständige Kenntnisse besitzt. Ich setzte den Fischern
von Arrecife eine hohe Belohnung aus, wenn sie mir einen lebenden oder
auch nur einen vollständig erhaltenen todten Spirula-Körper brächten.
Jodess war dies ebenso vergeblich, als die vielen Bemühungen, welche
meine drei Reisegefährten und ich selbst bei unsern pelagischen Excur-
sionen und beim Durchsuchen der am Strande ausgeworfenen Hassen
um die Spirula uns gaben. Dass die Spirula, wenn überhaupt, so doch
jededfaHs nur sehr selten lebendig nach den canarischen Inseln ge-
langt, gebt daraus hervor, dass alle Fischer uns mit der grössten Be-
stimmtheit einstimmig versicherten, dass die ihnen wohlbekannte
Spirula - Schale stets todt, und niemals von einem lebenden Thiere
bewohnt oder eingeschlossen sei. Das Einzige was ich erlangte, waren
einige unbedeutende weisse Mantelreste, welche an einigen wenigen
Schalen aufsas&en , aus denen sich jedoch Nicht.s auf den Bau des Spi-
rula-Kdrpers scbliessen Hess. Diese unbedeutenden Reste wurden
wiederholt an einigen Tagen in das Hafenbecken von Arrecife getriebeui
als gerade ein heftiger Südwind besonders grosse Mengen nackter Spi-
rula-Schalen in Gesellschaft zahlreicher Physalien und Velellen und
anderer pelagischer Thiere der Insel Lanzarote zugetrieben hatte.
Während so meine Hoffnung auf die Spirula selbst nicht io Er-
füllung ging , fand ich dagegen auf den nackten angetriebenen Kalk-
schaien dieses Cephalopoden im Januar 1 867 einen Protisten-Organismu«
aus der Monerengruppe , welcher mir von hohem Interesse war , und
dessen Lebensgesohichte ich auf Taf. I. dargestellt habe.
Als ich unter einer grossen Menge von Spirula — Schalen , welche
72 Erost Hlckel,
an der Oberfläche des Hafenbeckens von Arrecife schwammen , und
welche ich in Gesellschaft von Physalia , Abyla , Hippopodius und an-
deren pelagischen Thieren mit einem Eimer geschöpft hatte, sorgfältig
nach etwa an den Schalen haftenden Mantelresten suchte, bemerkte ich
eine nackte Spirula-Schale , deren gewöhnliches glänzendes Porcellan-
Weiss an mehreren Stellen durch kleine rothe Flecke getrttbt war. Mit
einer starken Loupe betrachtet, lösten sich diese Flecke theils in Gruppen
von dichtstehenden , sehr kleinen rothen Pttnctchen , theils in ausseiet
fein dendritisch verzweigte Figuren auf.
Die rothen Pünctchen Hessen sich unter dem Präparirmikroskop
ziemlich leicht mittelst Nadeln von der Oberfläche der Spirula-Schale
abheben. Bei stärkerer Vergrösserung erschien jeder Punct als eine
ziemlich undurchsichtige orangerothe Kugel, welche von einer dicken,
structurlosen Membran umhüllt war. ' Der Durchmesser des ganzen
Körpers betrug bei den meisten Kugeln 0,15 Mm., bei den grössten 0,2
Mm. bei den kleinsten 0,12 Mm. (Taf. II, Fig. I.j
Die Membran der Kugel erschien vollkommen structurlos, glas-
artig, farblos und wasserbell. Nur eine Anzahl von (ungefähr 5 — 10)
sehr feinen parallelen Streifen waren daran wahrzunehmen , welche
concentrisch um das Centrum der Kugel herumliefen , ofienbar An-
deutungen einer schichtenweisen Ablagerung der structurlosen Masse.
Radiale Striche, porencanalähnhche Bildungen oder sonstige Oeffnungen
waren an der Kugelmembran nicht wahrzunehmen. Auch die Ansatz-
stelle , an welcher sie der Spirula-Schale (ofienbar nur sehr locker) an-
geheftet war , erschien nicht besonders ausgezeichnet. Die Consistenz
der Membran, soweit sie sich durch den Druck des Deckglases ermitteln
Hess, war die einer ziemlich zähen und sehr elastischen Gallerte, etwa
vergleichbar derjenigen der festeren Medusenschirme (z. B. von Tra-
chynema, Rhizostoma). Gleich der letzteren zeigte sich die Mem-
bran sehr indifferent, durch Carmin würde dieselbe nicht gefärbt,
ebensowenig durch lod und Schwefelsäure. Bei längerem Liegen in
lod wurde sie schVach gelb gefärbt. Essigsäure sowohl, als Mineral-
säuren brachten keine merkliche Veränderung hervor. In kaustischem
Kali quoll sie auf und löste sich langsam.
Der orangerothe Inhalt der Kugeln erschien bei den unverletzten
Exemplaren innerhalb der geschlossenen kugeligen Membran als eine
vollkommen homogene, festflUssige, trübkömige Masse, in welcher sehr
zahlreiche äusserst feine Körnchen und eine geringe Anzahl von grösse-
ren, stark lichtbrechenden rothen Körnchen zu bemerken waren. Bei
massiger Compression durch das Deckglas liessen sich die Kugeln ziem-
lich stark sphaeroidal comprimiren und nahmen die Gestftlt einer bicon-
Mooogrtpbie der Nonereo. 73
vexen Linse von 0,3 Mm. Durchmesser an. Nach Aufhören des Druckes
dehnten sie sich wieder zu ihrer früheren Kugelgestalt aus. Die un-
durchsiditige Mitte der Kugeln wurde beim Druck durchsichtiger, ohne
jedoch irgend eine Structur erkennen zu lassen.
Mein erster Gedanke, dass die Kugeln Eier seien, wurde mir schon
dadurch unwahrscheinlich, dass durchaus kein Keimbläschen (Nucleus)
in dem homogenen Inhalte der structurlosen Kugeln zu erkennen war.
Sr wurde bald gänzlich widerlegt durch die verschiedenartigen Ent-
wickelungsstadien , welche mehrere Kugeln zeigten , sowie durch das
Verhalteb des aus den Kugeln austretenden Inhaltes.
Während bei der Mehrzahl der Kugeln die Inhaltsmasse überall
dicht der Innenseite der Membran anlag, und den Binnenraum der gan-
zen membranttsen Hohlkugel vollständig erfüllte , hatte sich bei einigen
Individuen der Inhalt von derselben ein wenig zurückgezogen und
offenbar verdichtet, während ein heller, mit wasserklarer Flüssigkeil
erfüllter Raum zwischen der Membran und der verdichteten Inhaltsmasse
entstanden war (Fig. Sj. Bei einigen Kugeln war der Umriss der cen-
tralen , verdiditeten , orangerothen Masse eine ganz scharfe und regel-
mässige Kreislinie. Bei anderen dagegen erschien derselbe regelmässig
gekerbt. Es waren ungefähr gegen 20, Kerben am Gontourrande der
rothen Kugel zu bemerken. Bei Beobachtung der Oberfläche zeigte
sieb, dass diese Einkerbung der Ausdruck einer regelmässigen Bildung
von halbkugeligen Höckern auf def gesammten Oberfläche der ver-
dichteten Kugel war. Noch andere Kugeln endlich , welche offenbar
weiter entwickelt waren , zeigten deutlich , dass diese Kerbung nicht
bloss die Oberfläche der verdichteten Inhaltsmasse betraf, sondern
nur der oberflächliche Ausdruck des Zerfalls der ganzen kugeligen
orangerothen Masse in eine grosse Anzahl von kleinen Kugeln war.
Bei den am weitesten entwickelten Individuen war in der That der
gesammte orangerothe Inhalt der Kugeln in lauter kleine Kugeln von
0,047 Mm. zertheilt. Diese lagen hier nicht mehr zusammengepresst,
sondern berührten sich nur locker, etwa wie ein Haufen von Kanonen-
kugeln. Sie hatten sich wiederum derartig von einander entfernt, dass
sie nicht mehr den gesammten Binnenraum der Hohlkugel ausfüllten,
sondern vielmehr durch eine geringe Menge der wasserhellen Flüssig-
keit von einander getrennt wurden , welche vorher zwischen der hya-
linen Membran und dem verdichteten Inhalte sich angesammelt hatte
(Fig. 3). Die Zahl der kleinen orangerothen Kugeln, welche aus dem
Zerfall der ursprünglichen grossen Kugel entstanden waren, betrug,
wie sich nachher beim Sprengen ergab, ungeftihr zweihundert.
Zunächst versuchte ich an den ungetheilten Kugeln durch Spreu-
l
74 Ernst HMel, * i
gen der Membran tu einer genaueren Kenntniss des orangerothen In-
halts zu gelangen. Dieser Versuch gelang ohne Mühe. Sobald der
Druck des Deckgläsohens ein geTvi8se8^Maa«s.Uberschrillen hatte, barst
die Membran, gewöhnlich an einer, selten an tnehreren Stellen zu-
gleich, und der orangerothe Inhalt trat langsam heraus. Die hyaline,
structurlose Membran blieb in vielfach gefaltetem Zustande zurück.
Der festflttssige Inhalt der Kugeln , welcher den mittleren Gonsi-
stenigrad des organischen Plasma oder Protoplasma hatte, quolt selur
langsam und allmählich aus der geborstenen Hülle hervor und breitete
sich zwischen Objectträger und Deckgläschen aus, wobei die Umrisse
rundliche stumpfe Lappen von ungleicher Grösse bildeten. Durch vor-
sichtiges Verschieben des Deckgiäschens gelang es ziemlich leicht, die
gl^shelle, gefaltete und collabirte Gallerthülle der geborstenen Kugel
ganz bei Seite zu schieben, so dass der orangerothe Inhalt völlig isolirt
unter dem Deckglase lag. Massigem Druck ausgesetzt, zeigte er sich
nur als eine formlose rundliche Masse, deren Umriss in unregei-
massigen Lappen von verschiedener Grösse da und dort sich verschob;
einzelne Lappen sahen wie gekerbt aus. Schon auf den ersten Blick
war ersichtlich, dass die gesammte Masse structurlos und homogen war.
Nur eine sehr grosse Anzahl von den bereits erwähnten, äusserst
feinen punctförmigen Körnchen und eine geringere Anzahl von
grösseren kugeligen Körnern war in der völlig homogenen Grundsub-
stanz vertheilt. Diese letztere war* in ihrer ganzen Masse blass röthlich
gelb gefärbt, auch am Rande, wo sie nur als eine sehr dünne Schicht
sich ausbreitete. Die lebhaft orangerothe Färbung der ganzen Kugeln
kam daher offenbar mehr auf Rechnung der orangerothen und ziemlich
stark glänzenden Körner.
Die chemische Untersuchung der blass rötblich gelben structur-
losen Grundsubstanz ergab bald, dass dieselbe eine Eiweissverbin-
dung war. Sie zeigte dieselben Reactionen , welche das Plasma oder
Protoplasma der Cytoden und der Zellen bei Thieren, Protisten und
PQanzen in gleicher Weise darbietet. Durch Gar min wurde die ganze
Masse dunkekoth , durch lod dunkelbraun gefärbt. Mineralsäuren be-
wirkten eine kömige Gerinnung. Salpetersäure färbte das Plasma dun-
kelgelbbraun , Schwefelsäure spangrün. Die letztere Reaction erinnert
an die gleiche Färbung des Acanthometra- Pigments durch Schwefel-
säure. Die grösseren sowohl als die kleineren Körnchen in der struc-
turlosen Grundsubstanz wurden durch Kali nicht gelöst, wöhrend das
Plasma darin langsam zerfloss. Von irgendv^eloher Difiereazirong oder
Zusammensetzung war an dem ausgetretenen Plasma nicht das geringste
zu bemerken.
r
MonogripM« der MoneTeo. 75
Auch die ^TBiter entwickelten Kugeln, welche ßtatt «Her homogenem
(grossen Plasuiakugel eine ganze Masse von kleinen ornngerothen Kugeln
enthielten, gelanges ziemlieh leicht , zu sprengen. Doch zeigte deivn
structurlose HttUmembran einen höheren Grad von Harte und Gonsi-
fttenz. Die aus der geborstenen Hülle austretende orangerothe Inhalts-
masse Idsie sk$h im Wassen in ihlre einzelnen Bestandtheile auf, die
sich leitfht von einander trennten. Die einzelnen Kugeln waren alle
von gleicher Grösse, von 0,047 Mm. Durchmesser. Sie waren volt-
ständig nackt und hüHenlos, einzig und allein aus dem röthlich gelben
Plasma gebildet, in welchem eine Menge sehr feiner und kleiner, glän-
zender orangerother Körnehen suspendirt lagen. Die grösseren roth^
gelben und rothen kugeligen Körner, weichein dem Plasma der un-
getheilten Kugeln zerstreut waren, fehlten hier völlrg. Sie fehlten auch
schon in denjenigen Kugeln , bei denen die Furchung der Oberfläche
den beginnenden Zerfall des Plasma in kleinere Kugeln andeutete. Weder
von einem Kern , noch von einer contractilen Blase war an den kleinen
Kugeln eine Spur wahrzunehmen , eben so wenig als bei den grossen
ungetheilten Kugeln.
Die kleinen orangerothen Kugeln, die offenbar aus dem Zerfall der
einen grossen Plasmakugel hervorgegangen waren, zeigten wahrend
meiner ersten Beobachtung keinerlei Bewegung. Dagegen traten als--
bald amoebenartige Bewegungen bei einer der grossen ungetheilten
orangerothen Kugeln ein , welche ich in einem UhrglSschen mit See-
wasser möglichst vorsichtig dadurch von ihrer structurlosen Httlie be-
freit hatte, dass ich die letztere unt^r dem Mikroskop nicht durch den
Druck des Deckglases gesprengt , sondern mit zwei spitzen Nadeln an-
gestochen und zerrissen hatte. Jedoch waren diese amoebenartigen
Bewegungen nicht besonders lebhaft und hörten bald auf. Sie waren
nicht zu vergleichen mit den lebhaften Bewegungen der zierlichen
sternförmigen und dendritisch verzweigten Figuren , welche Ich neben
den orangerothen Kugeln auf der weissen Spirula-Sohale bemerkt hatte,
und zu deren Beschreibung ich mich jetzt wende.
Bei Schwacher Vergrösserung und auffallendem Lichte betrachtet,
boten diese Gestalten einen Äusserst zierlichen Anblick dar. Die un-^
durchsichtige, gtanzend weisse, porcellanartige Spirula-Schale sah aus,
als ob sie mit zerstreuten sternförmigen rothgelben Pigmentzelien be-
deckt sei , ahnlich denjenigen , welche in der Haut niederer Wirbel-
tbiere (Fische, Amphibien) so verbreitet sind. Jeder sternafanliohe
Fleck bestand aus einer unregelmässig rundlichen centralen Masse, von
ungeflihr 0,<?— 0,H Mm. Durchmesser und aus einer Anzahl von (meistens
5— 1 0) starken Aesten , welehe von der osntralen Masse ausstrablteii
76 £n8t Hlekei,
und sich äusserst fein und zierlich verzweigten. Bei Anwendung
stärkerer Vergrösserung liess sich sowohl in der centralen Masse als in
den Aesten und ihren Zweigen eine FoFAveränderung wahrnehmen,
welche auf selbstständige Contractionen des sternförmigen Körpers zu
schliessen gestattete. Man hätte glauben können, Ghromatophoren aus
der Haut der Spirula vor Augen zu haben. Da jedoch an der völlig
nackten , offenbar schon lange an der Meeresoberfläche schwiomienden
Spirula -Schale keine Spur eines Mantels mehr wahrzunehmen -war,
musste ich alsbald in dem zierlichen Strahlenkörper einen grossen
rhizopodenarUgen Organismus erkennen. Um ihn bei durchfallendem
Lichte genauer untersuchen zu können , war es durchaus nothwendig,
ihn von der undurchsichtigen Spirula- Schale zu entfernen. Mehrere
Versuche, ihn vorsichtig mit einer feinen Staamadel von der Schale
abzulösen , oder mit dünnen Splitterchen der Schale selbst abzuheben,
missglttckten völlig; ich brachte nur kleine formlose Trttmmer des
rothgelben Protoplasma unter das Mikroskop. Ich legte desshalb ein
paar grössere Splitterchen der Schale , welche einen rothgelben Stern
trugen , in ein flaches Uhrschälchen mit Seewasser , welches ich mii
einem anderen Uhrschälchen zudeckte, und stellte dasselbe in eine
feuchte Kammer. Meine Absicht, dadurch den Rhizopoden zum H^ab-
kriechen zu bewegen , ging bei einem Exemplar schon nach wenigen
Stunden , bei zwei anderen am folgenden Tage in Erfüllung , urd ich
hatte nun das Vergnügen, diese merkwürdigen Organismen , welche
von der Spirula-Schale auf das Uhrgläschen übergesiedelt waren , und
sich hier ausgebreitet hatten, in aller Müsse betrachten zu können.
(Fig. H, 42).
Jeder sternförmige Körper zeigte nunmehr, bei stärkerer Vergrösse-
rung ohne Deckglas betrachtet, ein prachtvolles Plasma- oder Sarcode-
Netz , so ausgedehnt und maschenreich , als man es nur bei Polythala-
mien und Radiolarien, Myxomyceten und Lieberktthnien, finden kann.
Die centrale Plasmamasse bildete eine flache, durchsichtige Scheibe
von unregelmässig rundlichem , jedoch nahezu kreisförmigem Umriss,
und ungefähr 0,2 — 0,3 Mm. Durchmesser. Am Rande zog sich dieselbe in
sechs bis acht starke Protoplasmastämme aus, deren jeder sich zu
einem äusserst zierlichen Räume verästelte. Diese Stämme, am Grunde
von 0,01 — 0,03 Mm. Durchmesser, theilten sich alsbald gabelig in zwei,
sriten drei Aeste, die sich, nach kurzem Verlauf abermals gabelförmig
spalteten, und sa fort. Rei jeder Spaltung nahm der Durchmesser der
Gabeläste stark ab , so dass in der Regel jeder Ast noch nicht halb
so stark war, als der nächststärkere Ast der vorhergehenden Ordnung.
Die Aeste waren fast sämmtlich leicht und zierlich gekrümmt, seltener
Monographie der Moneren. 77
fast f^erade. Schon von der dritten oder vierten Ordnung an begannen
die benachbarten Aeste zu verschmelzen, und die Anastomosen der
Aeste wurden nach der Penpberie hin immer zahlreicher , so dass die
«lussersten Aeste ein fast zusammenhängendes peripherisches Sarcode-
netz herstellten. Bie Form der Anastomosen war sehr unregelmttssig,
nach der Peripherie hin mehr und mehr bogenförmig, am Grunde mehr
unregehnttssig polygonal. Im Ganzen war das Plasmanetz sehr ähn-
lich demjenigen, welches ClaparIu>e von seiner Lieberkühnia Wa-
ge n e r i abgebildet hat. >]
Die rothgelbe Färbung war am intensivsten in der Mitte des Kör-
pers, welche offenbar auch die dickste Plasmalage bildete, und in
den Hauptstämmen , welche von deren Peripherie abgingen. Gegen
die letztere hin Wurde die Farbe immer blasser, und die feinsten Aeste
erschienen hell röthlichgelb gefärbt. Nirgends war die Farbe so in-
tensiv Orangeroth , wie an den vorherbeschriebenen Kugeln. Wie bei
den letzteren, wurde die Färbung auch hier ebensowohl durch ein
dififttses rothliches Gelb der structurlosen Grundsubstanz, als durch
einen lebhafter gelbrothen Ton der darin suspendirten Kömchen
bedingt.
Sowohl die centrale scheibenförmige Körpermasse , als die davon
ausstrahlenden Aeste und deren Zweige waren vollkommen durchsichtig
und Hessen auch bei der stärksten Vergrössening mit der grössten
Deutlichkeit die Thatsache erkennen , dass die gesammte Körpermasse
durchaus structurlos und homogen, ohne jede Zusammensetzung
aus Zellen oder zellenähnlichen Gebilden sei. Zur Evidenz wurde
diese Thatsache durch die feineren und gröberen rothen Körnchen be-
wiesen, welche strömend in dem Sarcodenetz hin und herbewegt
wurden, sowie durch die hie und da in das Plasma eingestreuten frem-
den Körper und Nahrungsbestandtheile (namentlich Diatomeen). Auch
diese letzteren wurden gleich den rothen Körnchen ergriffen und passiv .
mit fortgeführt von der Strömung , welche diu*ch active Lageverände-
rung der Eiweissmoleküle des homogenen Plasma bewirkt wurde.
In seinen chemischen Eigenschaften war der Eiweisskörper des Plasma
oder der Sarcode nicht verschieden von demjenigen der rothen Kugeln,
der vorher beschrieben wurde, und zeigte ganz dieselben Reactionen.
Die Strömungserscheinungen der Sarcode oder des freien Plasma
(Protoplasma) , wie sie namentlich bei den echten Rhizopoden (Aeytta*-
rien und Radiolarien) zu Tage treten, sind seit nunmehr 33 Jahren so
4) CLAPARiDB et Lacbvah H, Stades sur les Infusotreset les Rbizopodes, Vol. I,
p. 464, PL ?CXIII.
76 Ernst ^^^
genau untersucht und so allgemeio bekannt gew orden , dass es über-
flttssig sein würde , dieselben bei dem hier vorliegenden Organismus
nochmals detaiüirt zu beschreiben. DvjjniDm^] und Max Schultze';
haben dieses äusserst interessante und wichtige Phaenomon bei den
Polythabmien , Glapar^de und Lachhank bei Actinophrys, Acan-
ihom^tra und Lieberktthnia'j , JoHAinfBsMüLLEa*) und ich selbst')
bei den Radiolarien, de Bart^) und Cibnkowski ^j bei den Myxmiftyceten
so übereinstimmend und genau dargestellt, dass über dessen thatsHch-
liehe Existenz und weite Verbreitung kein Zweifel mehr aufkooiuien
kann. Zwar versuchte Reichert seit 186SI in einer Reihe von Aufsätzen
diese Thatsachen als unmöglich und die Beobachtungen und Deutungen
«ämmtlicber genannter Forscher als falsch darzustellen, weil diesel-
ben mit seiner dogma tisch- vHalistischen NaturauffassuDg unvereinbar
waren. Indessen habe ich bereits in meinem Aufsatze über den Sar-
codekörper der Rfaieopoden die völlige Grundlosigkeit und Verkehrt-
heit von RsicfifiRT^s Behauptungen dargethän. Ich würde dieselben hier
gar nicht ervsähnt haben, wenn nicht RBiCBBtT in einer soeben er-
*schienenen gi^sseren Abhandlung die von ihm angegriffene Plasma-
theorie der Sarcode selbst acceptirte, und dabei die Sache so zu ver-
drehen snohte, dass er als der eigentliche Entdecker jener von ihm früher
für unmöglich erklärten , in der Tbat aber längst festgestellten Phäno-
mene erscheint. Der folgende (HI.) Abschnitt meines Aufsatzes wird
Tiiesen umstand noch ndher erörtern.
Der orangefarbene , rhizopodenähnüche Organismus , welchen ich
auf der Spirula- Schale fand, und für welchen ich die Bezeichnung
Protomyxa aurantiaea vorschlage, zeigt das Phänomen der Sar-
codeströmung in der ausgezeichnetsten Weise. Die rothgelbe Sarcode
desselben ist in ziemlich hohem Grade dünniüssig, etwa wie bei Tha-
lassicolla unter den Radiolarien, bei Gromia unter den Acytturieo,
4)DuiAiiaiN, Ohservati4)ns douvelJe« etc. Annales des sciences nat 4835,
II, S6r., Tom III. p. na ff.
%^ Max Schultze. lieber den Orgsnisniiis der Polythalamien (4854) p 46 ff.
3) Clapar^de et Lachmann, Etudes sur les Infusoires et les tthtzopodes (4858),
Vol. 1, p. 446, 464 ff.
•4) JoHANiiEs UüLLER, üeberdieThalaBsicolleB, Fol^cystineninnUAcaBibooietreD,
JUbhandi. der Berlin Akad. 4S58, p. 8 ff.
5j Ernst Häokei«, Die Radiolarien. Eine Monographie (4 862) , p. 89 — 416 und
p. 427-469.
6) De Bary, Die Mycetozoen, Zeitschrifl für vvissensch. Zool. 4 860, Vol. X, p. 88 ff.
7} CiETivKewsKf , Zur EntwicfceliiRgsj^eschi'ible der MyxAjnycsfaea, Priogsbeims
Jahrbücber für wissensch. Bolanik III, p 325 ff.
Monograpkia der lloDeren. 79
oder beiPhysarutn unter den Myxomyceten. Die zahlreich zerstreu-
ten reihen Körnchen, welche durch die gegenseitige Lagenveründerung
der sich an einander verschiebenden Plasmamol^ttle in Bewegung
versetzt und passiv ton dem activen Sarcodestrom mit fortgerissen
werden, erlauben ibhr genau die verschiedenen Strömungsbahnen zu
verfolgen. Diese Bahnen sind ohne alle bestimmte Anordnung, in be-
ständige Wechsel begriffen. An den grosseren Stromladen* bemerkt
ffiftB ot% deutlich einen centrifugalen neben einem centripetalen Strom.
Schnelligkeit, Richtung und Stärke der Ströme wechseln beständig.
Die breiten polygonalen Sarcodeplatten, welche sich leicht an den Ana-
stomosen zweier Stromäste bilden, entstehen und vergehen , und hier-
bei lässt sich besonders deutlich der durchaus homogene Charakter der
ganzen contraotilen Piasmasubstanz wahrnehmen. Von einer Schein
düng in eine dichtere Rindenschicht und eine dünner flüssige Mark-
schicht, wie sie bei vielen Rhizopoden und Myxomyceten vorkommt, ist
Nichts wahrzunehmen.
Neben den zahlreichen rothen Körnchen werden auch grössere, als
Nahrung aufgenommene fremde Köf per von dem Sarcodestrom mit fort-
gerissen, so namentlich pelagische Infusorien und Diatomeen , welche
die Hauptnahrung der Protomyxa bilden. Das in Fig. H dargestellte
InoUviduum hatte zwei isthmien, und drei Tintinnoiden mit kieseliger
GiUerschale verzehrt (zwei Dictyocysta elegans und eine D. mitra),
und war trotzdem schon wieder im Begriff, ein Peridinium in seinen
Körper hineinzuziehen. Die Nahrungsaufnahme erfolgte in derselben
Weise-wie bei den echten Rhizopoden. An frei schwimmenden Diatomeen
(Bacillarien und Navicul4*n) , welche idi in das Uhrschäldien, das die fVo-
tomyxa enthielt, hineinbrachte, Hess sieb der Vorgang des Fressens
deutlich verfdigen. Sobald ein ausgestreckter Plasmafaden mit einem
dieser Körper in Berührung kam, erfolgte ein verst«ir)^ler Zufluss von
Plasma zu dieser Stelle. Benachbarte Faden legten sich an und ver-
schmdzen mit dem ersten, in kurzer 2^it war die Kieselzelle derDia^
tomee von einer Protoplasiiiaschicht umflossen und wurde nun lang-
sam, durch Retraction cbr beiheitiglen Plasmafilden, in die centrale
Körpei*masse hineingezogen. Die Verdauung der Beute bestand einfach
in einer Extraction und Aasimiiation des gelbbraunen PlasmaimhaltB
der Kiesekellen. Die Kieselniembran derselben schien gar nicht davon
angegriffen zu werden , und die entleerten Schaleo wurden durch die
Contraction der weichen Gentralmasse wieder attsgestosaen.
Kerac oder kernahnliobe Bildungen waren in dem ganzen Plasma-
körperder Protomyxa durchaus nicht wahrzunehmen, ebensowenig
contractile Blasen, falls man darunter bleibende Organe versteht, welohe.
80 Ernst HJUskel,
wenngleich noch ohne differenzirte Wand , doch eine bestimmte Stelle
im Körper einnehmen. Dagegen waren Vacuolen in grosser Anzahl
im Körper zerstreut, und zwar sowohl in der Gentralmasse , als in den
stärkeren Äesten. Dieselben traten auf in Gestalt heller kreisrunder
Flecke (Fig. H, 11 v.) von verschiedener Grösse, diegrössten von 0,03
Mm. Durchmesser. Fixirte man eine und dieselbe Vacuole längere Zeit,
so konnte man die Dilatation und Contraction derselben, ihr Entstehen
und Vergehen deutlich wahrnehmen. Ersteres sowohl wie letzteres er-
folgte sehr langsam, und nahm bei den grössten ungefähr 2 — 3 Minuten
in Anspruch. Bei der Contraction wurde der Umfang der Vacuole kleiner
und kleiner. Endlich verschwand der helle Fleck ganz ; es sah aus,
als ob das gelbrotbe Plasma über demselben zusammengeflossen wäre.
Fixirte man die Stelle , an der die Blase verschwunden war, fortdau-
ernd, so sah man sie Jsis weilen an demselben Puncto wieder langsam
auftauchen. Es erschien ein heller Punct, welcher langsam grösser und
grösser wurde; oft überschritt er den frühern Umfang; andere Male
blieb er hinter demselben zurück. Sehr oft aber war und blieb die
Vacuole verschwunden , und statt ihrer traten ein oder mehrere neue
Vacuolen an anderen Stellen auf, bald in der Nähe, bald weit davon
entfernt. Bisweilen traten an Stelle einer grossen verschwundenen
Vacuole eine Anzahl (40 — 20) kleiner Vacuolen in deren Umge-
bung auf, entweder unregelmässig zerstreut oder ringförmig um den
Platz der verschwundenen Blase gruppirt. Aus diesem Allen geht her-
vor, dass die contractilen Hohlräume im Leibe der Protom yxa wirk-
liche Vacuolen sind, d. h. wandungsJose , mit wässnger Flüssigkeit
gefüllte Hohlräume inmitten des homogenen Sarcodeparenchyms , wie
solche auch bei vielen Rhizopoden, Myxomyceten etc. vorkommen. Es
sind also keine echten contractilen Blasen, wie sie bei den echten
Infusorien, (Ciliaten) und bei einigen Amoeben (z. B. Amoeba qua-
drilineata) vorkommen. Diese letzteren sind distinete und perma-
nente Organe, gleichviel ob man eine eigene differenzirte Wand an
ihnen unterscheiden kann oder nicht. Die echten contractilen Blasen
nehmen stets eine und dieselbe Stelle im Körper ein , während die Va-
cuolen bald hier bald dort mitten in der festflüssigen Eiweissmasse des
Plasmaparenchyms auftreten und verschwinden. Durch diese be-
stimmte Unterscheidung der Vacuolen von den contrac-
tilen Blasen soll natürlich- keineswegs geleugnet werden, dass ver-
mittelnde Uebergangsformen zwischen beiden Bildungen vorkommen.
Im Gegentheil halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die contrac-
tilen Blasen aus einfachen Vacuolen phylogenetisch (durch.
natürliche Züchtung] entstanden sind.
Monogn^kle dar Moneren. g]
Die Vaouolen sowohl, als die rolheo Körnchen, welche in dem
homogenen Plasma der Protomyxa zerstreut umher liegen und umher
wandern, sind Erscheinungen, welehe zu dem Stoffwechsel dieses
Moneres in der engstgü Beziehung stehen. Ich versuchte die Proto-
myxa in flachen yhrschälchen mit Seewasser längere Zeit zu cultiviren,
und es gelang dies mit dem besten Erfolge. Ich stellte die Uhrgläschen,
deren j^es eine einzige Protomyxa enthielt, in ein grösseres, mit
Wasser gefülltes Schäkhen und stülpte ein grosses Glas darüber, so
dass eine sehr geräumige feuchte Kammer hergestellt war, und so ge-
lang es mir, die Protomyxa über drei Wochen am Leben zu erhalten,
und die Erscheinungen ihrer Ernährung und Fortpflanzung im voll-
ständigem Zusammenhange zu beobachten.
Das Nächste, was ich bei fortgesetzter täglicher Beobachtung wahr-
nahm, war die Thatsache, dass die Anzahl der Vacuolen und der rothen
Körnchen in geradem Verbältniss zu der aufgenommenen Nahrungs-
menge steht. Ich hielt einige Protomyxen in reinem Seewasser, ohne
Nahrung, während ich anderen Diatomeen in reichlidier Menge als Nah-
rung zuführte. Bei den ersteren nahm die Menge der rothen Kömchen
sowohl, als der Vacuolen schon nach einigen Tagen sichtlich ab , wäh-
rend bei den letzteren sie sich fortdauernd erhielt und bei verstärkter
Fütterung sogar zunahm. Die am reichlichsten mit Diatomeen gefütter-
ten Individuen waren mit rothen Kömchen ganz vollgestopft, so dass
die Saroode stark getrübt, und namentlich der mittlere Theil des Kör-
pers ganz undurchsichtig erschien. Zugleich traten kleinere und grössere
Vacuolen in grosser Anzahl an allen Ecken und Enden auf. Die hun-
gernden Individuen dagegen wurden blass, mehr gelb als roth gefärbt;
die Zahl der rothen Körnchen nahm auffällig ab , ebenso auch die Zahl
der Vacuolen, und schliesslich verschwanden dieselben gänzlich. (Vergl.
Fig. H und 12).
Es geht hieraus deutlich hervor, dass die in der Sarcode zerstreuten
Körnchen Producte des Stoffwechsels sind. Am wahrschein-
lichsten dürfte wohl die Vermuthung sein, dass dieselben a s s i m i I i r te
Substanzen sind, welche durch die chemische Thättgkeit der ver-
dauenden Sarcode aus den aufgenommenen Nahrungsbestandtheilen
gebildet und späterbin selbst wieder in Sarcode umgebildet werden.
In meinem Aufsatz »über den Sarcodekörper der Rhizopoden « habe ich
diese Hypothese auch fiir die Körnchen wahrscheinlich zu machen ge-
sucht, welche sich im Protoplasma der echten Rhizopoden (Acyttarien
und Badiolarien) finden, und deren Quantität gleichfalls der Menge der
aufgenommenen und verdaueten Nahrung entspricht. Bei den Radto-
Ißrien wird diese Vermuthung noch dadurch besonders wahrscheinlich
BuBd IV. I. 6
82 Ernst Hiek«!,
gemacht, dass die Körnchen bei mehreren Arten roth geforbt sind (bei
Acanthostaurus purpurascens, Acanthochiasma rubes-
cens und Actinelius purpureus.^)
Nicht bloss die Menge der Körnchen und der Vacuolen , sondern
auch die Stärke und Schnelligkeit der Sarcode-Strömung scheint bei
Protomyxa von der Quantität der aufgenommenen Nahrung abhän-
gig zu sein. Obgleich diese Thatsache viel schwieriger als die vorher
genannte zu ei:kennen und festzustellen ist, und obgleich auch vielfach
äussere Anpassungsbedingungen , wie Licht, Temperatur etc. auf die
Stärke und Schnelligkeit der Plasma-Strömung Einfluss zu haben schei-
nen, glaube ich mich doch durch anhaltende Beobachtungen und durch
Vergleichung der Extreme von der Richtigkeit derselben überzeugt zu
haben. Bei den hungernden Individuen, bei denen Kömchen und Va-
cuolen an Zahl abnahmen, wurde auch die Strömung in den ver-
zweigten Schleimfäden zusehends schwächer und langsamer (Fig. 12).
Zugleich nahmen die Anastomosen der Stromzweige in auffallender
Weise ab und statt deren wurde an der Peripherie des Sarcodenetzes
eine grössere Anzahl von äusserst feinen, divergenten, aber nicht ana-
stomosirenden Schleimfäden vorgestreckt. Bei den reichlich gefütterten
Individuen dagegen waren die bogenförmigen Anastomosen äusserst
zahlreich und die peripherischen Büschel von haarfeinen und nicht ana-
stomosirenden Schleimfäden fehlten (Fig. H). Jedoch muss schon hier
bemerkt werden, dass einige von diesen gutgenährten Individuen nach
einiger Zeit in einen Ruhezustand übergingen, indem sie ihre Pseudo-
podien einzogen und sich schliesslich in einen kugeligen Schleim-
klumpen zusammenzogen, der sich mit einer Hülle umgab. Bevor ich
auf diese encystirten Ruhezustände und die damit zusammenhängenden
Fortpflanzungs-Erscheinungen der Protomyxa eingehe, will ich noch
Einiges über die Reizbarkeit dieses Moneres bemerken.
Dass man die echten Rhizopoden (Acyttarien , Hetiozoen , Radio-
larien) sowie manche Rhizopoden ähnliche Organismen (Amoeben,
Arcellen , Actinophryen) früher allgemein und unbedenklich als echte
T hie re betrachtete, hatte nächst der thieräbniichen Gestalt mancher
Schalenbildungen (molluskenähnliche Polythalamien) und nächst der
mehr thierischen als pflanzlichen Nahrungsaufnahme seinen Grund vor-
züglich in den Erscheinungen der Beweglichkeit und Reizbarkeit dieser
Organismen. Ebenso wie einzelne Bewegungserscheinungen einen
bestimmten Willen, so schienen andere das Vermögen einer distinclen
Empfindung zu verrathen; und man konnte schliesslich diesen be- .
1) Zeitscbr für wissenscb. Zool. 4865 Vol. XV, p. 859. Taf. XX^, Fig. 4
Honognplue dtr Htnereo, g3
lebten SchleimklUnpchen eben so gut eine wirkliche Seele oder einen
sogenannten Geist zuschreiben, als den Menschen und anderen echten
Tbieren. Auch in diesen Beziehungen schliesst sich unsere Protomyxa
den echten Rhizopod^n an, und zeigt namentlich dieselben Erscheinun-
gen von Reizbarkeit, welche ich einestheils bei den Radiolarien
(1. c. p. 128) andemtheils bei dem Protogenes primordialis (1. c.
p. 362] beschrieben habe.
Zunächst und hauptsächlich äussert sich diese »organische Be-
seelung« der Protomyxa darin, dass jeder fremde Körper, der ihre
Oberfläche berührt, vorzOglicb ein bewegter oder sich bewegender
Körper, einen vermehrten Zufloss von Sarcode zu der berührten und
» gereizten« KOrperstelle veranlasst. Bei der Nahrungsaufnahme war
dies deutlich zu sehen. Aber auch wenn ich unter dem Präparirmi-
kroskop mit einer sehr spitzen Nadel vorsichtig die Protomyxa be-
rührte, hatte dieser Reiz augenblicklich einen heftigen Zufluss von Sar-
code zur Folge, und die Nadelspitze wurde förmlich davon umflossen.
Sobald ich jedoch versuchte, mit der Nadel in das Innere des Sarcode-
körpers einzudringen und denselben gewaltsam hin und her schob, so
wurden sämmtliche Pseudopodien eingezogen und der ganze Saroodeteib
zog sich in einen zusammenhängenden unförmlichen Klumpen zusam-
men. Da eine ähnliche oder gleiche »Reizbarkeit« gegenwärtig als all-
gemeine Eigenschaft des gesammten organischen Protoplasma, in gleicher
Weise bei Thieren, Protisten und Pflanzen anerkannt ist, so beweist sie
natürlich ebenso wenig für die thierische Natur bei der Protomyxa, als
bei den echten Rhizopoden und anderen Protisten. Die Protomyxa
ist wegen dieser Reizbarkeit ebenso wenig ein Thier, als die einpflnd-
liche Mimosa.
Gelegentlich dieser Reizversuche zerzupfte ich mehrere Individuen
von Protomyxa in Stücke, eins in zwei ziemlich gleicbgrosse Hälften,
ein zweites in drei und ein drittes Individuum in fünf ziemlich ungleich
grosse Stücke. Jedes dieser Theilstücke zog sich alsbald zu einem un-
regelmässig rundlichen Sarcodeklumpen zusammen, der zuerst eine
Zeitlang bewegungslos dalag. Bald aber begann derselbe sich wie-
derum zu einer flachen Scheibe auszudehnen und hier und da an der
*
Peripherie kleine stumpfe Fortsätze auszustredien. Langsam wurden
diese länger und länger, fingen an sich dichotomiseh zu verästeln und
mit ihren Zweigen Anastomosen zu bilden , und bald war das ganze
lebendige Plasmanetz wieder so hergestellt, als ob Nichts vorgefallen
wäre. Jedes der künstlich erzeugten Theilstücke bewegte sich so selbst-
ständig und lebendig, wie die ungetheilte Protomyxa. Die künst-
liche Theilbarkeit der Protomyxa ist durch diese Versuche fesl-
6»
84 Ernst mUM^
gestellt. Diese an sich merkwürdige Erscheinung , welche sowohl ftlr
die Individualitötslehre (Tectologie) überhaupt, als besonders
für die Naturgeschichte der Protisten von hohem Interesse ist, verliert
neuerdings viel von ihrem Wunderbaren , da sich die Yermehrbarkeii
durch künstliche Theilung immer allgemeiner als eine sehr verbreitete
Eigenschaft der niedrigen Organismen, namentlich der Protisten , aber
selbst vieler höher organisirten und stärker differenzirten Thiere und
Pflanzen herausstellt. Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken , dass
ich während meiner Anwesenheit auf Lanzarote zahlreiche Versuche
über die künstliche Theilbarkeit der Hydromedusen angestellt habe,
welche vom überraschendsten Erfolge begleitet waren. Bei der Hydra
des süssen Wassers ist die ausserordentliche Theilbarkeit und Repro-
ductionsfähigkeit seit Tremblet's Zeiten allbekannt, und auch bei den Hy-
droiden des Meeres durch Dalybll's Versuche festgestellt. Dagegen war
die künstliche Theilbarkeit der Medusen selbst (Schirmquallen oder
Discophoren) bisher noch nicht bekannt. Meine Versuche ergaben, dass
dieselbe bei manchen Medusen, namentlich aus der Familie der T hau -
mantiaden von Gbgbnbacr (Laodiceiden von Agassiz) einen er-
staunlichen Grad erreicht. Bei mehreren Arten dieser Familie konnte
ich den Medusenschirm in mehr als hundert Stücke ze^theilen, und aus
jedem Stück, sobald es nur einen Theil des Schirmrandes enthielt,
erwuchs in wenigen (8 — i) Tagen eine vollständige kleine Meduse.
Selbst ein einziger losgelöster Randtentakel, an welchem die Basis, das
ansitzende Stück des Schirmrandes erhalten war, bildete in wenigen
Tagen eine Meduse. Noch ü|)erraschender war mir das Resultat, das
ich bei anderen Hydromedusen erhielt. Hier konnte ich den kugeligen
nicht differenzirten Zellenhaufen (oder die wimpernde kugelige Larve)
welcher aus der Eifurchung hervorgegangen war , in mehrere Stücke
zerschneiden, und aus jedem Stück entwickelte sich eine selbstständige
Larve. Da ich diese Theilungsversuche an einem anderen Orte aus-
führlicher mittheilen werde, seien sie hier nur beiläufig erwähnt.
Sobald ich die selbstständige Natur der auf den Spirula-Schalen
befindlichen orangerothen sternförmigen Flecke als rhizopodenartiger
Protisten erkannt hatte, musste sich natürlich die Vermuthung aufdrän-
gen, dass die benachbarten, vorher beschriebenen rothen Kugeln Ruhe-
zustände oder encystirte Individuen derselben Art seien, und dass die-
jenigen Kugeln , bei denen der zusammengezogene orangerothe Inhalt
in zahlreiche kleine Kugeln zerfallen war , auf monogene Fortpflanzung
zu beziehen seien.
Die rothen Kugeln, welche ich sorgfältig von den Spirula-Sohalen
abgelöst und in flachen Uhrschäichen mit Seewasser in eine grosse
r
t
Monogfiphie der Moneren« 85
feuchte Kammer gebracht hatte, Hessen zum Theil schon nach einigen
(4 — 6) Tagen die individuelle EntwickelungsgeschichtederProtomyxa
weiter verfolgen. In sämmtlichen Kugeln zerfiel der orangerothe Plas-
mainhalt y nachdem er sich von der. hyalinen Rapselwand zurückge-
zogen hatte, in eine grosse Anzahl (einige hundert) kleine, runde, durch-
aus structurlose und nackte Kugeln. Dieser Zerfall beruhte nicht auf
einer wiederholten Zweitheilung des encystirten Plasmakörpers, son-
dern darauf, dass gleichzeitig eine grosse Anzahl von individuellen
Attractionscentren in der homogenen Plasmamasse sich differenzirten,
und dass gleiche Plasmaportionen rings um diese Mittelpuncte sich
anhäuften. Der Process würe demnach wohl richtiger als Keimplastiden-
bildung (Monosporogonia), denn als Spaltung (Theilung oder Knospen-
bildung) aufzufassen. 1)
Die kleinen rothen Kugeln (von 0,017 Mm. Durchmesser) verharr-
ten nun noch mehrere Tage ruhig in der dickwandigen Cyste, deren
ganzen Binnenraum sie ausfüllten, ohne dass eine weitere Veränderung
an ihnen zu bemerken war. Als ich sie nach Verlauf von ungefähr einer
Woche wieder unter das Mikroskop brachte, bemerke ich bei einigen
eine langsame Bewegung der Kugeln innerhalb der Cyste. Die Bewe-
gung bestand in keiner regelmässigen Rotation derselben , sondern in
einer langsamen Ortsveränderung der Kugeln, bei der sie sich ohne be-
stimmte Regel in allen Richtungen durch einander drängten.
Einige Stunden später war die Bewegung lebhafter geworden und
die rothen Kugeln hatten eine birnförmige Gestalt angenommen, indem
das eine Ende derselben in eine feine Spitze ausgezogen war. Beim
Durcheinanderwinden innerhalb der Cyste änderten sie mehrfach die
Gestalt ihres weichen birnförmigen Leibes, indem sie bald länger, bald
kurzer keulenförmig ausgezogen wurden, und zuweilen dabei sich
krümmten.
Am folgenden Tage fand ich eine der Cysten zerplatzt; die leere
coUabirte Wand lag gefaltet auf dem Boden des Uhrgläschens und eine
grosse Menge von keulen- oder birnförmigen rothen KOrperchen be-
wegte sich frei in dem Seewasser umher. Es zeigte sich nun, dass
die rothen Kugeln die Schwärmsporen der Protoroyxa waren, und
dass dieselben nach dem Austritt aus der Cyste sich nach Art von Fla-
gellaten oder von Algen-Schwärmsporen frei umher tummelten. Ich
sprengte nun durch leichten Druck des Deckgläschens eine andere Cyste,
bei welcher bereits die Bewegung der Keimpiastiden im Innern zu sehen
war , und sah alsbald die rothen birnförmigen Körperchen in dichtem
\) Vergl. Generelle Morphologie, Vol. II, p. 70.
86 Kn^st ByM^
Geipvimmel aus der geborstenen Membran austreten (Fig. 4). Unmiitd—
bar nach dem Austritt wurde die Form derselben schlanker, indem sich
das vordere Ende in eine längere Geissei auszog , und die Bewegung
wurde bedeutend beschleunigt (Fig. 5).
Die Gestalt der freien Schwärrosporen (Fig. 5) oder der
geisseltragenden Reimpiastiden (genauer Keimcytoden) war schlank
bimförmig, von der abgerundeten Basis bis zu der haarfein ausgezoge-
nen Spitze ungefähr 0,06 Mm. lang, an der breitesten Stelle (kurz vor
dem hinteren abgerundeten Ende) 0,042 Mm. breit. Der hintere Theil
des Sporenkörpers war bald mehr kugelig, bald mehr eiförmig abge-
rundet und spitzte sich nach vorn sehr allmählich in einen kegelför-
migen schlanken Hals zu, der sich dann dünner werdend in eine haar-
feine Geissei auszog. Die Bewegung dieser Geissei (Flagellum) war
mehr pendelnd oder einen Kegelmantel beschreibend, als schlängelnd.
Pie Geissei schleppte durch diese ununterbrochenen sehr lebhaften
Bewegungen den ganzen Sporenkörper mit sich fort. Dieser war in
seiner ganzen Masse durchaus einfach und homogen, ohne Spur von Rem
(Nucleus) oder contractiler Yacuole , ebenso ohne Spur von Membran,
und lediglich aus der rothgelblichen Grundsubstanz des Plasma beste-
hend, in welche sehr feine rothe Körnchen eingebettet waren. Durch
Zusatz von lodlösung wurden die Schwärmsporen augenblicklich zum
Stillstand gebracht und tief gelbbraun getürbt. Man sah nun ganz deut-
lich, dass der ganze Sporenkörper durchaus structurlos war, und dem-
nach den morphologischen Werth des denkbar einfachsten organischen
Individuums, der nackten Cytode oderGymnocytode besass. Ausser
den äusserst feinen rothen Rörnchen waren durchaus keine differenien
Beslandtheile in der homogenen Piasmamasso wahrzunehmen. Die
Geissei war weiter Nichts, als ein haarförmig ausgezogener Fortsatz des
Plasma oder der Sarcode selbst.
Verfolgt man die Bewegungen der Schwärmsporen (oder
der schwärmenden Gymnocytoden) von Protomyxa genauer, so. findet
man sie äusserst ähnlich denjenigen der Schwärmsporen der Myxomy-
ceten. Die Beschreibung De Baby^s passt so gut auf diese, wie auf jene.
w
»Die Bewegungen der Schwärmer bestehen zunächst in einer mit Vor-
schreiten nach der Richtung des Vorderendes verbundenen Rotation des
ganzen Rörpers um seine Längsaxe , wobei derselbe , wenn er gerade
ausgestreckt ist, sich in dem Mantel eines Regeis dreht, dessen Basis
von dem Vorderende umschrieben , dessen Spitze vom Hinterende ge-
bildet wird. Jenes beschreibt also den grössten , jeder andere Punct
der Körperoberfläche einen um so kleineren Kreis, je näher er dem Hin-
terende liegt. Dabei wird dir Cilie beständig wie eine Peitschenschnur
Monograpkie 4er MonereD. 87
undulirend nach zwei Seilen geschwungen, was der Drehung des Kör-
pers ein ruckweises Hin- und Herwackeln oder Schaukeln hinzufügt.
Oft fehlt die Rotation, letztere Form der Bewegung ist allein vorhanden,
oder es wechseln beide Arten mit einander ab. Gleichzeitig mit diesen
Drehungen und Ortsveränderungen zeigt der Körper beständige Aende-
rungen seines Umrisses : wurmft^rmige Krümmungen abwechselnd nadi
verschiedenen Seiten hin, Zusammenziehung zu mehr kugliger Gestalt
und WiederausstredLung, peristaltische Contractionen, endlich Austrei-
ben kurzer spitzer Fortsätze , welche amoebenartig in stetem Wechsel
wieder eingezogen und durch neue ersetzt werden, und welche beson-
ders zahlreich um das abgerundete Hinterende zu entstehen pflegen.«
Wie in den Bewegungen, so gleichen die Schwärmer der Proto-
ni y xa denjenigen der Myxomyceten auch in der Gestalt, nur mit dem
Unterschiede, dass den ersteren, so lange sie schwärmen, jede Vacu-
olenbildung fehlt. Auch die nächsten Schicksale der beiderlei Schwär-
mer sind ganz ähnlich. Beide kommen nach einiger Zeit zur Ruhe,
gehen in amoebenartige Zustände über und bilden dann (wenigstens
theilweise) durch Verschmelzung Plasmodien.
Die Schwärmzeit der Protom yxa -Sporen scheint mindestens
einen Tag zu dauern. Wenigstens sah ich dieselben niemals an dem-
selben Tage, an welchem sie aus der Cyste geschlüpft waren, zur Ruhe
kommen. Am folgenden Tage fand ich sie meistens ruhig auf dem Bo-
den des Uhrschälchens liegen : die Geissei der Schwärmer war einge-
zogen und die bimförmige Körpergestalt in diejenige einer unregel-
iBässig rundlicheu Scheibe übergegangen , deren Umfang sternförmig
in mehrere Fortsätze ausgezogen war. Die rothgelben Plasmakörper
glichen nun im Umriss vollständig den zur Ruhe gekommenen Myxomy-
ceten-Schwärmern oder auch der Am oeba radiosa von EHunBsaa,
Nur hatten die ringsum ausgestreckten Fortsätze (5—20 gewöhnlich an
Zahl) bald mehr eine schlank kegelförmige , bald mehr eine kolbenför-
mige Gestalt (Fig. 6) . Die meisten Fortsätze waren einfach, die grös-
seren fingen jedoch schon in dieser Zeit an der Spitze an sich gabel-
förmig zu theilen oder selbst mehrfach zu verästeln* Das Ausstrecken
und Einziehen der formwechselnden Fortsätze gesdiah durchaus in der-
selben Weise, wie bei den lebhafter beweglichen Amoebenarten.
Schon kurze Zeit nachdem die Schwärmsporen der Protomyxa
zur Ruhe gekommen und in den Amoebenzustand übergegangen sind,
beginnen dieselben Nahrung aufzunehmen. Hit einem Wassertropfen
brachte ich eine Anzahl von kleinen Diatomeen in das Uhrschälchen und
alsbald begannen diejenigen Amoeben , welche mit den Diatomeen in
Berührung kamen, ihre Fortsätze an dieselben anzulegen und sie in der
gg £rtt8t Htekel,
bekannten Weise zu umfliessen. Bald waren die Naviculen ganz von
einzelnen Ämoeben umflessen, deren ganzer Körper gleichsam nur einen
dttnnen SchleimUberzug über den ersteren darstellte (Fig. 8,9). Der
gelbbraune Plasmainhalt der kieselschaiigen Diatomeen wurde von den
Amoeben assimilirt und dann zogen sie sich wieder von den entleerten
Kieseihttllen zurück, und begannen vom Neuem die charakteristischeD
Amoeben bewegungen, das beständige Ausstrecken und Einztehen der
formwechselnden fingerartigen Fortsätze. Das Volum der kleinen Amoe-
ben wuchs durch die Verdauung einer Navicula wohl um das Zwei- bis
Dreifache, und nun begannen auch die Fortsätze sich länger auszuzie-
hen, reichlicher zu verästeln, und selbst hier und da bereits eine Ana-
stomose zu bilden.
£rst nach erfolgter Nahrungsaufnahme begannen in den Amoeben
Vacuolen aufzutreten, welche sowohl in den ruhenden als in den
schwärmenden Sporen vollständig vermisst wurden. Gewöhnlich trat '
zuerst eine einzige, seltener gleichzeitig 2 — 3 kleine Vacuolen als helle,
langsam pulsirende kreisrunde Flecke in dem röthlich gelben Amoeben-
körper auf. Aber schon jetzt Hess sich durch andauernde Beobachtung
feststellen, dass die Vacuolen keine constanten contractilen Blasen, son-
dern Ansammlungen von Flüssigkeit innerhalb des contractilen homo-
genen Plasmaparenchyms waren. Bald entstanden sie an dieser, bald
an jener Stelle, ohne nach ihrem Verschwinden wiederzukehren.
Mehrfach konnte ich bei den Schwärmern der Protomyxa unter
meinen Augen die B i 1 d u n g von Plasmodien durch Verwach-
sung (Concrescenz) von zwei oder mehreren Amoeben
unmittelbar verfolgen. Bisweilen geschah es, dass zwei Amoeben,
welche eine Navicula an entgegengesetzten Enden eriasst hatten und sich
über dieselbe herüberzogen , bei der Begegnung in der Mitte in eine
einzige zusammenflössen (Fig. 8,9). Nach erfolgter Verdauung zog
sich die vereinigte Plasmamasse als ein einziges amoebenartiges Indi-
viduum von der entleerten Kieselschale zurück. Aber aud) an freien
Amoeben, welche sich auf dem Glase begegneten und mit ihren aus-
gestreckten Pseudopodien berührten , konnte der Verschmelzungspro-
cess unmittelbar wahrgenommen werden. Da, wo die Amoeben in
dichten Gruppen auf dem Boden des Gläschens neben und durch ein-
ander krochen, sah ich oft drei bis vier derselben gleichzeitig mit ein-
ander verschmelzen (Fig. 7). So entstanden grossere Plasmodien, die
durch die grössere Anzahl der Vacuolen und durch die reichlichere Ver-
ästelung und Anastomosenbildung der ausgestreckten Fortsätze bereits
den Uebergang zu den oben beschriebenen' erwachsenen Protomyxen
bildeten (Fig. 10).
/^^
MoDOgn^e der MooereB 89
Ob die Plasmodieabildung , d. h. die Entstehung grösserer Sar-
codeköqter durch Goncrescenz mehrerer Amoeben , für die Entwicte^
long der erwachsenen Protomyxa ein nothwendiger und unent-
behrlicher oder ein mehr zufälliger und gleichgültiger Process ist,
vermag ich nicht su entscheiden. Doch ist mir das letztere wahrschein-
licher, ich isolirte mehrere einfache Amoeben einzeln auf kleinen Glas*
chen und führte ihnen reichlich Diatomeen -Nahrung zu. Innerhalb
n^enigerTage nahmen dieselben an Grösse beträchtlich zu und erreich-
ten das Vier- bis Sechsfache des ursprünglichen Volumens. Die Pseu-
dopodien wurden länger und bildeten zahlreichere Aeste und Anasto-
mosen. Es ist kein Grund für die Annahme vorhanden , dass nicht
einfach durch solches fortgesetztes Wachsthum jede einzelne aus einer
Schwärmspore hervorgegangene Amoebe die volle Grösse der reifen
Protomyxa erreichen, und sich dann eben so gut und in gleicher
Weise durch Sporogonie fortpflanzen könne, wie die Plasmodien.
Diese letzteren, alsCompiexe mehrerer verschmolzener Amoeben, wer-»
den nur den Vorzug haben , rascher zu wachsen und den Ruhezustand
eher zu erreichen, als die einzelnen Amoeben.
Um die Naturgeschichte der Protomyxa vollständig herzustellen,
war es nur noch erforderlich, die Encystirung der reifen Form zu be-
obachten, den Uebergang der frei beweglichen Plasmodien in den
Ruhezustand der rothen Kugeln , welche neben den letzteren sich auf
den Spirula- Schalen angeheftet hatten. Auch diesen Uebergang ge-
lang mir festzustellen.
Zwei der gr^ssten von den reichlich gefütterten Plasmodien, welche
sehr zahlreiche Vacuolen enthielten und ein sehr ausgedehntes Sarcode-*
netz mit vielen Aesten und Anastomosen gebildc;). hatten, begannen
nach einiger Zeit ihre auffallend raschen Strömungsbewegungen zu
verlangsamen und ihr Stromnetz zu vereinfachen. Die Kieselschaien
der reichlich aufgenommenen Diatomeen wurden ausgestossen, und die
Aeste und Zweige der Pseudopodien einer nach dem andern eingezogen.
Endlich zogen sich auch die immer einfacher gewordenen Hauptstämme
in den centralen Plasmakörper zurück , und der gesammte homogene
Sarcodeleib nahm die Form eines unregelmässigen Klumpens an , der
sich schliesslich in eine reguläre Kugel abrundete.
Nun begann die Ausscheidung der Cysten hülle, indem
zunächst der haarscharfe einfache Kreiscontour der orangerotben Plasma-
kugel in einen zwar feinen, aber deutlichen Doppel-Contour überging.
Diesem folgte bald eine zweite , dann eine dritte concentrische Kreis-
linie, und :>o entstand ziemlich rasch (im Verlaufe eines Tages) die
conoentrisch geschichtete hyaline GystenhüUe, deren Schichtstreifen
90 Erns^ HMel,
dem (Modischen Absatz der ausgeschiedenen Gallerthäute entsprachen.
Anfänglich waren in dem Plasma während des Encystirungsprocesses
noch eine Menge von Vacuolen sichtbar, die bald hier, bald dort auf-
tauchten und wieder verschwanden; jedoch nahm ihre Anzahl su—
sehends ab , und nach vollendeter Bildung der GystenhoUe war keine
Vacuole in dem orangerothen , von zahlreichen Körnchen durchsetzten
Plasma mehr wahrzunehmen. Die encystirte Plasmakugel war nun
nicht mehr von denjenigen rothen Kugeln zu unterscheiden, deren
Uebergang in die Schwärmsporenmasse ich oben beschrieben habe.
Somit war denn der Generationscyclus der Protomyxa erschöpft
und der Kreislauf ihrer einfachen und merkwürdigen Lebenserschei-
nungen festgestellt. Protomyxa aurantiaca ist ein Moner, welches
gleich den Vampyrellen und Protomonaden in zwei verschiedenen Zu-
ständen während seines individuellen Lebenslaufes erscheint. Im frei
beweglichen Zustande tritt die P r o to m y x a als ein nacktes Gymno-
moner auf, von dem morphologischen Werth einer denkbar einfach-
sten Plastide (Cytode) , welches nach einander drei verschiedene Form-
zustände annimmt: I, den schM^ärmenden Flagellaten-Zustand, eine
frei schwimmende, nackte, mit einer Geissei versehene, birnförmige
Schwärmspore (Fig. 5), II, den kriechenden Amoeben-Zustand,
eine Amoebe einfachster Art (Protamoeba) , ohne Kern und ohne
contractile Blase, ohne Verästelung und Netzbildung der Pseudopodien,
und ohne Yacuolenbildung (Fig. 6), III, den netzförmigen Rhizopo-
den-Zustand, *ein colossales nacktes Plasmodium mit Verästelung
und Netzbildung der Pseudopodien und mit Vacudlenbildung (Fig.
fO — 12). Im unbeweglichen Ruhezustande dagegen erscheint die Pro-
tomyxa als ein beschältes Lepomoner, als eine von einer aus-
geschiedenen Membran umgebene Lepoc^lodej bestehend aus einem
▼dllig homogenen kugeligen Plasmakörper und einer von demselben
ausgeschiedenen structurlosen Httllmembran (Fig. 1j. Der Plasma-
körper zerfällt durch Monosporogonie in zahlreiche kleine Kugeln (Fig.
2, 3) , welche nach ihrem Austritt aus der geborstenen Cystenmem-
bran (Fig. 4) als Flagellaten umherscbwärmen (Fig. 5). Hiermit ist
der einfache Generationscyclus der Protomyxa aurantiaca voll-
endet. *)
4) Meiner Protoiny]La möglicher weise sehr nahe verwandt sind die weissen
eiähnlichen Kugeln, welche Ecker in abgestorbenen Eiern von Lymnaeus
stagnalis auffand. (Zeitschr. für wiss. Zool. 4851, Vol. lU , p. 412, Taf XHI,
Fig. 4 - 4). Die kugeligen Cysten, aus denen Schwärmer mit 2 Geissein (»Cerco-
monaden«) hervorkamen, erinnern nach Ecnii's Darstellung auffallend an dieCy-
statt der Protomyxa. Leider wurde die weitere Entwtckehing ntcbt beobachtet.
MoDogn|»bie der Monereih 91
II. 2. Myxastrum radians.
(Hiarza Taf. lii, Fig. 4 3-34 )
An dem Quai vod Puerto del Arrecife, der Hafenstadt der canari-
sehen Insel Lanzarote , wachsen auf den flachen Stellen des Hafen-
beckens, welche bei tiefer Ebbe vom Wasser entblösst werden, in
grosser Menge verschiedene Actinien, namentlich eine braungrüne
Aneoionia, ferner dichte Bttsche von Codium tomentosum und
andere Algen. Der feine braune Schlamm , welcher den steinigen Bo-
den dieser flachen Stellen bedeckt, enthalt unter Anderem zahlreiche
Diatomeen und Polythalamien. Um letztere zu studiren und womöglich
Etwas über ihre Fortpflanzung zu ermitteln , sammelte ich ein wenig
von diesem Schlamm und liess denselben in flachen bedeckten Glas-
schälchen einige Zeit stehen.
Als ich nach mehreren Tagen in einem dieser Gläschen , das ich
gegeo das Licht hielt, den Schlamm mit einem Glasstäbchen umrührte,
gewahrte ich inmitten der aufgerührten und im Wasser umherwirbeln-
den dunklen Partikelchen (Diatomeen, Steinfragmente etc.) einzelne
kleine, mit blossem Auge eben sichtbare durchscheinende hellgraue
Pttnctchen, welche mich lebhaft an das unter gleichen Verhältnissen
wahrnehmbare Actinosphaerium Eichhornii Stein (Actinophrys
Eichhomii Ehrbiibbeg) unserer süssen Gewässer erinnerte. Unter das
Mikroskop gebracht, ergab sich sogleich, dass diese Körper allerdings
nicht dem bezeichneten Bhizopoden, wohl aber einem diesen sehr
ähnlichen Organismus einfachster Art angehörten.
Unter starker Vergrösserung (Fig. 24) stellten sich diese Körper-
chen als kugelige Schleimkiümpchen dar, deren centraler Plasma-
körper an der ganzen Peripherie eine sehr grosse Menge von feinen
radialen Schleimfäden (Pseudopodien) ausstrahlte. Diese peripherische
Fadenzone war ungefähr ebenso breit oder nur wenig breiter , hoch-
stens doppelt so breit, als der Durchmesser der centralen Sarcode-
maese, von welcher dieselben ausstrahlten. Dieser betrug ungefähr
0,4 Mm., so dass der gesammte Körperdurchmessc«* der grössten Indi-
viduen 0,3 Hm. , im längsten Ausdehnungszustande der Strahlen aber
0,5 Mm. erreichte. Die Fäden, welche mit ziemlich breiter conischer
Basis sich von der Oberfläche der Schleimkugel erhoben, verschmälerten
sich sehr rasch und liefen in eine haarfeine Spitze aus. Verästelungen
der Fäden waren sehr spärlich, nur hie und da als einfache, selten
wiederholte r.abeltheilungen wahrzunehmen, welche unter sehr spitzem
Winkel theils von der Basis, theils mehr von dem äusseren Tfaeile der
f
92 Ernst Hiek«I,
Faden abgingen. Anaslomosen waren ebenfalls sehr spärlich vorhanden,
mit Ausnahme derjenigen Stellen, an denen gerade Nahrung aufgenom-
men wurde (Fig. 23) .
Die gesammte Körpermasse dieses zierlichen , strahl enreichen
Schleimsterns war durchaus structurlos und homogen. Die gleichartige
Sarcodemasse der centralen Kugel ging ununterbrochen auf die aus-
strahlenden Fäden ihrer Peripherie über. Die einzigen Körperchen,
welche in der structurlosen , blassgelblichen oder fast farblosen Grund-
substanz sich wahrnehmen Hessen, waren zahlreiche und äusserst
kleine darin zerstreute hellglänzende Körnchen und eine geringe An-
zahl von grösseren, ebenfalls stark lichtbrechenden Körnern. Verfolgte
man anhaltend diese im Plasma des Schleimsterns suspendirten Kör-
perchen, so konnte man eine sehr langsame und träge Orts Veränderung j
an denselben bemerken, offenbar der Ausdruck einer langsamen Strö-
mung der Sarcode, welche auf eine sehr bedeutende Gonsistenz der
Masse schliessen Hess. Diese letztere ergab sich in der That beim Auf-
legen eines Deckgläschens , durch welches der kugelige Körper bei
massigem Drucke nur wenig abgeplattet wurde. Die zunächst be-
troffenen FadenbUschel brachen dabei ab, und ihre abgebrochenen
Spitzen, theilweise mehrmals geknickt, schwammen im Wasser umher.
Bei längerer Dauer des Druckes löste sich noch eine grössere Anzahl
von ausgestreckten Pseudopodien ab; andere wurden sehjr langsam
eingezogen. Bei verstärktem Druck gestaltete sich der ganze Körper zu
einer unförmlichen Masse, welche sich jedoch nicht flach auf dem Ob-
jectträger ausbreitete, sondern in viele unregelmässige Stücke zer-
brach. Offenbar zeigte sich in allen diesen Erscheinungen eine un-
gewöhnliche Gonsistenz und Zähigkeit des dickflüssigen Plasma, in
ähnlicher Weise, wie sie auch verschiedene Acanthometriden und
unser Actinösphaerium Eichhornii gegenüber den meisten an-
deren Rhizopoden zeigen.
Wie in der gesammten Körperform und Grösse, in der Gonsistenz
der zähen und starren Plasmafäden , ihrer geringen Neigung zur Ver-
ästelung und Anastomosenbildung, ihrer trägen Kömchonströmung,*so
glich unser Moner dem bekannten Actinösphaerium Eichhornii (
auch in der Nahrungsaufnahme. Diese war leicht zu beobachten,
sobald man die kleinen Körperchen verfolgte, welche im Wasser um
unsere Schleimkugel herumschwammen , und in deren Strablenbezirk
geriethen. Es waren dies vorzüglich Diatomeen, Peridinien, Nauplius-
Fonnen verschiedener Grustaceen und verschiedene Infusorien. (Fig. 23) .
Sobald eines diesersch wärmenden Körperchen zwischendie Strahlen
des Moneres hinein gerieth, blieb es an denselben haften, wie es schien
Monograj^hie der Moneren. 93
in Folge der klebrigen Beschaffenheit ihrer Oberfläche. Bei dem Ver-
suche, sich los zu machen , reizte es durch seine unruhigen Stösse die
benachbarten Pseudopodien , und nun legten sich diese langsam von
allen Seiten Über die gefangene Beute herüber, ganz ähnlich, wie es
bei Actinosphaerium bekannt ist. In der Regel waren einzelne
Fäden hierbei zu beobachten, welche bei längerer fester Berührung eine
wahre Anastomose bildeten. Doch schienen dieselben nicht immer über
der Beute zusammenzufliessen und sie mit einer continuirlichen Sar-
codehülle zu umgeben , wie es bei den meisten echten Rhizopoden der
Fall ist. Vielmehr schienen die starren Pseudopodien, weiche sich dichter
und dichter um die gefangene Beute zusammendrängten, diese oft nur
der Oberfläche der centralen Plasmakugel zuzuschieben und endlich
in die zähflüssige Schleimmasse derselben hineinzudrücken. (Fig. ^3).
An der Oberfläche bildete sich eine flache Grube zur Aufnahme des
fremden Körpers, welche tiefer und tiefer wurde und endlich sich
wieder über demselben schloss. Bisweilen wurde dabei zugleich eine
geringe Quantität Seewasser mit verschluckt , so dass der Bissen in
einer Vacuole von kreisrundem Umriss zu liegen schien. Langsam wurde
nun allmählich die verschluckte Beute, deren Bewegungen gewöhnlich
schon vor der Aufnahme in den centralen Körper aufgehört hatten , in
das Innerste des letzteren hineingedrängt und hier verdaut. Die un-
verdaulichen Ueberreste wanderten in gleicher Weise langsam wieder
nach aussen, gewöhnlich noch von einer kleinen Flüssigkeitsmenge, wie
von einer kugeligen Alveole umschlossen. Die Oberfläche der cen-
tralen Schleimkugel öflhete sich an einer beliebigen Stelle und zwischen
den Basen der Pseudopodien traten die Excremente nach aussen.
Während in allen diesen Beziehungen unser Moner sich dem be-
kannten Actinosphaerium Eichhornii sehr ähnlich verhielt, so
zeigten sich dagegen bei genauerer Betrachtung sofort Unterschiede,
welche ersteres als ein ganz verschiedenes Protist nachwiesen. Acti-
nosphaerium ist leicht von allen übrigen bekannten ähnlichen Pro-
tisten durch zweierlei anatomische Eigenthümlichkeiten zu unterschei-
den: erstens durch die deutliche Differenzirung des Körpers in eine
centrale (Mark-) und eine peripherische (Rinden-) Schicht , und zwei*
tens durch die eigenthümliche Structur der Pseudopodien. Die centrale
oder Mark messe desselben besteht aus einem Sarcodekörper, welcher
zahlreiche echte (kernhaltige) Zellen enthält. Die Sarcode der Rinden-
masse dagegen umschliesst zahlreiche dichtgedrängte Vacuolen, welche
der ganzen Rinde ein alveolares Aussehen verleihen. Jedes Pseudo-
podium besteht aus einer festeren hyalinen Axensubstanz , welche von
der Markmasse ausgeht, und aus einer dünnflüssigeren, kömchenftth-i
94 Ernst Rlekel,
renden Rindensubstanz, welche erstere überzieht.^) Durch diese hist4>-
logische Differenzirung schliesst sich Actinosphaerium bereits an
die Radiolarien an, von denen es sich jedoch dadurch wesentlich unter-
scheidet , dass die zellenhaltige Markmasse nicht durch eine besondere
Membran (Gentralkapselj von der peripherischen Sarcode getrennt ist.
Zugleich unterscheidet sich dasselbe durch diese Differenzirung wesent-
lich von der echten Actinophrys (sol), welche sich durch ihren ho-
mogenen SarcodekOrper eng an die Moneren anschliesst. Jedenfalls ist
es ganz ungerechtfertigt, diese beiden ganz verschiedenen Protisten als
zwei verschiedene Species des einen Genus A c tin op hr y s zu betrach-
ten. Die von Stein eingeführte Trennung der echten Actinophrys
(solj von dem viel höher differenzirten Actinosphaerium (Eich-
hornii) ist auf alle Fälle nothwendig. Actinosphaerium ist ein
echtes Rhizopod , welches zwischen den Acyttarien und Radiolarien in
der Mitte steht, und welches ich daher in meiner generellen Morphologie
(Vol. II. p. XXVIIIj als Repräsentanten einer besonderen (dritten)
Hauptabtheilung der echten Rhizopoden zwischen jene beiden gestellt
habe (Heliozoa).
Das in Fig. 23, 24 abgebildete Schleimsternchen enthält in seinem
ganz homogenen Sarcodekörper weder die kernhaltigen Zellen, nodi
die blasenförmigen Vacuolen des Actinosphaerium. Ebenso fehh
gänzlich die Differenz einer Axen- und Rindenschicht in den durchaus
homogenen Pseudopodien. Eher würde man. unser Moner mit der ech-
ten Actinophrys (solj zusammenstellen können. Jedoch besitzt es
nicht die charakteristische Vacuolenbildung (die grosse contractile
Rlase an der Oberfläche) des letzteren , und zeichnet sich ausserdem
durch seine eigenthümliche Fortpflanzung so sehr aus , dass es als Re-
präsentant eines neuen Genus zu betrachten ist, für welqhes ich den
Namen Myxastrum vorschlage. Die abgebildete Art von Arrecife
nenne ich Myxastrum radians.
Die Körnchen, welche in dem Sarcodekörper des Myxastrum
zerstreut sind , finden sich in sehr verschiedener Menge , je nach der
Quantität der aufgenommenen Nahrung. Myxastrum verhält sich in
dieser Reziehung ebenso wie Protomyxa und wie die echten Rhizo-
poden. Nach reichlicher Füllung erscheint eine grosse Menge von
Kömdben , welche sehr deutlich die langsame und wecbselvolle Circu-
lationsströmung im Parenchym des soliden Plasmakörpers und seiner
Pseudopodien , und scheinbar auch auf deren Oberfläche verfolgen
4) MaxSchultze, Das Proloplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen.
486t. p. as ff.
MoDogniplüe te Noneraii. 95
lassen. Sie ist gans wie bei den Acanthometren, ihre Eiehiung
bestöndig wechselnd. Verästelung, Anastomose und Plattenbildung
der starren Pseudopodien ist selten. Bei längere Zeit hungernden in-
dividuen nimmt die Quantität der Sarcodekörnchen bedeutend ab.
Zuletzt scheinen dieselben ganz zu verschwinden.
Durch künstliche Theilung Hess sieh Myxastrum ebenso wie
Protomyxa vermehren. Bei zwei Individuen, voa denen ich unter
dem Prfiparirmiki'oskop das eine in zwei , das andere in drei Stücke
mit scharfen Nadeln zerrissen hatte, rundete sich jedes Theilstttck lang--
sam zu einer selbstständigen Schleimkugel ab, welche allmählich anfing,
die eingezogenen Pseudopodien wieder vorzustrecken , und nun gleich
den ungetheilten Individuen sich zu eriiähren und weiter zu leben.
Die gleiche künstliche Theilbarkeit habe ich bei dem ähnlichen Acti-
Dosphaerium Eichhornii bereits 1862 nachgewiesen.
Die activen Bewegungen des ganzen Körpers waren bei Myi.a-
strum eben so schwach und langsam, wie bei Actinosphaerium.
Jedoch vermochte es sich auf dem Objectträger sehr langsam, wankend,
von der Stelle zu bewegen , scheinbar rotirend oder wälzend, oder auf
den stachelartigen Pseudopodien sich wie ein* Seeigel fortbewegend.
Der glückliche Erfolg, den meine Untersuchungen über die Ent*
wickelungsgeschichte von Protomyxa gehabt hatten, liess mich
hoffen, auch bei Myxastrum einen gleich vollständigen Entwiche-*
lungKcyclus zu beobachten. Mehrere der grössten und reichlich gefütter-
ten Myxastrum isolirte ich in einzelnen Uhrgläschen mit Seewasser.
Diese bewahrte ich in einer geräumigen feuchten Kammer mehrere
Wochen auf, ohne dass die Myxastren abstarben.
In den ersten Tagen zeigten die isolirten Myxastren keine Verän-
derung. Dann aber bemerkte ich zuerst an einem , bald darauf auch
bn einem zweiten Individuum, dass das Schleimsternchen seine Strahlen
eingezogen und sich zu einer ganz einfachen Schleimkugel mit glatter
Oberfläche zusammengezogen hatte. Alle Reste der früher aufgenom-
menen Nahrung waren entfernt, und ausser den feinen zahlreichen Körn-
chen keinerlei Formclemenle in dem ganz homogenen Sareodekörper
wahrzunehmen. Einige Tage später wurde ein doppelter scharfer Gon-
tour an Stelle des bisherigen einfachen sichtbar, und nun zeigte es sich,
dass das Myxastrum sich ebensowiedieProtomy xaencystirt hatte«
Die anfangs sehr dünne Cystenmemhran wurde langsam didter und
dicker , indem schiehtenweise neue Lagen abgeschieden wurden , und
endlich erreichte ihre Dicke Vg von dem Durchmesser der eingeschlos^
senen Plasmakugel. (Fig. 4 3) .
Das encystirte Myxastrum stellte ebenso wie die encystirle
96 Kmst ffitokel,
Protom yxa, eine ganz einfädle kugdige Lepocytode dar, eine
vollkommen structurlose und homogene Plasroakugel von 0,08 Mm.
Durchmesser. Auch in chemischer Besiehung zeigte es die gleichen
Reactionen, wie die encystirte Protomyxa. Die Membran i^ar eben
so structurlos, jedoch derber, dicker und consistenter.
Meine Hoffnung, die weitere Entwicklung des encystirlen M yxa-
s t r u m ebenso wie bei P r o t o m y x a weiter verfolgen zuk ön n en , schien
zunächst nicht in Erfüllung zu gehen. Umilieselbe zu verfolgen, betrach-
tete ich fast Tag für Tag die eingekapselten Plasmakugeln , welche ich
sorgfältig in kleinen Uhrschälchen in der feuchten Kammer isolirt hielt.
Endlich nach zweiwöchentlichem vergeblichen Warten wurde eine Ver-
änderung bemerkbar. Es begann nämlich die homogene Plasmakuge/
eine grosse Anzahl von radialen Streifen zu zeigen , und in der Rich-
tung dieser Streifen sich zu zerklüften, etwa wie bei der Dotterfu rchuog
vonSagitta. Nach drei bis vier Tagen warder gaqze kugelige Plasma-
körper in ungefähr 5(y verdichtete kegelförmige Inhaitspartieen zer-
fallen, welche im Gentrum der Kugel sich mit ihren Spitzen berührten,
während die abgerundete Basis der schlanken Kegel die Innenseite der
Cysten wand berührte (Ffg. 44). Zwischen den einzelnen eonischen,
radial gestellten Plasmaportionen, deren Substanz sich offenbar tang-
sam verdichtete, sammelte sich eine geringe Quantität von einer Bellen
wässrigen Flüssigkeit an. Nun trat auch langsam eine Form Verände-
rung der radialen Plasmastücke ein, indem ihre ursprüngliche Ke-
gelgestalt mehr und mehr in Spindelform überging. Zugleich zogen
sich die inneren Spitzen der beiderseits zugespitzten Spindeln aus dem
Centrum zurück, in welchem sich Flüssigkeit ansammelte. (Fig. 45, 46^
Jedes einzelne von den gestreckten spindelförmigen Plasmakör-
perchen, welche durch die radiale Theilung der einfachen Plasmakugel
entstanden waren, begann nun eine dünne Hülle/iauszuscheiden, welche
als ein deutlicher doppelter Contour zwischen den einzelnen Spindeln
sichtbar wurde (Fig. 15, 16). Die Länge des spindelförmigen Körper-
chens betrug nur 0,03 Mm. , seine grösste Breite (der in Mitte) 0,045
Mm. , die Dicke seiner Hüllmembran 0,0042 Mm. Diese Hülle bestand^
wie sich alsbald durch die chemischen Reactionen ergab , aus Kiesel-
erde. Isolirt hätte man jedes einzelne Spindelchen für eine kleine Diß"
tomee, etwa eine Na vicula, halten können (Fig. 17). Jedoch fehlte
dem gänzlich structurlosen Plasmakörper der Kern , welchen die Dto*-
toraeen besitzen. Es war jede Spindel mithin eine einfache Cytode,
keine echte (kernhaltige) Zelle.
In diesem Zustande, geschützt von der festlen Kieselhülle und
ausserdem noch von* der gemeinschaftlichen CystenhoUe des elterlichen
MoDOgnipIlie der Moueren, 97
Körpers, verharren die spindelfOrinigeD Keime des My xastrum wahr-
scheinlich unter ihren natürlichen Existenzbedingungen längere Zeit,
ehe sie sich iveiter entwick^. Da selbst nach Verlauf von einer
Wocbe keine auffällige Veränderung an denselben zu bemerken war,
und da die Zeit meines Aufenthalts aufLanzarote zu Ende ging, be-
schloss ich, die beiden einzigen Cysten, welche noch übrig waren, zu
sprengen, und zu sehen, ob dann eine Weiterentwickelung der Keime
einträte. Dies geschah in der That.
Nachdem ich die beiden kugeligen Cysten gesprengt hatte , (was
bei der Festigkeit der hyalinen Cystenmembran einen ziemlich bedeuten-
den Druck erforderte) traten die spindelförmigen Kieselsporen ausein-
ander und zerstreuten sich im Wasser. In den ersten beiden Tagen
war keine Veränderung und keine Bewegung an denselben zu bemer-
ken. Sie lagen regungslos und scheinbar unverändert am Boden des
Uhrschälchens. Endlich am dritten Tage bemerkte ich, dass aus dem
einen Ende mehrerer Kieselspindeln ein hyaliner fingerförmiger, abge-
rundeter Fortsatz hervorsah , etwa Vi oder y, so lang als die Spindel.
Am entgegengesetzten Ende hatte sich der Plasmainhalt von der Kie-
selhttlle abgehoben, und hier war eine helle Lücke bemerkbar (Fig. 4 8).
Langsam wurde diese Lücke grösser, während entsprechend das Plasma
am anderen Ende mehr und mehr vorquoll (Fig. 19). So schlüpfte
schliesslich der gesammte homogene Plasmakörper der spindelförmi-
gen Spore aus seiner Kieselhülle heraus , zog sich kugelig zusammen
und blieb regungslos vor der entleerten Hülle liegen (Fig. 47, 20). Die
herausgeschlüpfte Plasmakugel war vollkommen homogen und structur-
\os, nur von äusserst feinen (bei 500 maliger Vergrösserung noch nicht
messbaren) Kömchen durchsetzt. Von einem Kerne und ebenso von
einer Vacuoie war auch bei Anwendung verschiedener Reagentien keine
Spur wahrzunehmen. Die nackte Spore war in der That eine gänz-
lich structurlose Sarcodekugel. Auch an der entleerten Kieselmem-
bran war keinerlei Structur wahrzunehmen. Sowohl in Flüssigkeit als
Ketrocknet bei stärkster Vergrösserung und schiefer Beleuchtung be-
trachtot, zeigte die dünne Kieselhülle keinerlei Oberflächenzeicbnung
oder sonstige Differenzirung. Ob das enge Loch , durch welches die
nackte Spore oder Keimcytode aus ihrer Kieselhülle hervortritt, prae-
eiistirt, oder erst vor dem Durchbruch von dem Plasmn (durch Auf-
lösung der Kieselhülle an der Spitze) gebildet wird, ob dieses Loch an
beiden Enden der spindelförmigen Sporenmembran oder nur an einem
Ende, und ob es in letzterem Falle an inneren (centralen) oder äusseren
(peripherischen) Ende der radial gestellten Kieselspindel sich findet,
vermochte ich nicht zu entscheiden.
Band IV. 1. 7
98 ErBStHiekd,
Ein paar Stunden, nachdem der Plasmakörper des Myxastruoi
aus seiner spindelförmigen KieselhttUe hervorgeschlüpft ist, bleibt er
regungslos als nackte Piasmakugel vorder leeren Httlle liegen. Dann
wird seine gesammte , bisher glatte Oberfläche {einstachelig (Fig. 21).
Diese Stacheln sind weiter Nichts, als radiale Fortsätze des Plasma,
welche sich allmählich länger ausziehen und schliesslich den Durchmesser
der centralen Plasmakugel erreichen und selbst übertreffen (Fig. 22} ,
Bald bemerkt man nun auch, dass die Körnchen der centralen Sarcode-
masse in diese strahligen Pseudopodien übergehen , und dass dasselbe
Spiel der Rörnchencirculation beginnt, wie ich es oben an dem er-
wachsenen Myxastr um beschrieben habe. Auch bleiben nun schon
kleine fremde Körperchen, welche zufällig mit den Pseudopodien in Be-
rührung kamen, an diesen hängen, und werden langsam in die centrale
Leibesmasse hineingezogen, um dort assimilirt zu werden. Offenbar
liegt nun in diesen kleinen Strahlenkugeln von 0,08 Mm. Durchmesser
bereits die Form des 30 — 50 mal grosseren ausgebildeten Myxastrum
vor, und letztere kann sich durch einfaches Wachsthum aus der ersteren
entwickeln. Besondere Differenzirungsprocesse oder überhaupt andere
Veränderungen als das einfachste Wachsthum sind dazu nicbl mehr
nOthig. An einzelnen der kleinen actinophrysähnlichen Keime, weiche
Nahrung aufgenommen hatten, waren auch bereits hier und da spär-
liche Verästelungen und Anastomosen der radialen Pseudopodien wahr-
zunehmen. Dagegen kamen ebenso wie bei dem erwachsenen Myxa-
strum weder Vacuolenbildung noch Differenzirung von Kernen in dem
durchaus homogenen Plasmakörper vor.
Unter natürlichen Verhältnissen bleibt das encystirte Myxastruin
wahrscheinlich lange Zeit liegen , ehe seine Cysienmembran au^elöst
oder gesprengt, und damit der erste Anlass zur weiteren Entwic^elung
der spindelförmigen Kieselsporen gegeben wird. Offenbar wäre auch
bei den beobachteten Cysten diese Entwickelung noch nicht eingetreteo,
wenn ich nicht künstlich die Cystenhülle gesprengt hätte.
Myxastrum radians ist, wie aus der vorhergehenden vollstän-
digen Schilderung seines Generationscydus oder seines individuellen
(biontischen) Entwickelungskreises hervorgeht, ein Moner, welches
gleich den Protomyxen, Protomonaden und Vampyrellen während seines
individuellen Lebenslaufes in zwei ganz verschiedenen Zuständen er-
scheint, einem ruhenden und einem freibeweglichen Zustande. 1^
freibeweglichen Zustande, während dessen die Ernährung
geschieht, gleicht Myxastrum sehr einer echten Actinophrys (sol)
und unterscheidet sich wesentlich nur durch Mangel jeder Vacoolen-
bildung. Im ruhenden Zustande dagegen, während dessen <U^
t
f
MoDogrtphie der Moneren. 9g
Fortpfiansung slaiifindet, stellt Myxastrum eine kugelig^ Cyste
dar, deren homogener Piasmainhalt durch Strahltheilung (Dira-
diatio)^) in eine Anzahl von spindelförmigen ruhenden Sporen zerfallt.
Jede Spore scheidet eine KieselhuUe aus und gleicht dann einer Na vi-
cula (ohne Kern!). Wenn der Ruhezustand wieder in den freibeweg-
lichen Zustand übergeht, berstet die GystenhttUe ; die Sporen schlüpfen
ans ihrer Rieselmembran heraus und gestalten sich sofort wieder zu
einem kugeligen strahlenden actioo'ßhrysähnlichen Plasmakttrper, wel-*
eher durch einfaches Wachsthum in die Form des erwachsenen Myxa-*-
strum übergeht.
II. 3. Myxodictyum sociale.
(Hierzu Taf III, Fig. S4— 38).
Wahrend meiner Rückreise von den canarischen Inseln verweilte
ich in der zweiten Hälfte des März 4867 zehn Tage in der kleinen
spanischen Stadt Algesiras, welche Gibraltar gegenüber an dem west-
lichen Ufer der reizenden Bai von Algesiras liegt. Ich hoffte hier einige
von den reichen pelagischen Thierschwarmen anzutreffen, welche zu
verschiedenen Zeiten in der Meerenge von Gibraltar beobachtet worden
sind. Jedoch zeigte sich von der erwarteten Fülle von Seethieren
Nichts, ausser einigen Physalien, Velellen und anderen pelagischen By-
dromedusen, trotzdem ich taglich mit meiner Barke die Bai nach allen
Richtungen durchsuchte. Auch die Ergebnisse der pelagischen Fischerei
roit dem feinen Netz waren sehr dürftig. Der dadurch aufgebrachte
Mulder bestand wesentlich aus kleinen Medusen (Eucopiden) , und aus
grossen Mengen von Noctiluca, von Acanthometren und von polycytta-
rien Radiolarien (CoUozoum, Sphaerozoum, Collosphaera und Siphono-
sphaera.'j
Um die Acanthometren , welche an einigen Tagen ziemlich häufig
waren, in ganz unverletztem Zustande zu untersuchen und die Bewe-
gungserscheinungen an ihren Pseudopodien zu verfolgen, schöpfte ich
mehrfach unmittelbar mit Glasern Wasser von der Oberflache des Hee-
res, und nachdem dasselbe einige Zeit ruhig gestanden hatte , schöpfte
ich wiederum die Oberflache des im Glase stehenden Wassers mit einem
«) Generelle Morphologie, Vol. 11, p. 4i, 70.
t) Das merk würdigste unter den dort gefundenen Polycyttarien war eine %\-
phooosphaer« mit verästelten Kieselröhren auf der Oberfläche der kugeligen
Gitterschale, welche desshalb S. cladophora heissen kann Eine ahnliche Form
hatte ich schon auf den canarischen Inseln beobachtet. Ich werde diese und die
übrigen dort beobachteten Radiolarien an einem anderen Orte ausführlich be^
schreiben.
] 00 Ernst H&ekel,
flachen, ganz untergetauchten Uhrgiäschen ab. Diese Methode, welche
allerdings einige Geduld und Vorsicht erfordert, ist sehr zu empfehlen,
wenn man die Sarcodebewegung an den Pseudopodien kleiner Radio-
larien und die wirkliche Körnchenbewegung in den Sarcodeströmen
an ganz unberührten , unverletzten und frischen Objecten beobachten
Will. Neben mehreren Acanthometren und Ommatiden , welche ich auf
diese Weise erhielt, führte mir ein günstiger Zufall auch das merkwür-
dige rhizopodenartige Moner zu. Welches ich im Folgenden als Myxo-
dictyum sociale beschreiben will.
Als ich bei massiger Yergrösserung den Focus des Mikroskops auf
die Oberfläche des Wasserspiegels einstellte , auf welcher die Acantho-
metren floltirten, bemerkte ich eine Gruppe von kleinen dicht beisam-
men liegenden rundlichen strahlenden Körperchen, deren jedes wie eine
kleine Actinophrys aussah. Bei 400 maliger Vergrösserung zeigte diese
Gruppe das Bild, welches in Fig. 31 dargestellt ist.
Auf einem Stück des Wasserspiegels, der ungefähr einem Kreise
von 0,35 Mm. Durchmesser entsprach, zeigte sich eine Gruppe von
siebzehn durchsichtigen feinpunctirten strahlenden Körperchen, deren
jedes ungefähr das Aussehen einer flach ausgebreiteten Actinophrys
sol oder eines Trichodiscus hatte. Jedes Körperchen strahlte zahl-
reiche feine verästelte und anastomosirende Fäden aus, welche mit de-
nen der benachbarten Körperchen sich vereinigten. An den Fäden w ar
die charakteristische Körnchenströmung, das Entstehen und Vergehen
von Aesten und Anastomosen zu beobachten , welche die Pseudopodien
der echten Riiizopoden auszeichnen , und die Körnchenströmung ging
von einem Körperchen auf die anderen über (Fig. 31).
Jedes einzelne von den siebzehn auf diese Weise verbundenen
actinophrysähnlichen Körperchen stellte eine vollkommen structurlose
Scheibe von 0,03 — 0,04 Mm. Durchmesser dar, und war von den be-
nachbarten durch einen ebenso grossen oder höchstens zwei bis drei
mal so grossen Zwischenraum getrennt. Jedes Körperchen erschien in
seiner ganzen Masse aus einer durch und durch homogenen Substanz ge-
bildet, einem festflüssigen Plasma, welches sich ganz wie die Sarcode der
Protomyxa oder der Badiolarien verhielt. Von irgend welcher Structur
oder Diflorenzirung war in diesem schleimigen Eiweisskörper so wenig
als bei Protom yxa eine Spur wahrzunehmen ; namentlich fehlte völlig
ein Unterschied zwischen einer festeren Rindenschicht und einem wei-
cheren Markplasma ; Vacuoten schienen ganz zu fehlen. Die sehr feinen,
grösstentheilsunmessbar feinen Körnchen, welche in der vollkommen ho-
mogenen Grundsubstanz zerstreut waren, befanden sich fast beständig in
langsamer Bewegung. Einige eingestreute grössere Körnchen lieSsen sich
MoDographle te MonereD. 101
sehr schön auf ihrer Wanderung durch die Masse des Körpers hindurch,
auf den Pseudopodien, ihren Zweigen und Anastomosen, und von
einem Kdrperchen lum anderen verfolgen. Die Strömung der Sarcode
war ziemlich langsam, bei weilem nicht so rasch, als bei Protom yxa
und bei Protogenes, aber auch nicht so langsam, als bei Myxa-
strum. Man konnte ganz deutlich sehen, wie die grösseren Kömchen
auf einxefaien Pseudopodien der in der Peiipherie gelegenen Körperchen
von der Plasmaströmung bis zur Spitze der äusserst feinen Päden ge-
führt wurden, hier umkehrten und wieder zurückliefen oder durch eine
plattenförmige Anastomose auf einen anderen benachbarten Faden über-
traten. Führte dieser Faden durch Anastomose mit dem Faden eines
benachbarten Körperchens in die Substanz des letzteren hinüber, so
konnte man das Körnchen in diese übertreten sehen. Von hier konnte
dasselbe wieder auf ein anderes Körperchen übergehen und so fort.
Kurz es stellte sich bei andauernder Beobachtung als unzweifelhaft
heraus, dass der ganze zusammenhängende Plasmakörper aus einem
einzigen grossen, völlig homogenen Sarcodenetz bestand, und dass
die siebzehn einzelnen strahlenden Plasmakörperchen gewissermassen
nur stärkere Anhäufungen von Sarcodemasse in den Knotenpuncten
dieses Netzes waren. Die Maschen des Netzes waren polygonal, meistens
fünf- oder sechbeckig, von 0,01 — 0,02 Mm. mittlerem Durchmesser,
übrigens ganz formunbeständig. Während einzelne Pseudopodien neue
Aestchen aussendeten und diese durch Verschmelzung mit benachbarten
Felden wahre Anastomosen bildeten , wurden an anderen Stellen grös-
sere Maschen dadurch hergestellt, dass der Sarcodezufluss von einzel-
nen Fäden her aufhörte, und nun mitten im Verlaufe eines Stromes eine
Unterbrechung entstand. Der centrale Theil eines solchen unterbroche-
nen, gleichsam durchschnittenen Fadens wurde in die sich verdickende
Basis desselben zurückgezogen, wogegen der peripherische Theil in das
Stromgebiet des benachbarten Fadens hinüber gezogen wurde. Neben
den feinen Körnchen circulirten entlang der Fäden auch kleine fremde
Körperchen, welche zufällig an die Oberfläche der Fäden geriethen, hier
haflen blieben und nun von der Sarcodeströmung ergriffen und mit
fortgeführt wurden. Dass die Sarcode thatsächlich eine festflüssige
Substanz ist, und dass die in derselben suspendirten Körnchen und
fremden Körperchen wirklich von dem flüssigen und ewig wechselnden
Plasmaslrome mit fortgeführt werden , liess sich bei Myxodictyum
ebenso sicher als bei Protogenes und bei den echten Rhizopoden
(Acyttarien und Radiolarienj beobachten.
Aller Wahrscheinlichkeil nach geschieht auch die Nahrungsauf-
nahme bei Myxodicty um ganz ebenso wie bei den letztgenannten
ProliMen. Allerdings waren bei dem eintigen Exeonfriare , wddies ich
in Algesira^ beobachtete, nnd weiches ich nur einige Stunden verfDlgen
konnte, keine grösseren fremden Körperdien, wie etwa pelagische Dia-
tomeen, Peridinien etc. innerhalb der Plasmasubstanz wahrzunehmen.
Allein aud) bei echten Rhizopoden, sowie beiProtogenes und M y x a -
strum fehlen bisweilen, selbst wenn kurz vorher reichliche Nahrungs-
aufnahme stattgefunden , alle fremden Körperchen, sobald nämlidi die
unverdaulichen Bestandtheile bereits wieder ausgestossen sind. Die
grosse Anzahl der drcuHrenden Kömchen in dem Plasmaleibe von
Myxodictyum schien auf reichliche, kurz zuvor stattgehabte Nah-
rungsaufnahme hinzudeuten, und es ist kein Grund vorhanden, die
genannten Phänomene hier anders, als bei Myxastrum, bei Proto-
myxa und den echten Rhizopoden zu deuten.
Das Bild, welches der merkwfirdige netzförmige Sarcodeleib von
Myxodictyum sociale bei starker (iOOmaliger) VergrOsserung
gewährt (Fig. 31), erinnert auffallend an das ganz ähnliche Bild, wel-
ches ein Polycyttar oder sociales Radiolar (z. B. GoUozoum, Collo-
sphaera) bei schwächerer Vergrösserung darbietet. i) Die siebzehn
einzelnen strahlenden Sarcodescheiben, welche in den Maschen des
Netzes liegen, entsprechen den einzelnen Centralkapsein (morpholo-
gischen Individuen) der Polycyttarien-Golonie. Man denke sich aus
einem Gollozo um -Stocke die Centralkapsein, die Alveolen, welche
das Sarcodenetz tragen , und die gelben Zellen , welche darin zerstreut
sind, entfernt, und man hat vollständig das Bild des Myxodictyum
vor sich.
Für die morphologische Deutung des Myxodictyum ist diese
Vergleichung von Wichtigkeit. Denn offenbar entspricht der ganze
Körper nicht einem einzigen einfachsten Individuum, sondern einer
Moneren-Colonie. Die siebzehn einzelnen, sternförmigen und
strahlenden actinophrysähnlichen Plasmakörperchen sind ebenso viele
morphologische Individuen erster Ordnung , und das ganze Plasmanetz
ist trotz seiner absoluten Einfachheit bereits eine Individualität höherer
(zweiter) Ordnung. Es ist gewissermassen eine coloniebildende Acti-
nophrys oder Protogenes. Strenger morphologisch ausgedrückt
ist jeder der siebzehn nac&ten homogenen Plasmasterne eine Gymno-
cytode, und der ganze Körper ein einfachstes Individuum zweiter Ord*
i) Vergleiche die AbbiiduDgen von Sp ha eroz Olim i t a ii c u m (Taf. XXXIil,
Flg. 4) und von Collozouminerme (Taf. XXXV, Kig. I3j in meiner Monographie
der Radiolarien.
r
■
MooQgnpbto der Moneren« 1 03
DuAg oder ein Organ (diesen Ausdruck rein morphologisch genom-*
men, wie ich ihn in meiner Teelologie angewandt habe).
Da ähnliche Moneren-Colonieen bisher noch nicht bekannt
geworden sind, so wäre es von hohem Interesse gewesen das My xo-
dictyum längere Zeit hindurch su beobachten und namentlich die
Foripflanzungaweise, sowie einen etwaigen Uebergang in einen
Ruhezustand, oder möglicherweise auch in einen anderen Organismus
festzustellen. Leider war es mir nicht möglich, hierüber in wttnschens-
werther Weise sichere Aufschlüsse zu erlangen. Doch beobachtete'ich
wahrend der wenigen Stunden, in denen sich das Myxodictyum in
meinem Glase befand, wenigstens eine Veränderung.
Nachdem ich die in Fig. 31 abgebildete Zeichnung von Myxo-
dictyum entworfen und die Bewegungsphänomene der Sarcode hin-
reichend beobachtet hatte, um ihre Identität mit derjenigen der Rhizo*
poden festzustellen, setzte ich das Gläschen bei Seite, um einige Acan-
thometren, die ich gleichzeitig gefangen hatte, zu zeichnen. Drei Stunden
später brachte ich das Uhrschälchen mit dem Myxodictyum wieder
unter das Mikroskop. Immer noch lag das Schleimnetz in der vorhin
beschriebenen Form an der Oberfläche des Wasserspiegels, und die
langsame Strömung der Sarcode dauerte ununterbrochen fort. Nur
hatten sich die einzelnen actinophrysartigen Körper etwas weiter von
einander entfernt, etwa um das Dreifache bis Vierfache ihres Durch-
messers; die Maschen des Netzes erschienen grösser und der Umriss
der ganzen Gruppe , welcher vorher nahezu kreisrund gewesen war,
mehr unregelmässig fünfeckig, zugleich in einer Richtung etwas ver-
längert. Bei genauerem Zusehen bemerkte ich, dass nur noch fünfzehn
Individuen in dem Netze vorhanden waren. Zuerst vermuthete ich,
dass vielleicht die zwei fehlenden Individuen mit zweien von den
Qbrigen zusammengeflossen und verschmolzen seien. Jedoch stellte sich
bei Durchmiisterung des ganzen Schäfchens bald heraus, dass dieselben
sich einzeln von der Colonie abgelöst hatten , und isolirt am Rande des
Uhrgläschens auf dem Wasserspiegel schwammen. Jedes der beiden
Körperchen hatte einen fast kreisrunden Umriss , strahlte rings einen
reichen Kranz von verästelten und anastomosirenden Pseudopodien aus,
und glich einer Actinophrys sol ohne contractile Blase (Fig. 33).
Möglicherweise giebl diese Beobachtung einen Fingerzeig über die
For4>flanzung des Myxodictyum. Es ist denkbar, dass diese Mone-
reo-Stöcke sich einfach dadurch fortpflanzen, dass von Zeit zu Zeit sich
einzelne Individuen von der Peripherie der Moneren-Gemeinde ablösen.
Diese können dann eine neue Colonie entweder dadurch bilden , dass
das einfache Individuum durch Theilung in mehrere zerfällt, welche
] 04 Krns^ fflldcelf
mittelst ihrer Pseudopodien-Anastotnosen vereinigt bleiben ; oder da-
durch, dass an einzelnen Stellen (Knotenpuncten) des peripherischen
Netzes ein stärkerer Zufluss und eine Anhäufung von Sarcode erfolgt,
und dass diese peripherischen Plasmakltimpchen sich allmählich oen—
tralisiren und den individuellen Formwerth des centralen Mutterkörpers
erlangen. So kann die Fortpflanzung dieser Myxodictyen in der ein-
fachsten Weise erfolgen, ohne dass Ruhezustände einzutreten brauchen,
und dann würde sich diese Monerenform unmittelbar an Protogenes
anschliessend
Andererseits ist es jedoch auch leicht möglich , dass die Ablösung
der beiden Individuen von dem beobachteten Netze mehr zufällig ge>
schah und nicht die Bedeutung eines Fortpflanzungsactes hatte. Leider
konnte ich das merkwürdige Moner nicht weiter verfolgen. Denn bei
dem Versuche, dasselbe aus dem flachen Uhrschälchen , in welchem es
sehr unbequem mit stärkerer Vergrösserung zu beobachten war, auf
einen passenderen Objectträger zu übertragen, floss unglücklicherweise
ein grosser Theil des Wassers sammt dem Myxodictyum am Rande
ab, und dasUnicum verunglückte. Es muss daher künftigen Beobachtern
vorbehalten bleiben, die Naturgeschichte dieses wunderbaren Organis-
mus vollständiger zu ergründen.
II. 4. Protamoeba primitiva.
(Hierzu Taf. 111, Fig 25— 30K
Von den echten Amoeben (den Autamoeben) welche stets einen
Kern und meistens auch eine Vacuole oder selbst eine constante con-
tractile Blase besitzen, sind diejenigen amoebenartigen Organismen
wohl zu unterscheiden, bei denen sowohl Kern als contractile Blase
fehlen, und bei denen der ganze Körper aus einer vollkommen homo-
genen und slructurlosen Masse besteht. Solche absolut einfache Amoeben,
die einfachsten, die überhaupt denkbar sind, treten z. B. als vorüber-
gehende Jugendzustände im Entwickeiungskreise der Gregarinen auf,
in deren Navicula-ähnlichen Keimkörnern , den sogenannten Pseudo-
navicellen sie sich entwickeln. Aber auch als selbstständige, in dieser
einfachsten Form verharrende und sich fortpflanzende Organismen, —
wenn man will, als »gute Species« — treten solche ganz einfache Amoe-
ben auf, und ich habe in meiner generellen Morphologie vorgeschlagen,
dieselben als DProtamoeba« ganz von den echten, offenbar schon
viel höher differenzirten Amoeben zu trennen (Vol. I, p. 133). Da ich
an letzterem Orte diese Protamoeba nur beiläufig erwähnt und aus-
serdem noch Nichts über dieselbe voröfTenllicht habe , so will ich hier.
f
Monograpliie der Moner^iL 1 05
im Anscbluss an die vorher beschriebenen Moneren , eine kurze Dar-
stellung derselben folgen lassen.
Die in Fig. 25 — 30 abgebildete Protamoeba primitiva be-
obachtete ich zum ersten Male in Jena im Sommer 1863, in Wasser,
welches ich aus einem kleinen Tümpel im Tautenburger Forste (Dorn-
burg gegenüber auf dem rechten Saalufer) geholt hatte. Der Boden
dieses flachen kleinen Tümpels ist dicht mit abgefallenem vermodern-
den Buchenlaub bedeckt und in dem feinen braunen Schlamme, zwischen
den vermodernden Blättern , fand ich die kleine Protamoeba, das erste
Moner, welches mir überhaupt zu Gesicht kam.
Wenn man Protamoeba primitiva unmittelbar aus dem feinen
Schlamm, in welchem sie umherkriecht, unter das Mikroskop bringt
und somit energischer Lichteinwirkung aussetzt , so erscheint sie ge-
wöhnlich als eine voUkommen homogene Plasmakugel von 0,03 — 0,04
Mm. Durchmesser. Nach einiger Zeit beginnt sich diese Kugel langsam
abzuflachen ; ihr Durchmesser nimmt zu (bis zu 0,06 Mm.) und gleich-
zeitig wird ihr kreisrunder Umriss unregelmässig. Bald beginnt dann
an einer, bald gleichzeitig an mehreren Stellen ein stumpfer, kegel-
oder warzenförmiger Fortsatz vorzutreten. Indem dieser sich verlän-
gert, streckt, und einen Theil der übrigen Leibesmasse nach sich zieht,
geht der unregelmassig rundliche Umriss in einen bimfDrmigen über,
oder, wenn mehrere Pseudopodien zugleich vortreten, in^ einen stern-
förmigen. Selten waren mehr als fünf oder sechs warzenförmige Fort-
sätze im Umkreise des scheibenförmig abgeplatteten Körpers zu sehen.
Die Fortsatze oder Pseudopodien bleiben immer kurz und einfach.
Höchstens erreicht ihre Länge ungefähr den Durchmesser des übrigen
Körpers. Niemals verästeln sie sich ; niemals verschmelzen zwei be-
nachbarte Pseudopodien mit einander (Fig. 35, S6). Die Bewegungen
der Protamoeba primitiva, das Ausstrecken und Einziehen der
an Zahl, Form und Grösse beständig wechselnden, obwohl immer ein-
fachen Fortsätze geschieht sehr langsam. Sie unterscheidet sich da-
durch wesentlich von der, von Acbabach^) beschriebenen Amoeba
1 i m a X , welche ihr im Uebrigen von allen bekannten Amoebenformen
am ähnlichsten ist, (abgesehen natürlich vom Mangel des Kerns und
der contractilen Blase) . i
Der ganze Körper der Protamoeba primitiva ist absolut stnic-
turios und homogen. Namentlich ist eine Differenzining in eine dich-
tere äussere und eine weichere innere Sarcodemasse nicht vorhanden.
1) Auerbach, (Jeber die Ginzeliigkeit der Amoeben. Zeitscbr für wiss. Zool.
4856, Vol. VII, p. 441, Ttf. XXII, Flg. 41 — 46.
106 Emt Hidwl,
Bei den meislen, yielleicht bei allen echten Amoeben ist eine solcbe
Differeozining wahrnehmbar. Man kann gewöhnlich leidii die feslere,
äussere, homogene, nicht kömige Rindenschicht (Ectosark) von dem
dünner flüssigen , körnchenreichen Innenparenchy m (Endosark)
unterscheiden. Bald gehen diese beiden Schichten unmerklich in ein—
ander über, indem das Ectosark schichten weise nach innen immer
weicher und flüssiger wird ; bald erscheinen beide ziemlich scharf ge-
schieden, so dass man selbst die äussere als Membran bezeichnen kann
(Aueuach) . Bei den Protamoeben ist von dieser Sonderung des Plasma
in Ectosark und Endosark durchaus Nichts wahrzunehmen , auch hidit
bei der Behandlung mit chemischen Reagentien. Der ganze Leib ist
vielmehr aus einer und derselben gleichartigen Substanz gebildet, weldie
ziemlidi zähflüssig und dicht ist, und die gewöhnlichen mikrochemischen
Reactionen des Eiweisses (Plasma) liefert.
Bei einigen Protamoeben ist die Sarcodemasse des Körpers ganz
klar und hyalin, bei anderen dagegen durch eine grössere oder gerin-
gere Anzahl von farblosen, dunkeln , fettglänzenden Körnchen getrübt,
welche in Essigsäure unlöslich sind. Die meisten dieser Körnchen sind
sehr fein , wenige gröber und von messbarer Dicke. Die wechselnde
Zahl und Grösse der Körnchen , der völlige Mangel bei den einen, der
Ueberfluss daran bei den andern Individuen ist wahrscheinlich, wie bei
den übrigen Moneren und bei den Rhizopoden , von dem Stofiwechsel,
von der grösseren oder geringeren Menge der aufgenommenen Nahrung
und der assimilirten Bestandtheile abhängig.
Die Nahrungsaufnahme unmittelbar durch die Pseudopodien zu be-
obachten, gelang mir bei Protamoeba nicht. Dagegen konnte ich
experimentell das Eindringen fester Körperchen in ihren homogenen
Sarcodeleib nachweisen, indem ich' ein wenig sehr fein zertbeilten Indigo
debo umgebenden Wasser zusetzte. Einige Stunden später hatten zahl-
reiche Protamoeben einzelne oder mehrere Indigokömchen in ihr Inne-
res aufgenommen. Wahrscheinlich waren auch die oben erwähnten
feinen Körnchen, wenigstens zum Theil, ebenso aus dem umgebenden
feinen Schlamm in das Innere des Körpers eingedrungen. Jedenfalls
erfolgt die Aufnahme dieser festen Körperchen ebenso wie bei den eoh*
ten Amoeben und wie bei den amoebenartigen Blutzellen der Thiere,
vermittelst der eigenthttmlichen Bewegung der Pseudopodien, ohne dass
irgend eine bleibende Oeflhung oder Höhlung in der soliden Schleim-
masse des Körpers vorhanden wäre.
Schon als ich 1863 die Protamoeba zum ersten Male beobach-
tete, schloss ich auf eine einfache Vermehrung derselben durch Thei-
lung, da die Zahl der in einem kleinen Gläschen gehaltenen Individuen
MoDOgF«|ikie d«r MoDe;te. 107
innerhalb weniger Tage sich auffallend vermehrte, ohne dass irgend
welche Yerinderungen oder der Uebergang in einen Ruhezustand an
diesen einfachsten Of^nismen wäre zu beobachten gewesen. Als ich
zwei Jahre später in demselben Gewässer bei Jena die Protamoeba
nochmals fand,' versuchte ich durch anhaltende Beobachtung einzelner
Individuen die Art und Weise der Vermehrung unmittelbar festzustel-
len, und dies gelang in der That. Mehrere Protamoeben zeigten in
der Mitte ihres Körpers eine flachere oder tiefere Einschnürung, so dass
derselbe mehr oder weniger biscuitfdrmig wurde (Fig. 97) . Die Einschnü-
rung blieb dauernd, unbt^schadet der Formveränderungen, welche jede
der beiden Körperhälften ausführte; sie wurde zusehends tiefer (Fig.
28, 29). Endlich gelang es mir bei zwei Individuen, welche ich lange
Zeit andauernd verfolgt hatte , den wirklichen Dnrchbruch der einge-
schnürten Stelle und die völlige Trennung der beiden Theilungshälften
unmittelbar zu constatiren (Fig. 30 A, fi). Jede Hälfte rundete sich als-
bald ab und setzte dann die früheren langsamen Bewegungen ununter-
brochen fort. Es war also nun hier bei der Protamoeba die einfachste
Form der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, die durch Theilung, consta-
iirt, und zwar ohne dass ein Ruhezustand, eingetreten wäre. Offenbar
durften gleiche Moneren , wie die Protamoeba primitiva, beider
Hypothese der Archigonie oder Urzeugung in erster Linie in Betracht zu
ziehen sein.
III. Bemerkungen zur Protoplasma-Theorie.
Die so eben beschriebenen Moneren, Protomyxa, Myxastrum,
Myxodictyum, Protamoeba, ebenso der früher (l. c.) von mir be-
schriebene Protogenes, und die von GnivKOirBii beobachteten Pro-
tom onas und Vampyrella stimmen sSlmmtlich darin überein, dass
ihr gesammter Körper im vollkommen ausgebildeten und frei beweg-
lichen Zustande aus einer vollkommen structurlosen , durch und durch
homogenen Substanz besteht. Diese Substanz zeigt in jeder chemischen
und physikalischen Beziehung die Eigenschaften einer festflüssigen
Kohlenstoffverbindung aus der Gruppe der Albumine oder Eiweiss^
körper (Proteine) . Sie ist identisch mit der Substanz, welche als PI a sm a
oder Protoplasma den contractilen lebendigen Körper aller organischen
Piastiden, aller Zellen und Cytoden von Thieren, Protisten und Pflanzen
bildet. Zum Unterschiede von dem eingekapselten , in Zellmembranen
oder Cytodenschlduche eingeschlossenen Protoplasma kann man das
freie, ohne .' rhützende Hülle mit der umgebenden Aussenwelt in Be-
rührung stehende Plasma mit dem von Dojaumii dafür gebrauchten
108 . Ernst Htokel,
Namen Sarcode belegen. Nur darf man dann nicht vergessen , dass
die nackte Sarcode wesentlich dieselben Eigenschaften besitzt, wie das
umhttllte Protoplasma , und dass zum Beispiel bei den oben beschrie-
benen Protomyxen und Myxastren, und ebenso bei den Protomonaden
und Vampyrellen die Sarcode in Protoplasma umgetauft werden muss,
sobald sich jene Moneren encystiren und mit einer Hullmembran um-
geben, sobald die Gymnoplastiden in Lepoplastiden übergehen.
In der unbestreitbaren Thatsache, dass bei den oben erwähnten
Organismen wirklich der ganze Körper (in vollkommen ausgebil-
detem Zustande!) einzig und allein aus festflüssigem struc-
turlosem Protoplasma besteht, und dass diese einzige homo-
gene Materie, als das active Substrat aller Lebensbewegung, ohne Mit-
wirkung anderer Theile, alle wesentlichen Lebensthätigkeiten : Ernäh-
rung und Fortpflanzung, Bew^egung und Reizbarkeit, vollzieht, erblicke
ich Grund genug zu dem in meiner generellen Morphologie^gethanen
Schrilt, diese Organismen als Moneren allen übrigen entgegenzustellen.
Denn offenbar stehen dieselben unter allen Organismen auf der tiefsten
Stufe, und stellen nicht nur den thatsächlich einfachsten, sondern auch
den denkbar einfachsten Zustand der selbststdndig lebenden Materie
dar. Wie nun aber einerseits diese merkwürdigen Moneren an sich
vom höchsten Interesse sind, so verdienen sie andrerseits die allge-
meinste Theilnahme durch die unschätzbare Bedeutung , welche sie für
eine mechanische Erklärung der Lebenserscheinungen, und für eine
monistische Erklärung der gesammten organischen Natur überhaupt
besitzen.
Als eine der grössten und folgenreichsten Errungenschaften der
neueren Biologie darf wohl die Protoplasma theorie oder Sar-
codetheorie bezeichnet werden, die Lehre, dass der eiweissartige
Inhalt der thierischen und pflanzlichen Zellen, (oder richtiger ihr » Zell-
stoff a) und die frei bewegliche Sarcode der Rhizopoden, Myxomyceten,
Protoplasten etc. identisch sind, und dass hier wie dort diese Albumin-
materie das ursprüngliche active Substrat aller Lebenserscheinungen ist.
Nachdem diese Lehre in ihren Grundzügen schon 1 850 von CoHk i)
und 1855 von Ungbr^j angedeutet wurde, ist sie von Max Schultzs
4 858 weiter ausgeführt und endlich 1860 vollständig begründet worden.')
4 ) F. CoBv , Nachträge zur Naturgeschichte des Protococcuspluvialis.
Nova Acta Ac. Leop. Card. Vol. XXII, pars 2, p 605. 4850.
2) Unger, AnatoiDie und Physiologie der Pflanzen 4855. (p. 280, «82).
8) Max Schültze, nOeber innere Bewegangs- Erscheinungen bei Diatomeen,«
in Mttller'8 Archiv, 4858, p. 380. .
MonognqpUe der Moneieii. 4 09
Ich selbst war seil einer Reihe von Jahren bemüht , durch zahlreiche
Beobachtungen diese Theorie zu stützen und zu erweitern.^) Durch
keine Erscheinungep. wfrd die Richtigkeit dieser Theorie in so hohem
Maasse und zugleich auf eine so einfache und unwiderlegliche Art be^
wiesen, als durch die Lebenserscheinungen der Moneren, durch die
Vorgänge ihrer Ernährung und Fortpflanzung ,. Reizbarkeit und Bewe*
gung, welche sümmtlich von einer und derselben einfachsten Substanz,
einem wahren » Uhrschleime a ausgehen.
Die Protoplasmatheorie dürfte heutzutage beinahe als allgemein
anerkannt angesehen werden, wenn nicht seit sechs Jahren von
ei nei» Seile her bestündig energischer Widerspruch gegen diese »Irr-
lehre« erhoben worden wäre. Da keinerlei irgend beweiskräftige
Gründe gegen dieselbe jenen Widerspruch rechtfertigen, so würden
wir denselben hier auf sich beruhen lassen, wenn nicht die äus^serliche
Autorität seines Trägers ihm eine scheinbare Bedeutung beilegte, und
wenn nicht zufiülig, gerade während ich dieses schreibe, eine ausführ-
lidie Abhandlung zur vollständigen Widerlegung der »Irrlehre von der
Sarcode ft veröffentlicht würde.
Der Berliner Professor der menschlichen Anatomie, Rsicbbet, wel-^
eher 1858 durch einen wunderlichen Zufall zum Nachfolger des
unsterblichen Jobannbs Mubllbr berufen wurde, versuchte seit i 8()2 in
einer Reihe von Aufsätzen nicht allein die Protoplasmatheorie umzu-
stürzen, sondern auch alle dieselbe stützenden bisherigen Beobachtungen
über die Sarcodebewegung der Rhizopoden als grobe Irrthümer nach-
zuweisen. Die Strömungen der Proloplasmafäden sollten Contractions-
wellen solider Fasern untl die von der Strömung fortgeführten Körn-
chen sollten »hüpfende Schlingen « jener Fasern sein. Verästelung und
Anastomosenbildung der Pseudopodien sollten niemals vorkommen,
sondern nur als »wunderbar mikroskopische Trugbilder die Phantasie
der Beobachter ergötzt« haben u. s. w.
Diese seltsamen Behauptungen^urden von Rmcbbrt mit der gross*
ien Bestimmtheit aufgestellt, nachdem derselbe kaum einige Wochen
Max SchultzBi Ueber Cornu'spira (Archiv für Nalurgesch. 4860, p. 987).
Derselbe, Ueber Muskelkörperohen ond das was man eioe Zelle zu neanea
habe. Reichert uod Da BoiS'Reymood's Archiv, 4864. p. 4.
Derselbe, Das Protoplasma der RhizopodeD und der Pflanzenzellen. Leipzig,
4 863
4^ Einst Haickil, Uoaographie der Radiolarieii. Berlin, 486i p. 88—4 46.
Derselbe, Ueber den Sarcodekttrper der Rbiiopoden, in Zeiiscbr. für wissen-
scbafU. Zool. XV. Bd., 4869. p. 842, Taf. XXVI.
Derselbe, Generelle Morphologie der Organismen, Vol I, p. i60 — tSO.
110 Ernst HIdiel,
hindurch in Triest »eine nichl näher bestimmte Species von Milioia
und Rolalia« untersucht halte. Und darauf hin erklärte derselbe,
dass alte bisherigen Beobachter der Bhizopoden sich betreffs deren
Organisation im gröbsten Irrlhum befunden hätten! Unter diesen Beob-
achtern befinden sich in erster Linie Dujirdin, Max Schultzi, Huxliy,
GLAPARtoB, Krohit, JoHANNBS MÜLLER, Ndturforscbcr von anerkanntem
Ruf, welche sich mit der Beobachtung der Bhizopoden monaielang,
zum Theil jahrelang beschäftigt hatten. Und diese alle sollen also
»durch ein wunderbares NaturspieU auf das Gröbste getäuscht seina!
In meinem Aufsatze »über den Sarcodekörper der Bhizopoden«
habe ich die vollständige Nichtigkeit von Rbichert's Behauptungen und die
Verkehrtheit seiner Darstellungen klar dargelegt und zugleicdi die hi-
storischen Verhältnisse dieses seitsamen Conflictes auseinander gesetzt, ^j
Indessen hat sich dadurch Bbighert nicht abschrecken lassen, seine
Publicationen Über diesen Gegenstand fortzusetzen, und in einem Auf-
satze ȟber die contractile Substanz a in eigenthttmlicher Weise zu
metamorphosiren. ^} Durch welche Verstösse und Verdrehungen sieb
diese angebliche Bechtfertigung (in der That aber Umgestaltung) seiner
früheren Ansichten auszeichnet, hat bereits Max Schultze in seinem
Aufsatze »Reichert und die Gremien o gezeigt.')
Soeben erscheint nun eine umfangreiche Abhandlung von Rbi-
CBBBT ȟber die contractile Substanz (Sarcode, Protoplasma)
und ihre Bewegungs-Erscheinungend,^) welche die letzter-
wähnte Publica tion weiter ausführt, und welche zu den erstaunlichsten Er-
zeugnissen der neueren zoologischen Literatur gehört. Man glaubt sich
beim Lesen derselben ungefähr um ein halbes Jahrhundert zurückver-
setzt. Unter Anderen werden den Coelenteraten die Epithelialzellen
abgesprochen und die beiden epithelialen Bildungshäute (Ectodenn und
Bntoderm] aus denen nach den übereinstimmenden Beobachtungen
aller neueren Naturforscher die Coelenteraten sich entwickeln, rund-
weg geleugnet! Sodann wird noch immer mit der grössten Hartnäckig-
keit die Existenz von nackten, membranlosen Zellen geleugnet, obwohl
nun schon seit vielen Jahren so zahlreiche Beobachtungen jene be-
strittene Existenz bezeugen, dass der nackte (kernhaltige) Plasma-
kiiunpen als dei* ursprüngliche Zustand der allermeisten Zellen ange-
sehen werden kann und die Membran immer erst als seeundäre Bildung
4) Zeitschrift für wisseusch. Zool. Bd. XV, 4S«5, p. tk%.
t) Monatsberichte der Berlio. Alcad. 4S«5, p. 404.
8) Max Schultze, Archiv für mtkrosk. Anat Vol. II, IS66, p. 440.
4) Abfaandl. der Berlin. Aked. 4867, p. 454^293.
Monographie 4er Mönem. 111
erscheint. Ferner ist dazwischen vop »kieselformigen Geschöpfen«
(wahrscheinlich Diatomeen?] die Rede^) u. s. w. Alle diese Ungeheu-
erlichkeilen berühren tu» hier nieht, wohl aber die Art und Weise, in
welcher Rbichbrt das Haupithema behandelt und die Sarcodetheorie
verdreht; diesa' verlangt hier nothwendig eine entschiedene Abferti-
gung. Ich will mich dabei möglichst kurz fassen und die Hauptpuncte
des Stroilies in den Vordergrund stellen.
In seinen oben erwähnten Aufsätzen, welche »die Irrlehre von der
Sarcode klar und unzweideutig an den Tag legen« sollten, concentrirte
RKiGHsaT unter den mannichfaltigsten Wendungen seinen vernichten-
den Angriff in folgenden Behauptungen: 1)die Pseudopodien sind so-
lide contractile Faden , welche sich niemals verästeln , 9) diese Fäden
verschmelzen niemals mit einander durch wahre Anastomosen , 3)
daher können auch niemals die Fäden durch häutige Platten verbunden
werden, 4j die Kömchen auf den Pseudopodien sind »Schlingen, wdche
unter dem Bilde eines Korns auf der Oberfläche der Fäden hinhttpfen.«
Vergleichen wir nun diese einzelnen Behauptungen mit seiner neuesten
ausführlichen Arbeit, weiche jene in allen Puncten bestätigen soll.
i) Die Verästelung der Pseudopodien. Nach Rbichbat^s
früheren Behauptungen kommt diese niemals vor und die schein-
bare Verästelung soll «durch Auf- und Ablösung eines Bündels von Pseu-
dopodien« entstehen. Jetzt behauptet derselbe das Gegentheil, dass
nämlich wirkliche Verästelung der Pseudopodien vorkommt,
welche durch eine Gontractionsbewegung bewirkt werde! !
2; Die Verschmelzung der Pseudopodien. Nach Rn-
cbsbt's früheren Behauptungen kommt diese niemals vor, und die
scheinbare Verschmelzung soll durch Aneinanderlagerung frei ge-
wordener Fäden oder scheinbarer Aeste entstehen. Jetzt behauptet
derselbe das Gegentheil, dass nämlich wirkliche Verschmelzung
der Pseudopodien vorkommt, indem die Pseudopodien »selbst in kür-
zererZeit mit gleichartigen Theilen unter dem Scheine des Zusammen-
fliessens verwachsen«!!
3) Die Plattenbildung der Pseudopodien. Nach Rbi-
cbbet's früheren Behauptungen kommt diese niemals vor, und die
scheinbare Bildung der schwimmhautähnlichen ^arcodepiatten an
den anaston^osirenden Pseudopodien soll dadurch entstehen, »dass bei
den unter einem spitzen Winkel gekreuzten und einander genäherten
4) EbeDSogut als voD Bkieselförmigen G^^schöpfen« Icöonte mao auch
vou einem »schwef elf Ö rm igen Reichert« reden I Beide Ausdrücke wfireo
gleich siBBvoll und (Ur den klaren Geist des Berliner Aoatoroeo bezeichnend.
112 '' £riist HarM,
Pseudopodien , oder richtiger Pseudopodien -Bündeln einzelne in ihnen
enthaltene Fäden aus ihrer Lage gerückt und in dem Winkel zur Bil-
dung einer scheinbaren Plalte zusainmengesehoben werden, a Jetzt
behauptet derselbe das Gegentheil, dass nömlieh wirkliche Plat-
tenbildung der Pseudopodien vorkommt, und dass die »häutigen Platten
der contractilen Substanz in das Sarcodenetz dadurch eingeschoben
werden , dass eine Portion contractiler Substanz, aus welcher Pseudo-
podien entwickelt sind , die Verbindung mit dem übrigen Theile der
contractilen Rindenschicht nur durch einen feinen pseudopodienartigen
Faden unterhält.« I !
4j Die kornchenströmung der Pseudopodien. Nach
Rbicbbrt's früheren Behauptungen existiren gar keine Körnchen in der
Sarcode, und die scheinbaren Kömchen soUen »hüpfende Schlingen
der Fäden seinol Jetzt behai^tet derselbe das Ge gentheil, dass
nämlich wirk liehe Körnchen neben den scheinbaren vorkommen,
und dass diese letzteren »kleinste warzenartige Erhebungen der con-
tractilen Substanz sind.« Wie Max Sghultzb schon 1 866 voraussagte,
hat also nun wirklich die von Reichert in Aussicht gestellte Entdeckung
der wirklichen Körnchen , die allen Beobachtern der Rhizopoden seit
mehr als dreissig Jahren bekannt sind, stattgefunden 1 1
Wie man sieht, sind Reichert's neueste Darstellungen in
allen Hauptpuncten genau das Gegen theil seiner frühe-
ren Behauptungen. Diess hindert ihn jedoch nicht, ganz naiv gleich
im Eingange seiner Abhandlung zu behaupten, dass er jetzt für jene die
ausführlichen Beweise bringe, und dass er damit die Sarcodetheorie,
»welche wie ein Alpdrücken jahrelang auf vielen und namhaften Natur-
forschern gelastet hata, vollständig vernichtet habe. In der That, man
weiss nicht, worüber man in dieser Abhandlung mehr erstaunen soll,
über die unglaubliche Unkenntniss einer Masse von längst bekannten
und allgemein anerkannten Tbatsachen, oder über die absichtliche Miss-
deutung und Verdrehung der klarsten Verhältnisse, oder über die
dreiste Sophistik, mit welcher die Sachlage des Streites geradezu auf
den Kopf gestellt wird , und mit der der Verfasser sich den Anschein
giebt, endlich die Thatsachen entdeckt zu haben, welche er früher
allen übrigen Beobachtern gegenüber auf das Hartnäckigste leugnete !
Für das inductive logische Schlussverfahren Reichert's ist vielleicht
Nichts bezeichnender, als dass seine sämmtlichen neuen Beobachtungen,
durch die er angeblich die Sarcodetheorie vernichten will (in
der That aber sie adoptirt!) auf eine einzige Monothalamie
(Gromia oviformis] sich beziehen, und dass er dadurch allein die
gleiche Beschaffenheit für sämmtliche Polythalamien nachgewiesen
^rjX.
MoDognpbie der Sloni>r)M(. 1 1 3
haben will ! Es wäre ganz eben so logisch, wenn Rbichbrt behauptete,
dass sämmtliche Polythalainien eine einkammerige (nicht viel-
kammerige] Schale besiteen ; denn G r o m i a (eine Monothalamie]
besitzt offenbar eine/ein kammerige Schale! Man könnte auch eben
so gut und mit /dem gleichen Rechte behaupten , dass allen placentalen
Säugethieren. die Placenta fehlt. Denn die Beutelthiere haben keine
PlacenUf und sind doch auch Säugethiere I
Es wärde nicht der Mühe lohnen, Rbighebt's neuestem Machwerke
hier so viele Zeilen zu widmen, wenn nicht zwei Umstände diese ener-
gische Verwahrung dringend erheischten. Die Meisten werden geneigt
sein, die verworrene Darstellung und die offenbaren Widersprüche der
REicHEET'schen Publicationen einfach einer intellectuellen Rückbildung
desselben zuzuschreiben. Wenn bloss senile Degeneration seines Ge-
hirns die wirkende Ursache wäre, würde man Mitleid und Schonung
mit ihm haben müssen. Diess ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr
geht durch die ganze Schrift die dreisteste sophistische Verdrehung
der Thatsachen, und die sichtlichste Unwahrhaftigkeit hin-
durch. Nachdem Rbichbrt eingesehen, in welchen Sumpf er durch
seine ersten Mittheilungen über die Sarcode-Bewegung etc. gerathen,
sucht er sich dadurch herauszuziehen, dass er den von Anderen längst
dargestellten wahren Sachverhalt in neuen möglichst dunkeln Wen-
dungen und schwer fasslichen Ausdrücken wiedergiebt, und ihn als
seine neue Entdeckung preist. Dabei scheut er sich z. B. nicht, gleich
in einem der ersten Sätze scheinbar Jobanubs Müller als Zeugen für
seine Darstellung aufzurufen (p. 4 54 ) , obgleich bekanntermassen die
Beobachtungen und Anschauungen JoHAintBS Müllbr's über den Sarcode-
körper der Polythalamien und Radiolarien vollkommen mit denjenigen
aller übrigen Autoren seit Düjarbin übereinstimmen !
Der zweite Punct, gegen welchen von vornherein entschiedener
Protest eingelegt werden muss, ist Rbicbbrt^s Darstellung von dem
» Sarcodekörper « der Hydromedusen, insbesondere der Hydroidpo-
lypen. Nachdem Rbichbrt mit seinen Untersuchungen auf dem Gebiet der
Rhizopoden so kläglich Schiffbruch gelitten , flüchtet er sich auf das
Gebiet der Hydromedusen hinüber, und versucht hier gleiche Verwir-
rung anzurichten. Es klingt fast unglaublich, dass Rbichbrt hier
nicht einmal im Stande ist , die einfachsten , längst bekannten und
jederzeit augenblicklich zu demonstrirenden Structurverhältnisse
wahrzunehmen, wie z. B. die beiden epithelialen Bildungshäute (Ecto-
derm und Entoderm) , oder di^ Entwickelung der Nesselkapseln in Epi-
thelialzellen. Dies hindert ihn jedoch nicht, gleich auf der zweiten Seite
seiner Untersuchungen über »Campanularien, Sertularien und Hydriden«
Band IV. 1. 8
114 ErDsi Hilekel,
die ganze bisherige anatomische Erkenntniss des Hydroiden-Organis-
raus für einen grossen Irrthum zu erklären und auf Grund seiner un-
glaublich oberflächlichen Untersuchung einigw.Hjdroid-Polypen folgen-
den Salz auszusprechen : »Weder die üebereinstitnmung im einfachen
Uohlkörperbau des Organismus und wohl noch weniger, der gleichartige
äussere Habitus und eine gleichartige Bildung der In^ividuenstöcke
dtlrften unter solchen Umständen die von Lbugkart aufgestellte Thier-
klasse der C o eleu t er ata in ihrer gegenwärtigen Fassung zu hatten
im Stande sein«! I Sehr weise setzt Reichert dann gleich den Satz
hinzu: »Ich muss mich des Versuchs enthalten, die Grenzen auch nur
anzudeuten, innerhalb welcher voraussichtlich die Sonderung dieser
Thierklasse sich vollziehen werde« 1 1
Der weitere Verlauf von Reighbrt^s Coelenteraten-Studien lässt sich •
nach diesem hübschen Anfange und nach Analogie der Polythalamien-
Studien bereits im Voraus bezeichnen. Die Monatsberichte und Ab-
handlungen der Berliner Akademie werden eine Reihe von Aufsätzen
bringen , in denen zunächst alle bisherigen Beobachter der Coelente-
raten als unfähige und im gröbsten Irrthum begriffene Beobachter dar-
gestellt werden , deren » Phantasie durch ein wunderbar mikroskopi-
sches Trugbild irre geleitet ist.a Dann zeigt Reichert, wie sich Alles
ganz Anders verhält, als man bisher annahm, nähert sich jedoch all-
mählich unter dunkeln und versteckten Wendungen und Windungen
den von ihm geradezu bestrittenen Darstellungen und reproducirt
schliesslich dieselben im neuen Gewände seiner glücklicherweise einzig
dastehenden individuellen Ausdrucksweise. Da Reichert bei den Poly-
thalamien sechs Jahre zu diesem Kreislauf der Vorstellungen brauchte,
wird er vermuthlich bei den Coelenteraten, deren wirkliche Structur
viel allgemeiner anerkannt ist, mindestens zwölf Jahre nötbig haben,
um die »Irrthümera der anderen Naturforscher schliesslich als seine
Entdeckungen auf den Markt zu bringen. Sollte Reichert also zum
Heil der Wissenschaft noch bis zum Jahre 4 880 leben , so würde er
dann wahrscheinlich zu der heute bereits allgemein anerkannten Vor-
stellung vom Bau der Coelenteraten gelangt seini Zufällig habe ich
mich in den letzten Jahren anhaltend mit der Untersuchung der feineren
Structur der Ilydromedusen beschäftigt , und bin daher zu dem Aus-
spruch berechtigt, dass fast sämmüiche neuen Angaben Rbichbrt^s über
den Bau der Hydroiden ebenso verkehrt, falsch und werthlos sind, wie
seine früheren Angaben über den Bau der Polythalamien.
Man verzeihe die Bitterkeit dieser Polemik und entschuldige sie
durch den gerechten Ingrimm, den ich als dankbarer Schüler und
waruier Verehrer des grossen Johannes Müller empfinden muss , wenn
f
Monographie der Montren. \ \ 5
ich an diese inielleciuellen und moralischen Functionen seines unmittel-
baren Nachfolgers denke./' Wenn durch Johaxubs Müller innerhalb
eines Vierteljahrhui\rf©ris der anatomische Lehrstuhl der Berliner Uni**
versität über alju übrigen erhoben wurde, ist es nun seinem Nachfolger
gelungen, innerhalb eines Decenniums ihn in gleichem Maasse zu ernie-
drigen. Sa -Müller die lange Reihe seiner glänzenden Arbeiten mit den
RhisHqpoden geschlossen hatte, dachte Reichert wahrscheinlich, er
müsse da wieder anfangen, wo sein grosser Voi*gänger aufgehört hatte,
und wurde dabei offenbar von der Hoffnung getragen , ihn baldigst zu
überflügeln! Mit welchem Erfolge dies geschah, liegt vor den Augen
Aller, welche die einschlagende Literatur kennen und die Objecto selbst
in der Natur beobachtet haben !
Die Protoplasmatheorie, welche ich für eine der ersten und
wichtigsten Grundlagen einer wahrhaft monistischen, d.h. mechanisch-
causalen Erkenntniss der organischen Natur halte, darf seit dieser
letzten Wendung ihrer Geschichte als neu befestigt und gekrilftigt an-
gesehen werden. Die Vernichtung drohenden Angriffe ihres Gegners
sind durch denselben allmUhlich zu Verdrehungen und zuletzt zu Be-
stätigungen geworden.' Für die wahre Natur der Sarcode aber, als
eines wirklich einfachen und structurlosen »Lebenssloffes«, dürfte die
Naturgeschichte der vorstehend beschriebenen Moneren weitere direcle
Beweise liefern.
IV. Begrenzung des Protistenreiches.
Seitdem Charles Darwin die von Jean Lamarck und Wolfgang
Goethe begründete Descendenz-Theorie von dem Scheintode oder
richtiger von dem Todtschweigen eines halben Jahrhunderts zu neuem
Leben erweckt und durch seine Selections-Theorie auf ein uner-
schütterliches causal-mechanisches Fundament gestellt hat, ist die Auf-
gabe der ordnenden Systematik eine ganz andere und eine unendlich
höhere geworden. Bisher war in den Hunden der meisten Zoologen und
Botaniker die Systematik eine wissenschaftliche Spielerei, welche sieb
an der Formenverwandtschaft der ähnlichen Nalurkörper ergötzte, ohne
an ihre wirkliche, dieser zu Grunde liegende Blutsverwandtschaft zu
denken. Die Hauptbeschllfligung der meisten systematisirenden Natur-
forscher bildeten endlose und höchst unnütze Streitigkeiten über die
Frage, ob diese oder jene Thier- oder Pflanzenform eine )>gute(( oder
»schlechte Art«, eine Subspecics oder Variet^H, ein Subgenus oder Ge-
nus sei, ohne dass es den grübelnden Gelehrten dabei eingefallen wnre,
sich vorher den Umfang und den Inhalt dieser Begriffe klar zu machen.
8*
116 Ernst HSekel,
Jetzt dagegen, wo die Unhaltbarkeit derselben als absoluter, ihr eigent-
licher Werth als relativer Begriffe erkanlil;-v^o die » wirkende Ursache «
der Formen Verwandtschaft in der »Blutsverwamk^chafta entdeckt ist,
tritt an die Systematik die ungleich höhere , schwierigere und interes-
santere Aufgabe, durch die Aufstellung des »natürlichen. Systems a den
Stammbaum, die Abstammungsverhältnisse der verwandtea Gruppen
hypothetisch möglichst annähernd festzustellen.
Nirgends stösst diese Aufgabe auf grössere Schwierigkeiten , als
bei den niedrigsten und tiefststehenden Organismen. Es ist verhält-
nissmässig leicht, den Stammbaum der Wirbelthiere mit annähernder
Sicherheit festzustellen, wenn man damit die ausserordentlichen Schwie-
rigkeiten vergleicht, die dem Stammbaum der sogenannten Protozoen
sich entgegenstellen. Während dort überall bestimmte, hoch und viel-
seitig differenzirte Organsysteme feste Handhaben darbieten, ist hier
Nichts von solchen Organsystemen vorhanden. Während dort längst
eine Anzahl von Klassen und Ordnungen als wirkliche natürliche Grup-
pen anerkannt sind, kann man dies hier von wenigen Gruppen behaup-
ten. Dort ist ein zusammenhängendes und reiches Material durch die
Erfahrung von Jahrhunderten angesammelt; hier sind kaum seit ein
paar Jahrzehnten lockere Sammlungen von vereinzelten Thatsachen be-
' kannt geworden. Kein Wunder daher, wenn in der Systematik jener
niedrigsten Organismen noch heute die grauenhafteste Verwirrung
herrscht, und Jeder sich sein eigenes System macht.
Ich habe in meiner generellen Morphologie den Versuch gemacht,
in dieses systematische Chaos dadurch einiges Licht zu bringen, dass
ich als eine besondere Abtheilung zwischen echte Thiere und echte
Pflanzen alle jene zweideutigen Organismen niedrigsten Ranges stellte,
welche weder zu jenen noch zu diesen unzweifelhafte nähere Beziehungen
zeigen, oder thierische und pflanzliche Charaktere in der Weise verei-
nigt und gemischt besitzen, dass seit ihrem Bekanntwerden ein endloser
Streit über ihre SteUung im Thier- oder im Pflanzenreich geführt wird.
Offenbar wird dieser Streit am einfachsten dadurch geschlichtet, dass
man die streitigen und zweifelhaften Zwischenformen vorläufig (wenn
auch nur provisorisch) sowohl von den echten Thieren , als von den
echten Pflanzen abtrennt und in einem besonderen organischen »Reiche«
vereinigt. Man gewinnt dadurch den Vortheil , sowohl echte Thiere als
echte Pflanzen durch eine klare und scharfe Definition bezeichnen zu
können ; und andererseits wird die Aufmerksamkeit den bisher so ver-
nachlässigten und doch so äusserst wichtigen niedersten Organismen in
besonderem Maasse zugewendet. Ich habe jenes zwischen Thierreich und
Pflanzenreich mitten inne stehende und zwischen beiden vermittelnde
r
Monographie der M^ren. 117
Grenzgebiet das Protistenreich genannt. (Gen. Morphol. Yol. I.
p, 203; Vol. II, p. XX, p.'WS).
* Natürlich habe/ielf durch diese Trennung der Protisten einerseits
von den Pflanzen^ andererseits von den Thieren , keineswegs eine ab-
solute und dauernde Scheidewand zwischen diesen drei organischen
Reichen Nffichten wollen. Vielmehr halte ich es für sehr wahrscheia-^
lichv^ass sowohl die Thiere als die Pflanzen aus den Protisten , und
zwar ursprünglich aus einfachsten Protisten , aus Mo^neren , ihren Ur- «
Sprung genommen haben. (1. c. Vol. II, p. XX. p. 403, Taf. I). Vor-
läufig halte ich es jedoch aus praktischen Gründen fttr zweckmassig, die
Protisten sowohl von den Pflanzen als von den Thieren im Systeme
ganz zu trennen.
Inder systematischen Einleitung zu meiner )»allgemeinenEntwicke-
lungsgeschichte« habe ich folgende acht natürliche Hauptgruppen
oder »Stämme« (Phylen) von Protisten unterschieden:
I. leien« Moneren.
4. Gymnomonera (Protogenes, Protamoeba etc.)
2. Lepomonera (Protomonas, Vampyrella etc.)
II. Prttoplasta. Protoplasten.
\. Gymnamoebae (Autamoeba, Petalopus, Nuclearia etc.)
2. Lepamoebae (Arcella, Difflugia, Euglypha etc.)
3. Gregarinae (Monocystidea et Polycystidea).
ni. Matesea. Eieselzellen.
IV. flagellata. Geisseischwärmer.
(. Nudiflagellata (Euglena, Spondylomorum etc.)
2. Cilioflagellata (Peridinium, Geratium etc.)
V. lyiMiyeetes. Schleimpilze.
VI. HedOieae. Meerleuchten.
VU. Ihhepeda. Wurzelfüsser.
\. Acyttaria (Monothalamia et Polythalamia).
2. Heliozoa (Actinosphaerium Eichhornii).
3. Radiolaria (Monocyttaria et Polycyttaria).
VIII. Speagiae. Schwämme.
4. Autospongiae.
2. Petrospongiae.
118 ^rnst Haekel,
Seit der Unterscheidung dieser acht ProUstengruppen iai eine Sbeue
Ginippe von Orgsrnismen niedersten Rangeriiekannt geworden, welche
in keine Von diesen acht Abiheiiungen sich ohne SWv«^ einreihen lasi^en,
udd welche gleich den letsteren eine derartige Mischung von tbieriscben
und pflanzlichen Gharaktei*en zeigen, dasa sie ebenso wenig. als echte
Pflanten, wie als echte Thiere angeseheli Werden können. S»i«ind dies
die merkwt&rdigen Labyrinthuleen (Labyrinthula vitellina^
/ V L. macrocystis), welche von dem uro di^ Naturgeschichte der Pro-
tisten hochverdienten Cubnkowski itn Hafen von Odessa entdeckt worden
sind. ^) Jedenfalls müssen dieselben vorläufig als eine ganz besondere
Protistengruppe betrachtet werden.
Während so einerseits das Reich der Protisten durch die Labyrin-
thuleen um eine besondere Klasse vermehrt wird, so dürfte es anderer-
seits jetzt hinreichend begründet sein, eine andere Gruppe von Protisten
aus diesem Reiche zu entfernen , und als entschiedene Thiere in das
Thierreich zu verweisen. Dies sind die Schwämme oder Spon-
g i e n , für deren Ihierische Natur in neuester Zeit sehr entschiedene
morphologische Indicien entdeckt worden sind. Bereits seit 1 854 hat
Lecgkart , der verdienstvolle Begründer des Goelenteratenstammes , in
seinem Jahresbericht über die Fortschritte der Zoologie (im Archiv für
Naturgeschichte) die Spongien oder Poriferra mit den Coelenteraten
vereinißt, indem er das Canalsystem der Schwämme mit dem coelen-
terischen Gastrovascularapparat der echten Coelenteraten verglich.
Im vorigen Winter hat mein Schüler und Assistent, Herr Stud.
Mklucdo-Maglay aus Petersburg, während unseres Aufenthaltes auf der
canarischen Insel Lanzarote die ausserordentlich reidne Sehwammfauna
dieser Küste eingehend untersucht, und wie ich mich durch eigenen
Augenschein überzeugt habe , dabei neue Schwammformen gefunden,
deren Anatomie für die nähe Ver\Vand(schaft der Spongien mit den Coe-
lenteraten weit kräftigere Beweisgründe liefert, als wir bisher besassen.
So hat namentlich Herr Miklugbo einen Kalkschwamm (Guancha
blanca) entdeckt, welcher Sycon und Ute nahe steht, dessen ganzes
Gefässsystem aber aus einer einfach^il cylindrischen Leibeshöhle, einer
verdauenden Cavität, wie bei den einfachsten üydrdiden besteht. Die
sogenannten Schornsteine (Camini) der Spongien sind nicht blos Aus-
strömungsöfTnungcn, wie man bisher annahm, sondern sie dienen auch
zur Aufnahme von Wasser und Nahrung. Ihre Oeflnung nach Aussen
4) L. CiENKOwsKi, Ueber den Bau und die Entwickclung der Labyrinthuleen.
Max Schultze's Archiv für mikrosk. Anat. Vol. III. 1867. p. 274. Taf. XV, XVI,
XVII.
f
r
Monographie der Mqieren. 119
isl zugleich Mund und After. Mit einesli Wort , die Schornsteine sind
den Magenhohlen der Goeleitoraten und zunächst der Polypen analog
und aller WahrschoMfchkeit nach zugleich homolog. Die von den
SelMymsteinen ausgehenden Ganäle entsprechen den Ganälen, welche
sieh im Parencftym vieler Anihozoen verzweigen. Was mir aber von
dergrösstes^ichtigkeit erscheint, diese Magenhöhle zerfallt bei raeh-
r^renr'&fawämmen (Axinella und Anderen) durch radiale Schei-*
dewHndeinFächer (von verschiedener oder constanter Zahl, nament-
licfaachtl), und dadurch erscheint der ganze Leib des Schwamm^
Individuums ansein er bestimmten Anzahl von Antimeren
•
zusammengesetzt. Den Mangel der Antimerenbildung hatte ich aber
bisher für einen der wichtigsten morphologischen Unterschiede zwischen
Spongien und Goelenteraten gehalten. Auch durch die ähnliche Art
der Stockbildung u. s. w. wird die nahe Verwandtschaft der Spongien
und AnthoKoen noch wahrscheinlicher. Kurz, ich halte es jetzt für das
Richtigste, nach Leuckart's Vorgang die Spongien mit den Goelenteraten
im System zu vereinigen, und halte daher auch einen gemeinsamen Ur-
sprung beider Gruppen Ihr sehr wahrscheinlich. Das Phyhim der Goe-
lenteraten würde demnach in zwei Subphylen zerfallen: 1. Spon-
giae (Goelenteraten ohne Nesselorganej 4. Petrospongiae.
2. Autospongiae. II. Acalephae^) (Goelenteraten mit Nessel-^
Organen) \, Anthozoa. S. Archydrae. 3. Hydromcdusae. 4. Gteno-
phora.
Da Herr Miklvgho seine schönen Beobachtungen liber Schwämme
demnächst veröflentlicben und die Stammverwandtschaft der Spongien
und Acalephen ausführlich entwickeln wird, so beschriinke ich mich hier
auf diese kurze Mittheilung.') Ich habe dieselbe desshalb hier angeführt,
weil mir durch die Entfernung der Spongien von den übrigen Protisten
und durch ihre Vereinigung mit den echten Thieren ein grosser Gewinn
4 ) Die VOD Aeistoteles herrührende Bezeichnung Acalephae oder K n i d a e
dürfle für die echten Goelenteraten (nach Ausschluss der Spongien) die passendste
sein, einerseits weil sie bereits deren wichtigsten Charakter, den Besitz von Nes-
selorganen, ausspricht, und sodann, weil bereits Aristoteles unter dieser Be-
zeichnung A\^ beiden verschiedenen Typen der Goelenteraten, die festsitzenden
Petra calephen (Actinien) und die frei scbwimmenden Nectacalepäen (Medusen)
zu8amD>eQfas8to («/ amnXf^ai, alutvl^ai).
2) Ein cigenthUniliches Licht wird durch diese Stammverwandtschaft auch auf
das neuerdings so viel besprochene Hyaloneraa geworfen. Sollte vielleicht doch
am Ende Schwammkörper und Polypenüberzug zusammengehören , und Hyalo-
neraa ein gerader Ausläufer von der gemeinsamen Stammgruppe der Spongien und
Acalapheo sein ?
120 ^ Ernst Hickel,
für die Systematik erzielt scheint^ Eswirdnämlichjetzt mögli ch ,
mein Protistenreich durch eine^Hkßstimmten und wich-
tigen Charakter zu bezeichnen, und ViM^den echten Thi^ren
und echten Pflanzen zu trennen: Dieser Charakleur ist der gänz-
liche Mangel der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei fast
allen unzweifelhaften Pflanzen und ebenso bei allen unzweifelhaften
Thieren findet sich geschlechtliche Zeugung (Amphigonie] von AUe
echten Protisten dagegen (alle oben genannten Gruppen mit Aus*
nahtne der Spongien) pflanzen sich ausschliesslich durch
ungeschlechtliche Zeugung (Monogonie) fort. Wenn man
diese Definition auf die genealogische Individualität erster Ordnung, auf
den Zeugungskreis (Gyclus generationis) aller drei organischen Reiche
überträgt, so ist der Zeugungskreis der Thiere und der
Pflanzen die Amphigenesis, dagegen der Generationscy-
clus der Protisten die Monogenesis (Yergl. hierüber generelle
Morphologie, Vol. II, p. 70, p. 83).
Wenn man auf Grund dieses Kriteriums die Trennung der drei
Reiche scharf durchfuhren will , so wird man «inige Gruppen der nied-
rigsten Organismen, die bisher bei den echten Pflanzen standen, die
aber der geschlechtlichen Zeugung entbehrten , zu den Protisten ziehen
müssen. Es wird dies um so eher geschehen können, als ohnehin die
übrigen entscheidenden Pflanzencharaktere sich bei ihnen verwischen
und als sich anstatt dessen nahe Beziehungen zu verschiedenen Pro-
tistengruppen einstellen. Vor allen wird man berechtigt sein, die grosse
und formenreiche Klasse der Pilze (Fungi) aus dem Pflanzenreiche zu
entfernen und in die Nähe der Myxomyceten unter die Protisten zu stei-
len. Die ganze Ernährungsweise und der Stofiwechsel der Pilze, und
damit im Zusammenhang viele andere Eigenschaften (insbesondere der
gänzliche Chlorophyll-Mangel) entfernen dieselben so sehr von den
echten Pflanzen, dass bereits ältere Botaniker aus den Pilzen ein beson-
deres Organismen-Reich errichten wollten.
Aus ähnlichen Gründen wird man ferner die Phycochroma-
ceen (Ghroococcaceen und Oscillarineen) als einen Protistenstamm
betrachten können , ebenso auch vielleicht die Codiolaceen (Codiolum
etc.). Andererseits wird man die durch geschlechtliche Zeugung aus-
gezeichneten Yolvocinen von den Flagellaten trennen und den echten
Algen zurechnen müssen. Derartige Versetzungen werden in der näch-
sten Zeit noch viele vorkommen, je nachdem unsere Kenntniss der einen
oder anderen Gruppe voraussichtlich vollständiger wird. Keinenfalls
aber werden wir, wie ich glaube, jemals dazu gelangen , eine absolute
Grenzscheidewand zwischen Thier- und Pflanzenreich aufzurichten,
' '
Monognphi^ der Molereo« 121
und den einen Theil der Protisten mit voller Sicherheit zu den Pflanzen,
den andern zu den TbierrfTrechnen können. Auch soll ja durch die
von mir vorgeschlagpne systematische Trennung der drei Reiche ledig-
lich' der praktis^sbe Zweck einer differentiellen Diagnostik erleichtert,
und keineswegis eine absolute Scheidung der Thiere, Protisten und
Pflanzen, ah dreier fundamental verschiedener Organismengruppen be-
h^oiplü werden. Vielmehr beharre ich bei der in meiner generellen
Moiphologie ausgesprochenen Vermuthung , dass sowohl das Thierreich
als das Pflanzenreich ihre erste Wurzel in je einem oder mehreren Pro-
listenstammen haben, wSihrend andere Protistenstämme (z. B. Diato-
meen , Myxoroyceten , Rhizopoden) sich unabhängig von jenen selbst-
siändig entwickelt haben (1. c. Vol. II, p. 106). Dass schliesslich alle
organischen Stämme an ihrer ältesten Wurzel zusammengehangen
haben mögen, ist auch wohl denkbar. Der Streit, wie viele ursprüng-
liche protistische Phylen oder Stammformen den Thierstämmen, den
Pflanzenstämmen und den noch heute existirenden Protistenstämmen
den Ursprung gegeben haben mögen, verliert aber sehr dadurch an sei-
ner scheinbaren Wichtigkeit, dass offenbar die ältesten Ursprungsformen
aller Organismen Honeren der einfachsten und indifferentesten Art,
structurlose und homogene, formlose Saroodeklumpen gewesen sein
müssen, durch Archigonie oder Generatio aequivoca entstanden.
Wie die von Cunkowsei und von mir beschriebenen Moneren zei-
gen, ist es ganz unmöglich, dieselben mit irgend welcher Sicherheit an
eine bestimmte andere Protistengruppe anzuschliessen, oder gar sie mit
Bestimmtheit entweder den Thieren oder den Pflanzen zuzurechnen.
Im Ruhezustande und während der Fortpflanzung sind dieselben mehr
pflanzlicher, im Bewegungszustande und während der Ernährung mehr
thierischer Natur. Im Ganzen aber sind sie ihrer einfachsten Natur nach
so indifferente Organismen, dass man sie als erste Anfänge jedes belie-
bigen organischen Stammes (Phylum) betrachten könnte. Wie sehr die-
selben in dieser Be^tiehung Anklänge an die verschiedensten Protisten-
gruppen zeigen, wird am Besten aus der nachfolgenden morphologischen
Vergleichung der Moneren mit den verschiedenen Protistengruppen her-
vorgehen. Bevor wir uns zu dieser wenden, erscheint es passend, die
verschiedenen organischen Stämme nochmals aufzuzählen , welche das
Protistenreich in dem soeben erläuterten Umfange zusammensetzen.
Ich wiederhole dabei nochmals, dass ich dieses »System der Protisten«
in jeder Hinsicht nur als einen ganz provisorischen Versuch und als eine
Anregung zu weiterer Bearbeitung betrachte.
122 > Ernst HIekel,
B eich der Protisten oder der mond|(<Q4ie tischen Organismen'
(Organismen, welche sich ausschließslich auf ifilgeschlechtlichem
Wege, durch Monogonie, fortpflanzeBry.
I. Gruppe : loBera«
1. Gymnomonera (Protogenes, Protamoeba etc.).
2. Lepomonera (Protomonas, Vampyrella, Protomyxaetc).
II. Gruppe: flagellata.
4. Nudiflagellata (Euglena, Spondylomorum etc.).
2. Cilioflagellata (Peridinium, Ceratium etc.).
III. Gruppe : LaliTriiiihiilea (L a b y r i n th u 1 a e) .
lY. Gruppe: Matomea (Bacillaria).
Y. Gruppe : Phjrcodironiacea (Myxophycea).
4. Chroococcacea (Gloeocapsa, Merismopoedia etc.).
2. Oscillarinea (Nostochacea, Rivulariacea etc.).
YI. Gruppe: Vnugl (Mycetes).
1. Phycomycetes (Saprolegnieae, Mucorinae etc.).
2. Hypodermiae (Uredineae, Ustilagineae etc.).
3. Basidiomycetes (HymenomyceteSjGastromycetesetc.).
4. Ascomycetes (Protamycetes, Discomytes etc.)
YII. Gruppe: lyiMiycetei (Mycetozoa).
YIII. Gruppe: Protoplasta (Amoeboida).
4. Gymnamoebae (Autamoeba, Nuclearia etc.).
2. Leparooebae (Arcella^ Diffiugia etc.).
3. Gregarinde (Monocystida et Polycystida).
/
IX. Gruppe: Noctilacae (Myxocystoda).
X. Gruppe : Rhizopoda.
1. Acyttaria (Monothalamia ot Polythalämia)
2. Heliozoa (Actinosphacrium Eichhornii).
3. Radiolaria (Monocyttaria et Polycyttaria).
Btenographie der Mo^u. 1 23
V. Vergleichendelfor'pbologie der Moneren.
m
Um die verwicUelten Beziehungen der Moneren zu den übrigen
Protisten und ül>^aupt zu den Organismen niedersten Ranges richtig
zu würdigen , erscheint es zunächst nothwendig, sich über den mor-
phologischen, oder genauer tectologischen Werth derselben zu
vefsUindigen , und ihre Individualiläls-Stufe zu bestimmen. Ich lege
hierbei die Anschauungen zu Grunde, welche ich in meiner gene-
rellen Tectologie oder Individualitälslehre (Structurlehre) der Or-
ganismen entwickelt und begründet habe. *)
Als den allgemeinen und einzig unentbehrlichen materiellen Be-
standtheil aller Organismen haben wir das Plasma oder Protoplasma
(Sarcode) , eine festflüssige stickstoflhaltige Kohlenstoffverbindung
aus der Gruppe der Eiweisskörper nachgewiesen. Dieses Plasma bildet
bei den Moneren, als den tiefst stehen den unter allen Organismen, ein-
zig und allein für sich, ohne Betheiligung anderer KOrper, den ganzen
slructurlosen Leib des vollkommen ausgebildeten Organismus. Seinem
Formwerthe nach reprüsentirt derselbe also ein einfachstes morpho-
logisches Individuum erster Ordnung, ein Plasmastück oder
eine Plastide.
Der vieldeutige Begriff der organischen Zelle ist nach dem ge-
wöhnlichen Sprachgebrauch auf diese einfachsten individualisirten
Plasmastückchen nicht mehr verwendbar. Um daher die Zellenthe-
orie, diese unentbehrliche Grundlage unserer gesammten Tectologie
auch auf die Moneren und die verwandten Protisten anwendbar zu
machen, habe ich das Yerhältniss dieser Plasmastückchen zu wirklichen
Zellen in meiner Tectologie möglichst scharf zu entwickeln versucht.
Nach meiner Ansicht sind die echten Zellen, für deren Begriff ich die
Sonderung von innerem Kern und üusserem Plasma für nothwendig er-
achte, aus den Moneren durch innere Differenzirung hervorgegangen.
Andererseits sind aus den Moneren durch Uussere Differenzirung von
Plasma und umhüllender Membran oder Schale die zellenUhnlichen,
aber kernlosen Plastidcn, die membranösen Cytoden hervorgegangen.
Durch diese systematische Unterscheidung erhalten wir folgende
vier wesentlich differonzirte Grundformen von Piastiden, oder von mor-
phologischen Individuen erster Ordnung :
I) (ȟQcreUe Morphologie. Vol. I. Drittes Duch. IX. Capitel. p. )69.
1 24 ^ Ernst HRckel,
Pla8tideii*]hclM|,.
I. Cytodae (s. C ellin ae], Gytoden. Plasmibiftücke ohne Kern.
4. Gymnocytodae (s. Cytodae nudae), NÄpktcytoden.
Nackte PlasmastUcke ohne Kern, ohne Membran oderlSchale, z. B.
die frei sich bewegenden Moneren, die kernlosen Plasmodien der Myco-
myceten und mancher anderen Protisten, die aus den Pseudonavicellen
geschlüpften amoeboiden Keime derGregarinen etc.
S. Lepocytodae (s. Cytodae membranosae), Hautcytoden.
Umhüllte Plasmastücke ohne Kern, von einer (ganzen oder unvoll-
ständigen) Membran oder Schale umschlossen, z. B. die eingekapselten
Buhezustände der Lepomoneren, viele Siphoneen und zahlreiche andere
niedere Pflanzen, die sogenannten »kernlosen Zellen« vieler höheren
Pflanzen und vieler thierischen Gewebe.
II. Cellihe (s. Cyta}, Zellen. .Plasmastücke mit Kern.
4. Gymnocyta (s. Cellulae nudae), Nacktzellen.
Nackte Plasmastücke mit Kern, ohne Membran oder Schale, z. B.
die echten Amoeben (Autamoeben), die nackten Schwärmsporen der
Algen, die Eier der Siphonophoren und anderer Thiere , die farblosen
Blutzellen , viele Nervenzellen und überhaupt sehr viele andere Zellen
der Thiere etc.
2. Lepocyta (s. Cellulae membranosae], Hautzellen.
Umhüllte Plasmastücke mit Kern , von einer (ganzen oder unvoll-
ständigen) Membran oder Schale umschlossen, z. B. die Diatomeen, die
meisten jugendlichen Pflanzenzellen (so lange sie noch einen Kern be-
sitzen), die Eier der meisten Thiere, und überhaupt sehr viele thie-
rische Zellen etc.
Offenbar beruht das hohe Interesse der Moneren vorzugsweise
darauf, dass sieGymnocytoden, d. h. Piastiden der allereinfachsten
Art sind, und dass also sämmtliche übrige Piastidenarten , wie sie den
Körper aller Organismen bilden, auf sie zurückzuführen sind. Die Phy-
logenie , die palaeontologische Entwickelungsgeschichte der organischen
Stämme »(Phylen) ist nothwendig zuletzt gezwungen, auf archigone
(durch Generatio aequivoca entstandene) Moneren als auf die erste Wur-
zel aller verschiedenen Organismengruppen zurückzugehen. Aus den
Monographie der Hcumn. 125
Gymnocytoden als den ursprünglicheo. Plastidenfonnen (einfachsten,
vollkommen homogenen Plawa^slUckchen) entstanden einerseits durch
äussere Differenzirun&.y6n Plasma und Membran die Lepocytoden , an-
dererseits durch innere Differenzirung von Plasma und Kern die Zellen *
und diese letzU$ren zerfielen dann wieder in Hautzellen und Nackt-
zellen, je ]MChdem sie sich mit einer Membran umgaben oder nicht.
Auf dijMS vier Grundformen der Piastiden lassen sich alle übrigen Zellen
mkd Zellenformen, und überhaupt alle histologischen Elemente zurück-
führen , wie ich in meiner genereilen Tectologie ausführlich entwickelt
habe (Gen. Morph. Vol. I, p. 269—303).
Bestimmen wir nun nach diesem Maassstabe den morphologischen
Werth aller bis jetzt bekannt gewordenen Monerenformen, wie ich die-
selben im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes übersichtlich zusammen-
stellen werde, so gelangen wir zu folgendem Resultate :
i. Alle Moneren bleiben zeitlebens Gytoden; niemals
gehen sie in den höheren Formzustand der Zelle über, da niemals in
ihrem Protoplasma sich Kerne differenziren.
2. Alle Moneren sind in vollkommen ausgewachse-
nem und frei beweglichem Zustande Gymnocytoden; nie-
mals besitzen sie in diesem Zustande eine Membran oder Schale oder
eine sonstige Hülle. ^
3. Die Gymnomoneren (Protogenes, Protamoeba, viel-
leicht auch Myxodictyum?) bleiben zeitlebens Gymnocy-
toden; sie gehen nicht in einen Ruhezustand über und umgeben sich
nicht mit einer Hülle.
4. Die Lepomoneren (Protomonas, Protomyxa, Yam-
pyrella, Myxastrum) werden aus ursprünglichen Gym-
nocytoden später Lepocytoden, indem sie behufs der Fortpflan-
zung in einen Ruhezustand übergehen und sich dann mit einer Hülle
oder Schale umgeben.
5. Einige Moneren (Protogenes, Protamoeba) blei-
ben zeitlebens einzelne, isolirte Gytoden, permanente In-
dividuen erster Ordnung , indem die durch den Fortpflanzungsprocess
entstehenden neuen Individuen (Bionten) sich sofort von dem elterlichen
Organismus trennen, oder indem dieser einfach in zwei Stücke zerfällt.
6. Andere Moneren (Myxodictyum und alle Lepomoneren)
bilden zeitweilig Individuen zweiter Ordnung oder Or-
gane (in rein morphologischem Sinne) , indem während der Fortpflan-
zungszeit die neu gebildeten Individuen (Schwärmsporen, Tetraplasten,
Theilstücke, und andere Keimformen) eine Zeit lang zu einer Cytoden-
colonie (Organ) vereinigt bleiben.
\ 26 ''^ ^rnst liiCckel,
In diesen sechs Sätzen tsi4l\e vollständige morphologische Charak-
teristik der Moneren enthalten. Da'zu mnmt dann noch das physiolo-
gische Kriterium der ausschliesslich ungeschledlüUjchen Fortpflanzung.
Wenn wir nun, unter steter Berücksichtigung dieser charakteristi-
schen Eigenthümlichkeiten, die Moneren mit den übrigen Organismen
und besonders mit den nächstverwandten Protisten veiigleichen , so
werden wir leichter einerseits den besonderen Charakter der Moneren-
gruppe, andererseits die mannichfaltigen Yerwandtschaftsbezichungen
derselben zu den übrigen Gruppen erkennen. Ich werde also der Reihe
nach die den Moneren nächstverwandten unter den vorstehend aufge-
führten Protistengruppen einzeln mit den Monei^n vergleichen.
I. Moneren und Rhizopoden.
Von allen Organismen stehen die echten Rhizopoden den Moneren
{etwa mit Ausschluss der Protamoeba) am nächsten. Ich beschränke
dabei die natürliche Gruppe der echten Rhizopoden, wie ich in meiner
generellen Morphologie gethan habe, (nach Ausschluss der Protoplasten
oder Amoeboiden) auf die drei Classen der Acyttarien (Monothalamien
und Polythalamien, oder Imperforaten und Perforaten), derlleliozoen
(bis jetzt nur aus dem eigenthümlichen Actinosphaerium Eich-
hornii Stein, Actinophrys Eichhornii Ehrenberg, gebildet)
und der Radio larien (Monocyttarien und Polycyttarien). Die aller-
meisten von diesen echten Rhizopoden unterscheiden sich von den Mo-
neren dadurch, dass sie in frei beweglichem und vollkommen ausgebil-
detem Zustande ein Skelet oder eine Schale besitzen. Die wenigen üb-
rigen Rhizopoden, welche dieses Skelets o'der dieser Schale entbehren,
(Actinosphaerium, Thalassicolla, Physematium, Collo-
zoum) unterscheiden sich von den Moneren durch die DifTerenzining
von Kernen im Innern des Plasmakörpers. Eine ganz eigenthüm liehe
Stellung nimmt die gewöhnlich zu den Rhizopoden gerechnete, sehr ge-
meine Actinophrys sol (Ehrenb.) ein, der einzige genauer bekannte
Repräsentant der echten Actinophrys. Ich würde diesen Organis-
mus am liebsten zu den Moneren ziehen und zwischen Vampyrella
und Myxastrum stellen. Die eigenthümliche sehr grosse contractile
Blase dieses Protisten würde dann als blosse Vacuole aufgefasst wer-
den müssen. Da wir jedoch trotz der Häufigkeit der Actinophrys
sol immer noch nichts Sicheres von ihrer Fortpflanzung undEntwicke-
lung wissen, muss ihre Stellung unter den Moneren vorläufig noch
zweifelhaft bleiben.. Die von Cienkowski (l. c. p. 227) beobachteten
Ruhezustände der Actinophrys sol machen ihre Stellung unter den
Monographie der MoMen. } 27
Moneren noch wahrscheinlicher. Verauithlich werden künftig ausser
der echten Actinophrys s^LH^hi^nb.) auch noch eine Anzahl nächst-
verwandter actinophrjÄörtiger Prolisten (z. B. Trieb odiscus und
Piagiophrys) zu' den Moneren zu stellen sein. ^] Die von Cienkowski
neulich beschrijBJbene Clathru 1 in a, welche ich auch bei Jena beob-
achtet habe, halte ich für einen echten Rhizopoden und stelle ihn zu
den Mpw^halamien unter die Ac^ltarien*) .
"*«
II. Moneren und Flagellaten.
Unter den verschiedenen Monerenformen zeigen die Schwärmspo-
ren der Protomonas und Protom yxa die grösste Aehnlichkcit mit
den einfachsten Formen der Flagellaten. Die letzteren unterscheiden
sich durch die DifTerenzirung von Kernen und von Hüllen. Das ausge-
bildete und frei bewegliche Flagcllat ist niemals eineGymnocytode, wie
alle Moneren im frei beweglichen Zustande sind.
HI. Moneren und Labyrinthuleen.
Unter den Moneren erinnert Myxastrum durch seine Fortpflan-
zungszustände auffallend an die Labyrinthula. Jedoch sind die ein-
zelnen Piastiden der letzteren stets kernhaltig, also echte Zellen, wäh-
rend die Moneren niemals Kerne besitzen.
IV. Moneren und Diatomeen.
Wie an die Labyrinthuleen , so erinnern die spindelförmigen kie-
selschaligen Sporen des Myxastrum auch an die Diatomeen, beson-
ders an die einfachsten Formen von Navicula. Da jedoch auch die
Diatomeen immer (?) kernhaltig, also echte Zellen sind , und da sie so*
4) Actinosphaerium Eichhornii (Stein), welches gewöhnlich noch als
Actinophrys Eichhornii (Ghrenberg, nicht KöUiker) mit der echten Acti-
nophrys sol (Ghrenberg; Actinophrys Eichhornii KOlIiker) in einem
Genus vereinigt wird, ist sehr weit davon verschieden. Bei Actinophrys sol
ist, wie bei den Moneren, der ganze Protoplasmakörper structurlos , wahrend sich
bei Actinosphaerium Eichhorniii einem echten Uhizopoden, bereits
kernhaltige Zollen in der Marksubstanz d^s Körpers diflcrenzirt haben.
2) CiKKKowsKi , Uober die Clathrulina, eine neue Actinophryen-Gattung.
\ 28 ^ E">^ BMb^
weit bekannt, niemals als nacl^e Pla^den erscheinen, so sind die Un*
terschiede von den Moneren sehr drarAigceifend.
V. Moneren nnd Myxomyceten.
Unter allen Protisten stehen nächst den echten Rkizopoden die
Myxomyceten den Moneren am nächsten. Die colossalen nackten frei
beweglichen SarcodekOrper von Protogenes, Protomyxa und flUch
von Vampyrella sind von den Plasmodien der Myxomyceten, beson-
ders der dünnflüssigen Formen, an und für sich geradezu nicht zu
unterscheiden. Nur die weitere Entwickelung lässt die Divergenz bei-
der Gruppen erkennen. Dazu kommt noch die auffallende Aehnlichkeit
in der Fortpflanzung durch Schwärmsporen bei der Protomonas und
Protomyxa. Man könnte daher diese als die einfachsten Myxomy-
ceten betrachten. Allein die Spore der Myxomyceten umschliesst einen
Rem und ist daher eine echte Zelle , während bei den Moneren über-
haupt niemals Kerne vorkommen. Hierin erblicke ich den wesentlichsten
Unterschied der Moneren und Myxomyceten , abgesehen von der viel
höheren Differenzirung des Sporangium bei den letzteren. Man könnte
jedoch den eingekapselten Ruhezustand von Protomyxa als die erste
und einfachste Anlage des Sporangiums der Myxomyceten betrachten.
Bei beiden gehen die Schwärmsporen in den Amoebenzustand über.
VI. Moneren und Protoplasten.
Auch die Protoplasten zeigen, gleich den Myxomyceten und Rhizo-
poden, sehr nahe Beziehungen zu den Moneren. Als Protoplasten habe
ich in der generellen Morphologie folgende drei Protistengruppen zu-
sammengefasst : 1) Gymnamoebae (die echten, nackten Amoeben,
mit Kern, mit oder ohne contractile Blase oderVacuole: Autamoeba,
Nuclearia, Pseudospora, Podostoma, Petalopus etc.). 2)
Lepamoebae (mit Schale oder Panzer versehene Amoeben : A r c e 1 1 a ,
Difflugia, Euglypha etc.). 3) Gregarinae (Monocystideen
und Polycystideen). Die Gregarinen sehe ich als Amoeben an,
welche durch Parasitismus rückgebildet sind. Die Moneren zeigen zu
den Protoplasten, namentlich zu den Gymnamoeben, die nächsten Be-
ziehungen. Protamoeba ist nur durch den Mangel des Kerns und
der contractilen Blase von echten Amoeben (Autamoeba) zu unter-
scheiden. Ausserdem erinnern die Pseudonavicellen der Gregarinen,
noch mehr als die »Spindelncc der Labyrinthuleen , an die spindelför-
migen Sporen des Myxastruni. Ein wesentlicher und durchgreifender
Monographie der Mo^n. 129
Unterschied Hegt aber i^eder darin, dase bei allen Protoplasten wirk-
liche Zellenkerne in der Substanz der Sarcode differenzirt sind , w9ih-
rend dies bei den Mo^imn niemals der Fall ist.
Die drei noch fl&rigen Protisten-Gruppen , die Phycochromaceen,
Pilze und Noctiliiken , zeigen weniger ausgesprochene Beziehungen zu
den Moneren^' als die fünf soeben betrachteten Gruppen, und eine be-
sondere¥^g1cichung derselben ist daher überflüssig. Jedoch schliessen
st<Ä anch die niedersten Pilze, ebenso wie die einfachsten Phycochro-
maceen, durch die Einfachheit und die niedere Ausbildungsstufe ihres
Baues und ihrer Lebenserscheinungen unmittelbar an die Moneren an.
Die einfachsten Anfänge derselben können unmittelbar aus Moneren
hervorgegangen sein.
Jedenfalls lässt sich schon jetzt aus der eben gegebenen Ueber-
sicht und aus einer einfachen Yergleichung derEntwickelungsgeschichte
der verschiedenen Protisten mit voller Deutlichkeit ersehen , dass ohne
vollständige Kenntniss der individuellen Entwickelungsgeschichte sich
die systematische Stellung der einzelnen niedrigsten Organis^nen in die-
ser oder jener Protistengruppe nicht einmal mit annähernder Sicherheit
bestimmen lässt. Ganz besonders gilt dies von allen nackten, amoeben-
artigen und actinophrys-artigen Körpern, ebenso wie von den myitomy-
ceten-arligen Plasmodien und von den flagellaten-artigen Schwärm-
sporen. Hier, wie überall in der Morphologie, ist, wie Baer sagt, die
Entwickelungsgeschichte der wahre Lichtträger für
Untersuchungen über organische Körper. Nicht minder
aber bewährt sich auch hier der wichtige Satz, dassdieDescen-
denztheorie der wahre Lichtträger für die gesammte
Entwickelungsgeschichte ist.
VI. System der Moneren.
GruppcDcharakter der MoDeren.
Organismen ohne Organe, welche in vollkommen aus-^
gebildetem Zustande einen frei beweglichen, nackten,
vollkommen structurlosen und homogenen Sarcode-
(Protoplasma-) Körper bilden. Niemals differenziren
sich Kerne (Nuclei] in dem homogenen Protoplasma. Die
Bewegung geschieht durch Contractionen der homoge-
nen Körpersubstanz und durch Hervortreiben von form-
wechselnden Fortsätzen (Pseudopodien), welche ent-
weder einfach bleiben oder ifich verästeln und anasto-
mosiren. Die Ernährung geschieht in verschiedener
Band IV. I. 9
130 -^ Erost Hüekel,
Weise, meist nach Art der jQJnzopoden. Die Fortpflan-
zung geschieht nur auf ungescU«chtlichem Wege (durch
Monogonie). Oft, jedoch nicht imm^«, wechselt der frei
bewegliche Zustand mit einem Ruhezustande ab, wdh~
rend dessen sich der Körper mit einer ausgeschwitzten
structurlosen Hülle umgiebt (encystirt). Alle Moneren
leben im Wasser.
Elaste Abtheilung der Monerengruppe :
Gymnomonera.
«
Moneren ohne Ruhezustand und Hüllenbildung.
Der frei bewegliche Zustand des Moneres wird von
keinem Ruhezustande mit Hüllenbildung unterbrochen.
Genus I : Pr«taBi«eba Hasgkel. ')
Habckel, Generelle Morphologie. 4866. Vol. I. p. 133.
Gattungscharakter: [Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Yacuolenbildung, welcher einfache, nicht verästelte und
nicht anastomosirende Foitsätze treibt, und sich durch Zweitheilung
fortpflanzt.
Species: Protamoeba primitiva Hasckbl.
Taf. HL Fig. 25—30.
Generelle Morphologie. 1866. Vol. I. p. 133.
Protoplasmakörper von 0,03 — 0,05 Mm. Durchmesser, beständig
form wechselnd, mit einem oder wenigen (3 — 6) peripherischen Pseudo-
podien. Fortsätze kurz , abgerundet, stumpf , fingerförmig, höchstens
so lang als der Durchmesser des centralen Körpers.
Fundort: Ein Süsswassertümpel im Tautenburger Forst, Dom-
burg gegenüber, bei Jena. \ 863 und 1 865.
Genus H: Protagenes Haegkbl.^)
Zeitschr. für wissensch. ZooL Vol. XV. 1865. p. 360.
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Vacuolenbildung, welcher verästelte und anastomosirende
Fortsätze treibt, und sich durch Zweitheilung fortpflanzt.
4) TtQtüTfi ufioißrlf die erste Wechsel gestalt.
2] 7tQwtoy€v]jsf der Erstgeborene.
\
lloBogni^w der Motten. 1 3 1
Species: Protogenes primordialis Uabckbl.
Ueberden Sarcodekörperder Rhizopoden, 1. c. p. 360. Taf. XXVI. Fig. \ , 2.
Protoplasmakdiper bald kugelig zusammengezogen, von 0,4 — 4
Mm. Durchmesser (1. e. Fig 4), bald plattenformig ausgebreitet, von
ganz unregelmässigem Umriss, von 3 — 4 Mm. Durchmesser (Fig. 2).
Pseudopodien äusserst zahlreich (tlber tausend), sehr fein, mit sehr
sabJfeichen Verästelungen und Anastomosen.
Fundort: Mittelmeer bei Nizza. 4864.
•
Genus HI : ljx«4ietyiH Habckel.i)
(Vergl. oben p. 99).
Gattungscharakter: Mehrere einfachste formlose Protoplasma-
körper ohne Vacuolenbildung, welche verästelte und anastomosirende
Pseudopodien treiben, verbinden sich durch deren Anastomosen zu ei-
nem Netz. (Die Fortpflanzung erfolgt wahrscheinlich durch Theilung
und durch Ablösung der einzelnen Individuen, welche dann neue Colo-
nieen bilden??).
Species: Myxodictyum sociale Ha eckel.
Taf. III. Fig. 34—33.
Protoplasmakörper an dem einzigen beobachteten Exemplar ein
flach ausgebreitetes Sareodenetz von 0,35 Mm. Durchmesser bildend,
zusammengesetzt aus siebzehn Moneren-Individuen, a^tinophrys-ähn-
lichen Körperchen von 0,04 Mm. Durchmesser.
Fundort: Bai von Algesiras an der Strasse von Gibraltar. 4 867.
Zweite Abtheilung der Monerengruppe :
Lepomonera.
Moneren mit Ruhezustand und Htillenbildung.
Der frei bewegliche Zustand des Moncres wird von
einem Ruhezustande mit llullenbildung unterbrochen.
Genus IV : Pr«t«B«MS Haeckbl.')
Generelle Morphologie, Vol. II. p. XXIII.
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protöpiasma-
körper, ohne Vacuolenbildung, welcher einfache oder veraslehe P^eu-
4; fiv^oiixivov, Schleiiunetz.
)) iQmofiovagt Ureinheit.
132 ^ Emst Hfekd, ^ ^
dopodien Ireibt. Fortpflanzung duQs^ SchwHrmsporen, welche in Plas-
modien zusammenfliessen. * • ' ^
Species : Protomonas amyli Uaegkel.
(Monas amyli Cibnkowski} .
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. <65. Taf. XII. Fig. 1—5.
Protoplasmakörper ein Plasmodium , welches durch Verschmelzen
mehrerer Schwärmsporen entsteht, von ungefähr 0, 02— 0, 05 Mm. Durch-
messer, mit wenigen, verästelten, sehr feinen Pseudopodien. Ruhezu-
stand eine rundliche Lepocytode, deren Membran keilförmige, nach innen
vorragende Warzen Ireibt. Schwärmsporen spindelförmig, sehr con-
tractu, mit mehreren (zwei ?) Greisseln versehen, sich nach Art einer An-
guillula bewegend.
Fundort: In faulenden Nitellen des süssen Wassers in Deutsch-
land und Russland (Cienkowski) .
Genus V: hrotom^ria Haeckel.^)
(Vergl. oben p. 71)
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper mit Vacuolenbildung, welcher verästelte und anastomosirende
Pseudopodien treibt. Fortpflanzung durch Schwärmsporen , welche in
Plasmodien zusammenfliessen.
Species: Protomyxa aurantiaca Haeckel.
Taf. II. Fig. 4—12.
Proloplasmakörper ein Plasmodium von orangerother Farbe, wel-
ches (immer ?) durch Verschmelzen mehrerer Schwärmsporen entsteht,
von 0,5 — 1 Mm. Durchmesser; mit sehr zahlreichen und sehr dicken,
baumförmig verästelten Pseudopodien, welche durch viele Anastomosen
^ein Netz bilden. Ruhezustand eine kugelige Lepocytode von 0,15 Mm.
Durchmesser, mit dicker, structurloser Hülle (Cyste). Schwärmsporen
bimförmig, am spitzen Ende kegelförmig, in eine sehr starke Geissei
auslaufend, sich nach Art der Myxomycetenschwärmer bewegend. Die
zur Ruhe gekommenen Sporen kriechen nach Amoebenart einher.
Fundort: Auf hoher See treibende nackte Schalen von Spirula
Peronii, angetrieben an die Küste der canarischen Insel Lanzarote.
1867.
4) TTQtoro^v^a, Urschleim.
IfoDogruptiie der Hoofm- 133
/
Genus YI : fanpjrrella <Üiei<(kowski. <)
Archiv für Kfikrosk. Anal. Vol. I. p. 218.
Gaitungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Vacttolenbildung, welcher einfache oder verüstelte Pseudo-
podien treibt. Fortpflanzung durch Tetraplastenbildung : der eingekap-
selte ruhende Körper zerfällt erst in zwei, dann in vier Keime, welche
nach dem Austrift aus der Cyste actinophrys-ähnliche Körper darstellen.
Species 4: Vampyrella Spirogyrae Gienkowski.
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. 1. p. 218. Taf. XII. Fig. 44—56.
Protoplasmakörper von ziegelrother Farbe, und äusserst wechseln-
der und unregelmässiger Gestalt. Pseudopodien mit Kömchenbewegung,
theils lang, dünn und spitz, theils kurz, dick und stumpf. Die Pseudo-
podien bohren die Zellen der Spirogyra an und saugen deren Inhalt
heraus. Ruhezustand eine kugelige oder sphaeroidale, seltener unregel-
mässige Lepocytode, von 0,06 Mm. Durchmesser, angeheftet an Spiro-
gyren. Cysten wand aus Cellulose bestehend (durch lod und Schwefel-
säure gebläut) .
Fundort: Spirogyren des süssen Wassers. Cienkowski.
Species S: Vampyrella pendula Cienkowski.
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. 221 . Taf. XII. Fig. 57—63.
Protoplasmakörpcr von ziegelrother Farbe und sehr wechselnder
Gestalt. »Pseudopodien ohne Körnchenbewegung« bohren die Zellen ver-
schiedener Conferven, Oedogonien, Bulbochaeten etc. an und saugen
deren Inhalt heraus. Ruhezustand eine birnförmige Lepocytode, die
mit dem zugespitzten Ende angeheftet ist. Von dem encystirten, kuge-
lig Contrahirten Körper geht ein fadenförmiger Fortsatz durch das zuge-
spitzte Ende der aus Cellulose bestehenden Cystenwand hindurch zur
Ansatzstelle.
Fundort: Verschiedene Conferven des süssen Wassers.
Species 3: Vampyrella vorax Cienkowski.
Archiv für mikrosk. Anat. Vol. I. p. 223. Taf. XII. Fig. 64—73.
Protoplasmakörper von ziegelrother Farbe, und höchst unregelmäs-
siger und wechselnder Gestalt, d Pseudopodien ohne Körnchenbewe-
4) Deminutivam von Vampyrus.
134 Ernst Hii0k^l, MonograpLie der MoMpren.
guDg((, umfliesscn nach Art der Rhizjgjgoden fremde Körper (Diatomeen,
Desmidiaceen und Flagellaten) und zreneinliese in das Innere des Kör-
pers hinein. Ruhezustand eine ganz unregelolSssige , meist langge-
streckte Lepocytode.
Fundort: Im süssen Wasser.
Genus YII : lyxastraa Haeckel. ^) «
(Vergl. oben p. 91).
Gattungscharakter: Ein einfachster formloser Protoplasma-
körper ohne Vacuolenbildung , welcher einfache oder verästelte und
anastomosirende Fortsätze treibt. Tortpflanzung durch Strahltheilung.
Der eingekapselte ruhende Körper zerfällt in eine grosse Anzahl von
länglichen Keimen, deren Längsaxe radial gegen das Centrum der kuge-
ligen Cyste gerichtet ist. Jeder einzelne Keim umgiebt sich mit einer
kieseligen HttUe. Die aus dieser Sporenhülle ausschlüpfenden Keime
nehmen sofort wieder die Form des erwachsenen Organismus an.
Species: Hyxastrum radians Haeckel.
Taf. III. Fig. 13—24.
Protoplasmakörper in frei beweglichem Zustand gewöhnlich von
Gestalt einer strahlenden Kugel, von sehr zäher Consistenz, von 0,3 —
0,5 Mm. Durchmesser. Pseudopodien sehr zäh und starr, mit spärlicher
Verästelung und Anastomosenbildung. Fremde Körper, Diatomeen, Pe-
ridinien etc. werden von den Pseudopodien umflossen und in den Gen-
tralkörper hineingedrückt. Ruhezustand eine kugelige Cyste von 0,08
Hm. Durchmesser. Der Inhalt zerfällt in zahlreiche kieselschalige Spo-
ren von 0,03 Mm. Länge, 0,015 Mm. Breite, deren Längsaxe radial
gegen das leere Centrum der kugeligen Cyste gerichtet ist.
Fundort: Hafenbecken von Puerto del Arrecife, Hafenstadt der
canarischen Insel Lanzarote. 1867.
4) fivSui aOjQov, Schleimsternchen.
/
ErkUrnog der Abbildungen.
Taf. IL
Protomyxa auraatiaca.
Fig. 4. Protomyxa aurantiaca, encystirt, im Ruhezustand: eine homo-
gene orangerothe Protoplasmaicugel , umgeben von eiuer weichen siructarloseo
Gallerthülle. Vergr. 800.
Fig. 2. Dieselbe , im Beginne der Entwicicelung. Die homogene orangerothe
Protoplasmakugel bat sich von der Innenseite der Cystenwand zurückgezogen, ver-
dichtet, und beginnt in zahlreiche kleine Kugeln zu zerfallen; zwischen Plasma-
kugel und Gallerthülle hat sich ein wenig helle Flüssigkeit angesammelt. Vergr. 300.
Fig. 8. Dieselbe, weiter entwickelt. Die Plasmakugel ist vollstänflig in zahl-
reiche kleine Kugeln von gleicher Grösse zerfallen ; diese füllen, locker beisammen-
liegend, den ganzen Hohlraum der kugeligen Cyste wieder aus. Vergr. 800.
Fig. 4. Die kleinen Protoplasmakugeln, welche aus dem Zerfall der encystirten
Plasmakugel hervorgegangen sind, ziehen sich an einem Ende in eine lange Geissei
ans, und treten als » Schwärm sporen« unter lebhafter Bewegung aus der Cysten-
hülle (»Sporangium«) aus. Vergr. 800.
Fig. 5. Zehn einzelne birnförmige Schwttrmsporen , sich nach dem Austritt
aus der geborstenen Cyste mittelst ihrer Geissei lebhaft bewegend ; der Sporen-
kOrper ist sammt seiner Geissei eine vollkommen nackte und homogene Sarcode-
masse. Vergr. 880. .
Fig. 6. Sieben einzelne Schwttrmsporen , welche zur Ruhe gekommen sind,
die Geissei eingezogen haben und statt dessen eine Anzahl von spitzen, formwecb-
selnden Fortsätzen (Pseudopodien) hervorstrecken; sie kriechen mittelst derselben
unter beständiger langsamer Formveränderung nach Amoebenart umher; der ho-
mogene Plasmakörper ist noch ohne Vacuolen. Vergr. 880.
Fig. 7. Drei amoeben artige Keime (zur Ruhe gekommene, kriechende Schwärm-
sporen) vereinigen sich mittelst ihrer anastomosirenden Pseudopodien und fliessen
schliesslich vollständig in einen einzigen Plasmakörper (Plasmodium) zusammen ;
bereits sind einzelne Vacuolen (v) im Plasma wahrzunehmen. Vergr. SSO.
Fig. 8. Zwei amoebenartige Keime (von den in Fig. 6 abgebildeten) greifen
eine Diatomee (Navicula) an den beiden entgegengesetzten Enden an. Vgr. SSO.
Fig. 9. Dieselben beiden Amoebenkeime, wie Fig. 8, etwas später ; von beiden
Enden der Navicula her dieselbe überziehend , sind sie in der Mitte zusammenge-
troffen und haben sich hier zu einer einzigen vereinigt. Vergr. SSO.
Fig. 40. Eine ältere Protomyia, entweder durch einfaches Wachsthum eines
einzigen amoebenartigen Keimes oder durch Verschmelzung einer grösseren An-
zahl von Amoeben zu einem Plasmodium entstanden. Eine gefressene Isthmia und
1 36 Givitf ßg der Abbildaogen.
eine Navicula, nebst zahlreichen Vtcuolen Jv) sind in dem homogenen Parcnchym
der Sarcode sichtbar. Vergr. 220. ^
Fig. 4 1 . Eine ausgewachsene Protomyxa im ü^igsten Futterzustande, nach
sehr reichlicher Nahrungsaufnahme. Im Inneren des centn^len Protoplasma-Leibes
befinden sich zahlreiche Vacuolen {v), ferner oben zwei noch ^usammenhüngeade
Isthmien, unten drei gegitterte Kieselschalen von pelagischen Tlntinnoiden, (iwei
Dictyocysta elegans und eine Dictyocysta mitra); die eine Schale sc^int eben aus-
gestossen zu werden. Ringsum strahlen von dem centralen Sarcodekörper die sehr
starken, baumförmig verzweigten Pseudopodien aus, deren peripherische Anasto-
mosen zahlreiche bogenförmige Schlingen bilden. Oben haben mehrere starke
Pseudopodien soeben ein dreihörniges Peridinium erfasst und umfliessen es. Die
Vacuolenbildung erstreckt sich auch in die grösseren Pseudopodien hinein.
Vergr. 220.
Fig. 42. Eine ausgewachsene Protomyxa, hungernd, ohne Nahrung Der ganz
homogene Sarcod«l«tb strahlt ringsum eine sehr grosse Menge von baumförmig
verästelten Pseudopodien aus, welche nur wenige Anastomosen bilden und wenige
Körnchen führen. Auch die Zahl der Vacuolen in dem centralen Protoplasma-
liörper ist gering. Vergr. 440.
Taf. 111.
Fig. 48—24. Myxa strum radians.
Fig. 4 3. My&astrum radians, encystirt, im Ruhezustand: eine komogefie
farblose Protoplasmakugel, umgeben von einer zähen structurlosen Gallertbiille.
Vergr. 450.
Fig. 4 4. Dasselbe, im Beginne der Entwickelung. Die homoi;ene farblose
Protoplasmakugel beginnt durch radiale Zerklüftung (Strahltheilung) in zahlreiche
kegelförmige Portionen zu zerfallen, deren Spitzen sich im Centrum der Kugel be-
rühren, wähi^end ihre abgerundeten Basen an der Oberfläche der Plasmakugel
eine maulbeerförmige Zeichnung hervorrufen. Vergr. 450.
Fig« 4 5 Dasselbe, weiter entwickelt. Die kegelförmigen Plasmastttcke, welche
durch die radiale Zerklüftung der encystirten Plasmakugel entstanden, haben Spin*
delform angenomaaen, und jedes einzelne hat eine kieselige Hülle ausgeschieden.
Das encystirte Myxastrum stellt jetzt ein kugeliges Sporaagium dar, welches
zahlreiche spindelförmige, kieselschalige radial gestellte Sporen einschliesst.
Vergr. 450.
Fig. 46. Dasselbe Sporangium, wie Fig. 45. Der Focos des Mikroskops ist auf
eine meridianale Durchschnittsebene der Kugel eingestellt, so dass man die radiale
Stellung der kieselscheligen spindelförmigen Sporen wahrnimmt. Vergr. 450.
Fig. 17. Die leere Kieselschale einer Spore, deren Protoplasmakörper bereits
ausgeschlüpft ist. Vergr. 460.
Fig. 48. Eine Spore, deren Sarcodeinhalt aus der Kieselschale auszuschlüpfen
beginnt. Vergr. 450.
Fig. 49. Dieselbe Spore, wie Flg. 48, einige Zeit später. Es ist nur noch wenig
Sarcode in der Kicselschale. Vergr. 450.
Fig. 20. Der homogene Sarcodeleib einer Spore, welche ihre Kieselschale
(Fig. 47) gänzlich verlassen und sich kugelig zusammengezogen h«l. Vergr. 450.
Fig. 24. Dieselbe Sarcodekugel, wie Fig. 20, einige Zeit später. Es beginnen
Überali feine Strahlen aus der Oberfläche vorzutreten. Vergr. 460.
Erklüruiig der AbbUMgen. \ 37
Fig. Vi. Ein etwas ftlires kugeliges My^astrum , dessen radiale Pseudopodien
schon länger sind. Vergr. 4JI9^
Fig. 28. Ein erwaffiMdnes Myxastrum, während sehr reichlicher Nahrungs-
aufnahme, im üppigstÜBn Futterzustande. Die radialen Pseudopodien, welche rings-
um von der centraton Plasmakugel ausstrahlen, legen sich büschelförmig über den
angegriffenen Beutestücken zusammen und drücken diese in den Sarcodeleib hinein.
In der Mitte 6ind drei Naviculen, unten eine Kette von Baciilarien, und oben rechts
eiu .Peridlnium gefangen. Körnchen sind in reichlicher Menge im Protoplasma
zerstreut. Vergr. 880.
Fig. 24. Ein ausgewachsenes Myxastrum, hungernd, ohne Nahrung. Der ganz
homogene Sarcodeleib strahlt ringsum eine sehr grosse Menge von starren ein-
fachen radialen Pseudopodien aus , von denen nur sehr wenige sich verästeln und
anastomosiren. Die 2ahl der Körnchen im Plasma ist sehr gering. Vergr. 280.
Fig. 25—30. Protamoeba primitiva. (Vergr. 400).
Flg. 25. Protamoeba primitiva, mit mehreren kurzen Fortsätzen.
Fig. 26. Dieselbe, mit einem langen Fortsatz.
Fig. 27. Dieselbe, im ersten Beginn der Zweitheilung.
Fig, 28. Dieselbe, mit weiter fortgeschrittener Zweitbeliuiig.
Fig. 29. Dieselbe, mit fast vollendeter Zweitheilnng.
Fig. 30. Dieselbe, durch vollendete Zweitheil«ng in zwei Individuen (Auod
B; zerfallen.
Fig. 84— 33. Myxodictyum sociale. '
Flg. 31. Myxodictyum sociale, eine Colonie von siebzehn, durch ein Sarcode-
netz verbundenen, actinophrysartigen Moneren. Vergr. 400.
Fig. 32. Ein einzelnes Stück des Sarcodenetzes. Vergr. 600.
Fig. 33. Ein einzelnes Individuum, welches sich von der Colonie der Siebzehn
Moneren abgelöst hat. 'Vergr. 400.
V
Kleinere Mittheilimgen.
lieber die C^BsUtatitB der Mg. loMtlegen der Blaisaue.
Von
A/Oeuther.
Die von A. W. Hofhakn') und Gavtier*) in neuester Zeit bei der Einwirkung
von Chloroform und Aminbasen auf Kalihydrat und von Cyansilber auf die löd-
Wasserstoff- Aether erhaltehen, mit den sog. Nitrilen isomeren Verbindungen sind
von HoFHAKN als »Homologe der Blausäure«, von Gaütibr als »Isomere der Cyan-
wasserstoff-Aether« bezeichnet worden. Kolbe ') unterscheidet die Letzteren von
den Ersteren so, dass er in ihnen einen zweiwerthigen Kohlenstoff annimmt,
welcher mit dem einwerthigen Alkoholradical den dreiwerthigen Stickstoff befrie-
tt
€,...
digt : , > N, während in den ersteren diess durch ein dreiwerthiges Kohlenstoff-
radical geschehen soll: R€ ) N. Claus*) legt den neuen Cyaoverbindungen die
doppelte Moleculargrösse bei, als den Nitrilen.
Ich glaube , dass es weder der Annahme eines zweiwerthigen Kohlenstoffs,
noch die einer Verschiedenheit des Moleculargewichts zur Erklärung der Isomerie
bedarf.
Die Eigenschaft des Stickstoffs einwerthig auftreten zu können, d. h. Was-
serstoff zu gleichen Mischungsgewichten zu vertreten , beweisen die sog. Azover-
u
bindungen. Die Blausäure ist aber auch als eine solche, als Monazomethylen : €«^
aufzufassen und ihr analog sind die übrigen Nitrile zu betrachten : Acetonltril s
€'^ . Propionitril sb ^^ etc. und Benzonitril sb ^'^ Sie alle sind Monazover-
bindungen der Kohlenwasserstoffe von der allgemeinen Formel : €» H*n— «m (wo-
rin m=o und jeder ganzen Zahl, die kleiner als » ist, sein kann). Die Blausäure,
\) Annal. d. Chemie. Bd. 4 44. p. H4.
S) Zeitschrift f. Chem. N. F. Bd. 8. p. 666.
8) Ebend. Bd. 4. p. 80.
4) Ber. d. naturf. Gesellsch. in Freiburg. Bd. 4. Hft. 4.
p^B
A. Geotber, Über die Gonstitutioa der flogei. Homologen der BUas&ore. 1 39
das Acetoniiril , das Propionitril etc. «ipd homologe Glieder einer Reihe. Dah«r
kommt es, dass sie bei der Udfteteung mit Kalihydrat und Wasser die gleiche Ver-
änderung erleiden und ^6lnoIoge Zersetzungsproducte, die homologen Sfiuren, lie-
fern. Die neu entdeckten Cyanverbindungen dagegen sind , um im gewöhnlichen
Sprachgebrauch zo-^eden, nichts als blausaure Salze, Cyanwasserstoffverbindungen
der Kohlenwaeaerstoffe €° H*Q— "»i sie entsprechen dem Gyanwasserstoff-Ammo-
niak (Cyanammonium). Daher liefern sie alle unter dem Binfluss starker Säuren die
ZersetMBgsproducte der Blausäure, Ameisensäure und Ammoniak, welch' letzteres
aOgleich zu dem Kohlenwasserstoff tritt und die Aminbase bildet. Starken wäss-
rigen Basen gegenüber besitzen sie die Beständigkeit der Haloidaether.
Während also die Blausäure, das Acetonitril, das Propionitril, das Benzonitril,
Abkömmlinge des Methylen's, des Aethylen's des Propylen's, des Benzylen's (€' H*)
sind, sind die neuen Cyanttre : das Methylcyanür, das Aethylcyanür, Phenylcyanür
Abkömmlinge des Sumpfgases, des Aethylwasserstolfs, desBenzol's, in gleicher
Weise, wie das Methylchlorilr, das Aethylchlorür, das Phenylchlorür es sind.
€H* ; €■«• ; €•«• etc. €'«• | €Ä», H«; €W, H»{ etc. €•»*, «•.
x»H J3i" r^S*« • r«t" £JJ1« C** C*I1* Cr* m C^U* C^
Nicht die neuen Cyanverbindungen also, sondern die schon längst bekannten
Nitrile sind die wahren Homologen der Blausäure.
Ich werde in Kürze Gelegenheit nehmen die Ansicht, dass die Blausäure als
Azomethylen aufisufassen ist, und die sich daraus ergebenden Consequenzen näher
zu entwickeln.
Jena, d. 45. Jan. 4808.
Kwel N«tiiei«
Von
A.Geather.
E. LiRif BMAHN ') beobachtete bei der Einwirkung von salzsaurem Aethylamin
auf sbipetrigsaures Silberoxyd neben Alkohol eine bei 470— 47t* C. siedende Sub-
stanz, die schwach gelblich gefärbt, leichter als Wasser ist, einen eigenthüm liehen
Seruch und die Zusammensetzung G^H^^N'O' besitzt. Er meint von ihr, dass sie
sich ihrer Zusammensetzung nach , keiner bis jetzt bekannten Classe von Körpern
anschliesse. Dieselbe ist indess nichts anderes, als das von Kredtzhagb und mir')
bei der Einwirkung von salzsaurem Diaethylamin auf salpetrigsaures Kali und
ebenso von salzsaurem Triaethylamln auf das Letztere*) beobachtete N itro so -
d i a e t h y I i n. Dasselbe besitzt die gleiche Zusammensetzung, den gleichen Siede»
punct (470—4 73* uncorr. ; 476*,0 corr.) und die nämlichen Eigenschaften ; es ist
4) Annal. d. Chem. u. Pharm. Bd. 444. p. 488.
5) Ebond. Bd. 428. p. 454.
-8) Diese Zeitschrift. Bd. I. p. 494.
1 40 A* Gwk£r, Zwei Nolizea.
miilff
nämlieh eine »schwach gelblich gerärl^e« FyissjgkeU, von »eigenthümlich-aroma-
tiscbem Gerach,« es töst sich in conc. £(alzsäffihäi«Md wird beim Erhitzen damit
unter Bildung von SÜckoxyd wieder in salzsaures DiaMfayJ^min verwandeit. Ich
habe, schon bei der ersten Beschreibung dieser Verbindung die Vermuihung aus-
gesprochen ^ dass das von Hofmank bei der Zersetzung des Salzsäuren Aethyhinftin's
iu geringer Menge erhaltene Oel eben diese Verbindung sei, wa» j«tzt dnrcb die
Versuche von LiKtwiiitfii best&iigt wird.
Das NitrosodiaethyÜA ist, wie sein Verbalten zur Salzsäure zeigt, ein AMbt^mm*'
ling des Diaeihylamin's UAd nicht wie Linmevahn anzunehmen geneigt ist , ein sft»
clier des Aethy len's und. Aethy lenox.yd's, es ist eben Nitrosoxydiaethylamin
(NUrosodiaethylin) d. h. Diaethylamin, worinn an Stelle von 4 Mgt. Wasserstoff
die Elemente voia Stickoxyd, oder 4 Mgt» Sauerstoff und 4 Mgt. Sauerstoffoxydul
enthaltea sind :
' ONO J
€* »*• N» 0» « ß» »• > »• N.
Es ist die analoge Verbindung eines Hydroxydiaethylamin's :
^ OÖO J
Das von A. Siersch bei der Behandlung von salzsaurem Propylamin mit sal-
petrigsaurem Silberoxyd erhaltene, zwischen 200 — 205* siedende Nebenproduct
von der Zusammensetzung €*ff ^*N*0' ist offenbar nichts anderes , als das homo-
loge Glied vom Dipropylamin.
A. W. Hofmann*] hat über die Veränderung, welche die Dömpfe des Me-
thylalkohols erleiden , wenn sie mit einem Sfrom atmosphärischer Luft iiber eine
glühende Platinspirale geleitet werden, berichtet. Er ist der Meinung, dass dabei
das Methylaldehyd gebildet werde, weil das mit Ammoniak alkalisch gemachte
flüssige Product mit salpetersaurem Silberoxyd erwärmt , einen vollkommnen Sil-
berspiegel erzeuge, indem zuerst Ameisensäure und dann Kohlensäure entstehe,
dass ferner dasselbe mit einigen Tropfen Kalilauge erhitzt sich beim Kochea trübe,
eine gelbe Färbung au nehme und bald gelbbraune Oeltrtfpfchen abscheide, die im
hohen Grade den Geruch von Aldehydharz besitzen. Dass ferner, wenn. man
Schwefelwasserstoff im jenes flüssige Product der Reaction leite, es sich nach eini»
gen Augenblicken trübe, indem sich ölige Tropfen von zwiebelartigem Geruch ab-
scheiden, die sich beim Kochen mit Salzsäure üösen und beim Erkalten eine Masse
blendend weisser verfilzter Nadeln von der Zusammensetzung ۊ'S* liefern. Der
Schmelzpunct derselben liegt bei t48® , sie verflüchtigen sich ohne Zersetzung, sie
sind wenig löslich iu Wasser, mehr in Alkohol ; Aether ist ihr bestes Lösungsmittel.
Die ZusamnusBsetzttng dieser Krystalle, sowie die obige von Hofmann gegebene
Beschreibung stimmen vollkommen überein mit der von Girard*) durch Reduction
4) Compt. rend. T. LXV. p. 555. Zeitschr. für Chemie. N. h\ Bd. 4. p. 6.
2) Annal. Bd. 4 00. p. 806.
JT'
Jobo Mayow über Apnoe uaMImntarrespiration. 141
von Schwefelkohlenstoff zaerst/inotechtelan , später von A. Hüsmifi«!) aus dem
IfethylensuJfür (Product d^f^nwirkung von Methylenjodür auf Schwefelnatrium)
beim Erhitzen auf 4 50/Mialtenen und von Letzterem »Dimethylensulfür« be-
nannten Verbinduns^ Hosemanm sagt von ihr, dass sie in »reinen künorhombisohen
Prismen« kryslalll^re, deren Schmelzpunkt »oberhalb 300*« liege, die sich aber
•schon bei i^Blt niedrigeren Temperaturen in reichlicher Menge verflüchtigen«, dass
sie einen jmnerträglich zwiebelartigen Geruch« besitzen und »ihre USslichkeit in den
vcsfldBMenen indifferenten Lösungsmitteln sehr gering ist, dass sie sich am besten
noch in Schwefelkohlenstoff und Benzin lösen.« 6irari> beobachtete ihre unver-
llnderle Löslichkeit in warmer SalzsKure.
Wenn darnach, wie mir scheint, die IdentÜtttdervon Hofmavh erhaltenen Kry-
stalle mit dem Dimethylensulfür nicht mehr bezweifelt werden kann , so wird die
Existenz des Methylaldehyds in dem betreffenden Product natürlich ebenso sehr
fraglich , als darin die Anwesenheit von Dioxymethylen, welches durch Oxydation
leicht Ameisensäure und Kohlensäure liefert, wahrscheinlich wird.
Jena, den S5. Januar 4868.
J«hi lajtw ib«r Ayi«e nd f hceitamspinitira.
Von
B. S. Schultae.
Studien über ältere Anschauungen von den Existenzbedingungen des Fötus
führten mich auf Matow, dessen Tractatus terlius überschrieben ist : De respira-
tione Foetus in utero, et ovo.
Es war bekannt, dass Matow dem Sauerstoff auf der Spur gewesen sei, hun-
dert Jahre vor dessen Entdeckung durch Lavoisier. Dass ihm die physiologische
Bedeutung dieses sehr bestimmt von ihm definirten Bestandtheils der Atmosphäre
nicht sowohl abnungsweiee vorschwebte, als vielmehr auf Grund von Experimenten
offenbar war, und zwar zum Theil bis in Einzelheiten, deren Wiederauffindung der
Forschung der neuesten Zeit vorbehalten war, hat neuerdings Heioenhais^) aus-
führlich dargelegt. ^
Mayow weist nach, dass derjenige Bestandtheil des Salpeters, welcher dessen
explosive Wirkung im Schiesspulver bedingt, identisch ist mitdemjenigen Bestand-
theil der Atmosphäre, welcher zur Unterhaltung der Flamme, zur Unterhaltung der
Athmung erforderlich ist. Dass durch die Athmung, wie durch die Flamme ein
und derselbe Bestandtheil der Atmosphäre verbraucht wird, dass durch beide Pro-
cesse die Atmosphäre diesen Bestandtheil verliert, durch dieselben an Volum ein-
büsst, auch untauglich wird, sowohl der Athmung als der Verbrennung weiter zu
dienen, das demonstrirt Matow durch dieselben Experimente, deren man sich
beuteln Schulen und Vorlesungen zur Demonstration der gleichenThatsachen bedient.
4) Annal. Bd. 4i6. p. 294.
i) Mechanische Leistung , Wärmecntwickolung und Stoffumsstz bei der Mos-
keithätigkeit. Leipzig, 1864. Seite 5 u. ff.
*
I
144 B. S. SehaHie, Mm Mi^«c^r AfiM« mid Ptaeratarmpintion.
SauertloffeiDnaiii&e, nielii die KohleqSäivoaaswb^daiig kennt. Matow ^tkstX fort :
• Enimvero vertsim ile est, si sanguis Sfieriosas, qui spiriln
nitro-aereo imbutas est, loco venosi ad ^-»c. accederet, nulla
omotDo respiratione opus esse. Et hoc inde coA/irmari videtar,
quod dum saaguis arteriosus ex ono Cane in allTejPum, noto jam
experimeoto, transmittitur, canis in quem %anguis transfertur,
quarnquam antea anheius, et intense respirans, saogatoe tarnen
arterioso intds recepto, vixomnino respirare videtur.«
Alan glaubt nicht, wenn man diese Worte liest, einen Mann des Torvorigen
Jahrhunderfts zu veruehmen. Es ist gewiss dem Matow sehr hoch anmrechnen,
dass er auf dem Boden der damaligen Keoniniss im Stande war , den Sauerstoff zu
finden. Jkber weit tftauoeaswerther ist die Leistung, dass derselbe Mann, welcher
durch eigene Experimente den Sauerstoff (and, in seinem kurzen Leben (er starb
t4 Jahr alt) die Bedeutung dieses Stoffes für die tbieriscfae Oekenomie soweit er-
gründen konnte, dass ihm selbst die Apnoe bekannt nnd vollständig verständlich
war , dass der ununterbrochene Sauersloffverbrauch auch im Fdtus ihm ausser
Zweifel war auf Grund objectiver Keootniss solcher Functionen an demselben,
welche ohne Sauerstoffverbrauch nicht stattfinden, dass derWeg,aaf welchem dem
Fötus der Sauerstoff zugeführt wird , ih« bekannt war , und dass er den Zustand
des Fötus in Bezug auf die Befriedigung seines Atbembedürfnisses mit dem eines
durch Transfusion apnoisch gemachten Hundes vergleichen konnte. Ich stehe nicht
an, dem Matow seiner wissenschaftlichen Bedeutung nach den Platz unmittelbar
neben Harwjet und gleich wertbig mit Ihm anzuweisen. Seine historische Bedeu-
tung, ich meine seine Bedeutung für die Weiterentwickelung der Wissenschaft ist
Ireiüch gegenüber der Haewet's verschwindend. Hahwet wurde von seinen Zeit-
genossen und Nachfolgern verstanden, Matow nicht. Als Beweis, wie wenig er ver-
atanden worden, genüge anzuführen , was Hallek in seiner genau hundert Jahre
später erschienenen Bibliotheca anatomica über ihn sagt. In seinqp kurzen , sonst
meist wunderbar scharf trefiißnden Weise sagt Hallcr über Matow : »f uvenis, ut ex
pictura videtur, vii* ingeniosus neque mathematum ignarus , caeterom in bypothe-
ses pponior, quod fere commune ejus aetatis Vitium fuit. Nitrum statuit per aerem
obvolitansi quod in pulmones absorptum abeat in Spiritus vitales . . . cet.«
Ich weiss dafür, dass Matow auf die Bntwickelung der Wissenschaft fast ohne
Einfluss blieb, keinen anderen Grund, als dass er mit den Zielen seiner Forschung
unter seinen Zeitgenossen zu isotirt dastand, dass er mit den Resultaten derselben
über die Leistungen seinerzeit um eine ganze Reihe von Menschenaltern hinausragt.
Matow's Tractatus quinque medioo-physici erschienen zu OxfortH674. Ob
sie früher einzeln erschienen, ist mir nicht bekannt, doch geht ans einer Bemer-
kung Matow's auf Seite 4i9 hervor, dass der Traotatus de respiratione früher von
ihm veröffentlicht worden, als der in der Gesammtansgabe voranstehende wesent-
lich chemische De Sal Nitro et Spiritu nttro-^aäreo. Mir liegt eine spätere Ausgabe
vor: Johannis Matow Londinensis Doctoris et Medici, nee non Coli. Onm. Anim. in
Universitate Oxoniensi Socii , Opera omnia medico-physica , tractatibus quinque
comprehensa. ' Hagae-Comitum, 4681.
Jena, den 13. Februar 1868.
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JeiiaistV.i Zeitschrift, Bd. IV.
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1
Beobachtungeii des pathologiseheii Instituts zu Jena in Jahre 1866
von
Wilhelm MüUer.
Allgemeiner Theil.
Dem Bericht über die Beobachtungen des pathologischen Instituts
2U Jena im Jahre 1 866 schicke ich folgende Bemerkungen voraus.
Das pathologische Institut zu Jena verfügt in Folge der Liberalität
der Aerzte fast über das ganze Sectionsmaterial der Stadt ; dazu kommt
eine beschränkte Zahl von Sectionen in den benachbarten Dörfern,
welche durch die Poliklinik dem Institut zugewiesen werden, lieber die
Mortalitätsverhättnisse der Stadt Jena werden von dem Amtsphysicus
Herrn F. Siebert sorgfältige Aufzeichnungen nach dem Muster des
Registrar general geführt. Sie liefern die absoluten Sterblichkeits-
zahlen. Sie gewähren femer einen Einblick in die Häufigkeit der ver-«
schiedenen Todesursachen und deren Yertheilung auf die einzelnen
Lebensalter und Geschlechter. So zuverlässig und für den Statistiker
unentbehrlich die ersteren Angaben sind y so wenig sind die letzteren
frei von den Mängeln , mit welchen zur Zeit jede Statistik der Todes«^
Ursachen behaftet ist. Diese Mängel sind begründet einmal in der
Unvollkommenheit unsres Wissens. Sie gestattet in vielen Fällen
nicht, die Art der Todesursache während des Lebens mit hin-
reichender Genauigkeit festzustellen, wodurch ein Theil der sta-
tistischen Angaben mehr oder weniger willkürlich wird, wenn die
Gontrole durch die Section mangelt. Sie sind zweitens begründet in
der Un Vollkommenheit der Methode. Da, wieS. Wilks in seinem lesens-
werthen Aufsatz Acute and chronic disease mit Recht hervorgehoben
äat, der Tod viel häufiger die Folge einer Combination von Ursachen ist,
als man gewöhnlich annimmt, so* kann eine ZusammensteUung , welche
jeden Todesfall unter eine bestimmte Rubrik einreiht, nur einen an-
nähernden Ausdruck der wirklichen Verhältnisse darstellen.
Hievon ganz abgesehen findet bei einer Statistik der Todesursachen
Bmnd IV. 2. 40
1 4G Wilbelm Mfillcr,
eine ganze Reihe von KrankbeitsprocossA, welphc hiiufig den Morbilitäts—
Verhaltnissen einer Gegend ein charakter^scnK» Gepräge verleihen,
aus dem Grunde keine Berücksichtigung, weil sie in d(^* Regel nur durch
besondere Gomplicationen den Tod herbeiführen. Mfin würde in den
ofiicielien Todtenlisten vergebens Nachweise über die Httufigkeit des
Kropfs, des runden Magengeschwürs, der Uteruserkrankungen in jiie—
siger Gegend suchen. Es ist aber unzweifelhaft für den Statistiker nich^
blos von Interesse zu wissen, welche Krankheiten in einor Gegend den
Tod der Einwohner herbeiführen, sondern auch zu erfahren, mit welcher
Häufigkeit namentlich chronische Processe bei denselben sich finden,
da letztere hauptsächlich es sind, welche die Arbeitsfähigkeit der Indi-
viduen in ausgiebigerem Grade beeinträchtigen. •
Ein pathologisches Institut vermag diesem Verlangen der Statistik
innerhalb gewisser Grenzen zu genügen, insofern dasselbe alle die Ver-
änderungen registrirt, welche überhaupt bei den geöffneten Leichen
sich vorfinden, mithin einen Einblick in die Häufigkeit aller der Krank-
heitsprocesse gewährt, welche mit bleibenden Formänderungen im Or-
ganismus einhergehen. Wie werthvoU die Ergänzung ist, welche die
officielien Todtenlisten in dieser Hinsicht durch die Aufzeichnungen des
pathologischen Instituts erhalten , ergibt sich aus dem Umstand , dass
das Verhältniss. der in Jena Verstorbenen, welche secirt werden, zu
den überhaupt Verstorbenen durchschnittlich gegen 70 Procent beträgt.
Es ist klar, dass es zur Herstellung einer MorbilitätsstatistikJena's,
soweit das pathologische Institut eine solche zu liefern vermag , einer
längeren Beobachtungszeit bedarf. Die Beobachtungen der einzelnen
Jahrgänge haben bei der Beschränktheit des Materials, welches eine
Stadt von 8000 Einwohnern liefert, nurWerth, insofern sie Glieder
einer grdssern Beobachtungsreihe darstellen und zugleich einen Ein-
blick in die periodischen Schwankungen der beireffenden Verhältnisse
gewähren.
Zur Erleichterung der Uebersicht sind an der Spitze der nachste-
henden Mittheilungen die verschiedenen Todesursachen in üblicher
Weise tabellarisch zusammengestellt. Ausser den in statistischer Hin-
sicht wichtigen Beobachtungen wird der vorliegende allgemeine Theil
zugleich jene enthalten , welche grösseres wissenschaftliches Interesse
darbieten und eine kurze Darlegung gestatten. Der in dem nächsten
Heft dieser Zeitschrift erscheinende specielle Theil wird eine Reihe von
Detailbeobachtungen in ausführlicher Darlegung bringen.
Die Zahl der im Lauf des Jahres i 866 vom pathologischen Institut
zu Jena geöffneten Leichen beträgt 135. Die Vertheilung der haupt^ch-
liehen Todesursachen auf diese 4 35 Leichen ergibt sich aus nächste-
hender Zusammenstellung:
BeohaclttiiUiriMi des pathologischen
Jena im Jahre 1866.
147
Todesursache
1
1
L /1-r
■
1
(
1
I
1
f|i-40
H^fO\ —30
—-40
-50
i —60
. -70
—80
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Tuberkulose
fand sich als frischer, noch im Fortschreiten begriffener Process in 27
Leichen , dies gibt ein Verhältniss von 20 %. Die beobachteten Fälle
lassen sich in drei Gruppen bringen, je nachdem Tuberkulose für sich
dem Leben ein Ziel setzte oder der Tod durch eineCompIication erfolgte
oder in den Leichen Veränderungen sich fanden, welche als disponirende
Momente für die Entwicklung der Tuberkulose betrachtet werden
konnten.
Der erstercn Gruppe gehören \ 4 Fälle an ; nur in einem war die
Tuberkulose auf die Lungen beschränkt, in allen Übrigen auf mehrere
Organe, namentlich Lungen, Lymphdrüsen und Darm ausgebreitet.
In die zweite Gruppe gehören 4 Fälle: Bei einem 4 4jährigen Mann
kam es in Folge von Perforation der rechten Lunge durch tuberkulöse
Yerschwärung zu Pleuritis und Pneumothorax; bei einem 45j. Mann
hatte sich im Anschluss an periphere vereiternde Lungentuberkulose
eitrige Pleuritis entwickelt. Ein 68j. Tuberkulöser erlag eiaer hämor-
rhagischen Pachymeningitis. Bei einem 17j. Tuberkulösen, welchem
wegen Garies des linken Kniees der Oberschenkel im unteren Dritttheil
amputirt worden war, hatte sich diffuse eitrige Periostitis längs des
ganzen Stumpfs entwickelt, an welche sich iBbriuös-eitrige Pericarditis
anschloss.
In der dritten Gruppe lassen sich 9 Fälle unterbringen. Bei
3 Individuen hatte sich Tuberkulose an chronische Pneumonie und
Bronchialerweiterung angeschlossen ; in 2 Fällen war das disponirende
Moment aller Wahrscheinlichkeit nach durch rundes Magengeschwür
gegeben. Bei einem 15j. Mädchen hatte sich Tuberkulose im Verlauf
BeobaclitungCD des patbologischen Ii^Mpi ZQ Jena im Jahre 1866. ] 49
eines weit verbreiteten Lupus entwicAlt, bei einem 30 j. Mann im An-
schlussan chronische tubjffiHfltfephritis, bei einem 32j. MannimAnschluss
anDiabetes. ZahIr«€llemih'areTuberke]knötchen neben umfangreicheren
Knoten und verscUieden grossen Cavemen in beiden Lungen sicherten in
diesem Fall dl^lRiagnose. Bei einer 67 j. Frau fand sichacute und subacute
Tuberlj^uloseneben ausgedehnter deformirender Endarie ritis, Verkalkung
.fast aller Knorpel des Körpers und beträchtlichem Kalkinfarct beider
Nieren.
Von den einzelnen Formen der Tuberkulose sind folgende hervor-
zuheben. Acute Tuberkulose der Hirnhäute fand sich in 5 Fällen, stets
imAnschluss an eine ältere Tuberkulose der Lungen oder Lymphdrüsen.
In 4 von diesen 5 Fällen war beträchtlicher Wassererguss in die Gehirn-
Ventrikel vorhanden ohne Trübung oder Eiterbeschiag des Ependyms.
in keinem dieser Fälle wurde eine zum Theil reichliche Einsprengung
miliarer Tuberkelknötchen in die mittleren und seitlichen Plexus und in
die Pia am Uirnschlitz vermisst, Plexus und Pia zeigten sich lebhaft in-
jicirt und ödematös geschwellt, gleichfalls ohne Trübung oder Eiterbeleg.
Dieser Sachverhalt legt es nahe, die Steigerung der Transsudation we-
nigstens zum Theil aus der Drucksteigerung abzuleiten , welche durch
die Entwicklung der Neubildung und die damit verbundene Schwellung
des Gewebes der Pia im Hirnschlitz im Gebiete der Vcnae magnae Ga-
len i zu Stande kommen muss.
In zwei Fällen fand sich neben acuter Tuberkulose der Pia auch
solche der Dura mater. Bei einem vierjährigen Knaben wurden nahe
dem vordorn Rand des Foramen magnum mehrere stecknadelkopfgrosse
Tuberkelknötchen auf der Dura mater beobachtet neben zahlreichen
analogen Knötchen in den Meningen der Himbasis und den Plexus, die
Arachnoides mit derDura der Schädelbasis mehrfach locker verwachsen.
Bei einem 87jährigen Mann zeigte die Dura zu beiden Seiten der Hinter-
hauptbasis namentlich an den Stellen, welche den seitlichen Plexus des
vierten Ventrikels anliegen, mehrfache miliare Tuberkelknötchen, welche
ihrer Oberfläche theils mehr theils wTniger fest anhafteten, die Meningen
mit der Dura am Glivus mehrfach locker verwachsen, sie selbst und die
Plexus reichlich mit miliaren Tuberkelknötchen durchsetzt.
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Beide Beobachtungen stimmen mit dem vonB. Wagfcbr im VH. Jahr-
gang des Archivs der Heilkunde veröffentlichten Befund überein. Ich
bin jedoch zu einer andren Auffassung des vorliegenden Processes ge-
neigt als sie B. Wagner gegeben hat. Es scheint mir keine Nöthigung
vorzuliegen, in einem dieser Fälle eine von der Dura ausgehende Tu-
berkulose anzunehmen. So wenig von vornherein die Möglichkeit sich
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bestreiten lässl, dass die der mndes^hslanz der Dura angehörenden
Zellen ebensogut wie jene der Pleura coSÄrt^berkelknötcben zu pro-
duciren im Stande sind, so glaube ich doch, dalRW^ vorliegenden Be-
funde ungezwungen durch die Annahme sich erkläre^, dass es sich um
eine von der Pia und den Plexus ausgehende Tuberknl^ß^ handelt, wo-
bei einzelne Tuberkelknötchen an der Berührungsstelle mibr oder we-
niger fest mit der Dura durch peripherische BindesubstanzneuHUduog
verwachsen sind. Für diese Auflassung spricht: die Anhäufung der
Tuberkelknötchen an Stellen der Dura, welche mit tuberkulösen Parthien
der Meningen oder Plexus in unmittelbarer BeiUhrung stehen, die
lockere Verwachsung beider Membranen , endlich die augenscheinlich
aufgelöthete Beschaffenheit eines Theils der Knötchen.
Tuberkulose des Anfangstheils des Oesophagus fand sich bei einem
\ 5jährigen Mädchen. Neben weitverbreitetem ulcerösen und desqua-
mativen Lupus der Haut und knotigem Lupus des Kehldeckels fand sich
chronische und acute Tuberkulose der Lungen, des Darms und derMe-
senterialdrüsen. In der vordem Wand des Anfangstheils vom Oesopha-
gus fand sich ein elliptisches der Längsachse des Oesophagus parallel
laufendes Geschwür von 1 Gentimeter Länge bei ^/^ Gent, Breite mit
scharfem glatten Rand und flacher mit einzelnen miliaren Tuberkel-
knötchen besetzter Basis.
Tuberkulose des Knochensystems Ifand sich bei einem 7jährigen
Knaben in Form multipler zum Theil symmetischer Auftreibungen ver-
schiedener Knochen mit ausgedehnter Verkäsung und peripherischer
Knötcheneinlagerung. Der Tod war durch weit verbreitete Lungen-,
Darm- und Lymphdrüsentuberkulose und vorgeschrittene Amyloidde-
generation von Leber, Milz, Nieren und Nebennieren erfolgt. Zweimal
erhielt das Institut von Herrn Geh. Hofrath Ried mit Garies behaftete
Extremitäten, bei welchen die methodische Untersuchung Tuberkulose
als Ursache der Knocheneiterung nachwies. Diese Fälle werden im spe-
ciellen Theil ausführlicher besprochen werden.
Krebs.
Hier ist zunächst hervorzuheben ein multipler atrophirendcr Skir-
rhus des Darms und Mesenteriums bei einer 60j. Frau. Es fand sich
eine ringförmige krebsige Stenose des Mastdarmanfangs, eine zweite in
der Mitte des Golon transversum, jede etwa 2 Gentimeter breit, ausser-
dem zahlreiche plattenförmige zum Theil mit narbenartigen Ausläufern
in die Umgebung übergreifende Faserkrebse im Mesenterium , welche
(lurph mehrfaches Uebergreifen auf den Dünndarm eine Anzahl leichterer
Beobachtunt2;eu des piiüiologisckn lii||jMnu Jena im Jnhre 1866. 1 5 1
Stenosen und Knickungen in dessen Verlauf herbeigeführt hatten. Da-
neben zahlreiche secundjiw€1lifebse auf den Pleuren und dem Herzbeutel.
Von Interess^rtBrterner ein Faserkrebs des Uterus mit Freilassung
des Cervix und /der oberflächlichen Schleimhautparthien. Bei einer
i7jähr. Frau/^elche seit einem Jahr neben dumpfen Schmerzen im
Becken und zunehmendem Marasmus profuse Menstrualblutungen da rge-
bot^ hatte, entwickelte sich Oedem beider Beine und nach einiger Zeit
Pleuritis mit rasch tödtlichem Verlauf. Der Uterus fand »ich in eine
faustgrosse. Geschwulst verwandelt von fester Consistenz , auf der
Schnittfläche grauweisser Farbe und speckigem Glanz, seine Wandung
^ — 3 Gentimer dick, die Schleimhaut geschwellt und sehr gefässreich,
an die Unterlage fixirt, ihre Oberfläche jedoch unversehrt ; die Neubil-
dung gegen die obere Parthie des Cervix hin ohne scharfe Grenze sich
verlierend, der Muttermund unverändert. Ausgedehnte zum Theil von
Krebsknoten durchsetzte Verwachsungen zwischen Tuben und anlie-
genden Organen, mehrere kleine Krebsknoten im rechten Ovarium,
zahlreiche miliare zum Theil von Pigmenthöfen umgeben im Netz , Me-
senterium, und der Serosa der Leber; chronischer Katarrh des untern
Theils des Oesophagus, diffuse krebsige Infiltration seiner Schleimhaut
und Submucosa im oberen Drittheile. Ausserdem Thrombose beider
Venae iliacae, der rechten Jugularis und Subclavia, Embolie der Lungen-
«irterie, Abscesse und Gangrän beider Lungen mit consecutiver
Pleuritis.
Epitheliale Geschwülste.
In dieser Gruppe fasse ich alle jene Neubildungen zusammen , bei
welchen eine deutliche Wucherung charakteristischer Epithelien neben
einer solchen der Bindesubstanz des Körpers vorhanden ist. Ich rechne
hieber die Kystome, welche, wie aus den Untersuchungen von Wilson
Fox undBKAXTONilicES an jenen das Ovarium hervorgeht, ungezwungen
aus gleichzeitiger Wucherung von Derivirten des ursprünglichen Epi-
thelialrohrs und Faserblatts sich ableiten lassen ; die Adenome , auf
welche die ViECHow'sche Bindegewebskörperhypothese nie allgemeine
Anwendung gefunden bat, endlich die Epitheliome, weiche nicht nur
in der durch die Anwesenheit von Pflasterepithelien charakterisirten
Form, wie C. Thibhsch gezeigt hat, sondern auch in der ganz analogen
mit Cylinderepithelien versehenen dieser Ableitung sich fügen.
Pflasterepitheliom desLarynx fand sich bei einem 78jährigen Mann,
welchem einige Monate früher ein Epitheliom des rechten unteren Augen-
lids exstirpirt worden war. Beide Stimmbänder waren in zerklüftete,
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mit zahlreichen warzigen ExcresH^nzen bededite Geschwüre verwandelt
mit gelblich weisser speckig glünzender^ilhiitfläche und dem für das
Pflasterepitheliom charakteristischen Bau. Dabä^ir9i^eschrittene Amy-
loiddegeneration der Nieren , Thrombose der iinkeii Gruralvene und
Lungenarterienembolie mit ihren Folgen.
Von den 5 Fällen von Epitheliom des Uterus waren i"» Pflasterepi-
iheliome ; sie waren alle augenscheinlich von der oberen Parthi^. der
Scheide ausgegangen. Im fünften Fall hatte sich bei einem 32jahr. le-
digen Mädchen Cylinderepilheliom entw ickelt. Ausser der charakteristi-
schen Veränderung des Uterus, welche den Cervix in grosser Ausdeh-
nung zerstört hatte, fanden sich beide Ovarien in höckerige wallnuss-
resp. apfelgrosse Geschwülste verwandelt, welche im Innern eine
gelblich weisse käsige Masse beherbergten. Die ganze Masse bestand
aus kömigem Detritus, untermischt mit zahlreichen theils mehr theils
minder erhaltenen Cylinderepithelien. Es fanden sich ferner in den
lumbaren und dorsalen Lymphdrüsen, in Lunge, Leber und Darm-
schleimhaut zahlreiche theils miliare theils umfangreichere Epitheliom-
knoten, welche in ihrem Bau mit der Neubildung am Uterus überein-
stimmten.
Es gehört hieher ferner ein sogenannter Zottenkrebs der Blase,
welcher durch wiederholte Blutungen neben rechtsseitiger interstitieller
Nephritis eine 64jähr. Frau dahin gerafft hatte. Die Geschwulst sass
im Umfang eines Doppelthalers im Trigonum vesicae ; ihre Oberfläche
zeigte eine grosse Zahl bis \ Centimeter langer zottiger Excrescenzen ;
die Basis war th^ilweise zerklüftet, weich, von gelblich weisser Farbe.
Die Untersuchung ergab an den Zotten den von Gerlagh und Lambl ge-
nügend beschriebenen Bau, die Basis bestand aus einem lockeren zum
Theil im Granulationszustand befindlichen Bindegewebsstroma, zwischen
dessen Maschen theils rundliche theils schlauchförmige Hohlräume sich
fanden, welche an der Peripherie von einem deutlichen aber flachen
Gylinderepithelium ausgekleidet waren, während die centralen Parthien
dicht angehäufte theils cylindrische theils mehr abgeflachte Epithelien
enthielten. Ich kann duf Grund dieses Befundes die in Frage stehende
Zottengeschwulst nur für ein Cylinderepilheliom halten und sehe in den
zottigen Auswüchsen der Bindesubstanz der Blase lediglich das Analogen
der zottigen und warzigen Wucherungen, welche bei den Epitheliomen
der Magen- und Darmsohleimhaut und jenen der äusseren Haut etwas
Gewöhnliches sind.
Hierher gehört endlich ein Fall von Cylindenellenepitheliom beider
Samenblasen bei einem 71 jähr. Mann, soviel mir bekannt, der einzige
BeobaclitougeD des pathologisclieu InjüMlf zu Jena im Jahre 1866. 153
bisher beobachtete. Er wird im ^pecieHen Theil ausführlich beschrieben
worden. r ^
An die EpitheUlfBl^ reiht sich an ein umschriebenes Adenom der
vordem Wand d^ Anfangstheils vom Oesophagus, welches in Form
einer bohneng^ssen flachen leicht höckerigen Geschwulst bei einem
50jähr; an dholera verstorbenen Mann gefunden wurde. "Zahlreiche
weit^ Oeffhungen von DrUsengängen liessen schon mit unbewaffnetem
Auge den Charakter der Geschwulst erkennen.
Bei den Adenomen reihen sich am zweck massigsten die Vergrösse-
rungen der Schilddrüse und des Hirnanhangs ein. Beide lassen sich
als traubige Drüsen mit obliterirtenAusführungsgUngen und selbständig
gewordenen Terminalbläschen auffassen. Die Häufigkeit, mit welcher
Veränderungen der Schilddrüse in Form von Struma in hiesiger Gegend
auftraten, ergibt sich daraus, dass nicht weniger als M Fälle = 12.
5 % verzeichnet worden sind, mithin jede achte Leiche mit einem deut-
lichen Kropf behaftet war. Die beiden Geschlechter betheiligten sich
hieran in sehr ungleicher Weise, indem die 1 7 Fälle auf 4 Männer und
4 3 Weiber sich vertheilen. Hervorzuheben ist ein Fall von angeborenem
Kropf bei einem Mädchen , welches während der Geburt asphyktisch
starb. Beide Schilddrüsenlappen waren vom Umfang je eines massigen
Hühnereies, das Gewebe braunroth, deutlich kOmig, ziemlich blutreich.
In der verengten Trachea fand sich ein mekoniumhaltiger Schleimpfropf.
Bei einem 83jähr. Mann fand sich neben vorgeschrittener Gehirn-
atrophie und Hydrocephalie eine wallnussgrosse Struma der Glandula
pituitaria, die sich im Verlauf mehrerer Jahre langsam entwickelt hatte.
Nur der drüsige Theil derHypophysis war an der Geschwulst betheiligt.
Der Fall wird im speciellen Theil ausführlicher besprochen werden.
Kystome der Nieren wurden in 4 , solche der Ovarien in 7 Fällen
beobachtet, bei zweien der letzteren zeigten die Geschwülste dermoiden
Inhalt. Bei einer 68jähr. Frau hatte ein im rechten breiten Mutterband
zwischen Tube undOvarium mithin wahrscheinlich von einem Rest des
WoLFP'schen Körpers aus entwickeltes Kystom durch mehrere an dasselbe
sich ansetzende Pseudomembranen Gelegenheit zu Einklemmung des
lleum gegeben.
An diese mit den Genitalorganen nachweisbar in Zusammen-
hang stehenden Kystome reihe ich an eine ellipsoidische reich-
lich wallnussgrosse mit klarer lymphartiger Flüssigkeit erfüllte Cyste,
welche sich an der rechten Seite der Aorta abdominalis nahe dem Ab-
gang der rechten Arteria spermatica int. vorfand und welche möglicher-
weise mit einem abgeschnürten Organrest aus der Zeit der ersten Ent-
wicklung der Genitalien in Beziehung gesetzt werden rouss. Die Ge-
154 "my heim Malier,
schwulst fand sich bei der schon erwähnten an Cylinderepitholiom der
Blase verstorbenen 64jährigen Frau. ' '^'^^
Bindesubsianz-Geschwülslc.
In dieser Gruppe fasse ich alle jene Geschwülste zusammen, wdidie
aus der Wucherung eines der Bindesubstanz reihe angehörenden Ge-
webes hervorgehen. Es gehören mithin hieher nicht nur die eigentlichen
Neubildungen von Bindesubstanz in fertiger oder embryonaler Form die
Fibrome, Myxome, Sarkome und Lipome, sondern auch die Chondrome
und Osteome.
Fibrome und Fibromyome in der Dicke der Uteruswand wurden
bei 4, solche im Ovarium bei 2 Frauen beobachtet. Auf der Schleim-
haut des Uterus hatten sich Bindesubstanzneubildungen in Form theils
flacher theils polypöser Geschwülste bei 4 Frauen entwickelt, in 3 Fällen
ausschliesslich im Gervix. Die Geschwülste zeigten stets eine ziemlich
weiche Beschaffenheit; in einem Fall hatten sich die Uterusdrüsen in
ausgiebigerer Weise an der Neubildung betheiligt.
Ein faustgrosses Lipom der rechten Inguinalgegend fand sich bei
einer 64jährigen Frau.
Von besonderem Interesse ist die Beobachtungeines wa]lnus3grosson
lappigen scharf umschriebenen Myxoms der Lunge einer 65jährigen an
Insufflcienz der Bicuspidalklappe und massiger Aortenstenose verstor-
benen Frau. Trotz sorgfältiger Untersuchung der Körpertheile, in wel-
chen Myxome häufiger primär sich entwickeln , gelang es nicht, eine
zweite Neubildung der Art aufzufinden, so dass die Geschwulst als ein
primäres Myxom der Lunge betrachtet werden muss.
Spindelzellensarkome fanden sich in S Fällen im Gehirn, sie werden
seiner Zeit im Zusammenhang mit einer grösseren Reihe analoger Hirnge-
schwülste beschrieben werden. Bei einer 60jähr. Frau war ein Spindelzel-
lensarkom ausderFascie des linken Oberschenkels cxstirpirt worden. Sie
erlag den Erscheinungen zunehmender Lungeninsufficienz. Es fand sich
ein reichlich kindskopfgrosser Tumor, welcher das obere Dritttheil der
rechten Pleurahöhle ausfüllte und mit der comprimirten Lunge fest ver-
wachsen ^ar neben zahlreichen sarkomatösen Tumoren in Lungen, Gostal-
pleura und parietalem Blatt des Herzbeutels. Zugleich fand sich im Uterus
eine bohnengrosse grauweisse markige Geschwulst von der Schleimhaut
des Fundus ausgehend, welche bei der Untersuchung als ein Spindel-
zellensarkom sich erwies.
Beobachluitgen des pHtkologischeii litflfffiis zu Jena im Jahre 1866. 155
Aagiooie.
Ich fasse diese Bejfichnung in einem weiteren Sinn als dies ge-
gewöhnlich geschilpt und begreife darunter alle Geschwülste, welche
einer Wucher]A»g von Derivirten des embryonalen Gefässrohrs ihre Ent-
stehung verdanken. Ich rechne somit hieher nicht nur die Teleangiek-
tasien und cavernösen Geschwülste, sondern auch die wahren Aneu-
i*ysmen und den Varix. Beide gehen aus einer flllchenhaften Hyperpla-
sie des Gefiissrohrs hervor und verhalten sich meiner Ansicht nach zu
den Veränderungen, welche die Endarterilis und Endophlebitis defor-
mans hervorbringt, analog wie ein Fibrom der Pleura sich verhält zu
der diffusen Hyperplasie durch chronische Pleuritis.
Hier ist zu erwähnen ein Aneurysma des Aortenbogens , welches
sich bei einem 69jähr. Mann entwickelt hatte. Neben den gewöhnlichen
Erscheinungen waren jene einer Lähmung des linken Slimmbandes
vorhanden. Es fand sich ein kopfgrosses Aneurysma des Aortenbogens
roitErosion der Wirbel, Schwund und blassgelbliche Färbung des linken
Muse, crico-arytaenoideus posticus neben Verdünnung und graulicher
Färbung des linken N. laryngeus inf.
Venöse Angiome der Leber fanden sich bei 3 Männern von 48 resp.
5! Jahren; sie waren in keinem Fall über kirschengross.
*
Neurome.
Ich fasse diese Bezeichnung in der Ausdehnung , welche Vircbow
in seiner bekannten Abhandlung ihr gegeben hat. Es gehört hieher ein
achtes Neurom , welches bei einer 55jährigen im hiesigen Irrenhause
verstorbenen Frau am linken Nervus peronaeus sich entwickelt hatte.
Ausser dieser peripherischen Anomalie fand sich eine sehr merkwürdige
Veränderung in der ganzen Ausdehnung des Rückenmarks, welche we-
sentlich an die Gefässscheiden gebunden w'ar und im speciellen Theii
ihre ausführliche Darstellung finden wird.
Syphilis.
Mit Sicherheit wurde Syphilis nur bei 5 Leichen nachgewiesen.
Ein 45jahriger Steinschleifer zeigte neben Bronchialerweiterung und
Lungentuberkulose allgemeine Hyperplasie der Lymphdrüsen, in beiden
Hoden die Reste früherer Gummigeschwttlste in Form theils käsiger
theils verkalkter Einlagerungen. Bei einer 39jährigen an eitriger Lepto-
meningitis verstorbenen Frau fand sich eine frische Gummigeschwulst
der Leber neben granulösem Katarrh des Uterus und der Vagina. Ein
1 56 ÜMielm Müller,
fünf Tage alter Knabe zeigte neben Peipphygus der untern Extremitäten
eitrige Infiltration der centralen Parthicn (ÜF^^Ymus. Ein 51 jähr. Irre
bot Narben an Penis, im Rachen, in der Leber. "*^,
Von besonderem Interesse ist die Beobachtung einer Gumniige-
schwulst im Gehirn bei einem vierwöchentlichen Knaben.. Ausser Pem-
phygus und maculösem Hautsyphilid fand sich Foramen övaleoind Ductus
arteriosus offen, letzterer nur an beiden Inserlionspuncten unbedetkeiwix
verengt. Das Marklager des Gehirns bot bei gallertiger Consistenz eine
lebhaft rosenrothe Färbung. Ueber dem linken Hornstreif etwa dessen
Mitte entsprechend das subependymale Gewebe im Umfang einer Linse
auffallend derb, schwielig und von gelblich -weisser Färbung. Im
rechten Centrum semiovale nach Aussen vom Thalamus opticus eine
erbsengrosse weissliche fibroide mit Ausläufern in die Umgebung über-
greifende Einlagerung, in deren Mitte eine umschriebene Verkäsung.
Nervensystem.
Pachymeningitis interna wurde in 9 Fällen beobachtet, dreimal
als chronischer Process und zwar in massigem Grad und mit zahlrei-
chen Resten früherer Extravasate bei einem G8jährigen Tuberkulösen und
einem 51jährigen Irren, mit Bildung umfangreicherer Hämatome, welche
den Tod unter den Erscheinungen des Hirndrucks herbeiführteii, bei
einem 44jährigen Irren als acuter Process wurde sie in 6 Leichen ange-
troffen. Da bei \ 03 Leichen die Schädelhöhle untersucht werden konnte,
ergibt sich ein Procentverhältniss von 8, 7.
Bei 4 Irren waren es nur die übereinstimmend in allen Fällen vor-
handenen Veränderungen im Centralnervensystem , welchen der Tod
zugeschrieben werden konnte. Diese bestanden in deutlichem Gehirn-
schwund, Wassererguss in die Arachnoidealräume des Gehirns und
Rückenmarks und in die Gehirnventrikel, Erweileiiing der letzleren
mit Verdickung undGranulirung desEpendyms. Eines dieser Individuen
hatte zwei Jahre lang die charakteristischen Erscheinungen des para-
lytischen Blödsinns dargeboten ; die Resultate der methodischen Unter-
suchung des Gehirns und Rückenmarks werden später veröffentlicht
werden.
Im speciellen Theil wird der Fall einer 31jährigen Frau ausführlich
geschildert werden, 'welche gleichfalls in dem hiesigen Irrenhause, einer
wahren Fundgrube interessanter Veränderungen des Gentralnervensy-
stems, gestorben war. Neben den Erscheinungen der Erotomanie und
zunehmenden Blödsinns zeigte sie schon beim Eintritt in die Anstalt
eine auffallende Abmagerung der einen und Vergrösserung der andren
J
Beobachtungen des pathologischen lujftkCffs za Jena im Jahre 1866. 1 57
Wade neben Klumpfusssiellung beider Füsse. Die Seciion ergab ein-
fache Atrophie und Fett^l^eiieration der Muskeln des einen, Atrophie
und Lipomatose jerv^ntTes andren Unterschenkels und Fusses, eine um-
schriebene Veränderung um den Gentralcanal im unteren Abschnitt des
Lendenmarks^tind hochgradigen Hydrocephalus.
Frische fiämorrhagie im linken Sehhügel setzte bei einem 30jähr.
seit längerer Zeit an tubulärer Nephritis und massiger Herzvergrösse-
rung leidenden Mann, eine umfangreiche Hämorrhagie im rechten
Centrum semiovale bei einem 60jährigen bisher gesunden Mann dem
Leben ein Ziel. In letzterem Fall fand sich neben Yergrösserung und
Lipomatose des Herzens mässiggradige Verfettung der Hirnarterien.
Bei einem 1jährigen Mädchen, einer 60- und einer 69 jähr. Frau
fanden sich im Anschluss an abgelaufene Endocarditis die Residuen
embolischer Gef^ssverstopfungen des Gehirns in Form gelber Heerde
in den Frontalwindungen resp. dem Hornstreif und der linken Insel.
Endlich wurden bei einem 61 jähr. Mann mehrere Gysticerken im
rechten StreifenhUgel neben solchen im Muse, biceps brachii dextri be-
obachtet.
Circulationssystem.
An die Spitze der hieher gehörigen Beobachtungen stelle ich einen
Fall von angeborener Lungenarterienstenose bei einem dreiwöchent-
lichen Knaben, welcher auf der Klinik des Herrn Hofrath Schultzb zur
Beobachtung kam. Das Kind hatte von der Geburt an die Erscheinungen
der Venenstauung dargeboten und war unter hochgradiger Gyanose
gestorben. Es fand sich ausgebreitetes Oedem des Unterhautbindege-
webes neben massigem Lungenödem. Der Herzbeutel in grösserem
Umfang als normal frei liegend, in seiner Höhlei Gubikcentimeter klarer
Flüssigkeit, seine beiden Blätter glatt und glänzend. Herz etwas ver-
grOssert, rundlich, mit einer anomalen queren Einziehung in der Mitte
des rechten Ventrikels. Die Lagerungsverhältnisse der grossen Gefässe
normal. Herzmuskel braunroth, fest, in beiden Ventrikeln von gleicher
zwischen 4 und 6 Mm. betragender Dicke. Der rechte Vorhof weit, sein
Endocard glatt und glänzend. Foramen ovale mit vollständig sufficienter
Klappe versehen, deren Blätter nur im Umfang einer Linse un verwachsen
sind. Ostium venosum dextrum von normaler Weite, Valvula tricuspi-
dalis normal gestaltet, mit geringer Wulstung ihrer Ränder, die Sehnen-
fäden theilweise verschmolzen und etwas verkürzt. Das Endocard des
rechten Ventrikels allenthalben getrübt und verdickt, am Sinus, welcher
erweitert ist, 0, 4 Mm. messend, ip Gonus in eine derbe 2 Mm. dicke
Schwiele verwandelt, welche denselben ringförmig einsclmilrt. Der
1 58 ^Mhehu Möller,
Conus beträchtlich verengt, an der Spitze auf eine Anzahl schmaler
zwischen den Trabekehi liegender Spalteb^fV^hicirt. Ostiuiu arteriosum
pulmonale verengt, 8 Mm. im Umfang betragena^^iU^ Semilunarklappen
sowohl unter sich als Iheilweise mit der Gefasswand verwachsen , letz-
tere in Längsfalten gelegt. Die Lungenarterien jenseits das Ostium 4 6
Mm. im Umfang haltend, Ductus arteriosus offen, nur am Ursprung un-
bedeutend verengt, 5 Mm. im Durchmesser. Septum ventrioidllfum
ohne Veränderung. Der linke Ventrikel und Vorhof normal weit, weder
am Endocard noch an den Klappen eine Veränderung zeigend. Die
Aorta vor der Einmündungsstelle des Ductus arteriosus \ 8, hinter der-
selben 16 Mm. im Umfang messend, ihre Klappen normal gestaltet und
schlussfähig. Im Übrigen Körper ausser hochgradigem Harnsäurein-
farct beider Nieren nichts Bemerkenswerthes.
Die Unversehrtheit des Septum ergibt, dass dieser Fall zu der
dritten von Peacock in seinem bekannten Werke aufgestellten Gruppe
gehört, die Erkrankung des Herzens mithin erst nach der i2. Woche
des Fötaliebens aufgetreten ist. Aus den Veränderungen am Klappen-
apparat, der Dicke der Schwiele, der unversehrten Beschaffenheit der
unterliegenden Musculatur schliesse ich, dass die Lungenarlerienstenose
in diesem Fall lediglich durch Endocarditis bedingt ist; aus der Faltung
der imStamnr normal weiten Lungenarterie an der verengten Ursprungs-
stelle glaube ich schliessen zu dürfen, dass dieselbe erst in einer relativ
späten Periode des intrauterinen Lebens aufgetreten ist. Der Umstand,
dass das Kind von der Geburt an die Erscheinungen von Venenstauung
darbot, macht es wahrscheinlich , dass zu dieser Zeit die Veränderung
im Herzen bereits fertig ausgebildet war. Welche Momente 'die Endo-
carditis hervorriefen, liess sich nicht eruiren , da die Mutter während
der Schwangerschaft keine Anomalie darbot, welche als disponirende
Ursache hätte betrachtet werden können.
Daran schliesst sich an ein Fall von erworbener schwielenbil-
«
dender Endomyocarditis mit wahrem Uerzaneurysma bei einem 57jähr.
Mann, welcher während der Arbeit auf dem Felde plötzlich umfiel und
sogleich todt war. Ausser dumpfen Schmerzen in der Herzgegend,
welche schon seit längerer Zeit bestanden, hatte derselbe keine abnormen
Erscheinungen dargeboten. DieSection ergab das Gehirn normal, etwas
anämisch, in den Lungen keine Veränderung. Herzbeutel mit dem
Herzen allseitig durch kurze bindegewebige Adhäsionen verbunden.
Herz normal gross, schlaff, rechterseits massiger Fettgehalt im subperi-
cardialen Bindegewebe , am Endo- und Myocard einzelner Papillar-
muskeln schwielige Verdickung. Die Wandung des linken Ventrikels
normal dick, ausgedehnte Trübungen des Endocard neben Schwielen-
Beobachtungen des pathologischen InsjyiMf^zu Jena im Jahre 1866. 159
bildung in den Papillarmuskeln und der anliegenden Herzwand. Die
Hersmusculatur an einen^hltoi grossen Stelle derVorderflaehe unmittel-
bar über derHerzsp^mr vollständig geschwunden, die nur aus dem ver-
dickten Peri- und'Endocard bestehende Herzwand daselbst flach aus-
gebuchtet. Säidmtliche Klappen des Herzens unverändert, Aorta normal
weit mit massigem Atherom.
Endocarditis wurde, abgesehen von dem schon erwähnten an-
geborenen Fall, in 12 Leichen beobachtet. = 8. 8%. Als frischer
Process fand sie sich viermal, stets im linken Herz : bei zwei Kin-
dern neben Bronchopneumonie als Gomplication der Masern, bei einer
30jähr. Frau neben krupöser Pneumonie als Gomplication tubulärer
Nephritis, endlich fanden sich bei einer 40jähr. Frau frische condylo-
matdse Excrescenzen an beiden Segeln der Bicuspidalis neben alter
Verdickung und Stenose des Ostium. Die Residuen abgelaufener Endo-
carditis wurde in 8 Leichen angetroffen : in 4 Fällen hatte dieselbe die
Bicuspidalis allein getroffen und zu Insufficienz durch Verkürzung ge-
führt, bei einer iOjähr. Frau war das Ostium venosum sinistrum allein,
bei einer 55jähr. des Ostium aorticum aliein stenosirt durch Verwach-
sung der betreffenden Klappen ; bei einer 66jähr. Frau fand sich« gleich-
zeitige Stenose beider Oslien des linken Herzens, bei einer 38jährigen
Frau endlich hatte sich im Anschluss an Rheumatismus acutus hoch-
gradige Stenose beider Ostien des linken Herzens neben Erweiterung
des rechten Herzens und Insufßcienz der Tricuspidalis ausgebildet.
Frische fibrinös-eitrige Pericarditis wurde viermal beobachtet: bei
einem 4jährigen Mädchen im Anschluss an Rachitis, bei einem 1 7jähr.
Tuberkulösen im Anschluss an diffuse eitrige Periostitis des Schenkels,
endlich bei einer 5ü- und einer GGjähr. Frau neben Thrombose der Herz-
obren. Die Residuen abgelaufener Pericarditis fanden sich ausser bei
dem schon erwähnten 57jähr. Mann noch bei einer 58jähr. Frau.
Endarteritisdeformans im Aortensystem fand sich bei 29 Individuen,
13 Männern, 46 Frauen = 21. 4%. Das jüngste Individuum, welches
die fragliche Veränderung in deutlicher Ausbildung zeigte, war ein
40jähr. Mann. Im System der Pulmonalarterie fand sich der Process
in 8 Fällen , stets im Anschluss an Lungenemphysem oder chronische
Pneumonie.
Von den Erkrankungen des Venensystems ist zu erwähnen eine
hochgradige Erweiterung sämmtlicher am Thorax gelegener Hautvenen
im Anschluss an eine voluminöse substernale Struma bei einer 74jäh-
rigen Frau.
Eitrige Phlebitis fand sich in 4 Fällen : bei 2 Neugeborenen in der
Nabelvene, das eine Mal neben eitriger Leptomeningitis des Gehirns und
160 ""-xJVilliclin Möller,
Rückenmarks, das andere Mal neben Thrombose des Sinus longiiudi-*
nalis im Anschluss an eine Infractfon oaS'^^heitelbeins. Bei einem
17jähr. Mann hatte sich von einem FurunkelSl^ Stirn aus diffuse
Phlegmone der Stirnhaut und linken Orbita, eitrige Phebitis der Vena
ophlhalmica und des Sinus cavernosus neben eitriger L^ptomeningitis
entwickelt; in den Lungen fanden i>ich metastatische Absceilse^ der ganze
Krankheitsverlauf hatte 5 Tage betragen. Bei einer Puerpera eMIicJbi.
fand sich bei intactem Peritoneum und ziemlich weit zurückgebildetem
Uterus eitrige Phlebitis im Plexus vesico-uterinus neben Thrombose der
rechten Hypogastrica und lliaca und diffuser Phlegmone längs beider
Gefässe bis zum Schenkclring.
Thrombosen im venösen Abschnitt des Gefässsystems fanden sich in
22 Fällen, davon kommen auf das Venensystem 1ö, auf das rechte Herzobr
6, auf die Spitze des rechten Ventrikels i. In 4 6 von diesen Fällen war
es zuEmbolie in die Lungenarterie gekommen. Im linken Herzohr fanden
sich Thromben in 4 Fällen ; sie halten dreimal zu Embolie von Körper-
arterien Anlass gegeben. Es fanden sich mithin im Ganzen 26 Throm-
bosen = 1 9. 2 % ^^^ von diesen kam es bei 73 % zur entsprechenden
Embolie. In 9 von den i 5 Fällen von Embolie der Lungenarterie war
es zu erheblicheren Folgeprocessen in den Lungen gekommen, wieder-
holt wurde in derselben Lunge bei vollkommen gleichartiger Natur des
eingeschwemmten Materials die Entwicklung vonAbscessen neben jener
von einfachen keilförmigen Hepatisationen und von hämorrhagischen
Infarcten beobachtet.
Eitrige Lymphangitis wurde in 5 Fällen beobachtet: Bei einem
73jähr. Mann erstreckte sie sich von einem Geschwür des rechten Unter-
schenkels aus längs des ganzen Lymphgefässstrangs bis zum Ligamen-
tum Pouparti , dieselbe Ausdehnung zeigte sie bei einem 67jäbr. Mann,
bei welchem von einer Excoriation am Unterschenkel aus ein wandern-
des Erysipel mit Blasenbildung und oberflächlicher Gangrän sich ent-
wickelt hatte. In zwei Fällen fand sich eitrige Lymphangitis des sper-
matischen Gefässslrangs neben Diphtherie des puerperalen Uterus und
weit verbreiteter eitriger Peritonitis. Es gehört hieher endlich ein Fall
von Periarteritis umbilicalis bei einem Neugeborenen, bei welchem der
Tod durch Blutung in den Arachnoidealraum des Rückenmarks erfolgte.
Es ist hier der Befund bei einer früher schon erwähnten 55jährigen
Irren anzureihen, welche ein Neurom des linken N. peronaeus und eine
weit verbreitete Veränderung im Rückenmark hatte. Nebem eitrigem
Katarrh der Scheide und des Uterus fanden sich die oberflächlichen
Lymphgefässe an der hinteren Wand des letzteren sowie jene des rechten
spermatischen Gefässstrangs varicös erweitert , die einzelnen Ectasien
. BeobAchtiiiigeu des patbologischen \ni\'\ii0(St\[ Jena im .Inhre 1866. 161
ober senfkorogross, dünnwandige^ mit einer ziemlich festen gelblichen
durchscheinenden Colloidjnasse gefüllt. Diese merkwürdige Anomalie
wii*d im Zusammenhing mit der ganz analogen Veränderung derGefäss-
scheiden des Rückenmarks im speciellenTheil näher besprochen werden.
Respirationssystem.
Unter den Erkrankungen dieses Systems steht an Häufigkeit oben
nn crupöse Pneumonie; ihr erlagen 15 Individuen oder 1 1 %. Nur in
einem Fall, bei einem 33jähr. Mann, hatte ausgedehnte Hepatisation
beider Lungen den Tod herbeigeführt, ohnedass anderweitige Verände-
rungen im Körper vorhanden gewesen wären. In allen übrigen Fällen
war die Pneumonie in Individuen aufgetreten, deren Constitution durch
anderweitige Erkrankungen bereits deteriorirt war: vier von den Fällen
betrafen Irre, je zweimal waren tubuläre Nephritis und rundes Magen-
geschwür, je einmal Dysenterie, Echinococcus der Leber, Pyelonephritis,
Aneurysma der Aorta, Insufficienz der Bicuspidalis, Synechie der Pleu-
ren neben marastischem Emphysem und chronischer Bronchitis als
Complicationen vorhanden. Kein Fall kam vor dem dreissigsten Jahre
zur Beobachtung; das weibliche Geschlecht lieferte ein genau doppelt
so grosses Contingent als das männliche. Die Vertheilung desProcesses
auf die verschiedenen Abschnitte beider Lungen war derart, dass
fünfmal beide Unterlappen, viermal der rechte Unterlappen, dreimal der
linke Oberlappen, zweimal die ganze linke Lunge und nur einmal der
linke Unterlappen allein betroffen war.
An Häufigkeit die nächste Form ist die Bronchopneumonie ; sie lie-
ferte \9 Todeställe oder S. S^ o- ^^^ ^^^" ^i^ hieher gehörigen Fälle
in zwei Gruppen abtheilen. Die eine umfasst die Bronchopneumonien,
welche vorwiegend dem kindlichen Alter angehören und durch das
Uebergreifen von einfachem Katarrh oder Diphtherie der Bronchien auf
die Terminalbläschen herbeigeführt werden. Hieher gehören 9 Fälle:
einer bei einem einjährigen Mädchen nach Diphtherie, zwei nach Masern,
z^^ei nach Keuchhusten neben tubulärer Nephritis, drei bei rachitischen
Kindern , dazu kommt ein Fall bei einer 60jähr. Frau , welche neben
Emphysem intensiven Bronchialkatarrh mitbronchopneumonischen Heer*
den darbot. In die zweite Gruppe gehören jene Fälle, bei welchen ge-
wöhnlich in Folge vollkommener oder unvollkommener Lähmung der
Schlingmuskeln Fremdkörper in die Bronchien gelangen und dort theils
auf mechanischem theüs auf chemischem Wege heftigere Katarrhe mit
peripherer Ausbreitung hervorrufen. Diese Form fand sich in drei Fäl-
len : bei einem iKjähr. Mann mit diffusem Sarkom des Corpus callosum,
Bm4 IV. 2. • M
162 \, Wilhelm MftHer,
ferner bei zwei Irren, in beiden FhWeji mit^utrider Zersetzung des In-
filtrats. ^
An die Bronchopneumonie reiht sich an {bl% gewöhnliche Polge,
die chronische Pneumonie mit Bronohialerweiterung. 6ie fand sich in
sieben Leichen = 5. 1 %. In mehreren dieser Fälle waren die Lymph-
drüsen im Lungenhilus in höherem Grade verändert: zweimal hatte
narbige Schrumpfung derselben zu Stenose von grösseren Bronchim
und Lungenart^rienzweigen Anlass gegeben, in eii\em dritten Fall war
durch Vereiterung einer solchen gleichzeitiger Durchbruch in einen Haupt-
bronchus und in die Lungenarterie zu Stande gekommen mit tödtlicher
Blutung. Diß Fälle werden mit einigen analogen im speciellen Theil
ausführlich geschildert werden.
Höhere Grade von Emphysem fanden sich bei 6 Individuen. In
allen diesen Fällen war neben der charakteristischen Veränderung der
Terminal bläschen alter und frischer Bronchialkatarrh, hochgradige End-
arteritis in Aorta und Lungenarterie und Erweiterung des rechten
Herzen zugegen. In 4 Fällen konnte der Tod lediglich der recenten
Steigerung df s Bronchialkatarrbs zugeschrieben werden, welcher einmal
mehrfache bronchopueumonische Verdichtungen herbeigeführt hatte.
In zwei Fällen hatU) sich zu dem Emphysem Thrombose des Herzens
mit ihren Folgen gesellt, in einem derselben, einer 47jähr. Frau, neben
rechtsseitiger eitriger Pleuritis.
Pigmenthypertropbie massigen Grades fand sich in den Lungen
einer Sojähr. Frau im Anschluss an Insufficienz der Bicuspidalklappe
und Stenose des linken Ostium venosum.
Eitrige Pleuritis fand sich, von den ganz leichten die Pneumonieen
begleitenden Formen abgesehen, in 10 Fällen =s 7. 4%. Nur in einem
Fall, bei einer 47jähr: Frau, bei welcher eitrige Pleuritis neben Lungen-
emphysem und H^r^thrombose beobachtet wurde, blieb die Entstehungs-
art dunkel, in allen übrigen Fällen war die Pleuritis secundär entstanden
und zwar dreimal im Anschluss an embolische Lungenabscesse, zweimal
an tuberkulöse Lungeneiterung und an Perforation des Zwerchfells von
der Leber aus, je einmal an Bronchiektasie und Rippenbruch. Der letz-
tere Fall ist von Iqteresse wegen derEigenthttmliobkeit seines Verlaufs.
Bei einem 50jähr. Irren hatte während der Anwendung des Zwangs-
Stuhls derKnpipel der rechten zweiten Rippe von letzterer sich abgelöst.
Es kam zu Eiterbildung an der Bruchstelle und da allseitige ziemlich-
feste Verwachsung der rechten Lunge die Entstehung einer Pleuritis
verhinderte, zu einem Absoess im vorderen Mediastinum, welcher sich
in die linke Pleurahöhle öflhete.
Die Residuen abgelaufener Pleurilis fanden sich in Form ausge-
r
BeobAchtiiiigen des patbologitcheii Inatipiirzii Jena im Jahre 1866. 1 63
d^bn(€«'er Verwaeh^ungen beider BlHUer in 43 Leichen =s 34. 8%.
Davon waren 26 Männer «nd 4 7 Frauen. Es war demnach das männ-
liche Geachlecbt ungtfMdi häufiger Processen unterworfen , welche mit
beträchtlicherer Reizung der Pleuren verbunden sind, als das weibliche,
wie dies die Vetschiedenheit des Berufs von vornherein wahrscheinlich
erscheinen lä3St.
Es ist hier noch eines seltenen LeiohenphSinomens zu erwähnen,
welches bei einem halbjährigen an Intussusception verstorbenen Mäd-
chen sich fand. Magen und Dünndarm waren beträchtlich ausgedehnt
und mit reichlichen Mengen giilnlich-gelber Flüssigkeit gefüllt, die
Wandungen des ersteren im Fundus hochgradig gallertig erweicht.
Beide Lungen vollkommen frei, die Pleurahöhlen leer, der Pleura-
Überzug glatt und glänzend aber an mehreren Stellen namentlich der
rückwärts liegenden Parthien eigenthümlich grünlich missfarbig. Die
Verfärbung erstreckte sieh auf eine Anzahl Heerde des unterliegenden
Lungenparenchyms, welches in deren Bereich theils emphysematbs
und hochgradig erweicht, theils geradezu in einen grünlich braunen
missfarbigen Brei verwandelt war. Diese Parthien der Lungen enthielten
gleich den zuführenden Bronchien und der Trachea dieselbe Flüssigkeit,
welche in Magen , Oesophagus und Rachen in reichlicher Menge sich
vorfand. Das Zwerchfell erwies sich intact. Ich kann in diesem Befund
Nichts sehen als eine cadaveriJse Erweichung der Lungen, bedingt durch
das Eindringen von verdauungsAihigem Mageninhalt in die Bronchien
während der Todenstarre. Diese Ansicht gründet sich 4j auf den Mangel
jeder Reaction seitens der Pleuren, 2) auf die gleichzeitige Erweichung
des Magens, 3) auf die Uebereinstimmung der in beiden finalog verän-
derten Organen enthaltenen Flüssigkeit.
Digestionssystem.
In erster Linie sind die Lageänderungen der in der BauchhMile
liegenden Theile dieses Systems zu erwähnen.
Prolapsus ani fand sich bei % Frauen , er hatte in einem Fall das
disponirende Moment zur Ansteckung mit Dysenterie abgegeben.
Hernien waren in 8 Individuen vorhanden = 5. 8%, hieven waren
vier rechtsseitige Leistenbrüche, sämmüich bei Männern, zwei links-
seitige Leistenbrüche bei einem Mann und einer Frau, bei letzterer
neben rechtsseitigem Schenkelbruch ; ausserdem Canden sich noch bei
zwei Frauen reohtsseitige Schenkelbrüche, wovon einer die Hernio-
tomie nothwendig gemacht hatte mit ungünstigem Ausgang. In einem
44 •
104 ^^^ Wilkebi MfllW,
dieser Fälle fanden sich nebenbei noch zwei leere Bruchstücke im Ga-
nalis obturatorius.
Innere Einklemmung war dreimal eingetreten: ein halbjahriges
Madchen hatte Intussusception des Ileumendes undCoecum in das Colon
ascendens. %
Bei einer 68jühr. Frau fand sich Einklemmung einer Ileum—
schlinge durch eine gespaltene Pseudomembran , die von einer Cysile
im rechten breiten Mutterband gegen das Parietalperitonäum in der
Gegend der rechten Synchondrosis sacro-iliaca sich ei*streckte.
Besonders complicirt gestaltete sich der Befund hei einer GOjährigen
Frau, welche wie die beiden vorigen unter den Erscheinungen deslleus
gestorben war. Es fand sich neben frischer Peritonitis das Duodenum
und der obere Theil des Jejunum beträchtlich ausgedehnt, das Lumen
mit einer enormen Masse gelblich-grauer fäculentriechender Flüssigkeit
erfüllt. Das Ende des Jejunum an einer umschriebenen Stelle sowohl
mit der vorderen Wand des Mesenteriums nahe dessen Anheftung als
mit einer anliegenden lleumschlinge massig fest verwachsen. Das
lleum an der verwachsenen Parthie in Folge alter Adhäsionen mehrfach
winklig geknickt. Die zwischen den verwachsenen Stellen liegende
130 Gentimeter lange Parthie des Darms dunkelblauroth , stellenweise
blutig suffundirt, allenthalben die Spuren alter Hyperämie in Form von
schiefrlger Pigmentirung und Verdickung der Wand mit zahlreichen
Bindegewebsvegetationen zeigend. Die Verwachsung leicht trennbar,
nach ihrer Trennung kommt eine groschengrosse Ulceration der vorderen
Platte des Mesenteriumszum Vorschein, welcher analoge Ulcerationen der
anliegenden Darmschlingen entsprechen. Jene des Jejunum zeigt sich
auf die Serosa beschränkt, jene des lleum ist mit einer schmalen Per-
forationsöffnung versehen, durch welche ein 5 Gentimeter langer Zahn-
stocher von Bein , umgeben von bräunlichem übelriechenden Eiter, in
die ulcerirte Parthie des Mesenteriums hineinragt. Letzteres verkürzt
und zwischen der Stelle, an welcher die Perforation stattgefunden hatte
und derDarminsertion zu einem halbfaustgrossen Tumor angeschwollen,
dessen Substanz theils blutig theils eitrig infiltrirt ist und mehrere blutig
suffundirte geschwoUene Drüsen einschliesst. Nebenbei umfangreiche
Leisten- und Schenkelbruchsäcke, deren Inhalt augenscheinlich lange
Zeit hindurch das jetzt retrahirte lleum gebildet hatte.
In zwei Leichen fanden^ sich Divertikel der vordem Oesophaguswand
■
im Niveau der Trachealbifuroation im Anschluss an narbigen Schwund
der anliegenden Lymphdrüsen.
Chronischer Magenkatarrh fand sich als Gomplication der verschie-
densten Processe in 1 8 Leichen =13.3 % und zwar gleich häufig bei
Männern und Frauen.
Beobachtangen d«8 pathoIoiEtSfbf n Instifnts tu J«na im Jahr« 1866. 1 65
Das chronische Magengeschwür und seine Residuen wurde in f 0
Fallen beobachtet = 7. 1 %. Wie gewöhnlich stellte das weibliche
Geschlecht ein viel betrachtlicheres Contingent als das mannliche (7 : 3] .
In neun von diesen 10 Fallen waren es die charakteristischen Narben,
welche die frühere Anwesenheit des Processes doeumentirten^ nur bei
einer 63jährigen Frau fand sich eine sanduhrförmige Verengerung durch
eine alte Narbe neben einem frischen Geschwür. Bemerkenswerth ist,
dass mit einer Ausnahme , welche den Fundus betraf, stets dieselbe
Stelle des Magens Sitz der Veränderung war : die hintere Wand in der
Mitte zwischen Pylorus und Gardia nahe der kleinen Gurvatur.
Eine interessante Form der Wurmfortsatzperforation wurde bei
einem 78jahr. Mann gefunden. Der Processus vermiformis war 5 Mm.
vor seinem etwas erweiterten Ende mit der vorderen Flache des Ileum
nahe den BAURiif'schen Klappe verwachsen und mündete durch eine
schmale seitliche von einem gewulsteten Schleimhautrand umgebene
Fistel in letzteren ein. Seine Schleimhaut war im Zustande chronischen
Katarrhs.
Chronischer Darmkatarrh fand sich abgesehen von den Fallen , in
welchen er tuberkulöse Verschwörung der Darmschleimhaut begleitete,
bei 10 Individuen, i Mahnern, 6 Frauen; er fand sich in :^ Fallen neben
Garcinose verschiedener Organe, eben so oft im Anschluss an chronische
Nephritis, in i Fallen trat derselbe als Theilerscheinung allgemeiner
Venenstauung auf.
Eine beschrankte Epidemie von Dysenterie, welche im Herbst auf-
trat, lieferte 7 Todte. Schon im August war ein Mann aus der Naum-
burger Gegend in das Landeskrankenhaiis aufgenoipmen worden , wo
er nach kurzem Aufenthalt der Erkrankung erlag. Im October wurde
ein zweiter Fall aufgenommen und wegen des Ausbruchs von Delirium
tremens auf die Irrenabtheilung transferirt. Daselbst haftete das Gonta-
gium und raffte zwei Angehörige dieser Anstalt hinweg. In derselben
Zeit starben in der gerade gegenüberliegenden Entbindungsanstalt zwei
Neugeborene an der gleichen Erkrankung. Ein siebenter Fall kam in
einem benachbarten Dorfe vor, er war gleichfalls aus der Umgegend
von Naumburg eingeschleppt. Die Erkrankung erstreckte sich bei einer
der Irren auf das ganze Ileum und den Dickdarm , ersteres mit einer
dicken in Zusammenhang ablösbaren gelblichen Grupmembran über-
ziehend. Bei einem der Neugeborenen beschrankten sich die Belege
im Ileum auf die PsTiE'schen Drüsen neben ausgedehnter Diphtherie
des Colon.
Es ist hier der Fall eines 33jahr. Arztes anzufügen, welcher
in den Tropen einen umfangreichen Leberabscess mit Durchbruch in die
rechte Pleurahöhle acquirirt hatte. Es fanden sich im Dickdarm neben
166 WUbelaMftller,
schief riger Pigmentirang der Schleimhaut aablrMcbe slraMIgeNiirben
als Residuen einer abgelaufenen Dysenterie.
Esdiinocoocen der Leber kamen zweimal zur BeobachUing: bei
einem47jähr. Mann mit Perforation in die rechte Pleurahöhle und eitriger
Pleuritis, bei einer 57jähr. Frau mit Perforation in die Gallenwege und
terminaler Pneumonie. Im letzteren Fall war es zu mehrfachen sack-
förmigen Ektasien der Gallengänge innerhalb der Leber gekommen,
welche sich ferner auch bei einem Mann mit Krebs des NierenbeckMs
und der Lymphdrüsen um die Leber pforte vorfanden.
Gallensteine fanden sich in 1 \ Individuen =: 8. 1 %, Audi hier
stellte das weibliche Geschlecht mit 9 Fällen das ungleich grössere
Gontingent.
Bei einer 64jähr. an Epitheliom der Blase verstorbenen Frau fanden
sidi zahlreiche Stecknadelkopf- bis erbsengrosse gelbe käsige Einlage-
rungen in die Bindesübstanz zwischen den einzelnen Läppchen des
Pankreas^ wahrscheinlich die Residuen früherer Eiterbildung im inter-
stitiellen Bindegewebe der Drüse imAnschluss an hochgradigen Katarrh.
Die Sehleimhaut des Duodenum zeigte ausser schiefriger Pigmentirung
keine Veränderung.
Eitrige Peritonitis fand sich in 8 Fällen, stets als secundärerProcess
und zwar dreimal im Anschluss an innere Einklemmung , zweimal an
Diphtherie des puerperalen Uterus, je einmal an Binichschnitt, Darm-
Perforation durch Dysenterie und Uterusruptur.
Uropoetisches System.
An Wichtigkeit steht unter den hier abzuhandelnden Erkrankungen
die Nephritis obenan. Man kann 3 Formen unterscheiden. Die erste
begreift jene Fälle, welche wesentlich durch Veränderungen in der epi-
thelialen Auskleidung der Harncanälchen cbarakterisirt und bei acutem
Verlauf als crupöse Nephritis, bei chronischem als Fettniere bezeichnet
werden ; für sie empfiehlt sich der von Digkiksok vorgeschlagene Name
der tubulären Nephritis. Die zweite umfasst jene Fälle , bei weichen
neben den Veränderungen des Harncanälchenepithels, weiche mit jener
der vorigen Form identisch sind, eine Wucherung der interstitiellen
Bindesübstanz der Niere zu Stande kommt , wodurch diese narbigen
Schwund verschiedenen Grades erleiden kann. Man wendet auf diese
als €irrbose oder Granularatrophie der Niere bekannte Perm zweck-
mässig die Bezeichnung der interstitiellen Nephritis an. Sie ist die ge-
wöhnliche Fonn bei Giehtischen ; sie isl noch häufiger eine Fol^e der
katarrhalischen Nephritis d. h. einer vom Nierenbeeken afus amf die
■r
BeobacbtuugeD des patbologisdMH lostHats zu ^tia iui Jahre 1866. 167
Harnoanälchen akh lorlpflansenden EpitHelialwucherang, denn nur in
dioser Aufiasaung erhalt überhaupt <tie Beaeichnung »kaiarrtaaliscbe
Nephritis« eine beslimmte and klare Bedeutung. Auf Grundlage dieser
Form entwickelt sieh in der Regel die dritte, die auppurative Nephritis,
charakteriairt durch Eitertellenbildung im interstitieUen Bindegewebe
des Organa.
Die acute Form der tubulären Nephritis wurde in 5 Fällen beob-
achtet: je eintsal neben Diphtherie und Masern, zweimal neben Keuch-
husten; in beiden letzteren Fällen waren Conereroente im Nieren-
becken nnd war der Tod unter den gewöhnlichen Erscheinungen der
Urämie erfolgt. Bei einer 31 jähr. Frau hatte sieh die Erkrankung zwei
Monate vor dem Tod unter Oedetfien entwickelt. Es fand sich neben all-
gemeinem Hydrops und der charakteristischen Veränderung der Nieren
eine linksseitige Pneumonie und frische Endooarditis derBicuspidalklappe.
Die chronische Form der tubulären Nephritis, sog. Fettniere,
kam dreimal zur Beobachtung: zweimal neben Garies, einmal neben
recenter Tuberkulose.
Interstitielle Nephritis fand sich im Anschluaa an chronischen Ka-
tarrh des Nierenbeckens bei 2 Frauen, in einem Fall doppelseitig , itn
andern auf die rechie Niere beschränkt. Unabhängig hievoti fand sie
sich bei einem iöjähr. Mann. Das Krankheitsbild war hier sehr dunkel
gewesen : öftere schmerzhafte Anschwellungen der Gelenke, fortschrei-
tende Abmagerung und Blässe ^ zum Schlüsse unstillbare Blutungen
aus Mund und Nase neben Coma und Gonvulsionen. Die Niereti fanden
sich auf V4 <^s Normalvolums reducirt , exquisit granular-^trophisob,
die Malpighischcn Körper zum Theil kysiomatös erweitert mit Abplattung
der enthaltenen Gefässrudimente , die Harneanälcheu tlieUs verengt,
mit fettigem Detritus und hyalinen Gylindem erfüllt, theils erweitert und
in beginnender Gystenumwandlung« Der Urin hatte bei einmaliger
Untersuchung keinen Eiweisagehalt dikrgeboten«
Der suppurativen Nephritis erla^^ ein 4 4 jähr. Mann, wekher in
Folg0 eines Blasensteins schon längere Zeit dn interstitieller Nephritis
gelitten hatte und wenige Tage vor sddem Tod der Uthotomie unter-
worfen worden war.
Amyloiddegeneration der Niere fand sich in 5 Fällen : zweimal
neben Uteruskrebs, zweimal neben Tuberkulose, einmal neben Pyelitis.
Kalkinfarcte in den Pyramiden wurden bei 4 fast gleichaltrigen
\^'^ 67 Jahrj Individuen beobachtet ; in keinem Fall )var eine Bezie-
hung zu Veräaderungeii im Knoobenaystem nachweisbar.
Katarrh des Nierenbeckens. fand sich in mäaeigem Grade bei drei
Irren und ehiem Tuberkulosen ; in keineol dieser Fälle fehlten die Er**-
'>
168 "^ . Wilhelm MWter,
scheinungen des chronischen Katarrhs in Blase und Uretfard. Hochgra-
dige eitrige Pyelitis fand sich bePzwei Frauen neben eitrigem Ölaseil-
katarrhy in dem einen Fall auf die rechte Niere beschränkt. Combinlrl
mit Hydronephrose f.ind sie sich bei einer iljähr^ Frau, deren linkes
Nierenbecken durch ein im Ureteranfang festsitzendes Concrement her-
metisch abgeschlossen war, während das rechte mehrere freie Goncre-
mente enthielt. Beide Nieren waren in kopfgrosse Säcke verwandelt,
das Parenchym bis auf geringe Reste geschwunden, die enthaltene FlttS-
sigkeit eitergemischt und übelriechend.
Bei 4 Frauen hatte sich im Anschluss an Epitheliome des Uterus
mit Gompression eines oder beider Ureteren Hydronephrose entwickelt.
Es ist hier noch ein Fall abnormer Beweglichkeit und Tiefstandes
der rechten Niere mit Ausbildung eines kurzen Mesonephrons zu er-
wähnen, welcher sich bei einer 69jähr. Frau fand.
f
4
Genitalsystem.
Granulöser Katarrh der hinteren Parthien der Urethra fand sich bei
5 Männern, worunter 3 Irre und \ Tuberkulöser. In zwei von diesen
Fällen machte schiefrige Pigmentirung der Samenblasen mit bräunlich-
gelber Färbung der enthaltenen Flüssigkeit deren Betheiligung an dem
Process wahrscheinlich.
Katarrh der weiblichen Genitalschleimhaut war in \ I Individuen
nachweisbar = 8. \ %, in 3 Fällen zugleich mit Schwellung und er-
heblicher Verlängerung des Gervix. Bei einer 69jähr. Frau fand sich
im Anschluss an croupöse Pneumonie ein gelblicher in Zusammenhang
ablösbarer Croupbeleg in Uterus und Vagina neben beträchtlicher Röthe
und Schwellung der unterliegenden Schleimhaut.
Diphtherie des puerperalen Uterus fand sich in 3 Fällen, stets be-
gleitet von eitriger Peritonitis, in 2 Fällen zugleich von eitriger
Lymphangitis im Plexus spermaticus.
Lageänderungen des Uterus kamen in 8 Individuen zur Beobach-
tung = 5.9 % und zwar 1 Vorfall, \ seitliche Beugung, 6 Rückwärts-
neigungen und Beugungen. Alle diese Individuen gehörten dem reiferen
Alter an.
Haut.
Es ist hier ein Fall von Wunddiphtherie seiner Gomplieation wegen
zu besprechen. Bei einer 53jähr. Frau war wegen eines umfangreichen
Sarkoms der rechte Oberschenkel im unteren Drittheil amputirt worden.
Beobaebtansen dM patbolopseben Institny^m .1«na im Jabre 1866. 169
Es stellte sieh in Form eines graugelbliclien festsitzenden übelriechenden
Belegs Wunddiphtherie ein, welcher die Kranke erlag. Es fand sich
ausser der Wundaffection hochgradiger granulöser Katarrh des Uterus,
der Blase und des rechten Nierenbecken; in allen diesen Theilen fanden
sich inselfbrmige Groupbelege , während die normale Schleimhaut des
linken Nierenbecken von der Affection vollständig verschont blieb.
Bewegungssystem.
Bei einer 56jähr. liren fand sich eitrige Bursitis patellaris ohne
Communication mit dem Gelenk. Die Wandung des Schleimbeutels war
hochgradig verdickt, sehr gef^ssreich und mit zahlreichen bis erbsen-
grossen wuchernden Granulationen besetzt, der enthaltene Eiter dick,
gelblich und übelriechend.
Bei einem 57jahr. an chronischer tubulärer Nephritis versiorbeoen
Mann fand sich Eiterung des rechten Kniegelenks neben solcher am
Periost des Oberschenkelknochen ; der letztere in seinem unteren Drit-
theil beträchtlich verdickt, von auffallend compacter Beschaffenheit, in
der Mitte scierotischen Gewebes zwei etwa kirschengrosse vollkommen
glattwandige mit Eiter gefüllte Höhlen enthaltend, welche durch Fistel-
gänge mit den anliegenden Äbscessen und der Oberfläche der Haut
communicirten. Der weitere Befund ergab keinen Anhalt für die Ver-
muthung , dass hier das Besultat constitutioneller Syphilis vorgelegen
habe.
BetbBchtmgeM ins ^th«l*gi«diMi lUÜtMis u Jeit !■ itlre I8<7.
Allgemeiner Tbeil.
Vom 1. Januar bis 31. IWcember*867 wurden vom pathologischen
Institut tuJenaUS Leichen secirt. Die Hauptlodesnrsflchen ergibt nach-
sMbende Uebersicht:
Tuberkulose
der Langen ....
> Knochen . . .
■ Nieren ....
deBBawbMIs . .
der Hirnhaute . .
Carcinom
dar Brustdrüse .
des Colon
Bpitheliom
desUagens
der HuDdhOble . .
des Utaras ....
Sarkom
des Gehirns . . .
der Schilddrüse .
■ Lungen . . .
syphms
Nervensyst.
Leptomeningitis .
Erkr. des
Circutalionssyst
Endocarditis . . ,
Adiposis Cordts . .
Milabitis
ArteritlB
iDUlatiOD ....
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Beobwhtnngeu des p«tliolo08ehen institots^m Jeiw im Jahn 1867.
171
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Uli"?
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Todesursache
0—4
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Erkr. d. Respirats
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Pneumonia crup
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Emphysema . .
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, Digestionss.
Catarrh.gaslro-iat.
Dysenteria . . . .
Ulcus roiUDd. . .
Perforalio proc.
vermiform. . .
Peritonitis . . . .
Incarcerat. herik
Voivulus
Erkr.d.uropoet.S.
Nephritis tubul. .
» interstit.
» SQpporat.
Diabetes
Erkr. d. Genitals.
Adhaes. placentae
Dipbtb. ul. pucrp.
Erkr. der Haut
Erysipels s . . . .
Phlegmone . . . .
Erkr. des
Bewegnngss.
Krad, libiae . . .
» Costa rum .
Vergiftung .
Verhungert .
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448
Tuberkulose
wurde in S9 LeicbeD conslaltrta «9. 6»/o. Sie fttbrie in i3 Fttll^ü
dtreci lum Tode, in (> FitUen durch Contplitiationen »nd swar dreinial
durah Perfoniü^n der Lungen tnil darauf (oigcmdom PtiouaicUMfaic,
iweitnal durch Perforaiion des Darms mit darauf Mf^MKier Periiönitii.
Bei einem 53jahr. Haftn war ea im Gefolge von Uiberkulbddr Carica dte
i, und 3. Lendenwirbela tu umacbrSebeoer Perforation der Dura aaUtr
spinalis gekommen mit nachfolgender bis in die Hirnhölüen verbreiMer
eitriger Lepknettingiiia*
172 ^ WilhelB MM,
In f 0 Pätien fanden sich näben der Taberkntosr ^rocesse , welche
das disponirende Moment zu ihrer Entwicklung abgegeben haben konn-
ten und zwar dreimal Syphilis, zweimal chronischf Pneumonie und tä-
cale Concremente im Wurmfortsatz, je einmal Manie, Diabetes, Ulcus
rotundum.
Von bemerkenswerthen Beobachtungen, zu welchen die Tu-
berkulose Änlass gab, hebe ich heraus das gleichzeitige Vorkommen
alter theils verkäster theils verkreideter bis erbsengrosser Tuberkel in
der Pia der Hirnoberfläche neben frischem miliaren Nachschub bei einem
28jähr. Mann und I3jahr. Mädchen.
Bei einem i 6jähr. Mann zeigte sich der Kehlkopfeingang dadurch
deform, dass die rechte Cartilago corniculata mit der überziehenden
Schleimhaut der vorderen Fläche der Cart. arytaenoidea auflag. Es fand
sich an der Basis der letzteren ein linsengrosses zackiges Geschwür,
welches die Schleimhaut nach oben unterminirt und die vordere Parthie
des Bandapparates zwischen Gart, arytaenoidea und corniculata zerstört
hatte, wodurch letztere ihrer Schwere folgend nach vorne und abwärts
gesunken war.
Bei einem \ Ojähr. Mann fand sich eine stecknadelkopfgrosse von
einem schwarzen Pigmenthof umgebene Oeffnung im rechten Haupt-
bronchus, aus welcher bei Druck Eiter sich entleerte. Die Präparation
zeigte, dass eine anliegende tuberkulöse Lymphdrüse vereitert und in
den Bronchus durchgebrochen war.
In zwei Fällen fand sich neben weit verbreiteter Tuberkulose Ver-
schwärung der Oesophagusschleimhaut. Bei einer 34jähr. Frau war
letztere im Anfangstheil von spärlichen, im weiteren Verlauf von zahl-
reichen rundlichen und zackigen bis groschengrossen Geschwüren be-
setzt, deren Ränder glatt, deren von der Submucosa gebildete Basis hie
und da durch netzförmig vorspringende Bindegew ebszüge uneben war.
Die zwischenliegende Schleimhaut war flach gewulstet und mit ver-
dicktem Epithelüberzug versehen. Die Uebereinstimmung dieser Ver-
schwärungen des Oesophagus mit zahlreichen gleichzeitig vorhandenen
in der hinteren Wand der Trachea war unverkennbar. Auf das untere
Drittheil des Oesophagus beschränkt wurde derselbe Befund bei einem
4 9jahr. Mann beobachtet. In letzterem Fall waren längere Zeit hindurch
Schmerzen beim Schlingen vorhanden, welche constant im unteren
Theil des Oesophagus angegeben wurden und von dem behandelnden
Arzt, Geh. Hofrath Ried, schon während des Lebens mit Wahrschein-
lichkeit auf eine Verschwärung der Oesophagusschleimhaut bezogen
worden waren.
Bei einem 27jähr. Mann war es iuiAnschluss an inveierirte Syphilis
ReobMhttin^en des patbolo^tiafhen Insfituts %\\ Jeim im Jahre 1867. 17^
ttfid alte Tuberkulose der Lungen und Lymphdrüsen zu acuter Tuber-
kulose gekommen, welcbif sich auf das PeritonHuui beschränkte.
Tuberkulose d^ Nieren in Form discreter Knoten fand sich bei
einem i^jühr. Mann. In infiHrirter Form und zwar von den Spitzen
einzelner Pyramiden aus auf deren Basis und die Rindensubstanz über-
greifend fand sie sich bei einem lOjühr. und einem 28jähr. Mann, bei
letzterem mit Bildung einer umfangreichen daveme. In beiden Füllen
warderProcess auf die rechte Niere und den rechten Ureter beschritnkt :
es fanden sich in letzterem und dem Nierenbecken, in Blase, Prost^ita
und den hinteren Parthien der Urethra theils frische Tuberkelk nötchen,
theils rundliche und zackige Geschwüre neben hochgradigem chronischen
Katarrh. In beiden Fällen waren Vas deferens. Nebenhode und Hode
beiderseits vollkommen frei geblieben.
Krebs.
Zwei Fülle von Garcinom der Brustdrüse boten übereinstimmenden
Befund: Oertliohes Recidiv an der Operationssieile, secundttre Carcinoma
in den Ach.seldrüsen, Rippen, Pleuren, Lungen und der Leber.
Bei einer 73jtfhr. Frau fand sich ringförmiges Garcinom des Colon
transversum neben solchem beider Eierstöcke , dabei acute Careinose
des Peritonäum.
Epitheliale Neubildungen.
Pflasterepitheliom des Uterus, vom Scheidegewölbe ausgehend, fand
sich bei einer 48jHhr. Frau. Die Neubildung hatte in ausgedehnter
Weise auf die Blase am Trigonum übergegriffen und sowohl eine ab-
norme Communication mit der Vagina als doppelseitige Hydronephrose
herbeigeführt. Das Rectum war bis auf einige submucöse Knötchen
frei ; dagegen fanden sich secundäre Epitheliomknoten in den retrope-
ri tonaalen Lymphdrüsen und der Leber.
Bei einem :i8 jühr. Weib hatte ein ausgedehntes Pflasterepitheliom
der Mundhöhle zu Entfernung der linken Unterkieferhfllfte Anlass ge-
geben. Nach dem 3 Wochen später an Bronchopneumonie erfolgten
Tod zeigte sich der ganze weiche Gaumen von der Neubildung substi-
tutrt, welche sich längs der linken beiden Gaumeabögen bis zum Kehl-
deckel erstreckte und theilweise in die Zungenbasis übergriff. Die be-
nachbarten Lymphdrüsen waren frei geblieben.
Drei Fülle von Gylinderepiiheliom fanden sich im Magen, zwei im
Pylorustheil bei einem 60jähr. Mann und einem Tijähr. Weib, ein dritter
174 ^ ^ WUbelmMAUer,
in dßv NMhß der Cardio bei einer ißjäbr. Frau, bi den letstenen beiden
Fällen war die Neubildung auf den Magent>eMhrilnkt, im isrsteren waren
di^ Lymphdrüsen um Magen und I^berpfarte und die Leber selbst von
»alilreichen secundären zum Tbeil sehr grosaen Epithel iomknoten durch-^
setst. Da3 Resultat der metbodisohen Untersuchung dieses Falk wird
der specielle Theil bringen.
Bei den Adenomen ist z,u erwöhnen die sog. Hypertrophie der Pro-
stata. Sie JEand sich in höherem Grade bei 5 Individuen, stets im An-
achluss an chronischen Katarrh der hinteren Parthien der Urethra und
mit Bildung eines sog. mittleren Lappen. Die Untersuchung von dreien
dieser F^lle und die eines frtlheren , in welchem die Prostata im An-
schluss an einen alten periurethralen Abscess über apfelgross war, hat
ergeben, dass an der Bildung des mittleren Lappen , welcher in einem
Fall über wallnussgross und deutlich abgegrenzt war, eine Neubildung
von Drüsenbläschen den wesentlichsten Antheil hatte. Nur in einem
Fall trat das Drüsengewebe gegen die verdickte Musculatur zurück.
Vf^rgrösserungen der Schilddrüse in Form der verschiedenen Modi-
ficationen d?s Kröpfe wurden in S7 Individuen angetroffen »t: 18. 2%.
Auch in diesem Jahre stellte das weibliche Geschlecht mit 1 6 Fällen das
grossere Cootingent.
Kystome der Nieren fanden sich bei 7 {4M., 3 W«), solche der
Ovarien bei 8 Individuen , von letzteren eines mit dermoidem Inhalt.
Bei einer 33jähr. Frau hatte ein colossales multjloculäres Kystom des
rechten Ovarium dessen Entfernung durch die Operation nothwendig
gemacht; der Tod erfolgte 5 Tage später durch allgemeine eitrige Pe-
ritonitia. ,
Bin de Substanz -Neubildungen.
Fibrome derUteniflschleimbaut fanden sidi bei 5 Individuen, vier-^
mal in Form polypöser Fibrome desGervix, im fünften Fall in Form eines
gestielten myxomatösen Fibroms des Uteruagrundes.
Myome und Fibromyome in der Dicke der Uteruswandungen kamen
in 4 Individuen »ir Beobachtung , w&hrend Ovarium , Wandung des
Magens und der Vagina je einmal diese Neubildung darboten.
Besondere Erwähnung verdienen mehrfache fladiböckerige breit
aufail^eieDde bis erbseof^rosse Fibrome desEpendyms derSeitenrentrikel
eines 67jilhr, Mannes , welcher den Folgen des Bnichsefanitts erlegen
war. Während des Lebens war kein Symptom vorhanden, welches auf
die Anwesenheit derNeubildung hingedeutet hütile. Die Weite der Yen-
m
Beobachtungen des pathoiagiflebtn loBCitii6 1\\ Jena im Jahre 1867. 1 75
Irikel zeigte sich nonnal, die anliggende Hirn8ui)stani& unvermindert.
Die Geschwülste waren jrUti derber Consisteuz, reinweisser Farbe ; sie
beftanden aus Behr>tfarten wohl ausgebildeten BindegewebsObriUen mit
massenhaft dazwischen liegenden starkgeschluod^enen feinen elastisohen
Fasern und zarten elliptischen Zellelementen , welche s|.elieQwei8e mit
Zurücktreten der intercellularsubstanz dichter zusammenlagen.
In viel grösserem Maassstabe fanden sich ganz ähnliche Geschwülste
in Form einer handgrossen 2 — 8 Mm. prominirenden Gruppe «nuf der
linken Costalpieura einer 60jähr. Frau, wo sie das hintere Drittheil des
5. bis 8. Intercostalraums bis zur Wirbelsäule einnahmen. Sowohl in
der äusseren Beschaffenheit als im Bau stimmten diese Geschwülste mit
jenen des Ependym vollständig überein.
Noch interessanter sowohl hinsichtlich der Symptome als de3 Be^
fundes ist die Beobachtung zweier freilieffender neben einep) gestielten
Fibrom in der lipken Pleurahöhle eines 58jähr. Mannes. Derselbe war
nur wenige Tage in Behandlung gewesen, die Erscheinungen waren
Präcordialangst, Puls von 18 Schlägen, Kühle der Extremitäten. Die
Section wies ziemlich beträchtliche Fettdegeneration derHerzmusculatur
nach. Im Nervensystem des Herzens wurde Nichts gefunden , was die
auffallende Pulsverlangsamung erklärt hätte: Vagus und Accessorius
sowie ihre Ursprünge im verlängerten Mark, die sympathischen Ge-
flechte längs der Art. vertebralis sowie die Herzgeflechte selbst wurden
mit völlig negativem Resultat mikroskopisch untersucht. Nun fand sich
aber ein kirschengrosser derber freier Körper von weisser Farbe und
etwas höckeriger Oberfläche im linken Pleurasack neben der Wirbel-
säule gerßde über der Zwerchfellskuppe , ein zweiter eben so grosser
gerade auf der Mitte der vorderen Fläche des Herzbeutels, während ein
dritter etwas über erbsengrosser durch einen schmalen bindegewebigen
Stiel an die Pleura über dem 4 linken Rippenknorpel nahe seinem An-
satz an die Rippe angeheftet war. Im Bau stimmten alle diese Körper
sowohl unter sich als mit den schon beschriebenen des Ependym über-
ein. Es muss dahin gestellt bleiben, ob die auffallende Pulsverlangsa-
mung mit der Anwesenheit der freien Körper an der vorderen und hin-
teren Fläche des Herzbeutels in Beziehung gesetzt werden kann oder ob
das Zusammentreffen beider Befunde ein zufilUiges darstellt.
Bei 2 Männern fanden sich rundliche Fibrome an der Innenfläche
der Dura mater vom Umfang einer massigen Kirsobe, welche wie an
dieser Localitfit gewtthidioh, mit c^mcentriscb geadiiobtetenKalkkörneni
imprägnirt waren. In dem einen Fall fand sich daneben auagedehnie
Verkalkung der Bindesubatant aelbal, in dem andren waren lahlreiGbe
176 Wilhelm MAUer,
Fetizellengruppen imregelm£lssig abwischen die Bindegewebsbttndel ein^
gestreut. ^^^
Ein erbsengrosses Lipom an der InnenfllMie der Nierenkapsel
fand sich bei einem 60jähr. Mann.
Kleinzellige Sarkome des Gehirn wurden bei 2 Männern zur Todes-
ursache, ihr Sitz war das einemal der linke Stimlappen, das andremal
der Balken. Sie w:erden später beschrieben werden.
Ein kleinzelliges Rundzellensarkom mit Pigmentgehalt fand sich
in Form zahlreicher Geschwülste im Sternum , Mediastinum , beiden
Pleuren und Lungen eines 20jähr. Mannes.
Bei einem 66jHhr. Mann war die ganze Schilddrüse in ein kopf-
grosses lappiges Spindelzellensarkom verwandelt mit Perforation der
Trachea und zahlreichen metastatischen Geschwülsten in den Hals-
lymphdrüsen und Lungen.
Es sind endlich hier noch mehrfache Exostosen zu erwähnen,
welche sich bei einer 60jähr. Frau an Rippen, Wirbeln und der Innen-
fläche des Schädels fanden.
A n g i o m e.
Cavernöse Angiome der Leber fanden sich bei i Männern von 57
und 60 Jahren, in dem einen Fall zahlreich und bis zu Apfelgrösse, in
Form lappiger Geschwülste über das Niveau der Leber prominirend.
Varixbildung wurde bei 34 Individuen constatirt = 20. 9% und
zwar lieferten die hämorrhoidalen Venen 25 , jene des breiten Mutter-
bands und des Unterhautbindegewebes der untern Extremitäten je 5,
jene der Pia mater 2 Fälle, während einmal eine hochgradige Varicocele
im rechten Samenstrang constatirt wurde.
«
Neur ome
fanden sich in Form von knotigen Anschwellungen sämmtlicher Nerven
eines Amputationsstumpfs des rechten Oberarms bei einem 42jährigen
Mann.
Syphilis
wurde in 9 laichen constatirt = 6. 08%. Unter den hieher gehörigen
Fällen ist hervontubeben die Beobachtung multipler tief ehidringender
Narben der Leber hei einem i.^jähr. Irren. Bei einem Neugeborenen,
weicher Vj Stunde lebte, fand steh neben Pemphygus Bf onohopneuntonie
Beobachtungen des pathotogiseheo Institata ku Jeua im Jahre 1867. 177
beider Lungen mit umschriebenen MSsigen Hepatisationen. Der Fall
wird seiner Wichtigkeit /IPfegen im speciellen Theil ausführlicher be~
schrieben werden. ^'
Typhus
war in den 4 Fallen, welche zur Ohduction kamen , durch Complica-
tionen iMtlich geworden und zwar zweimal durch Verschwörung des
Kehlkopfs mit nachfolgender Bronchopneumonie, je efnmal durch Darm-
perforation und durch Venenthrombose mit nachfolgender Lungen-
arterienembolie.
Nervensystem.
Pachymeningitis interna fand sich in chronischer Form und mit
beträchtlichem Bluterguss zwischen den gallertigen Pseudomembranen
bei \ , in acuter bei 7 Leichen, darunter 6 Manner, 2 Frauen. 5 von
den Individuen waren Irre, 2 Potatoren. Auf 414 Leichen berechnet,
deren Schädel eröffnet wurde, ergibt sich ein Verhältniss von 7. 2%.
Eitrige Leptomeningitis wurde in 4 Individuen beobachtet: bei einem
57jahr. Mann in Form von Cerebrospinalmeningitis mit protrahirtem
Verlauf; bei einem 33jahr. Mann nach Durchbruch derDura spinaiis von
einer tuberliulösen Wirbelcaveme aus; bei einem 54 jähr. Mann trat
sie im Anschluss an Pneumonie, bei einer 38jähr. Frau im Anschluss
an Diphtherie des puerperalen Uterus mitLymphangitis des Plexus sper-
maticus auf.
Bei einem Todtgeborenen und 3 Irren war innerer und äusserer
Hydrocephalus die einzige Veränderung, welche als Todesursache be-
trachtet werden konnte. In einem der letzteren Fälle waren neben den
Erscheinungen des paralytischen Blödsinns öfter wiederkehrende An-
fiille von Bewusstlosigkeit mit halbseitiger Lähmung vorhanden gewesen,
welche stets im Lauf weniger Tage wieder verschwanden; die Lähmung
wechselte einmal mit Veränderung der Lage des Kranken.
Bei einer 67jähr. Frau fand sich neben den Resten abgelaufener
Endocarditis der Bicuspidalklappe der viereckige Lappen des Kleinhirns
beiderseitsizum grossen Theil in eine orangegelbe narbige Masse ver-
wandelt , mit welcher die verdickte Pia fest verwachsen war. Beide
zuführende Arterien waren durchgängig und ohne Veränderung, so dass
der Beweis ftir die embolische Natur der schon lange bestehenden Ver-
änderung sich nicht führen Hess.
Ein 36jäbr. Mann hatte vor längerer Zeit den ±. Lendenwirbel ge-
brochen und eine unvollständige Lähmung der unteren Extremitäten
zurückbehalten, welche ihn zum Gehen an der Krücke nöthigte. Die
B«Bd IV. 2. 12
178 ^^ Wilhelm MOller,
SectioD ergab deutlichen Callus illp Körper upd Bogen diese» Wirbeb,
dieDura mit demselben verwachsen, eine SiifMe bindegewebige Pseudo-
membran querdurch die Wirbelhöhle gespannt mit&nschnttrungsSmmt-
lieber Nerven am Anfang des Filum terminale. Ausserdem fand sieb
altes abgesacktes linksseitiges Empyem; der erste Lendenwirbel in sei-
nen unteren 2 Drittheilen eine grosse mit käsigeV Masse gefüllte Höhle
enthaltend, welche beiderseits mit ausgedehnten verkästen eine Anzahl
Knochenfragmente und Kalkbrocken enthaltenden Psoasabscessen in
Verbindung stand.
Ein überaus wichtiger Fall von partieller Verwundung des Rücken-
marks im Niveau des 4. Dorsalwirbels wird im speciellen Theil geschil-
dert werden.
Girculations System.
Frische fibrinös-eiti^ge rerioarditis wurde in 3 Leichen constatirt,
einmal neben Thrombose des rechten Herzohrs bei Uterusepitheliom,
einmal neben frischer Endocarditis im linken Ventrikel bei Diphtherie
des puerperalen Uterus, endlidi bei einem 51 jähr. Mann neben Pleuro-
pneumonie und eitriger Leptomeningiüs.
Die Residuen abgelaufener Pericarditis fanden sich in Form mehr
oder weniger ausgedehnter Verwachsungen zwischen beiden Herz-
beutolblättem in 5 Leichen.
Vergrösserung des Herzens mit Hyperplasie der Musculatur war in
4 9 Leichen ausgebildet. Sie war in 8 Fällen durch Klappenfehler be-
dingt; in 5 Fällen war lediglich das rechte Herz Sitz der Vergrösserung,
dreimal im Anschlusa an Emphysem, je einmal an chronische Pneumonie
und Tuberkulose. In 6 Fällen war die Vergrösserung beiderseitig und
di'eimal mit Struma , zweimal mit interstitieller Nq)hntis , einmal mit
chronischer Pneumonie und gleichzeitig vorhandenem rundem Magen-
geschwür combinirt.
Vorgeschrittene Fettdegeneration des Herzmuskels fand sieh in 8
Leichen; bei einem 68jäbr. Mann war sie mit beträohll icher Lipomatose
combinirt und die einzige Veränderung, welcher der auf dem Heimweg
von einem benachbarten Dorfe plötzlich erfolgte Tod zugeschrieben
werden konnte.
Endoearditis mit ihren Folgen wurde ISmal beobachtet = 40. 1 7o•
AlsfrischcrProcess war sie in 5 Individuen nachweisbar^ zw^mal neben
jauchenden Epitheliomen, einmal neben Diphtherie des puerperalen
Uterus und neben Tuberkulose. Während in diesen Fällen der linke
Ventrikel allein betroßen war, waren bei einem 44jähr. Kutscher mit
Ausnahme der Semilunaren der Lungenarterie sämmtliche Herzklappen
Beobachtujogeu des patliologiseheu Instituu lu Jeua im Jahre 1867. 179
beibeiligl mit ausgedehnter Thrombifse beider Ventrikel und multiplen
Embolien, ohne dass einTtRsponirendes Moment für die Entwieklung der
Erkrankung sich hMle nachweisen lassen. Der ganze Verlauf hatte li
Tage in Ansprueh genommen.
Die Residuen abgelaufener Endocarditis fanden sich in 40 Lei-
chen und iwar fünfjaoal (\ itf. 4 W.) in Form von Insufficieni der
Bicuflpidalis, zweimal (i M.j in Form von Insufficienz der Aorta-
klappen , zweimal (S W.) waren beide Klappen insufficient ; endlich
war in einem Fall die Bicuspidalis insufficient neben Stenose
des Ostium. Die beiden Falle von Insufficiene der Aortaklappen ver-
dienen nähere Erw&hnung ; in dem einen war bei einem 43jahr. Mann
während des Aufsitzens zum Behuf der Untersuchung des Herzens der
Tod plötzlich eingetreten; es fand sich die hintere Semilunarklappe
narbig verkürzt, hochgradige Endarteritis deformans mit Verengerung
der Coronararierien und vorgeschrittene Fettdegeneration des Herz-
muskels; im zweiten Fall (57jAhr. Mann) war die hintere Klappe be-
trächtlich verdickt und verlängert mit einer queren Einschnttrung Inder
Mitte, von welcher an das peripherische Sttick gegen den Ventrikel um-
geklappt war.
Es ist hier der Ort, die übereinstimmenden Veränderungen zu er-
wähnen, welche bei S auf dem Marsche von Weimar nadti Jena resp.
Lobeda der Insolation erlogenen 24 jähr. Soldaten sich vorfanden. Die
Erscheinungen waren die gewöhnlichen : Bewusstiosigkeit, Gonvulsionen,
Uusserst frequenter Puls, ihre Dauer in dem einen Falle 2, im andren
7 Standen. Bei beiden Individuen ergab die Section Gyanose des Ge-
sichts, umschriebene Sugillationen im Mesenterium, den Lungen, dem
Vfsceralblartt des Herzbeutels und imBndocard des rechten, ausgedehnte
in jenem des linken Herzens, wo sie bis zu 4 Mm. Dicke erreichten.
Das Gehirn eher anämisch und etwas weich , Lungen , Milz und Nieren
venös hyperAmisch, das Blut allenthalben dunkel und flüssig , nur im
rechten Herzen ein lockeres Leichengerinnsel. Ausserdem fanden sich
in dem einen Fall mehrfache zum Theil mit käsigem Inhalt gefüllte
Bronchiectasien im Oberlappen der linken Lunge und ein Fäcalconore-
ment im Processus vermiformis , im andren chronischer Bachen- und
Larynxkatarrh mit VergrOsserung beider Tonsillen , mehrfache narbige
Verdichtungen in den Oberlappen beider Lungen nnd Verkalkungen
der bronchialen Lymphdrüsen. Stücke der Lungen, Nieren, des Gehirns
und Rückenmarks wurden theils frisch, tbeils nach mehrwOchentlicher
Härtung in einer 4 % L(S8ung von doppelt chromsaurem Kali auf Pett^
embolie und parenchymatöse Verfettung untersucht, mit negativem Er-
folg, leb lege auf dieses Resultat gegenüber den Angaben von E. Wag-
12*
180 Wilhelm Mflller,
NBR um so mehr Gewicht, nls dieSdlhe Methode in drei sogleich 2u er-
wähnenden Fällen mit positivem Erfolg zttffipnstatirung vorhandener
Fettembolie verwendet wurde.
Versucht man auf Grund beider Beobachtungen die Theorie der
Insolation zu prtlfen, welche Obernier aufgestellt hat, so findet allerdings,
wie ich glaube, sowohl der Befund in der Leiche als die Symptomen-
gruppe im Leben eine genügende Erklärung auf Grund der Hypothese,
dass die schweren Erscheinungen bei beiden Soldaten eintraten, nach-
dem das zur Verdunstung resp. Abkühlung des Körpers disponible
Wasser in Blut und Lymphe bis zu einem gewissen Grad veii)raucht
war. Zweierlei Folgen leiten sich ungezwungen aus dieser Hypothese
ab : eine Erwärmung des Körpers resp. Blutes über die Norm und eine
Heduction des Blutyolums. Von diesen Pactoren ist der erstere kein
Gegenstand pathologisch anatomischer Beobachtung ; seine Wirkungen
sind zudem von Obernier genügend beleuchtet. Der letztere war jeden-
falls ein begünstigendes Moment für den Eintritt der Herzlähmung, als
deren Resultat die Anämie des Gehirns und die stärkere Füllung des
Venensystems sich betrachten lässt. Als Folgen der letzteren erscheinen
die Blutungen in den serösen Häuten ; ihr Auftreten imEndocard konnte
begünstigt werden durch eine beträchtliche Verminderung des Drucks,
welchen bei normaler Füllung der Ventrikel das enthaltene Blut auf das
Endocard ausübt. Mit dieser Annahme steht völlig im Einklang , dass
diese Blutungen viel ausgedehnter im Endocard des linken als in jenem
des rechten Herzens sich vorfanden, denn das Volum des im linken
Ventrikel enthaltenen Blutes, welches die gewaltige Verdunstungsfläche
der Lunge passitt hatte, konnte in Folge dieses Umstandes sehr wohl
eine grössere Menge Wasser verloren haben als ein gleiches Volum
Körperblut.
Endarteritis deformans fand sich im Aortensystem in 27 = 1 8. 2 7o»
in jenem der Pulmohalis in 1 0 Fällen, in letzteren fast stets neben Em-
physem oder chronischer Pneumonie.
Eitrige Phlebitis derUmbilicalvene führte bei 2 Neugeborenen zum
Tod unter den Erscheinungen der Pyämie, das eine Mal neben Leber-
abscess und Gelenkeiterung, ^das andre Mal neben Lungenabscess und
eitriger Pleuritis.
Thrombosen wurden im Ganzen 27mal oonstatirt = 18. 1 7o ?
es waren deren Sitz die Körpervenen in 20, die Pfortader in 1, das
rechte Herz in 4, gleichzeitig das rechte und linke Herz in- 2 Fällen.
In 21 von diesen Fällen wurde die zugehörige Embolie constatirt
= 77. 7%. In einem Falle wurden in der Placenta eines Todtgebo-
renen mehrfache derbe theils braunrolhe theils gelbliche Stellen ge-
UÄxiM
Beobucbtuiigen des patliologiseheii lustitutjriu .ieiia im Jahre 1867. 181
funden ; die Untersuchung ergab, das« es sich um Thrombosen in ver-
sdiiedenen Stadien der HttokKIMung handelte.
Drei Fälle von FeUembolie reihen sich hier an, welche im Anschluss an
complicirte Fracluren der Tibia und Fibula sich ereigneten. Ein 30j. Dienst-
knecht wurde den 3. Januar in) trunkenen Zustand überfahren und erlitt
einen Splilterbruch der rechten Tibia uiidFibula. Er wurde bald nach sei-
ner Aufnahme ins Spital soporOs und starbden 6. Januar. DieSection er-
gab ausser der örtlichen Zerstörung beträchtliche Hyperämie beider
Lungen, zahlreiche capilläre Hämorrhagien in Gehirn, Pleuren, Lungen,
Endocard, Nieren. Die mikroskopische Untersuchung sowohl der fri-
schen als der in Lösung von chromsaurem Kali gehärteten Organe zeigte
colossalo Fcttembolie in den Lungen und Nieren , so dass in letzteren
förmliche injectionspräparate der Malpighischen Knäuel entstanden
waren, weniger intensive in den Capillaren des Gehirns, Darms, Herz-
muskels und der Haut. Eine 17jähr. Irre war den 15. Juni aus dem
Fenster gesprungen und hatte die linke Tibia und Fibula gebrochen.
Auf grosse Unruhe in der ersten Zeit nach der Verletzung folgte zuneh-
mendes Coma und am Morgen des 10. der Tod, nachdem noch blutige
Sputa aufgetreten waren Die Section ergab enorme Hyperämie beider
Lungen mit zahlreichen capillaren Hämorrhagien , die mikroskopische
Untersuchung ausgedehnte Fcttembolie der kleinsten Arterienzweige
und Capillaren der Lungen, sehr unbedeutende der Malpighischen Kör-
per der Nieren und des Gehirns. Genau denselben Befund ergab die
Obduction und nachfolgende mikroskopische Untersuchung bei einem
43jähr. Potator, welcher den i. Juli einen Coraminutivbruch der rechten
Tibia und Fibula durch Ueberfahren erlitten hatte. Am Tag nach der
Verletzung stellten sieh die Erscheinungen von Delirium tremens ein,
wozu sich zuletzt einige tetanische Anfälle gesellten, welchen der Kranke
den 7. erlag. Diese Fälle summen sowohl unter einander als mit den
von dem Entdecker der Fettembolie , E. Wagnbk , veröffentlichten so
vollkommen Uberein, dass sie eines weiteren Commentars nicht bedürfen.
Eitrige Lymphangitis fand sich im Cruralstrang eines 67jähr. Mannes
im Anschluss an ein Erysipel des Unterschenkels, bei 3 Frauen im PleJLUs
spermaticus im Anschluss an Diphtherie des puerperalen Uterus.
Eitrige Lymphadenitis fand sich einmal in den retroperitonäalen
Drüsen neben eitriger Lymphangitis qsermatica, in einem zweiten FaU
in einzelnen Drüsen der Mesenterialwurzel neben eitriger Phlegmone
des Mesenteriums und retroperitonäalen Bindegewebs, welche zugleich
mit Thrombose der Pfortader von einem Ulcus rotundum duodeni aus
sich entwickelt hatte.
Pigmentirung und narbige Schrumpfung sämmtlicher inguinaler
und lumbarer Drüsen fand sich bei einem mit Elephantiasis beider
— s
182 . Wilhelm Hfiller,
unteren Extremitötei) behafleten töj&hr. Jttnglin^. Auf die Bronchial«*
drttsen beschränkt fand sie sich mit odef Ohofi^leichzeilige VeriLreidung,
abgesehen von den durch Tuberkulose bedingtennEäUen , 4 f mal vor, in
6 von diesen 1 4 Fällen war chronische Pneumonie mit Bronchialerwei—
terung das disponirende Moment gewesen. Die Xymphdrtlsen—
Schrumpfung hatte zweimal au Stenose grosser Bronchien , einmal zu
solcher eines grösseren Lungenarterienzweigs geführt, während iifeinem
vierten Fall eine pigmentirte Narbe einen früheren Durohbruch eitler
eiternden Drüse in den anliegenden Bronchus vermuthen Hess. Bei
einer 73jähr. Frau fanden sich mehrfache VeriLalkungen der mesente-
rialen Lymphdrüsen neben chronischem Katarrh des Wurmfortsatzes.
Respirationssystem.
Eitrige Pleuritis fand sich, von den leichten die Pneumonie beglei-
tenden Formen abgesehen, in 43 Fällen =s8. 7%. Sie war stets se-
cundärer Process und zwar bestand das disponirende Moment je vier-
mal in embolisohem Lungenabscess und in Peritonitis, zweimal in Rippen-
brüchen, je einmal in Bronohiectasie, Tuberkulose undSarkomatoseder
Lungen. Die Häufigkeit ist au&Uend, mit welcher eitrige Peritonitis zu
eitriger Pleuritis führte; man wird unwillkürlich versucht, dabei eine
massenhafte Durchwanderung von Eiterl^Uen oder den Erregern der
Eiterung überhaupt durch das Zwerchfell im Sinne von CoHimBiii und
V. Rbcklihghausbii anzunehmen um so mehr, als auch der umgekehrte
Fall nicht selten ist, dass an eitrige Pleuritis eine Peritonitis des Zwerch-
fells sich anschliesst, welche zur Verwachsung des Zwerchfells mit Milz
oder Leber schliesslich führen kann.
Die Residuen früherer Pleurareizungen fanden sich in Form mehr
oderwenigerausgedehnterSynechien beider Blätter in ÜLeichen sc 29%.
CrupOse Pneumonie war bei 16 Individuen nachweisbarst 40.
8%. Ihr Sitz war sechsmal in beiden, eben so oft im rechten
Unterlappen, zweimal in der ganzen rechten Lunge, zweimal im
linken Unterlappen. Bemerkenswerth ist das Auftreten einer Pneu-
monie, welche sich 9owohl hinsichtlich der Körnung und Farbe der
Schnittflädie als hinsichtlich der gleichförmigen Verbreitung von der
gewöhnlichen crupöseu nicht unterscheiden Hess, in beiden Lungen
eines achtwöchentlichen vorher vollkommen gesunden Knaben,
welcher fünf Tage vor seinem Tod unter den üblichen Erscheinungen
erkrankt war. In allen übrigen Fällen fand sich der Process ne-
ben andorweiligen Affectionen oder doch in Individuen , deren Con-
stitution erhebliche Störungen bereits erlitten hätte. Das diqionirende
Moment bestand je dreimal in eitriger Lymphangiüs und in ohreoisQlwf
n Jei
BeobMktungen des pathologisöbeo lastituts ib Jena im Jahre 1867. 183
Pnettmoiue mit BronchialerweiteruDg^ iWeimal in Manie, jo einmal in
Syphilis, Alkoholismus, Narbe» des Kleinhirns und Magens, Epitheliom
des Magens, chronis^slM^ Dysenterie , interstitieller Nephritis, Arthritis
deformans.
Bronchopi^monie war in 4 9 Individuen vorhanden = \2. 8%.
Bei sieben Kindern und einem iijähr. Emphysematiker stand sie im
AnscUass an acute Bronchitis, bei vier Individuen im Anschluss an
D^rirtherie. Augenscheinlich durch Herabfliessen von Racheninhalt in
Trachea und Bronchien bedingt fand sich derProcess bei einem viertel-
jährigen Knaben mitLabium und Palatum flssum, einer 38jähr. Frau
mit Epitheliom der Mundhöhle und des Gaumens , zwei Mädchen mit
Typhusgeschwttren des Larynx und einem fünfmonatlichen Kind, welches
der Dysenterie nach acutem Magen- und Darmkatarrh erlegen war. Bei
einer 26jähr. Kranken mit Diabetes fanden sich zahlreiche broncho-
pneumonische Heerde in beiden Lungen mit brandigem Zerfall , ohne
dass die tuberkulöse Natur der Affection mit hinreichender Sicherheit
sich hätte erweisen lassen , wie dies in einem zweiten Falle möglich
war. Endlich fand sich bei einem 54 jähr. Mann eine sehr merkwürdige
bronchopneumonisehe Verdichtung des Unterlappens der rechten Lungen
mit ausgedehnter Cholestearinmetamorphose. Der Fall wird imspeciellcn
Theil ausführlich beschrieben werden.
Chronische Pneumonie mit Bronchialerweiterung fand sich bald
auf einzelne Lappen der Lungen beschränkt, bald weiter verbreitet in
45 Fällen = 40%. Vorwiegend waren es Individuen in der vorge-
schritteneren Lebensperiode. Auffallend häufig war der untere Abschnitt
des rechten Oberlappen betroffen mit gleichzeitiger Synechie des unteren
und oberen Lappen oind beträchtlicher schwartiger Verdickung der
Pleura.
Emphysem höheren Grades fand sich in 9 Individuen = 6. 0 %.
Nur in 4 Fällen konnte es als eigentliche Ursache des Todes betrachtet
werden , der zweimal durch recente Steigerung des Bronchialkatarrhs,
zweimal durch Herzthrombose erfolgte.
Von den zwei Asphyxien erfolgt die eine während der Geburt, die
andre durch Ertränkung bei einem 57jähr. Irren.
Digestionssystom.
Von den oberhalb des Zwerchfells liegenden Theilen dieses Systems
sind zunächst die Tonsillen zu erwähnen. Sie fanden sich einmal bei
einor 2ijähr. Puerpera mit frischen Abscesscn versehen; in 8 Leichen
184 Wilhelm Möller,
= 5. 4% waren sie vergrössert^ zweimal bei jugendKchon Individuen
bis zum Umfang grosser Kirschen. '"^^
Der Oesophagus fand sich in 7 Leichen mii^aüsgedchntemSoorbeleg
versehen. Chronischer Katarrh fand sich in ihm fünfmal , stets neben
chronischem Katarrh des Magens. In 2 Fällen hatte narbige Schrumpfung
der Lymphdrüsen an der Trachealbifurcation zur Entstehung kleiner
Divertikel seiner Schleimhaut geführt. '»
Von Lageänderungen der in der Bauchhöhle liegenden Theile des
Digestionssystems wurdfen Hernien in 7 Leichen constatirt = 4. 7 7q.
Hievon waren je 2 rechtsseitige, je \ linksseitige Leisten- resp. Schen-
kelbrüche, ein 47jähr. Mann halte doppelseitigen Leistenbruch. Zwei
Schenkel- und ein Leistenbruch der rechten Seite hatten durch Ein-
klemmung die Herniotomie erforderlich gemacht mit ungünstigem
Ausgang.
Eine complicirte Form innerer Einklemmung mit Achsendrehung
fand sich bei einer 78jähr. Frau. Eine Schlinge vom Anfang des Ileum
war an ihrem freien Rand durch eine strangförmige 3 Centimeter lange
Adhäsion divertikelartig ausgezogen und an die innere Oeffnung des
linken Schenkelrings befestigt. Der darauf folgende Abschnitt des Ileum
hatte sich unter diesem Pseudoligament von links nach rechts durchge-
schoben und war in dieser abnormen Lage wahrscheinlich seit längerer
Zeit, wie aus den ein halbes Jahr lang vor dem Tod vorhandenen Er-
scheinungen hervorging, welche in zeitweiser Schmerzhaftigkeit des
Unterleibs und hartnäckiger Stuhl Verstopfung mit Diarrhoe abwechselnd
bestanden. Zwischen dem Mesenterium dieser Darmparthie und dem
Pseudoligament hatte sich schliesslich noch eine Strecke des Ileum von
links nach rechts durchgeschoben, welche 20 Cestimeter über der Bac-
HiN^schen Klappe endigte. Durch letztere Verlagerung war die Stelle des
Ileum, welche das Pseudoligament trug, nicht nur beträchtlich gedehnt,
sondern auch bis zum Verschwinden des Lumen um seine Längsachse
gedreht worden. Der Tod erfolgte unter den gewöhnlichen Erschei-
nungen der Darmstenose; der ganze Dickdarm war coUabirt und leer,
Jejunum und Duodenum enorm aufgetrieben, mit graugelblicher trül)er
Flüssigkeit reichlich gefüllt.
Eitrige Peritonitis fand sich in 19 Fällen = 1^. 87o- Sie war stets
secundärer Process ; das veranlassende Moment war fünfmal Diphtherie
des puerperalen Uterus mit Fortpflanzung des Processes auf die Tuba,
in je 4 Fällen operative Verletzung des Bauchfells und Perforation des
Wurmfortsatzes, in je 2 Fällen ulcerirende Divertikel der Harnblase mit
kleinen Perforationsslellen, Perforationen des Magens und solche des
Darms Bei einem todtgeborenen siebenmonatlichen männlichen Kind
fand sich frische fibrinös-eitrige Peritonitis als alleinige nachweisbare
}Jn.1(
Beobachtuugen des patboloffisehen Institut^ Jeua ün Jahre 1867. 1 85
m
\
Todesursa^e. Weder von Seite des KlBdes noch von Seite der Mutter
konnte eine genügende Entstcbmgsursache desProcesses eruirt werden.
Ghroniäcber KaijWrh des Magens fand sich in 1 3 Leichen, worunter
9 Mttnner. Auch bei dem Ulcus rotundum , welches sich im Ganzen
neunmal fand ^ 6. 07%, stellte abweichend von der Regel das männ-
liche Geschlcabt mit 5 Fällen das grössere Contingent. Sitz des Ge-
schwürs war achtmal der Magen, einmal das Duodenum; in 6 Fällen
wtirde der Prooess durch die charakteristischen Narben constatirt, in 3
Fällen lagen offene Geschwttre vor. Bei einem 65jähr. Mann erfolgte
der Tod durch Blutung, bei einem 60jährigen waren zwei Geschwüre
vorhanden, das eine an der gewöhnlich betroffenen Stelle der hinteren
das andere gerade gegenüber an der vorderen Wand, das letztere hatte
durch Perforation zu eitriger Peritonitis geführt. Ein groschengrosses
kurz oberhalb des VATBR'schen Divertikels sitzendes Ulcus duodeni hatte
zu Phlegmone der Mesenterialwurzel und des retroperitonäalen Bindege-
webs, Lymphdrüseneiterung im Mesenterium , Thrombose der V. me-
senterica superior bis zur Pfortader und embolischen Leberabscess ge-
führt; ausserdem fand sich im erweiterten Ende des Ductus choledochus
ein voluminöser braunrother Gallen farbstofipfropf ; ähnliche Goncremente
fanden sich in einer Anzahl sackförmiger Gallengangerweiterungen
innerhalb der Leber.
Chronischer Katarrh des Dünn- und Dickdarms wurde von den
mit Tuberkulose verbundenen Fällen abgesehen in 7 Leichen = 4.7%
constatirt. Er war viermal im Anschluss an allgemeine Vcnenslauung,
dreimal im Anschluss ati chronische Nephritis ausgebildet ; in einem der
letzteren Fälle fand sich neben schiefriger Pigmentirung weit verbreitete
kystomatöse Umwandlung der Drüsen.
Acute Dysenterie war Todesursache bei einem 37jähr. Mann und
einem neugeborenen Knaben; beide Fälle schliessen sich an die im vor-
jährigen Bericht erwähnte kleine Epidemie an. Der chronischen Dysen-
terie erlag ein %1 jähr. Mann aus den Ostseq[>rovinzen Russlands. Die
Erkrankung hatte seit 2 Jahren bestanden und zu drei fistulösen Durch-
bohrungen der äusseren Haut vom Colon descendens aus geführt; da-
neben fand sich ausgebreitete Amyloid degeneration der Unterleibsorgane
und eine terminale crupöse Pneumonie.
In 7 Tndividuen = 4. 7 % fanden sich thetls wirkliche Kothsteine,
theils Veränderungen, welche auf deren frühere Anwesenheit bezogen
werden mussten, im Processus vermiformis. Bei zweien von den 6
Fällen der ersteren Kategorie war es zu Perforation gekommen, in einem
derselben fanden sich gleichzeitig 3 Goncremente, welche Barthaare des
Individuums enthielten. Zu erwähnen ist die Beobachtung eines Koth-
186 WtlbeliB Mitter,
Steins im Wurmfortsatz einer 9|Jhr. TubeiiLulosen, deren einige Jahre
früher verstorbener Bruder die gleiche- Affi^ction dargeboten hatte. Als
wahrscheinliche Folge eines früher vorhanden6»<[oncremenls fand sich
Obliteration der peripherischen Hälfte des Wurmfortsatses mit Pigmen—
tirung bei einem 51jähr. Mann.
Ein veriLreideter Echinococcus fand sich in der Leber eines 43jähr.
Mannes.
Gallensteine waren in 10 Leichen vorhanden; wie im Vorj^Msre
stellte das weibliche Geschlecht mit 7 Fällen das grössere Gontingent.
Uropoetisches System.
Tubuläre Nephritis wurde in 8 Fällen beobachtet; zweimal als
chronisdierProcess mit Verfettung der Epithelien und amyloider Dege-
neration des Gef^apparats; sechsmal acut und secundär und zwar
dreimal neben Diphtherie, zweimal neben crupöser Pneumonie , einmal
bei Typhus neben acutem eitrigem Katarrh des Nierenbeckens und der
Blase bei einem 1 Tjähr. Mädchen.
Interstitielle Nephritis wurde in 8 Fällen constatirt, welche sich
gleichmässig auf beide Geschlechter vertheilen. Ihr Sitz waren in 4
Fällen beide Nieren, davon einmal die rechte stärker als die linke, in 3
Fällen war die rechte, ia I Fall die linke Niere ausschliesslich betroflfon.
Ohne Ausnalinie fand der Process im Anschluss an chronischen Katarrh
des Nierenbeckens und der Blase. In 7 von den 8 Fällen war in letz-
terem Organ und der Urethra der Ausgangspunct; im achten, dem einer
77jähr. Frau, war derselbe im Nierenbecken gelegen, welches reich-
lichen Harnsäuregries enthielt; die rechte Niere enthielt gleichzeitig in
ihrer oberen Parthie ein kirsehengrosse Cyste, wddie von analogen Ab-
lagerungen ganz erfüllt und wahrscheinlich aus der Abschnürung eines
Niereokelchs hervoi^egangen war.
In zwei Fällen von chronischem Urethralkatarrh mit Prostatahyper-
plasie hatte suppurativa Nephritis an die interstitieUe sich angeschlossen.
Dasselbe hatte bei einer 65jähr. Frau statt, welche mit chronischem
Katarrh der Blasen- und Genitalschleimhaut bd^aftet war« Es fand sich
die Schleimhautbeider Nierenbecken beträchtlich verdickt, schiefergrau,
stellenweise oberflächlich ulcerirt, der enthaltene Harn eitrig trübe und
übelriechend, dieH*echte Niere bis auf einen unscheinbaren 8Centimeter
langen^ 5 Gent, breiten Rest gieschwund^i , die Oberfläche narbig
hdckerig, im Innern zahlreiche disseminirte Abscesse ; die linke Niere
1 8 Centimeter lang, 1 1 breit, die Oberfläche grob granulirt mit adhä-
renter verdickter Kapsel, das Parenchym derb, von zahlreichen verdich-
sjiJeni
BeobAcbttingen des patholo(P8dieo iMtttatui Jena im Jahre 1867. 187
telen Biodegewebsittgen durohseU^ glefeihfaUs eine Anzahl rundlkdier
und streifiger EilereinlageningeB- enthaltend.
AmyloiddegeneraUeft höheren Grades fand sich in 6 Leichen : sie
stand je zweimal iig^ Anschluss an Tuberkulose und chronische tubuläre
Nephritis, je eiqflDal an obronisobe Dysenterie und Elephantiasis.
Hamsäuroinfarct wurde in den Nieren von 4 Neugeborenen,
KalkinCvret in jenen von drei Erwachsenen angetroffen ; in keinem der
I0ti4eren Fälle war eine Veränderung des Knochensystems vorhanden.
Ein enormer Grad von Hydronephrose fand sich bei einem 60jähr. an
Epitheliom des Magens verstorbenen Mann. Die rechte Niere stellte einen
dünnwandigen kindskopfgrossen Sack dar, welcher röthlich gelbe klare
Flüssigkeit enthielt und in der Wandung einzelne Reste des Parenchyms
zeigte. Der Ureter war kurz dUch seinem Ursprung aus dem Nieren-
becken an einer umschriebenen Stelle obliterirt, die Ursache der Obli-
teration liess sich nicht ermittein. Geringere Grade fanden sich bei einer
Frau mit Epitheliom und einem 4 jähr. Knaben mit angeborener Phimose.
Concremente im Nierenbecken fanden sich in 3 Leichen, 2 Frauen
und einem halbjährigen männlichen Kind ; stets war die Goncroroent-
bildung mit^itrigem Katarrh des Beckens verbunden.
Katarrh der Harnblase fand sich in 44 Fällen 3= 9. 4 %, hievon
stellte das weibliche Geschlecht mit 8 Fällen das grössere ContingenU
In 40 Fällen hatte der Prooess von der Urethra auf die Blase sich fortr-
gepflanzt, in je einem Fall waren Typhus und Verletzung des Rücken-
marks mit Blaaenlähmung die veranlassenden Momente. Besondere Er-
wähnung verdienen die übrig bleibenden zweiFäHe, bei welchen neben
den Erscheinangen des chronischen Katarrhs mehrfache Ulcerationen
auf der Blasenschleimhaut sich vorfanden und zwar im Anschluss an
hochgradige variköse Erweiterung der Blasen venen, weiche in dem einen
Fall eine fast zusammenhängende blausobwarze wulstige Schichte auf
der Innenwand des Organs bildeten.
Genitalsystem.
Von Erkrankungen der männlichen Genitalien ist zu erwähnen der
chronische Katarrh der Urethra. Er fand sich bei 401ndtvidiiDn s 4 1 .
9 % der männlichen Leichen , darunter 4 Irre mit periodischer Manie.
Der Process war in 5 Fällen mit Vergrösserung der Prostata , in 4 mit
Strictar der Pars roembranacea und Fistelbildung complicirt In vier
Fällen waren die Samenblasen nachweisbar betheiligt, ihre Wandungen
verdickt und schicfrig pigmenttrt, die enthaltene Flüssigkeit gelblich
und von citrigem Aussehen. Uebereinstimmend ergab die Untersuchung
188 "^^ Wilhelm Malier,
dioser Flüssigkeit als Ursache der gelben Färbung zahlreiche grosse mit
gelbem Pigment erfüllte KörnchenzeUetl»^ welche wahrscheinlich den
bekanntlich normal gelbes Pigment führenden- Spithelien der Samen—
blasen entstammten. Daneben fanden sich ausser wohl ausgebildeten
Samenfäden sparsame Eiterzellen und grosse concentrisch geschichtete
weiche mattglänzende Kugeln, ähnlich den Goncretionen , wie sie ge-
wöhnlich in der Prostata sich finden. Gelbliche Färbung d^s Sperma
ist die gewöhnliche Art, durch welche die Betheiligung derSamcnblasen
am granulösen Katarrh der hinteren Parthien der Urethra sich kundgibt;
sie ist ungleich häufiger bedingt durch Beimischung pigmenthaltiger
Kömchenzellen als durch solche von Eiterzellen und es ist entschieden
unrichtig, wenn selbst in neueren Abhandlungen über diese Erkrankung
gelbes und eitriges Sperma ohne Weitere^ls identisch genommen werden .
Hydrocele wurde in 2 Fällen beobachtet, das eine Mal rechts, das
andre Mal links; in einem dritten Fall fand sich Synechie beider Blätter
der Scheidenhaut als Folge der Radicaloperation.
Katarrh der weiblichen Genitalschleimhaut fand sich von den neben
Neubildungen entwickelten Formen abgesehen in 8 Individuen = 13.
5% aller weiblichen Leichen. Hier ist der Fall eines 23jähr. Mädchens
zu erwähnen , welches einer jauchigen Peritonitis nach Durchbohrung
des Wurmfortsatzes erlegen war. In Tuben und Uterus, in letzterem
vom Fundus gegen den Cervix hin abnehmend, fand sich Schwellung
und graue Verfärbung der Schleimhaut mit graugelben übelriechenden
Secret, Scheide und Hymen unverändert. Der Befund stimmt mit der
Annahme, dass die Veränderung des Uterus durch Uebergreifen der
Jauohung vom Peritonäum auf die Schleimhaut der Tube vermittelt
wurde.
Bei einer 57jähr. an crupöser Pneumonie verstorbenen Frau fand
sich, ein gelblicher in Zusammenhang abziehbaror Croupbeleg auf der
Schleimhaut der Vagina in ihrer ganzen Länge.
Diphtherie des puerperalen Uterus lieferte nicht weniger als 7 Todes-
fälle. Der Befund war in allen Fällen derselbe : Verlauf von i bis 8
Tagen , gelblich-grauer oder bräunlicher übelriechender Beleg an der
Innenfläche des Uterus, enormer Katarrh, in einem Falle deutliche Diph-
therie im peripherischen Theil der Tube, allgemeine eitrige Peritonitis,
eitrige Lymphangitis |im Plexus spermalicus, wozu sich in einem Fall
Eiterung der retroperitonäalen Drüsen gesellte. Wiederholt nahmen
Pleuren und Gelenkhöhlen in einem Fall auch die Meningen an der
Eiterung Antheil.
Bei einer 35jähr. Tuberkulösen fand sich eine thalergrosse etwa
1 Mm. dicke orangcgelbe Auflagerung auf der Rückfläche des Uterus,
BeobAcbtungen des pathologischen Institutf zn Jena im Jahre 1867. 189
welche durch reidilichen Häroatoidingehalt auf ein früheres Extravasat
hinwies.
Von Gestalt undLageänderungendesUterusfand sich Verlängerung
des Gervix und Ysrgrösserung des ganzen Uterus in je einem Fall neben
chronischem Katarrh. Bei einer 84jahr. Frau war der Cervicaicanai an
seinen beiden Enden obliterirt mit Erweiterung der Höhle und Erfüllung
mit farbloser opalisirender Flüssigkeit. Schiefe Gestalt des Uterus be-
dingt durch Zurückbleiben der linken Hälfte mit gleichzeitiger Verkür-
zung des linken breiten Mutterbands fand sich bei einem 1 Tjähr. Mäd-
chen. Beugungen und Neigungen des Uterus nach vorwärts fanden sich
in 7, nach rückwärts in 4, nach der Seite in 2 Individuen.
Hydrops der Tuben mit beträchtlicher Verengerung ihrer Ostien
fand sich bei einer 4 4 jähr. Frau.
Haut.
Erysipel wurde in 4 Leichen beobachtet, sein Auftreten hatte ein-
mal spontan, dreimal im Anschluss an Wundflächen der unteren Extre
mitäten stattgefunden. Stets wurden die zu der erysipelatösen Haut-
parthie gehörigen Lymphdrüsen geschwellt und intensiv hyperämisch
gefunden, in zwei Fällen fand sich überdies eitrige Lympbangitis im
betreffenden Gefässstrang. Besondere Erwähnung verdient ein Fall von
Erysipel neben Elephantiasis der unteren Extremitäten. Bei einem
\ 5jähr. Jüngling von früher guter Gesundheit waren im Sommer 1 865
mehrfache rothe Anschwellungen der Haut aufgetreten an den unteren
Extremitäten, welche einige Tage standen, .dann bräunlich sich färbten
und im Lauf von i bis 3 Wochen' wieder verschwanden. Im Herbst
traten neben Fiebererscheinungen Schmerzen im rechten Unterschenkel
und der rechten Hüfte auf. In beiden Gegenden bildeten sich Absoesse.
Bald darauf kam es zu Eiterung der Leistendrüsen der rechten Seite
mit Aufbruch an fünf Stellen, aus welchen längere Zeit hindurch grosse
Quantitäten von Eiter sich entleerten. An Weihnachten 1865 begann
die rechte, etwas später die linke untere Extremität zu schwellen , die
Schwellung nahm allmählich so colossale Dimensionen an, dass sie den
Gebrauch der Extremitäten unmöglich machte. Dabei dauerte die Eite-
rung am rechten Unterschenkel , in der Hüfte und Leistengegend fort
mit gelegentlicher Entleerung von Knochensplittern am ersteren Ort,
während die Constitution sich verschlechterte. Kurz nach der am
1 5. Juli \ 867 erfolgten Aufnahme des Kranken in das Spital brach ein
Erysipel um eine Excoriation des linken Unterschenkels aus , welchem
der Kranke in wenigen Tagen erlag.
190 ' WitteliD Milller,
Die SecUoD ergab betrachUiohe Abmagerung der oberen Körper-
hälfte, Schwund und Verfettung der Muskrta, Oedem desScrolüm, As-
cites, frische Embolie einzelner Lungenarterienz^ige. Die Haut in den
oberen zwei Drittheilen des linken Oberschenkels tmd am Bauch ge—
röthet und stellenweise in Blasen erhoben. ^In der Leiste, Httfte und
unter demKniee der rechten Seite mehrere von wulstigen Granulationen
umgebene Fistelö£fhungen, aus welchen bei Druck Eiter sich entleeru
Beide Pttsse und Unterschenkel , von letzteren namentlich der rechte,
vergrOssert, der Umfang des rechten Fusses 49, Jener des linken 52,
der der rechten Wade 52, jener der linken 41 Centimeter betragend.
Die Volumzunahme auf Haut und Unterhautbindegewebe beschrankt,
deren Dicke an den Unterschenkeln zwischen 4 und 6 , an den Füssen
8 Centimeter beträgt. Die Oberfläche der Haut theils glatt, theils warzig
und knotig uneben, die Schnittfläche von beiden weiss und reich an
farbloser spontan sich entleerender und alsbald gerinnender Flflssigkeit.
Die Muskeln beider Unterschenkel undFttsse gelblich verfärbt und atro-
phisch. Die Nerven sowie die Blut- und Lymphgefttsse soviel von letz-
teren überhaupt aufgefunden werden konnte, ohne nachweisbare Ver-
änderung. Die Knochen des Fusses durch Rarefaction des Knochenge-
webes weich und leicht schneidbar. Die rechte Tibia nahe derTvbero^
sitas an ihrer vorderen Fläche durch Osteophytauflagerungen verdickt,
stellenweise rauh, im Inneren mehrere haselnussgrosse glattwandige
Abscesse enthaltend mit Scierose der umgebenden Knochensubstanz
und mehreren« zur Oberfläche der Haut führenden Fistelgängen. Das
Kniegelenk frei. Der rechte Schenkelkopf m^t der Pfanne durch
knöcherne Vereinigung verbunden, sein Gewebe sclerotisoh , die Rinde
des Femur an mehreren Stellen von Periost entbltfst und rauh, letzteres
allenthalbefi verdickt, in den unogebenden Weicbtbellen mehrere Abs-
cesse. Die Nerven beider Oberschenkel unverändert. Die rechtsseitigen
Venen mit Leicbengerinnseln versehen, die linke V. saphena thrombOBin,
ebenso die Cruralis von der Einmündung der Profunda bis zur Verei-
nigung mit der Hypogastricfi« Das subcutane Bindegewebe der rechten
Leistengegend mehrere narbig verdickte Stellen zeigend, ebensolche
finden sich unter dem Parietaiperitonäum der vorderen Beckenwand.
Die Geflüssscbeiden Kfngs des ganzen Verlaufs der Art. iliacae namentlich
reehterseüs beträchtlich verdickt, schwärzlich grau pigmentirt, stellen-
weise von narbiger BeschaflTenheit, die spärlichen dazwischen liegenden
Lymphdrüsen auffallend sehmal, derb, graupigmentirt, augenscheinlich
in narbiger Umwandhong. Die lumbaren Drüsen zum Theil geschwellt
und im Zustand inlensiver Hyperämie. Ich ghiube, dass Verlauf und
Leichenbefund in diesem Fall zu der Annehme führen , dass der Aus-
BaobMlittiiigeii des puthologisebeD Institotf in k/tm in Jakre t8S7, 191
gangspunci des Processes in einer eitrigen Periostitis und Endostitis von
TIbia andPemur der recbtan Seite &u suchen ist, woran secundär die
Eiterung der rechtssoWgen Leistendrüsen und, wahrscheinlich als Folge
einer Thrombo8e|''(tfer narbige Schwund derLymphbahnen und Lymph-
drOsen im Verlauf der Art. iliaca ext. sich ansdiloss. Dass im Verlauf
des gleichnamigen Lymphgefässstrangs der linken Seite analoge Verttn-
derungbn sich vorfanden wie auf der rechten , erklllrt sieb durch die
Annahme, dass nach eingeleiteter Lymphstauung der rechten Seite mit
abnormen Stoffen beladene Lymphe durch Collateralbahnen dem Lymph-
gefilssstrang der linken Seite zugeleitet wurde. Damit stimmt die Be-
obachtung, dass die rechte iy tere Extremität früher anfing sich ui ver««
grossem als die linke. Wenn wir mit C. Ludwig annehmen , dass in
Form der Lymphe ein wesentlicher Theil der Emührungssäfte den Kör-
pergeweben geboten wird, so erscheint die Volumzunahme der beiden
unteren Extremitäten ab eine nothwendige Folge der Lymphstauung,
welche durch 'den narbigen Schwund der Drüsen und Lymphbahnen
im Becken bedingt war.
^ Bewegungssystem.
Von Verietzongen der Knochen ist ausser den schon besprochenen
Unterschenkelbrttchen mit nachfolgender* Pettembolie hier zu erwähnen
ein Fall von Bruch der 6. bis 9. rechten Bippe durch Ueberfahren mit
enormer Zerreissnng der Abdominalorgane. Ein 91 jähr. Knecht wurde
von einem Lastwagen überfahren und erst einige Zeit nachher todt auf«-
gefunden. Es fand sich eine breite ringförmige Sugillation an der un-
teren Farlhie des Thorax. Die 6. bis 9. Bippe in der Gegend der grOsslen
Convexität gebrochen, die Weichtheile des sechsten Intercostalraumes
von der Bruchstelle bis zum vorderen Ende durchrissen, in der Brust-
hdihle etwa 200 GC. Blut. Der grosse Leberlappen vom Aufhängeband
und Kreuzband sowie vom kleinen Lappen abgerissen , frei beweglich
und so gedreht, dass der abgerissene obere Band nach unten im Meso-
gastrium, der untere Band mit der Gallenblase nach oben unter dem
Zwerchfell lag. Das Ligamentum hepato-duodenale , Leberarterie,
Pfortader und Gallengänge unverletzt. Ein querer Biss in der vorderen
Fläche der Milz, ebensolche in beiden Nieren. In der Bauchhohle min-
destens 2 Kilogramm geronnenes Blut.
Bei einem 46jähr. Mann wurde eine Luxation des linken Ober-
schenkels gefunden, welche seit dem vierten Lebensjahr bestanden
hatte. Die Extremität zeigte sich verkürzt und im Kniegelenk gebeugt
mit Herabtreten der Patella auf die vordere Tibiakante und Umlegung
^v
192 WUheloi MQUer, Beobacbtuiinen des pathol. Instituts so Jena im Jahre 1867.
der letzteren nach Aussen« Die Gelenkflachen des Kniees unversehrt,
Extension jedoch nach Durchschneidung «äipmtlicher Flexoreo nicht
ausführbar, da augenscheinlich die hinteren Partbien der Gelenkkapsel
geschrumpft waren. Sämmt]icheOberschenkehnuske)»j)ochgradig atro-
phisch neben Verdickung der Fascien und Oedeini des intermusculären
Bindegewebes. Die ursprüngliche Pfanne in einen dreieddigen mit ge-
wulsteten Knochenrändern versehenen etwa Y3 des normalen Doifangs
einnehmenden flachen Hohlraum verwandelt, welcher von Fett erfüllt
war. Dielncisura acetabuli mit der Anheftung des Ligamen tum teres er-
halten, letzteres continuirlich zu dem nach hinten und oben dislocirten
Schenkelkopf verlaufend , welcher an seiner vorderen dem Darmbein
anliegenden Fläche abgeplattet und mit einer groscbengrossen Schliff-
flache versehen war, währehd sein Knorpelüberzug allenthalben rund-
liche flache theilweise verkalkte Knorpelwucherungen zeigte, ganz ähn-
lich jenen eines an Arthritis deformans leidenden Schenkelkopfs. Die
neue Pfanne zeigte sich gebildet durch beträchtliche OsCeophytwuche-
rungen auf dem Darmbein, der Grund in der Peripherie mit sehnigem
Bindegewebe überzogen , in der Mitte gleichfalls mit einer groscHen-
grossen spiegelnden Schliflflüche versehen ; durph Verdichtung des Pe-
riosts und der ihm anliegenden Bindegewebsschicbten war ein unvoll-
kommenes Labrum cartilagineum der flachen Pfanne zu Stande gt^
kommen.
Bei einer 77jähr. Frau fand sich Arthritis deformans fast aller Ge-
lenke, eines grossen Theifs der Schleimbeutel und der Sehnenscheiden.
Der Fall wird im speciellen Theil ausführlich mitgetheilt werden.
Ct8|iar Friedrick Wolff.
Sein Leben und seine Bedeutung für die Lehre von der organischen
Ent^ickelung.
Von
Alfred Kirohhoff. *
Es gibt wenig Männer, deren Gedanken und Werke für alle nach-
kommenden Geschlechter denkender Menschen so unsterblich und deren
personliches Fortleben in der geschichtlichen Erinnerung doch ein so
verkümmertes wäre wie beides bei dem grossen deutschen Physiologen
WoLFP der Fall ist. Auch ohne die Betrachtung der wissenschaftlichen
Bedeutsamkeit dieses Mannes voranzustellen dürfen Air daher wohl
für den Versuch, das Andenken an seine Person unverdienter Ver-
gessenheit zu entreissen, ja selbst für die kleineren Züge seines Lebens-
ganges ein entgegenkommendes Interesse voraussetzen. Schon bei einer
früheren Gelegenheit \ suchten wir einiges Hierhingehörige zusammen-
zustellen und waren so glücklicheinige, thcils für Wolpp^s Berliner Lehr-
thätigkeit entscheidende , theils für den an der Berliner medicinisch-
chirurgischen Schule zu Wolpp^s Zeiten herrschenden Geist charakteri-
stische Schriftstücke in alten Actenstössen des kOnigl. preussischen
Cultusministeriums zu entdecken. Indem wir hinsichtlich dieser und
anderer schon damals benutzten Quellen auf jene Schrift verweisen,
schliessen wi r in die gegenwärtige Darstellung die bisher ganz übersehenen
Mittheilungen des Dr. Mursiki^a') (eines Ammanuensis von Wolpp und
praktischen Arztes, dessen in Berlin noch mancher Lebende dankbar
gedenkt) und Selbstbekenntnisse Wolfp's aus seinem Briefwechsel ein,
den er mit Hallbr geführt hat und auf den wir erst durch einen Recen-
i) Die Idee derPflaazen-lletamorphosebei Wolfp und bei Goetbk. Berlin 1867.
S) Abgedrackt in Goithi'b V^erke »Zar Morphologie« I. Bd pag. S5iff. der
Ausgabe fon 4847.
IV. 2. 4»
194 ^ Alfred Kirehhoff,
senten unserer Abhandlung iti^OBSCHEif's Zeitschrift für wissenschaft-
liche und praktische Medicin desNäheceoi aufmerksani gemacht wurden.
Wolffs Leben.
Caspar Friedrich Wolfp ist ein Berliner Kind und hat mit unserxn
grossen Dichter-Naturforscher Goethe , dem er in der Entdeckung der
Pflanzen-Metamorphose clen Bang ablief, das gemein, dass seine Vor-
fahren dem ehrsamen Schneiderbandwerk angehörten. Wie Gobthb's
Groasvater eio Schneiderin Artern anderUnstrut, so war Wolpp'b Vater ein
Schneider in Berlin. Glücklicherweise war jedoch auch der Schneider-
meister Wolfp wohlhabend genug , um dem kleinen Caspar Friedrich,
der schon frühzeitig Talente zeigte, einen gelehrten Schulunterricht an—
gedeihen zu lassen. Wissen wir auch nicht, auf welcher Schule Berlins
WoLFF seine allgemeine Vorbildung erhielt , so ist es uns doch um so
sicherer, nämlich durch seine eigene Erzählung, bekannt, dass er auf
dem GoUegium medico-chirurgicum seiner Vaterstadt in sein Special-
Studium, das der Medicin und Naturwissenschaft, eingeweiht wurde.
Im Jahre 1733 geboren, war er kaum SO Jahre alt, als er unter Jobann
Friedrich Mbckel , dem Professor der Anatomie an dem medicinisch-
chirurgischen Institut, sein erstes Präparat — ein Muskelpräparat vom
Fuss eines Hydi^opischen — fertigte. Er scheint mehrere Jahre Zuhörer
undPracticant im GoUegium geblieben zu sein, bis er zur Erlangung tie-
ferer und allgemeinerer Wissenschaft die Universität Halle bezog. Hier
reiften bereits in ihm die Ideen der grossen Revolution,, die er auf dem
Gebiete der organischen Naturwissenschaft verursachte; nicht als
Wunderkind, aber doch als junger Mann von 26 Jahren vollzog er in
seiner bertlhmten Dissertation mit jugendlicher Entschlossenheit den
Bruch mit der seit dem Beginn des Kl, Jahrhunderts herrschend ge-
wordenen , jetzt aber von dem grossen Haller so glänzend vertretenen
Theorie der Evolution. Am 28. Npvember <759 war es, wo er unter
den solenneu akademischen Feierlichkeiten seine Theoria Generationis
d. h. seine Theorie von dem wirklichen Werden der Organismen aus
einem Keim, der den fertigen Körper noch nicht in mysteriöser Präfor-
mirung birgt, also die »Epigenetika, die Lehre von der wahren »Ent-
wickelung« öffentlich vertheidigte und die DoctorwUrde als Siegespreis
davontrug.
In der nächsten Folgezeit finden wir ihn wieder in Berlin, von wo
er kurz vor dem Weihnachtsfest 4759 seinem grossen und von ihm stets
mit tiefster Ehrfurcht genannten Gegner Albreght von Haller die Dis-
sertation zusendet. Vielleicht hatte er jetzt noch einen Cursus am
Cispir l^fMiteti WMflt. üt
medldnifich^lif^ill^fscbfeti GoR^ium tu absolviren , da ihm jene Vor-
stiidiefi d^r fiHb^refi Jahre wobt nicht als ein solcher gerechnet \<airden
and nach angeroein gttlliger Vorschrift dem »Obercollegium medicuttift
das Testat über di^ Absolvirung jenes Gursus wegen Zulassung 2Uh
tnedianischen Staatsprüfung vorgelegt werden musste.
Nun war damals in dem mörderischen Krieg der si^en Jahre eben
die goMene Zeit für Aerzte und Chirurgen erschienen. Der vortreffliche
GoTBBimjs hatte die Leitung des gesammten Feldlazareth Wesens über-
nommen und war nicht gesonnen durch das gewissenlose Naturalisiren
gar nicht wissenschaftlich gebildeter Peldscheere die Opfer des Kriegs
zu vermehren : er forderte deshalb im Berliner Gollegium wie in den
Lazareth-Lehrlrnstalten Studien in Osteologie, Hyologie und Splanchno-
logie, die allem Operiren vorangehen sollten. So war es ihm denn ge-
rade recht, in dem 1764 von ihm als Feldarzt beim BreslauerPeldlazareth
angestellten Dr. Wolpp den Mann zu finden , der mit logischer Klarheit
und vollster Beherrschung des wissenschaftlichen Materials den jungen
Peldwundarzten Vorlesungen üh^r Anatomie halten konnte ; er enthob
ihn daher bald von dem gewöhnlichen Lazarethdien^t, um sein Lehr-
talent desto Vollständiger verwerthen zu können. Damals (f76tj war
es, wo ihn nach der Eroberung von Schweidnitz Mutt^nriTA Zuerst sah
und ihm alsbald, obgleich erst ein Siobzehnjnhriger , als Amtndnuensis
bei seinen Vortragen vor mehreren Hunderten von angehenden Feld-
wundnrzten hilfreich zur Rand ging. An Cadavern war nie Mangel,
und auch mit aus diesem Grunde waren Wolpp's ausgezeichnete Vorträge
dermassen anziehend, dass bald sämmtllche Militär- wie Cfvlterzte der
Stadt Breslau sich zu seinem Auditorium di^ngten.
Aber so vortrefflich die Leistungen Wolpp's nach Ausweis der
monatlichen Examina seiner Schüler waren — das Prledensjahr kam,
und mit den andern wurde auch das Bre^lauer Feldlazareth aufgehoben,
Docenten und Aerzte entlassen. Wolpp hatte sich zwar schon im Früh-
jafhr 1769 an seinen hohen Gönner ContüKttrs mit der Bitte gewendet,
ihm dfe Erlaubniss zu öffentti'chen Vorlesungen übet^1%ysiologie,in Bertin
aivszuwirken, dte engherzig zünftigen Professoren des dortigen Colle-
ghims weigerten sich jedoch mit eifersüchtiger Betonung ihrer »Privile-
gia und Prurogativen« energisch den Stöi'enfried in ihren freundvetter-
lichen Verband der Schwagerschnft und ded Nepotismus aufzunehmen.
Jetzt, nach Auflösung der Breslauer Las^af ethsehule , war daher Wolp^
trotz der unschätzbaren' fNenste , die tt dem Staat in traurigster 2eit
geleitet, b^OR(Ilo». Er zog nun ins elterifehe Haus tittth Berlin ztfrück,
UYvd Mer hnA ihn HtmsmUA, den sein Genius Mch bdid datifach hierher
ftUirte, im engen Schneiderstübchen unter Büchern vergraben. Trüb-
]96 AVre4 Klffcli|lv>i(»
»
selig scheint WoLFF indessen den Gefährten von Breslau nichi empfangen
zu haben, denn schon hatte er vonGoTBBiousdieJEriaubiiiss zuPrivat-
voriesungen erhalten, und, l^onnte er auch b^i der sich 3(U offener
Feindseligkeit steigernden Abneigung der CoUegiumsprof^asoren gegen
ihn zu keiner, auch noch so bescheiden dotirtan, Professur, zu keiner
Hitbenutzung weder der Apparate des Ciollegiums noch der aus Offenl-
lichen Kranken- und Armenhäusern dorthin gelieferten G^daver ge-
la.ngen, so ging er doch rUstig ans Werk, machte den jungen Mlrsinna
abermals zu seinem Ammanuensis und Hess ihn zunächst die Zettel ver-
theilen, auf denen sich zu seinen angebotenen Vorlesungen die Anneh-
menden eintragen sollten. Und in Kurzem gab es der Unterschriften
auf diesen Zetteln so viele , dass man Noth hatte , einen die Zuhörer
fassenden Saal ausfindig zu machen.
Es mögen Wolff's freudigste Jahre gewesen sein., wo er immer
neue jugendliche Anhänger für seine immer tiefer durchdachten, immer
klarer dargestellten Theorien sich erwarb, wo er zugleich für seine
wissenschaftliche Stellung und für seine persdnlidiie Lage den »Kampf
ums Daseina in frischester Manneskraft durchkämpfte. Er las mit
Meisterschaft ein GoUeg über Logik und wusste die Medicin wie eine
angewandte Logik vorzutragen, was der damaligen piediciniscben Wissen-
schaft zu mancher Säuberung von phraseologischer Tradition und von
unklaren Zuthaten neuer Hypothesen genützt haben wird. Daneben
soll er Pathologie und specielle Therapie gelesen haben , als wenn er
der grösste praktische Arzt gewesen wäre; zumal aber seine Generations-
Theorie verfolgte er mit erneutem £ifer und gab 17G4 eine deutsche,
ursprünglich nur für einen engeren Freundeskreis berechnete, Bear-
beitung derselben für seine Zuhörer in Druck. Seine treusten Gefährten
waren und blieben die Hühner, die ihm um die Wette Eier legen mus^s-
len, damit er jede Viertelstunde eins aufbrechen und das Werden und
Wachsen des Embryos unter dem Mikroskop verfolgen konnte.
Natürlich brachten seine physiologischen Ketzereien die alten Per-^
rücken des CoUegiums in immer grössere Aufregung. Der ältere Mic^i^f
sein früherer Lehrer, und Professor Waltheil zogen auf dem Katheder
gründlich über ihn los ) und ihre Schüler wie die .Wolfp's lebten in
förmlicher Fehde. So sehr man es aber selbst dem kurzen Berichte
Mursinna's anhört, mit wie frischem Muthe dieser Kampf geführt wurde
bei seiner inneren SiegesgewissheH und seinen entsprechenden äusseren
Erfolgen »der Bekehrung und Versammlung der Meisten zu den Fahnen
des Wolfs« — : endlich erlahcqte bei den ewigen neidischen Intriguen
seiner Gegner, bei dem ewigen Erwiedem seiner offenen, freilieb
C «spar Tri«drieh Wolff. 1 97
soliarfen Schwertstreiche mit heirtittlckischen Nadelstichen auchWoLFp's
LodI am Wlsiterkampf mit derartig ungleichen Waffen.
Für die Geivinnmg einer äusserlich gesicherten Existenz wurde
sotDft dieser Kampf immer aussichtsloser, und um so freudiger wurde
daberderRuf der grossen Kaiserin aus fernem Norden von ihm willkommen
gefaeissen, der im Jahre 1766 an ihn gelangte. Eine heftige Augenent-
Zündung, an derer im Winter f 766 zu 67 litt, scheint ihn von der Reise
noch einige Zeit zurückgehalten zu haben , aber sein Entschluss , dem
Rufe der Kaiserin Katharina nach Petersburg Folge zu leisten , stand
bereits bei ihm fest. Wohl war es ein Entschluss , der mit Resignation
verbunden war: fern von der Vaterstadt , im kalten Nordtande, ohne
den ewig frischen Kranz begeisterter Schüler um sich zu haben und
ausser allem näheren Verkehr mit europäischer W^issenschaft sollte er
von nun an leben I — In einem Rrief an Hallbr verzichtet er schmerz-
lieh auf die verheissene Zusendung des 2, Theiles von dessen Opera
minora, da er nunmehr, wo seine Abreise vor der Thür siehe, »kein
UebersenduTigsmittel in die Feme« absähe. Aber ein Unterpfand der
Heimath erhör er sich, da er zum letzten Mal in seinem Leben deutsche
FrübNngsiuft athmele : er Hess sich »ein armes aber schönes Mädchen«
in Berlin antrauen und trat mit ihr etwa gegen Ende April 1767<) die
Reise an.
Hütte er bis jetzt vorwiegend als Lehrer gewirkt und nach MuRsnmA^s
Versicherung viele gründliche Aerzte gebildet, die den Segen der von
ihm erhaltenen klaren und praktischen Unterweisung der leidenden
Menschheit weit und breit zutrugen durch die Länder Europa's, — so
begannen nun ruhigere Jahre stillen Familienglücks und unablässiger
Forschung auf dem Gebiete der blos theoretischen Wissenschaft. Noch
stand ja Wolpp in der BIttthe seiner Jahre, und war er auch nur mit
800 Rubeln (neben 900 Rubeln Reisegeld) nach Petersburg berufen,
so konnte er doch bei aller Bescheidenheit seiner Verhältnisse mit seiner
anspruchslosen Gattin, zumal seine Ehe kinderlos blieb, un^stört fleis-
sige und in so fem herrliche Jahre verleben. Man vermag wohl nicht
mehr das Häuschen zu zeigen , wo der grosse Mann in stiller Zurück-
.uezogenheit vor dem Thore der modernsten Kaiserstadt der Welt wohnte ,'
aber die Werke, die er hier schuf in fast 27 arbeitreichen Jahren, wer-
den der Stolz der rassischen Akademie bleiben , als deren Mitglied er
berufen war und für deren Denkschriften er sie schrieb.
Am 29. Februar 1794 machte ein Schlagfluss seinem Leben plotz-
i) MuRsiNNA's ADgabe, dai»8 er bU 1768 in Berlin dociri hatte, kann nur auf
einem trrihum berahen.
19$ AiAfd kh<m<»a;
lieh ein Ende; in dem fremden, eisigeaBodaq grab man soinGrab, uad
Deutschland musste e^ gesoheben lassen, d»^ ein^m SAimr be9lfo
Söhne Fremde den Nachruf widmeten; dooh ^iq tbaten -ts in edler
Weise, indeip si^ seine Werke für ihn reden lies^en und iBicleitt «e Yer-
sicherten, daas die Grösse eines solchep Verlustes Ober jeder Phrase er-
haben sei, dass ßi^ nur eins zu sagen vermöchten: er habe »Alles ge-
than für den Fortschritt seiner Wissenschaft.«
Versqohen wir es, die Wahrheit dieser Wsrte der Petersburger
mademie durch die (iharakterisUk von Wolff's Stellung io der Ge-
ß^chte der organifichea Naturwissenschaft zu erhärten*
Die Prädelineations-Theorie.
(Nichts hat in dem Studium Über die Natqr desOrganisoAUs sosti^r
Epoche gemacht als die Erfindung de^ Mikroskops. Als das* 1 6. Jahr-
hundert diese Erfindung in ihren ersten Anfängen dem 4 7. zu weüarer
Vervollkommnung vererbte, fühlte man sich mit immer waobsendeio
Staunens einer neuen, nie gähnten Welt gegenüber. AndieBfitdeekliog
tibersepischer Welten hatte man sich seit mehr denn bupdert Jubren
gewöhnt, und dsss es in weitem Fernen Wunderdinge gäbe, bette man
ja längst geträumt; das Wunder war eigentlich nur dies: dsss der
TraUm zi|r Wahrheit g|B worden. Dass es aber in der altbekeonleo Welt
una^hlbare Wunderwelten in dem schlichten Gewand der alll^gUobsten
Erscheinungen gf&be, dassnur4ie UnvoUkommei^heit des iMOsoblicben
Gesichtssinqes tausend und abor tausend Ges^^pfS) jo die tippigsta
FttUe windiger ivoime der sohop vordem bekannten Wessen im Innern
dieser selbst übersehen h9t|e, die jetzt nun dem scbarf bewahrten Auge
offenbart wurden, *— d^s erfüllte mit solchem Stolz gegen alle Vor^il^
dass man in Pflanzen- und Thierforsohung aas liebsten jede Hesiehung
zu der älteren Wissenschaft abbrach. Man fühlte sich plötzlich ganz
emaacipirt Sogar yon den höchsten Autoritäten des Alt^rthums , de«en
das ganze Jahrtausend des Mittelalters so blind gehuldigt hatte. Und
besass man nichts das vollste Recht zu sagen : was bindet mich die alte
Theorie, und wenn sie ßuch dem Genie eines Asistotslzs entstammt ist,
meine Beobachtungen sind duroh^iis neu , von ihnen ausgebend moss
i^ ganz natürlich zu neuen Schlüssen geführt werden , deren grttnd-*
liebster Widerspruch mit der alten Theorie mich nur mit Stolz auf 400
Fof tßcjhritt unsrer Zeit zu erfüllen braucht i
Des grossen Haryet Ausspruch »Omne vivum ex ovo«, dieses Er-
^ebniss der mühsamsten und für jene Zeit unübertrefflichen Unter-
suchungen, durfte man sicherlich ohne Ueberhebung den aristoteli;5dheQ
r
AasiohleD von Entstehung der Aale, Mttcken. Flohe, aua Sohbrnim oder
Staub,. aiegeebewnsal entgegenhalten. Aber man ging auf dem We^^
der Erklärung des Grossen aus dem Kleinen weiter und weiter, wie
auf einer aliscbttasigen Bahn, und endlich ttberstürste man sich. Man
kam auf den verbf ngnissvollen Gedanken : das thierische Ei und , waa
man demselben irrthttralieherweise analog glaubte, der Same der
Pflanze sahliesse, wenn auch in kaum sichtbarer Kleinheit^ nicht nur
die Anlage zum Organismus, sondern diesen selbst in einer derartigen
Zusammengedrängtheit der Theile ein, dass uns daraus der trügerische
Schein unförmlicher Bildung der einen, ja völligen Fehlens der andern
Organe erwüchse. Recht charakteristisch ist für diese psychologisch
sehr wohl erklärbare Yerirrung aus der kaum eroberten Welt der mi-
kroskopischen Wunder in die der völlig unsichtbaren oder wenigstens
für die doch immer nur relative Vollkommenheit der eben zu Gebote
stehenden optischen Instrumente unsichtbaren Welt ein Ausspruch eines
Schülers Lmnt's, der im Kampf für die noch zu erwähnende Prolepsis-
Theorie äusserte: »Was wir mit den Augen «ehen, das müssen wir dooh
für wahr halten, dass nämlich im Samen das winzige Urgebilde der
neuen Pflanze verborgen ist sammt ihren Bldttknoq)en, die noth wen-
dig er Weise (1) wieder Knospen und KnOspchen in sich haben«*).
Man hatte in den Gotyledonen verborgen die Plumula entdeckt, in der
TbaV schon das junge Pflänzchen mit all seinen wesentlichen Organen,
den-Blattspitzchen am Rudimente des Stengels, der an seiner Basis so-
gar sehen das Würzelchen zeigte. Hatten die Früheren auch die Thatr-
Sache längst gewusst, dass aus der Eichel ein Eichbaum erwüchse, —
das hätten sie doch nie geglaubt, dass der Eiche Stamm, Wurzel und
Laubkrooe nicht erst aus der Eichel neu entstünde, sondern bereits
in ihr enthalten gewesen» dass alles Wachsen nur dem Herausschieben
der Rährenstücke eines Fernrohrs gleiche. Da schien es doch fürwahr
uubereehtigte Skepsis, in den Blattachseln des Keims kleinere Knospen,
in diesen noch kleinere, auch Blüthenknospen, folglich auch Eichbäume
fernerer Generationen in infinitum, in ihnen zu unsichtbarer Kleinheit
zwar zusammengezagan, aber nichts desto weniger doch vorhanden —
leugnen zu wollen I Man ahnte gar nicht die Falschheit dieser Analogie^
Schlüsse, man glaubte vtfllig auf dem Boden der Erfahrung zu stehen
und hatte doch so ganz entschieden die einzig mdgUche Richtschnur
aller Naturwissenschaft verloren: die sinnliche Wahrnehmung.
Die besten Köpfe sehen wir denn auch in die Zauberkreise dieser
Trugschlüsse verfangen, manche mit glühendem Enthusiasmus die
4| Lnoii, AiM>mittttes soadeiDicse. VI, p. 140.
200 AilM Klnliltoff,
Grossartigkeit dieser oEntdeckung« preisen , andre sidi wenigstens m
unbefangenster Hingabe mit diesen Ideen befreotiden. Wenigstens
höchst )>wabrscheinlich« dttnkie diese Lehn) vom unsichtbaren Daseün
organischer Wesen in allen ihren Theilen, und wie leicht vertraut der
Mensch in FS^Ilen, wo er die Wahrheit nicht erforschbar wähnt, äer
Wahrscheinlichkeit, die ihm zuletzt der Wahrheit gleichwerthig ^er-
scheint. Eine treffliche Benutzung dieser angeerbten Seeleneigenthüm—
lichkeit hörte ich einmal den redegewandten Jesuitenpater Hasslacsbr
zum Beweis der Unsterblichkeit der Seele machen; in rhetorischer
Anaphora iingirte er ein Evangelium, das an den Staub erginge, der
da eine Pflanze werden solle und doch die unfassbare Höhe dieses Glücks
nicht glauben will, ferner nach Verwirklichung des unglaubhaft erschie-
nenen Wunders ein ähnlich roisstrauisch aufgenommenes Evangelium
an diese Pflanze, dass sie einThier werden solle, ein ferneres an dieses
Thier, dass sein Stoff einst die Anlage eines Menschen werden solle,
und nachdem er sich sogar in verfänglich physiologischer Evangelisten-
Anrede an den Fötus gewe<idet , der gewiss die Freude das Licht der
Sonne dereinst zu schauen in seinem engen Kämmerlein nicht hätte
fassen können, schloss er mit emphatischen Hinweis darauf, dass es
auch bei den dem Fötuszustande entwachsenen Menseben die ent-
sprechende Erscheinung nur zu allgemein gäbe , dass es wie auf den
Voretufen sehr natürlich, aber ebenso thöricht sei, dem Glück der Ver-
hetssung misstrauisch entgegenzusehen. Nätürlich.Uherzeugte er damit
viele, denn in der-That war es ad horainem gesprochen. Die Wissen-
schaft der beiden vorigen Jahrhunderte ging unbewusst den gleichen
Weg.
Ehe wir jedoch bei dem uns beschäftigenden trügerischen Analogie-
schluss den Mann auftreten lassen, der es muthig ausspricht : »die Bot-
schaft hör* ich wohl, allein mir fehlt der Glaube!« — ist es noth wendig
genau die Form zu charakterisiren, zu der sich der Glaube an das un-
sichtbare Sein im Laufe des 17. und 4 8. Jahrhunderts ausgebildet hatte.
Das Mikroskop lehrte das Vorhandensein von Dingen , die man in der
Zeit des unbewaffneten Auges deshalb für nicht vorhanden ge-
halten hatte , weil man sie nicht gesehen , man hatte irrthümlich da
von einem Neuwerden geredet, wo es sich wirklich nur um ein Aus-
wachsen des schon vorhandenen Thieres, der schon vorhandenen
Pflanze handelte, und wenn alle Organismen aus elterlichen Organismen
hervorgehen, so müssen diese die junge Brut als Tbeile ihres Inneren
schon bergen , diese wieder eine folgende Generation u. s. f. Selbst
bei der bis aufs Aeusserste getriebenen Verbesserung der Vergrössenings-
gläser können uns diese Einscbachtelungen unsichtbar bleiben , denn,
CaspAr fMiMi Woll 201
wie ihr Name sagt, können diese Glaser zwar zanbergleich das Kleiod
gross erscheinen lassen, — Bbev niemals das Durchsichlige un-
dnrohsichiig. Und mit diesem so onzwetfelhaft wahren Satze stand
man am Rande des Abgrundes nnd wieder hatte der Satz, der über alle
Grenzen der Wissenschaft in das freie Luflreich der Hypothesen hhums-
trieb, eine scheinbare Berechtigung durch die auf diesseitigem Gebiet
gemachtefirfahrung, dassdieJugendzustände den Organismus in feinster
JDurchsichtigkeit setner Theile unter dem Mikroskop erscheinen liessen,
oft selbst Injectionen die farblose Krystallfaelle nicht zu andern ver-
möchten. Wir sehen: man traute ganz sicher dem ScUuss, dass die
sinnfidie Wahrnehmung unzureichend sei, dass die Yerkennung dieser
Thatsache ganz irrig zur Theorie von einem Neuwerden, von einem
wirklichen Werden der Dinge geführt hatte , dass da , wo man wegen'
nicht zu grosser Kleinheit und I>ur<^sichtigkeit vermeintliches Werden
belauschen könne, nur Grösser- und Undurdisichtigwerden Thatsache,
Werden also überhaupt nur Dogma, eitles Phantom sei.
Nicht ganz genau pflegt man heutzutage die auf solcher Grundtage
errichtete Lehre von organischer Ausbildung die Theorie von der Evo-
lution zu nennen. So wurde vielmehr nur die eine Auffassung der
Theorie vom sichtbaren Darbilden des unsichtbar Dagewesenen genannt,
die nömlich, welche den Organismus in der Periode seiner unsichtbar-
keit im Ei sich latent dachte; diesen »Ovisten«, an deren Spitze
Malpiohi und Malebzangrb standen, traten die »Ammalculisten« gegen-
über, welche, geführt von HAarsocKBR und LzzirwBiaioBK, ein System der
Praformation aufbauten, in welchem die' Zoospermien (»animaicula
seminis«) die Stelle der Eier vertraten. Entscheiden liess sich dieser
Streit ebensowenig wie die Frage, ob die Engel in dem östlichen öder
westlichen Himmelsraume wohnen. Und schon darum , weil auf dem
Gebiet der Pflanzenforschung beide Riditungen nicht deutlich aus ein-
andertraten, können wirhiermitdemalten Namen der Pradel in eation
beide Richtungen zu einem w^esentlich auf dasselbe hinauslaufenden
System verbinden , nach welchem das Leben des Individuums durch
die Zeugung nicht begründet, sondern nur zu einer neuen und zwar
dem menschlichen Auge sichtbaren Form erweckt wird.
Die vollständigste Ausbildung erreichte dieses System im vorigen
Jahrhundert durch Lbibniz , Bon ptkt und Hallb«. • Obgleich Lbibn»
keine neuen Untersuchungen zur weiteren Begründung der merkwür-
digen Theorie anstellte, war er doch nicht nur durch sein unzweifel-
haftes Genie ein unschätzbarer Parteiganger, der kleinere Geister mäch-
tig mit fonriss, sondern er trug auch wesentlich zur Entwicklung dieser
Lehre bei, indem er sie consequent ausdachte undderDaaeinsgeschitdite
des &tfq)er8 die der Seele himufttgle. Aller lebendige Stoff isl ihm
seell, er ist tief dnrdidniiigeii von dem unldebaren Bvad swischeii
Seele und lebendigeoiKärpery die in ihrer Zweinoigkeit dteindividuimi
(«dieüetiadei^ bilden. Wenn aber, wieerdengritsslenFoiadiem seiiier
Zeit glanbl, der Organismus schon vor der Geburt da war, so vmr aneh
seine Seele da, und wenn es nur fttr den blöden Sinn desMen^
sehen ein Werden, in der Thal nur ein Sein gibt, so ist niohi bloss die
G^urt ein nur seheinbarer Anfang, es ist vielmehr auch der Tod
ein nur scheinbares Ende, das Leben nichts als ein Durchgang aus einem
unsidiibaren Zustand durch den dem Menschen sichtbaren in einen
anderen nnsiehlbaren. »Die Philosophen«, sagtLiomu in der Monadologie
(Op. phil. p. 741), »haben sich viele Schwierigkeiten gemacht mit dem
Ursprünge der Formen, Entelechien oder Seelen. Indessen haben gegen-
wärtig genaue Untersuchungen, angestellt mitPfiansen, Insecten und
Thieren , zu dem Ergebnis» geführt, dass die organischen Körper der
Natur niemals aus einem Chaos oder einer Fäulniss hervorgehen, son-
dern allemal aus Keimen (semencei^ , in denen ohne Zweifel schon
eine Prätormation vorhanden war ; so hat man geurtheilt, dass in dieser
Anlage nicht Mos der organische Körper vor der Zeugung eustirte, aoD-
dem auch eine Seele in diesem Körper, mit einem Wort daslndivi-«
duumaelbst, und dass vermittelst der Zeugung dieses Individuum
nur tehig gemacht werde zu einer grossen Formwandelung , um ein
Individuum anderer Art zu werden. Man sieht selbst etwas Aelmliohes
ausserhalb der Zeugung, wie wenn die Wttrmer Fliegen und die Raupen
ScbmeUerlinge werden.« Lsbiffc war also ga«s eonsequenler Anhänger
der Präformations-^Theorie, gleubte, dass das Individuum aus der un-
sichtbaren in die sichtbare Welt durch eineArtMetamorphose übergehe,
und natttrUcb erlaubte sein echt wissenschaftlicher Monismus auch kei-
neswegs den Menschen anders zu betrachten als die tünigen Organis-
men. An einer Stelle seiner Theodicee , in der er sich auf die mikro-
skopischen Beobachtungen Lbbuwsnboiul's ausdrücklich beruft, sagt er
(p. bV7 der Op. phil.) : »So sollte ich meinen, dass die Seelen, welche
eines Tages menscbliche Seelen sein werden, im Samen, wie jene von
anderen Species, dagewesen ^d, dass sie in den Voreltern bis auf
Adam, also seit dem Anfang der Dinge immer in der Form organisirter
Körper existirt haben, t <
Hatte die PrödeUneatiops-Theorie in Lsibniz einen ausgozeiobneten
BöfOrworter gefunden, dessen bewondemswerthe Darstellungen in
woiteo Umfang Einfluss gewannen, so fand sie in Bouhbt einen uner-
müdlichen Forscher, der in seinem Eifer, dieser Lehre immer mehr
empirische Stttisefn zu schaffen der Naturwissenschaft bleibende Güter
gew9Qiv Wir enooern qur aq seine moisterhafteQ UDiersnctuiBgen über
die Blßt^lSUiaa (verOQeDtljoht U45 in seinem Traitö d'insedologie I, peg,
26 t.). ^s war vieUeicbt der werthvollale Gewinn für die Tlteorie der
Ein3p)|acbteluDg künftiger Genera^PDen in früheren, daasBomiir dureb:
Absp^rruAg und fest stündliche Beobachtnug eines Exei»plars der Apbis
rosale ^ass^be nach viermaliger Häutung am 4 1 . Tage trotz absoliiler
Jungfr^ulicbkeil. eine lebendige Tochter^ ja innerhalb weiterer SO Tagef
nebeii der ersten nicht weniger als 94 »ir Welt bringen and diese die
Parthenogenesis der Mutter treulich nachahmen sah. Das war angleieh'
ein Sieg der Ovisten Über die Animalcutisten. Wollte man den Weftli
der Befruchtung durch Zooapermien in diesem Falle nicbt gänsUcb in-
Abrede stellen, so blieb nichts übrig als zu Ihun was Haubi that : an-
zunehmen, das Urexemplar einer weiblichen Aphis sei befruchtet wor«^
den von dem Samen eiues MVnncbenSy der kräftig genug gewesen wäre,
alle Hüllen der unzähligen in einander gekapselten Thiere der folgenden
Generationen zu durchdringen und diese für Jahrtausende zu befhioiw-
ten*). Auch versäumt^ HAitn bei Erwldinupg dieses Vorgaogs, der
wenigstens den Schluss auf vielfache Einschaohtelung nicht einmal
der Ibafruchtung zur Evolvirung bedürftiger Thiera zu gestatten schien,
nicht auf das Lieblingstfcier derEinacbachtehiugstheorie, aufVolvoi glo^
balor w verweisen» wo man sich in der That von der Coexistenz meb^
rerer Generationen in j? einem Individuum der jedesmal älteren Gene-
ration durch den Augenschein Überzeugen könnt?.
Dnss sich Ai.BaJ^CHT ton Hauki« dieser JniuNiiBsMöLua des vorige»*
Jahrhunderte, der Theorie mehr und mehr abnahm , trug nun vollends
zu ihrer RefeMigung und Verbreitung bei. In früheren Schriften hatte
er ihr noch gar nieht c)as Wort geredet, erst seine 475S erschieneneii
Beobachtungen über dJQ Bildung dea Herzens im behrüteten Hühnerei
zeigen ihn im Lager d^r Ovisten, als entscheidenden Vertreter der Maw
picai'scben Ansicht. Und im darauf folgenden Jahrzehnd konnte man
sagen, dass dvrch Bobubi 's Aufsehen erregendes Werk unter dem Titel
DConsiderations sur les cqrps organis^, vor Allem aber durch die den
ganzen physiologischen Wia^ensschatz der Zeit iu sich samn^lnden £|e-
menta Phyaielogiae des grossen Schweizers die Theorie ihren vollen.
Ausbau gefunden habe.
Die prSlciseste Fassung der Sache steht im 9. Theil der Elemente
unter der siegesgewissen lloberschrift: NuUa est epigenesia — * es gibt
kein Werdenl DNuUa in corpore animale pars ante aliam facta eat,
et omnes simul croatae ei.istunM Pa ist Haups Evelutionist vom rein-«
i) ii#U«i1 EiemeoU PhyilqUigiae. VI. p. 4S5.
204 Arfred Kireüboff,
Sien Wasser: kein Compromiss mit irgend einer gegnerischen Ansicht,
wenn es noch irgend wo eine solche gibt, Äbsagung selbst von den
eigenen früher gehegten Zweifeln gegen die Theorie der Ovisten. Was
könnte mehr wirken, als wenn ein Haller selbst sagte, was er früher
gegen die Theorie der Evolution vorgebracht habe, wie z. B. die Ün—
äimiidikeit des Pdtüs im Vergleich mit dem ausgewachsenen Thiere,
beweise nur für dieselbe (ib. p. 448), denn eben weil nicht gleich alle
Theile des sich evolvirenden Thieres in die Erscheinung träten , mtlsse
der Pdlus nothwendig missgestaltet aussehen. Wenn der eine Forseber
behaupte, zuerst entstehe das Herz, der andre dasselbe vom Hirn , ein
dritter dasselbe vom Hirn und Rückenmark behaupte , so sollten sich
doch diese MSinner bescheiden , dass sie eben diese Theile »zu der Zeit
mit Augen gesehen, wo die übrigen Theile verborgen waren«, die aber
in Wahrheit mit jenen seit dem Schöpfungstage coexistirt hätten. Dabei
schrickt Haller indessen auch vor keiner Gonsequenz zurück, die sich
mit Nothwendtgkeit aus dem Leugnen des irdischen Werdens ergab.
So behauptet er die (nur latente) Existenz des Geweihes beim eben ge-
borenen Hirsch, des Bartes beim Knaben, alles dies mit derselben Zu-
versichtiichkeit wie das Dasein des Darms öder der Nieren und des
Herzens zur Zeit des vielleicht noch allein sichtbaren Rückenmarks.
Ausgehend von der Annahme eines 6000jährigen Bestandes von Erde
und Menschheit, einer 30jährigen Durchschnittsdauer des Menschen-
lebens und einer Kopfzahl von 1000 Hillionen gleichzeitig lebender
Menschen, berechnet er endlich das Minimum der von Gott auf einmal
erschaffenen Menschen auf ^00,000,000,000, wobei er es dem Ge-
schmack der Zeit überlässt, sich dieselben entweder als Animalculist in
Adams Hoden oder als Ovist iti Eva's Eierstock zu denken (ib. p. 150).
All solche Gedanken vvaren aber noch vfelmehr der Wissenschaft
nachtheilig als einfach unnütz. Was nämlich musste die Folge da-
von sein, dass Haller in dem Zeugungsact nichts anderes als eine »In-
stimulation« sah, durch welche im weiblichen Körper irgend ein Graaf-
sches Bläschen des Eierstocks einen Riss bekam und durch diesen Riss
in unsichtbarer Kleinheit das Junge in den Eileiter und weiter in die
Gebärmutter schlüpfen liess , um sich da endlich zur Sichtbarkeit zu
evolviren? Ganz abgesehen von der hierin ausgesprochenen Unklarheit
über dais Verhältniss des Eies zum GRAAp'schen Bläschen und der fal-
sdien Beziehung vom Loslösen des Eies zur Begattung, was ja forlge-
setzte Untersuchungen so wie so berichtigt haben würden, lag hier doch
unverhttllt die Ansicht zu Tage: es sei eineThorheit nach dem Werden
zu fragen. Wo man aber nicht nach dem Werden eines Dinges fragt,
schliesst man jede wirkliche Erkenntniss desselben aus. Die Evointions-
G«8|f»rJ-ri04ri(UWo»r. SM
Theorie erreichte in Halusr's Physiologie ihren uQzweideutjgsteiii Aus**
druck und bewies zugleich ihre eigene Unmiiglichkeit. Denn eine
Theorie soll wissenscbafUich erkliirep, uiijLhin den Ursprung der Objecto^
um die es sich handelt, aufdecken; und diese Theorie bewies oder
glaubte doch zu beweisen , dass dieser Ursprung ausserhalb aller .Er-^
fahrung d. h. ausserhalb der Naturwissenschaft läge. Dobel konnte die
anatomisch^ Forschung die allervorzüglichste sein^ sie brachte doeh
nur Material für eine wirkliche Erklärung des Organismus, diente
mithin einer zukünftigen Zeit, der Wissenschaft auf ihrem gegenwär««-
tigen Standpuncte, gegen dessen Erreichung sie aber gerade ankämpfte.
Nicht genug jedoch, dass man in dem blossen Wahn begriffen war,
eine Theorie der organischen Bildung zu besitzen , wahrend man den
Organismus doch nur »wie die Wilden ein Linienschiffa betraohtete, — c
es gab die bodenlos luftige Hypothese auch Anlass zu ganz verfehlteo
Erklärungsversuchen. Abstand eines ^ grossen Meisters, wie Hallba
war, von jeder Erklärung konnte dem , der nicht an die absolute Un-
möglichkeit einer solchen glaubte, gerade ein Sporn sein , sie lu erfcuv
sehen, aber eine Erklärung, die scheiobar rationell wtrkliehe und ver-
meintliche Erfabrungsthatsachen zu einem Trugsystem vereinte, dessen
eigentliche Fundamente in dem Noli me tangere jenes Mysteriums der
Evolution sich unnahbar dem kritischen Blick entzogen, hätte auf fernste
Zeiten die Wissenschaft verwirren können. Ein solches Trug&ystein
war aber das der Lufi«a^schen Prolepsis, dessen evolutionistisohe Basis
meist verkannt worden ist 1). Hier führte man den ganzen Entwick'^
lungsvorgang der Pflanze, nämlich der kormophytischen, auf das blaltr*
bildende Emporschieben der concentrischen Gylinder von Rinde, Bast,
ilolz und Mark des Stengels zurück, die sich je nach dem stärkeren oder
schwächeren Zutritt des Nahrungssaftes in blosse Laub-, oder Laub-
und BlUthenblätter verwandelten, und zwar ktzteres einfach dadurch,
dass die inneren (eigentlich für eine ganze Reihe künftiger Jahrgänge
bestimmten) Blatigebilde gerade bei magerer Nahrung (in unvoUkom^
mener Form) anticipirt würden. Beweis für das Vorhandensein einer
Knospe in jeder Blattachsel war ja bei der Voraussetzung eines jedem
scheinbaren Werden vorausgehenden unsichtbaren Seins die unleugbare
Fähigkeit jeder Blattachsel , eine Knospe hervorzutreiben ; jedes Blast
derselben musste wieder seine Ac^iselknospe haben und so im Sinne der
Einschachtelungstheorie weiter. Dem Axiom des. unsichtbaren Daseins
unzähliger Knospen in deq Blattachseln (nicht nur der sichtbaren sondern
4) Vergl. LiMiri, Syst. hat. (edU. Xlf) 11, p. 9. Linn£. Ainoenit. acad. IV, pp.
»SS ff. «a4 VI* pp. StB. 140 f.
a06 Aiffed tlMbhdf^
attcH der unslohiharM Blattef) ftlgt<^ maki dartiti, litn j^urnZM^ebk %n ge-
langen, die gewaltsame Behauptvitig zu, dass utiter den bestimmtet) Er-
nahrutigsverhilUnlssen die Anticipirung von den Knospen der eigentlich
der Zukunft vorbehaltenen Jahrgänge nur jeeinBlatt zum Torschein
kommen lasse ; man musste sich auch bei Pflanzen mit spiraliger oder
deeussirter Blattstellung cur Erzeugung etwa einer pentamerenAlsineen-
bittthe Knietet einmal eineKreisstelhing von je SLaubblattem denken,
die ihre eigentlich ntt€fest}ahfigen Acfaseiknospen in blosser Blsrttfonn
und zwar nieht zu Laubbtmtem sondern zu Deckblättern (Bracteen) ge-
formt verfrüht vorseböben) und hatte nun die Freiheit weiter zu schlies-
sen, dass bei den abnormen Zustanden einer solchen DProlepsis« aus
der Achsel der Bracteen die Laubblattknospen emes zweitfolgenden
Jahres als blosse Pseudoknospen in der Form der Kelchblatter faervor-
wttchsen, die des 3. Jahres als Kronen-^, die des I. als Siaub-, die des
i^. aU FruohtUtttter. So war denn jede BHlthenpflanze ein thats^tchlfcher
Beweis der Evoluiiensibeone geworden : beim Schmetterling war e.s
sobwerer die Elemente seines Körpers in der Raupe nachzuweisen, da
sie den latenten Zustand enst überwanden, w^nn dieRaupenbattt fängst
ansgeflBOgen war, — bei den Gewächsen aber konnte sich ja jeder
tyflerzeugen, dass der bunte Schmetterling derBItlthe aus seiner grflnen
Raupeühaut ganz aUmählich hervortrat, im Larvenzustand der Vegetation
also sicberücb die Pflanz das Image der Bltlthe lange vorher schon ge-
borgen hatte. Durelf äussere Umstände allein war es bedingt, ob sieb
die Stengelinternodien ausdehnten ond Jahr für Jahr ihre Knospen in
der Totalität der Blattgebilde ans Tageslicht brächten, oder ob jene Pro-
lepais die hUemodien eusammengezogen liess, und nur je ein Vtaii aas
jeder Knospe, aber bei dieser Verfrühung in der merkwtirdigen üm-
wioMldung zu einem BHlthenblall dem Auge sich zeigte. Man bildete
sich wirklich ein^ diese^Bfetamorphose« damit auf ihre Ursachen zurück-
geführt z« hubeii) und man hatte allerdings die beste Ausrede für den
Fi^ des völligen Unterbleibens der Blüthenbildung bei reichficherer
Nahrungsswfuhr, — dann sohob sich eben nieht simultan der Schmetter-
ling, sondern suecessiv Raupe auf Raupe Jahr für Jahr hervor; ein Ge-
genbeweis aber gegen daS' latente Vorhandensein des einen oder des
anderen lag niemals vor^
Zw njtanlicbm Zeit hatten also die bedeutendsten Forscher ^fdeni
fiebiet der Pfleinzen^ und Thiernatur die Wissenschaft in bed^kHcber
Weis» gefithrdet: HikiLi« hatte ihr mH der Ftk^e nach dem Werden
gleichsam den Herzschlag verboten, LncNfi eine Theorie geschaffen, die
mit trügerischem Gaukelspiel eine gewisse Befriedigung des dem Men-
schen so tief eingeprägten Bedürfnisses, die Ursache der Dingo t^
CMpMfiieiikkWoiff/' aar
socbM, dadureb erkaufte, daas sie die geseUinSfiai(|fyn Gruodlage« dal*
l)oiaoiscben Morphologie aod Anatomie in schwankende Bewegmig
hrackte.
Wolffs Gegenbeweis.
Es is4 eine merkwürdige Thatsacke, dass die gnttsst^A Umwäkungen
in der Geschichte der menschlichen Geistesentwickiung oftdarch bloase
Erneuerung alibekaiuKer Sätze herbeigeführt werden , durdi Zurück-
gehen auf eine für jrrthttmUeh gehaltetie Wahrheit, die einst naiv hin-»
genommen, dann verdammt worden und nun plötzUoh duM^h den Er«*
weis ihrer RechtsbesUlndigkeit sogar eine neue Epoehe heraufführt, i^
tief ist daa naiv dogmatische und das kritische Fürwahrhalten verschieden.
Die Alten hatten langst das Leben als wirtLÜcfae Veründeruag , das
Weitlen als wirkliche Entstehung von etwas Neuem, vorher niphtDa^
gewesenem begriflen, und dooh ist nicht AkiSTornss , sondern W^Lff
der Vater der EntwidüuBgsgeschicbte: Aaistotilbs behauptete,
WoLrp bewies das Werden.
Was Kant für die Philosophie, ist Wolpp für die Physiologie : der
kritische d. h« der aUekn den Namen verdienende Begründer. Man
hat viel vor Kamt philosophiri Und die Ideen früherer Systeme sind uns
von hohem Werthe, aber eben dass sie es noch für uns sind, dass man
mit HtJiu's völlig berechtigtem Zweifei an der Zulässigkeit der Ideen-
Verbindung zwischen Ursache und Wirkung nicht den Schritt unab^
sehbarster Tragweite that und das Streben nach philosophisdier Er-**
kenntniss als Unsinn bei Seite that, — das verdanken wrtr Kant, der
den Beweis von der Müglichkeit, von der Thatsache der mensdi liehen
Erkenntniss im hüchsten Sinne des Worts führte. Wir kOnneaWoLvr's
Bedeutung für die Wissenschaft vom organischen Leben nicht genauer
bezeichnen, als wenn wir von ihm das Analoge sagen : er begründete
die Lehre vom Werden, indem er die Thatsache des Werdens bewies^
Man stosse sich nicht an unsre nothwendig bildliche AusdrudEeweiae :
er befindete die Ittngst vorhanden gewesene Lehre , nicht etwa von
neuem, nein ganz im eigentücben, jede Coneurrenz ausschliessenden
Sinne« Wohl sollte man meinen, die Frage nach der Wirklichkeit des
Objects müsse ^er Untersuchung des Objeets vorangehen. Aber das
ist einmal nicht der Gang menschlicher Geistesregungen ; die dogm»«
tische Periode Usst tausend Fragen, vieUeioht auch gltteklich erledigsn,
ehe die logisch erste daran kommt Dass jedoch die Erledigung der letz-
teren deshalb nicht eine nutzlose Nachträglichkeit ist, beweist das K 7.
und 18. Jahrhundert durch seine Theorie von der Prttdelineation. Der
^Og AlfM kirdihoä;
Baum des physiologischen Wissens war im Allertbom gleichsatii
verwildert gewachsen , nach der Winterruhe des Mittelalters hatte er
frische junge Triebe bekommen , und doch würde er nur noch kurze
Zeit ein wahres, dann nur ein Scheinleben gefristet haben , wenn seine
Wurzeln in dem Boden, in den sie sich tiefer und tiefer einsenkten und
in dem sie mit Naturnothwendigkeit absterben mussten, nicht neue
Quellen zuströmender Nahrung durch Annahme einer neuen Bichtung
gefunden hallen.
Dass ihnen Wolff diese neue Richtung gab, dass er sie in die
Lage brachte nun den Baum so lange ununterbrochen zu nähren , als
denkende Menschen auf Erden leben werden, — das ist jetzt auch im
Ganzen wohl unbestritten. Und doch, waltet über Wolpf's Werken seit
Alters ein eigenthttmlicher, die Berechtigung solchen Lobes nicht recht
erleuchtender Unstern. Botaniker haben Wolff, wie schon Scblsidbii
klagte, fast nie gelesen, Zoologen kennen ihn wesentlich als den Ent-
decker der Darmbildung bei den W^irbelthieren , Dank dem Ueber-
Setzungsverdienst, das sich der jttngereMKCKBL4842 um diebelreffende
akademische Abhandlung Wolpf's erworben hat; für jene im Allge-
meinen hingestellte Grösse citirt man die berühmte Theoria Generationis,
gewöhnlich aber ohne sie zu lesen , wahrend man mit dem eigentlich
beweisenden deutschen Werk desselben Titels consequenter ver-
fahrt: das liest man weder, noch citirt man es.
Es sei daher hier versucht , in kurzen Zügen die Methode dieser
epochemachenden Beweisführung zu diarakterisiren , durch die Wolbf
ahnlich wie Lbssing eine viel höhere Bedeutung hat als durch die er-
zielten Forschungsre^ultate, obwohl letztere ihm als echtem , nie vom
festen Boden der Empirie loslassenden Naturforscher die unentbehrlichen
Waffen in die Hand gaben. Eine ins Einzelne gehende Wiedergabe
s^ner Generationstheorie d. h. Entwicklungslehre des höheren Pflanzen-
und Thierorganismus dürfen wir hier um so eher unterlassen , als die
heutige Physiologie des Wtrbelthierkiji'pers die wichtigsten hierhin ein-
schlagenden WoLFP'schen Entdeckungen in glücklicher Portbildung in
sich trägt, die heulige Botanik zwar in ähnlicher Weise Sgrlbidiii's
statt Wolff 's Entdeckungen fortentwickelt, Wolff's Pflanzenentwick-
lungsgeschichle aber anderen Orts von uns dargestellt worden ist ^).
In der Theoria Generationis sehen wir den jugendlichen Forscher
in feierlichem Ernst das Werden von Pflanze und Thier mit Wort und
Bild darstellen, in festgeschlossener logischer Schlusskette deductiv and
4) lü der Eingangs erwähnten Schrift über die »Pflanzen- Metamorphöse bei
Wolff und bei Gobthe «
Cispar ttwinA W^lUfT 20^
inductiv Satz fOir Salz begründen, ohne den ruhig objectiven Ton einer
sich bloss in den Gegenstand vertiefenden DarslelJung durch pole-
mische Aus&lle gegen seine Gegner zu unterbrechen. Man würde aus
den Worten der »dissertation profonde«, wie sie der Eloge der Peters-
burger Akademie nannte, die Existenz der Prädelineationstheorie gar
Hiebt ahnen. In der deutschen »Theorie von der Generationa tritt da-
gegen WouPF bereits im Bewusstsein des Triumphes nicht nur mit ge-
wandterem Darstellungstalent und wichtigen neuen Entdeckungen an
sein Werk von Neuem heran, sondern er gebt auch der gegnerischen
Theorie, die soeben in Bonnbt und Hallsr mit wttnschenswerther Ent-
schiedenheit geredel hatte, muthig zu Leibe.
Er ist bei aller Hochachtung vor der wissenschaftlichen Grosse
ÜAtLBt's aller frommen Verehrung des vermeintlichen Mysteriums un-
endlich fern, er gibt vielmehr seinem natürlichen Widerwillen gegen
die unnatürliche Hypothese herzhaftesten Ausdruck. »Wie sehr, sagt er,
ändert sich nicht dadurch der Begriff, den wir von der gegenwärtigen
Natur haben, und wie viel verliert er nicht von seiner Schönheit I
Bishero war sie eine lebendige Natur, die durch ihreeigene
R rufte unendliche Veränderungen herfUrgebracht. Jetzo ist sie ein
Werk, welches nur Veränderungen herfürzubringen scheint, in der
That aber und dem Wesen nach unverändert so liegen bleibt, wie es
gebauet war, ausser, dass es allmählich immer mehr und mehr abge-
nutztwird. Zuvor war sie eine Natur, die sich selbst destruirte, und
sich selbst von .neuem wiederschuf, um dadurch unendliche Verän-
derungen herfürzubringen, und sich immer wieder auf einer neuen Seite
zu zeigen. Jetzo ist sie eine leblose Masse, von der ein Stttck nach
dem andern herunter fällt, so lange bis der Kram ein Ende hat. Eine
solche elende Natur kann ich nicht ausstehn, unddieSamen-
tbierchen, in Ihrer Hypothese betrachtet, sind nicht ein Werk des un-
endlichen Philosophen, sondern sie sind das Werk eines Lbuwkii-
hoick's, eines Glasschleifers.« Das sind die schonen Worte, die er an
seinen (beim Druck der Schrift bereits verstorbenen) Freund Gvstat
Matiius Lüdolp richtete, in dessen personlicher Anrede die geistreichen
»zwo Abhandlungen«, die das Büchlein bilden, wie eine Privatnnterhal-
tung (ohne Scheu vor Berolinismenj sich ergehen.
Darauf führt er aus, wie unwahrscheinlich die {lypothese dadurch
erscheinen müsse, dass in dem übrigen Naturleben kein einziger phy-
sikalischer oder chemischer Prooess aufzufinden sei , der nur entfernt
auf ein erst uiisichü>ares, dann sichtbares Sein deute; wohl sei zu Wol-
ken, Regen und Schnee der Stoff vorher da, aber der Stoff des Wassers
sei so wenig die Wolke, als diese der Regen oder Schnee, den sie er-
fd. IV. 2. <4
S(tO AHM KfftAilioir,
zeuge, 30 selbst Schwefelsäure — setzt e*- Iffeflferid liitoz* — karm ^^hl
zar ProducUon von Schwefel dienen, aber sie ettlhall ihn doch tifcht
in dem durch seine bestimmten MerkmÄle zu charakterfesirenden Weseo,
folglich gar nicht:
Und nun rückt er, auf die Knospen^ntfaituwg der GcwJIchfee über-
gebend, der Entwirrung det unklaren Gedankenassocialiotien sehon sehr
nahe : freilich, sagt er, existirt hier eine Entfaltung, eine Evdtelion jün-
gerer Gebilde aus der bergenden Hülle älterer hervor , aber man darf
nie diese »Entwicklung in der Natur« mit der »Entwickluttg in der Hy-
pothese« verwechseln; zum Schutz d^r zarten Neubitdutigen , die
sonst allen Unbilden l^loss gesteift warfen, dient die Einschadlteiung, die
bei kfeinen^ Thier in solcher Weise sich findet (dd hier Eischale oder
Uterus schützt) , die selbst den Faraen mit ihrer Enlrollung (»Emwick-
long« im Wörtlichsten Sinne!) fehlt, da hier die Schneckenwindung des
Wedels nebst der seiner Seitenfiedern den jedesmal jüngsten Theil selbst
kinge genug besdiirmt. Wer darf schliessen , weil aus Kttospe oder
Samen (vielmehr dem dVirin befindlichen Keim) jtttigere Thieile sich er-
heben, diese ewig vorhanden gewesen seien? Das wäre derselbe hals-
brechende Schluss , als wenn Bonnbt auf die Rnospeneinschlüsse der
HyacinthetYzwiebel tjusqu'ä quatri^me gen^ration« mit den Worten hin-
weist: da sieht man die Evolution vor Aogen.
Als Hallbh 1760 in defi Gottinger Anzeigen Wolm^'s Dissertation
recensirte, ftmd er ganz richtig heraus, dass der Verfasser im botanischen
Thell seiner Arbdt besonderes Gewicht auf den Nachweis lege, die Ge-
fässe seien im jugendlichsten Zustand eines Pflanzentheils »nicht zu
klein oder zu durchsichtig, sondern gar nicht vorhanden.« Denn in der
That ist diese erste Thalsache, die die Theoria Generationis empirisch
feststellt, gleich die entschiedenste Widefh^gung des Satzes von Halibe :
»Nulla est epigenesis.« Der junge Stengel, das junge Bl^tt, nicht mehr
zu klein um selbst in allen seinen Theilen deutlich gesehen zu wenJen
zeigte nichts als rundliche Zellen unter dem Mikroskop, die nachher
Vorhandenen GefilsKe konnten sich hier unmöglich dem Blick entzogen
haben, mussten also durch fortgesetzte Sa flstrOmung nachträglfch
eitstanden sein.
W^OLFp's schöne Untersuchung der Blattbildung beim Weisskohl, der
Blüthetibildung bei def Bohne referirt Hallbr ohne irgend weiche* Ein-
wurf: das ganze Pflanzenleben war auf Vergrösserung und Verzweigung
von Stengel und Wurzel, sowie auf Bildung von Laub- und (metamor-
phosirten) Blüthenblättem zurückgeführt, der Ursprung all dieser Theile
in unendlich kleinen Hügel- oder Conusformen genau aul^efasst, aud^
das Auftreten fernerer Hervorwachsungen wieder aus ihnen, z. B. der
Zähne aus dem Blattrand, vortrefflich gezeichnet und besdirieben, —
aber regte siob dedn nicht bM Hallbr der Argwohn , das sei Alles nur
ein Hervol*sdiieben in di« Si^bnrkeit von latiier Dingen, die vorher im
Stengel ed^r in der Keimanlage unsichtbar vorhanden gewesen, selbst
die OeAlBSe nicht erst nach der rein oellulosen Periode neu gebildet,
sondern nur da erst durch Eintreten der Nahningsflttssigkeit sichtbar
geworden, vorher BusammensehUessende R(^ren, dünn wie das feinste
Haar, dabei völlig durchsichtig und ohne Lumen ?
Er gesieht uns diesen Argwohn erst beim Uebergang auf den zoo-
logischen Theil des Werkes. DafaeSsst es auf den ersten Zeilen: »Beider
Erzeugung derThiere mussman wohl auf einen Grund-
satz merlien, der gleich am Anfange steht, und nach wel-
chem dasjenige nicht da ist, was man nicht sieht.« Wie
unstatthaft aber dieser Satz sei, werde ein geObter Mikroskopiker
«umal von den GekrOseadem des Frosches wissen , die sich selbst bei
Anwendung chemischer Reagentien durch Farblosigkeit und Durchsich-
tigkeil dem Blick des Beobachters entzogen.
WoLFP blieb indessen völlig Herr der Situation. Sdiarfer Logiker,
wie er war, gestand er sofort ein, dass, wenn er diesen Satz zum
TrOger seiner Theorie gemacht hatte , «nicht Salomons Weisheit« ihm
helfen würde, sein System kritisch zu rechtfertigen. In völliger Ge-
mtlthsruhe legt er selbst die Gründe aus einander, warum jener Satz
einen Unsinn enthalte. Ganz anders gestalte sich jedoch die Sache,
wenn man daraus den Satz mache, den er wirklich zum Leitstern seiner
Untersuchungen gewählt habe : ein Ding von bestimmten sinn^
liehen Merkmalen Ist da nicht vorhanden, wo man diese
Merkmale nicht durch die Sinne wahrnimmt. Ganz schalk-^
haft belegt er diesen echten Naturforscfaergrundsatz mit den populärsten
Nutsanwendttngen: »Auf diese Art, sagt er, kann ich zum Esempel sehr
leidit beweisen, dass in meinem Geldbeutel kein Friedriehsd'or sey;
dass Doris jetzo nicht in meiner Stube sey. Sie sehen leicht, alle diese
bestimmten Dinge sind mit gewissen Erscheinungen verbunden, die
ihrer Natur nach nicht verborgein bleiben kOnncfi. ' Den Friedrichsd^or
ntüile man i» Geldbeutel sehen und fühlen können , wenn er darin
wäre; und wenn Doris hier w^e, so würden wieder aiMlere Erschein
mmgen statt finden.«
Se enthüllt er halb scherzend die Waie, die der PrNdelineatton»*
ehimllra den Todesstoss versetzen musste. Freilich bedurfte es müh-
samer Stadien auf dem noch so ^den Felde der embryonalen Entwiok*^
Imgsgeachichte , denn nor in den frdben Lebensmomenten konnte er
jenen Gmndsalz zum Seweis eines früheren NichtexielirenB, 4^ines erst
spttteren Werdens und somit zum endlich entaeheidenden Siege an^
44*
212 Alfred KiKhkoi;
wenden. Es war schwerer die Abwesenheit des Herz^is im soeben
erst angelegten Embryo des Hühnchens zu entdecken als — Doris' Ab-
wesenheit zu beweisen. Und doch gelang es vortrefflich. Bekannllidi
zeichnet sich die embryonale Entwicklung der Wirbelthiere überhaupt
durch' die so frühe Ausbildung des Herzens aus , und es war deshalb
für WoLFF, der sich nach der Sitte der Zeit wesentlich auf die Unter-
suchung dieses Entwicklungstypus beschrankte, ein wahres Meister-
stück ^ Haller's Lehre zu stürzen, dass die ganze »Evolution« eines
Thicres darauf beruhe, dass in dem unsichtbar kleinen und durchsich-
tigen Pünctchen auf der Aussenseite des Dotters das Herz zu pulsiren
anfange und dadurch sich alsbald zum Centrum eines schon wohl or-
ganisirten Ganzen mache, da es nur gelte die »zusammengefallenen«
Häute der längst vorhandenen Gefässe auszudehnen , die dann durch
das Roth der einströmenden Blutkörperchen sichtbar würden. Erst
während seiner letzten Berliner Jahre machte Wolfp die Entdeckung,
dass in der allerersten Zeit der Bebrütung des Hühnereis, nicht nur
neben der Wirbelsäule mit ihrem Rückenmark kein Herz vorbanden
sei, während der Embryo schon stark ernährt werde, sondern dass
auch die Zusammenziehung des kaum gebildeten Herzens anfangs eine
ganz langsame sei, das Blut aber unabhängig davon seinen Lauf voll-
führe, längst ehe das Herz »der hüpfende Punct« geworden. Damit war
jeder Widerspruch aus dem Felde geschlagen : sein Mikroskop war nicht
unfähig gewesen, das Herz zu sehen, sondern im Gegentheil völlig aus-
reichend das Herz in einem der Hypothese Halljbr^s widersprechenden
Zustand zu sehen; dabei tauchte es als zelliges Körperchen auf zu einer
Zeit, als noch gar keine Brust vorhanden war, wurde nachweislich erst
später in den Brustkasten vor dessen Schliessung hineingezogen , kurz
es war nicht ein unsichtbarer Mittelpunct des Embryo, sondern es
wurde erst mit der wachsenden Selbständigkeit des werdenden Thieres
dessen Centralorgan.
Einen speciellen echt evoluUonistischen Einwurf hatte Hallbr gegen
Wolpf's Entstehun^gsgesohicfate der netzförmigen Nabelgef^sse in der
area umbilicalis erhoben. Hallsr glaubte natürlich an das unsichtbare
Dasein auch dieser Netzgefässe, die nur auf das Erwadien des Herz*
pulses warteten , um durch eingepumpte Säfte in die Erscheinung zu
treten. Wolff hingegen hatte genau gesehen, wie in der ursprünglich
homogenen körnigen Masse der afea Trevnungen anfangen , die mehr
und mehr zur Verwandlung derselben in lauter ungleiche, drei- oder
mehreckige Inseln führen, zwischen denen eine flüssigere Materie eine
Art Netz bildet. Die gröber kömige weissliche Masse sah er zuletzt die
bbssen Zwischenräume eines Systems von Geftasen bilden , die sich
Casptr Fri^i6li Wolff. 2 1 3
mit dduUichen Wandungen versahen und so schliesslich das Netz der
Nabdgefilsse farmirten. Es war schon eine Entstellung, wenn Hallei
diese Darstellung insofern billigte, als rede sie von worgezeichneten
Wegen« in der area ; das erinnerte schon zu sehr an Prädelineation,
und dazu fügte er noch den Zweifel, ob es zur Evidenz zu bringen sei,
dass diese »Wege zwischen dem körnigten Wesen« wirklich ursprüng-
lich ohne Wandung seien. — Da bewahrte sich denn WoLpr^s kritischer
Grundsatz in aller nur wttnschenswerthen Scharfe: nicht gassenartig
waren in der area »Wege« aufgetaucht, sondern es hatten sich blosse
Laounen gebildet, die kein Merkmal mit fertigen Gefassen gemein hatten,
folglich auch keine Gef^sse in diesem Primitivzustand waren; ihre Com-
munication hatte sich nicht dem Auge entzogen, sondern ihre ursprüng-
liche Isolirtheit dem Auge ganz klar gezeigt; die Wandungen traten
auch nicht in krystallklarer Durchsichtigkeit, sondern in recht äugen-'
fUliger opaker Derbheit auf; endlich war wegen der anfanglichen Zu-
sammenhangslosigkeit der Lücken, die sogar nach dem Amnium zu
immer kleiner wurden und dicht an demselben die area gar nicht
durchbracben, ein Einfluss etwa vom Herzen her immittirter Säfte zur
Ausweitung »vorgezeichneter Wege« vollkommen unmöglich, selbst
wenn man ein von Anfang an vorhandenes, nur nicht sichtbares Herz hatte
annehmen wcrflen.
Es kann hier nicht weiter verfolgt werden, wie Wolfp in Peters*-
bürg diese Untersuchungen so rüstig fortsetzte, dass — kaum ein Jahr
nach seinem Abschied von Berlin — gerade jetzt vor hundert Jahren
jenes classische Werk über die Bildung des Darmcanals im Hühnchen
fertig wurde, von dem Ernst v. Bakr urtheilte : »es ist die grösste Meister-
arbeit, die wir aus dem Felde der beobachtenden Naturwissenschaften
kennen.« Bis auf verhaltnissmtfssig geringe Irrthttroer (wie die Wolfp
nickt geglückte Unterscheidung der »Darmrinne«, seiner fistula intesti-
nalis, von der Höhlung des Darms) hat die ganze Folgezeit nichts daran
2U bessern gefunden , wohl aber diente diese Arbeit Wolpf^s , seitdem
MictBL sie zugänglicher gemacht hatte, um wesentliche Irrthümer in
der 4906 von Oksn (ohne Bekanntschaft mit seinem grossen Vorgänger)
nur nach — natürlich weit unvollständigeren — Suiten von Entwick-*
Jungsstadieii der Säugethierembryonen gegebenen Naturgeschichte der
Dannentwicklung zu berichtigen.
Als im 14. Band der Novi Goromentarii der Petersburger Akademie
der letzte Theil dieser berühmten Abhandlung De Ponnatione Intesti-
norüro erschien, durfte Wolfp mit Befriedigung auf das noch nicht ein-
mal ganz beendete Jabrzehnd hinMicken, das er seit der Vorbereitung
zur Doctor-Promotion an Saale und Oder, an Spree und Newa in uner-
21 4 *"' Mfnri Kiicbheff,
mttdlicber Arbeil durchlebt hatte. Cr sagte nicht mehr als die Wabr^
beit, wenn er in deniBUohlein von 1764 bebafiptele, es hab« nie \tt4er
Welt eine wirkliche Theorie organischer Entwicklung gegeben ausser
der von Gjlrtesiüs und der seinen ; von diesen aber wäre die cartesia-
nische ohne irgend zureichende Beobachtungsgrundlage ertranmli
nur die seinige wahr.
Er verhehlt sich nirgends die Schwächen seiner Leistungen, die er
vielmehr gegenüber der unendlichen Natur auf dem noch so ganz un-
hetretenen Boden der Entwicklungsgeschichte stets als der Besserung
bedürftig anerkennt. Aber der Würfel war gefallen : die Theorie von
der lebendigen, schaffenden Natur hatte die Aftertheorie von der
nur in lebendiges Gewand verkleideten, geschaffenen Natur be-
siegt, — dem Berner Schreckenswort oNulla est epigenesis« war glück-
lich Paroli geboten mit dem Berliner Jubelruf »Est epigenesisit
Wolff's Materialismus.
Nachdem die lebenden Wesen als unter unsem Augen entstehende
erkannt worden waren, erhob sich ganz von selbst die Frage nach den
Ursachen solcher Entstriiung. Haller hatte das Reebt, sein Myateriora
des unsichtbaren Seins von dem Mysterium des Schöpfungsactes ada-
mitischer Urzeit abzuleiten ; Wolfp^s Epigenesis rückte dagegen das
Wunderspiel tausendfilltiger Neubildungen aus dem Dunkel der Ursek
ins Licht der Gegenwart, und da galt es nun der Schi^pfung mit allen
Httifsmitteln rationeller Wissenschaft auf den Grund zu kommen.
Hatte WoLFF das Werden der Organismen in mühsamen Unter-
suchungen und mit logischer Schärfe zur zweifellosen Gewiseheii er*
hoben, so fügte er diesem Verdienst ein zweites hinzu: er brach die
Bahn für die einzig mögliche naturwissenschaftliche ErklMrüng des Le-
bens, nämlich für die mechanische oder materialistische , die auf dem
felsenfesten Satz beruht, dass die prgauische Welt als ein Theil der
Welt überhaupt an- einem gewissen Quantum von Materie participirt,
ihre (Lebens-) Erscheinungen daher nicht anders als aus der Materie
und deren unverUusserlicker Kraftsumme erklärt werden können.
Dieses zweite Hauptverdienst Wolff^s hat man deshalb bisher nicht
zu würdigen gewusst. weil seine »wesentliche Kraft(( (Vis essentialis),
die er gleich in den ersten Paragraphen der Dissertation auffldirt,' ohne
nähere Charakteristik nicht viel zu bedeuten schien , und das beiaahe
letzte Werk Wolff^s, das diese DWesentliohe Kraft« sum alleinigen Ge-
{«nstand nahm, so gut wie völlig unbekannt geblieben ist.
Auf seinen Antrieb hatte die Petersburger Akademie eine
Gaspit Fnedndi Wiolff. 2 1 &
aulgabe gesil^l( »^her die ^igentbUmliche und wesentlickü Kraft der
v^gß^biliscbea «owoU als der animalischen Substanz.« Aus Frankreich
und DeqiSGliland ^aren Lösungen von sehr verschiedenem Werth ein-
gogßogw» und als n89 die kaiserliche Akademie die besten davon in
Druck ftib, (Ugte Wolfp eine an Klarheit und Gedankenreiohthum alle
Jen« Beantwortungsversuche weit überflügelnde Abhandlung über das-
aeitiie Thema in deutscher Sprache zu ^j . In schonender Kritik v^andte
er sioh hauptsächlich an die beste Lösung, welche die Preisaufgabe von
BiCMgifBACB erfahren hatte. Dieser hatte darin jene Ansicht entwickelt,
die dann in Deutschland so viele Anhänger erwarb: Grundkraftjedes
Organismus sei der Bildungs trieb.
WoLFF legte nun mit seiner seit dreissig Jahren so oft geübten
klaren GedaokeneinfoU dar, dass \ j dieser Satz in folgerechter Anwen-
dung sieb augenblicklich selbst widerlege, denn jede Kraft müsse sich
in ihren WiriiLungen gleich bleiben , mithin müssten alle Organismen
einander gleich sein u|id auch aus völlig gleichartigen Theilen bestehen;
i) aber mit der von BtuiuNBiCH angewendeten Glausel , dass »die be-
sonderen UmsUlnde«, unter denen diese Kraft wirke, die Verschieden-
aitigkeit ihrer Wirkungen erkläre, der Satz einfach zurückgenommen
SM, denn in diesem Fall seien dann offenbar »die besonderen Umstände«
das Wirkepde, die Bildungskraft nur das Bedingte, folglich keipe
»Gvundkraft.«
Dann folgte der positive Theil der Abhandlung : Begründung seiner
eigenen Ansicht von der C a us a 1 i t ä t des Lebensprooosses. Hier drang
er mit einer Art Vorahnung von der Bedeutuag unsrer heutigen Celiur-
larpatbologie fi|r die Enthüllung biologisoherRäihsel lief in die morpho-
logische und fonotionelle Natur der Drüaengewebe ein, betonte die
wunderbare und doch gewiss so natürliche Verschiedenheit in der StoQ^
aneignung und Stoflüabsonderung der verschiedenen Organe eines und
desselben Körpers, überall seine früh'even Beobachtungen anziehend
und neu gemachte Erfahrungen da^ufUgend. Was aber die Resultate
dieser ErörVei^ungep angeht, ^ dtirfen wir sie hier in folgende einfache
Schlussi'eihe mit Citirung der Seitenzahlen der genannten Abhandlung
zusaounenfassen.
Das organiaebe Loben sieht unter der Herrschaft der allgemein und
auanahmiloa gültigen Naturgesetze, wie wir sie audi in der anorga-
nischen W#lt tkUtig finden (40, 74, 74). Wollen wir die Ursache oder
•■^ t p ■■ mw *^
4) Gedruckt 4789 in 4* tu Petersburg; gewöhnlich mit den übrigen Abhnnd-
lonfin lUMumengebufden und >o oft durch den Tilelaufdrucli «^ombiibach und
Bwm 4U( den (ietf»iioU|)d|nd, aliM) durch reines Buchhinderversehao versteokl.
21 g Atfrtd Kirchhof,
die wirkende Kraft ermitteln, welche die Erscheinung des Lebens her-
vorruft, so müssen wir hier wie anderwärts die Wirkung genau unter-
suchen, denn anders als in einer Wirkung ist es unmöglich eine Kraft
zu erkennen (7j . Nun ist der Lebensprocess ein ewiges Anziehen und
Abstossen von Stofftheilchen, die jedem Tbeile jedes organischen Kör-
pers zukommt (34). Das ist jedoch nicht die allgemeine Attractions-
erscheinung in der einfachen Weise, wie sie auch der Stoff ausserhalb
der Organismen zeigt, weil wir sonst eine beliebige Wiesenpflanze,
etwa den Wiesenbocksbart (Tragopogon pratensis) in irgend einem Stoff
nur genau nachzubilden brauchten, um uns als Schöpfer eines sich er-
nährenden und sich fortpflanzenden Wesens zu fühlen ; daraus folgt,
dass die organische Anziehungskraft eine den Organismen eigenthüm-
liehe »Ernährungskraft« (=Yis essen tialis) ist (39) . In ihr besteht
das Wesen des Organismus, sie wohnt jedem Theilchen desselben mit
der Doppeläusserung der Anziehung für diesen, der Abstossung für
jenen Stoff inne , wie ja auch im Magneten und im geriebenen Bern-
stein jedes Pünctchen zugleich anziehend und abstossend wirkt (69).
Das eine hat die wesentlich organische Nutrition mit dem Wachsthnm
eines Krystalls gemein, dass nur gewisse Stoffarten angezogen, andre
abgestossen werden (5?); darin aber liegt das Unterscheidende, dass
der Krystall nur äusserlich neuen Stoff ansetzt, der Organismus den
assimilirbaren Stoff innerlich aufnimmt (60) . Mit diesem Vorgang können
wir von Naturerscheinungen ausserhalb des Organismus nur die chemi-
schen vergleichen, bei denen sich auch eine vollständige Durchdringung
mit dem aufnehmbar befundenen Stoff zu einem ganz neuen Körper
zeigt, z. B. wenn ein festes Metall durch Verbindung mit Quedisüber
ein Amalgam bildet (64). Die allein zur Zeit nicht sicher erklärbare
Seite dieser Nutrition (deren morphologischer Wirkung in der Genera-
tionstheorie genau nachgegangen war) besteht in der bei verschiedenen
Species so verschiedenen Stoffwahl, die man mit den Seelenzuständen
von Neigung und Abneigung vergleichen möchte, aber trotzdem keines-
wegs mit der Eigenthümlichkeit der thierischen Seele vermengen darf,
wie Stahl gethan hatte (70). Pest steht nur soviel, dass die dem orga-
nischen Körper ausschliesslich zukommende Art der Stoffaneignung
und Slofforganisirung von* einer wesentlichen Eigenthümlichkeit her-
rühren rauss, welche der organische vor dem anorganischen Stoff vor-
aus hat: sei das eine besondere nur in Pflanzen oder Thieren vorkom--
mende Substanz oder eine besondere Art der Mischung, falls nämlich
lebende und leblose Körper aus denselben Stoffen beständen (94).
Welche Klarheit unbefangener Naturanschauung und uiriiestechltcher
Folgerichtigkeit liegt in diesen Sätzen 1 Fügen wir die erst uns mög-
'
tupAr Friedrieb Wolff. 217
liehe Entscheidung dar letztgenannten Alternation hinzu, dass es näm-
lich die Goroplicirtheit der auch im Felshau der Erde weit und breit
vorkommenden, nur hier ganz einfachen Kohlenstoffverbindungen ist,
weiche den unterscheidenden Charakter der organischen und anorga-
nischen Natur bedingt, so haben wir in der That die festen Lineamente
der mechanischen Biologie unserer und sicherlich aller Zeiten vor uns:
Stoflbewegung nach den ewigen Gesetzen der Physik und Chemie be-
wirkt das Kreisen des Stoffs ebenso in dem leicht verfolgbaren Wege
durch Luft, Wasser und Erde wie in geheimnissvollerer Weise durch
den lebendigen Körper, dessen Geburt, Leben und Tod nicht deshalb
abnorme Thatsachen sind, weil sie das Normale im wundervollen Com-
plex darbieten. Wolfp sagte genau das von der BLUVBüBACH'schen »Bil-
dungskraft«, was Humboldt von der modernen »Lebenskraft«: ihre An-
nahme ist nur ein Beweis, dass der, welcher sie macht, in der persön-
lichen Unfähigkeit, das Leben auf seine Ursachen zurückzuführen d. h.
den räthselvollen Complex der bunt in einander greifenden Ursachen
naturgesetzlich zu zerlegen, — sich mit einem grossen, gleich Alles mit
einander auf die billigste Weise erklärenden Wo rt hilft. Denn eben,
wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein I
Wenn aber Humboldt diesen wenig ruhmvollen, aber dem Sdiwäch-
lichen stets einladend dttnkenden Fluchtversuch aus dem Labyrinth der
biologischen Causalität nur als Parallele anführte zu der Neigung, die
so oft mit seinem Bruder das Zwiegespräch tief bewegt hattfe, dass
nämlich der Mensch angesichts der unendlichen Bedingtheit des geschicht-
lichen Lebens auch nur des kleinsten Staates , des kürzesten Zeitraums
vom Schwindel erfasst würde, wenn er nun gar die unabsehbaren Fer-
nen der ganzen Weltgeschichte zu ergründen unternähme, dass er dann
stets dem uralten »dumpfen Gefühle« verfalle und die Kritik in das ge-
fühlstiefe Meer des Glaubenssatzes versenke: »Gott regiert die Weh; ,
die Geschichtsaufgabe ist das Aufspüren dieser ewigen geheimnissvollen
RathschlOsse« — so dürfen wir zum Schluss jenes Streben nach Anru-
fung der Gottheit auf dem Felde der Wissenschaft in noch näherer Be-
ziehung zu der Hypothese von der Lebenskraft sowie zu unserem C.
Fr. Wolpp betrachten.
Als Wolpp, dem Greisenalter nahe , am Vorabend der grossen Er-
eignisse, die von Parisaus die neue Zeit heraufbeschworen, seine Ideen
über das Leben zum letzten Mal zu jenen allgemeineren Resultaten sam-
melte, schwieg er von jeder dem Ernst der Wissenschaft nicht ziemenden
Verthcidigung seines Materialismus gegen Einwendungen, die von
fremden Gebieten aus dawider erhoben werden konnten. Aber als
Jüngling hatte er dem vreit älteren Hallbr gegenüber einen schweren
}t8 Altred Kitebboff,
Stand gehabt. Zwar hatte einerseits WotPF nur ^n. eioer eimigen Stelle
der Dissertation einmal das Wort fallen lassen , es l^gje ihm daran zu
heweiseni dass vaw zur Erklärung der Generation die götüicbeAlbnacbi
nicht ins Spiel zu ziehen nöthig habe, und andrerseits redete Hallei
stets ohne jede Gereiztheit in vollster Achtung von den FqrscbuB^resul-
tateiii des jungen Berliner Physiologen in seinen Werken. Indessen eben
weil sich Vfourf in deniPrivatverkebr seiner Correspondenz mit UiXLKi
so aufrichiig best;heiden , so offen für jede Zurechtweisung zeigte , be-
nutzte dieser seine väterliche Stellung» wie as scheint» zu n^ancber nach-
drOeklichen Vorstellung, zuni0l wegen d^r Gefährdung , di^ er in der
ganzen Th^rie der Epigenesis fUr den religiösen Glauben mit Rechl
erkannte.
Schon wegen des liebenswürdig kindlichen Tones und der echt
wissenschaftlichen Selbstlosigkeit» die sich in Wolff's Briefen anHiLLKH
ausspricht, sei es daher gestattet an diesem Ort« einige Stellen derselben
übersetzt mitzutheilen, die auf die so still vor sich gegangene und doch
80 tiefe Um Wandelung der Ideen ein edgenthümliehes Ucbt wirft ^j.
ZuDäaMt waren bei de^ U^bersendungen des lateinischen wie des
deutschen Werks über die epigenetische Generation kürzere Begleil-
sobreiben erfolgt, dann hatte Wolff \ 765 naoh empfang/enem Tadel über
^u unscboneBde Behandlung seiner wissensdiafUichen Gegner (ver-
muthlich Bo:fx«T^s!) seinemHentor von seinen weiteren Untersuchungen
über dieStihncbenentwickelung geschrieben und zugleich seiner Selin-
sucht nach dem »festUchep T^g« Ausdruck verliehen, der für ibnkommeD
werd^ wenn er nun im 8. Theile der Elementa Physiologiae die mni-
versa generationis tbeoriaa zu lesen beginne.
Der Tag kam« Der8,Tbeil war erschienen, vermutblich von Haus«
selbst ihm zugeschickt: er bnacbte neben ehrenvoller Erwähnung der
WoiTP^Sobon Arbeiten das»Nulla ^st epigenesis la -r- In eine«i Sebreibea
dd» Berlin, den 6. Oct. 1766 sprach Wolpf seinen Dank aus, dass
IIl44.|z in seinem grossen Werke, seinem kleinen» seinen »Versucbeo«
einenPlatz vergjtinnt habe, dazu aber fügte er einei^ wahrhaft rührenden
Herzenserguss» den man lesen musa, um in Wolpf den ehrlichen deut-
schen Gelehrten zu erkennen. »Dank« heisst es da »dass iHi mir wohl
willst, dass Du mich liebst, erhabener Mann» obwohl Du mich niemals
gesehen und nur aus Briefen mich und meine GemUthsart kennst. Das
nUj^e Pir Gott lohnen , denn ich kann nieht hoSen , in diesem Leben
solche Badeutung zu erlangen , dass ich Dir eine Deiner Güte würdige
Erkenntlichkeit erweisen könnte, wenn Du nicht die unaustoscbliche
4) EpistoUß ad li4li«raui IV, p.isiff. v/p. iioff, p, Stoff, p. $S4 ff. jp. snff.
GiniMr Friedrieh 1l^«lff. 319
Verebmng DeiiMs Seiftes dafür nekoien willst. — Und was unsere
StreksaobebalriA, so denke iob also. Mir nickt mehr als Dir, herrHoher
MsQn, lie(^ die Wahrheit am Herzen. Sei es, daas DrganiscbeK9rp^r
aus dem ansiehlbaren in den sichtbaren Zustand sieh erheben, sei es^
dass sie aus Luft sieh hervorbringen : es gibt keinen Grand ^ weshalb
icb dies mehr als jenes wttnseben, oder jenes vielmehr wollen , dieses
nicht wollen sollte. Und ebendies ist ja aueb Deine Meinung, herrlieber
Mann. Einzig der Wahrheit forschen wir beide nach; das, wae
wahr ist, suchen wir. Warum also sollte ich gegen Dieb streiten 1
Warum sollte ich Dir widerstreben , da Du mit mir nach demselben
Ziele strebst? Deiner Obhut vielmehr vertraue ich voll Zuversicht
meine Epigenesis an, sie zu vertheidigen und auszubauen, wenn sie
wahr ist; ist sie aber falsch, so soll sie auch mir ein verbasstee Ungfrr*
heuer sein. Ich werde die Evolution bewundem , w^nn sie wahr ist,
uad werde den anbetungswürdigen Urheber der Natur mit demttthigster
Andacht verehren als eine den menschlichen Einsichten unerUHiiiare
Gottheit; ist sie aber falsch, so wirst Du sie, auch wenn ich schweige,
ohne Zögern verwerfen.«
Aber Halles Hess die Evolution nicht fallen und mahnte vielmehr
von einer ganz ai^deren Seite her den jüngeren Forscher ernstlich von
weiteren Angriffen auf diese Lehre aus Ntttzlichkeitsgründen
ab. Es wa r kurz vor seinem Abgänge nach Petersburg, als Wolff am
n. April 4 767 folgende buchst bezeichnende Antwort auf die erhaltene
Warnung an Hallbr schrieb : er sei von der Wahrheit der Gründe, die
Haller j e t z t für die »Hypothese von derEvolution« vorgebracht habe ^) ,
so durchdrungen, dass er in der That nicht wisse, was er in Zukunft
für seinen Lebenszweck, die Geheimnisse des organischen Lebens zu
ergründen, thun solle. Er habe früher nicht so eingesehen wie jetzt,
dass es sich bei der Bedeutung der Evolutionslehre für die Religion nicht
sowohl um den Beweis der Wahrheit der Religion handle, als viel-
mehr darum, dass jener Beweis (durch die l'hatsache der Ur-Erschaf-
fung und wunderbaren Evolvirungj »leicht, kurz und einleuchtend« sei,
dabei auch geschützt genug gegen laienhafte Bestreitung. Er begreife,
dass, zwar nicht für die wahrhaft religiösen Wahrheiten, aber für solche
populäre Demonstrationen die Aufrichtung seiner Epigenesis verhäng-
1 ) Diese Gründe scheinen oacbWoLFP's Antwort zu ^chliessen, dem schönen Aus-
spruch Halleb's wenig entsprochen zu haben, wie er in den Worten liegt : »Laeli
memintmus, experiroenta ad verum ducere, verum ad Deum viam aperire.« (Op.
niin III, p. 190}. So scbluss er einst (475S) seine Beurtheilung der BüFFon'schen
Theorie ttber die Weltentstehung, die man des Atheismus angeklagt hatte*
220 Alfred Kircllli«ff, Cnspar Fneiriek Wolff.
nissToll sei. »Preilicba setzt er hinzu »ist gegen dieExialenz eines gött-
lichen Wesens noch nichts geschehen, wenn auch die orgmischen Kör-
per durch Naturkräfte und unter natttriichen Ursachen sich darbiMen,
denn diese Krflfte und Ursachen selbst, ja die Natur selbst veiiangen
ebenso einen Urheber als die organischen Körper : aber dennoch würde
der Beweis weit in die Augen fallender und kräftiger sein , wenn wir
in der Betrachtung der Naturbedingungen fänden , dass die einzelnen
Naturproducteoder die organischen Körper einen Schöpfer nötbig hätten,
und nichls Organisches durch natürliche Ursachen hervorgebracht wer-
den könne.«
Wir denken an das Dogma der einen oder vielen Erscfaafiungen
der Pflanzen- und Thierarten, an Dabwin, an die anglicanische Kirche
und manchen ähnlichen Yerdammungsruf diesseit des Ganais I Denn
das sind Zwiliingsschwestern die Theorie der Epigenesis und die der
Desoendenz. Die Wahrheit dieser wird wie die jener siegen, oder
vielmehr sie hat schon gesiegt I
Beiträge nr Keuteiss der S|MBgiM I.
von
N. IQklaoho-Maclay,
Mit Tafel IV. und V.
I. üeber Onaneha blanea, einen neuen Halkschwamm.
Die reiche Seh warnttifauna dfiv canarischen Inseln, welche ich im voii-
gen Winter (1866/67) zu untersuchen Gelegenheit hatte, bietetauch in der
Abtheiiang der Kalkspöngien einige Mannigfaltigkeit. An den mit Algen
und Schwämmen bedeckten zerklOfieteDLavaroasaen, die den niedrigen
Strand des Hafens del Arredfe (Lanzarote) bilden , fanden sich einige
KalkschwSmme von verschiedener Grosse und Gestalt, die gruppenweise
an den Lavabldcken sassen. Es waren besonders swei Formen, die
meine Aufmeriisamkeit in Anspruch nahmen. Die in Fig. 4 . auf Taf . IV .
abgebildete Gruppe wird eine bessere Idee vom Aussehen derselben
geben, als jede Beschreibung. Der Schwamm A (Taf. IV. Fig. 4 . ) be*
Stehtaus einem I y^ — SyjMm. langen. Vi Mm. breiten spindelförmigen
Korper, der auf einem ziemlich hingen Stiel aufsitzt. Der Körper des
Schwammes ist schlaff und biegsam, so dass bei der leisesten Bewegung
des Wassers er sich bald auf die eine , bald auf die andere Seite legt.
Am oberen Ende findet sich dieMundOffnung^), die keinen mit blossem
Auge sichtbaren Spicuhikranz besitzt, die Oberflttche erscheint giaU und
von glonzend weisser Fttrbung. Neben solchen Einzelnen fanden sieb
auch mehrere dieser Körper , die auf einem gemeinschafUachen Stiel
aufsassen (Fig. 4. B.)
In derGesellschafIt dieser, bald isolirt sich erhebenden, bald einem
gemeinsamen Stiele entspringenden SchwammkOrper, die als zusammenr-
4) Ich gebrsQche den Ausdruck »MandSfltaiuig« sl alt AaswurftOflhiaosd^ Ante«
reo, aus Grttodeo, auf welch« ich spSler sarttckkomaiaa werde.
222 ' N. Mikluelio-MaeUy,
gehörig leicht zu erkennen waren, traf sich noch eine andere Fonn von
mehr fremdartiger Beschaffenheit. Dieselbe (Fig. 4. G.) war grösser
(3 — 4 Mm. Länge, < Y2 — 2V2 Mm. Breite) und ihrer Gestalt nach von
den erstem sehr verschieden. Sie sass ebenfalls auf einem Y4 — ^2^^"*
dicken Stiele [s) , bildete aber einen ganz ansehnlichen kugeligen oder
birnförmigen Körper, der von zahlreichen Lücken (/) durchbrochen ^ar.
Am obem Ende fand sich ebeofßlls eine Mundöfibung (mj. Obwohl die
erste der beschriebenen Formen am besten zu der von Oscar Scbmidt
aufgestellten Gattung Ute passt, so will ich diesen Schwamm aus man-
chen Gründen, welche ich später mittheilen werde, mit einem nicht
gebrauchten Namen belegen: ich nenne diesen Schwamm Guancha
blanca. —
Die mikroskopische Untersuchung der Form A Fig. \. ergab, dass
man durch die Mundöffhung in eine geräumige mit Flimmerepithel aus-
gekleidete Höhle gelangt. Dieser einfache Sack ist die verdauende Ca-
vität des Schwaiiunep. Die Wao^^^^g^ bestehen mw enem tanero
Epithel, das auf einer zelligen Grundlage aufsitzt. Zwischen dieser und
der dOnnea strudurlosen Hülle finden sich regelmässig verthettle drei-
sirahlige Spicula. Die verdauende Ca vität setBtsich, wie es scheint,
nicht im den Stiel fort.
Die iMilräunie der Form C Fig. I . verkMten sich wesentlich en-
dete. Durch die Muodoffnung gelaiif;! man nichl wie bei der vorbe-
9ohriebe»cn Form (A) tn ^ine einfache blind geendigfe HMile , sondern
tu einen üohlraimi, in. welchen ziMreidie Ganttie einmünden. Was die
Wendungen dieser Form betrifft, so bestehen sie aas denselben Zellen,
ded^elbei) Hatte and denselbea Spicula wie bei der vorhin besdbriebenen
Fonn A. Die ^usiene Gestalt and dits Verhalten der HofalNIume hatten jeden
Syslemaltiker bestimnit , dl6 zwei Formeo als verschiedene Arten , ja
sagarGatliingen zu besehreiben ; denBöoh Verhält es sich mit denselben
anders. Je mehr ich Exetnplare antersttohfte^ um so grösser erschienen
die individoeften Verschiedenheiten der beiden Formen. Besonders
viele Afolfeichttniget) eeigten die IndividuaB der Form G. Kein einziges
War deia andern gleich ; in einem wai^n die Lücken laUreicber ihmI
kietner, bei andern langge^treekt und an Zahl geringer ; auch die äussere
Geistalt «wediselte, sie war bald mehr spindeUannig bald oval, ja segar
becherförmig. Alle diese Abweichungen Hessen es wünscheaewcrth
ersoheimeA, eine roögüchst grosse AneaU ven Individuen sa Gesicht zu
bekommea. Schon iia Laufe der aäcfaslen Tafe fand ich eine Aasahl
Schwammindividuen, die sich zu einer Reihe schöner Uebergangsformen
ordnen liessen. Eine genauere fietraditung der Fig. I . und 2. wird
dieses Verhalten viel besser als Werte demonstriren.
BeitrXg« Vit f f Hntttlaft #ef S))#^ieu I. iiS
A«f f*ig. 1 9iah6 Mi die Hatiptförinen der GtiAnchd, auf Fig. i die
Uebergangsforroen dargestellt.
!Vi fter Nalur liess' Sich die üebergangsreihe viel vonständiger er-
kennen, aber aHe diese Individuen einzeln abzubilden, wäre zu weit^
läufig tttid tu scheint mir, dass die beigelegten Zeichnungen vollkommen
ausreicht. —
Die Form € ist nicht die letzte in dieser Reihe. Man findet, 'obwohl
nicht so oft, wie die andern, aber in der Nähe derselben kleine Polster,
dünne Ueberttige von ungleicher Grösse (6—9 Mm. Länjge und ^
bis 4 Mm. Dicke) und Gestalt. Diese Schwammform besitzt aber die-
selben Lucken, wie jene von € und geht in der Thal aus der letztge-
nannten Form hervor. 8ehr viele dieser Hegenden Formen besitzen
Stiele, von welchen sie firsprftnglic* getragen wurden. (F, D Flg. 1
und 2). Man muss sich demnach vorstellen, dass anfänglich frei empor-
ragende Formen sich senken, nnd unter polMerarliger Ausbreitung ihre
anfängliche Form verlieren. Fffir die einzelnen Stadien dieses Vorganges
sind Belege unschwer aufzufinden.
Diese (leihe von Üebergängen, selbst wenn sie auch nicht so voll-
ständig wäre, wie sie inderThat ist, und die übereinstimmende mikro-
skopische Structur, ffthren mich zu dem Schluss, dass alle diese For-
men blos Zustände ein es und desselben Schwammessind
und dass die Form A für die ursprüngliche gelten kann,
aus welcher die andern entstanden sind. Fragt man, wie
alle diese Formen aus der einen entstanden sind? so ist die Antwort:
durch Verwachsung oder Concrescenz^). Diese Verwachsung
oder Verschmelzung ist ein bei Schwämmen bereits bekannter Process,
welchen ein Autor treffend in folgenden Worten dargestellt hat: »Kom-
men sie (die Schwämme) bei weiterer Ausdehnung mit einander in Be-
rührung, so schwindet ihre Grenzhaut, die Nadeln des Schwammes
kreuzen sich, die innem Canäle treten mit einander in Verbindung,
man kann ihn jetzt nur noch gewaltsam zerreissen.a
Dasselbe kann man auch von derGuancha sagen. Da dieGuancha,
wie frtüter erwähnt, fast immer gruppenweise vorkommt , sehr oft so-
gar mehrere Individuen auf einem gemeinschaftlichen Stiel [Form B) so
kann es leicht sich treffen, dass die einzelnen Individuen mit einander
fn Berührung kommen, sich aneinander legen, wobei die Wandungen
verschmelzen. Es entstehen dadurch zugleich Verbindungen der Hohl-
räume^ erst später vereinigen sich dieMundOlfhungen zu einer gemein-
f) B. Hazceel, Gen. Morph. 11. p. U7 hat das Voikonimeo dieses Vorgaogea
im Thierreiche tttsammengesielli.
%
324 N. Mikluelio-HMliiy,
sdiaftlicheD. Man kann häufig solche im Yerscbmelzen begriffene
Schwämme finden. Fig. 2, i zeigt ein Stadium dieses Procesves deutlich,
die verdauenden Gavitaten sind zum Theil vermi^gt, die MundOffkuingen
noch getrennt. Schema 3 Fig. 3 zeigt einen Längsdurchschnitt desselben
Schwammes. Bezüglich der verzweigten Form B Fig. \ . scheinen grössere
Gomplicationen zu bestehen. Wahrscheinlich entsteht sie nur theil—
weise durch Verwachsen einzelner Individuen, theilweise auch durch
Knospenbildung. Für das letztere spricht das öftere Fehlen einer dif-
ferenzirten Mundöffnung, welches bei einzeln stehenden Individuen nur
in sehr jungem Zustande vorkommt. Die ain der verästelten Form vor-
kommenden mundlosen Individuen werden daher gleichfalls als frühe
Zustände angesehen werden müssen. An der complicirteren Form C
findet man zuweilen zwiei, sogar mehrere Mundöffnungen (4 Fig. 2], die
sich später zu einer einzigen Oeffnung verbinden, und diese stellt dann
das häufigere an dieser Form sich treffende Verhalten dar. Die Lücken
sind Andeutungen der früheren Trennung. Die verdauenden Gavitäten
der Form A bilden sich in der Form G zu Ganälen, die alle in einen ge-
meinschaftlichen Sinus ausmünden. Dieses Verhalten sieht man in Fig. 12.
Tat V. sehr deutlich. Es ist ein horizontaler Schnitt durch das obere
Drittheil der Guancha, Form G, d ist der gem^nschaftliche Sinus, in
welchen die Ganäle e ausmünden ; a ist die Mundöffnung«
Diese Form G geht bei bedeutendem Wachsthum in die Form D
über. Der Stiel wird zu schwach , um den immermehr an Masse zu-
nehmenden Körper zu tragen, die Form G senkt sich zu Boden und
wächst weiter, indem sie als Polster die darunterliegenden Körper be-
deckt. Der Stiel bleibt als rudimentäre Bildung zurück und deutet auf
den Zusammenhang mit den andern Formen* Jede dieser Formen (A,
B, G, D) kann aber selbstständig fortexistiren ; es sind keine noth-
wendig zu durchlaufenden Stadien, es ist keine Entwickelung der einen
Form aus der andern; es sind blos Zustände eines Schwammes;
aber dennoch erfordert jede nachfolgende Form das Vorhandensein einer
vorhergehenden.
Die verschiedenen Formen erscheinen auch in verschiedener' An-
zahl. Die einfache Form A ist die häufigste, seltener ist schon die Form
B, noch seltener G und von der liegenden Form D habeich im Ganzen nur
3 oder 4 Exemplare gefunden. Auch diese Zahlen Verhältnisse sprechen
für das vorhin Gesagte.
Um das Verhalten der Hohlräume bei den verschiedenen Formen
anschaulich zu machen, habeich in Fig. 3 Schema tische Quer- und Längs-
durchschnitte zusammengestellt, an welchen man die allmählichen .Ueber-
gänge sehen kann.
Beiträge lar Kaniituiss der Sjf^tn I. 225
In Fig. 3. sind 4. und i.Durchs&nitte durch die Form A. Die ver-
dauende Gavitäi ist ein einfäl^her Sack ohne Canäle und Flimmer-
kammem. Sund 5 (Fjig. 3.) bilden einen Uebergang zu der complicirien
Form G, deren schematische Durchschnitte 2, 6 und 7 darstellen. S ist
der gemeinschaftliche Sinus , in welchen die Ganäle einmünden. Ob
die innere Wandung aller dieser verschiedenen Hohlraumformen mit
Flimmerpfthel ausgekleidet ist, kann ich nicht behaupten, doch halte ich
es fttr wahrscheinlich. Sicher habe ich dasselbe btos bei Form A gesehen.
Feinerer Bau.
Die einfachen Formen derGuancha Fig. 4. 2. A sind schöne mikro-
skopische Objecte, da sie sehr durchsichtig sind. Ein Zusatz von wenig
Glyoerin reicht aus, um die ganze Structur zu erkennen. Schon bei
den schwächste^ Vergrösserungen unterscheidet man die sackförmige
Höhle, die ich als verdauende Gavität erwähnt habe. Sie ist von einer
dttnnen Wandung umgeben, welche äusserlich viele Unebenheiten be-
sitzt, indem die Schenkel der Spicula überall hervorragen. Diese sind
daselbst von einer äusserst dünnen homogenen Hülle (Guticula) über-
zogen (Flg. 40. 6b). Diese dünne, die ganze . Guancha äusserlich
umkleidende Hülle, setzt sich ohne deutliche Grenze nach innen fort.
Bei Behandlung mit Säuren tritt sie deutlicher hervor, ist aber durchaus
kein Kunstproduct, da sie schon bei ganz frischen, blos mit Wasser be-
handelten Exemplaren deutlich ist. Sie ist sehr dem undifferenzirten
kernlosen Protoplasma , das man so oft bei andern Schwämmen beob-
achtet, ähnlich und scheint von der darunterliegenden Zellenschicht
ausgeschieden zu sein. Darunter finden sich sehr regelmässig geordnete
Spicula, die frei zwischen den Zellen liegen. Um den Mund herum
zeigen die Spicula eine bestimmte Anordnung , so dass sie einen zier-
lichen Kranz bilden (Fig. 41. a). Dieser Kranz zeigt sich bei allen
Formen der Guancha ähnlich. Die Kalkspicula sind säromtlich drei-
schenklig, aber von sehr verschiedener Grösse, der eine Schenkel ist
länger als die zwei andern; der durch je zwei Schenkel gebildete Winkel
beträgt 4 20 ^. Die Spicula sind nicht hohl, wie man beim Glühen oder
Auflösen in schwachen Säuern leicht sehen kann. Beim Glühen be-
kommt man oft ein Bild , welches man einer verkohlten organischen
Grundlage zuschreiben möchte. Aber da ich diese Grundlage beim all-
mählichen Auflösen in verdünnter Essigsäure niemals bekommen habe,
so konnte ersteres wohl eine optische Täuschung sein. Die Spicula bil-
den bei Guancha ein zierliches Netzwerk, dessen Anordnung, wie vorhin
erwähnt, sehr regelmässig und constant ist. Der längere Schenkel ist
»lud IV. 2. -45
226 '>J^- Miklaeho-Maelay,
gewöhnlich nach unten gerichtet; (Fig. 6.) die Anordnung ist bei allen
Formen der Guancha dieselbe. Wie die Spicula in der Guaneba entr-
stehen, weiss ich nicht. Die verdauende CavitSt ist mit Flimmerepitbcl
ausgekleidet, wie man das bei gewissen Umständen sehr gut sehen
kann. Wenn die verdauende Cavitat, wie wir später sehen werden, mit
Embryonen angefüllt ist, so kann sie eine beträchtliche Ausdehnung
erleiden, die Wandungen werden noch dttnner, und man kann das in-
nere Epithel beim Vorttbergleiten der bewimperten Embryonen deutlich
unterscheiden. Genügend dünne Durchschnitte an der zarten "frischen
Guancha sind mir nie gelungen , so dass ich die Epithelschicht nie im
Zusammenhange beobachtet habe; ich sah an diesen Durchschnitten
blos die äussere Hülle, durchschnittene Spicula zwischen der innem
Zellenschicht, und einzelne abgelöste Zellen, die wahrscheinlich von der
Epithelschicht abstammten. In den Wandungen der Guancha findet
sich durchaus nichts den von Liebbrkühn bei Spongillen nachgewiesenen
Wimperapparaten Analoges. Etwas, den sogenannten Einströmungs-
öffnungen Aehnliches habe ich nur bei ein paar Exemplaren gesehen :
es waren sehr enge Ganäle, die die äussere Hülle durchbrachen und
sich in der mittleren Zellenschicht verloren, bis in die verdauende Ca-
vität Hessen sich dieselben nicht verfolgen. Bei sehr vielen andern
speciell darauf untersuchten lebenden Schwämmen Hess sich gar nichts
derartiges auffinden.
Durch Behandlung mit schwachen Säuren kann man sämmtliche
Spicula entfernen, dann bekommt man ein weiches durch Behandlung
mit Carmin sich intensiv roth färbendes sackförmiges Gebilde , an wel-
chem man die zellige Structur leicht erkennen kann. Durch Entfernung
der Spicula wird die äussere Form der Guancha gar nicht verändert.
Ein ganz analoges Bild bekommt man bei Entfernung des Parenr
chyms des Schwammes mittels Glühen ; man erhält schön angeordnete
Spicula, die auch die Form des Schwammes vollkommen darstellen.
Was ich hier über die mikroskopische Structur gesagt, gilt für alle
Formen.
Fortpflanzung.
Beim Untersuchen einiger Individuen fand ich die ganze ver-
dauende Cavität mit einer zelligen Masse angefüllt (Taf. IV. Fig. i,e). Um
diesen Inhalt deutlicher zu sehen, entfernte ich durch Essigsäure die
Spicula und fand diese Masse aus Zellencomplexen (Keimkörper der
Autoren) bestehend, die durch äusserst schwache Conturen getrennt
waren (Fig. 5.). Einzelrfe Individuen derselben Gruppe waren unver-
<8^ngu
Beitrüge znr Kenntniss der «S^ongien I. 227
ändert und noch andere zeigten cßeselben Compleie mit einer deut-
lichen Hülle umgeben. Weitere Untersuchungen ergaben, dass diese
zelligen Conglomerate kleiner werden und sich verdichten , so dass sie
spater nur einen Theil der verdauenden Cavität einnehmen. Die in-
neren Parthien dieser Körper färben sich braun und es differenzirt sich
an ihnen eine helle ziemlich dicke äussere Schichte. Man kann di^se
Gebilde nach Ablauf dieser Differenzirung als Embryonen bezeichnen.
Bald darauf bekommen sie lange Wimpern, vermöge deren sie in der
verdauenden Cavität umherschwimmen (Fig. 4 e). Diese bewimperlen
Embryonen treten durch den Mund aus und verlassen so das Mutter-
thier. Die freigewordenen Embryonen (Schwärmsporen der Autoren)
sind oval (Fig. 12), besitzen einen dunkelbraunen Inhalt und eine helle
Corticalschicht und ttber dieser noch eine zarte Hülle.
Deber die feinere Structur dieser hellen Schicht weiss ich nicht viel zu
sagen. Die angewandten Vergrösserungen (450) reichen nicht aus, um
ihre Beschaffenheit zu erkennen. Sie schien mir aus sehr grossen Zellen
zu bestehen, doch will ich das nicht behaupten. Bei leichten Druck-
versuchen mit dem Deckgläschen zerreisst die äussere Hülle sowie die
helle Corticalschicht und der braune, aus Zellen bestehende Inhalt tritt
aus; in diesen ausgetretenen Zellen habe ich nie etwas einem Spiculum
Aqhnliches gefunden. An den folgenden Tagen fand ich mehrere der Em-
bryonen am Glase ansitzend, während andere noch herumschwärmton.
Einige der festhaftenden hatten schon einen Theil ihres Wimperkleides
verloren und ihre äussere Gestalt war verändert. Diese Embryonen
gingen aber im Laufe der folgenden Tage zu Grunde und da die Be-
obachtung in die letzte Zeit unseres Aufenthaltes in Arrecife fiel, so
musste ich die Anstellung neuer Züchtungsversuche aufgeben und darauf
verzichten die ganze Entwickelung vom Embryo bis zur erwachsenen
Guancha zu verfolgen. Aber schon lange vor dieser Beobachtung fand
ich ganz junge Exemplare derselben Guancha ; sie besassen noch keine
differenzirte Mundöffnung, die auch hier, wie bei den übrigen Schwäm-
men erst später entsteht, so dass, obwohl mir gewiss einige Zwischen-
stadien fehlen, ich doch, auf die positiven Beobachtungen gestützt, ein
ideales Bild der vollständigen Entwicklungsreihe construiren kann.
Fig. \ 5 auf Taf . IV. stellt diese Entwicklungsreihe vor. «
Von einem befruchtenden Elemente, Samenfctden, hnbo ich nichts
gesehen.
45»
228 Wi^Miklncho-Maclay,
Gemmulabildung bei Gu'ancha und andern See-
schwämme n;
Eine andere, ebenfalls interessante Fortpflanzungsart, die ich bei
Guancha beobachtete, ist die sogenannte Gemmulabildung, die
auch bei anderen Seeschwämmen verbreitet ist; auf Algen, Pfähleö,
Steinen am Strande fand ich zuweilen kleine^ weissliche Kügelcben , die
ich für Gemmulae ansah, ohne zu wissen, dass sie der Guancha enge-
hörten. Endlich half mir ein glücklicher Zufall. Eines Tages erbeutete
ich eine Guanchagruppe , deren Formen mir auffielen. Ich hielt diese
Schwämme in einem Gläschen isolirt; und fand am nächsten Tage noch
keine wesentliche Veränderung. An den folgenden Tagen fehlte mir
die Zeit jene Schwämme von neuem zu untersuchen , so dass ich nur
einigemal das Wasser wechselte. Am fünften Tage fand ich zu meinem
grossen Erstaunen die Gruppe ganz verändert. An einzelnen Stellen der
Schwammindividuen boten sich Anschwellungen dar (Fig. 6 g) , die an
anderen scharf abgegrenzt wareo, und eine UmwandlTlng in Gemmulae
wahrnehmen Hessen. Die eine derselben löste sich schon in ein paar
Stunden ab. Sie glich vollständig den vorhin erwähnten (Fig. 7) , die
mir bezüglich ihrer Abstammung anfänglich unbekannt waren.
Die dünne Wandung umschloss eine aus Zellen bestehende Sub-
stanz und einzelne Spicula des Mutterschwammes.
Um vollkommen sicher zu sein , nahm ich eine andere Guancha-
gruppe (Fig. 8), deren Individuen voll Embryonen waren und unter-
warf sie demselben Versuche. In wenigen Tagen erhielt ich neue Gem-
mulae (Fig. 9), die Individuen mit den Embryonen waren rückgebildet.
Die Gemmulae der Guancha entwickeln sich, indem einzelne Stellen des
Körpers anschwellen. Die Wand derselben wird an diesen Stellen dün-
ner, durchsichtiger, die Anschwellung nimmt allmählich an Grösse zu
und die Schwammzellen und Spicula des Schwammes gehen in diese
sich bildende Gemmula über, die sich allmählich abschnürt. Die äussere
Hülle der Guancha wird zur Gemmulahülle, der Inhalt des Schwammes
zum Gemmula-Inhalt. Aus einem Schwammindividuum geht bald eine
Gemmula, bald gehen deren zwei hervor.
Ich behielt die abgelösten Gemmulae bis zu meiner Abreise aus
Aürecife, zwei Wochen ungefähr, wechselte sorgfältig das Wasser, ohne
jedoch eine Weiterentwickelung der Gemmulae erzielen zu können.
Das Schicksal dieser Gemmulae ist wahrscheinlich dasselbe wie das
derGemmulae anderer Schwämme; sie treiben sich umher, bis sie gün-
stige Gelegenheit und Jahreszeit finden. (Dabei muss erwähnt werden,
dass meine Beobachtungen in den Monat Februar fielen). — Schon
Beiträge lur Keuutoiss der §|^ieu 1. 229
früher fand ich am Fuss vieler einzeln stehender Guancha Fetzen eines
Häutchens und Spicula, die der äHancha anzugehören schienen (Fig. 16.).
Die Bedeutung dieses HUutchcns wurde mir aber erst dann klar, als ich
diese Thatsache mit dem Vorhergehenden in Zusammenhang brachte.
Ich untersuchlb darauf sehr viele Exemplare, bei einigen fand ich gar
nichts derartiges, bei andern gleiche Fetzen , zwei oder drei aber be-
sassen vollständige lläutc, die am untern Ende des Stieles sassen und
viel umränglicher waren, als die darauf sich erhebende Guancha. Die
Vergleichung dieser Häute mit der structurlosen GemmulahüUe erwies
beider Identität. Diese Beobachtungen habe ich mehrfach wiederholen
können. So fand ich ganz einzeln vorkommende Guancha auf Äigon
an einer Uferstelle bei Puerto Naos (Lanzarote] , wo ich nach langem
Suchen keine andere Guancha zu Gesicht bekam. Sie besassen die be-
schriebenen Membranreste, offenbar waren sie als Gemmulae dahin gc-
rathen. Die Gemmulae sind beim SUsswasserschwamm von Libberkühn
und andern Naturforschem beobachtet und genauer untersucht worden.
Es war zu vermuthen, dass das Vorkommen dieser Bildungen nicht blos
auf Spongilla beschränkt sei, aber soviel ich weiss, sind Gemmulae bei
Seeschwämmen noch nicht constatirt worden. Da ich fast bei allen auf
Lanzarote vorkommenden Schwämmen Gemmulae gefunden habe, so
benutze ich diese Gelegenheit, um sowohl die grössere Verbreitung
dieses Fortpflanzungsmodus nachzuweisen, als auch einiges über die
Verschiedenheit in ihrem Vorkommen mitzutheilen. Die Gemmulae
fanden sich bei Kalk-, Kiesel- und Hornschwämmen. Man trifft dieselben
bald imParenchym des alten Schwammes (Fig. 18), bald frei vom Wasser
getrieben oder an fremde Gegenstände befestigt. Die Gemmulae ent-
stehen bei Hornschwämmen im Innern des Schwammkörpers , indem
sich an einzelnen Stellen Anhäufungen von Zellen bilden. Diese umgeben
sich mit einer Hülle und bleiben in diesem Zustande, bis mechanische
Einwirkung des Wassers die sie umschliessenden, allmählich abster-
benden Theile des Mutterschwammes entfernt und sie auf diese Weise
befreit. Die Gemmulae der Hornschwämme zeigen einen Zusammen-
hang mit dem Gei*üsto, indem Verästelungen desselben in dieGemmula
hineinragen (Fig. 18a). So sieht man beim Absterben des Schwammes
oft grössere Massen des Gerüstes mit den daran sitzenden Gemmulae.
Dieser Zusammenhang persistirt aber nicht lange ; das Ilorngerüst wird
durch das strömende Wasser zerbröckelt und die einzelnen Gemmulae
werden frei. Vom alten Gerüst bleiben noch flockenartige Reste als
Anhänge (Fig. 19a) an der Gcmmula übrig, womit sich diese sehr leichten
Ilolzstückcheri anhängen und mit denselben weite Wanderungen machen
können. Die Gemmulae dieser Schwämme sind helle oder dunkelbraune
230 ^* Miklucho-Maclay,
Kugoln von verschiedeaer Grösse {\ — 2Mm.j) diese ist sogar am selben
Schwämme sehr wechselnd. Die Hülle ist dünn, stark lichtbrechend)
in Kali nur beim Kochen löslich und bietet auch der Einwirkung von
Sauren viel Widerstand dar.
Dieses Verhalten scheint aber je nach dem Älter der Gemmula ver-
schieden zusein; Hüllen älterer Gemmulae sind am schwersten löslich.
Somit bietet diese Membran ähnliche Veränderungen wie Chitinmem-
branen dar. Von Kiesel- oder Kalkeinlagerungen in der Hülle , ctvyas
dem Amphidisken Aehnlichem habe ich keine Spur gefunden. £in Po-
rus fand sich nur bei einem Kalkschwamm, Nardoa canariensis mihi *),
wo der Inhalt beim Aufdrücken mit dem Deckgläschen nur an einer
bestimmten Stelle hervortrat. Bei allen andern zerriss auch beim leisesten
Aufdrücken die ganze Hülle.
Es besteht durchaus kein wesentlicher Unterschied zwischen dem
Inhalte der Gemmula und dem Parenchym desselben Schwammes , es
sind dieselben Zellen, dieselben Spicula. In der Gemmula eines Uorn-
schwammes habe ich ziemlich grosse concrementartige Bildungen ge-
troffen, die in Säure sich nicht lösten, nur bei Behandlung mit Kali eine
deutliche concentrische Schichtung zeigten. Ob sie dem Schwamm ange-
hören oder fremde Bildungen sind, habe ich nicht ermitteln können.
•
Vorkommen der Guancha und Stellung im Systeme.
Die Zeit meiner Untersuchungen fiel in den Februar. Der Fundort
der Guancha blanca waren die Riffe am Fort vor dem Puerto del Arre-
cife auf der Insel Lanzarote. An andern Stellen habe ich sie zwar ge-
sucht, aber nicht gefunden, mit Ausnahme zweier vereinzelter Guancha
in Puerto Naos.
4) Es fanden sich bei Arrecife ausser den beschriebeocn noch drei Kalk-
schwämme, deren kurze Beschreibung ich hier anreihen will. Diese Schwömme
bilden ein mit Lücken durchbrochenes Polster, besitzen eine oder, mehrere Mund-
Öffnungen, die in einen Gomplex von Canälen führen; stfmmtliche Spicula sind
dreistrahlig , die Schwämme zeigen einen übereinstimmenden Bau und unter-
scheiden sich von einander nur durch ihre Farbe, die bei den einzelnen sehr Consta nt
ist. Der eine Schwamm ist weiss, der andere mennigroth, der dritte schwefelgelb.
Die Farben, die am lebenden Schwamm sehr schön sind, verschwinden in Spiritus.
Die Schwämme färben sich braun und sind in diesem Zustande kaum zu unter-
scheiden, sowie auch die Spicula nur sehr wenig von einander verschieden sind.
Diese drei Schwämme passen am besten in die von 0. Schmidt aufgestellte Gattung
Nardoa und ich nenne sie nach Fundort und Farbe N. canariensis, N. rubra und
N. sulphurea. Gemmulae habe ich bei den zwei letzteren nicht gefunden.
Beiträge zur Kenntuiss der SpoigRo I. 231
Auf meiner Rückreise nach EurofChabe ich mehrfach die Strand-
säume der nordafrikanischen Kü9le (bei Mogador und Massagan) unter-
sucht und fand ziemlich viele Schwämme, zum Theil solche die auf den
canarischen Inseln tfleines Wissens nicht vorkommen; die Guancha
fehlte jedoch hi^f. Auch mein Suchen am Strande der Bai von Algesiras
bei Gibraltar war fruchtlos. In Arrecife aber ist die Guancha durchaus
keine Seltenheit. Sie sitzt gruppenweise , die verschiedenen Formen
Mtsaaimen, ap Steinen, die gewöhnlich bei Ebbe trocken gelegt werden.
Das ist ungefähr Alles, was ich über die schöne Guancha blanca
zu sagen habe. Ich weiss wohl , dass meine Beobachtungen Vieles zu
wünschen übrig lassen, aber diese Untersuchungen fallen in die letzten
Tage des Aufenthaltes auf den canarischen Inseln, sodass ich Vieles nicht
berücksichtigen konnte.
Bevor ich zur systematischen Stellung der Guancha blanca über-
gehe, will ich über die jetzt bestehende Classification der Kalkschwämme
einige Worte sagen.
DerGattungsnameGrantia ist für sämmtliche Kalkschwämme von
Flbmhing 4 8^8 aufgestellt. Libberkühn trennte davon Sycon; er belegte
mit diesem Namen alle cylindrischen mehr oder weniger regelmässigen
Kalkschwämme, im Gegensatz zu den formlosen und mit Lücken durch-
brochenen, für die er den Namen Grantia beibehielt.
BowBRBANK thoUte dann die Syconen in den eigentlichen Sycon und
in die Dunstervillia; 0. Schmut stellte die Gattungen Ute und
Nardoa auf:
Nach O« ScHsrnT zerfallen die Kalkschwämme in folgende Gattungen :
1. Gattung Sycon Lbk. Körper spindelförmig, eine grosse
Centralhöhle enthaltend. Um die Ausströmungsöfinung ein
Kranz grosser Nadeln.
2. Gattung Dunstervillia Lbk. Den Syconen ganz ähnlich,
Oberfläche getäfelt.
3. Gattung Ute Sdt. Schlaffe Wandungen, geräumige Central-
höhle ohne Nadelkranz.
4. Gattung Grantia Lbk. Körper unregelmässig, verästelt, Zahl
der Ausströmungsöffnungen unbestimmt, Nadelkranz fehlt,
Wandungen solid.
5. Gattung Nardoa Sdl. Körper unregelmfissig , Wandungen
sind zart, die Canäle münden in eine Centralhöhle <) .
Meine Guancha besitzt Formen, die nach den Autoren für ver-
schiedene Gattungen gelten können, da sie zugleich Ute (Form A) und
4) Ose. ScHBiDT, 8p. d. Adriat. Meeres S. 48—49.
232 ^ N. Miklußho-Maclay,
Nardöa ist (PormD , und üoch ehie FormC. besitzt, die vielleicht auch,
einzeln gefunden und untersucht, als Gattung aufgestellt werden könnte.
Dieses Verhalten war der Grund, weshalb »ich für den untersuchten
Schwamm einen nicht gebrauchten Namen wählte;- Ich überlasse einem
mehr in Systematik Bewanderten, die Guancha zu cläsMßciren, glaube
aber dass solches ohne Äenderung der bei der Systematik der Spongien
angewandten Principien nicht geschehen könne. Statt dessen wende ich
n^ich jetzt noch zu einigen allgemeineren zoologischen Betrachtui^jelar
über die Natur der Schwämme.
n. lieber den coelenterischen Apparat der Schwämme.
Der für wesentlich geltende anatomische Charakter derSchwämme,
dass das Wasser durch besondere verschliessbare mikroskopische Oeff—
nungen aufgenommen, dann in den Ganälen des Schwammos durch die
sogenannten Wimperorgane hindurch getrieben wird und wieder durch
besondere Äusströmungsöffhungen (Schornsteine) den Schwamm ver-
lässt, ist durchaus nicht so allgemein , wie man bis jetzt anzunehmen
pflegte. Es waren die Untersuchungen von Grant und LibbbrkCIhn , die
den Grund zu dieser Anschauung legten, die auch mit verschiedenen,
aber nicht wesentlichen Modificationen von Bowbrbank, 0. Schhidt und
anderen Spongiologen angenommen ist. Der dieser Mittheilung gegebene
Raum erlaubt mir nicht, auf alle diese Verschiedenheiten einzugeben.
Ich will blos bemerken, dass einige Umstände gegen diese so verbrei-
tete Anschauung sprechen. Während meines Aufenthaltes auf den ca-
narischen Inseln hatte ich Gelegenheit, ziemlich viele Seeschwämme zu
sehen und lebend zu beobachten. Dabei ist es mir gelungen, bei vielen
derSchwämme zusehen, dass durch die Ausströmungsöffnungen Wasser
nicht nur ausströmt, sondern auch einströmt. Das Aus-
strömen des Wassers ist an den Schwämmen weit leichter zu beobach-
ten, als das Einströmen. Der hauptsächliche Grund liegt in den Um-
ständen, unter welchen die Beobachtung angestellt wird. Denn es ist
sehr schwierig, Momente (Licht, Wellenbewegung des Wassers etc.;
zu beseitigen, die als Reize auf den Schwamm wirken, auf \^elche der-
selbe reagirt, indem er sich zusammenzieht und das Wasser ausströmen
lässt. Bei längerer Beobachtung gelingt es unzweifelhaft^ auch das Ein-
strömen zu beobachten. Es wäre demnach die Schornsteinöffnung,
nicht blos Ausströmungs-, sondern auch Einströmungsöff-
nung.
Damit will ich durchaus nicht sagen , dass andere Forscher wie
Grant , Libberkühn etc. falsch beobachtet haben ; alles was dieselben
$^9ip;n
Beitri&ge lur Kenntniss der Sppifiien I. 233
gesehen habeD, habe ich auch an den^n mir beobachteten Schwämmen
gefunden. Vielleicht liegt es nuF an den untersuchten Objecten , dass
es mir gelang mehr zu sehen, als die obengenannten Naturforscher.
Es ist auch möglich, dass die Behauptung, dass die Schwammöffnungen
zu verschiedenen Functionen differenzirt seien, bei manchen Schwäm-
men ganz bemchtigt ist. Aber diese Theorie derCirculation d«s Wassers
wUre für andere Spongien vollkommen unhaltbar. Bei meiner Guancha
z. B. finden sich weder Einströmungsöffnungen noch Wimperapparate.
Die ganze Höhlung besteht aus einem sackförmigen Gebilde, in welches
Wasser durch die Mundöffnung sowohl aufgenommen als ausgestossen
wird, ganz nach Art des Verdauungsapparats bei Coelenteraten.
Viel natürlicher erscheint es mir, die Hohlraumverhältnisse der
Schwämme von einem allgemeineren Standpuncte zu betrachten und
zu beurtheilen. Wenn wir die allmähliche Entwickelung der Ernährungs-
organe in der Thierreihe verfolgen, so finden wir eine Reihe von Diffe-
renzirungon. Bei vielen Thieren geschieht die Nahrungsaufnahme durch
die ganze Körperoberfläche (Gregarinen, Cestodenj. Diese Form der
Ernährung (Endosmoso) findet sich auch im Pflanzenreiche. Die Auf-
nahme fester Stoffe in den Körper findet also nicht sogleich durch eine
Mundöffnung, die in die verdauende Höhle führt, statt, sondern gleich-
sam als Uebergang hierzu ist in einer Abtheilung von Thieren (denRhi-
zopoden) der gesammte Körper zur Nahrungsaufnahme dienend, indem
jede Stelle der Oberfläche als Mund , jede Stelle des Innern als Magen
zu fungiren im Stande ist. Auf einer höheren Bildungsstufe treffen wir
dann den Verdauungsapparat durch eine im Körper befindliche Ca vität
vorgestellt, die durch eine Mundöffnung nach aussen führt (Coelenteraten,
viele Würmer). Bei den Schwämmen finden wir Verhältnisse, die als
Uebergänge zwischen den Einrichtungen derRhizopoden und denen der
viel höher stehenden Coelenteraten angesehen werden können. Es be-
stehen nämlich bei einigen Schwämmen mehrere Oeffnungen , die zur
Nahrungsaufnahme dienen können, die sich aber von den Einrichtungen
der Rhizopoden unterscheiden, indem sie eine constantere Bildung re-
präsentiren (Localisirung der Function). Bei andern Schwämmen be-
merkt man schon eine Centralisation , indem sich eine oder mehrere
Oeffnungen besonders ausbilden. Diese Differenzirung geht weiter, bis
sie endlich zur Bildung einer grossen Mundöffnung führt , die zugleich
auch After ist und die in eine weite einfache oder complicirte verdauende
Cavitut führt (bei unserm Kalkschwamm, bei Hydra u. a.). Diese Ein-
richtungen schliessen sich unmittelbar an die höhere Bildungsstufe des
Verdauungsapparats der Coelenteraten.
Auf das Vorhergehende mich stützend, betrachte ich den cölente-
234 ^^ ^* MikluchO'Maclay,
rischen Apparat der Schwämme Skt eine zwar noch indifferentere, aber
mit dem Gaslrovascularapparat der Goelente raten homologe Bildung, die
bei den letzteren nur weiter diiferenzirt ist.
Die weitere Diiferenzirung der verdauenden Gavität bei.denCoelen-
teraten führt zum Auftreten von Antimeren , die aber, wie ich spiiter
mittheilcn werde, auch manchen Schwämmen zukommen.
Ausser der Mundölfnung commünicirt der coelenterische Apparat
mancher Schwämme durch Ganäle unmittelbar nach Aussen, bei eiD^n,
wie bei der Guancha und andern, fehlen sie. Diese Bildung wird all-
mählich ganz rudimentär, verliertdamit ihre Bedeutung, findet sich aber
noch bei einigen Goelenteraten, wo sie später ganz verschwindet, indem
eine völlig abgeschlossene Leibeshöhle besteht. Diese Auffassung des
coelenterischen Apparats der Schwämme scheint mir die Erscheinungen
jener Einrichtung auf die ungezwungenste Weise zu erklären. Sie
verbindet zugleich einfachere Zustände mit complicirteren, und führt
von dem bei ersteren herrschenden Wechsel vollen Verhalten zu dem
scheinbar einen abgeschlossenen Typus repräsentirenden Verhalten der
Goelenteraten hin.
Wie aus dem von mir Vorgebrachten ersehen werden kann, bietet
die Structur der Schwämme viel mehr Mannigfaltigkeit, als man bisher
annehmen mochte.
Man hatte irrthümlicherweise Vorstellungen, die aus den blos bei
einigen Arten constatirten Thatsachen gewonnen waren, auf die ganze
Abtheilung übertragen.
Ich selbst habe zwar zu wenig Schwämme untersucht, um über
alle bei den Spongien bestehenden Verhältnisse der Structur und der
Lebenserscheinungen ein Urtheil abgeben zu können, allein ich darf
glauben, dass das von der Guancha mitgetheilte das Ungenügende der
bisherigen Auffassung der Spongien darthut. Namentlich liegt in der
Bildung des coelenterischen Apparates und seiner Entstehungsweise bei
den complicirteren Formen ein jene Auffassung umgestaltendes Moment.
Wenn ich hienacb auch die übrigen Spongien beurtheilen möchte, so
thue ich dies jedoch nur hypothetisch. Diese Hypothese erscheint mir
aber gerechtfertigt, da sie einmal auf Thatsachen sich stützt, und dann
ganze Reihen sonst unerklärlicher Formerscheinungen in Zusammenhang
bringt.
III. lieber die Stockbildung der Schwämme.
Die Guancha blanca ist für die Frage der Stockbildung nicht nur
bei den Schwämmen, sondern auch im Allgemeinen von Interesse. Wir
Beiträge zur Keontniss der Spoi^^j^I. 235
/■
haben gesehen, wie aus mehreren disj(Mf«ten Schwammindividuen (Per-
sonen) schliesslich sich ein Stock bilden kann. Die Entstehung des
Stockes geschieht durch Verwachsen. Dieser Process ist besonders als
Moment für Entstehung der Stöcke von Interesse. Bis jetzt nahm man
an, dass die Ccjjnilen oder Stöcke entstehen durch »unvollständige
Spaltung dtr Personen und zw^ar ist diese Spaltung allermeistens
Knospenbildung, viel seltener Theilung.«^)
Gmncha blanca ist ein Beispiel von Stockbildung durch Ver-
wachsung oder Goncrescenz. Diese beiden Arten von Stockbii-
düng sind wesentlich verschieden : während bei der ersten Form (Spal-
tung der Personen) die einzelnen Individuen fünfter Ordnung nach Uaeckel
sich nicht vollständig entwickeln, und einseitig differenziren , so ver-
schmelzen bei der zweitenForm die früher vollständig getrennten
und ausgebildelen Personen zu einem Stocke. Im letzten Falle
gehen die einzelnen Individuen eine wirkliche Rückbildung ein,
während bei Stockbildung durch Spaltung, wo die Individuen ihre voll-
ständige Entwickelung nicht erreichen, von einer wahren Rückbildung
nicht die Rede sein kann.
Die Stockbildung stimmt mit der Individualitätstheorie der
Schwämme von Ose. Schiudt nicht ganz überein. Diesem Autor zufolge
kommt einem jeden Schwammindividuum eine Ausströmungsöffnung
(Mund) zu, und mithin hätte ein Stock soviel AusströmungsöShungen,
wie die Zahl der Individuen betrüge, aus denen er besteht. Stöcke der
Guancha (Fig. 1. i. C), die aus vielen Individuen bestehen, besitzen
gewöhnlich eine Mundöffnung, selten zwei oder drei. So Vieles auch
die Theorie ScuMmr^s für sich hat, so ist doch die Individualitdtsfrage
bei den Schwämmen dadurch nicht vollständig erledigt und erwartet
erst durch Ausdehnung der Untersuchungen eine befriedigendere
Lösung. ^ ^
lY. Ueber die Stellung der Sehwftmme in der Thierreihe.
Es erscheint vielleicht nicht überflüssig, hieran noch einige Worte
über die Stellung der Schwämme zu den übrigen Thierformen zu
knüpfen. Die Schwämme unterlagen einem grossen Wechsel im Bezug
auf die Classification; so reohnete sieLiNNfi zu denThiercn, Blumbnbagh,
Okjbn, Burmeister u.a. zu den Pflanzen, LiEBERKüDNaber erkannte wieder
ihre thierische Natur.
Die Schwämme als Thiereaufgefasst, wurden bald zu den Protozoen,
i) Haeckkl, Generelle Morphologie: Ontogenie d. Stöcke Ji, 145 ff
236 ' N. MiklucLo-Maclay,
bald zu den Goelcnteraten gerecbqet; von Huxley, Carter, Perty u. A.
wurden sie fU'rRhizopoden erklärt, Habckel betont auch ihre nahe Bezie-
hung zu den Rhizopoden. Leugkart endlich stellte die Schwämme zu
den Goelcnteraten und unterschied sie als Poriferen von den übrigen.
Ich werde auf alle diese verschiedenen Auffassunged nicht specicller
eingehen und will blos die Schlüsse, zu denen mich meine Unter-
suchungen gefuhrt haben, mittheilen. Wenn auch R. Leugkaat die nahe
Verwandtschaft, die jene Thiere mit den Goelcnteraten verbindet, er-
kannt hat, so hat er doch meines Wissens unterlassen genügende Be-
weise für seine Auffassung beizubringen. Es war wesentlich nur das
Ganalsystem, welches er mit dem Gastrovascularsystem der Goelcnteraten
verglich. Ein complicirtes Ganalsystem fehlt aber vielen Goelenteraicn
und eine einfache verdauende Gavitdt kommt ebenso jn anderen Abthei-
lungen vor. Sehr viele Momente jedoch, sowohl anatomische als Lebens-
erscheinungen deuten auf diese Verwandtschaft. Die allmähliche Diffe-
renzirung der verdauenden Cavität, das Auftreten der Antimeren ^), die
embryonalen Zustände und Entwickelungsformen^j, die verschiedenen
Vermehrungsarten (Auftreten geschlechtlicher neben der ungeschlecht-
lichen Fortpflanzung), ja sogar das Absterben^], besonders aber dieDif-
ferenzirungsreihe des coelenteri sehen Apparates und die Betrachtung
fossiler Formen (Petrospongien) haben mich zu der Ansicht geführt, dass
die Schwämme undGoelenteratenAbkömmlinge derselben
Grundform sind, und dass die Aehnlichkeit der beiden Gruppen
nicht blos Analogie ist, sondern auf einer tiefern Verwandtschaft, auf
Homologie, beruhet. Die viel geringere histologische Differenzirung (ob-
wohl in letzter Zeil auch bei Schwämmen contractiles faseriges Gewebe
(Muskeln?) von 0. Schmidt und Köllikbr nachgewiesen ist*), die ver-
breitete Verschmelzungsfähigkeit (die aber auch bei Goelcnteraten vor-
4) üin sich zu überzeugen, dass Antimeren bei den Spun^ien auftreten, be-
trachte man bios die MundöfTnungen von Axinella polypoidos in dem Werke von
0. Schmidt (Sponglen des Adriat. Meeres, Taf. VI. Fi::. 4) otler mache einen Quer-
schnitt durch einen Sycon. Nicht minder bieten die fossilen Formen zahlreiche
Beispiele dieses Auftretens, Coeloptychium lobatum, Siphonia coslata und manche
andere.
2) Alles was man überEntwickelung dcrAnthozoen kennt, stimmt vollkommen
mit dieser Ansicht überein. *
3) Das Wachsthum vieler Schwämme geschieht, wie ich beobachtet habe,
durch EntWickelung immer neuer Schichten auf den untern abgestorbenen, ganz
ähnlich wie bei Koralleustöcken.
4) Interessant ist , dass diese contractilen Fasern bei Schwammen besonders
deutlich um die MundÖfTnuu^ gelagert sind, analog dem Verhalten vieler Coelen-
teraten (Alcyonium, Verotillum etc.).
Beiträge ur Kenntoiss der Sppi^en 1. 237
kommt ^), die nicht so deutlich ausgeg{>rocbene Individualität, besonders
aber der niedere Differenzirungsgrad der Gewebe (Fehlen
der Nesselkapseln) sind Momente , wodurch die Coelenteraten über die
Spongien sich erheben. Trotz alledem wenn man das pro und contra
genügend berücksichtiget, kommt man zu der Ansicht, dass die
Schwämme nur als indifferentere Zustände der Coelenteraten, oder um-
gekehrt, die Coelenteraten als differenzirtere Schwämme betrachtet wer-
den kOnnen 2) und ich bin überzeugt, dass diese Verwandtschaft um
so klarer hervortreten wird, je weiter wir in der Erkenntniss der Or-
ganisation der Spongien fortschreiten ^ .
Meine Ansicht über die Verwandtschaft der jetzt lebenden
Schwämme mit den Coelenteraten lässt sich in dem folgenden Satze zu-
sammenfassen: Die jetzt lebenden Schwämme undCoelente-
raten sind aus gemeinschaftlichen Grundformen ent-
standen, wobei aber die ersteren eine viel niedere Dif-
ferenzirung eingegangen sind und zumTheil sich rück-
gebildet haben. Die Petrospongien stehen viel näher der
Grundform und bilden den (Je b ergang zu den jetzt leben-
den oder Autospongien.
4) Habceel, Gen. Morph. I. p. KKl. Lacaze Ddtricis in seiner Hist. du Corail
p. 94 ciiirt auch ein schönes Betspiel des Verwachsens bei AnUiozoen.
•
2) Om nicht niiss verstanden zu werden, und um die Verwandtschaft der
Schwfimnio zu den Coelenteraten niiher zu erläutern, muss ich bemerken, dass die
Antbozo^n es sind, die sich zuntfchst den Schwämmen anscbliessen. Der Gasiro*
vascular-Apparat, der bei den Korallen höher differenziri int, besitzt aberdurcbaus an
sieb Nichts so CbarakteristiAches, dass dadurch eine Trennung desselben von dem
bei den Scbwäiumen vorkommenden Hohlraumsystem berechtigt wäre. Auch die
Entwickelung der Anthozoen be8läti^t diese nahen Beziehungen. Die Korallen ent-
wickeln sich aus bewimperten Embryonen, die, nachdem sie sich festgesetzt haben,
mit einer einfachen Ifagenhdhie versehen sind. Erst später differenzirt sich die
einfache verdaaeode Cavitttt durch Entwickelang der Septa etc. in das Gastrovas-
cuiarsystem. Die jungen Anthozoen besitzen keine Tentakeln , die erst nach der
DifferenzininR der AnUmeren bervorknospen. Bei anderen, so Antipathes, bleiben
sie stets rudimeotdr und bilden nur niedrige die Miindöffnung umstehende Tubor-
coJa. — Eine ganz analose Reihenfolge in der Entwickelung findet sich bei der Bil-
dung der Korallensttfcke durch Knospen. (S. Lacaze Dothizks Le Corail H. 95 und
45t— ^•l elc.
5) leb bofle narhstens neue Beweise zu Gunsten dieser Auffassung mitlheilen
zu können.
238 "^ N. Miklaebo-Maelay,
Jotzt lebende tloetenteraten
Jetzt febende
•' Schwämme
0
#
• Petrespongien
Gemeinsrhafiticher Stamm.
Das Wort »rückgebildeUi ist noch zu erliiulern. Wenn man die jetzt
lebenden Schwämme mit den fossilen vergleicht, so findet man eine
gewisse Verschiedenheit, die sogar so bedeutend ist, dass von manchen
Autoren (Hakgkbl) i] die Petrospongien von den Autospongien getrennt
worden sind. Aber einige Thatsachen, die mir im vorigen Jahre bei
Durchmusterung der reichen Collection fossiler Schwämme des Berliner
Museums, und später der Museen zu Kopenhagen , Stockholm und Pe-
tersburg aufgefallen waren , können eine andere Meinung begründen.
Es fand sich nämlich : Eine vollkommene Uebereinstimmung
vieler fossilen Schwammformen mit den jetzt lebenden Spongien, die
mir gegen die Trennung der Autospongien von den Petrospongien Be-
denken erregte. Es giebt fossile Schwämme , welche der vorhin be-
schriebenen For^ C der Guancha sehr ähnlich sind, z. B. Siphonia pi-
riformis. Nach einem Durchschnitt von Siphonia praeraorsa zu urtheilen,
gelangt man durch die Mundöffnung, die hier einen radial zerklüfteten
Rand besitzt, in einen Sirus, in den Canäle einzumünden scheinen,
man bekommt ein, dem Fig. 3. 2. g^ebenen Schema sehr ähnliches Bild.
Ein Paar solcher Durchschnitte finden sich im Berliner Museum.
Jedenfalls geht aus den hier angeführten und einigen anderen That-
1) Gen Morph. U. p. XXX.
mu^
BeMii«» nr KeoiUiss te SpbaipM I. 239
Sachen so viel hervor, dass die Kentklniss und Vei^Ieichong der bisher
sehr vernachlässigten fossilen Sehwdmme (Petrospongien) für das Ver-
ständniss der lebenden Schwämme (Autospongien) und ihrer nahen
Verwandtschaftsbeziehungen zadenCodenteraten von hoher Wichtigkeit
ist. Wenn eiderseits die Spongien sidi durch ihre mannigfachen Be-
ziehungen zu den Rhizopoden (z. B. die Skeletbildung , die niedere
Stufe der histologischen Ausbildung) den Protisten anschliessen,
so sind dieselben doch andererseits nicht von den Coelenteratrn
scharf zu trennen. Die Stellung der Spongien im Systeme dürfte am
besten dadurch ausgedrückt werden, dass man sie nach Leückait als
die niederste Stufe der Coelenteraten betrachtet, da ausser der histolo-
gischen Differenzirung alle charakteristischen Merkmale der beiden
Thiergruppen gemeinschaftliche sind.
Erklamng der Abbildungen.
Taf. IV.
Fig. <. Hauptformen der Gaancha blanca Mcl., sehr vcrgiössert.
A. Die einTache Form.
B. C. D. Durch Verwachsung and Knospenbildang entstandene Formen des-
»eilien Schwammes.
m. Mundöffnung.
l. Lücken.
k. Neue durch Knospenbildung entstandene Individuen.
1. Stiel.
Fig. i Reihe von Uebergang.srormen, sehr vergrössert.
4 . Form B.
i. Exemplar , an welchem man den Verwachsungsprocess deutlich sehen
kann. Die verdauenden CaviUlten inm Theil vereinigt, die MundöfTnungen
nur getrennt.
V Verwachsungsslell« durch dickere Wandung au*<^ozcichnet.
t. Analoges Verhalten, gemeinschaftliche verdauende Cavilät und 3 Mund-
öfTnungen.
4. Form C. miti Mondöffnungen.
5. Form C. mit 4 Mundöffnung, auf 9 Stielen sitzend.
6. 7. Formen D.
m. I. «. Dieselbe Bezeichnung wie Fig. 4.
Fig. S. Schema der verdauenden Cavität der Guancha-Formeo.
4. t. S. Längs-, 4. 5. 6. 7. Querdurchschnitte.
4. u. 4. Längs- und Querdurchschnitt durch Form A.
9. Lflngsdurchschnitt durch Form C.
6. 7. Querdurchschnitte durch dieselbe Form aber in verschie<ienen Ebenen,
6. im obern Drittheil, wo man das Verhtflinisa des Sinus 5 deutlich s(>hi»n
kann ; 7. Durchschnitt im untern Dritlheil.
8. 5. Durchschnitte durch die Gruppe 9. Fig. 9.
^ a. Wnndong.
b. Vcnlaupnde Cavilüt.
240 N. Miklnclio-Maclay,^itrSge zur Kenntniss der Spongien I.
m. Mundöffnung. V
c. Stiel.
s. Sinus.
Fig. 4. Guancha-Grappe der Form A. Die 8 Individuen der Gruppe enthalten Em-
bryonen in verschiedenen Stadien der Entwickelung. e Zellencomplexe
durch einfache Conturen von einander getrennt, noch keine Wimpern zei-
gend, e' Embryonen mit einer deutlichen Grenzschicht, wiraperlos. e" Be-
wimperter Embryo in der verdauenden Gavität des Mutterthieres herum,
schwärmend, welche er einige Tage nach der Bewimperung verlässt. Die
Spicula in dieser Gruppe sind durch Essigsäure entfernt, um das Innre des
Schwammes deutlich zu sehen ^. Hülle. ». Stiel, m. Mundöffnung.
Fig. 6. Z^llen-Conglomerat (Keimkörper der Autoren bei 450 Vergr.J
h. Aeussere Wandung des Mutterthieres.
Fig. 6. Guancha-Gruppe mit Gemmulabildung.
g. Gemmula.
Fig. 7. Eine abgelöste junge Gemmula.
k. Hülle, t. Zellen, c. Spiculum.
Fig. 8. Guancha-Gruppe vor der Gemmulabildung.
a. mit Embryonen gefülltes Individuum.
Fig. 9. Die in Fig. 8. dargestellte Guanchagruppe in Gemmulabildung begriffen.
Das mit Embryonen erfüllte Individuum a. 'sl iillniUhlicl: \prkümnicrt.
Taf. V.
Flg 40. Slück der Form A. bei Vergrösserung von 250
a. Kranz iim die Mundöffnung, eine regeln liis.si^c Anordnung zeigend.
6. Dünne homogene Hülle, die Aussenflächc umkleidend (Cuticula).
c. Zellen, zwischen welchen die Spicula sich finden.
Fig. 41. Stück der Form C, dieselbe Vergrösserung wie Fig. 4 0. l. Lücke, übrige
Bezeichnung wie Fig. 5.
Fi(!. 4 2. Durchschnitt durch den Sinus der Form C, um das Verhältniss zu den
Mundöffnungen und Canälen zu bezeichnen (420 Vergr.).
a. MundöfTnung. 6. Spiculakranz. c. Durchschnittene Wandungen, d. Si-
nu.s. 0. Einmündeode Canäle.
Fig. 43. u. 44. Zwei Embryonen.
a. Dunkelbraune Centralmasse. '
6. Aeussere hellere Schicht.
c. Structurlose Hülle, lange Wimpern tragend.
Fig. 45. Schema der Entwicklungs.stadien der Guancha.
Fig. 46. Guancha-Individuum, an dessen Stiel noch die structurlose Gemmula-
Membran befestigt ist.
Fig. 4 7. Stiel einer Guancha bei etwas stärkerer Vergrösserung.
h Hülle. 6. Schwamtiizellen. a. Spicula.
Fig. 48. Ein sehr häufig im atlantischen Ocean vorkommender gelber Hornschwamm,
Nat. Gr.
a. Hornskelet mit der an ihm sitzenden Gemmula g.
b. Durchschnitt eines sogenannten Schornsteins.
c. Verdauende Gavität.
g, Gemmulae.
Fi^. 49. Zwei Gemmulae desselben Schwammes (vergrössert)
a. Stücke des Horngerüsles vom Mutterschwamme.
Fig. 20. Inhalt derst^lben Gemmula bei 450 Vergr.
a. Gommuta-Hülle. 6. Schwammzellen, c. Spicula.
Fast sämmtliche Zeichnungen sind mit der (Jamcra I ucida rtUh^efülirt.
lieber die Einwirkung des Aethernatrons auf die Aether einiger
KohlenstoffsAuren.
Von
A. Geuther.
Zur Entscheidung der Frage, auf welche Weise die von Frankland
und DuppA beobachtete Bildung der Aethylessigsüure, DiätbyiessigsHure
und Diäthyldiacetsäure aus der Aethyldiacetsllure vor sich ginge, schien
es mir wünschenswerth die Einwirkung von Aethernatron zusammen
mit Essigelther auf den ^ethyldiac^^tsJUireJither zu studiren ^) . Ich
glaubte am besten meinen Zweck zu erreichen, wenn ich mich zu diesen
Versuchen der von Beilstein^) vermutReten Verbindung des Essigäthers
und Aethernatrons (zu gleichen Mischungsgewichten) bedienen würde
und habe desswegen diese darzustellen versucht. Das abweichende
Resultat, zu dem ich hierbei gelangt bin, war Veranlassung auch die
weiteren hier mitzutheilenden Versuche auszuführen.
Der zu der Darstellung von Aethernatron verwandte Alkohol war
jedesmal unmittelbar vorher durch Rectification von absolutem Alkohol
über Natrium erhalten und sofort in dasGefllss destillirt worden, worin
gleich darauf die Darstellung des Aethernatrons und dessen Einwirkung
auf die betreffenden Aether vorgenommen wurde. Dieses Geßiss war
mit einem doppelt durchbohrten Kork verschlossen , der ein gerades
längeres und ein kürzeres knieförmig gebogenes Rohr trug. Das Erstere,
welches bis in die Mitte des Gef^sses reichte, wurde mit der Spitze des
den Alkohol zuführenden Kühlrohrs, das Letztere, welches mit der Luft
communicirte mit einem Chlorcalciumrohr verbunden. Die Einwirkung
des Natriums auf den Alkohol wurde stets in einer Wasserstoffatmo-
sphäre vorgenommen, weil nur bei vollkommenem Ausschluss des
Sauerstoffs ein farbloses reines Product erhalten wird und zwar in der
i) Vorsl. ZeitHchrlfl f. Chemie N. F Bd, 4. p. 5S.
2) Annal. d. Chem. u. Pharm. Rd. H2. p. 42S.
Band IV. 2. 16
242 ' A. Genther,
Art, dass nach Entfernung des Ghlorcaleiuniiohrs irocknes Wnsserstoff—
gas durch das gerade Rohr zugeleitet wurde , während der Dauer der
Einwirkung sowohl, als während des Erkaltens.. Der überschttssige
Alkohol wurde meist, nachdem alles Natrium in Lösung gegangen war,
durch gelindes Erwärmen im Gasstrom so lange wegdestillirt, bis sich
in der siedenden Pltlssigkeit festes Aethernatron auszuscheiden begann.
Aethernatron und Essigäther.
In einer Rochflasche wurden zu Aethernatron , das mit Hülfe von
1,6 grm. Natrium und 45grm. Alkohol erhalten war, also so viel über-
flüssigen Alkohol beigemischt enthielt, dass es beim Erkalten nicht so-
gleich krystallisirte 1 5 grm. reiner über Natrium rectificirter Essigätber
gefügt. Es trat nach dem vollständigen Vermischen in ähnlicher Weise,
wie bei den Versuchen von Bbilstbin dieBildupg eines weissen volumi-
nösen Niederschlags ein Die Menge desselben war indessen nur gering.
Es wurde darauf die Flasche im Wasserbade und unter foriwjSbrendem
Zuleiten von Wasserstoffgas erhitzt bis alles Flüchtige abdestiUirt war.
Dos Destillat besass den Geruch von Essigäther ; nach mehrmaliger Recii-
ßcation und einmaligem Waschen desselben mit dem gleichen Volum
einer verdünnten Ghlorcalciumlösung wurden 14 grm. des Letzteren
wieder erhalten. Der Rückstand in der Kochflasche war farblos, bei der
Temperatur des Wasserbades flüssig, erstarrte aber beim Abkühlen so-
gleich zu weissen nadelformigen Krystallen , ganz vom Aussehen des
Aethematrons.
Diess Resultat des Versuchs musste zu der Annahme führen , dass
dieser Rückstand, dessen Menge 10 grm. betrug, abgesehen von der
geringen Menge gebildeten essigsauren Natrons, in der That nur die
Verbindung sei, für welche Sghbitz ^) die Zusammensetzung :
€^*Na02, 2€2H602
gefunden hat. Er wurde deshalb mit Wasser Übergossen, worin ep
sich unter Erwärmen leicht löste und diese Lösung , da sie stark alka-
lische Reaction zeigte mit Essigsäure schwach angesäuert und aus dem
Wasserbade dcstiUirt so lange noch Alkohol überging. Das Destillat be-*-
sass nur den Geruch von Alkohol, nicht den von Essigätber und bestand
ausser Wasser nur aus diesem. Nach mehrmaliger Rectification aus
dem Wasserbade und darauf folgender mit eingesenktem Thermometer
wurden 8 grm. desselben (79® — 8P) erhalten. Das essigsaure Natron
1) Diese Zettschi ift B(i. 4 p 4«
Ueber die Einwirkong des Aetheriiatrous auf die Aeth^eiiii'ger KohleustoflTsäiiren. 243
wog nach dem Eindampfen und völligto Austrocknen 5,7 grm., entspr.
4,6 grm. Natrium.
Wären die im Eölbcben enthaltenen 10 grm. Substanz die reine
Verbindung €2flftNa02, 2€2«602 gewesen, so hätten sie 8, 6 grm. Alkohol
liefern müssen.
Aus dem Mitgetheiltcn folgt also, dass eine Verbindung von
Aethernatron mit Essigäther unter den angeführten Umständen
nicht existirt, dass vielmehr der Essigäther , abgesehen von einer
kleinen durch schwer auszuschliessende Feuchtigkeit bedingten Zer-
setzung vom Aethernatron unverändert abdestillirt.
Nach dieser Erkennttiiss wird es möglich die Angaben BEiLSTEiif's
zu deuten. B. hat bei seinen Versuchen offenbar das Wasser nicht ge-
nügend ausgeschlossen und davon in einem Falle so viel gehabt als
nmhtg war um die ganze angewandte Aethematronmenge in Natron-
hydrat und Alkohol zu verwandeln, denn als er nach dem Versetzen des
Aeihernatrons mit Essigäther die vom ausgeschiedenen essigsauren Na-
tron »abfiltrirte Flüssigkeit« analysirte fand er für sie die Zusammen-
setzung einer Mischung von Alkohol und Essigäther, sie musste demnach
ganz natriumfrei sein. Bei einem zweiten Versuche, wobei B. den
Ueberschuss von Alkohol und Essigäther durch einen Strom trockner
Luft und Erhitzen des Kolbens im Wasserbade entfernte, fand er in dem
bei dieser Temperatur geschmolzenen , beim Erkalten fest werdenden
»braunen« Rückstand 24,5 Proc. Natrium, während essigsaures Natron
28,1 Proc. und die von ihm vorausgesetzte Verbindung von Aether-
natron und Essigäther nur 14,7 Proc. Natrium verlangt. Dieser Rück-
stand war, wie dem früher Mitgetheilten gemäss leicht einzusehen ist,
nichts anderes als ein Gemenge von viel essigsaurem Natron mit wenig
Aethernatron, das durch die Einwirkung der Luft braun geworden war.
Es geht dies auch aus seiner Zersetzung mit Wasser hervor, indem beim
Rochen der Lösung »viel Alkohol« destillirte, während ein »stark alka-
lischer« Rückstand blieb >] .
4) Ira Anschluss hieran bat Hr. J. E Marsh eine directe Bestimm ang desAlko»
hols, welchen die Krystalle von Aethernatron bei ihrer Zersetzung mit Wasser lie-
fern und welche bis jetzt noch nicht ausgeführt worden war, unternommen. Er
löste in 47 grm Über Natrium rectificirtem Alkohol 4,4 grm. Natrium, destillirte im
WaMcrstoffslrom aus dem Wasserbade allen überschüssigen Alkohol fort und be-
hielt als Rückstand 9,8 grm. der Verbindung. Dieselbe wurde in Wasser gelöst,
der Alkohol aas dem Wassorbade abdestillirt, mehrmals für sich , dann über ge-
brannten Kalk aus dem Wasserbade nml schliesslich wieder für sich mit einge-
senktem Thermometer reclificirl. Die Menge desselben (Sdp. 700 — 840) betrug 8,5
grm. — Die i,4 grm. N<itriuni hüMcii U,8 grm der Verbindung und diese 8,4 grm.
Alkohol liefern müssen
46*
244 ^' A. Geuther,
In der Erwartung, dass efi^p Verbindung oder Wechselwirkung
des Aethematrons und Essigäthers bei höherer Temperatur eintreten
wttrde^ habe ich diese beiden Substanzen im verschlossenen Rohr bei
verschiedenen höheren Temperaturen verschieden lange mit einander in
Berührung gebracht.
Erster Versuch: In einem Glasrohr wurde roitHttlfe von 3 grm.
Natrium Aethcrnatron bereitet und dieses nach dem Erkalten sofort mit
etwas mehr als 2 Mgtn., nämlich 26 grm. reinen EssigHthers übergössen
und eingeschmolzen. DasAethematron löst sich schon bei gewphnJicher
Temperatur im Essigäther leicht und farblos auf unter nur geringer
Abscheidung eines krystallinischen Körpers (essigsaures Natron). Das
Rohr wurde im Oelbad während 4 Stunden auf 130^ erhitzt.
Nach dem Erkalten zeigte sich kein Drucke im Innern, es wurde geöffnet
und die fast farblos gebliebene stark nach Essigäther riechende Lösung
unter möglichstem Abschluss der Luftfeuchtigkeit vom vorhandenen
unlöslichen Salze, dessen Menge sich etwas vermehrt hatte, durch Fil-
tration getrennt. Das Letztere wurde im Wasser gelöst, mit Schwefel-
säure deslillirt, das saure Destillat mit kohlensaurem Natron in geringem
Ueberschuss versetzt, zur Trockne gebracht und durch fractionirte Lö-
sung in abs. Alkohol, nach der Filtration und Verdunsten des Letzteren
zwei Salzrückstände erhalten, deren Natrongehalt bestimmt wurde.
Der aus der ersten Lösung ergab 37,7 Proc. Natron, der aus der zweiten
Lösung38,0 Proc. Beide Salze waren demnach nichts als essigsaures
Natron, welches 37,8 Proc. Natron verlangt. Ihre Gesammtmenge
betrug: 1,1 grm. Vom oben erwähnten ersteren Filtrat wurde eine
Probe genommen und von ihr im Wasserbade alles Flüchtige (Essigäther
und möglicherweise vorhandener Alkohol) abdestillirt. In dem gelblich
gefärbten dickflüssigen Rückstand erschienen beim Erkalten Krystall-
nadeln, die ihrem Ansehen nach grosse Aehnlichkeit mit dem krystalli-
sirten äthyldiacetsauren Natron ^) hatten und desswegen zur Prüfung
darauf veranlassten. Zu dem Zwecke wurden sie in Wasser gelöst, die
alkalische Lösung mit verdünnter Salzsäure neutralisirt und mit einigen
Tropfen Eisenchlorid versetzt. Es erschien sofort die für die Aethyl-
diacetsäure^j und ihre Salze charakteristische dunkelkirschrothe
Färbung. Nun wurde die ganze Menge des Filtrats im Wasserbade vom
Essigäther befreit, der Rückstand nach dem Erkalten mit Wasser und
der für die angewandte Natriummenge berechneten Menge Essigsäure
versetzt und sofort mit A<*lh<'r wiederholt geschüttelt. Die ätherische
1) Diese Zeitschrift Bd. II. p. 394
2) I<:hond. p. 398.
^
lieber die Einwirkuoi^ des'Aetberiiatroiis auf die Aetli^eiuiger Kohle iistoffsäuren. 245
Flüssigkeit wurde über Ghlorcalcium entwässert, im Wasserbade der
Aether abdestillirt und der den Geruch von Essigsäure uud Aethyldiacet-
säure zeigende Rückstand wiederholt rectificirt. Er lieferte 4,6 grm.
von nO— 190^ destillirendcr Flüssigkeit, die sich in der That als fast
reine Aethyldiacetsä ure erwies. Sie gab nach vorsichtiger Neu-
tralisation mil Natronlauge und Versetzen dieser Flüssigkeit mit essig-
saurem oder schwefelsaurem Kupferoxyd sofort das für diese Säure
charakteristische Kupfersalz i) mit den nämlichen Eigenschaften und
dem gleichen Verhalten.
0,2628 grm. des zwischen 478* und 180® übergegangenen Theils
gaben 0,5242 grm. Kohlensäure und 0,1862 grm. Wasser, was 0,14296
grm. oder 54,4 Proc. Kohlenstoff und 0,02069 grm. oder 7,9 Proc.
Wasserstoff entspricht.
Die Aethyldiacetsclure erfordert : 55, 4 Proc. Kohlenstoff und 7,7 Proc.
Wasserstoff.
Da die Ursache für den \ Proc. zu gering gefundenen Kohlenstoff
\%ahrscheinlich einer Beimengung von noch etwas Essigsäure zuzu-
schreiben war, welche durch fractionirte Destillation der geringen Sub-
stanzmenge wegen nicht völlig entfernt werden konnte, so wurde die
von der Analyse übrig gebliebene Menge der zwischen 178 und 180®
destillirten Substanz dazu verw^andt das Barytsalz und aus diesem das
Kupfersalz darzustellen ^j.
0,1058 grm. des Letzteren über Schwefelsäure getrocknet gaben
im Tiegel mit Salpetersäure zersetzt nach dem Glühen des salpetersauren
Kupferoxyds: 0,026 grm. Kupferoxyd, entspr. 24,6 Proc.
Das aethyldiacctsaure Kupferoxyd fordert: 24,7 Proc.
Kupforoxyd.
Es kann somit die Identität der hier erhaltenen Säure mit
dcrAethyldiacetsäure nicht mehr zweifelhaft sein'^). Die Bildungs-
weise derselben auskrystallisirtcmAethernatron undEssigäther verläuft
nach folgender Gleichung:
€2Ä»Na02, 2€2««02 + 2(€2«<0^€2«4) = €6H»05NaO -♦- \&W<fi
Man kann sich den Verlauf der Reaction so vorstellen , dass die
2 Mgte Essigäther 2 Mgle Alkohol verlieren und dafür C^H^^gO^ auf-
nehmen, was sich durch folgende Gleichung leicht veranschaulicht:
NaO"^€H2G02 HO — ^^^^,
)flO€2ti4 ^^ i
MO
4) Diese Zeitschrfn BH. II. p. 400.
%) tibenil. p. 89U.
3) Vcrgl. weilet* unten p. i48
246 A. Gentber,
Wdro die Gesammtinougc de^ Natriums in äthyldiacetsaures Natron
verwandelt worden, so hätten mitHttlfe der angewandten 3 grm. dieses
Metalls fast H grm. der Säure erhalten werden müssen. Wie oben an-
gegeben ist wurden aber nur 1,6 grm., also nicht ganz 40 Proc. der
möglicherweise entstehenden Menge gebildet.
Die Hauptmenge von Aethernatron und Essigäther war also auch
unter diesen Umständen ohne Einwirkung geblieben. '
Um zu sehen, ob die Menge der sich bildenden Aethyldiacetsäurc
bei Anwendung anderer Temperaturen und verlängerter Einwirkung
vermehrt werde, wurden die folgenden Versuche angestellt.
Zweiter Versuch. Angewandt 2% grm. Natrium und %6 grm.
Essigäther; 5 Stunden lang auf 14 6— - 1 5 0^ erhitzt. Kein Druck
im Rohr, ober die Flüssigkeit bräunlich gelb gefärbt. Die Menge des
ausgeschiedenen Salzes beträgt wohl das doppelte der Menge im ersten
Versuch. Der Röhreninhalt wurde in eine Kochflasche gebracht und
nachdem aus dem Wasserbade alles Flüchtige (aus etwa 16 grm. Essig-
äther und 9 grm. Alkohol bestehend) abdestillirt war, in Wasser gelöst,
mit Essigsäure angesäuert und mit Aether geschüttelt. Erhalten
wurde nur etwa Y2 grm. Aethyldiacetsäure und viel eines
braunen nicht ohne Zersetzung destillirenden harzartigen Körpers, wahr-
scheinlich eines der Zersetzungsproducte, welche das äthyldiacetsaure
Natron für sich in höherer Temperatur liefert*).
Dritter Versuch. Angewandt lYi grm. Natrium und 22 grm.
Essigäther; erhitzt auf 100—110^ 7 Stunden lang. DerRöhrcn-
inhalt in ein Kochfläschchen gebracht und im Wasserbade vom Flüchtigen
befreit gab einen Rückstand, der in Wasser gelöst, mit verdünnter Salz-
säure neutralisirt und mit schwefelsaurem Kupferoxyd gefällt 1 74 grm.
Kupfersalz lieferte, was \ grm. Säure entspricht.
Vierter Versuch. 2Yi grm. Natrium und 26 grm. Essigäther
7 Stunden lang auf 125^ erhitzt, im Uebrigen wie im dritten
Versuch behandelt gaben 2 grm. Kupfersalz, entspr. 1,6 grm. Säure.
Fünfter Versuch. 3 grm. Natrium und 26 grm. Essigäther
wurden auf 130— 135<^ während 14 Stunden erhitzt. Der
Röhreninhalt entsprach dem vom zweiten Versuch. Er wurde wie im
ersten Versuch auf Aethyldiacetsäure untersucht , es wurde aber nur
so wenig erhalten , da§s sie mit Hülfe der Destillation nicht gereinigt
werden konnte, wesshalb sie in Kupfersalz verwandelt wurde. Von
ihm wurden erhalten 1 Y2 grm., was 1,2 grm. Säure entspricht.
Sechster Versuch: Eswurden 2 Röhren mit je 3 grm. Natrium
0 Diese Zeitschrift Bd. 11 p. 44 2.
Ueber die Eiowirkung des Aetheniatroiis auf die Aejmr eiuiger Kohleustoffsäureu. 247
und 23 grm. £ssigäther 3 Stund^tTauf 1 25 — i 28« erhitzt und
4 grm. Säure, also 11,8 Proc. der möglicherweise entstehenden Menge
erbalten.
Die auch bei diesem Versuch erhaltene verhältnissniässig geringe
Menge von Seilte Hess mich vermuthen, dass die mit dem Aethernatron
verbundene, sowie bei der Umsetzung sich bildende Menge von Alkohol
der Grund sei, wesshalb die Umsetzung sich nicht auf grössere Mengen
der Eductc erstrecke und ich habe desshalb einen
Siebenten Versuch vorgenommen, bei dem ich alkohol-
freies Aethernatron (=: G^H^NaO^j verwandte. Das erst auf die oben
angegebene Weise dargestellte Aethernatron wurde im Wasserstoffstrom
durch Erhitzen im Oclbad bis auf 1 40 ^ vollkommen von Alkohol befreit
und dazu der EssigUther gegeben. Es wurden 2 Röhren und auf jede
2% grm. Natrium und 23 grm. EssigUther angewandt. Das Aethernatron
löste sidi unter schwacher Erwärmung in geringer Menge im Essigäther,
beim nachherigen Erkalten krystallisirte es in farblosen nadelfbrmigen
Krystallen wieder aus. Als darauf das eine Rohr einer Temperatur von
50 — 60^ einige Zeit ausgesetzt wurde, löste sich fast alles Aethernatron,
beim Erkalten in gleicher Weise krystallisirend. Als darauf diese Er-
wärmung während einiger Stunden wiederholt wurde, war alles flüssig
geworden und beim nachherigen Erkalten erschienen weniger Krystalle
als vorher. Das Rohr wurde nun auf 70 — 80^ während wieder einiger
Stunden erhitzt und abermals erkalten gelassen. Neben den in noch
geringerer Menge erscheinenden farblosen nadeiförmigen Krystallen
waren nun eine Anzahl concentrisch gruppirter feiner und mehr weiss
erscheinender Krystallmassen vorhanden, ganz vom Aussehen des äthyl-
diacetsauren Natrons. Als darauf das Rohr auf 100^ erhitzt wurde
waren sehr bald die wenigen farblosen langen nadeiförmigen Krystalle
in Lösung gegangen, die anderen kleinen weissen kugligen Aggregate
aber nicht. 6ie waren also gewiss nicht mehr Aethernatron , sondern
ein Umsetzungsproduct und wahrscheinlich äthyldiacetsaures Salz. Es
wurden nun die beiden Röhren auf 128^ während 21/2 Stunden
erhitzt. Nach dem Erkalten hatten boidedasgleicheAussehcn, sie waren
nur mit den letzteren Krystallen erfüllt, welche den flüssigen Inhalt voll-
kommen einschlössen, ohne dass er sich von ihnen auch durchschütteln
oderKlopfen hätte trennen lassen. Die Röhren wurden geöffnet (es war
kein Druck im Innern] und jedes mit verdünnter Essigsäure (von je
8 grm. Eisessig bereitet) fast vollkommen angefüllt. Als die Salzmasse
sich gelöst hatte , war eine beträchtliche leichtere Schicht erschienen,
die eine Lösung von Aethyldiacctsäure in unverändertem Essigäther dar-
stellte. Der Inhalt beider Röhren wurde in einen Gylinder gegeben und
248 ^ ^* Geutlier,
mit Aeiher wiederholl geschüUelT^, Nach dem 'Abdesüllireu der äthe-
rischen Lösung im Wasserbade und Rectification des Rückstandes wur-
den iO grm. AethyldiacetsUure erhallen, cKJi. '^i Proc. der mög-
iicher Weise entstehen könnenden Menge, also nahezu dreimal mehr, als
im sechsten Versuche.
Die grössere Menge Säure erlaubte eine öftere Rectification und
völlige Reinigung derselben, wie die mit ihr vorgenommene Analyse
zeigt.
0,2281 grm. derselben lieferten 0,4621 grm. Kohlensäure, entspr.
0,12603 grm. = 55,2 Proc. Kohlenstoff und 0,1 6i 4 grm. Wasser,
entspr. 0,018267 grm. = 8,0 Proc. Wasserstoff.
Die Aethyldehydracetsäure erfordert: 55,4 Pröc. Kohlenstoff und
7,7 Proc. Wasserstoff.
Ausser der Acthyldiacetsäure wurde eine kleine Menge höher
siedender, beim Erkalten krystallisirender Säure erhalten, die auch bei
den früheren Versuchen beobachtet worden war und die nichts anderes
alsDehydracetsäuro ist. Aus Alkohol krystallisirt zeigte die farb-
lose, leicht sublimirende Säure den Schmolzpunct der Dehydracetsäure :
109«.
Die Anwesenheit von Acthylessigsäure oder Diäthylessigsäure oder
Diäthyldiäcetsäure habe ich nicht beobachten können.
Aethernatron und Ameisensäureäther.
Zu dem mit 3 grm. Natrium in einem Glasrohr bereiteten Aether-
natron wurden 25 grm. Ameisensäureäther (5 grm. mehr als 2 Mgtn.
entspricht} gefügt und darauf das Rohr zugeschmolzen. Es trat sofort,
indem sich das Aethernatron löste, eine gelbbräunliche Färbung und Ab-
scheidung einer ansehnlichen, wenn auch nicht gerade verhältnissmässig
bedeutenden Menge eines Salzes ein, das sich bei späterer Untersuchung
als ameisensaures Natron erwies. Zugleich war eine gelinde Gasent-
wicklung bemerkbar. Deshalb wurde das Rohr sofort in Eiswasser ge-
stellt und so lange durchgeschüttelt, bis sich das Aethernatron gelöst
hatte, was in kurzer Zeit geschehen war. Als darauf die Spitze des
Rohrs in die Flamme gehalten wurde, zeigte sich Druck im Innern, das
Rohr wurde aufgeblasen durch ein mit blauer Farbe brennendes Gas.
Das Letztere wurde gesammelt, es zeigte alle Eigenschaften das Kohlen-
oxyds, indem es mit rein blauer Flamme nach dem Anzünden brannte,
dabei Kohlensäure bildend und von einer Lösung des Kupferchlorürs in
Salzsäure vollkommen und unter Bildung der für das Kohlenoxyd cha-
rakteristischen blättrigen farblosen Krystalle absorbirt wurde. Das
üeber die Eiuwirkuiig des AetheriiHtroiis iiul' die Aeüi^einitfer Kolilenstoflfsitaren. 249
r
Rohp wurde nun, nachdem es mit einiÄiumgckehrten Kühler verbunden
war in ein Wasserbad gebracht, dessen Temperatur der Gasentwicklung
entsprechend langsam von 40« bis 7()0 gesteigert wurde, wobei das Vo-
lumen des Röhreninhalts sich beständig verminderte. Als die Gasent-
wicklung, welche stetig vor sich gegangen war und zu keiner Zeit der
Geruch des gewöhnlichen Aethers entdeckt werden konnte , sich be-
trächtlich vermindert, ja fast ganz aufgehört hatte, wurde die Temperatur
bis 80 0 gesteigert. Dabei trat im Rohr Kochen ein * ohne dass die Gas-
entwickelung reichlicher geworden wäre. Nach einiger Zeit wurde der
Kühler umgedreht und das aus dem Wasserbado Destiliirende aufge-
sammelt. Es betrug I6V2 g"n. und war reiner Alkohol, der bei der
Rectification, wobei das Thermometer sofort bis 78<>,5 stieg, zwischen
dieser Temperatur und 80» überging. Der zurückbleibende^braun ge-
färbte Röhreninhalt erstarrte beim Erkalten strahlig krystallinisch, wie
Aethernatron. Er wurde mit wasserfreiem Aether behandelt, worin
sich die Krystalle lösten, während das anßinglich ausgeschiedene Salz
ungelöst blieb. Dasselbe stellte ein krystallinisches Pulver dar, welches
bei no^ getrocknet eine» Natrongehalt von 45,4 Proc. ergab, also
ameisensaures Natron war, welches 45,6 Proc. Natron enthält. Seine
Gesammtmenge betrug nahezu 2 grm. Die ätherische Lösung hinterliess
nach dem Abdestilliren des Aethers im Wasserbade einen Rückstand,
welcher wieder in nadeiförmigen Krystallen erstarrte. Er wurde in
Wasser gelöst und aus dem Wasserbade alles Flüchtige abdestillirt.
Das Destillat lieferte nach mehrmaliger Rectification aus dem Wasser-
bade zuerst für sich, dann über gebranntem Kalk und zuletzt mit ein-
gesenktem Thermometer wieder für sich dcstillirt 1772 g^m. Alkohol.
Der Rückstand reagirte stark alkalisch und bedurfte zur Neutralisation
eine beträchtliche Monge von Eisessig.
Aus diesen Resultaten folgt, dass der angewandte Ameisen-
säureäther durch dasAethernatron vollständig in Kohlen-
oxyd und Alkohol zerlegt worden ist, ohne dass dieses eine
wesentliche Veränderung erfahren hat, denn die 25 grm. Ameisen-
säureäther hätten dabei 15,5 grm. Alkohol liefern müssen, erhalten
wurden 46,5 grm., während das mit 3 grm. Natrium erzeugte Aether-
natron bei seiner Zersetzung mit Wasser 18 grm. Alkohol geben musstc,
erhalten wurden 17,5 grm.
Da nun, wie oben erwähnt, mehr als 2 Mgte Ameisensäureäther
angewandt wurden und wie die eben angeführten Zahlen zeigen, doch
die ganze Menge eine vollkommene Zersetzung erfahren hat, so ist es
selir wahrscheinlich, dass auch noch eine grössere Menge des Aethers
durch das Aethernatron zersetzt werden kann, ja dass, wenn nicht die
•250 ^ A, Geuther,
t
grössere Menge des sich bildendeifAlkohols und die in Folge davon ein-
tretende VerdUnAung des Aethernatrons der Rcaction Grenzen setzt,
dieselbe unbegrenzt verlaufen und durch eine lieliebige Menge Aether-
natron eine sehr grosse resp. unendliche Menge von Ameisensäureälber
in Kohlenoxyd und Alkohol zerlegt werden Rann.
Nicht so einfach als die Reaction an sich ist, wird es sein sich von
dem Grunde derselben Rechenschaft zu geben. Welche Affinitäten,
muss man fragen, nöthigen den Ameisensäureäther zu einem Zerfallen,
wenn keines seiner Zersetzungsproducte von dem einwirkeniden Körper,
dem Aethernatron , zu einer Verbindung oder Umsetzung verwandt
wird? Warum entsteht nicht ameisensaures Natron und gewöhnlicher
Aether? Vielleicht liegt im Folgenden der Schlüssel zur Erklärung dieser
Verhältnisse. Denkt man sich , dass Aethernatron sich mit Ameisen-
säureäther analog umsetzt, wie mit Essigäther, also damit erzeugt Al-
kohol und Aothyl-di-ameisensaures Natron, ferner dass dieses Salz von
geringer Beständigkeit ist und, vorzüglich bei etwas höherer Temperatur,
sich in Kohlenoxyd und Aethernatron zerlogt, vielleicht unter Mitwir-
kung des in Freiheit gesetzten Alkohols , so würde die Reaction , bei
welcher dann die folgenden zwei Phasen zu unterscheiden sein würden,
verständlich werden:
^ L |HO€2fl4j ■*• L JNaO ' -^ **^ J = €04v n + 4€2fl602
und.
€0^1
€02
€2fl4
Die Zersetzung; welche der Ameisensäureäther durch Aethernatron
erfahrt, wirft ein neues Licht auf die Vorgänge, welche bei der Einwir-
kung von Natrium auf den Ameisensäureäther vor sich gehen : letzlere
können durch orstere nun genügend aufgeklärt werden. Löwig und
WEmMANH^] fanden, dass bei der Einwirkung des Natriums auf diesen
Aether, wenn es in genügender Menge angewandt wird, ausser ameisen-
saurem Natron und wenig eines braunen Natronsalzes, Kohlenoxyd und
Alkohol gebildet wird. GasiNBa^) zeigte später, dass neben jenen Pro-
(luden noch Wasserstoff und Aethernatron erzeugt werden. Die Ersteren
beobachteten ferner als besonders erwähnenswerth, dass die Blasen des
sich entwickelnden Gases »gleichzeitig in der ganzen Flüssigkeit, sowohl
4) Pogg. Annal. Bd. 50 p. f M.
%) Diese Zettschiift Bd. Hl. p. 41.
mm
Ueber die Einwirkung des Aetbernatrons auf die m\iai einiger KohleustoflTs&ureu. 251
an den Stellen , weiche mit dem ffatrium in Berührung sind , wie an
denen, wo sich kein Natrium befindet« erscheinen, während Letzterer
die Anwesenheit dlä 'Wasserstoffs in dem sich entwickelnden Gase
nachwies.
Besonders merkwürdig war bei dieser Reaction die Bildung von
Alkohol neben der Bildung von Aethernatron und Wasserstoff, denn
wenn das Natrium den Ameisensäureäther unterBildung von Aether-
natron und Kohlenoxyd zerlegte:
wie es Greinbr nachwies, wo kam dann noch Alkohol her. Derselbe
verdankt, wie wir im oben Hitgetheilten nachwiesen, seine Ent-
stehung einer secundären Wirkung, der desAethematrons auf den noch
unzersetzten Ameisensäureäther. Die angeführte Beobachtung von Lö-
wig und Wbu)Hann, im Betreff der Art der Gasentwickelung , sowie die
von Greinsr gefundene Thatsache, dass auf 1 M^i. sich entwickelnden
Wasserstoff mehr al5 i Mgt. Kohlenoxyd (=€0^) kommt, finden jetzt
ebenfalls ihre Erklärung.
Aethernatron und Oxaläther.
Erster Versuch: Zudem mitHülfe von 2grm. Natrium in einem
Rohr dargestellten Aethernatron wurden 13 grm. Oxaläther gegossen
(i Mgt. auf i Mgt.) und dann zugeschmolzen. Das Aethernatron löst
sich nach Verlauf von einigen Tagen unter öfterem Umschütteln bei ge-
wöhnlicher Temperatur vollkommen auf. Es scheidet sich dabei nur
sehr wenig Salz (oxalsaures Natron) ab und es tritt nur eine ganz ge-
ringe gelbliche Färbung ein ^) . Als das Rohr darauf in einen Raum von
etwa 50<^ gebracht wurde fand allmähliche Bräunung des Inhalts unter
bemerkbarer Gasentwickelung statt. Nach dem Abkühlen auf 0® wurde
dessen Spitze in der Flamme leicht aufgeblasen und es strömte unter
ziemlichem Druck ein mit rein blauer Flamme brennendes Gas (Kohlen-
oxyd) aus. Die geöffnete Spitze wurde sofort mit einem Kühler umge-
kehrt verbunden und das Rohr im Wasserbade allmählich erwärmt..
Das Gas entwickelt sich reichlicher, es enthält keine Kohlensäure und
wird von einer Kupferchlorürlösung in Salzsäure unter Bildung der für
1) Bbilstbin fü hrt darüber (a. a.O.) folgendesan : »Setzt man oxalsaures Aetbyl zu
einer Lösung von Aethernatron, su scheidotsich nach einigen Augenblicken ein gelber
gelatinöser Niederschlag ab, welcher vermuthiich eine Verbindung jener beiden
Körper ist; da ich indessen nicht hoffen durfte, die Verbindung zu isoiiren, habe
ich die Untersuchung dieser Einwirkung nicht weiter verfolgt.«
252 * A. fieullier,
das Kohlenoxyd charakteristischen trystalle absorbirl, wahrend der
braune Röhreninhalt immer dicker und schliesslich beinahe fest wird.
Gleichzeitig konnte, als das Gas in ein stark abgekühltes Rohr treten
gelassen wurde sehr wenig einer ätherartigen Flüssigkeit verdichtet
werden, die leichter als Wasser war und ihrem Geruch nach wenigstens
zum Theil aus gewöhnlichem Aelher bestand. Als die Reaction beendet
war, das Wasser längere Zeit schon' kochte und die Gasenlwickelung
aufgehört hatte, wurde der Kühler umgedreht und das bis 100® flüch-
tige aus dem Rohr abdestillirt. Dabei ging nur sehr wenig vom Geruch
des Alkohols über ; es wurde erkalten gelassen und dann der Röhreninhalt
mit Wasser übergössen. Während das Feste im Rohr sich mit dunkel -
braui;.er Farbe löste, schied sich eine farblose Oelschicht ab, welche voll-
kommen den Geruch desKohlensäureäthers besass. Dergesammte
Röhreninhalt wurde nun in eine Kochflasche gespült, mehi* Wasser zu-
gegeben und über freiem Feuer destillirt. Die Oelschicht geht sehr leicht
über, mit ihr destillirt gleichzeitig viel Alkohol, der sie anfangs aufge-
lost halt; nach dem Zusatz von Wasser scheidet sie sich aber ab. Um diess
vollständig zu erreichen, wurde in der wilssrigen unteren Schicht Chlor-
calcium gelöst und diese dann durch Abheben entfernt Das Oel wurde
über geschmolzenem Chlorcalcium entwässert und rectificirt. Es wog 3 gr.
und bestand fast nur aus bei 127® Destillirendem; Höbersiedendes war
nichjt vorhanden. Es l)csitzt also ausser dem Geruch auch den Siedepunct
des Kohlensäureäthers und ist, wie die folgende Analyse und die
weiter damit angestellten Versuche zeigen in derThat diese Verbindung.
0,2482 grm. gaben 0,4559 grm. Kohlensäure, entspr. 0,124336
grm. == 50,1 Proc. Kohlenstoß* und 0,1939 grm. Wasser, entspr.
0,021544 grm. = 8,7 Proc. Wasserstoff'. — Der Kohlensäureäther ver-
langt: 50,8Proc. Kohlenstoff* und 8,5 Proc. Wasserstoff*. Mit einer alko-
holischen Kalilösung vermischt scheidet die Verbindung bei gelindem
Erwärmen sofort kohlensaures Kali ab.
Durch Destillation der abgehobenen Chlorcalciumlösung , wieder-
holtes Rectificiren des Destillats aus dem Wasscrbade erst für sich und
dann über gebranntem Kalk konnte viel Alkohol (crc. 15 grm.) er
halten werden.
Die erst zurückgebliebene wässrige braune Salzlösung, welche die
andern bei der Einwirkung oder nachher durch Zersetzung entstandenen
Producte enthalten musste, wurde, da sie stark alkalisch reagirte, mit
Essigsäure angesäuert, wobei eine reichliche Kohlensäureentwickelung
auftrat, und mit Cl)lorcalcium versetzt. Es entstand ein Niederschlag
von oxalsaurem Kalk, dessen Menge nach dem Abfiltriren, Aus-
waschen und Trocknen in gelinder Wärme 3 grm. betrug , was einer
üeber die EinwirkuDg des Aetheroatrons auf die OTlier einiger Kohleostoffsllnren. 253
Zi^rseUuDg Von 2,7 grm. OxalSither^^fitspricht. Das braune Filtrat war
vollkommen klar, erst auf Zusatz von Salzsäure scheidet sich ein Theil
der die braune FMrbiHig- bedingenden Substanz allmählich als dunkel-
braune Flockep ab. Ich werde später auf diese Substanz wieder zurück-
kommen; von Wichtigkeit ist zunächst, dass unter dem Einfluss
des Aethernatrons Oxalätherin Kohlenoxyd undKohlen-
Säureäther zerlegt wird.
Die bei dem eben beschriebenen Versuch, bei welchem auf i Mgt.
Aethernatron nur t Met. Oxaläther angewandt wurde, beobachtete stark
alkalische Roaction der wässrigen Lösung des Röhreninhalts, sowie die
nach dem Kochen beim Ansäuern auftretende reichliche Kohlensäure-
entwickelung, neben der beträchtlichen Menge mit destillirenden Alko-
hols Hessen mich vermuthen, dass ein Theil des Aethernatrons unzer-
setzt geblieben und eine theilweise Zersetzung von gebildetem Kohlen-
sltureäther bewirkt haben mochte. 1< hliabe deshalb einen
Zweiten Versuch angestellt, bei welchem auf \ Mgt. Aether-
natron etwas mehr als 2 Mgte. Oxaläther (3 grm Natrium und 45 grm.
Oxaläther) angewandt und die Reaclion in einem Kochfläschchen vor
sich gehen gelassen wurde. Das Letztere war mit einem doppelt durch-
bohrten Kork versehen ; das Rohr der einen Durchbohrung führte das
Wasserstoflgas während der ganzen Operation zu , während das Rohr
der andern Durchbohrung mit der Spitze eines Kühlers verbunden war.
Das andere Ende dieses Letzteren stand mit dem längeren Rohr eines
leeren Waschcylinders in Communication, der in Eiswasser stand. Nach-
dem bei gewöhnlicher Temperatur die Lösung der Aethematronkry stalle
fast völlig unter nur schwacher Gelbfärbung und Abscheidung von nur
sehr wenig oxalsaurem Natron, ganz wie im ersten Versuch , vor sich
gegangen war, wurde das Kochfläschchen im Wasserba^e langsam er-
wärmt, Ret 40<> wurden die ersten Gasbläschen an den noch ungelösten
Stückchen Aethernatrons bemerkbar, bei weiterem Erwärmen und lang-
samen Stetgen der Temperatur tritt bald gelbe und schliesslich braune
Färbung ein, ohne dass eine so reichliche Gasentwickelung als im ersten
Versuch sich bemerkbar machte Im abgekühlten Cylinder beginnt eine
farblose Flüssigkeit sich zu verdichten , welche , da sie schwer durch
den mit kaltem Wasser gefüllten Kühler ging, zum Füllen des Letzteren mit
Wasser von 50— C0<) veranlasste. Darnach destillirte sie in reichlicher
Menge. Als die Reaction nach etwa 1 72Sl'^i^^i6^°^ Kochen des Wassers
beendet erschien, der Inhalt des Kölbchens halb fest geworden und keine
EntWickelung von Gas, das während der ganzen Operationkohlensäurc-
frei befunden wurde, mehr sichtbar war, wultie der gekühlte Cylinder
entfernt, der Kühler richtig mit dem Kölbchen verbunden und das aus
254 A. Geiitber,
dem Wassefbad Flüchtige abdestlfelM.. Es bestand hauptsächlich aus
Alkohol, dem etwas Koblensäureäther beigemengt war. Der leichter
flüchtige Inhalt des Gylinders, 4 0 grm. betragMfd^ -besass nicht den Ge-
ruch des gewöhnlichen Äethers, sondern den von Ameisrensäure-
äther. Bei seiner Rectification stieg das Thermometer sdfort auf 55®,
von wo an eine grössere Menge Überdeslillirte, zuletzt war das Thermo-
meter bis 79^ gestiegen. Er bestand nur aus einem Gemisch von Al-
kohol und Ameisensäureäther, von welch letzterem nach wiederbelten
Rectificationen 6 grm. erhalten wurden.
Der Rückstand im Kochfläschchen wurde nach dem Erkalten mit
viel kaltem Wasser übergössen, dabei löste ^r sich analog wie im ersten
Versuch mit dunkelbrauner Farbe völlig klar unter Abscheidung von
viel farblosem sich auf der Oberfläche sammelnden Oel. Es wurde nun
bis zur schwachsauren Reaction verdünnte Essigsäure zugefügt, von
welcher, um diess zu erreichen, nur wenig nöthig war, sehr viel weniger
als im ersten Versuch , und darauf das Ganze der Destillation unter-
worfen. Das Destillat wurde mit einer verdünnten Ghlorcaiciumlösung
geschüttelt, letztere vom abgeschiedenen Oel weggehoben und aus dem
Wasserbade destillirt. Das Destillat lieferte nach mehrmaligen Rectifi-
cationen etc. noch 18 grm. Alkoliol, von dem also im Ganzen 17 grm.
erhalten wurden. Die ölige Flüssigkeit wog nach dem Entwässern 20
grm. und ging, bis auf eine Y2 grm. betragende Menge früher Siedendes
(Alkohol) beim Siedepunct des Koblensäureäthers über. Höher siedendes
war nicht vorhanden.
In der braunen essigsauren Salzlösung wurde auf Zusatz von Chlor-
c^Icium oxalsaurer Kalk gefällt. Die Menge desselben betrug nach dem
Abfiltriren und Trocknen in gelinder Wärme 4% grm., was einer Zer-
setzung von 4,2 grm. Oxaläther entspricht.
Das Resultat dieses zweiten Versuchs unterscheidet sich von dem
des ersten Versuchs wesentlich darin, dass die Menge des gewonnenen
Kohlensäureäthers eine sehr viel grössere, nahezu die doppelte, war,
denn hier wurden 58 Proc. der sich aus dem angewandten Oxaläther
berechnenden Menge an Kohlensäureäther erhalten , während dieselbe
dort nur 28 Proc. davon betrug, und ausserdem wurden hier 6 grm.
Ameisensäuieäther gebildet, deren Anwesenheit dort gar nicht wahr-
genommen werden konnte. Der Unterschied im Retreff des Letzteren,
sowie die reichere Kohlenoxydentwickelung im ersten Versuche wird
verständlich, wenn noch unverändertes Aethematron vorhanden war,
da wir wissen , dass Ameisensäureälher neben Aethernatron gar nicht
bestehen kann, sondern in Kohlenoxyd und Alkohol zerfällt und der
Unterschied, den beide Versuche im Retreff des ersteren, des Kohlen-
\i0fmm
lieber die CiDwlrkonK des Aethernatrons »nf die Aeth|Peukiger KobleDStoffsanren. 255
Säureäthers iteigen, wird gleichfalls voltiändlich, wenn wir, wie weiter
unten gezeigt wird, bedenken, dass durch dasAethernatron auch dieser
Aether schon bei 100 <>«CSl8eCtang erleidet.
Um eine völlige Sinsich^ in den Verlauf der Reaction zu gewinnen,
war die Untersiibhung von noch zwei Puncten nöthig , einmal , ob der
Kohlensäureäther als ein unmittelbares Umsetzungsproduct anzusehen
sei oder erst auf Zusatz von. Wasser aus der zurückbleibenden braunen
li^lbfesien Masse entsl^e und dann , welcher Natur die förbende Ma-
terie sei, die in nicht unbeir^btlicher Menge entsteht und offenbar einen
sauren Charakter besitzen muss. Zu diesem Zwecke habe ich noch den
folgenden Versuch angestellt.
Dritter Versuch. Angewandt wurden sy, grm. Natrium auf
46 grm. Oxaläther [\ Yt grm. mehr als 2 Mgte.) und im Uebrigen sowie
im zweiten Versuch verfahren. Im abgekühlten Cylinder hatten sich
condensirt 5 grm. Ameisensäureäther und 3 grm. Alkohol, im Wasser-
Stoffstrom gingen darauf von letzterem noch 42 grm. über und später
durch Destillation der Chlorcalciumlösung 3 grm. , so dass im Ganzen
18 grm. davon erlialten wurden.
Die im Kochfläschchen enthaltene braune Salzmasse wurde nun
mit wasserfreiem Aether übergössen j um den Kohlensäureäther, wenn
er ein unmittelbares Product der Reaction ist, daraus durch Lösung
zu entfernen. Da indessen der zugefügte Aether mit der Substanz eine
breiartige Masse bildete, die sich nicht absetzte und schlecht filtrirte,
so wurde nicht die ganze Menge, sondern nur eine Probe abfiltrirt und
darin nach Verflüchtigung des Lösungsmittels die reichliche Anwesen-
heit von Kohlensäurcäther festgestellt, so dass über dessen unmittel-
bare Entstehung bei der Reaction kein Zweifel obwalten kann.
Es wurde nun zur mit Aether versetzten Hauptmenge Wasser ge-
fügt," bis alles Feste iil Lösung gegangen war, tüchtig durchgeschüttelt
und die farblose ätherische Lösung von der braunen wässrigen durch
Abheben getrennt. Letztere wurde nun mit Essigsäure schwach ange-
säuert, wobei eine geringe Kohlensäureentwickelung auftrat und dann
destillirt. Der übergehende Alkohol mit etwas Kohlensäureäther wurde
zu dem Rückstand gegeben , welcher nach vorsichtigem Abdestilliren
der ätherischen Lösung blieb und beide wie früher mittels Chlorcalcium-
lösung und Destillation getrennt. Erhalten wurden im Ganzen Kohlen-
säureäther 19 grm.
Die braune wässrige Lösung wurde nun mit Chlorcalcium versetzt,
um die Oxalsäure zu entfernen. Das Fil trat vom Oxalsäuren Kalk, dessen
Letzteren Menge nach dem Trocknen in gelinder Wärme 4 grm. (entspr.
1,0 grm. Oxalather) betrug, wurde nun mit Salzsäure im Ueberscbuss
256 ^ A« Genther,
vermischt. Es schied sich nur w^nig einer braunen flockigen Substanz
aus, die abfiltrirl wurde. Da eine Probe des ziemlich verdünnten Fil—
trals mit Aelher geschüttelt die Flüssigkeit nMit entföi'bte , so wurde
alles zur Trockne gebracht und die zerriebene Masse mit Aether über-
gössen. Derselbe blieb fast farblos, in ihm hatte sich eine geringe Menge
einer kleinkrystallinischen farblosen Säure gelöst, welche
nach dem Abdestilliren des ersteren zurückblieb. Sie bildet mit Am-
moniak, sowie mit Kalk leicht lösliche amorphe Salze. Ihre MeOge wtfr
zu gering um weitere Versuche mit ihr vornehmen zu können.
Zu dem Rückstand wurde nun so viel Wasser gegeben , dass eine
concentrirte Salzlösung entstand. Dabei blieb eine schwarzbraune Sub
stanz ungelöst, welche aus zwei sauren Körpern besteht, von denen der
eine in Wasser leicht löslich ist und, sobald nach dem Ablaufen der
Salzlösung reines Wasser aufs Filter gegeben wird, mit ganz dunkel-
brauner Farbe in Lösung geht, während der andere, welcher nur schwer
in Wasser sich löst auf dem Filter zurückbleibt. Sie sind beide starke
Säuren, Wjßlche sogar die Essigsäure aus ihren Salzen auszutreiben ver-
mögen ; es entsteht nämlich sofort eine dunkelbraune Salzlösung, wenn
man sie mit essigsaurem Natron zusammenbringt, ganz entsprechend
der, welche sich bei Anwendung von Natronlauge bildet. Sie sind beide
in Alkohol leicht löslich mit schwarzbrauner Farbe. Die in Wasser fast
unlösliche Säure wurde mehrmals in Natronlauge gelöst und durch
Salzsäure gefällt, getrocknet, dann mit Aether übergössen, so lange sich
derselbe nach kürzerer Zeit noch färbte (nach längerer Zeit tritt immer
eine. bräunliche Färbung ein, was eine langsame geringe Löslichkeit
dieser Säure im Aether anzeigt), dann in Alkohol gelöst und im Wasser-
bade zur Trockne gebracht. Die in Wasser leicht lösliche Säure
wurde zur Trockne gebracht, in absolu((em Alkohol gelöst und die ßltrirte
Lösung im Wasserbade wieder zur Trockne verdampft.
I. 0,1380 grm. der Ersteren gaben 0,3060 grm Kohlensäure,
entspr. 0,083455 grm. = 60,5 Proc. Kohlenstoff und 0,0565 grm.
Wasser, entspr. 0,006278 grm. =4,6 Proc. Wasserstoff.
II. 0,1138 grm. der Letzteren gaben 0,2404 grm. Kohlensäure,
entspr. 0,065482 grm. = 57,5 Proc. Kohlenstoff mit 0,0574 grm.
Wasser, entspr. 0,006378 grm. =5,6 Proc. Wasserstoff.
Aus diesen Resultaten berechnet sich für die erstere Säure die
Formel €'flßO^, welche verlangt 60,9 Proc. Kohlenstoff und 4,4 Proc.
Wasserstoff und für die letztere Säure die Formel: C^^HUO*^, welche
verlangt: 57,1 Proc. Kohlenstoff und 5,7 Proc. Wasserstoff.
Die erstere dieser beiden Säuren stimmt ihren Eisjenschaften
nach überein mit dem braunen Körper, der bei der Einwirkung von
die Einwirkung des Aetheniatrons aof die AAher einiger KohlenstoffsUnren. 257
Natrium auf Oxalatber entsteht UDjjKrelcher von Löwig *) »Nigrinsäure«
genannt worden ist. Auch in der Zusammensetzung weicht sie nicht
wesentlich von ihm €b. Aus der Analyse des bei ^lOO^ getrockneten
Bleisalzes (eine Analyse der freien Säure liegt nicht vor) leitete Löwig
für sie die Formel: €^«^0^ ab. Das ist = G^U^O^ -h 2A0.
Nimmt man an, dass das Bleisalz bei 100^ noch S Mgte. Wasser
enthalten bat, die bei hölierer Temperatur hätten ausgetrieben werden
können, so würde man zu unserer Formel gelangen. Die Entstehung
der Verbindung kann durch die Gleichung :
3€02 + 2€2|i4 — 2H = €7fl606
veranschaulicht werden.
Die Entstehung der anderen braunen Säure lässt sich gleichfalls
aus €0^ und &H* unter gleichzeitiger Mitwirkung von Wasserstoff
denken :
6€02 4- 3€2fl4 4-211 = €»2HUOt2,
so dass sur Entstehung beider Säuren neben einander nur GO^ und
€'^H^ nöthig sind, denn:
Ausser den seither angeführten Zersetzungsproducten , welche der
Oxaläther unter dem Einfluss des Aethernatrons liefert, ist noch eines
zu erwähnen, dessen Anwesenheit in der festen Salzmasse mit Sicherheit
angenommen werden kann, das ätherkohlensaure Natron nämlich,
denn dasselbe entsteht wie wir weiter unten sehen werden beim Zu-
sammenkommen vonAethernatron und Kohlensäureäther in der Wärme.
Das sich während der |Jmselzung stets entwickelnde Rohlenoxydgas
vordankt seine Entstehung offenbar der Einwirkung des Aethernatrons
auf einen Theil des gebildeten Ameisensäureäthers.
Was nun den Hergang bei der Zersetzung selbst anlangt, so lä.sst
sich derselbe dem Vorhergehenden zufolge so verlaufend auffassen, dass
sich der Oxaläther seiner Hauptmenge nach in Kohlensäureäther und
Kohlenoxyd umsetzt, welches letztere mit dem Leuchtgas von Aether-
natron die beiden braunen Säuren resp. deren Natronsalze bildet, wäh~
rend das dadurch entstehende Natronhydrat resp. Wasser mit einer
anderen Menge Oxaläther und Aethornatron die übrigen Zerselzungs-
producte, als Ameisensäureäther, oxalsaures Natron, ätherkohlensaures
Natron und Alkohol liefert.
Ein nahezu richtiges Bild des Hergangs wird die folgende Re-
actionsgleichung geben :
4) P«gK. Annal. Bd. 60 p. 420.
Band IV. 2. 47
12 [€»0*, mCß. Ä* »] -»- 8 €^B*
990
iXaO
= ^ fco«, IPO^, C^IH, ^1 -I- €^50*,!WI -I- €«H»0«* XaX>»
WrningliHcb die beiden braanen Säorefi nur in verfaältnissmässi^
(geringer Menge gebildet werden, so ist ihre Entstebmig dodi offinibar
vrni der gr&ssten Bedeatong für den Veiiaaf derReaction, weicher dnrcb
sie gewiss bestimmt wird.
Die eben erläuterte Einwirkung des Aetbematrons liefert den
Hchlttssel zur Erklärung der so sonderbaren und bis jetzt nnerUäneo
Einwiriiang des Natriums auf den Oicalsäureätber. DerLetztere
wird, wie man weiss , durdi Ersteres unter Kohlenoxydentwickelimf
in Kohlensäureäther verwandelt. Gleichzeitig entstehen, wie Uomm^
gezeigt hat Ameisensäure, Alkohol und »Nigrinsäure«. Das EigentfaOm-
liehe hiH der Einwirkung des Natriums, als eines kräftig reduciren-
den Agens ist immer die Bildung des Aethcrs der Kohlensäure ge-
wesen, einer Häure, die kein Rcductionsproduct der Oxalsäure, im
(iegentheil, ein Oxydationsproduct derselben darstellt. Der Vorgang
ist oflVfnbar bei dieser Einwirkung der folgende : Aus Oxalsäureäther
wird durch Natrium Kohlenoxyd und Aethematron gebildet, nach der
Gleichung :
€20»«202 (€2H4)2 ^ 2Na = 2€02 ^ 2€2fl4)HO
JNaO,
welch letzteres seinerseits auf die oben erörterte Weise von Neuem auf
Oxaläther einwirkt. Also nicht das Natrium als solches ver-
anlasst die Bildung von Kohlensäureäther aus dem Oxal-
äthor, sondern dai^ erst durch dasselbe gebildete Aether-
natron. Die Bildung dos Kohlensäureäthers bei dieser Einwirkung ist
also vollkommen secundärer Art.
Darnach bedarf es wohl kaum noch der Erwähnung, dass die beste
Methode zur Darstellung des Kohlcnsäurcäthers aus dem Oxaläther in
der Einwirkung von Aothornalron auf deViselben besteht.
Aothcrnalron und Kohlensäureäther.
Zu dem mit i y^ grm. Natrium in einem Glasrohr dargestellten
Aolhomnlron wurden 15 grm. KohlensHurellther gegossen (1 Mgt. Na-
Ueber die Einwirkung des Aetbernatrons auf die A()|i(Sreiniger KohlenstoffsRnren. 259
trium und 2 Mgt. Kohlensäureäther^^^ird das Rohr zugescbmolzen. Das
AethernatroD lOst sich bei gewöl^Bficher Temperatur kaum auf, bei mas-
siger Warme mehr, beioi nachhengen Erkalten aber wieder auskrystal-
lisirend. Als das Rohr im Wasserhade erhitzt wurde , schied sich ali-
mählich ein l^j^ystallinisches Salz aus, dessen Menge nach einem 5stün-
digen Erhitzen auf 1 00® sieh nicht weiter vermehrte. Die Krystalle
waren zum Theil von bedeutender Grösse , die Menge derselben ver-
mehrte sich beim Erkalten nur wenig, die Flüssigkeit hatte eine schwach
gelbliche Färbung. Zur sicheren Vollendung der Reaction wurde noch
2 Stunden auf 120® erhitzt. Beim Oeffnen des Rohrs zeigte. sich kein
Druck im Innern , es war aber der Geruch von gewöhnlichem Aether
bemerkbar. Im Wasserbade erhilzt , destillirte gew. Aether und Al-
kohol über. Der zurückbleibende Röhreninhalt wurde mit wasserfreiem
Aether gewaschen, worin sich das auskrystallisirteSalz nicht löste. Nach
dem Verdunsten desselben blieben 7 grm. unveränderter Kohlensäure-
äther übrig.
Das über Schwefelsäure getrocknete Salz gab bei der Analyse fol-
gende Zahlen :
0,191 grm. lieferten nach dem Glühen, wobei zuerst ohne Schmel-
zung nur geringe Schwärzung eintrat 0,0915 grm. geschmolzenes koh-
lensaures Natron, entspr. 0,0535 grm. = 28,0 Proc. Natron.
Daraus folgt, dass dasselbe nicht kohlensaures, sondern äther-
kohlensaures Natron war, welches 27,7 Proc. Natron enthält.
Damit stimmt auch sein übriges Verhalten vollkommen überein. Es
löst sich in kaltem Wasser unter schwacher Erwärmung und Bildung
von Alkohol zu doppelt kohlensaurem Natron, das bei genügender Gon-
centration auskrystallisirt; in siedendem Wasser unter Kohlensäureent^
Wickelung und Bildung von neutralem kohlensaurem Natron. Wird die
in der Kälte bereitete Lösung mitChlorcalcium im Ueberschuss versetzt,
so entsteht nur ein geringer Niederschlag , wird die davon abßltrirte
klare Flüssigkeit aber stehen gelassen, so entsteht nach einiger Zeit ein
neuer Niederschlag, der sofort in reichlicher Menge erscheint, wenn die-
selbe gekocht wird. Dabei verflüchtigt sich Alkohol.
Die Einwirkung des Aethematrons auf den Kohlensäureäther ver-
läuft demnach so, dass aetherkohlensaures Natron und Aether
gebildet wird nach der Gleichung :
JNaO"~ NaOJ^" -h Xi. «^.
Nach diesem Verhalten des Kohlensäureäthers schien es mir ge-
boten die Einwirkung des Natriums auf den Kohlensäureäther zu unter-
suchen.
iJ^wHi fdbt an , iUn» K;ilialPtien Koh!<>nsäarcätber unter Bfldnng
vmt KMewnjd nnd etnpr weissen iMimasse zersetzt, die ans Aether-
kali und kohlensanrem Kali bestehen soll. Es aduen mir dem Torfaer-
gellenden zufolge nicht zweifelhaft , dass die letztere der Hanpfsacfae
naeh Sitherkohlenfiaures Kali war. Der Versuch mit Nabripm hat diess
bestätigt.
Als zo ftberschflssigem Kohlensäareäther Natrium gefügt wurde
war In der Kälte nur geringe Gasenl%\icke1ang bemeribar, dieselbe
warvle beim gelinden Erwärmen bedeutender und zuletzt unter Auf-
blähen und Zertheilen des Natriums, itothfärben der FIflssigkeit und
Abscheidung eines weissen Salzes, sehr lebhaft. Nach Beendigung der
Reactfon wurde die Masse mit absolutem Aether versetzt, worin sich der
meiste rothe Farbstoff mit gelblicher Farbe löste , wahrend eine etwas
gefärbte Salzmasse (ibrig blieb. Dieselbe löste sich nicht in neuen Men-
gen Aethers, war also kein Aelhematron. Auf die 1,2 gnn. derselben
waren i gnn. Kohlensäureäther verbraucht worden. War sie äther-
kohlensaures Natron, so hätten .1,8 grm. des letzteren zu ihrer Bildung
verwandt werden müssen. Sie verhielt sich, wie ein durch kohlensaures
Natron veranreinigtes ätherkohlensaures Natron, vne ihr Verhalten gegen
Chlorcaiciumlösung zeigte <]. 0,1 97 grm. derselben über Schwefelsäure
getrocknet gaben nach dem Glühen 0,1 15 grm. kohlensaures Natron,
was 0,06726 grm. = 34,1 Proc. Natron entspricht.
Aetherkohlensaures Natron enthält 27,7 Proc. und kohlensaures
Natron 58,5 Proc. Natron.
Das während der Einwirkung entbundene Gas war Kohlenoicyd.
Die Einwirkung des Natriums auf den Kohlensäureäther verläuft
also in der Hauptsache nach der Gleichung:
3 [cos «202, (€2H<] 21 ^ 2Na = €02 + 2r^^**]^^2j€0*]H-4G2MH).
Aethernatron und Benzoäsäureäther.
Das mit Hülfe von 1 grm. Natrium in einem Glasrohr bereitete
Aethernatron wurde mit 13 grm. Benzoösäureälher (1 Mgl. auf 2Mgte.)
Übergossen. Bei gewöhnlicher Temperatur findet keine Einwirkung,
auch nicht Lösung, statt, bcilOO« entsieht allniHhlich eine gelbliche gal-
lertartige Masse, welche bei 120<> nach demDurchi^chütteln den Röhren-
4) Es muBS hier noch angeführt werden, dass in dem Salz auch eine kleine,
nb6r deutlich nachweinbare Menge von Oialstture enthalten war, welche nur
durch Reduction hua dor Kohlensäure entstanden sein kann.
Ueber die Einwirkung des AelheruatroHS mi di^^ttier einiger KobienstoiTsäureu. 261
inhalt breiig erscheinen iassl. K^iMt das Rohr ab, so krysiallisirt aus
dem flüssigen Theil des Röhreninhalls eine grosse Menge in farblosen
nadeiförmigen Krystallen vom Ansehen des Aetbernatrons. Wird wieder
auf 1 SO^ erhitaU> so verschwinden diese Krystalle wieder unter Verfltts-
sigung. Nach dem Erkalten erscheint der Röhreninhalt fast ganz zu
diesen Krystallen erstarrt, es ist nur sehr wenig Flüssigkeit zu be-
merken. Nachdem das Rohr während 6 Stunden auf \iO^ erhitzt wor-
den war wurde es geöffnet, wobei kein Druok und nur der Geruch des
Renzoeäthers zu bemerken war. Der Inhalt des Rohrs wurde mit abso-
lutem Aether Übergossen, in eine Kochflascfae gespült und darin mit
Aether im Ueberschuss stehen gelassen , bis alles Lösliche gelöst war.
Darauf wurde das Ungelöste abfiltrirt und mit Aether gewaschen. Es
war fast weiss und nichts als benzoösaures Natron, wie eine Natron-
bestimmung zeigte. Seine Menge betrug: 3 grm. Die Ursache der Bil-
dung dieses Salzes ist zum Theil wohl in Feuchtigkeit , zum TheU in
freier im Benzoöäther erhaltener Benzoösäure, die bei der Destillation
desselben in geringer Menge entsteht, zu suchen.
Die klar filtrirende ätherische Lösung schied noch während des
Filtrirens ein krystallinisches Salz aus. Dasselbe wurde wieder abfiltrirt,
mit Aether gewaschen, getrocknet und.analysirt. Es wog \ V2grm. und
war gleichfalls reines benzoösaures Natron. Da dieses Salz in Aether
unlöslich ist, so musste es erst imFiltrat gebildet worden sein, was ein-
treten konnte, wenn das Filtrat Aethernatron enthielt und dieses wäh-
rend des Fibrirens Feuchtigkeit aus der Luft angezogen hatte. Das neue
Filtrat davon, welches rascher durchs Filter gelaufen war, als das
erstere, indem die abzufiltrirende Salzmasse viel geringer als im ersten
Fall war, schied wieder etwas Salz ab, aber viel weniger. Es wurde
der Aether aus dem Wasserbade abdestillirt und der ziemlich beträcht-
liche mit Flüssigkeit durchtränkte grosskrystallinische Salzrück&tand
vom Aussehen des Aetbernatrons, da derselbe mit Wasser eine stark
alkalisch reagirende Lösung lieferte, zur Bestimmung des noch unver-
ändert vorhandenen Benzoöäthers in verdünnter überschüssiger Salz-
säure gelöst und das sich abscheidende Oel mit Aether ausgezogen. Die
ätherische Lösung hinterliess nach dem Verdunsten eine Flüssigkeit, der
durch Schütteln mit einer Lösung von kohlensaurem Natron Va g>*m-
Benzoesäure entzogen werden konnte. Der Rest wog 8 grm. und de-
stillirte zwischen 200 und 24 5 ^
Es entsprechen nun
8 grm. Benzoöäther 8 grm. Benzoöäther
4,5 n benzoösaures Natron 4,6 » »
0,5 » Benzoösäure 0,6 » »
13^2 grm.
262 NA. Geuther,
VeMicrn
Daraus folgl also, dass das AeMicrnairoD auf reinen Ben-
zol ätfa er bei 120^ nicht einwirkt.
Um zu sehen, ob bei höherer Temperatur eine Umsetzung zu er-
reichen sei wurde der Versuch mit Anwendung von f,tt grm. Natrium
und i 6 grm. Benzoääther wiederholt. Das Rohr wurde erst 5 Stunden
auf HO^ und dann weitere 5 Stunden auf 160® erhitzt. Dass hierbei
Umsetzung eintrat, zeigte die allmählich sich vergrössernde Menge des in
der Hitze f. st bleibenden Salzes. Beim Oeffnen des Rohrs in der Flamme
wurde dasselbe aufgeblasen und es strömte eine massige Menge eines
mit leuchtender Flamme brennenden Gases aus. Der Röhreninhalt zeigte
deutlich den Geruch von gewöhnlichem Aether. Das Rohr wurde mit
einem Kühler verbunden und aus dem Wasserbade das Flüchtige ab~
destillirt. Dasselbe bestand aus einem Gemisch von Aether und Al-
kohol. Der Rückstand im Rohr wurde darauf mit absolutem Aether
ausgewaschen. Das klare Filtrat reagirte nicht alkalisch und blieb auch
beim Stehen an der Luft klar. Der vollkommen weisse Salzrückstand
wog: 8 grm. Bei der Analyse ergab er 22,8 Proc. Natron, benzoös.
Natron verlangt: 21,5 Proc. Er verhielt sich sonst wie benzoösaures
Natron, auch die daraus abgeschiedene Benzoösäure hatte den richtigen
Schmelzpunct i 20®. Kohlensaures oder oxalsaures Natron konnte nicht
nachgewiesen werden. Ich vermag vorläufig nicht anzugeben, welche
Substanz den etwas zu hoch gefundenen Natrongehalt verursacht hat.
Nach .dem Abdestilliren der ätherischen Lösung im Wasserbade
blieben an gelb gefärbter Flüssigkeit übrig: 7,5 grm. Bei der Destilla-
tion zeigte sich, dass ein geringer Theil höher siedende Substanz vor-
handen war, die diesmal nicht Benzoesäure sein konnte. Um sie frei
von Benzoöäther zu erhalten, wurde, da dieselbe durch verdünnte Na-
tronlauge auch in der Siedehitze keine Veränderung erfuhr, die Gesammt-
menge der aus der ätherischen Lösung erhaltenen Flüssigkeit wiederholt
mit Natronlauge im Ueberschuss in ein Rohr eingeschlossen und wäh-
rend giehrerer Tage auf i06^ erhitzt. Der Benzoöäther verschwand.
Das übrigbleibende Oel wurde nach Entfernung der Natronlauge in
Aether gelöst, derselbe entwässert und dann abdestillirt.
Die Menge gelblichen öligen Rückstandes betrug 4,5 grm. Bei der
Destillation zeigte sie sich aus 2 Substanzen bestehend, einer nämlich,
welche zwischen 200 und 210® destillirte und einer, welche bei 360^
noch nicht überging. Erstere stellte eine farblose Flüssigkeit dar von
an Benzoöäther erinnerndem aber mehr kratzendem Geruch, letztere war
eine fast feste gelbe terpentinähnliche Masse.
Die Erstere gab bei der Analyse: 77,3 Proc. Kohlenstoff und 8,9
Proc. Wasserstoff, was der Zusammensetzung : C^fi^^O^, welche 76,4
Araer mim
Geber die Eiuwirkung des Aetheniatrous auf die Araer einiger Kohleostoffs&aren. 263
Proc. EohleDstoff uDd9,1 Proc. Wasserstoff verlangt, entsprechen würde ;
die Letztere, undestillirt , ergab: 84,4 Proc. Kohlenstoff und 7,9 Proc
Wasserstoff, welche Zahlen auf die Formel: €^^fli*02 führt, welche
84,0 Prcc. Kohlenstoff und 8,0 Proc. Wasserstoff fordert.
Von diesen Substanzen lässt sich vorläufig nur sagen , dass sie
keine Sätren und keine Aetherverbindungen sein können , sie können
aber zur Hasse der Alkohole oder zur Klasse der Ketone gehören. Ob
ihre Entstehung mit der Thatsache zusammenhängt, dass das bei ihrer
Bildung zurückbleibende benzo^saure Natron einen um 1,3 Proc. zu
hohen Natrmgehalt ergeben hat, sowie mit der Entstehung des beim
Oeffnen des Rohrs ausströmenden brennbaren Gases, kann ich bis jetzt
nicht angeben.
Benzoisäureäther gibt mit Aethernatron also bis 460 ^
erhitzt dei Hauptsache nach benzoösaures Natron und
Aether.
Aus dem Mtgetheilten ergibt sich somit als Gesammtresultat, dass
Aethernatron, w^nn es auf die Aether der Essigsäure, Ameisensäure,
Oxalsäure und hohlensäure einwirkt, die nämlichen Producte bildet,
wie das Natrium, indem die Entstehung der Letzteren durch die Ent-
stehung des Ersteim bedingt ist.
Jena, Mitte M.rz 1868.
Von
Dr.B«Th6ile,
AA»ute«l «B laB4viftk*chafliiclwni Iscütat za Jeu.
Im ADsehluss an eine in einem frtthcVen Hefte dieser Zeilschrifil
verdATentiicbte Ari>eit ^ über das Albumin, sein Verhalfen g^en Kali,
sowie seine chemische Gonslilution betreffend« sind aiUi die nun fol-
genden Untersuchungen Ober Legumin von mir durch(efuhrt worden.
Die Anregung dazu gab die Frage , wie viel Amnoniak sich ent-
wickle, wenn Legumin andauernd mit concentrirter Kalilauge behandelt
wird, da sich die bei analoger Behandlung des Th^r- und Pflanzen-
ei weisses erhaltenen Resultate nicht wohl ohneWeil^es auch aufCas^in
und Legumin übertragen Hessen.
Darstellung des reinen Lcgimins.
Als Rohmaterial dienten fein gestosseno Krisen. Das Erbsenmehl
wurde mit Wasser auf einem Drahtsiebe ausgclaigt, immer in kleineren
Portionen.
Die Behandlung mit Wasser wurde jedoA nicht bis zum Durch-
laufen einer klaren Flüssigkeit fortgesetzt , d; sonst die zu stark ver-
dünnte Lösung die Gewinnung des Lcgumins *^esentlich erschwert hätte.
Die durchgelaufene Flüssigkeit wurde $ lange stehen gelassen, bis
sich das Stärkemehl vollständig abgesetzt btto.
Die übenitohende klare Flüssigkeit wu4e mitdem Heber abgehoben.
Probon davon iHngero Zeit erhitzt zei^n auch nicht die geringste
flockigo Abscheidung, nur eine geringe /milchige Trübung trat mit der
Zeit ein, sowie die Bildung dünner ÜAifi^en auf der Oberfläche.
Albumin konnte demnach in dery'üssigkeit nicht zugegen sein.
4) Diese Zeitschrift Band III. i. u. 8. ^^7.
/
/
Ueber Legumio. ^ 265
Die mikroskopische Tniersuchuq^ auf Amylum Hess keine Spur
davon in der Flüssigkeit erkennen.
Die so als vonAlbinnin und Amylum frei erkannte Flüssigkeit wurde
mit absolutem Alkohol versetzt, wobei sich das Legumin in dichten
Flocken abschied.
Die verdünnte alkoholische Flüssigkeit Hess sich schnell und voll-
kommen ßltriren , so dnss das auf dem Filter bleibende Legumin nur
kurze Zek mit der Luft in Berührung kam.
Nach und nach wurden nach obiger Methode 2 Pfund gestossener
Erbsen behandelt und die gefaUten und abfiltrirten Mengen Legumin
sogleich in einem mit absolutem Alkohol gefüllten Sammeigefasse zu-
sammengebracht. Die Gesammtmasse wurde einige Tage unter öfterem
Umschütteln mit Alkohol in Berührung gelassen, um Wasser und fär-
bende Substanzen zu entfernen, hierauf filtrirt, mit absolutem Alkohol
ausgewaschen und dann auf ganz ähnliche Weise mit Aether behandelt,
um das Fett zu entfernen.
Das vom Aether befreite Legumin wurde dann mit Hülfe eines Aspi-
rators und bei einer durch warmes Wasser erzeugten, höchstens 5.0<^C.
betragenden Temperatur einem andauernden, über Chlorcalcium ge-
trockneten Luftstrome ausgesetzt und schliesslich unter der Luftpumpe
getrocknet.
Nach längerem Stehen unter der Luftpumpe (8 Tage) erhielt ich
eine gelbe, vollkommen spröde Masse, die zerrieben ein feines weisses
Pulver gab.
Charakteristisch ist, dass Legumin bei ganz analoger Behandlung
viel mehr Zeit erfordert, um in eine spröde trockne Masse überzugehen,
als Albumin.
Die Ausbeute des so gewonnenen Legumins war eine sehr geringe,
was in dem Bestreben , jedo mögliche Verunreinigung zu vermeiden,
Erklärung findet.
Aus den'S Pfund Erbsen erhielt ich 19 grm. Legumin.
Analyse des Legumins.
Bestimmung des Aschengehaltes.
0.355 grms. Substanz hinterliessen 0.085 grms. Asche s 7.047o*
0.936 » » » 0.062 » » « 6.720/^.
Eine nähere Untersuchung der Asche, deren specielle Resultate ich
im Vereine mit mehrfachen anderen mit Aschen von Eiweisskörpem
ausgeführten Analysen in einer späteren Arbeit mittheilen werde, ergab
unter anderen die vöUige Abwesenheit von Schwefelsäure.
266 - Dr. R. Theilc,
£s isl diess insofern inlcresmit, als daraus erhellt, dass der im
Legiunin enthaltene Schwefel, der, wie wir weiter unten sehen werden,
0.7% beträgt, beim directen Verbrennen entweicht und nicht in der
Form von Schwefelsäure deplacirend auf Salze der Asche einwirkt.
Der weit überwiegende Theil der Asche besteht aus phosphorsauren
Alkalien und phosphorsauren alkalischen Erden.
Wasserbestimmung.
Zur Bestimmung des Wassergehaltes wurde Legumin in einem
Röhrchen, durch das sich ein Luftstrom ziehen und der Charakter der
entweichenden Dämpfe durch angefeuchtetes Reagenspapier erkennen
Hess, lange und anhaltend einer allmählich gesteigerten Temperatur aus-
gesetzt.
Von den 25 hinter einander angestellten Trockenversuchen war
jeder das Resultat einer mindestens viertelstündigen Einwirkung der
entsprechenden, allmählich gesteigerten, Temperatur.
Ich hebe aus der langen Reihe dieser Versuche nur diejenigen her-
vor, die für die daran anzuknüpfenden Berechnungen unbedingt nö-
thig sind.
Die Wägungen 1—V. (bei 90 0C.— lOO») ergaben 5.55— 8. 687o Wasser.
r> » VI. VII. u. VIII. (bei 400«) ergaben aUe 9.377o »
» » IX— XII. (bei i 000— ^ 4 5») ergaben 9. 37 %— 1 0. 76 % ^
» » XIII— XV. (bei \ 20 <>) ergaben alle < 0 . 76 % Wasser.
j> » XVII— XX. (bei 4 30») ergaben alle 12.03% »
» » XXI. u. XXII. (bei i 30»- 1 50^) gaben beide 1 2.737o »
» » XXUI. (1 60 0) gab 1 3. 42 % Wasser.
Die letzte Wägung XXV. (ISO») gab 45.62% Wasser.
Von XXUI. an trat aber auch schon allmähliche Zersetzung der
Substanz ein.
Ueberblickt man die Reihe , so findet bei allmählichem Steigen der
Temperatur selbstverständlich auch eine steigende Abnahme des Wasser-
gehaltes der Substanz statt, aber diese Abnahme findet nicht ganz will-
kürlich und gesetzlos statt, sondern es treten ganz positive fixe Puncte
auf, wo bei längerem, oft stündlichem Trocknen der Wassergehalt nicht
abnimmt, dann aber plötzlich wieder bis zu einem nächsten stationären
Puncte sinkt.
Bei 460 0 trat ein schwach brenzlicher Geruch auf, der die begin-
nende Zersetzung andeutet, bei 170^ trat alkalische Reaction ein, die
»ch bei iSQ^ intensiv steigerte, bei welcher Temperatur auch schon in
der Röhre eine starke Nebelbildung die Zersetzung erwies.
440^G. ist als die Temperatur hinzustellen, bei der Legumin, ohne
ich zu zersetzen, sein gebundenes Wasser vollständig abgibt.
Ueber Leguniii. . 267
Der Gehalt des Legumins an Wasser berechnet sich demnach zu
12.73%. >
Wirft man einen Blick auf obige Reihe, so sieht man, dass erst bei
Temperaturen über i 00 ^ eine wiederkehrende Rcgelmässigkeit sich gel-
tend macht. Diess Verhalten spricht jedenfalls dafür, dass hier nicht
hygroskopisch adhärirendes, sondern nach festen Verhältnissen chemisch
gebundenes Wasser ausgetrieben wird.
Schon Andere haben bei .der Aufstellung von Formeln für die Ei-
wei^skörper, in erster Linie aber namentlich für Albumin, auf chemisch
gebundenes Wasser Rücksicht genommen.
LiBBKREüHN beispielsweise schreibt dem Albumin die Formel C^^^
H110X18S2O44+ 2aqzu.
Diese Annahme, zu der Libbbrkühn durch das Studium der Metall-
verbindungen mit Albumin bewogen wurde, glaube ich bei meinen
Untersuchungen dos Albumins durch den directen Versuch bestätigt zu
haben, nur dass ich dahin geführt wurde 4 Aeq. Wasser annehmen zu
müssen.
Auch im vorliegenden Falle weist das Verhalten des Legumins dar-
auf hin.
Wie später folgen wird, ergibt sich nach meinen Untersuchungen
für das Aequivalent des bei 140^ getrockneten, also wasserfreien Legu-
mins die Zahl 1713.
Berechnet man den Procentgehalt an Wasser, wenn zwei, vier und
sechs Aequivaiente HO hinzutreten, so erhält man:
4713 -h 2H0 = 4.039 o/oHO.
4713 4- 4 HO =» 2.058% HO.
4713 -4- 6H0 = 3.087 o/o HO.
Vergleicht man die Resultate der Wägungen XXI u. XXU. sowie
der Wägungen XllI — XV., die beide Ruhepuncte bilden, so ergibt sich
eine Differenz von 2.03% im Wassergehalt, welcher bei der angegebenen
Aequivalentenzahl 4 Aeq. Wasser entsprechen, dies entspricht bei 400®
= 4743 -h 6H0.
Vergleicht man die Resultate der Wägungen XXL und XXIL mit
denen der Wägungen VL bis VHL, so ergibt die Differenz 3.36 %.
Die Wägungen (XVH— XX.) repräsentiren die Substanz
4743 + HO.
Es scheint mir desshalb nach den vorliegenden Untersuchungen
wahrscheinlich, dass auch Legumin, ebenso wie Albumin Wasser in
festen Verhältnissen chemisch gebunden enthält und dass die Menge
6 Aequivaiente beträgt.
268 Dr. R. Tlwile,
Bestimmung des Seh wfif elgehdlies.
Die Substanz wurde mit kohlensaurem N^ron und Salpeter im
Tiegel geschmolzen, um S in Schwefelsaure Uberzimlhren. Eine Correction
der hierbei gefundenen Schwefelsäure war nicht oothwendig, da die
Asche keine Schwefelsäure enthält.
I. 0.834 grms. Subst. gaben 0.041 BaOSO^ = 0.68% S.
11. 0.787 » » » 0.045 » » =0.78%S.
Es ergibt sich hieraus im Mittel ein Gehalt von 0.74 % ^•
Die in analoger Weise ausgeführte Prüfung auf Phosphor erwies die
vollständige Abwesenheit desselben.
Norton^) hat in demLegunün aus Erbsen und Mandeln bedeutende
Mengen Phosphor gefunden, von. 2 % bis 2.4%.
Diesen schon von Anderen bezweifelten hohen Gehall an Phosphor
muss auch ich entschieden in Abrede stellen.
Eine nach Norton 5.2% Phosphorsäure entsprechende Menge
Phosphor kann unmöglich übersehen werden, sie liegt weit ausserhalb
der Grenzen möglicher Versuchsfehler.
Bestimmung des Stickstoffs.
I. 0.325 grms. Substanz mit Natronkalk geglüht und den Stickstoff
nach Varrentrapp und Will bestimmt ergaben :
0.04376 grms. = 43.46 7o Stickstoff.
II. 0.328 grms. ebenso behandelt:
0.04464 grms. = 13.607o Stickstoff.
III. 0.379 grms. nach Varrentrapp :
0.05499 grms. *= 43.72 0/^ Stickstoff.
IV. Eine Bestimmung des Stickstoffs in Gasform lieferte bei 2t^C. und
747 Mm. Barometerstand 49.7 CG. Gas.
Es entspricht dies 0.055H grms. = U.82% Stickstoff.
> Die letztere Bestimmung gibt den Gehalt offenbar zu hoch an, wie
auch die Entdecker der Methode zugeben.
Im Mittel ergibt sich nach den 3 ersten Analysen ein Gehalt des
Stickstoffs von 4 3.60%.
Bestimmung von Kohlenstoff und Wasserstoff.
I. 0.444 grms. Substanz mit chromsaurem Bleioxyd und vorgeschla-
genem metallischen Kupfer behandelt gaben r
0.264 grms. HO = 0.02933 grms. H = 7.4 % H.
11. 0.304 grms. Substanz ebenso behandelt lieferten :
0. 450 grms. CO2 = 0.12273 grms. C = 40.40% C.
0.207 » HO = 0.023 » H = 7.5% H.
1) Pbarniac. CcDtralbiaU 1848. S. 244.
Ueber Legumin. ^ 269
HL 0.33i5 grms. Substanz bei analog0F Behandlung :
0.507 grms. CO2 = 0.13827 grms. C = 41.33% C.
0.231 » HO = 0.02566 » n= 7.60 7oH.
IV. 0.310 grms. Substanz ergaben:
0.469 grins. CO2 = 0.12791 grms. C = 41.26% C.
0.247 » HO = 0.024H » H= 7.757o H.
V. 0.371 grms. Substanz wurden mitRupferoxyd und vorgeschlagenem
metallischem Kupfer verbrannt; ich fand:
0.552 grms. 'COj = 0.15055 grms. C = 40.6 %C.
0.242 » HO =0.02688 » H= 7.3«/oH.
Nach den Analysen HI. und IV. ist demnach ein Kohlenstoffgehalt
von 41.3% (inzunehmen.
Die Verbrennung V. mit Kupferoxyd, statt chromsaurem Bleioxyd,
also mit einem minder kräftig wirkenden Oxydationsmittel, wurde des-
halb ausgeführt, weil ich bei Albumin ^) die Erfahrung gemacht hatte,
dass je nach der Verbrennung mit Kupferoxyd allein, oder mit Kupferoxyd
und durchgeleiletem S;iuerstoff, oder endlich mit chromsaurem Bleioxyd,
der gefundene Kohlenstoff ein verschiedener war und dass er nur bei
derVefbrennunp: mit chromsaurem Bleioxyd vollstHndig erhalten wurde,
dagegen bei der Verbrennung mit Kupferoxyd mit oder ohne Sauerstoff
ein verschiedener und zwar ein constant verschiedener war.
Mit Kupferoxyd allein wurden 1 1 % Kohlenstoff weniger erhalten •
beim Verbrennen mit Kupferoxyd bei durchgeleitctem Sauerstoff unge-
fähr 6% weniger.
Hier beim Behandeln des Legumins mit Kupferoxyd, wurde selbst
ohne Durchleiten von SauerstolT der enthaltene Kohlenstoff so gut wie
vollständig zu CO2 verbrannt.
Ich muss dieses Verhalten des Legumins dem Albumin gegenüber
als etwas für dasselbe charakteristisches betonen, jedenfalls scheint der
Kohlenstoff in ihm leichter verbrennlich zu sein, wie im Albumin.
Was den Gehalt an Wasserstoff betrifft, so ergibt sich aus den
5 Analysen ein mittlerer Gehalt von 7.45%.
Bestimmung des relativen Verhältnisses zwischen
Kohlenstoff und Stickstoff.
Die Bestimmung wurde nach der bekannten LiEBiG^schen Methode
ausgeführt und stelle ich kurz die Besultate zusammen, die 6 nach ein-
ander gefüllte Röhren ergaben :
4) DteAP Zeitüchrin Band III. 2 Hea. Seite 15«.
270
^-^ ^ Dr. R. Theile,
1.
-X NN: CO2.
CO2 -h N = 27.5C.C. darin 5.3C.C. 1 : 4.00.
II.
» 4- » = 28.65 »
» 4.75 » 1 : 5.03.
III.
» + » = 33.10 »
» 5.5 » 1 : 5.02.
IV.
» -f. » = 34.9 »
» 4.9 » 41,6.12.
V.
» -1- » =s 35.0 »
» 4.5 »1: 6.77.
VI.
»-!-»= 34.3 »
i> 4.2 »1: 7.1.
Legt man bei obigen Versuchen das letzte Verhältniss, als der
Wahrscheinlichkeit am nächsten kommend zu Grunde, so ergibt sich
das Verhältniss :
N*: C7-1 s= 14: 42.6.
Geht man von 41.3 % Kohlenstoff aus, so ergibt sich ein Gehalt von
13.570/0 Stickstoff, was allerdings mit dem directen Versuche überein-
stimmt.
Nähme man ifach Liebig die Gesammtvolume in den 6 Röhren zur
Grundlage der Berechnung, so erhielte man :
164.3: 29.15 = 1 : 5.6.
Fährt man dagegen nach Rose so lange mit der Verbrennung fort,
bis 2 Röhren dasselbe Verhältniss ergeben , so wäre in unserem Falle
schon nach der dritlen Röhre der Versuch beendet gewesen, denn :
II. CO2 : N = 5.03 : 1 .
in. CO2 : N = 5.02 : 1 .
Wie ich schon bei derÄnalyse des Albumins betont und wie es. von
andern namhaften Chemikern ausgesprochen wurde, sind die Resultate
dieser relativen Bestimmung nicht immer brauchbar.
Die directe Untersuchung des Legumins hat demnach folgende Re-
sultat« ergeben :
Asche = 6.71 %.
Wasser = 12.73%.
C = 41.30%.
H= 7.45%.
N = 13.60%.
S = 0.74 Vo-
Zieht man von dem Gesammtgehalt an Wasserstoff den auf das bei
1 40® ausgetriebene Wasser entfallenden Antheil ab (1.41 %) und be-
rechnet auf Wasser- und aschenfreie Substanz , so ergibt sich für Le-
i^umin, bei 140® getrocknet, folgende Zusammensetzung:
Berechnet :
C = 51.30
H = 7.51
N = 16.88
6 8.55 147.4 C 148 51.83 7o-
1 7 51 129.5 H 129 7.53%
14 1.20 20.6 N 20 16.40%.
Ueber legumin . y 27 1
. s 1 0.930/0.
0 = 23.39: 8 §.94 50.1 0 50 23.350/o.
Wir stellen somit nach den Ergebnissen der Analyse für Legumin
die Formel C148 Hf29 N20 SO50 -«- 6 HO auf.
Abstrahirt man von den 6 Aeq. Wasser, so ist das Aequivalent des
Legumins 1713.
Ich füge hier noch die Analysen anderer Chemiker kurz bei, theils
um den Vergleich mit meinen Resultaten zu erleichtern, theils um auch
im Folgenden mich noch speciell darauf beziehen zu können.
u
Dumas
. Cahocks.
SCHKBEKR.
ROCHLBDBB.
RÜUHO.
LÖWBMBBBO.
NOBTOK.
Theilk.
Kohlenstoff
50.53
53.7
54.3
50.68
53.9
50.72
51.:J0
Wasserstoff
6.91
7 2
7.4
6.74
7.2
6.58
7.51
Stickstoff
18.15
15.7
14.6
16.50
—
15.77
16.88
Schwefel
—
—
—
0.48
0.3
0.77
0.92
Sauerstoff
—
—
—
23.39
Phosphor
«
V
—
—
2.31
Diese sUmmtiichen Analysen wurden ebenfalls mit Legumin aus
Erbsen ausgeftlhrt •
In Betreff des Schwefelgehaltes sei kurz erwähnt, dass Schwarzen-
BACH^) denselben im Cas^in stets halb so gross gefunden hat als im Al-
bumin und dies Verhalten als charakteristisch hinstellt. Er fand im
Albumin stets zwischen 1.85 bis 2.2% Schwefel.
Ich fand den S -Gehalt im Albumin 1 .98% \ ^i^i* im Legumin 0.92,
also gerade die Hälfte. Es scheint demnacA das Legumin sich hierin
dem Cas^in analog zu verhalten.
Einwirkung von Kali auf Legumin.
Bei Aufstellung dieser Frage kam es mir darauf an, in Erfahrung
zu bringen, ob sich Fflanzenlegumin dabei dem Pflanzenalbumin analog
verhalte, überhaupt den Fehler kennen zu lernen, der bei der Bestim-
mung des Ammoniaks in Leguminosen dadurch entsteht, dass Legumin
durch die Einwirkung des ätzenden Alkalis zersetzt wird.
Die ganze Anordnung des Versuches war ähnlich der beim Albumin
eingehaltenen und verweise ich auf das betreffenden Orts mitgetheille ^j .
Das Legumin wurde mit der zehnfachen Menge Aetzkali und ver-
4) Anoalen der Chemie, Februarheft 4865.
i) Stöckhardt, Zoilschrin fUr deutsche Landwirthe XXII. Jahrgang Seile SOS.
Chemisches Centrnltdntl 1866.
272 "^ Dr. R. Theile,
dUnnlem Alkohol in einem GlaHtolben zusammengebracht und durch
vs iedei holteDeslillationen das entwickelte Ammoniak in eine mit Normal-
schwefelsaure versehene Vorlage tibergetrieben und durch Titriren be-
stimmt.
I CG. neutralisirter Flüssigkeit entspricht Vio-ooo Aeq. , oder
0.0021256 grms. Ammoniak, wenn 0=10.
Bei ier folgenden Versu^chsreihe wird immer nur kurz angegeben
wie viel Cubikcentiriieter durch Ammoniak neutralisirt waren.
In der Vorlage waren bei sämmtlichen Versuchen je öC.C.Normal-
sJture, welche vor derTitrirung auf 50 G.G. verdünnt wurden. Es wurden
gleichzeitig 2 Versuche durchgeführt.
I. 1.505 und II. 1.468
grms. Legumin wurden mit je 15 grms. Aetzkali und 80 G.G. CO % Al-
kohols eine Stunde lang destillirt. Gleich Anfangs schieden sich in dem
noch sehr hochgradigen Destillate der Vorlage deutlich sichtbare Kry-
stalle von H4NO, SO3 aus, die sich mit der Zeit wieder lösten. Nach
Beendigung der Destillation wurde der Destillalionskolben durch einen
Quetschhahn abgesperrt und die Flüssigkeit in der Vorlage titrirt. Hier-
auf wurde die Vorlage mit neuer ^ormalsaure und der Destillations-
kolben niögliohst schnell wieder mit Alkohol vorsehen, von Neuem de-
stillirt und titrirt und so in fortlaufender Reihe weiter verfahren.
I. 11.
1) Neutralisirl waren:
1'?.25G.G. = 0.026038 grms. H3N 13G.G. = 0.027638 grm». H;,N
1.730%. 1.882%.
2j Die unmittelbar folgende Destillation ergab :
2.:)G.G. = 0.005314 grms. H3N 1 G.G. = 0.002125 grms. H3N
0.352 0/^,.^ 0.151%.
3) Desgleichen:
1.5G.G. = 0.0031876 grms. H^N O.öG.G. = 0.00106 grms. H^N
0.2120/0. 0.072 0/0.
4) Desgleichen:
1 G.G. == 0.0021256 grms. H^N 0.25 G.G. = 0.00053 grms. H3N
0.141%. 0.036%.
Ich Hess nun den Versuch vier Tage ruhen , wobei , wie auch bei
den folgenden Versuchen, die vorgelegte Schwefelsaure von der äusseren
Atmosphäre abgesperrt wurde, um eine mögliche Aufnahme von Am-
moniak aus dieser zu verhindern.
ö) Nach 4 Tagen waren neutralisirt :
0.75G.G. = 0.00159 grms. II3N 1.2G.G. = 0.00276 grms. H^N
0.1050/0. 0.181 0/^,.
Oeber Legnmio. *' 273
6) Nach weiteren 8 Tagen : '^
0.75C.C. = 0.00659 gnns. H3N 1 C.C. = 0.002425 grms. H3N
0.405 7o- 0,454 Vp.
7) Nach weiteren 6 Tagen :
4. 5 G.G. = 0.00318 grms. H3N OG.G Kein Ammoniak.
0.242%.
8) Nach 4 0 Tagen :
4. 25 G.G. ^ 0.0025 grms. H3N 4. 5 G.G. = 0.00348 grms. H3N
0.227%. 0.232 0^.
9) Nach 6 Tagen :
OG.G. Kein Ammoniak. 4.8G.G. = 0.00382 grms. H3N
0.260 0/0. .
4 0) Nach 7 Tagen :
OG.G. Kein Ammoniak. OG.G. Kein Ammoniak.
4 4) Der Versuch wurde 7 Wochen lang ruhen gelassen, die darauf fol-
gende Titrirung ergab in beiden Fällen die Abwesenheit von Am-
moniak.
Stellt man die erhaltenen Resultate zur besseren Uebersicht noch-
mals kurz neben einander :
II.
4.8820/oHjN
I.
«)
1.730'
VoH^
2) 0.358
»
»
3)
0.212
»
»
4)
0.141
»
0
5)
0.105
»
n
«)
0.105
0
»
7)
0.212
»
»
^}
0.227
»
0
9
—
9
»
10
»
»
11
—
»
9
3.084 •
y«i
HjN
0.454 »
0.072 »
; hinter einander
0.036 »
»
)
0.484 »
9
4'
rage gestanden
0.454 »
»
2
» »
— »
»
6
» »
0.232 »
D
40
D »
0.260 »
»
6
» »
— »
P
7
P P
— »
P
7 Wochen »
2.965V0H3N
so sieht man vor allem, der ttber ein Vierteljahr ausgedehnte Ver-
such beweist, dass auch bei Legumin Ammoniak keineswegs in so
grosser Menge als Zersetzungsprodnct auftritt, als wohl bislang vermuthet
wurde.
Die I ersten, schnell hinter einander ausgeführten Destillationen
zeigen die rasche Abnahme von Ammoniak ; es tritt hier jedenfalls als
directes Zerseltungsproduct auf, während die später entwickellen
Mengen wohl von der Einwirkung des Kalis auf gebildete Zersetzungs-
producte herrtthren.
Berechnet man die im Mittel 3 % betragende Menge Ammoniak auf
StlcksfofT, und zwar in hei 4 40<> getrockneter und aschenfreier Sub-
BmuIIV. 2. 48
274 Pr. B- Tk^Mf^
stanz, so ergibt sich, dass durob^li nur 3.07% Stickstoff in der Form
von Ammoniak ausgetrieben worden sin4; dieser Antheii verbäU 3icb
zum Gesammtgehall wie 5.5 : 4 .
3 07
Es wurden nur .-^^^^ = 0.482 des Gesammtgehaltes , ataa noch
4 6.88
nicht ganz y^Q ausgetrieben.
Hierin unterscheidet sich Legumin wesentlich von ThievaU^funin,
wo 0.304 also beinahe eni Drittheil des Slickgtofis ausgetrieben wird.
MitPflanzeneiweiss wurden von mir keine so anhaltenden Versuche
angestellt, sondern nur so lange stetig hinter einander destillMTt, bis
keine weitere Ammoniak-Entwickelung eintrat, das beißfil, 9S. wurde^
nur das als directes Zersetzungsproduct auftretende Ammoniak bestimm
und diese Versuche stimmen allerdings auch mit den jetzt vorliegenden.
Die vier ersten Destillationen unsers Versuches 11; ergaben S.444 %
Ammoniak. Bei Kartoffeleiweiss fand ich 2.022%. ^
Trotzdem also Legumin einen höheren Gehalt an Stickstoff besitzt,
wie Pflanzeneiweiss , wird doch nicht mehr Ammoniak direct ausge-
trieben, im Gegentheil tritt bei Pflanzenalbumin relativ m^r StkdLStoff
in Form von Ammoniak aus. ^
DasVerhültniss ist hier wie 4 : 5.76, bei Legumin dagegen nur wie
4 : 6.76.
Es lässt sich somit kurz wie folgt resttmiren :
Bei der Einwirkung concentrirter Kalilauge auf Legumin wird Stick-
stoff in Form von Ammoniak ausgetrieben ; die Menge ist geringer als
bei dem stickstoShrmeren Albumin, sie beträgt noch nicht ^^o ^^ ^^~
sammtgehaltes.
Das austretende Ammoniak ist einestheils directes, andemtheils
secundäres Zersetzungsproduct. Jenes überwiegt bedeutend.
In Betreff der zuerst als Zersetzungsproduct auftretenden Mengen
scheint Uebereinstimmung mitPflanzenalbumin w herrschen, die Menge
ist bei beiden Eiweissarten. ein^ übereinstijpmeade.
Sollen demnach bei Leguminosen Bestimmungen ihres Gehaltes an
Ammoniak durch Austreiben mit Kali yo^enqmmen werdei^^, 90 mtls^te
eine 2 % ihres Legumingehaltes entsprechende Correction angebrapht
werden.
Was den bd der Beha]l|41^Dg dos (.egumin thii Kali im Entwick-
lungskolben zurückgebliebene}); Rückstand betrifil, so war er beträcl^t-
lieber alsi bei Albumii^; das I^egumiu iQ^te sich, nur theilwejb^e und
schwierig, auch zeigte die alkalische Flüssigkeit nicht die.l^9i.4))^i>Wi^
so bald eintretende und eine Zersetzung andeutende ro.lhe Fäjrbupg.
Diese Flüssigkeit, das Product einer vierteljährlichen Einwirjliimg
Dtber Leimiilii. 275
von Kbli'auf Legumin, wurde filtrirt «nd der Rückstand ausgewaschen)
er bestand grSsstentheils aus phosphorsauren Erden.
' Des geibeFiltrat wuvii» verdünnt und mit SO3 das Kali nentralisirtv
Bb war dabei kein besonderer Geruch wahrzunehmen wie bei Albumin.
Nach längerem Süehen schied sich aus der stark verdünnten Plüssilgkeit
^11 flockiger K^er ab; er erwies sich als Rieselsäure, wahrscheinlich
von^ einer Verunreinigung des Kali herrührend.
Die von der KieselsäiAire abfiltrirte Flüssigkeit wurde zur Trockne
emgedampft und die Masstß mit absolutem Alkohd extrahirt. Ich erhielt
einen brafunen) klebrigen Körper. Es gelang nicht, mikroskopisch eine
dett4»Rdie Krystaliisation eu erkennen, nur einzelne Nadelchen zeigten
Siob^ aber Aussehen undGrernch, sowie die durch Aether bedingte weisse
Fällung erinnerten an den bei Albumin gefundenen Kdrper.
Leuoin und Tyrosin Hessen sich durchaus nicht nadiweisen.
Vergleichen wir nun die Resultate und Methode vorliegender Arbeit
mit den Ergebnissen der von Anderen ausgeführten Analysen.
Wie schon bei der Darstellung des Albumins, war auch hier die
leitende Idee, die Anwendung jeder höheren Temperatür , jedes mög-
licherweise energischer wirkenden Fällungs- oder Reinigungsmittels
zu vermeiden, ausserdem, den Reinigungsprocess auf die kürzeste Dauer
zu beschränken, da ja bekanntlich Luft und Wärme auf Eiweisskörper,
in flüssigem oder feuchtem Zustande sehr schnell einwirken.
Die bekannten Methoden laufen sämmtlich darauf hinaus , das Lo-
gumin namentlich von seinen anorganischen Begleitern zu befreien ;
hierbei liegt aber die Gefahr nahe, dass durch das Reinigungsmittel die
Substanz selbst angegriflibn wird und man so hier wieder einbüsst, was
man dort zu bessern meint.
Dumas und Caroues ^) digeriren die gepulverte Erbsenmasse 2 oder
3 Stunden lang mit lauwarmem Wasser, zerquetschen dann im Mörser
und setzen kaltes Wasser zum Brei. Nach stündigem Stehenlassen wird
durch Leinwand gepresst und zum FäHen der Stärke stehen gelassen.
Aus der klaren Flüssigkeit wird mit verdünnter Essigsäure dasLegumin
gefällt. Der flltrirte Niederschlag soll sich nur langsam und nicht ohne
Schwierigkeit auswaschen lassen. Die weitere Behandlung mit Alkohol
und Aether bleibt dieselbe.
Die so erzielten Producte enthalten noch meist gegen 2% Asche
und kann es auch füglich nicht, anders sein, denn die Löslichkeit des
1) Annales d. Ghim. et Phys. [8] VI. 4t8.
<8*
276 ^^' R* Theile,
Legumins in geringem Uebersdmßse von Essigsäure, sowie die Unlös—
lichkeit der phosphorsauren Erden in zu wenig Essigsaure, lassen den
Process nicht in der erstrebten Weise verlankCen , einestheils wird der
Aschengehalt nur etwas herabgedrttckt, anderntheils aber die Substanz
der Einwirkung einer Säure ausgesetzt.
Bedenkt man, dass sich Legumin in geringem Ueberschuss von
Essigsäure vollkommen und leicht wieder löst, und ferner , dass durch
Essigsäure od^ eine andere Säure gefälltes Legumin selbst nach fort-
gesetztem Waschen mit Wasser und Alkohol Lackmus stets röthet, wo-
gegen frisch bereiteter wässriger Auszug aus Leguminosen vollkommen
indifferent gegen Pflanzenfarben ist, so wird man darauf hingeführt,
dass die Niederschläge des Legumins aus einer Verbindung von Legumin
und Säure bestehen und die Lösung im Ueberschuss der Säure einfach
auf der Bildung eines an Säure reicheren Salzes beruhe , eine Ansicht,
die schon Braconnot ^) aussprach.
RocHLBDER^) geht iu seiner Reinigungsmethode noch weiter. Er
fand, dass nach obiger Methode dargestelltes Legumin nicht rein sei. Er
behandelt es daher nochmals mit concentrirter Kalilauge, worin es sich
unter flockiger Abscheidung der fremden Substanzen leicht lösen soll.
Er lässt zum klaren Absetzen längere Zeit stehen, behandelt die abge-
hobene Flüssigkeit mit Essigsäure, löst die Fällung abermals in Ammo-
niak, um schliesslich nochmals mit Essigsäure zu fällen. Von dieser
Methode der Reinigung kann nun aber freilich nach den vorliegenden
Untersuchungen nicht genug abgerathen werden ; selbst wenn die Dauer
der alkalischen Einwirkung nur eine kurze ist, muss sie doch nothwen-
digerweise Verluste an Stickstoff bedingen. Man vergleiche die oben
mitgetheilte Analyse von Roghlbdbr, die als das Mittel seiner Analysen
von auf diese Art gereinigtem Legumin angeführt ist, mit meinen Re-
sultaten.
Der Kohlenstoffgehalt beträgt um 3% mehr, der Stickstoffgehalt
dagegen volle 2 % weniger.
Die erste Destillation des Legumins mit concentiirter Kalilauge er-
gab 1.8% Ammoniak, was auf aschen- und wasserfreie Substanz be-
zogen einen Verlust von 1.8% Stickstoff ergibt, also beinahe genau
das, was Roghlrder zu wenig gefunden hat.
Selbstverständlich muss dann auch der Gehalt an Kohlenstoff höher
ausfarllen.
LöWBprBBRG nimmt an , der kalte wässrige Auszug aus Erbsen sei
4) Ann. d. Chim. et Phys. XXXIV. 68.
2) Annalen der Chemie und Pharm.
Debtr Leguilii, 277
•
eine Mischung von Albumin und Legumin. Er behandelt das gefällte
Gemenge mit Ammoniak, dessen Ueberschuss er durch Verdunsten aus-
treibt und erhitzt dann unter Zusatz von Kochsalz zum Sieden, filtrirt,
tälM im Filtrate durch Essigsäure, wäscht dann mit kaltem Wasser aus
und behandelt sehliesslich mit kochendem Alkohol und mit Äether.
Was vor allen Dingen das Vorhandensein eines Gemenges von Al-
bumin und Legumin betrifft, so muss ich dies bei meiner Untersuchung
leugnen.
Einestheils hätte ich im wässrigen Auszuge beim Erhitzen irgend
welche Abscheidung erhalten müssen, dem war nicht so. Aber selbst
zugegeben, dass durch die Gegenwart von Legumin vielleicht Albumin
an der Fällung verhindert werde, so spricht doch eine andere Thatsache
entschieden dagegen, nämlich das Verhalten der Asche.
Die Asche von Albumin enthält bedeutende Mengen von SO3 ; ich
fand stete zwischen 9 und IS Vo*
In der Asche des nach meiner Methode dargestellten Legumins,
war es mir nie möglich ai^h nur eine Spur von Schwefelsäure zu ent-
decken.
Ich habe mir zur genauem Untersuchung der Asche des Legumins
gegen i grms. Asche dargestellt; SO3 war jedoch nicht vorhanden.
Ich bediente mich stets ganz reifer Erbsen. Vielleicht hat Löwbn-
BBtG mit jungen Erbsen operirt, wo ein Gehalt an Albumin eher denkbar.
Es scheint mir demnach die LöWBNBstG^sche Annahme an und für
sich nicht stichhaltig.
Aber geradezu schädlich für das Legumin muss die Methode der
Trennung erscheinen.
LöwKNBBRG wendet dazu Ammoniak an, dessen Ueberschuss er
durch Verdunsten austreibt, er bringt somit das Legumin längere Zeit
mit einer stark alkalischen Flüssigkeit zusammen.
Nach den Erfahrungen mit Kali ist es jedenfalls nicht ungereimt,
auch dem Ammoniak eine ähnliche Einwirkung zuzuschreiben. Wohl
mag es paradox klingen, dass Ammoniak durch Ammoniak ausgetrieben
werde, aber die Sache steht einfach so, dass hier eine Flüssigkeit von
stark alkalischem Charakter auf eine leicht zersetzbare Substanz ein-^
wirkt. Auch bei der Einwirkung von Kali wissen wir ja nicht, ob nur
Ammoniak als kohlensaures Ammoniak austritt, sondern dasAmnioniak
ist uns als der einzig fassbare und leicht bestimmbare Körper ein Maass-
stab dafür, dass Kali überhaupt zersetzend eingewirkt hat. Leider
liegen von Löwbubbbo keine StickstofFbestimmungen vor.
LöWBNfeBRG gibt selbst an, das nach seiner Methode gereinigte Le-
gumin gebe, mit Wasser gekocht, einen kohlenstoffreicheron in Wasser
278 ^-'^ Theite,
tosli<^en und einen kohlenstofförmeren, in Wasser unlöslichen iM^r.
LoiTBNBBRG beweist somit selbst, dass sein gepeinigtes i^dguminkeia
Legumin, sondern ein Gemenge ist.
Diese 3 Methoden sind es , welehe bislang in Uebung Maaren und
die alle 3 nicht geeignet erschienen, wirUidi su erzielidn , was «ie be-
zwedLen, das heisst, dasLegumin frei von anorganischen BesCandtfaeilen
und anderen vermutheten Begleitern, aber auch zugleich in üozerssiiter
Form zu erhalten.
Bei diesen sämmtlicben Methoden, und ähnliches gilt auch von Al-
bumin und den meisten ttbrigen Eiweissk^rpem, ist das Hauptaugen-
merk darauf gerichtet, die unorganischen BestandUiefle fortzuschaflfoii,
wobei die Substanz selber s<^hädlichen Einflttssen ausgeselzt wird.
Es fragt sich nun, ob die steten anorganischen Begleiter wirklich
nur so schlechthin als Verunreinigung anzusehen , oder ob sieniobt or-
ganisch mit einander verbunden sind, so, dass die'Lostrennuiig dieser S»-
standtheile auöhden Zusammenhang des Bestes weläentlich aHerirt.
]>er Mangel an genaueren und oft zu wi^erholenden Analysen der
Aschen von Eiweisskörpern ist, wie ich glaube, eine vor Allem ausfeu*
fÜHende Lücke.
Wenn ich bei meinen, ohne Anwendung von Stfure, Alkalien oder
höherer Temperatur dargestellten Eiweisskörpern, fortwährend constante
Gehalte an Asche erhalte, z. B. bei Kartoffdeiweiss in 3 Versuchen
6. 64 %, 6. 63 % und 6. 58 % Asche bekomme, bei Albumin S.3 %, S.2 %
und 2.2%) bei Legumin endlich 6.62% und 6.780/a, so ist dies wohl
kaum ein Zeichen blosser Verunreinigung.
Ich habe mich der oben angedeuteten Aufgabe uhierzogen und
werde die ertEielten Resultate seiner Zeit mitlheilen.
Schon derUmständ, dass dieAschö stets einen bedeutenden Gehah
von phosphorsauren Erden aufweist, spricht dafdr, dass diese in einem
innigeren Zusammenhang mit der organischen Substanz stehen mttssen,
sonst könntön sie nicht ihre ünlöslichkeit in Wasser so vollständig ein-
büssen. ^
Nach wochenlanger Behandlung des Albumins mit Kalilauge ^-
hielt ich aus der FHlssigkeit nach dem Neutrelisiren mit SO3 und Ver-
dünnen init Wasser einen flockigen , eiweissartigen Körper mit gegen
i % Asohe, die fast ausschliesslich aus phosphorsauren Erden bestand.
Es spricht dies entschieden dafür, dass die phosphorsaurm Erden der
ursprünglichen Substanz sehY fest mil ihr verbunden waren, so dass
sie selbst bei deren vollständiger Zersetzung nicht als sc^be heraus-
fielen, sondern mit dem zersetzten Eiweisskörper vereinigt blid>eh.
Üeber Legoinin. 279
So viel zur Rechtfei^tigung der yth mir befolgten iteUlode znr Dar-
stellung von Legumin.
Scliliesslich mnss'ifeli noch eine andere I^rage betuhren, zu deren
Beantwortung vorliegende Untersuchungen M^rial liefern. Es handelt
sich nämlich um äen Zusammenhang zwischen Albumin und Legumin.
Fttr Albumin wurde von mir die Formel CJ48H124N17 8204^ -^ 4 HO
aufgestellt, fllr Legumin ergibt sich: 'C148H129N20SO50 -f- 6H0. Die
Annahme der Physiologen , dass das Legumin sich alhndhMch aus dem
Albumin bilde, lässt Sich leicht aus diesen Formeln entwickeln. Ver-
gleicht man dieselben , so sieht man , dass der Uebergang nur durch
Aufnahme von Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, so\tie durch Ab^
gäbe von Schwefel mo^ch ist.
Stickstoff und Sauerstoff sind wahrscheinlich in der Form Voft Am-
moniak und Wasser aufgenommen worden ; zugleich gewinnen die vier
AequiValente chemisch gebundenes Wasser des Albumins ihre Bedeu-
tung, sie treten in innigere Verbindung mit der Substanz und werden
ferner 3 Aequivalente Ammoniak gebunden.
Albumin G^g Ht24 N17 S2 O^ß
4- 4H0 H4 O4
+ 3 Ammoniak Hg N3
— Schwefel — S
geben: C^g H137 N20 S O50
Man sieht, die Formel fttr Albumin geht in die des Legumin über ;
die Differenz im Wasserstoff liegt innerhalb der Grenze der Versuchs-
fehler.
Cl48 H129 N20 SO50 s= 7.63^011.
Cu8 H137 N20 SO50 = 7.95 0/0 H.
Nimmt das Albumin nach unserer Annahme wirklich 3 Aequi val. Am-
moniak auf, um in Legumin überzugehen, so werden sich diese 3 Aeq.
H3N bei der Einwirkung von Kali auf Legumin vielleicht auch leichter
wieder lostrennen lassen.
Die Einwirkung des Kali auf Legumin liegt vor und lassen sich da-
bei zwei Momente des Processes unterscheiden, das erste Moment, wo Am-
moniak als directes Zersetzungsproduct auftritt und das später folgende,
wahrscheinlich mit weiteren Zersetzungen verbundene.
Wirft man einen Blick auf die oben übersichtlich zusammengestellten
Resultate der Einwirkung von Kali, so sind es die vier ersten Versuche,
die dem ersten Momente entsprechen ; es ergaben sich darnach
L II.
8.43670H3N. 2.U<7oH3N.
280 Dr. R. Theile, Ueber LegmniD.
auf aschen- und wasserfreie Substanz beredinei gibt dies 3.02% und
2.65%, also im Mittel 2.83 7o Ammoniak.
Berechnet man aus der Formel 0^4^ Ht^^ Ntö-SO^ den Procentgehalt
von 3 Aequiv. Ammoniak, so entspricht dieser 2.96%.
Wie man sieht, spricht der directe Versuch in dieser Richtung
genau für meine Annahme.
Gestutzt auf das vorliegend Mitgetheilte glaube ich mich berechtigt
die Bildungsweise des Legumin aus Albumin dahin zu erklären, sie
erfeige unter Abgabe eines Aequivalentes Schwefel und
unter Aufnahme von 4 Aeq. Wasser, welch* letztere als
Begleiter des Albumins von mir schon erwiesen wurden,
sowie unter weiterer Bindung von 3 Aequivalenten Am-
moniak.
r
Vdbcr eiiei mmi, iitm Tyrwii hi4 leacn ähaliclira Körper.
Von
Dr. HI Theile,
AMiiUni wm. Uadwirtk8ch«ftli6li«B Inttitiit sv J«m.
Mit t Figaren in Holuohnitt.
Vor geraumer Zeit theilte ich in dieser Zeitschrift ^) die Resultate
von Arbeiten mit, welche bezweckten, die Zersetzungsproducte des Ei-
weisses durch einen Ueberschuss von Kali genauer zu studiren.
Wie betreffenden Orts genauer einzusehen, fand ich damals ausser
einigen nicht weiter untersuchten flüchtigen Körpern als Hauptrepräsen*
tanten der Zersetzung zwei syrupartige , schwerkrystallisirbare braun-
rothe Körper, einen eiweissartigen, noch schwefelhaltigen unkrystallisir-
baren elastischen Ktfrper, sowie Leucin und Tyrosin.
Auch weiterhin beschäftigte ich mich mit der Lösung dieser Frage
lind da hierbei absichtlich kleine Modificationen des ursprunglichen
Verfahrens stattfanden, gelangte ich zu Resultaten, welche, wenn auch
im Ganzen von den ursprünglich erzielten nicht abweichend, doch
manches Neue boten.
Vorläufig eine dieser neuen Thatsachen mitzutheilen ist der Zweck ^
vorliegender Arbeit.
Bei meinen ersten Untersuchungen wurde Vitellin mit der doppel-
ten Menge Kali vier Wochen lang unter öfterem Umschütteln in Berüh-
rung gelassen und hierauf die braunrothe klare Flüssigkeit filtrirt.
Es bleiben nur geringe Mengen ungelöster Substanz zurück, die
sich grösstentheils als phosphorsaure Erden erweisen.
Bei zwei so ausgeführten Versuchen wurden je 40 grms. Vitellin
mit 80 grms. Aetzkali behandelt.
4) Band HI. Seite 46«.
282 Dr. R. Thelle,
Ein dritter, zu demselben Zwtcke wiederholter Versuch wurde mit
454 grms. Vitellin und 400 grms. Aetzkali ausgeführt.
War daher das Verhältniss des Viteliins zu Kali früher wie 2 zu 4 ,
so war es nun wie 3 zu 2 ; die Substanz wurde demnach einer 3mal
schwächeren Einwirkung ausgesetzt, auch wurde der Versuch nicht
auf 4 Wochen ausgedehnt, sondern schon nach 4 4 Tagen zur Unter-
suchung geschritten.
Beioi Abfiltrir^n dbar aU^aUscheaLQsunB war. diesmal der BttdiakNid
weit beträchtlicher; er bestand wiederum zumTheil aus phosphorsauren
Erden , femer aber aus einem blendend weissen, schon auf dem Filter
fUr das blosse Auge sich als krystallinisch erweisenden Körper.
Meine erste, naheliegeniteVehnuflluil^ war, dass hier wahrschein-
lich Leucin oder Tyrosin vorläge.
Die Masse wurde mit absolutem Alkohol unter Erwärmen behandelt,
wobei der fragliche Körper leicht in Lösung überging, beim Erkalten
aber theilweise wieder heraiusflel.
Unter dem Mikroskop zeigte der Körper eine vollkommen wasser-
hclle, überaus schöne, aus sichelförmigen Nadeln arabeskenartjg zu-
saibmengcsetzte Krystallisation.
Durch abermaliges Umkrystallisiren des Körpers aus heissem AUcohoi
einhielt ich eine zur weiteren Untersuchung dienende, blendend weisse,
im Acusscren von Tyrosin und Leucin nicht zu unterscheidende Masse,
Die damit angestellte nähere Untersuchung lieferte folgende Re-
sultate:
Auf Platinblech vorsichtig erhitzt, scbmolz der Körper zu einer
rothbraunen Flüssigkeit und verbrannte mit dem den stidustoffbaltig^n
Körpern eigenthümlichon Geruch ohne Hinterlassung eines ftUckatande»;
1} 0.0850 grms. Suhltanz mit Natronkalk, verbrannt gaben:
0.00747 grms. N = 8.44%.
8) OifSI gnaos. Subdtailz gaben bei analoger Behandlung
0.0098 grms. N = 8.18%.
3) 0.1 835 grms. Substanz mit Kupferoxyd und vorgelegtem metallischen
Kupfer verbrannt gaben :
0.4«7 grms. CO2 = 0.0540 grms. C = 36.82 o/oC
0.485 » HO =n 0.0f388 » H = lO.OJo/^ii.
4) 0.446 grms. Substanz ebenso behandelt:
0.499 grms. COj =» 0.05427 grms. C =s 37.47 o/qC.
Daraus berechnet sich die Formel
Cjo H16 NO9.
Ueber eiiMD oeaen, den Tyrosio and Leuciu ihnUehen Körper. 283
Berechnel : QefundeM :
< 0 Aeq, Kohlenstoff 60 37.03%. 36.82%. 37.47.
16 D Wasserstilff f6 ^.87 » 10.0SI » --
h « Stickstoff U 8.65 » 8.14 « 8.4t.
9 » Sauerstoff 78 44.45 » — ^
4 Aeq^ 462 400.00%.
Schon vor der genaueren Untersnohnng ^ambte ich , der K6rper
sei vielleicht Batalanin, ein dem Leuoin homologer und von Oorup-
BsBANBZ ') in der Bauchspeicheldrttse des Ochsen gefundener und von
ihm näher untersuchter Stoff. Ich gelangte jedoch .duroh nXberes Stu-
dium zu der Ueberzeugung, dass hier kein Butalanin vorliege.
Goftup-BESANBZ gibt dem Butalanin die Formel C^q Hu NO4.
Schreibt man die Formel des von mir untersuchten Körpers
C|oHi|N04-f-5HO, so war es denkbar, dass mit Wasser inniger verl^un-
denes Butalanin vorläge, weshalb der Best meiner Substanz wieder anhal-
tend bei 1 20 ^ G. getrocknet und nochmals der Analyse unterworfen wurde.
0.495 grms. Substanz gaben mit Natronkalk geglüht:
0.01794 grms. N « 9.27o.
0.1205 grms. Substanz mit Kupferpxyd und metallischem Kupfer
verbrannt gaben :
0.477 grms. CO] 9 0.04827 grms. G « 40.05%.
0.H1 » HO «0.01233 » H = 40.23%.
Berechnet : Gefunden :
Gio 39.2 40.05.
Bi5 9.8 10.23.
N J».15 9.20.
Die Zahl des Kohlensloflfes ist zu hoch , jedoch sieht man, dass nur
4 AequivalentWasser^dweh das Trocknen bei 4 20 <> ausgetrieben worden
war, weshalb die Formel Ciq H15 NOg -1- HO gegeben werden muss.
In kaltem Wasser tost aich der Kdrper nur schwierig , leichter in
heissem, aus den er beim Erkalten theilweise wieder herausfallt.
Leuoin lOst sieh leicht in Wasser, Butalanin und Tyrosin schwierig.
fan absolttten Alkohol ist der Kdrper leicht Itfslieb, noch leichter,
wenn dabei Erwärmung stattfindet.
Leucin ist in kochendem Alkohol schwer iösUoh, Butalanin nodi
schwieriger, Tyrosin milOslich.
In Aether Mst sich der Kilrper vollsUlndig , nameotlich befan Er--
wärmen.
4) Annalen d. Ghem. BAnd 98. Seile f6.
284 ^'' R- 1'b>l1e,
Leucin und Tyrosin sind in Aether vollkommen unlöslich , ebenso
Butalanin.
Charakteristisch ist vor Allem die RryslaUisalion.
Fig. I. zeigt den aus wSssriger Lösung krystallisirtcn KOrper. Die
Krystallisation bildet ein zusammenhängendes Netz von wasserklaren,
arabeskenartigen Verschlingungen.
Fig. 11. gibt einen Theil dieser Krystallisation etwas vergrösserl.
Die Krystallisation aus ätherischer Lösung ist zarter und feiner,
sie besteht aus einem regellos ausgebreiteten Netze mondsicheirörmig
gekrümmter Nädelcfaen, die oft farrenkmutartig zusammengefügt sind,
doch auch der Typus von Fig. II. ist vorhanden.
Hf-I. Fic.O.
Fig. ül. zeigt eine Krystaliisationsfonn,
wie sie öfters aus alkoholischer Läsung
erhalten wurde. Sie trfigt genau das
Gepräge eines maschenförmigea Gebildes.
Die voi^efuhrlen KrystaUisatioDen er-
hielt idi jedesmal ohne Hübe schön und
klar, nur muES mit verdünnten Lösungen
operirtwerden. Sie weichen vollkommen
nt.m von denen des Leucin und Tyrosin ab,
niemals zeigte sich auch nur eine Spur jener meist kugeligen oder
bUschelfttrmigen G^ilde.
Von Butalanin liegt keine Abbildung vor. GoRUP-BxsAnz schildert
die aus kochendem Alkohol erzielte Krystallisation als aus breiten rhom-
bischen Tafeln und Prismen bcslehend, meist slernfürmig gruppirt.
Die wässrige Lösung kryslallisirt in farrnkrautähnlichen, zuweilen
auch in garbenfUrmig gruppirten feinen Nadeln.
gl^nlii
Oeber eineD neuen, dem Tyiosin nnd LeucirUmlichen Körper. 285
LeacinundTyrosiDstimmeiidari|HiAdein neuen Körper ttberein^dass
sich alle 3 bei geringer Menge durch ausserordentliches Volum auszeichnen.
Man hat dies bei derQantellung mikroskopischer Objecte zu beherzigen.
Beim vorsichtiifen Erwärmen sdimilzt der Körper erst zu einer
rotbbraunen Flüssigkeit und sublimirt dann in weissen Flocken. Der
Versuch wurde in einer, beiderseits offenen Röhre angestellt. Erst bei
einer Temperatur von 490<^G. fing die rothbraune Flüssigkeit an, Nebel
zu bilden, dichte weisse Nebel lagerten sich unmittelbar neben der er-
wärmten Stelle ab und konnten bei vorsichtigem Erwärmen der ganzen
Röhre entlang getrieben werden. Diese Dämpfe reagirten nicht alkalisch.
Bei Leucin tritt kein Schmelzen ein, sondern schon bei 470^ eine
directe Sublimation. Tyrosin schmilzt, ohne zu sublimiren, Butalanin
schmilzt und sublimirt hierauf in gelben Flocken, wobei deutlich alka-*
lisehe Readion auftritt.
Verdampft man den Körper auf dem Platinblech vorsichtig mit einem
Tropfen Salpetersäure, so wird die Masse intensiv citrongelb.
Leucin bleibt dabei ungefärii>t, Tyrosin dagegen gibt ebenfalls eine
gelbe Verbindung.
Bei nachheriger Behandlung der gelben Verbindung mit einen
Tropfen Natronlauge tritt eine intensiv braunrothe Färbung ein, gerade
wie bei Tyrosin.
Mit einer wässrigen Lösung des Körpers wurden folgende Reactionen
angestellt :
Ammoniak bewirkte keine FäUang, die damit versetzte Flüssig-
keit zeigte die Krystalllsation des ursprünglichen Körpers.
Natron bewiriite keine Fällung, doch zeigte sich unter dem Mikro-
skope eine von der des reinen Körpers abweichende KrystaUisalion. Zur
Gontrole liess ich das angewandte Natron, sowie kohlensaures Natron
fUr sich krystallisiren und überzeugte mich, dass die KrystaUisalion
durch diese allein nicht bedingt sein konnte. Es dürfte demnach eine
Natron Verbindung vorgelegen haben.
Die Verbindung war in Wasser sehr leicht löslich, was der Körper
an und für sich bekanntlich nicht ist.
Barythydrat bewirkte keine Fällung.
Die mit Salzsäure versetzte wässrige Lösung krystallisirte in
schönen verfilzten Nadeln, nach längerem Auswaschen mit Aether, um
alle überschüssige Salzsäure zu entfernen, trat bei Zugabe von salpeter-
sau^m Silberoxyd eine deutliche Reaction auf Chlor ein, so dass jeden«-
falls eine Verbindung des Körpers mit Ghlorwasserstoffsäure vorlag.
Dieselbe Verbindung existirt bekanntlich auch von Leucin. Ein
Theil der wässrigen Lösung wurde mit Salpetersäure im Wasserbade
286
Dr« R. Tbaile,
verdaffüpft. DieiKryslattMation eWiides sieh iheiiweisei ateiiÜB de» riinen
Körpers, theilweiee traten gerade Nadel« auf, es zeigleB siah aber attoh
an vielen Stelten citiretiengeiw Partieen, die 'anuk keuleiittraiig rasa»-
mengesetzten Masaen* kleiner geraden Nädelehen beatandea.
Dieser gelbe KOrper dttrfte wohl a«f eine denv NitrotypssiD enW
spreehende Verbiadsng hitiweiseov
P le t i n c hl o ri d bewirkte auch nach längerem Sieben keine Flllung.
Ess>igsaures Kupferosyd bedingte weder eine Fällung nocsh
eine Färbung; unter dem Hiknaskope Hessen sich die Krystalle des ur-
sprOngllohen reinen Körpers und die des essigsauren Kupfsrozydes
genau erkennen und trennen.
Quecksilberehloriid gabaMeh- nacü Zugabe von Aether keine
Fällung. Leucm Terbält sieb ebenso.
Salpetersaures Quecksilberoxyd bewirkte eine starke,
weisse, floebige FäHung, diellberstebende Plttssigkeie aeigie eine deut-
liche rosenvelbe Färbungi
Lewin wird daduroh weder geftii4)t nocb geAlllt.
Bei Tyrosin tritt eine rothe Fällung ein und auch die Überstehende
PttlBsigkeit aeigt eine intensive Päibungi
Pfaospher^Bfolybdänsänre, lodkalinm, salpetersaures QuecksiH>er-
oxydul sowie schwefelsaures Zinkoxyd bewirkten weder in der Kälte
noch in d^r ¥iliäfrme eine Fällung.
Soweit in Kürze, was ich von dem neuen Körper ermittelt habe.
Im> Folgenden* stelle* ich die haaptaäeblkhsten Reaotionen und
Eigenschaften pavallel mitLeuoin;, Tyroein und'Butalanin zusammen^
es wird daduroh da» Verschiedene' und Gemeinsame dieser 4 Körper am
besten* und: deut{ichslen> charahterisirt.
Bei Bntalanin konnte sellMitverständUeh nor das bis jetsl Ober das-
sdbe Bekannte mit auf|genommen werden.
. Löslichkeit in Wasser
Lettcin
Leicht löslich
TjroBin
Schwer löslich
B»t«lmsiD
Schwer löslich
Schwer löslioli
Lösllchkeii in Alkohol
» » Aether
Schwer löslich
Unlöslich
Unlöslich
Sehr schwer
löslich
Unlöiliah
Leicht löslich
V^Jialteo bei . höhpf er,
Temperatur
Auf I^^tinblech
mit Ssipeiersaure
behandelt :
Bei 4700 sobli-
mirbar oloie zo
schmelzen
Nach Zugabe von
Natron
farbioseillasaa
**«iMaü«B<a«B^M
Schmilzt oboe
zu sublimiren
Schmtbct und
sablimirt' dann
io'gelb. Flocken
Gelbe Ifaasa.
Braunrothe
flBB88e
Unter 4 900
schmelzbar,
bei 4eo 0 in
weissenFlocken
sublim irbar
Gelbe Masse
■*«4>
Bleibt ferblos
Braunrothe
Masse
Salpetersaures
Quecksilberoxyd
bewirkt :
Keine Fällung,
Flüssigkeit
Bleibt ungefärbt
RoMn nockig»
FttUung
Flüssigkeit
stark rosa
gefärbt
Weisse flockige
Fällung,
Schwach rosa
gefärbte
Flüssigkeit.
»iirahnlieli
Geber einen nenen, dem Tyroein und Leneiii^hnliehen Körper. 287
Bopp *) erwähnt in seinen Untenrffäungen »lieber Albumin, GaseYn
und Fibrinc, dass er beim Schnrthen des Albumin mit Aetzkali neben
Leucin und Tyrosin naelr mnen dritten Körper in sehr geringen Mengen
gefunden habe, der fan äussern Ansehen dem Tyrosin, in einigen Eigen-
schaften dem Letfcin gleiche. Die erhaltene Menge war so gering, dass
es bloss möglich war zum Zweck seiner Wiederauffindung seine äusseren
Eigenschaften kennen zu lernen.
• Bwr^oharakUiririM dieilea Stfrper kurz wief folgt r
h) Sublimirbar und hierbei baumwollenartige Flocken bildend ohne
Hinterlassung eines Rückstandes.
2) Schwer löslich in Wasser«
3) Leichtlöslich in absolutem Alkohol.
4) Nadeln, die keinen besonderen Glanz haben und sich beim Aus-
kl^t^lUsiraD ans absolutem Alkohol gerade so durch das ausser-
ocdenldiche Volum bei geringer Menge auszeiobnen, wie dasTy«^
roßip beim Auskrystallisiren aua Wasser,
\^ £ jgßuscbaflen stimmen soweit mit denjenigen unsers Körpers
ttborei».
I0. eitlem Harne,, der aus dem hiesigen Krankenbause zur Unter-
suduii^ imfLeueiii und Tyrosin emgesohickt worden war, fand ich den
einea l^ag Lewin , die beiden folgenden Tage aber zeigte sich weder
leucin Mch Tyrosin, .wohl aber ganz deutlich die Krystallisation des
fragUeh^n Körpers.
Dtor Kranke litt an einer aHmäyicfaen Zersetzung der Muskeln. Es
soheinialso dieser Körper auch wie Lenciii^ Tyrosin und Botalanin im
Udniaufzutceten.
FuiaiGiis und Stäsuba^) haben einmal im Harne neben dem Tyro-
sinieieon dem letzteren adw ähnlichen und wie si^ aus einer Stiokstofl^
bettimmungisobliessen, ihm wahrsoheinlioh homolegen Körper gefunden;
der Stiokslo^gehalt betrug nach ihren Angaben 8.83%. Die hier ge-
fundene Formel GioHisNO^ 4- HO entspricht einemOehah von 8.64%
Stickstoff.
Fhbughs und StXdblhi theilen nichts Näheres Über ihre Nachweis
sung mit) die Vermuthiuig liegt aber nahe^ dasf der gleiche Körper vor-
gelegen habe.
4) Agnaten der Gh. u. Pb. LXtX. S. 18 o. lt.
ft) FiOiurHs, Deat8oheKlJoUL4865. Nr. 81. p. 848.
" y
llBtersnchmg Aber suerstoffreiclie K^hfeistoffsävMk
Von
A. Oeuther.
Schon seit längerer Zeit habe ich die Einwirkung der SaksSure in
höherer Temperatur auf verschiedene Kohlenstoffsäuren, namentlich
solche, in denen sich eine grössere ^nzahl von €0^ Gruppen vermuthen
lässt, Studiren lassen in der Erwartung , es würde dadurch ein Theil
dieser Gruppen einfach abgetrennt, ein anderer unter gleichzeitiger
Wassensersetzung und Bildung eines Reductionsprodactes als Kohlen-
säure entfernt und so neue Anhaltspuncte für die Constitution dieser
Säuren gewonnen werden können. Ich habe dabei die Bildung chlor-
haltiger Säuren, analog der Bildung bromhaltiger Säuren , welche von
Kbkulb^) bei der Einwirkung von Bromwasserstofl^ure beobachtet
worden ist, wenn auch nicht für unmöglich , doch als in den meisten
Fällen nicht eintretend erachtet und zwar einmal, da schon lodwasser-
stoffsäure und Bromwasserstoffsäure sich in ihrer Wirkung wesentlich
unterscheiden , welche letztere offenbar von der geringeren oder grös-
seren Festigkeit mit der der Wasserstoff in ihnen gebunden ist, aUiängt,
sodann aber, weil bei der höheren Temperatur, welche zur Einwirkung
der Chlorwasserstoffsäure erforderlich ist, manche der möglicherweise
entstehen könnenden chlorhaltigen Säuren unter den vorhandenen Um-
ständen nicht mehr bestehen , also auch nicht entstehen können. So
z. B. beginnt die Einwiriiung der Salzsäure auf Glycolsäure erst bei
450^, bei dieser Temperatur wird aber Monochloressigsäure durch
Wasser schon vollständig in Glycolsäure und Salzsäure zerlegt.
Die Versuche haben bereits ergeben, dass ohneBildungchlor-
haltiger P r od ucte zersetzt werden die Weinsäure, Trauben-
säure und Citronensäure. Die ersteren beiden liefern Pyrowein-
säure, die letztere eine neue Reihe von Säuren, welche sich von 2 Mgte.
i) Annal. d. Cbem. u. Pharm. Bd. 480. p. 46. a. s. w.
EiDwirk. cotic. Salzsllure »uUiMnB&ure. 289
Giironensäure resp. Aconilsäure — y^on in diese geht die Gitronen*
stture zundchsi über — ableiteo'/ Zwei von ihnen, welchen die Zusam-
mensetzung £^^ H^^ Q^'^'WA €»810 012 zukommt/ sind bereits näher
untersucht. Untejr Bildung chlorhaltiger Producte werden
zersetzt dieAep^IsäureundChinasäurc. Erstere, welche zunächst
in Fumarsliurey übergeht, liefert bei höherer Temperatur — bei 160^
bleibt der ^ssleTheil der Fumarsäure noch unverändert — eine in
WlMMerleicht losliche chlorhaltige Säure, letztere liefert ausser Hydro*
chinon und zwei braunen harzartigen Substanzen ein chlorhaltiges Oel,
das seiner Zusammensetzung nach als ein Abkömmling derCarbolsäure
angesehen werden könnte.
Mit dem Folgenden beginnt die Mittheilung dieser Versuche und
Resultate.
L Abhandlung.
lieber die Einwirkung eonceiitrirter Chlorwasserstoffsänre anf
Weinsftnre und Traubens&ure In höherer Temperatur.
Von
Dr. H« Biemann.
1. Weinsäure.
Gepulverte, käufliche Weinsäure wurde mit dem dreifachen Volu-
men reiner concentrirter Salzsäure in Röhren eingeschlossen und im
Oelbad vob ISO^G. an erhitzt. Nach je zehnstündiger Einwirkung
wurde das Oelbad erkalten gelassen und die Röhren geöflfhet. Nach
abermaligem Verschluss wurden sie während der gleichen Zeit von
Neuem um 5<> höher erhitzt und so fortgefahren. Beim Oeffnen der
Röhren zeigte sich je nach den Temperaturen, denen sie ausgesetzt
waren, eine mehr oder minder starke Gasentwickelung, welche nach
dem Erhitzen bei 4 45 <^ so stark war, dass beim Oeffnen des Rohrs nur
mit der grösslen Vorsicht das Herausschleudern des Inhalts vermieden
werden konnte. Bei 125o beginnt die Zersetzung, von 1iS<^ an nimmt
der Druck in den Röhren wieder ab und ist erst bei 480® gleich Null.
Die Gase wurden nach jedesmaligem Oeffnen der Röhren unter-
sucht. Sie erwiesen sich als ein Gemisch von Kohlensäure und Kohlen-
oxyd. Kohlensäure war stets im Ueberschuss. Nach beendigter Ein-
OMd IV. 2. 10
290 ^^ H. Rietiiititf), ^
Wirkung wurde der stark gehrdiiAi und eine koHlige MateHe fSbrefide
Ri5hreninhalt zur Trockne im Wassermd gebracht und die i^ässrige
Lösung des Rückstands müThierkohle entfSHfHr^e entfärbte und eiii*^
gedunstete Flüssigkeit ergab nach längerem Stehen ^ber Scbwefelsätife
kleine farblose Krystalle. Dieselben lösten sich sehr leicht in Wasser,
auch in Weingeist und Aether. Ihre wfissrige Lösudg reagrrte stark
sauer und fällte weder Kalksalze, noch Kalkwasser. Der Sehmehpünci
lag bei \\\^. Die lufttrockne Säure verlor kein Wasser über ScbwiMI^
säure.
0,2331 grm. geschmolzene Säure ergaben 0,3873 grtn. Kohlen-
säure und 0,1313 grm. Wasser, aus welchen ResuHaten sich dieFormri
Qfi H» O» ableitet
ber.
gef.
€& = 60
45,4
45,3
H8= 8
6,1
6,8
09 = 64
48,5
132 100,0
Die erhaltenen Krystalle besitzen demnach die Zusammensetzung
and den Schmelzpunct der Pyroweinsöure. Ihre Identität damit wird
durch die daraus erhaltenen Salze erwiesen, welche mit denen von
Arppb ^) dargestellten übereinstimmen. Ich habe mir zur besseren Ver-
gleichung der Salze die gleichen aus Pyroweinsäure , welche durch
trockne Destillation erhalten war , dargestellt. Die Darstellung dieser
Säure anlangend erwähne ich, dass man eine grössere Ausbeute erhält,
wenn man die mit Bimsstein gemischte Weinsäure aus dem Oelbad
bei 200— 21 0 0 langsam destillirt, als wenn man die Destillation über
freiem Feuer ausführt. Ich erhielt an Pyroweinsäure 10% der ange-
wandten Weinsäure (während Arppb nur 7% erhielt) und fast gar keine
Brenztraubensäure.
Saures Ammoniaksalz.
Von zwei gleich grossen Mengen Säure wurde die eine in Wasser
gelöst, mit Ammoniakflüssigkeit genau neutralisirt und der Lösung die
andere Hälfte, zugefügt. Das Salz kam beim Verdunsten in schönen,
blättrigen, farblosen Krystallen. Sie verwittern nicht an der Lufl und
verlieren weder über Schwefelsäure noch beim Trocknen bei 100^
Wasser. Ueber 130<> erhitzt scheint die Zersetzung zu beginnen.
Das Salz ist also wasserfrei wie das pyroweinsäure Salz.
K) A. E. AnfPE, De acido pyrotartarico. SpecimeA academicam. Helsiag-
forsiae f S47.
Eiuwirk. couc. S«lisiliiTe auf Vmns&ure. 291
IK« wassrig^ t^sone dbMMure wurde daroh IdDgcres Kocbeo mii
kbbtetiMttrdm Baryt i^€an*aiisin und cKe fiitririe Lösung »ir Kryatalli-
saiioti bingesteHl.
Das Salz krystallisirte in kleinen kömigen , glänzenden KrystaUen,
belebe sich leiebt in Wasser, ■teht in Alkohel lösten.
0,659^grin; hifttrookTie KrystaUe verloren nach Hftngerem Sieben
über Schwefelsäure 0,0309 grm. und bis ISO» erbttot 0,0546 grifi. =
19,9% Wasser. Darüber hiDaiisi bis 200 o erwärml fand keiftGewicbts-
Verlust mebr statt. Sie binterKesaeb nach dem Glttben 0,4tS5.grm.
BaO, GO^ entspr. 0,3235 grau BaO «» i9,6 %.
BaO 50,5 49,6
HO 41,0 42,2
Es entsprechen diese Zahlen der Zusammenselzung
2 BaO, €öH«0« + 4 HO,
weiake tecb Aarr» gefuden bat.
> <•
Saures Barytsalz.
Von 2 gleichen Mengen Säure wurde die eine in Wasser gelöst,
mit kohlensaurem Baryt neutralisift und der filtrirten Lösung die andere
Portion zugefügt. Das Salz kryslatlisirt aus der bei gelinder Wärme
dMilioh weit abgedampften LösuQg in wanenförmi^ gmppirtenKry-
siiiKchen. Wege« der gana gfeiehoD Gestalt dieser KrystaUe mit den von
Aarrs «rhahene« habe ieb. nur eine BarytbestioiDUUig ausgeführt.
0,4515 gns. lufUrocknen Sal&ea gaben
0,81 Vd » BeO, G02, enfeapreohead
0,164» » BaO « U,i%.
bareohn. get
BaO «B 35,44 36,5.
Die von den Krystallwarzena):)gegossene Flüssigkeit gab beim wei-
teren Abdunsten über Schwefelsäure krystallinische Krusten, deren
Analyse fplgendc Zahlen lieferte :
0,1462 grm. lufttrocknes Salz verloren bei 105 <> 0,0137 grm. und
bei 1250 noch o,0047grm., zusammen 0,0184 grm. ss 12,6%Was8er.
Nach dem Glühen hinterblieb 0,0630 grm. BaO, GO^ entspr.
0,0497 grm. BaO « 33,4 «/o-
Danach enthält dieses Salz 3 Mgte. Krystallwasser.
her. gef.
HO 11,9 12,6
B|«) »3,8 34,0
I»*
292 \, H. Rteimiiii,
Bei eiDor anderen Darsiellung^t'hieii ich dadurch, dass ich die noch
aiieviKch verdtliinte Salzlösung ohne Anwendung voa Wärme, soildeiti
niar über Schwefelsäure eindunsten liess, dfe Er^tallwarzen gar nicbli
sondern nur krystaliinische Krusten , deren Analyse folgendes Besullat
ergab :
I. 0,3H5grm.[uftir. Substanz verloren bei 4 05 <^ 0,0 4&$gnB. Wasser»
bei weiterem Erhitzen niohts mehr. Sie lieferten 0,4534 grm.
daO, SO' entspr. 0,4005 grm. BaO s 32,3%.
II. 0,4810 grm. lufttr. Salz gabm beim Glühen 0,0778 grm. BaO,
GO^ entspr. 0^0608 grm. BaO » 3S,7 %.
Es entspricht dies der Zusammensetzung
BaO, €»H7 0»-|. 4 HO.
b^rechn. gef.
I. a.
BaO 38,5 38,3 32,7
HO 45,3 44,6
•
Demnach existiren also ausser dem von A Vfts eriialtönto Baryitelt
mit 8 Mgtn. Krystallwasser noch solche mit 3 und 4Mgtn. Wasser. Ihre
Bildung hängt wahrscheinlich ab von der Temperatur und von derCon-
centration der Lösung.
. ■ .1 '
Neutrales Bleisalz.
1 d
' Es wurde dui^h Umsetzung äquivalenter Mengen des neutralen
fVdtronsalzes mit neutralem essigsaurem Bleioxyd dargestellt. 3 bis 4
Stunden nach dem Mischen der beiden Salzlösungen war das Sali in
farblosen glänzenden Nadeln abgeschieden, genau wie das pyrowein-
saure Bleioxyd von Aippb. Die Rrystalle lösen sich in heissem Wasser
und scheiden sich beim Erkalten als solche wieder aus. Weingeist ßillt
aus ihrer Lösung, das Salz amorph.
I. 0,7578 grm. lufttrocknes krystallisirtes Salz verloren beim Erhitzen
auf 4 40—1450 0,0733 grm. sx 9,7% Wasser und gaben 0,6094
grm. PbO, S03 entspr. 0,4488 grm. PbO = 59,2%.
II. 4,4 576 grm. des durch Weingeist gefällten lufttrocknen Salzes gaben
0,9440 grra. PbO, S03 entspr. 0,6947 grm. PbO = 60,0%.
berechn. gef.
I. II.
PbO 60,0 59,2 60,0
HO 9,6 9,7 —
Es hat demnach das Salz auch die gleiche Zusammensetzung wir
das von Aeppr untersuchte, nämlich
2 PbO, €*H«0«+ 4wi.
ßiiiwkk. eouo. S«tu&afe u^raobeosliire. %%d
11. Tre^ub%nsäure.
DieVeränderung^inF«lohe die Traubensäure erleidet ist der, welche
bei der Weinsäure ^Kbaehtet wurde, gleich, nur beginnt die Zersetzung
erst bei höherer Temperatur, nämlich 130^, und ist frtlher, schon bej
160<), beendet. Die stärkste Zersetzung findet auch hier zwischen HO
bis 450<>C:LSlatt. Die entwickelten Gase waren auch hier Kohlensaure
und Kohfenoxyd. Nach dem Erhitzen auf 160 0 wurden die Bohren ent-
leert, da die Reaction beendet war und der Inhalt wie oben angegeben
behandelt. Es wurden farblose Ki^stalle erhalten von gleichem Aus-
sehen wie bei der Weinsäure. Ihr Schmelzpunct lag bei 4H — HS"».
0,2447 grm. geschmolzener Säure geben bei der Verbrennung
0,4011 grm. Kohlensäure, entspr. 0,1094 grm. Kohlenstoff = 44,9%
und 0,1349 grm. Wasser, entsprechend 0,01499 grm. Wasserstoff
Das entspricht der Zusammensetzung der Pyroweinsäure , mit
welcher die Krystalle auch in ihren sonstigen Eigenschaften überein-
stimmten.
berechn.
gef.
€» >B 60
45,4
44,9
HS -1 8
6,<
6,1
0» s 64
48,5
432 100,0
Die Bildung der Pyroweinsäure aus Weinsäure und Traubensäure
durch Einwirkung von Salzsäure scheint der durch trockne Destillation
analog zu sein ^) .
Nach'VöLKBL^) erleidet die Weinsäure bei der trocknen Destillation
zwei von einander unabhängige Zersetzungen
4^4H4 0io » €2H*0* -+- €0* -i- €0^
und
2(€3H4öe) s €«H8 0« -h €0*
Die erstere Zersetzung scheint bei der Einwirkung von Salzsäure
auf Weinsäure nicht stattzufinden, wenigstens konnte ich keine Essig-
säure beobachten, hingegen wird die Bildung der Pyroweinsäure wohl
nach der zweiten und dritten Formel vor sich gehen. Es gelang mir
i) Diese Analogie hat Grabe (Annal. d. Cbem. u. Pharm. Bd. 189 p. 484]
auch für die Salioylsäure, Oxybenzoäsäure, Paraoxybenzot^tire and Carbohydro-
chinonsttnre beobachtet.
i« Annnl. d. Cham. u. Phnrm. R«1. 89. S. 57.
■-^
indess nicht, das Zwischenglied , '\iift BrenztraubensSure zu isoliren.
Ich unterbrach einmal die Einwirkung sdhonjjei 140^, da es v^ahr-
scheinlich schien, dass bei dieser Temperatur d)^ Brenztraubensäure
noch nicht zersetzt sei, dasselbe vielmehr erst zwischen \ 40 — 1 45 ® ge-
schehe, als der Temperatur, bei welcher die grOssteKohlensäureentwicke-
lung beobachtet worden war. Nach dem Abdampfen des Röhreninhalts
erhielt ich aber auch da einen Krystallbrei, der fast nur auMrenzwein-
säure und unzersetzter Weinsäure bestand.
Die bei längerem Stehen über Schwefelsäure noch vorhandene ge-
ringe Menge einer nicht krystallisirenden , syrupförmigen Substanz,
welche den Brei durchtränkte , kann wohl Brenztraubensäure gewesen
sein. Ihre Menge war aber so unbedeutend , dass eine Trennung und
weitere Untersuchung nicht möglich war.
Das Auftreten von Kohlenoxyd neben Kohlensäure ist wohl durch
eine secundäre Wirkung bedingt , welche auch die Ursache der Ent-
stehung der kohligen Materie sein kann.
Von chlorhaltigen Producten hat sich nirgends etwas wahrnehmen
lassen. Die Einwirkung der Chlorwasserstoffsäure verläuft also anders,
wie die der Brom wasserstoffsäure^).
Jena, im März 4868.
4; V«rgl. Kbkole. Annal. d. Cbem. «. Pharm. M. ISO. p. B*.
i«.
r
IM^r Eeimg der Hwkelfascr darck dei MMtaitei StMii.
Von
Dr. Th. W. Engelmann
io Utrecbt.
Ein Versuch am Froschsartorius, den ich zur Entscheidung der Frage
nacb dem Ort der Reizung in der Muskelfaser bei Schliessung undOeff-
nung eines constanten Stromes, ira vorigen Jahr anstellte und in dieser
Zeitsdirift ^) publioirle, hat Abbt veranlasst, eine längere Untersuchung
über denselben Gegenstand vorzunehmen. Die Resultate seiner Unter-
suchiing sind im Archiv für Anatomie und Physiologie von 4867. p. 688
flg. Baitgetheilt. Es sei mir erlaubt, zu dieser Arbeit einigeBemerkungen
zu machen.
Der erste Punct betrifft die Beweiskraft meines Versuchs. Abby ist
durch einiges Nachdenken zu der Ueberzeugung gekommen , dass der^
selbe das nicht beweise, was er solle. Der Versuch um den es sich
bandelt, besteht darin , dass ein Froschsartorius frei aufgehängt, nahe
seinem obem Ende, am rechten und linken scharfen Rand , mit zwei
Blekirodeii berührt und nun durch Schliessen oder Oefffaen einer
aohwacfaen constanten Kette gereizt wird. Es zeigt sich dann, dass der
Muskel bei der Schliessongszuckung conoav nach der Seite der nega-
tiven Elektrode, bei derOefihungszuckung ooncav nadi der der positiven
sich krttanrnte.
Abby meint, hieraus kttnne man nur folgern, dass bei der Schlies-
sung die an der negativen Elektrode gelegenen Fasern stärker als die
an der positiven gelegnen zuckten.
Ich habe hiergegen nidits einzuwenden. Dass der Versuch in der
erwlthnten Form in der That nicht mehr beweisen konnte, das lag so
sehr auf der Hand, dass ich es der Erwähnung nicht für werth hielt und
es. war mir um so besser bewusst, als ich nicht durch ein Spiel des
ZufaDs, seodem durch Ueberlegung auf den Versuch gdiiommen war.
%) Btl III last pag 44 S.
296 mjh. W. EngeloftRU, ^
Ich musste den Versuch deshalb inodifipiren, damit er wirklich den Satz
bewies oder widerlegte, dass Schliessihigsreizung nur am negativen,
OeShungsreizung nur am positiven Pol statthabt piese Modificaiion,
welche einfach darin bestand, dass der Muskel der Länge nach in zwei
nur oben zusammenhängende Hälften gespalten wara^ von denen nun,
wie sich zeigte, die eine bei Schliessung , die andre bei Oefihung des
Stromes zuckle, — diese Modißcation des Versuchs, deren strengere
Beweiskraft ich allerdings nicht genug hervorgehoben habe, wird von
Aebt ignorirt. Dasselbe thut Adolf Figk in Ganstatts Jahresbericht für
1867 (Abschnitt: physiologische Physik, pag. 94). Auch Pick hat nur
den Versuch am ungespalt^nen Sartorius vor Augen, meint aber, die
Krümmung des Muskels könne »höchstens zeigen, dass die verschie-
denen Fasern desselben Muskels sich nicht gleichzeitig contrahiren,
sondern die, aus denen der Strom in den Draht austritt, zuerst.« Wie
das aus dem Versuch hervorgehen, ja nur wahrscbeinlieh werden kttnne,
ist mir nicht verständlich.
Alles was aus dem Versuch geschlossen werden darf, ist, so viel
ich sehe, nur : dass bei Schliessung die Reizung an der Kathode stärker
als an der Anode, bei Oefihung das Umgekehrte der Falhist. Dass aber
bei Schliessung eines schwachen Stromes in der Tfaat an der positiven
Elektrode keine, beiOefi'nung an der negativen Elektrode keine Erregung
zu Stande kommt, das beweist erst die beschriebene Hodification des
Versuchs, welche von beiden Forschern nicht berücksichtigt wird.
Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen , gebe ich hier die
Erklärung des Versuchs. Sie setzt nur voraus, dass man erstens den
Bau des Sartorius, zweitens die Vertheilung des elektrischen Stromes
im Muskel bei der gegebenen Versuchsanordnung, und endlich den Satz
kenne, dass sehr geringe Diditigkeitsscbwankungen des elektrischen
Stromes die Muskelsubstanz nicht mehr erregen.
Ueber den Bau des Sartorius brauchen wir kein Wort zu verlieren,
wohl aber erfordert der zweite in Verband mit dem dritten Punct eine
kurze Betrachtung. In unserm Versuche wird der Muskel nur in sehr
geringer Ausdehnung, nämlich an zwei kleinen , einander gegenüber«-
liegenden Stellen seiner beiden scharfen Ränder, von den Elektroden
berührt. Hieraus ergibt sich mitfierücksichtigung der Gesetze der Strom-
vertheilung Folgendes. Der Strom tritt bei Schliessung der Kette mit
grösser Dichtigkeit in die von der An o d e berührten Fasern e i n und ver-
lässt jede von diesen Fasern mit geringerer Dichtigkeit auf ihrer der nega-
tiven Elektrode zugekehrten Seite, um mit lioch etwas geringerer Dioh*-
tigkeit in die nächsten Muskelfasern einzutreten. Umgekehrt besitzt der
Strom da, wo er aus den von der Kathode berührten Fasern in die
üeber Reiioug der Muskelfaser duroUiB constaDten Strom. 297
negative Etekirode aus t ritt , ejpe Jr^ssere Dichtigkeit als da, wo er in
diese Fasern eintritt. In di£|/9(ligen Fasern aber, welche genau in der
Mitte zwischen beid^^TSlectroden liegen, wird der Strom, — vollkom-
mene Symmetrie drt* Anordnung , wie sie in unserm Versuch nahezu
hergestellt ist, v0*ausgesetzt — , mit derselben Dichtigkeit eintreten, mit
der er sie wieder verUsst, und zwar wird der Strom an dieser Stelle
die geringrte Dichtigkeit im Muskel haben. Unter allen Umstanden ^ird
alMi die reizende Stromschwankung am steilsten sein da, wo der Strom
in die von der Anode berührten Fasern eintritt und da wo er aus den
von der Kathode berührten Fasern austritt. An beiden Stellen wird die
Dichtigkeitsschwankung unter den angegebenen Versuchsbedingungen
nahezu gleidi gross sein. — Findet nun bei Schliessung eines constanten
elektrischen Stromes Erregung sowohl an der Eintrittsstelle desselben
in die Muskelfaser, als an seiner Austrittsstelle statt, so müssen. sich so*-
wohl die an der Anode wie die an der Kathode gelegenen Muskelfasern
zusammenziehen. Der Versuch lehrt aber, wie wir gesehen, dass nur
die an der Kathode liegenden Fasern bei der Schliessung zucken. Dass
der Versooh nur bei Anwendung schwacher Ströme gelingt, versteht
si(A von selbst. Ueberschreitet die Stromstärke ein gewisses Maass, so
werden beim Schliessen der Kette auch die an der positiven Elektrode
gelegenen Fasern zucken müssen ; denn hier ist dann die Dichtigkeits-
schwankung des Stromes audi an den Stellen, wo er aus den von der
Anode berührten Fasern austritt, noch gross genug, um erregend zu
wiriLOA. Immerhin werden aber diese Fasern schwächer zucken, als die,
welche an der negativen Elektrode liegen. Darum gelingt der Versuch
am ungespaltenen Sartorius innerhalb weiterer Grenzen der Strom-
starke. Für die Richtigkeit unserer Ecklärung spricht, dass man
den Versuch auch in folgender Weise so einrichten kann, dass bei der
Schliessung eines schwachen Stromes nur die an der positiven Elektrode
gelegenen Fasern zucken und erst bei AAvendung stUrkeret Ströme
auch die an der negativen Elektrode. Dazu braucht man nur die nega-
tive Elektrode mit sehr breiter FUche , die positive aber mit scharfer
Spitze an den Muskel anzulegen. Hier ist dann die Dichtigkeit des
Stromes da, wo er aus den von der Anode berührten Muskelfasern aus-
tritt, grösser als an den Stellen, wo er die von der Kathode berührten
Fasern verlflsst. Bei schwachen Strömen geben deshalb allein die an
der positiven Elektrode gelegenen Fasern Schliessungszuekung. — In
umgekehrtem Sinn wirkt natürlich Verbrriterung der positiven., bei
spitzer negativer Elektrode. — Man stellt diese Versuche am bequemsten
mit den unpolarisirbaren Thonstiefelelektroden von vst Bois an. —
Wir kommen nun zu den Vorsueben , welche Akby angestellt hat.
298 Vtaif b. W. EiigeliHftiin,
Mit Vet*gnttgen oonstattren wir zuerst^ dass A»ir auf anderem We^
sich davon Qbereeugt und bewiesen hat, dass bei ScMiessung schwacher
Ströme die Erregung nur an der negativen Elekl?l|de, bei Oefibnng nur
an der positiven stattfindeit. Die Versuche von Abkt sollen aber noch
mehr beweisen. Sie sollen beweisen, dass bei Schliessung st&krkerer
Strome die Erregung auch an der Eintrittsstdle des Stromes in die
Üfuskelfaser stattfindet, wenn schon im Allgemeinen sehwäclier als an
der Austrittestelle. Es wtlrde demnach nur ein quantitativer Unterschied
zwischen der Grösse der Erregung an den beiden Polen bestehen. —
Eine nähere Betrachtung der AKBt'schen .Versuche zeigt indessen , dass
sie diesen Beweis keineswegs Hefem.
AsBT suchte zuerst festzustellen, ob »ei« Unlersdiied in der
Stärke der Zuckung vorhanden sei, je nadidem sie im Gebiete des
einen oder des andren der beiden f oie auftrete.« Er klettinvte dam
die beiden (H>erscbenkel etnes * curarisirten Prosdhes , nach Ent^
femuog des grössten Theils der feroora dnrch eine subeulane Ope-
ration , mittelst des Beckens fest and bracbte sie mit den beiden He*
be^ eines Myographion in Verbindung. An dieunteren Endender beiden
Schenkel wurden die beiden Drähte einer galvanischen Batterie geleitet.
Im Kfeis befand sich ein Stromwender. Es zeigte sich nun, dass im
frisehen Pritparat stets der Schenkel, an dessen unterem Ende derStrooi
austrat^ bei Schliessung viel starker als der andere zuekle. Jedenfalls
zuckte auch der Schenkel, durch den der Strom in das Prttparat eintrat
und Aeby glaubt hiemach annehmen zu dürfen, dass in diesem Schenkel
die Sehliessung-sreizung an der positiven Elektrode stanigefunden habe.
Eine sehr einfache Uebertegong aeigt al»er, dass dieser Beweis durchaus
nicht geliefert ist.
Offenbar kemmt es fttr unsere Frage daranrf an, au wissen,
wo der Strom in die zu erregenden Muskelfasern ein-* und wo
er aus ihnen austritt. Acsf scheint zu meinen , dass fttr alle Muskel-
fasern des IVSpartfts der positive Pol an dem unteren Ende des einen,
der negalrve Pol am unteren Ende des anderen Schenkels Hege. Diess
kitoiite aber offenbar höchstens dann der Fall sein, wenn das Prttpavat
«in einziger, tmieisenformiger Muskel wXre, dessen Fasern alle paralld
durch die ganse LHnge des Muskels verliefen, in dem AEST'schen Pr^
parat hat man aber zwei grosse , voükommen von einander getrjennte
Muskelmassen. Der Einfachheit halber ktonen wir, ^me dadurch am
Wesentlicben etwas zn verändern , jeden Schenkel «Is einen einzigen
Mnskel auffassen, dessen Fasern a^He parallel durch die ganze Länge des
Muskels gehen. Beide Muskeln sind an ihrem oberen Ende, am lecken,
durdi emen feuchten Leiter von ziemlich grossem (j^rschnitt verbunden.
Ueber Reiiung der Ma&ikclfaser durcytln eoustanten Strom. 299
Oflki^bar Hegt nän für den Scheakrfran dessen unterem Ende der elek-v
irische Strom ins PräparaL 'eintritt ; die negative Elektrode am obern
Ende, da wo die Fasern am Becken enden. Für den Schenkel aber,
durch den der Strc^ aus dem Präparat austritt, liegt am Becken die
positive Elektrode. An den unteren Enden beider Schenkel hatte Aeby
die Reizungsdrstite angebracht, biese Anordnung musste es mit. sieb
bringen, dass an diesen Stellen die Stromdichte imPrUparatam grössten
war. Nahezu am kleinsten wird, des grossen Querschnitts wegen, die
Stromdichte — und demzufolge auch jede Schwankung derselben —
am Beckenpole jedes Schenkels gewesen sein. Die Resultate der Akbt-
sehen Versuche, sow^eit sie den frischen Muskel betreffen, erklären sich
biernach vollständig unter der Voraussetzung, dass auch bei Schliessu];ig
stärkerer Ströme die Erregung nur am negativen Pole stattfinde. Denn
dass der Sehiehkel, an dessen unterem Ende der positive Strom eintrat,
viel scbwSicher zucken musste als der andere, ist dann selbstverständ-
lich, weil der Strom da, wo er am Becken aus dem Schenkel austrat,
wo also der negative Pol fUr die Fasern dieses Schenkels lag , eine viel
rifringiere t)ichtigkeitsschwankung ausführte, als an der Stelle, wo er
aus Attti zweiten Schenkel in die Drahtleitung austrat.
Die erwähnten Versuche von Akbv sind also principiell falsch , da
Hl ihnen irrthtlmHcherwcise vorausgesetzt wird, dass Anode und Ka-
thode für den Muskel da Hegen, wo dor Strom das Präparat und nicht
da, wo er'die Muskelfasern betritt und verlässt. Sorgt man dafür, dass
der Querschnitt derStrombafan, also die Dichtigkeit an der Eintrittsslelle
in die Fasern derselbe sei , wie an der Austrittstelle , dann zucken na-
tüHich beide Schenkel sowohl bei Schliessung als beiOeffnung ungefähr
gleichstark. Selbstverständlich ist aber an einem solchen Präparate
nMbre Streitfrage niöht zu entscheiden.
Nicht besser steht es mit den anderen Versuchen von Aeby. Um
d^ Einfluss des Kettenstromes auf die einfache Muskelfaser zu prüfen,
fikirte er, ^e dies v. Bfizotn früher schon gethan, die Mitte des Sarto-
rhis durch Einklemmen und brachte an die Enden des Muskels die Lei-
tungsdrähte der Kette. »Bei dieser Anordnung bildete der Muskel in
seiner ganzen Lunge die intrapolare Strecke ; in ihrer Bewegung war
xKese Vollkommen frei, nur dass durch die Klemme die Verschmelzung
der Zuckung der einen Hälfte mit derjenigen der andern verhindert
wurde.« «Aus verschiedenen Gründen erschien es zweckmässig, blos
die eine Muskelhälfte zum Aufschreiben zu verwenden und ihr ver-
mittelst des Gyrotropa abwechselnd die positive und die negative Elek<-
triciUit zuzuleiten. Der Erfolg entsprach auch hier vollständig den Er-
wartungen. Bei derSchlit'ssungszuckung entwickelte Im frischen Muskel
Nn^h. W. Miij
300 ^^^![^• ^^* (''Ugelmaiin,
der negative Pol ausnahmslos elte .viel grössere Energie als der po-
sitive.«
Wie aus diesem Versuch hervorgehen soTfTNiass am positiven Pol
Schliessungserregung, wenngleich in geringerem Gcade als an der ne-
gativen Elektrode stattgefunden habe, ist vollkommen unbegreiflich-
Denn lag die positive Elektrode am unteren Ende der schreibenden
Muskelhälfte, so musste natürlich letztere bei der Schliessung auch
zucken, wenn, wie ich annehme, die Erregung am negativen Pol statt-
fand, der jenseits der eingeklemmten Stelle lag. Die Zuckung musste
aber schwächer sein, weil die Erregung sich durch die eingeklemmte
und dadurch offenbar alterirte Stelle fortpflanzen musste. — Vielleicht war
aber der Muskel an der geklemmten Stelle todtgequetscht. Dann konnte
natürlich eine in der oberen Muskelhälfte stattfindende Erregung sich
nicht bis in das schreibende MuskelstUck fortpflanzen. Offenbar wird
aber, sowie die geklemmte Stelle zerquetscht und dadurch ip einen ein-
fachen Leiter der ElektriciUit verwandelt wird, an dieser Stelle die eine
Elektrode für das zeichnende Muskelstück liegen. Hier besass aber der
Strom, wegen des grösseren Querschnitts, eine geringere Dichtigkeit}
als am unteren Ende, wo der Leitungsdraht den Muskel berührte und
dann war dies der Grund, weshalb die Zuckung schwächer ausfiel,
wenn die positive Elektrode an dem unteren Ende lag >] . Auch in
diesem Falle idt also dieser Versuch von Aebt principiell falsch.
In einem andern , auf pag. 699 beschriebenen Versuche vermied
Aeby die Einklemmung und hing den zeichnenden Apparat an einer
quer durch die Mitte des Muskels gestochenen Nadel auf, während alles
Uebrige unverändert blieb. Es ergab sich dasselbe Resultat. — loh
muss fürchten, den Versuch falsch zu verstehen , denn ich sehe aus der
kurzen Schilderung desselben nicht, wie er in unserer Frage etwas eat-
scheiden kann. Jedenfalls ist er unbrauchbar, da auch in ihm nicht
Rücksicht genommen^ist auf den Einfluss der Stromdichte auf die Grösse
der Erregung. Dasselbe gilt von den auf pag. 701 beschriebenen Ver-
suchen und von den Versuchen am Gastrocnemius (pag. 703 flg.). Hier
werden wiederum die Stellen , wo der Strom au9 der Drabtleitung in
den Gastrocnemius eintritt oder aus ihm in den Draht austritt, telschlich
für die Anode und Kathode aHer Muskelfasern angesehen und auf Grund
1 ] Hieraus erklären sieb aucli die von Akbv an demselben Präparate gefun-
denen Thatsachen ttber den Einfluss verschiedener Stromstärken , vor allem die
Tbatsache, dass, nach der Ausdrucks wefise von Aebt, bei Zuoabme der Strom-
stärke sich der Gegensatz zwischen positivem und negativem Pole immer mehr
verwischt.
Ueb«r Reisung der Mnskelfaser dnith dsjmnslauteii Strom. HO I
dieses MissverstHndnisses eine RejbtMin richtiger Betrachtungen ange-
stellt, die einsein zu widerlegen 'wir uns ersparen können.
Endlich hat Akbt |fRh zeitmessende Versuche angestellt. Die einen
dieser Versuche w'uj;den an dem oben beschriebenen Präparate ange-'
stellt, welches aqs zwei durch das Becken verbundenen Oberschenkeln
bestand. Es zeigte sich, wie nach dem oben Gesagten auch gar nicht
anders zu erwarten war. dass beide SebenM genau gleichzeitig zu zucken'
Iftogamien. — Eine zweite Reihe von zeitmessenden Versuchen wurde
im Wesentlichen nach der BszoLB'schen Methode angestellt. Doch be-
nutzte AiBT statt eines Muskels zwei: es waren die Adductoren des
Frosches oder die Schulterblattheber des Kaninchens. Sie wurden »frei
prflparirt und vermittelst des zwischen ihnen liegenden Skeletab-
schnittes durch eine Klemme befestigt. Jedem der beiden Muskeln
wurde einer derMyographionhebel angehängt und am freien Ende einer
der Leitungsdrähte zugeführt. Dadurch wurde das untere Ende des
eiaen Muskels positiv, das des andern negativ, während das obere Ende
natttrlich entgegengesetzte Verhältnisse darbot.« Hier verwechselt abo
Abbt die Pole des Präparates nicht mehr, wie in den früheren und den
eben vorausgegangenen Versuchen , mit den Polen der Muskelfasern.
Beide Muskeln wurden durch eine Klemme dergestalt in zwei Hälften
zerlegt» dass nur die untere Hälfte ihre Thätigkeit auf den Apparat zu
tibertragen vermochte. Aus leicht ersichtlichen Gründen musste sich
nun ein zeitlicher Unterschied im Anfang der Zuckungen beider zeich-
nenden Muskelhälften ergeben, wenn bei Schliessung und Oeffnung des
Stromes die Reizung nur an einem Pole stattfand. »Das Resultat war
in zahlreichen Versuchen ein durchaus constantes. Bei keiner Reizungs-
grösse Hess auch nur der geringste Unterschied in dem zeitlichen Beginn
der beiden Zuckungen sich wahrnehmen.« — Wir heben zunächst her-
vor, dass dieser letzte Satz mit Abbv^s eigenen Angaben in Widerspruch
steht. Denn Azby gibt selbst zu , dass bei schwächeren Strömen die
Schliessungserregung nur von der negativen Elektrode ausgehe. Er
hätte also wenigstens bei kleineren »Reizungsgrössen« einen zeitlichen
Unterschied wahrnehmen müssen. Vielleicht war aber auch in diesen
Versuchen der Muskel an der eingeklemmten Stelle todtgequetscht und
damit der obere Pol jedes Muskels vom Becken nach der Klemme ver-
legt. Auch wenn nur ein Theil der Fasern dui'ch die Klemme todtge-
quetscht war, musste für diese Fasern wenigstens der obere Pol an der
Klemme liegen, und es hing von der Grösse der reizenden Dichtigkeits-
schwankung des Stromes an dieser Stelle ab , ob hier Erregung statt-
fand. Falls die Fasern aber hier erregt wurden, mussten natürlich
beide Schreibhebel sich gleichzeitig zu lieben beginnen. — Man könnte
302 ^ --Uf-Th. W. K
auch darao denken, dass dicMus^lnoichlsUrk. genug oitlCurflre ver-
giftet waren, i^m so mehr, als Aebv vot^iiler, allordiogs sttlbstverEUnKt-
liehen Vergiftung nichls cr%väiint. Wio dem aMt) sei , wir sehen , dass
auch durch dio^ Vt^rsucho der Beweis nicht slröug geliefert ist, des
Aebv geben wollte, und dass ihre Resultate d>enso wi«,die der anderen,
auf falschen Voraussetzungen fussenden Experiment« von Aebt sieb
unter der Annahme erklären Ivsen, dass im frischen Muskel die Sahlies*
sungserreguDg nur an der negativen, die Oeffnungscrregang — vrm-der
wir, da sich alles darauf BeBÜglicho von selbst ergibt, nicht weiter ge-
redet haben — nur an der positiven Elektrode stattfiode'}. — Die
Fr^e, wie sich beim ermüdeten und absterbenden Muskel diesaV«^
himnisse ändern, muss weiteren Untersuchungen zugewiesen wafden.
Es bleibt iws nur noch übrig, einige neue Versuche zum Beweise
des von uns vcrtheidigten Satzes mitzutheilen. Das Princip dieser Ver-
miede ist nicht neu. Es ist im Wesentlichen dasselbe, welches von Bb-
lOLD zar Entscheidung unserer Frage angewendet wurde. Docbbrancti-
ten wir nicht das HBLMHOLTS'sche Hyographion , sondern ein gewOhn-
Hches Kymographion in Verband mit der Stimmgabel als Chronoskop.
Beifolgender Holzschnitt wird die Versucbaanordnung am Besten er-
tantern.
■■ Kg. I.
I) Die Versuehe von Csidybad, aaf wtlche Atit an«pifll(, ««rea mir uaia-
kannl geblieb«» Mod erst Herr Cbiiivkau «elbsl oiBchte mich bei «eimm Beiacli
Id ütrecbl imSeplember 1867 auf sie eurmerksam, als ich ihm m einen SfrtotiuS'
versuch zeigte. Die GHAii?E*D'9ciien Versuche, unter denen mehrere sehr iDstru"-
tive sich boflnden, leiden an denselben principiellenFehiern wie die vonAEii^ leip
einziger von ihnen bewtisl, dass bei starken StrCmen die SchHessungsorregoW
BQcb BD der Eintritlsstolle des Stroms in die Husfcel- oder Nervsabwr gtattbriie'
Ueber Reiiung der Muskelfusrr diircMairtonstaiiteD Strom. 303
CO ist der mil einem bef usstoo^apierbogen Überzogene GyHnder
des Kymographions. Der Cylilfider ist ausser Verband mit dem Uhr-
werk gesetzt und kani^öH der Hand gedreht werden. Aufderberussten
Papierfläehe werden von drei feinen Spitzen dicht Übereinander drei
Gurven gezeiehnet. Die oberste Spitze gehört zum Muskelbebel h und
verzeichnet die Zuckungscurve. Auf der mittleren Gurve , zum Inter-
*
ruptor I gehörig, wird der Moment der Reizung verzeichnet. Die untere
VäUr, an einem Arm der Stimmgabel s befestigt, registrirt die Zeit;
Die Reizung geschieht in folgender Weise. Von der Kette K führt
ein dicker, kurzer Kupferdraht zur Sflule a eines Unterbrechers, wie sie
an den Schlittenapparaten von dc Bois 9ich befinden. Von hier geht
der Strom durch die Feder t nach der Ptatinspitze 6 und von da durch
emen dicken, kurzen Rapferdraht nach dem QuedLsiibemäpfchen c, von
wo der Strom nach der Kette zurOckkebrt. ^ Der Strom kann nur bei
b udterbrocben werden, indem die Feder t niedergedrückt wird. Dies
kann in bekannter Weise geschehen , indem man das weiche Eisen m
durch den Strom einer starken Kette magnetisch macht. Es genügt aber
auch, die Feder t mit dem Pinger oder einem Stäbchen rasch nach unten
zu drücken. Im Moment, wo dies geschieht, und damit der Gontact von
b und t aufhört , ergiesst sich der Strom in die Nebenschliessung , in
welcher sich der Muskel befindet. Der Strom geht dann von a durch
die Wippe IV zum Muskel if, durchfliesst diesen in seiner ganzen Lange,
geht zurück zur Wippe und durch das Quecksilbernäpfchen wieder
zur Kette. Der Muskel ü, der Sartorius eines mit starkor Dosis Curare
vergifteten Frosches — wird am oberen Ende d durch die breile Klemme
meines Muskelhalters ^) fixirt. An einer bestimmten Stelle seiner Länge
wird er durch die schmale Klemme AT desselben Instrumentes vorsichtig
soweit eingeklemmt, dass bei alleiniger Zuckung des oberen Muskel-
stücks der Hebel h sich nicht bewegen ,* die Erregung sich aber durch
die eingeklemmte Stelle fortpflanzen kann. Das untere Muskelstück zieht
an einem leichten Schrolbbebel von Holz, der sich bei x um eine feste
horizontale Axe dreht. Ein dünner Kautschukstreifen, der dicht bei x
quer über den Hebel ausgespannt wird, in der Figur aber nicht ange-
deutet ist, sucht den Hebel nach abwttrts zu drücken und erlaubt so,
das schreibende Muskelstück d«rch Heben oder Senken der Klemme k
bis auf seine normale Länge aussudebnen.
1) Eine Beschreibang und Abbildung diesfs kleinen lostnimeDtes findet sich io
der Arbeit von Dr. T. Pucb, de contractiegolf der willekeuiige Spieren. Nederl.
Archief voor genees-en naCuurk. D. Hl. ISST. p. 989. — S. auch: Onder-
zoekiogen, gedaan in betphysiologMcb lahoratorium der Utrecht'aehe hoogeschool.
;$U4 "ftk Tli* W. Engelmaim,
Vor Beginn des Versuchs soi^Lpiaii, dass die drei flicbretbenden
Spitzen bei ruhendem Cylinder genau In ejner vertikalen Linie über-
einander stehen. Ist dies der Fall, so wirdlÜ^ Stimmgabel ^ durch
rasches Hervorziehen eines zwischen ihre Arme gehemmten HohklOtz-
chens, in Schwingung versetzt, der Cylinder rasch um^etwa 90 bisi80<)
gedreht und während der Bewegung des Gylinders der Strom bei 6
unterbrochen. Nun wird die Wippe umgelegt, Stimmgabel und Cylinder
wieder in Bewegung versetzt und die Feder t wieder niedergedfttidce:
Man erhält so, rasch nach einander, zwei Zuckungscurven . Bei der zweiten
Reizung fiiesst der Strom in entgegengesetzter Richtung als bei der
ersten durch den Muskel. Findet nun die Erregung bei Schliessung des
Stromes auf der ganzen intrapolaren Strecke statt, so muss in beiden
Fällen cUe Zeit zwischen Moment der Reizung und Beginn der Zuckung
des schreibenden MuskelstüdLS gleichlang sein, nicht aber, wenn die
Erregung nur von einem Pole ausgeht. Liegt der positive Pol am un-»
teren Ende des zeichnenden Muskelstucks, dann moss die Schlies^ungs--
Zuckung selbstverständlich später kommen, wenn die Erregung nur am
negativen. Pol geschieht. Denn sie muss sich dann durch die ganze
Länge des zwischen den Klemmen befindlichen Stückes und durch die
untere Klemmstelle ^bst fortpflanzen, ehe sie zum schreibenden Muskel-
stUck kommt.
Die Versuche, welche ich hierüber angestellt habe, beweisen, dass
selbst bei Schliessung starker Ströme die Erregung in der frischen
Muskelfaser nur an der negativen Elektrode geschieht. Zum Beweise
dafür habe ich hier die Anfangsstücke von vierCurven abdrucken lassen,
welche von ein und demselben Sartorius rasch nach einander gezeichnet
sind. Der erregende Strom ward von' drei hinter einander verbundenen
kräftigen DANiBLL^schen Zellen geliefert, und gab maximale Schliessungs-
zuckung. Das zwischen den Klemmen befindliche Stück war 7 Mm.
lang. Bei der ersten und dritten Reizung lag die positive Elektrode, bei
den beiden anderen Reizungen die negative Elektrode am unteren Ende
des schreibenden Muskelstücks. Die Stimmgabel machte 250 Schwin-
gungen in der Secunde.
Wasilehren nun die Gurven? Bei Curve L liegen zwischen Mo-
ment der Reizung und Beginn der Zuckung 5.7 Stimmgabelschwingungea
= 0.023Secunden, bei Curve IL nur 4.3 = 0.04 7 Secunden, bei Curve
m. 6.5 = 0.026 Secunden, bei IV. wieder nur 4.3 = O.OH Se-
cunden. — Diese Zahlen bestätigen vollkommen das von uns ver-
theidigle Gesetz. Denn wenn in Curve I. die Erregung, wie wir an-
nehmen, am oberen Ende des nicht schreibenden Muskelstücks stattfand,
Ueber Reboog der Huskelfitscr durdf den fonstnnleti Slrom. 30^
dann masste sie ein 7 Mm. langes
Muskelsttlck durcblat^fan , bevor sie
sich am Hebel verratben konnte. In
ilerTbat beginnt d(e Zuckung in I, um
(I.OOSSecuniJen spölerals fnCurvell.,
wo die ReiMing nach unserer Vorslel-
lung-rilein von dem unteren Ende des
schreibenden Muskelstücks ausging').
In Curve III., wo die Reizung wieder
am oberen Ende des nicht zeichnenden
Huskelabschnilts geschah , dauert e.«
noch 0.003 Secunden langer als bei I.,
also 0.009 Secunden länger als bei II.,
ehe die Zudiung beginnt. Diese gros-
sere Verzt^erung ist offenbar denVer-
ünderungen des Muskels an der ein-
geklemmten Stelle k zuzuschreiben.
In Folge der fortdauernden Quetschung
wird das Leitungsvermtigen für die
Erregung an der geklemmten Stelle
verschlechtert: die Erregung braucht
längere Zeit um sich durch eine ge-
quetschte, als um sich durch eine gleich p, j
lange, normale Muskelstrecke hindurch
fortzupflanien. In IV. dagegen beginnt die Zuckung wieder, wie in II.,
0.017 Secunden nach der Reizung; denn hier, wo die Erregung, nach
unserer Annahme, wieder am unteren Ende des schreibenden Muskel-
stUcks stattfand , konnte sich der schHdIi'che Einfluss der Klemmslelle
nicht mehr äussern.
Wir lassen uns an diesem einen Beispiel, dem wir leicht weitere
beifügen kttnnten genügen. Was unser Versuch am gespaltenen Sarlo-
rius fUr schwache Strome bewies, gilt nach diesen zeitmessenden Ver-
suchen auch für starke StrOme. Wir halten den Satz, dass im frischen
Muskel Schliessungscrregung nur am negativen, OefiTnungserregung nur
an) positiven Pole stattfinde, um so strenger aufrecht, als es immer wahr-
scheinlicher wird, dass dieser Satz nur ein specieller Fall eines allge-
I] Am der Zelt von 0.40S SecuDdea ergibt sich zugleich die FortpOanzungs-
Eeschwindigkeit der Erregung Im Muskel, unter den geicbilderten Versuchsbedin-
guogeD lu 1.17 Meter io derSecunde. Diess Btiiuml mit den Angaben vonAikv und
V. Bezold gut Uberein.
Bind IV. a. 30
^6 Dr. Tlu W. £ngeiai%, Ueber Reis. d. HnakelEiw «to,
V
-— X
meinen Gesetzes ist, welches für dlle reizbaren Elemente 4eD Ort der
Scdiliessungs- nnd <Mh«S|[Serregung an 9io>^n- und Austritlsstelie
des Stroms verlegt. Wir ernuiern hier an die Beobachtungen von Kühmb i)
über den Einfliiss oenstanMr Ströme auf gewisse 'C^rotoplasmaki^rper
(Aotinopbrys s. B.), iHidfl^cai hinzu, dass auch für die Flimmorzellen
einige Tbatsaohen, die neoendings^] an das Licht gekomcoftn sind, es
in bobem &ade wabradheinKch maaben, dass diese Elemente demselbfiO
Gesetz gehorchen. Schickt man nämlich durch Flimmerzellen einen
constanten Strom, so besdileunigt sidh bei der Schliessung and bei der
Oeflfhung des Stroms die Bewegung der Giben. Sohliesst man nun un-
mittelbar nach der Oefikiung den Strom in umgekehrter Richtung durdi
die2ellen, so beschleunigt sich die Bewegung viel starker als wenn man
den Strom in der ^dien Richtung wie vorher wieder sohliesst. Diese
Thatsache erklärt sich sehr einfach, wenn man annimmt, dass jede Zelle
da, wo der Strom in sie eintritt , in einen Zustand von herabgesetzter
Erregbarkeit (Anelektrotonus], da wo er sie veriässt, in einen Zustand
eili^hterErregbai^eit (Katel^trotonufi) versetzt wird ') , und wenn man
weiter annimmt, dass die Schliessungserr^ung auf dem Entstehen des
Katel Atrotonus , die OeSnungserregu^g auf dem Verscbwinden des
Anelektrotonus beruhe.
Da es jetst möglich ist^), unter den verschiedensten Bedingungen
am Mikro^op mit unpolarisirbaren Elektroden zu reisen, wttrde es eine
lohnende und nicht schwere Aufgabe sein., auch andere reizbare Ele^
mentarorganismen der Untersuchung ua unierwerfen.
'4) (Jntersuckungeo üft»er das Protoplasma nod die ContractiliUit. IS64.
t) Over de triibeweging. II. In Nederl. Arcbief voor genees-^ea natuark. H.
IV. 4868. p. 407 flgde.
8) Natürlich könnte auch die Rolle der Pole die umgekehrte sein.
4) Vergi. Centralblatt f. d. med. Wiss. 4 868. Nr. S8. — Over de trilbewegiog.
In: Nederl. archief voon genees-en natmti^k. D. IH. '4867. p. 307. — lbid.D. IV-
4 86«. p. 60 flgde.
/
Zar Lekre toi der NerveBdignng m Hnskel.
Von
Dr. Tb. W. Bngelmasin
in Utrecht.
Vor ejoigen Jabrea ') machte ich darauf aufmerksam, dass gewisse
Muskeh;! der Kiffer Trichodeß apiarius und alvearius Nervenendplatten
voD Überraschender Grösse und Zahl besitsen, und dass man an diesen
mit grösster Leichtigkeit den Uebergang des Neurilemms ins Sarkolemm,
d. h. die iou^amuscuiftre Lage der Endplatte demonstrifien könne. Da
die genannten Käfer aber nicht überall leicht xu beschaffen sind , halte
ich es <]er MOhe nicht für unwerth , hier auf andere Objede die Auf-
inerksainkeit Jsu lenken, welche die erwähnten Verhältnisse wenigstens
ebensogut «eigen und zugleich vom Frühling bis zum Herbst Überall in
Menge zu haben sind« £s sind die Raupen vieler Schmetterlinge , so-
wohl die von Tag^ and Nachtfaltern als die von Mikrolepidoptern. Fast
alle Amen von Raupien sind günstige Olij^te ; bei weitem am besten
spheinen aber die glatten, unbehaarten Baupen kleinerer Nadits<dunetr-
tertinga (Noctua und viele andere Gattungen) lu sein. Hier sind die
Esdplptlton an der ganzen RumpC- und Extremitätenmusculatur enorm
entwiekelt. Die einfachste Art, ein gutes Präparat zu bekommen , be-
steht darin, dass man der Raupe ein Bein (am besten eins der stumpfen
HinAerbeine) abschneidet und dasselbe in einem Tropfen Kochsalzl<teung
V9D.4-^1y5% vait sweiNadeln in kleine Stückchen zerzupft. Bringt man
das Präparat nun unter das Mikroskop, so sieht man sogleich die quer-
gestreiften Muskelfasern, die nur von ihren Nerven , hie und da auoh
von Traoheenästchen zusammengehalten werden. Nicht selten ist das
Erste, was man siebt, ein prächtiger Nervenbflgel ; immer aber findet
man wenigstens nach kurzem Suchen dann eine grosae Anzahl von
NervenbügiBb) in den veraohiedenatenLagen, darunter stets gute Flächen-
.■■■■Hill 1^ ■■■■■»
I) Vergl. diese Zcitschrir.t 48««. Bd. I. p. Sil.
40 •
30S \^*-T\i. W. Bngelmann,
und Proßlansichten. Da das AüfSHigen des Präparats bei einiger
Uebung nicht mehr als 10 bis 15 SecundeirZeit nimmt, bekommt man
Nervenhügel immer zur Ansicht, wenn die Muskelfasern noch zucken,
oder wenigstens zuckungsfähig sind. Dieser Umstapd in Verband mit
der ausserordentlichen Grösse der intramusculären Nerv^ndigung machen
unser Object besonders geeignet zu Reiz versuchen. Wir finden vielleicht
später Gelegenheit, hierüber Einiges mitzutheilen. Hier möge nur eini-
ger anatomischer Verhältnisse Erwähnung geschehen.
Wenn es gleich der Mühe nicht mehr werth erscheint , neue Be-
weise für die intramusculäre Lage der Nervenendigung beizubringen,
möchte doch der folgende Versudi, der diesen Beweis in einer beson-
ders sprechenden Weise führt, Mittheilung verdienen. Untersucht man
ein auf die eben geschilderte Weise hergestelltes Präparat von Raupen-
muskeln, so findet man stets eine Anzahl Muskelfasern, welche nur an
einem Ende noch auf der chitinisirten Grundlage festsitzen , mit dem
andern Ende aber, das durch Schneiden oder Reissen geöffnet ist, frei
in die Flüssigkeit hineinragen. Der Inlialt dieser Muskelfasern ist meist
geronnen. Man sieht den Gerinnungsprocess von derRissstelie aus nadi
dem andern Ende der Muskelfaser zu fortschreiten. Zum Versuch wählt
man eine dieser Pasern, welche einen Nervenhügel im Profil zeigt, und
bringt diesen in den Focus des Mikroskops. Nun iässt man piötzllch
einen starken Strom Salzsäure von 0,1 % unter das Deckglas fliessen.
Im Moment, wo die Salzsäure die Muskelfaser erreicht, erblasst diese
(nachdem sie vorher durch Gerinnung dunkler geworden war} , scbwilli
ungemein stark auf, der ganze Inhalt des Muskelrohrs strömt aus dem
offnen Ende des Sarkolemmaschlauchs und reisst die Endplatte mit sich
heraus. Nach einigen Secunden liegt der ganze Muskelinhalt, ein quer— *
gestreifter geschwollner Gylinder vor der Oeflnung des leer zurück-
bleibenden Sarkolemmaschlauchs ; auf dem ausgeflossenen Gylinder reitet
die gleichfalls etwas geschwollene und erblasste Endplatte. Zuweilen
sitzt an dieser noch ein Stück der Nervenfaser an, das durch die Gewalt
des Stroms aus seiner Scheide herausgerissen ward und nun gleichfalls
den Weg durchs Muskelrohr machte. < Besassen die Flüssigkeiten die
richtige Concentration, so erfolgt das Ausfliessen des Muskelinhalts und
der Endplatte so rapid, dass man an daä Abschiessen eines Gesobtitzes
erinnert wird. In andern Fällen, besonders wenn die Säure ein wer.ig
zu stark ist, strömt der Inhalt langsamer aus. Man kann dann oft den
ganzen Process, vom Losreissen der Endplatte von ihrem Nerven an
bis zum Austritt derselben aus dem offnen Muskelrohr verfolgen«' Ani-^
fangs wird die Endplatte durch den stärker schwellenden Muskelinhalt
etwas abgeplattet und gegen die Hügelmembran angedrückt. Ist die
Zur Lehre von der Nervendigtif^ln Maskel. 309
m
Nervenfaser gerade an der EintnlBRälle in den Hügel abgerissen und
hierdurch in der HOgelmiernbAn ein Loch entstanden, so kann ein Thei^
der Eadplatte dorch dieses Loch ausgetrieben werden , ja , wenn das
Muakelrohr an beiden Enden geschlossen ist oder nur einen kleinen
RisebesHit, kann es geschehen, dass die gesammte Endplatte und hinter
ihr her ein grosser Theil derHuskelsubstanz durch das Loch im Nerven-
hügel heraustritt. Gewöhnlich reisst aber der Nerv in einiger Entfer-
nung vorn Nervenhügel ab und dann vermögen die elastischen Kräfte
des Sarkolemms bei geschlossenem Huskelrohr nicht, den geschwollenen
Inhalt der Faser durch die enge Nervenröhre herauszutreiben. Die End-
platte wird dann nur an die Hügelmembran angepresst. Wenn aber
die Muskelfaser am einen Ende ofiTen ist, beginnt derMuskelinhalt lang-
sam auszufliessen. Die fliessende Masse zerrt an der Endplatte und
sucht sie mit sich zu nehmen. Die Platte wird dadurch gedehnt und
reisst endlich ab, entweder oben an der Eintrittsstelle des Nerven, oder
unten, wo sie auf dem Muskelinhalt aufliegt. Zuweilen reisst sie auch
mehr in der Mkte durch. Reisst sie vom Nerven ab, so sieht man sie
Qogleich ans dem Nervenhttgel in das Mnskelrohr und hier dicht unter
dem Sarkolemm hingleiten , bis sie zum offnen Ende des Sarkolemma-
sehlauchs heraustritt. — Fliesst der Muskelinhalt sehr langsam aus,
dann bleibt die Endplatte in der Regel am Nerven hängen und tritt nicht
aus dem Nervenhttgel heraus. — Der Sarkolemmaschlauch zieht sich»
indem der gequollene Muskelinhalt herausfliesst, vermöge seiner Elasti-
citttt stark zusammen und bildet dann eine ziemlich dicke, glashelle,
gefaltete Röhre, deren offene Communication mit dem gleichfalls dicken
Nervenrobr, selbst bei ganz schwachen Yergrösserungen, (^^/i), auf
Profilansichten in unübertrefflicher Klarheit zu übersehen ist. Kommt
es bloa darauf an, zu zeigen, dass die Membran des Nervenhügels und
die Nervenscheide gleichsam nur Ausstülpungen des Sarkolemms sind,
so nimmt man statt der Salzsäure verdünnte Kalilauge. Hier bleiben
nur die leeren Scheiden zurück. Leicht würden sich von solchen Prä-
paraten überzeugende Photograpl^ien anfertigen lassen.
Beim Herstellen des Präparats , durch Zerzupfen mit Nadeln , ge-
schieht es zuweilen, dass der ganze Nervenhügel von der Muskelfaser
abreisst und vsie eine Glocke am Ende der Nervenfaser ansitzt. Hier ist
das Sarkolemm also in dem Umfang durchgerissen, wo es zur Membran
des Nervenhügels wird. Wenn man sieht, dass so etwas selbst bei einer
so dicken Haut wie dem Sarkolemm der Raupenmuskeln geschehen
kann, wird man steh nicht wundem, wenn dasselbe auch bei Wirbel-
Ihierrouskeln zuweilen vorkommt ; man wird sich dadurch aber nicht
310 D^h. W. RiigetmAiin,
«
wie eiT) neuerer Schriftsteller zÜ 9§f)knnBhme verleiten laisseii , dass
der KerveAkttgel bk>s aussen auf das SaTÜMbmQd auf^AM^i sei; t)ä89
auch die Endplatten der Re|>ti'lfeii , Vögel und H^ugetMere* uaiev deei^
Sarkol^mm Kegen, davon wird man sich alliDX61i<$h^ltgbmein Überiett«-
geti^ ^erni mate gamz frische, möglichst gut isolirte Mnskelfaserfr unstet-«
sucht eder sie \tenigstens nicbl hyit FlttsMgkeiten behandelt, die dM
Mtlstelinhalt fest tind dunkel und damit 9^rfe Gontouren maeh^ A?0
während db« Lebens keine sind.
Bin i^eiler Punct , der hier noch zvtr Sprache koim»eiil soll , ist
d^r feinere Bauf des NervenbOgels. Wir atie hatten, von der ganz ab-*
weichendefh Auffassung Kkaüsb's abgesehen, bei der eisten Untei^
suchung angeüiommen, dass dieBndplatte, eine protoplasmaartige MasMi,
die nttmittelbaro VdrbreiteruEig des Axeneylinders sei. Erst Kvmm
fand bei wiederholter Untersuchung, dads man an derEndplalte zweierM ,
untersoheidefn könne : eine verästelte , oft netz- oder plattenförmig«
Attsbreituäg des AxencyKnders und eine granuMrte, gleichsam als Sohlo
für diese dienende Miaisser mft Kernen.
Nui^ wenige Be^acbter haben seitdeln ihre AufmerksamlLeit dieser
A«ist)Veitung des A^encyKVMiers ifn Protoplasma des Nervenhttgels zuge-
wa^dti Einzelne scheinet! sie gar nicht gefunden zu haben, andere wie
RouGBf und HdLLiitZA erklaren sie für ein Kunstproduct. Ich kann mich
in dieser Frage tiur auf S^te Kühns^s stelten. Am besten eignen sieb
die grossen Nervenhttgel der Schlangen und Eidechse zu einer enl-^
scheidenden Untersuchung. An ganz f riechen Muskelfasern eben ge--
tödieter thiere sieht man indessen -^ worin ich im Widerspruch mit
Kchnb bin — b^i keiner Art der Beleuchtung die Verttskilung des Axen-
öyliuders itn Nervenhttgel deutlich , mag man auch die stärksten Im-^
inersionssy steifte gebrauehen . Zu weileot nur erkennt man die erste G^bel-
theilung des Atencylinders in der Nähe der Eintrittsstelle ; der flbrige
liihali des tlügels etischeint matt, kaum kömig. Darin liegen einige
mattglanzende, ellipsoidisehe Bläschen mit centralem Kernkörperdien,
die Kerne des Protoplaidme utid in der Membran des NervenhOgels
einige kleinere, ebenfalls matte Kerne, in der Regel ohne Kernkörper-
oben. Nach einiger Zeit, oft erst nach Stunden tritt die baumförmiga
Ausbreitung desAxedcylinders im Hügel deutüchar hervor; sie erscheint
anfangs ohne Varioositäteh und Ausbuchtungen, nur als ein inatiglän-
zendes Astwerk dichotomiseh veilheiiter Streifen von ziemlich ver-
schlutigenem Veriauf , die sich rückwärts bis in den Axenoy linder der
markhaltigeh Nervenfaser verfolgen lassen. Nach dem Ende zu werden
sie feiner und scheinen ohne Grenze in das Protoplasma des Hügela
überzugehen. Wartet man noch länger, dann verlieren die blassen
Zur Lebra von der Nerveudiggy»<h Muskel. 3 1 1
Fasern ihre parallelen Contourej^^^^clmüren sich vielfach ein, bilden
später Tropfen, auch Schleifen und dann ähnelt das Bild im Nerven-
hUgel einer vielfach dordibrochenen und ausgebuchteten Platte. In
diesem Zustand ist das ganze Gebilde am Deutlichsten. Lasst man eine
Schlange [Tropidonotus natrix] oder Eidechse, nachdem man sie durch
Zerstörung des Gehirns getodtet hat, einen Tag lang liegen , so zeigen
dann fast aUe Nervenhügel, wenn man sie in Kochsalz von 0,5% unter-
sucht, die Ausbreitung des Axencylinders in der letzterwähnten Form.
Später unterliegt die letztere nodi weiteren Veränderungen : die Fasern
schnüren sich mehr und mehr ein und zerfallen endlich in einen Haufen
Tropfen, aus dem die ursprüngliche Form des Organs nicht mehr heraus-
zukönnen ist. Diese Tropfen können auch unter sich wieder zum Theil
verschmelzen und grössere Vacuolen bilden. — Nach der Untersu-
chung möglichst frischer Präparate kommt es mir demnach nicht wahr-
sckeioUcb v€r, dass die Ausbreitung des Axencylinders jemals die
Form einer durchbrochenen ausgebuchteten Platte besitze; Ich halte
diese Form fUr ein Kunstproduct , entstanden aus theilweiser Ver-
klebung, Verschmelzung und Abschnürung einzelner Zweige der
baumartigen Verästelung des Axencylinders. Diese Zweige gehen
wahrsoheinlidb ohne Grenze in das Protoplasma des Hügels über; doch
lässt sich das mit den jeteigen Mittehi nicht 'entscheiden. — Auch an
den grossen Nervenhügeln der Raupenmuskeln kann man, wie ich mich
vor längerer Zeit schon überzeugte, eihe Fortsetzung des Axencylinders
in der kömigen Masse des Hügels unterscheiden. Oft treten zwei, ja drei
Ax/eacylinder mit der Nervenfaser in den Hügel und laufen nun , was
man an frischen in möglichst iDdifTerenten Flüssigkeiten liegenden
Präparaten sehen kann, erst im oberen oder mittleren Theil des Hügels
eine Strecke weithin. Dann theilen sie sich ein oder einige Male nach
einander in kleine Zweige, die gewöhnlich nach unten laufen und sich
im Protoplasma des Hügels verlieren. Nach längerem Liegen zerfallen
auch diese Fasern in Tropfen. Sie sind übrigens viel dünner als die ent-
sprechenden Fasern im Nervenhttgel der Schlangen und nehmen , wie
es scheint, ein relativ kleineres Volum der im Hügel liegenden Masse ein.
\
Kleinere Mittheiluiigeii.
Iir foreuischeM Blagiose des flescUeckts.
«
Von
B. S. Sohultse.
Bis in die neueste Zeit hinein hat wohl keine Branche des tnedicinisohen Wis-
sens so zahlreiche Irrthümer mit sich geschleppti als die gerichtliche Medicin»
So traurig die Thatsache, so plausibel die Gründe derselben.
Keine Branche der Medicin weiset in ihrer praktischen Ausübung den Einzelnen
in gleichem Grade auf subjective Kritik an, und bei Ausübung seines medicinischen
Specialfaches ist der Praktiker, wegen des enormen Urafanges der Disciplin , so
oft darauf angewiesen, sein Urtheil auf Beobachtungen Anderer zu basiren. Nun
ist aber drittens — und das Ist weniger in der Natur der Sache begründet — gegen
allen sonstigen Gebrauch in der gerichtlichen Medicin zum Theil noch heute üblich,
I
Urtheile für Beobachtungen zu registriren ; da kann sich natürlich einlrrthum lange
halten.
> Von dieser sehr allgemeinen Einleitung zu meinem ganz speciellen Thema.
J. L. Ca SP ER, welcher bekanntlich gerade um Ausmerzung von Irrthümern
aus der gerichtlichen Medicin sich bedeutende Verdienste erworben hat, sagt im
zweiten Theik seines praktischen Handbuches (Teratologischer Theil) im Capitel
von der äusseren Besichtigung der Leiche (Seite 101 der vierten Auflage von 4864).
»Das Geschlecht. Dass dasselbe bei ganz von der Verwesung zerstörten
»Leichen nicht mehr zu erkennen, ist bekannt. In etwas niedrigerem Fiiulniss-
»grade ist es zuweilen noch möglich, wenn auch die sexuellen äusseren Weich-
»theile verschwunden, aus dem geschlechtlichen Haarwuchs noch das Geacbleoht
»des Individuums zu erkennen, insofern der umschriebene Kranz von Haaren auf
»dem Schamberg das Weib, die wenn auch noch so geringe Fortsetzung des
»Haarwuchses vom Schamberg bis au den Nabel hinauf den Mann erweist.«
Ich weiss nicht, und halte es auch für belanglos, es zu ermittelu, ob diese dia-
gnostische Notiz mit dieser Bestimmtheit zuerst von Caspes oder von einer ttiteren
Autorität herrührt ; wichtig aber ist es, dass dieselbe vollständig irrig ist.
Unter etwa 100 Schwangern und Wöchnerinnen, welche im ersten Halbjahr
4867 von mir inspicirt wurden, habe ich 5 notirt, bei welchen der Haarwuchs vom
Schamberg bis an den Nabel sich fortsetzte. Die Weiber waren it, fS, 25, 28—28
Jahre alt und konnte über ihren Charakter als Weiber, da sie gebärend von mir
beobachtet wurden, kein Zweifel sein; auch spreche ich natürlich nicht von einem
Haarwuchs, wie ihn die Haut au vielen Stellen zeigt, sondern von einem aus starken,
Ueber die Constitution einiger Siligmi^ibindnngen ete. 3I3
pigroentirteii Haaren bestehenden HaMm^ch», der auf 40 Schritt als solcber zu
erkennen sein wtirde. Unter SS Weib^R, welche am 1. d. M. in meinem Institut
als Pfleglinge sich befanden^ waren vier, von SO, SO, S4 und SS Jahren, bei denen
starke, pigmenti rte Haare,, Aei zweien derselben etwas entfernt sjbehend, bei zweieii
ziemlich dicht, vom Schamberg bis zum Nabel hinauf «ich erstreckten. Dagegen
zeigten ^on 440 kräftigen jungen Männern (Soldaten) , welche heut auf die obere
Grenze des Hsarwuchses am Schamberg untersucht wurden, S4, von 4 9— 18 Jahren,
eine rundlich umschriebene Grenze des Haarwuchses, ohne jede Fortsetzung gegen
den Nabel hinauf. Sehr wohl möglich, dass bei Mttnnern in vorgerückterem Alter
sehr viel häufiger als bei den hier untersuchten die Behaarung vom SchaiAberg bis
an den Nabel sich erstreckt.
Es bleibt ja ttberhaupt ausser Zweifel, dass beiden meisten Weibern der Haar-
wuchs des Schamberges rund endet, wahrend er bei den meisten Männern bis zum
Nabel sich fortsetzt, aber die Häufigkeit der Ausnahmen verbietet, wo
das Geschlecht eines vorliegenden Körpers zweifelhaft ist, aus
der genannten Differenz irgend ein diagnostisches Motiv zu ent-
nehmen.
Ob gar am Lebenden bei mangelhaft ausgeprägtem Geschlechtscharakter die
permanente FormdilTerenz des Haarwuchses zur Diagnose des Geschlechts ver<-
werthet werden dürfe, wie Caspbb- am genannten Orte Th. 1. pag. S6 meint, bedarf
hiemach keiner Besprechung.
Jena, den 4S. Februar 4SS8.
lieber 4ie CeMÜtaÜMi eUget SUicimf erbMOTRea Mdl BMges, was siel Mf
las liichaagsgewicht 4es SlllclaMS besieht
Von
A.Gettth«r.
Die Untersuchungen vonFaisDEL und Grafts M und von Fribdbl und Ladskjcsg")
haben eine grössere Anzahl neuer Vorbindungen des Slliciuros kennen gelehrt und
auf einige dervon Wöblkr entdeckten Verbindungen dieses Elements ein neues Licht
verbreitet.
In der Einleitung der ersteren Abhandlung, in welcher vorzüglich die Producte
beschrieben werden, welche bei der Einwirkung von Siliciumchlorid auf normale
Kieselsäureäther entstehen und deren Wirkung auf verschiedene Alkohole, sagen Fa.
und Gr., nachdem sie ScBBsaEa's neuerer Begründung der Kieselsäuroformel » SiO'
gedacht haben, dass sie nicht gesonnen seien, sich bei der Discussion dieser Argu-
mente auficuhalten, glaubend, man werde vielleicht eine hinreichende Antwort in
4) Annal. de Chim. et de Phys. S. IV. T. IX. p. S.
5) Compt rend. T. LXI. p. 79t ; T. LXIV. p. S4 ; p. S59 , p. 4108 u. T. LXVI.
p. SSO; p 840.
314 '^ AiGeullicr^
der MHthi^lung von Thatsacheo fiaden, ^fSlche mit der Meipun^ ScHE£aER's schyver
ra vereinigen seien. Sie erklären sich dannS^dtter dabin, dass bei der Frage i|ach
diem'Mischmigsgewicht eines Elementes zunächst den' Ch e m i s c h e n BetracbtuQgen
der Vorrang gebüftre, und dass diess eben es gewesen sei , welches sie veranlasst
habe die Versucbe 2tt unternehmen, in der Hoffnung sie würden einigen Verbin-
dttikgen begegnen , welche durch rein chemische Betrachtungen die Mischungs«
gewicfatsfrage des Siliciums zu entscheiden vermöchten. »Wir glauben« fahren sie
dann am Schlüsse fort, »dass es uns gelungen ist zu zeigen , dass die einCacbsten
Formell, welche der t^iesersäure und dem normalen Kieselsäureäther beigelegt
werden können, sind: SiO* und Si 4(€'M'0), und.demgemäss das Atomgewicht des
Siliciums Si ss 28 ist.«
£s haben dann ferner durch weitere Versuche mit dem Siliciumchlorür ver-
anlasst, pRiEBEL und Ladenburg die Meinung Wöbler's'j, dass das Silicon »als eine
nach Art der organischen Körper zusammengesetzte Verbindung betrachtet werden
Rönne, in welcher das Silicium die Rolle des Kohlenstoffs in den organischen Kör-
pern spielt«, nicht bloss so angenommen, sondern sind so weit gegangen, in manchen
Siliciumverbindungen eine wirkliche Vertretung von Kohlenstoff durch Silicium,
von C durch Si, zu finden und demgemäss diesen Namen beizulegen, welche den
ihrer Ansicht nach diesen entsprechenden reinen Kohlenstoffverbindungen nach-
gebildet sind (SiKcichlorororm ; dreibas. Siliciameisensäureäther ; Silicononyl-
alkohol etc.).
So vollkommen einverstanden ich damit bin , dass bei der Feststellung des
Miscbungsgewichts eines Elementes den chemischen Betrachtungen der Vorrang
gebührt, ja noch mehr, dass ihnen ganz allein die endgültige Entscheidung darüber
zukommt, so entschieden muss ich bestreiten :
4) dass in der Zusammensetzung von all den beschriebenen Siliciumverbin-
dungen irgend ein Moment enthalten ist , welches die Silicium miscbungsgewichts-
Um^ Ob U odarJN. (ölte« #ii.lMlipliin«40voA) mm im- taoligitMi lin^ UMng
näher zu führen vef;ntictkte.uA4
5) dass die Annahme einer Vertretung des Kohlenstoffs durch das Silicium in
den vorliegenden Verbindungen eine gerechtfertigte sei.
Denn es lässtsich einmal zeigen, dass die Zusammensetzung all der betreffenden
Siliciumverbindungen durch Formeln mitSf^Sl in gleicb einfacher Weise aussu-
drücken sind und dann, dass die Verbindungen , in denen eine Substitution des
Kohlenstoff^ durch Sificium stattfinden soll als nichts anderes erscheinen wie die
UblM^en, nämlich als einfache Abkömmlinge einer Siiiciumverbindung.
bevor ich diess näher zu zeigen unternehme, muss ich mir gestatten ein Wort
über die Bedeutung der oben angeführten Ansicht Wöhlee's zu sagen , dass das
Silicium nach Arider organischen Körper zusammengesetzte Verbindungen zu bilden
vermöge. Vom gegenwärtigen Standpunct der Chemie aus kann dies weiter nichts
heissen, als dass ein Zusammenhang, wie Qr bei den Kohlenstoffverbindungen zwi-
schen den heterologen oder genetischen, den homologen und isologen Reihen existirt
in gleicher oder ähnlicher Weise auch bei den Siliciumverbindungen sich findet.
Da nun die genetischen Reihen eines jeden Elementes sicb^uf ganz gleiche, von
diesem aber völlig unabhängige und nur durch die mit ihm sich verbindendeo anderea
Elemente bedingte Weise ableiten, so ist klar, dass die Formgleichheit in dieser
*■ i <# I " )i
1) AnnaU d. Chem. u. Pharm, Bd. It7 p. S68,
Ceber die Gonstitiiiioo «Mger SUiiMniTerbiDdungen etc.
315
Reihe nlHils iürar AebnlMlikeit oder Udtlittlfcbkeit verschiedener Elemente aussagt.
Dies vermögen nur die her m otogen und in noch bestimmterer Weise die i so-
lo gen R0lJwtt zu thun. l^iiSit« wenn man für den Kohlenstoff und dasSUiciam' anck
die (^leichbeit dieser nachgewiesen hat, wird man berechtigt sein sie als c h e m i s c h
ähnlioh^» in eineGrupiK} gehörende, gleichwerthige Elemente wnmmimü>
welche, wenn n(ithig die Annahme einer Vertretung zulassen. Bi& jetsk aber. iMoiii
man' Itekie homologe Reihe von Siliclumverbindungen and von einer isologen Reihe
nicht mehr als Andeutungen, die ihrerseits aber nicht geeignet sind jene voraus-
gesetste Gleichheit zu bestütigen.
Mit Ausnahme des SfAcons lassen sich alle hier in Betracht kommenden Sili-
ciumverbindungen ableiten von einem Silicium Wasserstoff n Sii ff* oder n Si ti\
nilmliah Sii^li* odw Sl*l^'') und zwar in gleicher Wef^e, wie es sonst auch ge-
schieü: der Wasserstoff kann nämlich zu gleichen liiscbungsgewicbten ersetzt
gedaoAt werden 4)dtirclt diehalogenen Körper, i) durch Sauerstoff, Schwefel^; etc.,
3) durch die Hydroxyl-Uydrosulfi-Gruppe : liOMlS", 4) durch andere einwertbige
zusamnltfDgesetzteRadicafe^, so dass auf diese Weise entstehe« 4. die cllWr-,< brop^
etc. haltigeo, S. die Oxy-Sulfl etc., S die Hydroxy-Hydrosulfi etc. AbkOmmtinge
und 4) die Aethyl- etc. Verbindungen.
Genereller Typus:
«U8
Sii^H
oder Si^H»
Siliciumwasserstoff:
Aetherveilyfndung :
Siliciumaethyl:
etc.
Monochlorsiliciumeethyl:
Siliciumchlorid:
etc.
Kiesetsttureanhydrid etc.
Normales Kieselstturehydrat:
etc.
Aetherverbindungen :
KieselsVurettther:
etc.
Gemischte Aether :
KieselsäureaethylmethyUther:
etc.
Es^lgkieselsäureanhydrid:
E SS i gkfesel Silur elf ther:
Si,*»»
Si*H«
Sil* (€•»•)» 8fr«(€»lfl«
g. , (€2*4»)« si«f^'***)'
(€SM«€1)
Si,«€18
Sii^O»
Sit« (itö')^
(€SM«€1)3
Si« €113
Si4(l40>}U
Sit« (€>iPO^s Si« («t|l»OS)<t
. o5 4{€«44»0«j«
^^ ^^** (Wo«)«
Si,«(€2|«»0«)«
«.«(€«M«0«)«
Si4(^««0«)»
*' (€H»0«)«
gj4(€«ipo«|«
*^(€*J>0«)»
Si«(€««*0«)«
«(€«ll<0«)»
**' (€«»0«)»
u^~
4) Sil - 44;Si » S4.
^Q iti8;8m 4««
316
A. Geotlier,
I. Specieller Typus:
Sil*
#)
IP
oder Si*
M»
»3
Unbekannt :
ü abrannt :
Aetherverbhidung :
Triaethylsilictumoxyd:
etc.
Unbekannt :
Aetberverbindung :
S. g. Silicononylalkohoi:
5. g. Essigs. Silicononylalkohoi:
6
Siliciamhydrocbiorür:
(Siliciumchlorür)
(Siliciumchloroforme)
Siliciumbromochlorür:
Siliciumoxycblorür:
Si4»«
^H (€2 «8 04)2
si 4O*
Si.4»0')'
€1«
Unbekannt :
Aetberverbindung:
S.g.TrichlorhydrinvomKieselsäureälher: Sii4^^*^^^^
Siliciumhydrosülfochlortir: S'i*'^'*
(Siliciumcblorosulfh drat)
SiliciumbydrooxydfweissesOxydausChlorür): Sh^^
Unbekannt : S*»*qb*
Sii*(g2U5Q2|6
, .(€««5)2
Niedrigstes Kieseisäurebydrat:
Unbekannt i
Aetberverbindung:
& g. dreibasischer
Kieselameisensftureäther:
S. g. dreibasischer
K ie sei propion Säureäther:
Unbekannt :
Aetberverbindung :
S. g. Monochlorhydrin
vom Kieselsäureäther:
Mittleres Kieselsäureh) drat
Aetberverbindung :
6 od. 9 b9s. Kiesel Säureäther:
Sil*
Si 4€i*
Sil*
(€2«802j«
€12
€12
(€2«ß02)«
..02
Sil*
{H02)
6
Si4Ö«
^*1 (€2«»02}«
^
S**€l«
^* o»
^* 0«
Si*
(H02)i
^* (€2||»0«)3
^* (€2H804)3
SH
H3
€1«
Si*
Bl>3
€1»
si*^
^* €1»
^'€1«
a
ö»» €1«
SK
Si*
0«
€13
0»
Si*(**^^*
>»• 0«
^' («402)0
Si*
Si*
»3
(€2HSO2)0
(€2Hfi)3
(€2g502)ö
Si* ^*'
€I3
(€2H502)»
03
Si*
Si*^
*• ie«H»o«)»
II. Specieller Typus:
lieber fll»€Mslitiitiiu emiier SUkiqiAierbittilttQgea ete.
»17
Sil*
M«
Unbekannt :
etc.
Unbekannt :
Aetber Verbindung :
S. g. Dicblorbydf in
vom K ieselsfiureaiber
etc.
Sil*
HA
€1«
oder SH
Si«
MB
si.4(»9^*
Sil*
» €1*
ei*
Si4(**02;«
Unbekannt :
Aetberverbindung :
9. Prod. aus Monochlorbydrin v. Kieselstturetftber ^. ^(CSHA)«
iinH ZinkAPthvl V ^'< (CS IIA 02. 4
SI*
und Zinkaetbyl:
Unbekannt :
Unbekannt
Si,*
H*
0*
AetUerverbindung :
Proil. aus d. s. g. Kieselpropionsäuretither und
Kallhydral :
Sli*(MO>)S
e*
Sii*(€2M6 0S|8
0*
HS
Sl*(IIO«)3
0«
HS
Si*{€24P02|a
0«
Diese Zusammenstellung und Formulirang zeigt, wie unnöthig die Annahme
einer Vertretung des KoblenstoflTs durch das Silicium oder umgekehrt bei eiaiges
dieser Verbindungen ist, die sich alle höchst einfach und loh denke auch natur-
gemttss in einen Typus zasammenfassen lassen. Mit der Nothwcuüigkeit der An-
nahme einer solchen Vertretung fillt aooh ihre Berechtigung, da Letztere durch
Nichts, als durch den Hinweis auf einige Kohlenstoffverbind nngen , die sich den
Körpern hier chemisch analog verhalten sollen, bis jetst begründet wordan ist.
Dem Typus Sil* H» oder Si*His gehört aber nicht an das Silicon Wöblbs's,
für das ich früher i) die Zusammensetzung SiSO,HO » Si*H>()* wahrscheinlich zu
machen gesucht habe und welchen Wöaler neuerdings die Formel : Sii^SH^O^ bei-
legt >). Die erstere Formel wird Sil ■■ 44 angenommen zu Sil iSH* OS. Wllre Wöa-
Lza's Formel die richtige, so würde die Verbindung, von welcher das Silicon deri-
virte Siii^Hi* Stii^Hi^ oder SiilSH» sein können:
Si,WHi4 Sii<SH» Sil«»
S««^S
^^ Qi 14**^
Si,t«HOS ^*» (HO»)*
0«
Wäre meine Formel die richtige, so würde das Silicon am einfachsten als eio
114
AbkömmUngvonSiii^Ht^nämlichSii«^ betrachtet werden können.
Beide Annahmen der Zusammensetzung fuhren also zu Formeln mit 4tSii oder
vvoun man die mögliche Division mit i ausführt, wenigstens zu solchen mit 6 $i].
Da in den oben angeführten Verbindungen aber 4 Sii ausreichen, so bliebe für das
Silicon nur die Annahme Übrig, es sei der Abkömmling eines siliciumreicheren
4) Diese Zeitschrift Bd. II. p. t47.
2) Grundrissd. unorgan. Chemie 44. Aufl. 4868. p. 4t4.
3 i 8 A« «Cjeattiet, (Ub^r 4. ComIH. Bin. iSilNteimil),
und wai9er8fcQffärmeren «n^ll^icbt mll Sf^H^ boroologen Kies^was^eretoffs oder
doch das isologe Glied eines solchen.
Ue^ersetzt man aber flie von Wöblbi aufgestditle Formel in eine solclie mU
Si » »I, so hat man, da dii^HAQS zu Si«li3(H wird :
WöHLBR GSÜTBia
Silicon St«li80« Si^H^O«
In diesem Falle kommt man also zu Formeln mit 4 Si d. h. der gleichen Ancahl,
wiei>ei den oben angeführten Verhindungen/und zwar wttre dann das Silicon ein
Abkömmling von Si^lT oder Si^H^. Der letztere KieselwasserstofT, auf welchen zu-
rück meine Formel filhrt ift aber ein Glied der isologen Reihe von Si^M^^^ welche
nach äer aus der Zusammensetzung der Verbindungen abstrahirten und in den spe-
ciellen Typen ausgedrückten Art der WasserstoffdifTerenzirung sich offenbar so
formirt :
Sil««» oder Si«»»
Sil«»» Si«li»
Sii«ft« SHH«
Sii«IP Si«<P
allgemeiB : Sii«ttSn.in.2 si«H8ii.m.8t)
Wäre diese Bntwicklungsforro der isologen Reihe die einzige^ so könnte das
Silicon, obwohl es als ein Derivat von Si«H® erschiene und obwohl dieser Kiesel-
WBssei«k)<r ein Glied der Isologen Reihe ist, doch kein Abkömmling von Si^H^^ sein,
weil die Differenzirung des Wasserstoffs darin nicht nach der Form Si^, sondern
j^urnach der Form .$i«|^fl»ög|ioh wlkne., di^.Silicoa ab^r der ersteren Form ent-
sprechen würde.
Diese Ycrhllltnisie zusammengenommen mit derExIsieai von einigen SilleiiiiD-
verbtndungeui diegleiohfaMs nicht als Abk#miiillttge4ieaer isologen Reihe eraofael-
nen, wie«UiS'kr>sl.SilioiiiiiimagnefittmHg(€iSS) und .das daraus entstehende weisse
Oxyd : Si^Wfi- ^ UMsen an die Bttlslenz «z w eie r fintwtokkingsiiermen, zweier iso*
logen 'Reüwn >denrken« Die zweite, nor bei 8i « «ftt mttgliolie form wttre :
SiMP«
Si«H8
Si«««
SHM«
allgemei»: ^(H^n-mtS
Beiden Reihen ist aviper I9i«iii3<||ttr poch dfs Glied Si«ii6 gemeinschaaiicb.
Von diesem Glied dieser 1,. Reihe wür^ dann dasjSillcen, wenn seine Zusammen-
setzung durch Si«tt20«<aiisgedrückt'«aM, deriviraft. Desgleichen würde das aus
US
^em Siliciunwnf^nesium h^rvorgetiende O^yd in diese Reihe gehören Si«IJ^und das
Siliciummagnesium selbst 3i^Mg^?f ^ttbrend 4as SiliciumcAlQinm, aus dem das Si-
licon sich bildet: Si«Ca3 oderSii«Ca> der ersteren isologen Reihe angehören würde.
Ausser dem von Fsibdel und Ladsnbuso durch die Einwirkung von Natrium
auf den sog. dretbas Kieselameisensanretfther erhaltenen Stlleium Wasserstoff:
tu i«<n nnm II mii
4) Vergl. diese Zeitschr. Bd. t. p. 494.
5) Ebend. Bd. 11. p. 108.
S) Ebend. p. 141.
r
Aouige. J 319
Sii«li8 oder SHIiV, welcher in reinem Mbünde an der Luft sich nicht selbst ent-
xttodet, eiistirt, wie ich früher w^lirscheinlich gemacht habe, noch ein zweiter im
freien Zastande von der Zqiibmmensetzung : Sii*M* oder Si^iP, der sich bei der
Zersetzung des Siliciummagnesiams |>ildeti).
Dem oben Mitgetbeiftten zufolge würde Si ■- i1, das Normalhydrat der Kiesel-
saure Si«0i2, IS HO, die Kieselsäure also eine K% basische Säure sein Ob diese
Form alle Silicate umfassen kann, wird einer näheren Prüfung |)edürfen.
4) Vergl. diese Zeitschr. Bd. II. p. S18.
A n 8 6 i g 6,
VonViacHow's Handbuch der specteilen Pathologie und The-
rapie ist in t. Auflage auch die S. Abtheilung des S.Bandes erschienen,
die Kranicheiten des Herzensvon Prof. Priedrkicb und die Kranlc-
heiten der Blut- und Lymphgefässe von Prof. Lbbzrt. Fribdrbich hat
mit genauer Berüclisichtigung der zahlreichen Arbeiten, die auf dem von ihm be-
handelten Gebiete seit der ersten Auflage publicirt wurden , diese S. Auflage er-
gänzt und vermehrt. Irgend erhebliche Aenderungen in den Anschauungen des
Verfassers und in der ganzen Darstellung sind nicht eingetreten.
Eine vollständige Umarbeitung hat die zweite Hälfte des Bandes erfahren und
zwar sind es specieller die Krankheiten der Blutgefässe , deren Darstellung das
Doppelte des Raums der ersten Auflage einnimmt. Lbbbit hat zum Theil nach
geinen eigenen monographischen Arbeiten die früher etwas knrz dargestellten Aneu-
rysmen besonders ausftthrlich dargestellt. Auch die Beschreibung der Erkran-
kungen der Venen hat nicht unwesentliche Erweiterungen und Umänderungen er-
fahren. So dankenswerth nun auch das Bestreben des Verfassers ist, seine Dar-
stellung zu einer möglichst vollständigen zu machen, so lässt sich doch kaum
verkennen, dass seine Bearbeitung die Grenzen, innerhalb deren das Gesammtwerk
angelegt ist, erheblich überschreitet. Bei sachgemässem Zusammenfassen, prä-
ciserer Darstellung und Meidung mannichfach er Wiederholungen wäre es unsersBr-
achtens nach möglich gewesen unbeschadet der Klarheit und AusfllhrlichkBit auf
viel geringerem Räume das Gleiche zu leisten.
Seidel.
^
"\
I
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Jenahcha Zeitschrift
V
\
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-f.
UV.
Pi|.16
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r
lieber die FlinnerbewegaHg.
■
Von
Th. W. Engelmann
in Utrecht.
Mit Tafelt.
Einleitung.
Pie Bedingungen zu untersuchen, unter welchen die Flinimer-
bewegung zu Stande kommt, und die Veränderungen zu ermitteln,
welche dieselbe bei Aenderung dieser Bedingungen erleidet, war die
Aufgabe der folgenden Arbeit. Es war wttnschenswerth, diese Aufgabe
in möglichst weitem Umfang anzufassen. In der letzten Zeit hat sich
die Ansicht immer mehr befestigt, dass alle die sogenannten Contracti-
littftserseheinungen, unter ihnen auch die Flimmerbewegung, im We-
sentlichen unter gleichen Bedingungen stattfinden, alle im Wesentlichen
durch dieselben Einflüsse begünstigt, durch dieselben Einflüsse ge-
hemmt werden. Die Richtigkeit dieser Ansicht vorausgesetzt, bot sich
somit die Aussicht, durch möglichst genaue Ermittelung dieser Bedin-
gungen für eine der genannten Erscheinungen, auch auf die andern
einiges Licht zu werfen. Zur Lösung dieser Aufgabe schien nun die
Flimmerbewegung vor allen verwandten Bewegungen geeignet, weil
sie in der Weite der Excursionen , in der Frequenz , mit welcher die
Schwingungen der Flimmerhaare erfolgen, und in den mechanischen
Leistungen der thtttigen Flimmerhaare messbare Grössen an die Hand
giebt. Die Amplitude der Schwingungen lässt sich unter dem Mikroskop
messen, die Schwingungen lassen sich zählen. Der Grad der Beschleu-
nigung oder der Verlangsamung der Flüssigkeitsströmung an der flim-
mernden Oberfläche kann wenigstens in den meisten Fällen in Zahlen
ausgedillckt werden. Dieser Vortheil, zusammengehalten mit dem re-
gelmässigen Rhythmus der Bewegungen ,* welcher dem Auge verhält-
nissmässig feine Aenderuogen der Bewegung im Mikroskop zu bemer-
ken gestattet, ist nicht hoch genug zu schätzen, wenn mau weiss, wie
schwierig es ist, bei andern ^Bewegungen, z. B. denen des Protoplasmäi'
Bd. IV. 3. 14
h^.
322 Th. V. EogelinaDn,
zu entscheiden, ob eine kleine B^Ateunigung oder Yerlangsamung
vorhanden, und wenn sie vorhanden, ol^sie dem Einfluss des ange-
wandten Agens zuzuschreiben sei oder noch mtk Bereich der normalen
Schwankungen falle.
Trotz dieser Umstände nun, welche die Flimmetbewegung als ein
so besonders günstiges Untersuchungsobject erscheinen lassen und trotz
des Umstandes , dass das Phänomen dieser Bewegung nun schon s^t
langen Jahren bekannt ist, kann man doch nicht sagen , dass lOil der
Lösung unserer Aufgabe bisher viel mehr als der Anfang gemacht wor-
den sei. — In der bekannten Schrift von Purkinje und Valentw^j,
welche sich besonders über das Vorkommen der Flimmerbewegung
sehr ausführlich verbreitet, findet man eine Aufzählung von vielen
Stoffen, von denen angegeben wird, in welcher Verdünnung sie noch
schädlich auf die Flimmerbewegnng wirken. Diese Angaben sind in-
dess ziemlich unbrauchbar, da die Abstufung der Concentrationsgrade
eine sehr rohe war: es ist nur von 10-, 100-, lOOOfacher Verdünnung
u. s. f. die Rede. Es gelten femer alle Angaben nur für Flimmerbaare
von Unio und Anodonta. Die Verfasser beschränken sich auf diese
Muscheln, weil sie in der auch jetzt noch hie und da auftauchenden
irrthümlichen Meinung befangen waren, dass es für solche Versuche
gleichgültig sei, ob man das Flimmerepithel von der Schleimhaut eines
V^irbelthieres oder von den Kiemen einer Muschel oder sonst woher
nehme. Sie hätten überlegen sollen, dass die Bewegung von Flimmer-
haaren, von denen die Einen während des Lebens von alkalischer
Feuchtigkeit; andere, wie die der SüsswassermoUusken , von beinahe
reinem Wasser , wieder andere — die von Seethieren — von starker
Kochsalzlösung umspült werden , sie hätten überlegen sollen , dass die
Bewegungen dieser verschiedenen Arten von Flimmerhaaren nicht in
allen Fällen durch dieselben Einflüsse in derselben Weise verändert
werden können. So erwähnt denn auch schon Valenthi 2) selbst, dass das
Blut von Wirbelthieren, welches »das beste Erhaltungsmittel der Flim-
>)merbewegung der gleichartigen Geschöpfe sei«, auf die Flimmer-
bewegung von Muscheln vernichtend wirke.
Aus den Angaben von Purkinje und VALBifTiif verdient ferner Er- "
wähnung, dass die verlangsamte Flimmerbewegung durch mechanische
Erschütterung verstärkt werden könne, eine Thatsache, die schon im
4) PuBKiNjR et VALENtiN, De phaenoioeDo generali et fondameniali motus vibra-
torii. Wratislaviae 1835. — VaUntin , Artikel Füinmerbewegung in R. W. H. I.
pag. 484—516* 184i.
2) a. a. 0. p. 512.
iMvegnn^
Deber die PlunnMvegQnf;. 323
Anfang dieses Jahrhunderts vf«>6TEmBUGH ^) beobachtet worden ist.
Dass bei höheren Warmej^iiaiten die Bewegung erlischt, erwähnen 'die
genannten Forscher glqi^falls. Sie konnten Flimmerhäute von Säuge-
thieren und Vögel« »ohne Störung des Phänomens a momentan in Was-
ser von Si^ Celsius tauchen. »Kiemenstücke von Unio konnten ohne
»Nachtheil eine halbe bis zwei Minuten in Wasser von 44^ bis 44 <^ Gel-
»sius gehalten werden.« Zwischen 6^ bis 12^ Celsius soll die Bewe-
gung bei warmblütigen Thieren in der Begel aufhören ; vor Kälte er-
starrte Frösche und eingefrorene Muscheln sollen dagegen »das Phä-
»nomen ungestört bewahren.« Ein vor Kälte erstarrtes Flimmerepithe-
lium könne in der Begel durch Wiedererwärmung nicht wieder zum
Leben gebracht werden. — Leiteten Purkinje und ViULSNUN mit Hülfe
einer Leydener Flasche starke elektrische Schläge durch eine Muschel,
so ward die Plimmerbewegung nicht im Geringsten verändert. — »Der
Galvanismus hat« nach ihnen »nur in so fern Effect, alis er mit ther-
»mischen und elektrolytischen Wirkungen verknüpft ist 2].« Schliess-
lich erwähnen die Verfasser noch, dass es nicht gelinge, die Flimmer-
bewegung wieder zu erregen, wenn sie einmal vollständig durch Ein-
trocknen^ Kälte, chemische Beagentien zur Buhe gebracht worden sei.
Bald nach der Arbeit von Purkinje und Valentin erschien der erste
Band von Todd's Cyclopaedia of Anatomy and Physiology, für welchen
SüARPET^] den Artikel Cilia bearbeitet hatte. Ein Abschnitt^) dieses
Artikels ist den Einflüssen äusserer Agentien auf die Flimmerbewe-
gung gewidmet. Im Allgemeinen werden Purkinje^s und Valbntin^s Er-
fahrungen bestätigt, insbesondere was den Einfluss der Spannungs-
elektricität und des galvanischen Stromes angeht. Erwähnung verdient
aber, dass Sharpby ausdrücklich auf den Unterschied aufmerksam
macht, welchen dieselben Substanzen in ihrer Wirkung auf Flimmer-
haare von verschiedenen Thieren zeigen. Er beobachtete beispiels-
weise, dass süsses Wasser augenblicklich die Bewegung bei Seewasser-
mollusken aufhob, dass schwache Lösung von salzsaurem Morphium
wohl die Bewegung bei der Plussmuschel, nicht aber bei Froschlarven
vernichtete, dass Blut von Wirbelthieren sogleich die Flimmerbewe*
gung der Wirbellosen hemmte. Von der Beschleunigung durch mecha-
nische Erschütterung bemerkt er, ob sie nicht vielmehr auf Wegräu-
4) StbinbücHi Analekten neuer Beobachtongen u. ÜntersuchtiDgen zur Natur-
kunde. Fürth, 4802.
2) Valentin, a. a. 0. 544.
8) Sbaxpet, Art. Cilla hi: Tonn, Cyclop. of Anat. and Physiol. Vo!. 1. 4885 —
M. pag. 006 — 638.
4} a. a. 0. pag. 684.
«4*
324 Tb. m Kngflnianu,
mung eines Hindernisses, als auf iamrAor Reizung beruhe. Endlich
erwähnt er, dass das Flimmerphänomen Tm(^den Riemen von Frosch-
larven ungehindert fortbestehe in ausgekochteitL, in destillirtem und in
kohlensäurehaltigem Wasser.
Die nächste wichtige Bereicherung erfuhr die Lekfc von der Fliro-
merbewegung durch die Entdeckung des Einflusses von Kali und Na-
tron durch YiacHOw*). Dieser fand bei Untersuchung einer Menschli-
chen Trachea, dass diese beiden Stoffe die zur Ruhe gekommene' FliAi—
merbewegung wieder erwecken können. Als er zu einem Objecto , an
dem die anfangs sehr lebhafte Bewegung zum Theil nachgelassen hatte^,
zum Thei] sehr schwach geworden war, Kalilauge hinzufügte, sah er
»an allen Stellen die Bewegung sich wieder beleben und so lange an-
ndauern, bis eine Zerstörung der Theile selbst durch (Korrosion eintrat.«
Ebenso wie das Kali verhält sich nach Yirchow das Natron; Ammoniak
soll dagegen die Bewegung sofort zum Stillstand bringen. Letzteres
stimmte mit der älteren Beobachtung von Purkinje und Valentin über-
ein, welche fanden, dass kaustisches Ammoniak noch in 1000-facher
Verdünnung die Bewegungen hemmte. — Zwei Jahre später theilte
KöLLWBR^) im Anhang zu einer umfassenden Untersuchung über die
Sainenflüssigkeit einige Beobachtungen über Flimmerbewegung mit.
Er fand, dass die Flimmern der Froschzunge »in NaCl von 1% und
»2NaO, HO, PO5 von 5% und 10% in lebendigster Action bleiben,
»dass dagegen NaCl von 5% i^i*^ Bewegung aufhebt, welche jedoch
»durch nachherige'n Zusatz von Wasser wiederkommt.« Aehnliches
fand er für die Bewegungen von Opalina und von der kleinen Flagellate
aus dem Mastdarm der Frösche. — ^
So waren erst wenige Mittel gefunden, welche die erschlaffte Be-
wegung wieder zu beleben im Stande waren. Dass man denselben
Effect durch Temperatursteigerung erreichen könne, ward bald darauf
durch GALUBURCfes ^) , einen Schüler Claude Bernard^s gezeigt. Derselbe
construirte einen Apparat , welcher aus einem oben durch einen Me-
talldeckel verschlossenen Glasgefäss bestand, in welchem auf einer in
verticaler Richtung verstellbaren Platte die Rachenschleimhaut eines
Frosches horizontal ausgespannt war. Durch Verstellung einer Schraube
4) ViRCHOW, üebcr die Erregbarkeit der FUmmerzcIlen. In: Arch. f. path.
Anat. Bd. ^11^854. pag. 183.
2) Kölliker/ Pbysiol. Studien über die Samenflüssigkeit. Ztschr. f. wiss. Zool.
4856. Bd. VII. pag. i54.
3) J. Callibürc^s, Recberches exp^rim. sui* l'influence exerc^e par la chaleur
sur les manifestations de la contractilitä des organes. In : Compt. rend. Vol. XLXII.
4858. pag. 838.
Ueber dif» FlimmAM^uK. 325
konnte die* Platte mit der RnchenscMeimbaut so eingestellt werden,
dass letztere mit einem sehr dtftaniii horizontal gelagerten Glascylinder,
dessen Axe ein feiner Mluminiumdraht bildete, in Berührung kam.
Durch die ThMtigHurtTder Flimmerhaare ward das Glascylinderchen in
Umdrehung yers^zt. An dem einen Ende des die Axe des Glascylin-
derchens bildenden Aluminiumdrahtes, welches eine der Wände des
Glasgefitss^9~durchbohrte, war ein dünner Glasfaden befestigt, welcher
äUb ails Zeiger über eine aussen auf dem Glasgefass eingeritzte Kreis-
theilung hinbewegte. Die Bewegungen des Glascylinderchen im Innern
der Flasche konnten somit aussen in vergrössertem Maassstabe abgele-
sen und gemessen werden. Aus Versuchen, die Callibubc^s an 52
Schleimhäuten anstellte, ging nun hervor, dass bei einer Temperatur
von 280 C. die Bewegung des Zeigers im Mittel etwa sechs Mal schnel-
ler war, als bei einer Teihperatur von 42®bis 49<^C. — Bbrnabd^);
der diese Beobachtungen erwähnt, fügt hinzu, dass die Intensität der
Bewegung »va en augmentant jusqu^a HO ou ()0 degr^s, point ä partir
y>duquel le mouvement commence h diminuer, pour cesser complöte-
»ment ä 80 degr^s.« —
In den im Sommer 186i von Claude Bbbnabb gehaltenen Vorle-
sungen über die Eigenschaften der lebenden Gewebe, worin die Flim<^
Mierbewegung ausführlich behandelt wird, finden sich einige bemer-
kenswerthe Beobachtungen mitgetheiH. Bringt man, nachBBBNABD, den
Oesophagus eines Frosches unter eine Glocke, unter welcher ein mit
Aether getränkter Schwamm liegt, so sieht man bald die Bewegung
vollständig aufhören, nach dem Abheben der Glocke aber sogleich wie-
der beginnen. Bbbnabd bestätigt den wiederbelebenden Einfluss der
Alkalien und fügt die interessante Thatsache bei, dass auch der durch
Säuren herbeigeführte Stillstand durch Alkalien aufgehoben werden
kttnne. Die Gase sollen gar keinen Einfluss ausüben, wovon man sich
leicht tf>erzeugen kOnne, wenn man nach einander den Oesophagus
eines Frosches in den luftleeren Raum, in Kohlensäure, in Sauerstoff,
in Stickstoff und in die andern Gase bringe : die Flimmerbewegung
bestehe darin genau so fort wie in atmosphärischer Luft.
lieber den Einfluss der Elektricität wurden im Jahre 1 865 neue
Untersuchungen durch Kistiakowskt^) im Grazer physiologischen Labo-
ratorium angestellt. Derselbe mass die Stärke der Flimroerbewegung,
4; (Claude Bernard, Legons sur les propri(^(es des tissus vivants. Paris 1866.
p. 146.
T KisTiAKOwsiY . Ueber die Wirkung des conslanten und Indnctionsstromes
auf die Flimmerbe^egung. In: Wiener Sitzungsber. Bd. LI. 1865. pag. 968 — 279.
326 TMiL Engelmann,
indem er die Geschwindigkeit eines durch die Bewegung der Härdien
über die Rachenschleimhaut des Fro«^'^ geführten Signals bestimmte.
Das Signal bestand aus einem kleinen an einelli Goconfaden hangenden
Siegellacktropfen. Die Geschwindigkeit der Aswii^ung des Signals
ward durch die Schläge eines Pendels gemessen. Die n^it Humor aqueus
eben bedeckte Raohenschleimhaut wurde in einem flaciien viereckigen
Glastroge der Länge nach ausgespannt zwischen zwei obenmnd unten
durch Blasenstücke geschlossenen und mit Hühnereiweiss gefüUteti
Glasröhren. Diese tauchten mit ihren unteren Enden in mit Zinkvitriol
gefüllte Gefässe, aus welchen Elektroden von amalgamirtem Zink zur
Kette führten. Bei Anwendung eines Constanten Stromes von 6 Chrom-
säure-Kohle-Elementen erhielt nun Kistukowskt folgende Resultate.
Bei geschlossener Kette bewegte sich das Signal schneller als bei geöff-
neter, zuweilen um das Zwei- bis Dreifache. Nach Oeffnüng des Stro-
mes zeigte sich eine allmählich verschwindende Nachwirkung: die
Geschwindigkeit des Signals nahm allmählich wieder ab , so dass nach
einigen Hinuten die anfängliche Schnelligkeit ungeföhr wieder erreicht
war. In den meisten Fällen verminderte sich die Schnelligkeit des
Signals allmählich in den späteren an ein und derselben Membran an-
gestellten Versuchen (»Ermüdung« Kistukowskt). Ein Einfluss der
Stromesrichtung war nicht wahrzunehmen. »Dagegen zeigte es sidi in
»Versuchen, die,' unmittelbar auf einander folgend, mit derselben Stro-
»mesriohtung angestellt wurden, dass die anfängliche Beschleunigung
»allmählich abnimmt; wird dann umgelegt, so tritt mandimal eine
»neue Beschleunigung ein, die wieder allmählich abnimmt, ein neues
»Wenden des Stromes beschleunigt dann wieder u. s. f.a Doch soll die
Beschleunigung beim Umlegen des Stromes oft sehr gering sein, oft
auch ganz fehlen. — Der Einfluss von Inductionsschlägen eines du Bois-
schen Schlittenapparates (ohne HsLMHOLTz'sche Abänderung) bestand
ebenfalls iu Beschleunigung der Bewegung des Signals ; in d^i ange-
führten Versuchen erreichte die Schnelligkeit der Bewegung während
des Einflusses der Inductionsströme zuweilen die dreifache, ja fünf-
fache Höhe. Eine deutliche Nachwirkung war vorhanden. — Für
die Beobachtung des Einflusses elektrischer Ströme unter dem Mikro-
skop giebt Kistukowskt einen Objectträger mit unpolarisirberen Elek-
troden an und erwähnt, dass es auch hier gelinge, »eine sichtliche und
»nicht zu verkennende Beschleunigung an Präparaten, deren selbstän-
»dige Bewegung sich nach längerem Liegen in Humor aqueus bedeu-
»tend verlangsamt hata, wahrzunehmen. — Kistukowskt zieht aus
diesen Beobachtungen den Schluss, dass der constante wie der In-
ductionsstrom eben so wie die Wärme und wie Kali und Natron erre-
Ueber die FUnmerbfj^cfMi-* 327
gead auf die FlimmerbewegUDg wirken. Ob dieser Einfluss der Elektri-
ciUii nicht vielleicht auf Erw^Maung des einen starkeq Widerstand
bietenden PrSIparates zu setzen sei, wird nicht in Erwägung gezogen.
Die näohsle aiJ|,MHMeren Gegenstand bezügliche Arbeit ward von
M. Roth geiieferU Nachdem derselbe in einer kurzen Mittheilung >)
darauf aofinerksam gemacht hatte, dass alle »protoplasmaartigen Be-
wegungsersol^pinungena (Protoplasma-, Flimmer-, und Spermabewe-
'^(uikg) in schwach alkalischen, niemals in sauren Flüssigkeiten statt-
finden, wendet er sich in einem zweiten Artikel ^) der Flimmerbewe-
gung speciell zu. Er beobachtete vorzugsweise Flimmerzellen aus den
Eileitern von FrOschen und von den Kiemen von Anoden ta. Letztere
wurden in Wasser, erstere in lodserum, Kochsalz von 0,5% oder
phosphorsaurem Natron von 2% bis S,5% untersucht. Roth bestä-
tigte den beschleunigenden Einfluss der Wärme. Er findet die obere
Temperaturgrenze für die. Bewegung der Flimmerzellen des Frosches
bei 440 bis 45<> C. Nur kurze Zeit auf diese Temperatur erwärmt, kto-
nen die Flimmerzellen beim Abkühlen wieder erwachen; bei längerer
Einwirkung tritt Tod ein. Dieser erfolgt meist erst bei 48^, »unter un-
günstigen Bedingungen« aber schon früher. Aehnliches gilt für die
Flimmerzellen von Anodonta und vom Kaninchen. — Die Erfahrungen
von PoRUNiB und VALENTiif , über den Einfluss niederer Temperatur-
grade, werden bestätigt. Bei Zellen von Anodonta konnte die Bewe-
gung noch nach kurz dauernder Abkühlung auf ^3^ bis — -i^^C. wieder
erweckt werden. »Bei — 6^ G. war immer Tod eingetreten.« — Roth
fand femer, dass durch Aenderung der Gonoentration des Mediums
eine zur Ruhe gekommene Bewegung wieder hergestellt werden könne.
War die Flimmerung (beim Frosch) durch Kochsalz von i% abge-
schwächt, so erschien sie beim Verdrängen mit Kochsalz von 0,5%
wieder in der alten Lebhaftigkeit. Nachdem Roth noch den günstigen
Einfluss der Alkalien, den schädlichen der Säuren und Metallsalze be-
stätigt hat, gedenkt er schliesslich noch der Wirkung mechanischer
Reize. Er konnte die stillstehende Bewegung durch Klopfen auf das
Deckgläschen , durch mehrmaliges Lüften desselben, am besten aber
durdi einen Flüssigkeitsstrom (von derselben Gonoentration) wieder
erwecken, den er unter dem Deckglase durchgehen Uess. Diese Ver-
suche reichen für Roth aus, eine »mechanische Reizbarkeit« der Flim-
merhaare zu beweisen. •'
4) Roth, Ueber die ReActionen der Gewebe mit protoplasmaartigen Bewe-
gungserscheinungen. Virchow's Arch. Bd. XXXYI. 4866, p. 445 — 447.
t) Roth, Deber einige Beziebuogen des Flimmerepithels zum contractilen Pro-
toplasma. Ib. Bd. XXXVU. pag. 4S4 — 495.
328 — Wk.W. Bngelmann,
Fast gleichzeitig mit der RoTn'scben Arbeit erschien ein Aubatz
von KüBNE^), in welchem der wichtiga Nachweis geliefert wurde, dass
die Flimmerzellen zu ihrer Thatigkeit Sauet^toff bedürfen. Verdrängte
KüHNB, der an Flimmerzellen von Anodonta exptrifpentirte , die atmo-
sphärische Luft in der feuchten Kammer durch reinen Wasserstoff, so
hörte die Bewegung nach einiger Zeit auf, um, bei Zumischung sclKm
äusserst geringer Sauerstoffmengen, sofort wieder zu heginnen. Kühüb
überzeugte sich mittelst des Spectroskops bei Flimmerzellen-yi die^jir
Hämoglobinlösung lagen, dass der Stillstand erst dann eintrat, wenn
aller Sauerstoff verschwunden war. Auf demselben Wege überzeugte
er sich, dass die Flimmerzellen der Muschel nicht bloss der Luft, son-
dern auch dem Oxyhämoglobin den Sauerstoff entziehen können. —
Kohlensäure bewirkte, selbst wenn sie in nur sehr kleinen Mengen
einem sauerstoffhaltigen Gasgemisch beigemengt war, sofort Stillstand,
der durch reine atmosphärische Luft aufgehoben werden konnte.
Brachte Kühnb die Bewegung durch Dämpfe von kohlensaurem Ammo-
niak zur Ruhe, so konnte er sie durch Essigsäuredämpfe wieder er^
wecken und umgekehrt den Säurestillstand durch Ammoniak aufhe-
ben. Merkwürdigerweise gelang es ihm aber nie, einen Ammoniak-
Stillstand durch Kohlensäure zu beseitigen, woraus er auf eine specifisch
schädliche Wirkung der Kohlensäure schliesst. Von Kohlenoxyd sah
Kühne keine Wirkung.
Eine kurze Erwähnung verdient die Beobachtung von HuiziifGA^),
dass Ozon erst beschleunigend, dann hemmend auf die Flimmerbewe-
gung von Opalina ranarum wirke; femer die vor Kurzem erschienene
Arbeit von A. Stuart 3), worin in Bezug auf Temperatur die Erfah-
rungen von Purkinje und Valentin, und von CaluburgI(9, in Bezug auf
Elektricität die von Kistiakowsky, ebenso der von Virchow entdeckte
Einfluss der Alkalien, die schädliche Wirkung der Säuren, endlich der
schon von Purkinje und Valentin und unlängst von Roth beobachtete
Einfluss verschieden concentrirter Lösungen von chemisch indifferen-
ten Substanzen bestätigt werden.
Meine eigenen Versuche wurden Ende März 4867 begonnen. Ein
Theil der Resultate, zu weichen ich bis Mitte Juni gelangt war, findet
i) W. Kühne, lieber den Einfluss der Gase auf die FUmmerbewegung. Arch.
f. mikr. Anat. 1866. U, p. 872 — 878.
2) HuifeiNGA, Chemisch^biologische Notizen über Ozon. Centralbl. f. d. med.
V^iss. 4867. pag. 823.
8] Alex. Stuart, Ueber die Flimmerbewegung. Diss. inaug. Porpat4867. —
S. a. Ztschr. f. rat. Med. 4867.
r
lieber dt« riiinnerbew«i«l||F, ;)29
^ch pubticirt in einer vdrlfiußgen Mitibeilung ^) und .ausführlich im
Archiv von Doicdbr» und Ko8tbrj^7- Die* Versuche waren meist an Flini-
meneNen der Radienschlwinhaut vom Frosch^ angestellt und ich be-
diente mich bei vieLBtTSerselhen einer feuchten Kammer eigener Gon-
struction, welche aas Durchleiten von Gasen, elektrische Reizung mit
unpolarisirbaren (Elektroden, und die Anwendung auf dem heizbaren
Objecttiscb gestattete. Die Hauptergebnisse waren folgende. In Was-
OTPratoff erfischt die Bewegung. Der WasserstoffistiUstand kann durch
Sauerstoff aber auch ohne Sauerstofiäßutritt durch Säuren und Alkalien
aufgehoben werden, falls er nicht zu lange Zeit bestanden hat. — Rei-
ner Sauerstoff beschleunigt im Allgemeinen die Bewegungen. — Die
verschiedensten Säuren, wie Kohlensäure, Milchsäure, Essigsäure,
Salasäure, Schwefelsäure, erwecken die in atmosphärischer Luft oder
reinem Sauerstoff in sogenannten indifferenten Flüssigkeiten erloschene
Bewegung wieder, und bewirken erst nach längerer Einwirkung Still-
stand unter Trübung der Zellen. Der Kohlensäurestillstand kann durch
einen Strom Luft, Sauerstoff oder Wasserstoff, der durch andere Säu-
ren herbeigeführte Stillstand aber in der Regel nur durch Alkalien auf-
gehoben werden. Ammoniak, Kali und Natron erwecken die in Sauer-
stoff, unter Umständen auch die in Wasserstoff erloschene Bewegung
ohne vorherigen Sauerstoffzutritl. Im Ueberschuss bewirken sie Still-
stand, welchen Säuren ^ auch Kohlensäure — beseitigen können. —
Durch Temperaturerhöhung kann die in Luft, Sauerstoff, für kurze
Zeit oft auch die in Wasserstoff zur Ruhe gekommene Flimmerung wie-
der angefacht werden. — Die Bewegungen der Spermatbzöen des
Frosches verhalten sich unter dem Einfluss der hier genannten Agen-
tien im Wesentlichen ebenso wie die Flimmerbewegung. — Zugleich
wurden einige Beobachtungen über Richtung, Frequenz und Form der
Bewegungen der Flimmerhaare mitgethcilt. Die Thatsache, dass die
Plimmerhaare nach einer Richtung — vorwärts — schneller als nach
der entgegengesetzten sch^pgen , wurde erklärt durch den Nachweis
besonderer elastischer Kräfte, welche an der Basis jedes Flimmerhaars
wirken, das Haar in vorwärts geneigter Lage zu halten bestreben, sich
der Rückwärtsbewegung des Haars widersetzen. Endlich wurde, zur
Erklärung der n unter gewöhnlichen Bedingungen« nach Entfernung
aus dem Organismus eintretenden Starre der Flimmerhaare , die An-
4) Ueber die Flimmerbewegung. — Centralbl. f. d. med. Wissensch. 1867.
Nr. 41.
i) Over de trilbeweglng. — Nederl. Archlcf voor Genees-en Natuurkunde.
Deellll. 4887. p. 804 — 356. M. K Plaat.
330 " ' Ih. W. ÜDgelmann,
nähme herbeigezogen , dass diese Starre auf Bildung eines Gerinnsels
(etwa Myosin) in der contractilen Substanz des Haares beruhe, und die
Verrouthung ausgesprochen , dass die belebende Wirkung der Säuren
und Alkalien möglicherweise der Verflüssigung dfoses Gerinnsels zuzu-*
schreiben sei. — Im October vorigen Jahres nahh ich die Versuche
wieder auf und untersuchte zunächst den Einfluss von Wasser, von
verschieden concentrirten Salzlösungen, von Aether, Alkohol, Schwe-
felkohlenstoff, Chloroform und von verschiedenen Giften. 'Eine kuroe
Notiz <) hierüber wurde durch Professor Donders der k. Akademie der
Wissenschaften zu Amsterdam mitgetheilt.
Inzwischen ist noch eine unseren Gegenstand «betreffende Arbeit
von HciziNGA^) erschienen. Derselbe stellte seine Versuche an Opalina
Ranarum an. Dabei fand er die Angaben von Kühnb und mir über
Säure- und Alkalistillstand bestätigt; unter dem Einfluss von Gbioro-
form, Aether- und Schwefelkohlenstoffdämpfen sah er die Bewegun-
gen erlöschen, bei Aether zuweilen erst nach 20 Minuten. Bei einmal
durch Aether oder Chloroform bewegungslos gewordenen Opalinen er-
wachte nach Zufuhr reiner Luft die Bewegung nicht wieder. Beim
Schwefelkohlenstoff gelang diess vorübergehend. Schweflige Säure
tödtete schon in äusserst kleinen Mengen, und weder Luft noch Ammo-
niak konnten diese Wirkung aufheben. In Schwefelwasserstoff lebten
viele Opalinen noch nach 5 Minuten. Chlor, Ozon und salpetrige Säure
bewirkten schnell Stillstand, den weder Luft noch Ammoniak besei-
tigten.
4) TrHhaar-en protoplasmabeweging onder d. invioed v. verschill. agentia. —
Process verbaal d. k. Akad. v.^wetensch. — Vergadering SO November 4867.
9) HüiziRGA, lieber die Einwirkung einiger Gase auf Flimmer-, Blat-, und Ei-
ierzellen. — Gentralbl. f. d. med. Wiss. 25. Jan. 4868.
Ueb«r die FlüiiMrbewefi^Di^ 33 t
Besohreibung einer Gaskammer für mikroskopische
UnlersuchÜDgen.
Bei den meisten der folgenden Versuche brauchte ich einen
Apparat, der die Einwirkung von Gasen auf das im Gesichtsfeld des
Mikroskops befindh'che Object zu beobachten gestattete. Hierzu liess
ich eine Gaskammer verfertigen, die so eingerichtet ist, dass sie sowohl
allein, als in Verbindung mit dem heizbaren Objecttisch von Max
ScHULTZE gebraucht werden kann, und zu gleicher Zeit die Anwendung
der elektrischen Reizung in verschiedenen Gasen erlaubt. Es können
dabei die stärksten Objectivsysteme angewendet werden, und weil der
Apparat klein ist, kann, man ihn ohne Weiteres bei Jedem Mikroskop
gebraucjien. Seine Dauerhaftigkeit und die Bequemlichkeit mit der er
sich handhaben lässt, möchten ihn vor ahnlichen, früher beschriebenen
Apparaten empfehlen. Man kann ihn vom Mecbanikus Herrn Oll and in
Utrecht beziehen.
Die Gaskammer (s. Tafel VI. Pig. 1 — 3) besteht aus einen Käst-
chen von 80 Mm. Lange, 42 mm. Breite und 6 Mm. Hohe. Die Seiten-
wände sind von Messing ; den Boden bildet eine mittelst eines schwer
schmelzbaren Kittes luftdicht eingekittete Glastafel (/*) von 1 Mm. Dicke,
80 Mm. Länge und 36 Mm. Breite. Der Deckel des Kästchens (oa) ruht
auf einem 1 Mm. tiefen stufinartigen Ausschnitt der Seitenwände und
ist abhebbar. Beim Gebrauche wird dieser Ausschnitt der Gaskammer,
in welchen der Deckel eingelegt wird , oder die Ränder des Deckels
selbst mit etwas Fett bestrichen, und der Deckel fest aufgedrückt. Diess
reicht bei weitaus den meisten Versuchen zu einem völlig luftdichten
Verschluss hin. Nur wenn der Druck im Innern des Gaskammer auf
eine bedeutende Hohe steigen sollte , kommt es vor, dass die blosse
Adhäsion nicht mehr genügt, und der Deckel dann von Innen gelüftet
wird. In diesen Fällen kann man den Deckel durch eine oder zwei
Messingklammem {cc Figg. 1, 2, 3) in angepresster Lage flxiren.
Für gewöhnlich dient ein Messingdeckel von 76,5 Mm. Länge,
332 Th. Wi Ktigelmann;
86 Mm. Breite und 1 Mm. Diol^e, der in seiner Mitte ein Loch (6 Fig. I
u. 2), von etwa 4 5 Mm. Durchmesser hat. Diese Oeffnung wird ver-
schlossen durch ein auf der innern Seite des Deckels, mittelst irgend
eines in Wasser unlöslichen Kittes befestigtes -di^kglas von beliebiger
Dünne, Die Ränder der Oeffnung sind nach unlen keilförmig zuge—
schärft , so dass die Oeffnung auf der äusseren Seiie einige Millimeter
weiter ist (etwa i 7 Mm. im Ganzen] als auf der inneren Seite. Diese
Einrichtung gewährt den Vortheil , dass man mit breitgefaesten , star«^
ken Objectivsystemen das Präparat in grösserer, namentlich seitlicher
Ausdehnung untersuchen kann als es bei einer cylindrischen Form des
Loches möglich sein würde. — Das Object kommt in einem Tropfen
Flüssigkeit auf die Seite des Deckgläschens, welche beim Auflegen des
Deckels dem Inneren der Gaskammer zugekehrt wird. Der Deckel lässt
sich, wie man schon aus der Beschreibung sieht, ganz wie ein gewöhn-
licher Objectträger handhaben. Man vermeidet hierbei den Uebelstand,
welcher die neuerdings von Böttcher, Stricker, IIuizinga angegebe-
nen Apparate kennzeichnet, dass nämlich da3 Deckglas selbst,, auf
welchem das Präparat liegt, auf den mit Fett bestrichenen Rand auf-
gedrückt wird. — Der verticale Abstand des Objects von der Ober-
fläche des Objecttiscbes beträgt im Mittel nur etwa 4 Mm. Die Hellig-
keit des Gesichtsfeldes nimmt hierbei so wenig ab , dass bei nur eini-
germassen erträglichem Himmel, selbst bei Immersionslinsen wie Nr. 1 0
von Hartnack noch ziemlich enge Diaphragmen im Objecttisch benutzt
werden können. — Will man die Gaskammer auf dem heizbaren Ob-
jecttisch von Sghultze benutzen, wdcher nur ein dünnes Slrahlen-
bündel durchlässt, so kann es bei ungünstigem Himmel wünschens-
werth werden, das Object in eine grössere Nähe zum Spiegel zu brin-
gen. Man kann dann einen gläsernen Deckel von deoselben Dimensio-
nen wie der erstere , aber mit weiterer Oeffnung, benutzen, auf dessen
innere Seite ein etwa 2 Mm. hoher, unten durch das Deckglas ver-
schlossener Glasring aufgekittet ist. Dan% befindet sich das Object nur
etwa 2 Mm. über der Oberfläche des ObjecttLsqhes. Wenn man mit
schwächerer Vergrösserung untersuchen will , kann man den Tropfen
mit dem Object auch unmittelbar auf die Glasplatte bringen , welche
den Boden der Gaskammer bildet. Auch könnte man, obschon weniger
praktisch, Glasring und Deckglas w eglassen^ am Tubus des Mikroskops
eine feuchte Kammer der RECKLLXGHAUSEN^schen Construction anbringen
und diese aussen auf den Deckel der Gaskammer aufsetzen. Das Object
würde dann auf denBoden der Gaskammer kommen. In diesem Falle
befände sich das Qbjectiysystem in einem mit der Gaskammer commu-
nicirenden Raum. Es kann durch die Oqffnung.im Deckel beliebig weit
Debet die FlüDiierbeweguDgk 333
in die Gaskammer hinabgesenkt werden. Der grössere Durchmesser
der Oeffnung im Deckel erlaubt sMbst bei tiefem Stand des Qbjectivs
genügende seitliche Excursj6nen. Für Obj^ctivsysteme, deren Fassung
nicht ftUzubreit ist, 'teicht ein Durchmesser der Oeffnung von 20 Mm.
aus. Auf die Zuvedässigkeit der Thermometerangaben bei Anwendung
der Gaskammer auf dem heizbaren Objecttisch kommen wir sptlter
zurück.
Um in der Gaskammer elektrisch zu reizen , kann man sich eines
giHsemen Deckels (Fig. 4 u. 5) von den oben angegebenen Dimensio-
nen bedienen, welcher in der Mitte eine oben 17, unten 15 Mm. weite,
unten durch ein Deckglas verschlossene Oeffnung besitzt. Unweit die-
ser Oeffnung ßndet sich zu beiden Seiten je eine kleine cylindrische
Durchbohrung im Deckel , durch welche die Elektroden in's Innere der
Kammer gelangen. Auf die Einrichtung der Elektroden komme ich bei
Besprechung des Einflusses elektrischer Reizung zurtick. — Das Object
befindet sich auch hier in einem an der Unterseite des Deckgläschens
hängenden Tropfen. Reizt man auf dem heizbaren Objecttisch, so be-
nutzt man, falls die Beleuchtung nicht gtlnstig genug sein sollte, besser
einen Glasdeckel mit weiterer Oeffnung, und kann, wie oben, entwe-
der das Deckglas durch Vermittlung eines Glasringes herabrttcken, oder
man setzt eine RECKLiNGHAtssN'sche Kammer auf und bringt das Object
und die Elektroden auf den Boden der Gaskammer.
Um die Gase in den Apparat ein- und auszuführen, ist in der Mitte
von jeder der zwei kürzeren Seitenwinde eine Messingröhre von 4 Mm.
Dicke und 2 Mm. Lumen eingeschraubt , über welche der Kautschuk-
scblauch gezogen wird. Bei Anwendung auf Schultzens heizbarem Ob-
jecttisch ist es , der Erhitzung der Kautschukschiäuche halber, nölbig,
dass die Enden dieser Röhren über die Ränder des Tisches herausra-
gen. Eine Länge von 36 Mm. ist hierzu ausreichend. — Wie man sieht,
kann die Gaskammer auch als gewöhnliche feuchte Kammer benutzt
werden. Sollten die langen Ansatzröhren beim gewöhnlichen Gebrauche
unbequem werden , so schraubt man sie ab und verschliesst die Oeff-
nungen mit nassen Papierpfröpfen u. dgl., oder schraubt kurze Röhr-
chen an. Man hat hier den Yortheil vor der RECELmcHACSEN^schen Kam-
mer, dass Mikroskop und Object sich nicht in fester Verbindung mit
einander befinden.
334 ^ Tb« W. fiügeliMAis
Untersuchung.
Bei der mikroskopischen Beobachtung der Schwingungen von
Flimmerhaaren hat man vor Allem auf Form und Geschwindigkeit der
Bewegungen zu achten. Aendert sich die Bewegung, so hätte man
jedesmal zu untersuchen, ob und wie sich jeder Einzelne dieser Facto-
ren ändere. Ehe wir jedoch diese Aenderungen betrachten, mögen der
Flimmerbewegung, so wie sie unter normalen Verhältnissen von Statten
geht, einige Worte gewidmet werden. Wir haben hierbei nur flim-
mernde Epithelzellen im Auge , besonders die der Bachenschleimhaut
des Frosches, nehmen also keine BUcksicht auf unter dem Einfluss des
»Willens« stehende Wimpern, welche z. B. bei den Infusorien in so
grosser Verbreitung vorkommen.
Die normalen Schwingungen der Flimmerhaare erfolgen in einer
senkrecht auf der Oberfläche der Zelle stehenden Ebene. Davon über-
zeugt man sich leicht — z. B. an den Fühlern lebender Süsswasser-
schnecken , an den Kiemen von Muscheln , an quer herausgeschnittenen
Streifen der Bachenschleimhaut vom Frosch — wenn man in der Bich-
tung dieser Schwingungsebene auf die Zellen sieht. Blickt man tan-
gential zur Oberfläche der Zelle in der Schwingungsebene , so erkennt
man, dass diese Letztere genau senkrecht auf der Oberflache der Zelle
steht. Blickt man vertical von oben auf die Zelle , so scheint sich jeder
Punct eines Haares in einer geraden Linie hin und her zu bewegen.
Zugleich bemerkt man, dass benachbarte Fiimmerhaare in parallelen
Bichtungen schwingen. Diese Bichtungen sind constant und , wie sich
schon aus den gröberen mechanischen Wirkungen der Flimmerthätig-
keit auf thierische Oberflächen leicht ergiebt, im Allgemeinen der Langs-
ame des betreffenden Organs (Mund- und Bachenhöhle , Oesophagus,
Luftwege, Tuben etc.) parallel.
Zur Untersuchung des Verlaufs der Bewegung innerhalb der
Schwingungsebene, zur Ermittelung der verschiedenen Lagen, welche
das Haar während eines Hin- und Hergangs nacheinander annimmt, ist
es nöthig , senkrecht zur Schwingungsebene auf die Flimmerzellen zu
blicken ; man muss also die Zellen so lagern , dass die Schwingungs-
Deber i\» Flimmerbewegi^. 335
ebene der Oberfläche des Objecttisches parallel ist. Diess erreicht man
z. B. bei thierischen Schleimhäuten, wie der Rachenschleimhaut des
Frosches, leicht, wenn mipr schmale Längsstreifen der Haut genau in
der Richtung der Biegung herausschneidet. Dann hat die Schwin-
gungsebene von selbst die gewünschte Lage.
yALBifTm >) , dessen Angaben in die Lehrbücher der Physiologie
übergegangen sind , unterscheidet nun vier Typen der Bewegung : die
bakenförmige, die trichterförmige, die schwankende (pendeiförmige)
und die wellenförmige Bewegung. Von diesen soll die hakenförmige
bei weitem die häufigste sein (bei allen Wirbelthieren, Gastropoden,
Muscheln etc.). Die schwankende Bewegung soll sich nur finden, wo
die Flimmerbewegung schwächer wird und auch dann nur ausnahms-
weise. Gleichfalls ausnahmsweise und nur wenn das Phänomen im
Erlöschen begriffen war, glauben Purkinjb und Valentin die wellenför-
mige Bewegung bei einaselnen Wirbelthieren bei ihren ersten Unter-
suchungen gesehen zu haben. Später ist sie Valsntin nicht mehr vor-
gekommen. Die trichterförmige Bewegung soll bei den «mehr rund-
lichen Haaren« nicht selten wahrgenommen werden. — Die Annahme,
dass die hakenförmige Bewegung die normale Form sei , setzt voraus,
dass das Plimmerhaar im normalen Znstand nur auf bestimmten Stre-
cken seiner Länge activ beweglich sei. In den häufigsten Fällen haken-
förmiger Bewegung würde ein der Basis anliegendes Stück des Haars
active Beweglichkeit besitzen, der übrige Theil bis zur Spitze aber steif,
nur passiv beweglich sein. Das passiv bewegliche Spitzenstück kann
i) H. Waoner's Handwörterbuch der Physiologie. Bd.I. pag. 502. 4848. — Hier
heisst es: »Die Bewegungsart der Wimpern .... kann auf folgende vier Typen re-
ducirt werden : 4) dier hakenförmige Bewegung (motas uncinatus). Hier macht jedes
einzelne Haar Bewegungen gleich einem Finger, welcher abwechselnd gebeugt und
gestreckt wird. Bei kürzeren Haaren oder Läppchen zeigt sich bei dieser Bcwegungs-
weise nur eine einfache Entwicklung , bei längeren dagegen , z. 6. an denen der
Kiemen von Anodonta bisweilen auch eine doppelte , ganz wie bei einem mit drei
Phalangen versehenen Finger. Die Realisation dieser Bewegung scheint nur denk-
bar, Indem wir uns eine contractile, In dem Haare gelegene Substanz, oder indem
wir eine analoge Einrichtung, wie durch Fingersehnen realisirt wird, uns vorstellen.
a) Die trichterförmige Bewegung (motus infundibuliformis). Hier dreht sich das
Haar um seine Basis als den Mlttelpunct und beschreibt mit der Spitze einen voll-
ständigen Kreis, so dass es im Ganzen eine Kegeloberfläche bei Jeder einmali-
gen Drehung durchläuft. 8) Die schwankende Bewegung (motus vacillans). Hier
schwankt das Haar nur mehr pendelartig von einer Seite zur andern. Endlich 4)
die wellenförmige Bewegung (motus undulatus). Hier schlängelt sich das Haar,
ungefähr wie ein im Wasser schwimmender Vibrio oder wie der Faden eines Sper-
matozoon.«
33Ö Th. W. LAgelmunn,
nun aber, wie die Beobachtung zeigt, selbst bei Wimpern benachbarter
Zellen sehr verschieden lang sein. Zuweilen ist nur die äusserste Spitre,
zuweilen das Haar fas) in seiner ganzen Lmge steif. Es kommen nach
Valentin auch Fälle vor, in denen ein Haar dSymelte Hakenbiegung
zeigt, etwa wie bei einem mit drei Phalangen versenenen Finger. Hier
würde man von der Basis des Fingers ausgehend erst ein bewegliches,
dann ein steifes, dann wieder ein bewegliches und nach diesem wieder
ein steifes Stück haben ^j .
Alles diess beobachtet man aber an Wimpern, die sich nicht
mehr unter normalen Bedingungen befinden. Nimmt man an , dass
alle Flimmerhaare von ein und derselben Localität in allen wesent-
lichen Puncten gleichgebaut seien, gegen welche Annahme wol Nie-
mand etwas Stichhaltiges wird einwenden können, so muss man
aus obigen Thatsachen schliessen, dass unter normalen Verhältnis-
sen jedes Flimmerhaar an allen Stellen seiner Länge active Beweg-
lichkeit besitzt, dass aber unter noch näher zu ermittelnden Einflüssen
bald die eine bald die andere, bald eine kürzere bald eine längere
Stredie eines Haares diese active Beweglichkeit verliert, starr wird.
Diess zugegeben darf man .auch behaupten , dass unter normalen Ver-
hältnissen auf allen Strecken der Haarlänge wirklich eine active Bewe-
gung stattfinde und es fragt sich nur , ob diese Bewegung auf allen
Stellen der Länge gleichzeitig, oder ob sie an verschiedenen Stellen zu
verschiedenen Zeiten und dann in welcher Reihenfolge sie stattfinde. —
Die Beobachtung entscheidet für ein wellenförmiges Fprtschreiten der
Bewegung von der Basis des Haars nach der Spitze zu. Man sieht diess
oft genug an Flimmerhaaren von Wirbelthieren oder Mollusken, wenn
die Schwingungen langsamer werden ; insbesondere wenn die Verlang-
samung in sehr verdünnten Lösungen kaustischer Alkalien stattfindet.
Dasselbe gilt von Samenfäden, %. B. des Frosches, die sich in Samen-
flüssigkeit bewegen. Dasselbe habe ich oft beobachtet an Flimmerzellen
vom Frosch, wenn sie durch Kohlensäure oder andere Säuren aus dem
Wasserstoffstillstande erweckt wurden. Es begann dann die erste Be-
wegung — die Rückwärtsbeuguhg des Haars — mit einer bogenför-
migen Krümmung desselben an der Basis , welche wie eine Welle an
einem Seil nach der Spitze zu fortlief. Aus der Form der Krümmungen,
welche hierbei das ganze Flimmerhaar nacheinander annahm, Hess sich
schliessen^ dass der Bewegungsvorgang ungefähr in dem Momente die
Spitze des Haars erreicht hatte , wo ein an der Basis gelegener Punct
4) Aehnliches sieht man bekanntlich bei Samenftiden , wo oft nur ein Spitzen-
Ktüek oder nur der Danaltheil des Fadens schwingt.
Ueber die FUfflnierbewegiiug. '^ 337
zum ersten Maie wieder in seiner Gieichgawichtslage angekommen war.
Die Länge des Haars war also ungefähr gleich der halben Wellenlänge.
In dem Moment, wo die Welle an der Spitze ankommt, beginnt sich
das Haar an der Basi^von Neuem bogenförmig zu krümmen und zwar
nach der entgegengesetzten Seite als vorher , also mit der Conca vität
nach vorn. Auch diese Krümmung schreitet wie eine Welle, deren
JLänge etwa der doppelten Lange des Haares gleich ist, nach der Spitze
zu fort, jedoch, wie die Beobachtung lehrt, mit grösserer mittlerer Ge-
schwindigkeit als die erste ^) . Somit setzt sich jede vollständige Schwin-
gung eines Flimmerhaares aus zwei halben Schwingungen zusammen,
deren erste eine längere Dauer besitzt als die zweite.
Die beschriebenen Krümmungen des Haares können nur zu Stande
kommen , indem das Haar sich abwechselnd in der einen und in der
andern Längshälfte verkürzt und wieder streckt , und zwar muss der
Vorgang der Verkürzung bei Rückwärtsbeugung des Haares sich in der
hinteren , bei Vorwärtsbeugung sich in der vorderen Längshälfte des
Haares von Querschnitt zu Querschnitt von der Basis bis zur Spitze
wellenförmig fortpflanzen.
Durch directe Beobachtung kann man sich wegen der grossen
Schnelligkeit der Bewegungen nicht davon tiberzeugen , dass die wel-
lenförmige Bewegung die normale sei. Doch ist sie bei verlangsamter
Flimmerthätigkeit, wie schon erwähnt, oft wahrzunehmen. Die anderen
Formen der Bewegung, wie die hakenförmige, die pendelnde, die trich-
terförmige , entstehen aus der Wellenform dadurch , dass das Haar an
gewissen Stellen steif, starr wird, seine active Beweglichkeit verliert.
Welche Theile des Haares bei jeder einzelnen der genannten Formen
steif sind lässt sich leicht schliessen und bedarf keiner näheren Erwäh-
nung. Ebensowenig die Thatsache , dass auch viele Uebergänge zwi-
schen den genannten Formen der Bewegung vorkommen.
Es fragt sich nun, warum alle Flimmerhaäre gerade nach der
einen Richtung normal mit grösserer Geschwindigkeit schwingen , als
nach der entgegengesetzten ; warum die Rückwärtsbeugung langsamer
als die Vorwärtsbeugung geschieht? Hierüber vermag die Unter-
suchung matt schlagender oder bereits ruhender Wimpern, einigen
Aufschluss zu geben. Man schneide aus einer flimmernden Schleim-
\) Nimmt man an, ein im Maximum der Bewegung befindliches Flimmerhaar
von 0,01 Mm. Länge mache \% ganze Schwingungen in der Secunde, so ergiebt sich
daraus für die mittlere Fortpflanzungsgeschwindiglteit des Bewegungsvorgangs im
Fliminerhaar der Werth von 0,S4 Mm. in der Secunde. Dieser Werth kann beim
Erlahmen der Bewegung durch alle Zwischenwerthe bis auf 0,005 Mm.und tiefer
herabsinken.
Bd. IV. 3. iS
338 Th. W, Ehgelmanu,
haut, z. B. des Oesophagus vom Frosch einen schmalen Längssireifen
heraus , bringe ihn in Kochsalzlösung von 1 7o ^^ ^^^ feuchte Kam-
mer und warte bis die Bewegung nachlasst. Nach kurzer Zeit, oft
schon unmittelbar nach Anfertigung des Prapsrm^s, findet man beim
Untersuchen des flimmernden Randes unter dem Mikroskop Zellen-
reihen, deren Wimpern theils nur noch langsame und kleine Schwin-
gungen ausführen, theils schon zu schlagen aufgehört haben. Betrachtet
man die noch in massiger Bewegung befindlichen Wimpern bei stär-
kerer Vergrösserung , so erkennt man , dass in weitaus den meisten
Fällen die Haare fast in der ganzen Länge steif sind, nur passiv bewegt
werden, und nur ihre Basalstücke sich verkürzen und strecken. Die
Excursionsweite der Schwingungen ist hierbei mehr oder minder be-
trächtlich verringert, in der Regel bei allen Haaren derselben Zelle
gleichmässig. Während eine in lebhafter Bewegung befindliche Wim-
per, als Radius gedacht, einen Kreisausschnitt von 90^ bestreichen
kann , misst hier beispielsweise die Schwingungsweite nur noch SO <^
Sogleich fällt auf, dess alle Haare nach einer Seite geneigt sind und nur
in dem auf dieser Seite gelegenen Quadranten ihre Schwingungen aus-
führen. Sie vermögen sich nicht mehi^ vertikal aufzurichten, oder gar
in den anderen Quadranten hinüberzuschwingen. Sie oscilliren um
eine schiefe Gleichgewichtslage. Diese ist, wie die Beobachtung zeigt,
nach der Seite geneigt, nach welcher die Strömung gerichtet ist.
Betrachtet man nun die bereits völlig zur Ruhe gekommenen Wim-
pern , so fällt auch hier sofort auf, dass dieselben nicht vertikal gerade
gestreckt dastehen, sondern alle nach einer und derselben Seite geneigt
sind, und zwar ergiebt sich auch hier, dass die Spitzen der Haare nach
der Seite zu geneigt sind , wohin während des Lebens die Strömung
auf der flimmernden Oberfläche gerichtet ist. Auf der Mundschleim-
haut vom Frosch sind also beispielsweise alle ruhenden Wimpern schief
nach der Seite des Oesophagus zugeneigt. Die Abweichung des Plim-
merhaares von der Vertikalen kann über 35 ^^ betragen. Meist fand ich
25 . 300. £^ ist bei diesen Messungen natürlich noth wendig, dass die
Schwingungsebene der Haare senkrecht zur Axe des Mikroskops gela-
gert sei. — ^ Man beobachtet dieselbe schiefe Lagerung bei den ver-
schiedensten Formen der Flimmerruhe, z. B. bei Wimpern, welche in
einer Wasserstoff- oder Kohlensäureatmosphäre zur Ruhe gebracht
worden sind. An einen Tetanus ist also nicht zu denken.
Durch mechanische Mittel, z. B. mit Hülfe eines mikroskopisch fein
zugespitzten Glasstäbchens kann man die schief stehenden Wimpern
unter dem Mikroskop aufrichten und rückwärts umbeugen. Sowie man
loslässt, fahren sie in ihre erste schiefe Stellung zurück. Offenbar
Deber die Ftimmerbewegung, 339
sind also elastische Kräfte thstig, welche die Haare in schräger SteUung
festzuhalten streben ; und zwar wirken diese Kräfte bei allen Haaren in
gleichem Sinne, und in ungefähr gleicher Stärke. — Dass der Sitz die-
ser elastischen KräfM' an der Basis der Haare ist , ergiebt sidi aus dem
Umstände, dass die ruhenden Wimpern in ihrer schiefen Lage vollkom-
men gerade gestreckt und nicht etwa bogenförmig gekrümmt sind. Es
kann also, mit Ausnahme an der Basis, kein merkliches Uebergewicht
der elastischen Kräfte der einen Längshälfte des Haares über die der
andern bestehen *) .
Die Beobachtung in »pendelnder« Bewegung begriffener Wimpern
lehrt nun ferner, dass die an der Basis des Haares wirkenden elasti-
schen Kräfte, und nicht etwa ein auf allen Puncten der Haarlänge vor-
handener Unterschied in der Schnelligkeit des Verlaufs von Verkürzung
und Streckung es ist, welcher verursacht, dass die Vorwärtsbeugung
des Haares schneller als die Rückwärtsbeugung verläuft. Bei der pen-
delnden Bewegung, welche unter verschiedenen Umständen, jedoch
im Ganzen selten, bei nachlassender Bewegung eintritt, ist nämlich das
Basalstück starr, und nur ein kürzeres oder längeres Stück des Haares,
von der Spitze an , beweglich. Hier verlaufen nun Rück- und Vor-
wärtsbeugung gleich schnell, wie man schon daraus folgern kann, dass
an der Oberfläche der Zellen keine continuirliche Strömung , sondern
nur ein schwaches Hin- und Her-Oscilliren der Flüssigkeit zu Stande
kommt. Verkürzung und Streckung müssen also auf jedem einzelnen
Puncto der Länge des Haares mit Ausnahme des Basalstücks unter sich
gleich schnell verlaufen. — Beobachtet man dagegen die sogenannte
hakenförmige Bewegung, welche die weitaus häufigste Form beim
Nachlassen der Bewegungen und dadurch charakterisirt ist , dass nur
das Basalstück noch activ beweglich, das Haar in seiner übrigen Länge
aber st^ ist, so findet man selbst bei langsamen Tempo und äusserst
geringer Excursionsweite der Schwingungen (5^) die Flüssigkeit an
der Oberfläche der Zellen stets in continuirlicher, immer gleich gerich-
teter Strömung begriffen. Die Strömung geht stets nach der Seite, wo-
hin die Haare in der Ruhelage geneigt sind. — Nach alledem darf man
nur in den an der Basis der Haare wirkenden elastischen Kräften die
Ursache des Unterschieds suchen , welcher zwischen der Geschwindig-
keit der Rückwärts- und der Vorwärtsbeugung der Haare besteht. Da
nun die elastischen Kräfte bei allen Flimmerhaaren aller Zellen in glei-
4) Diess Letztere gilt jedoch nicht für Wimpern aller Localitttten, sondern zu-
nächst nur für die der Schleimhäute von Wirbelthieren. Bei Mollusken sind die
Wimpern in der Ruhelage hiiuflg stark bogenförmig gekrümmt, mit derConcavität,
oder, was nicht selten, sogar mit der Convexität nach vorn.
340 l'h» W. Engelmann,
cbem Sinne wirken, muss eine coniinuirliche Strömung der Flüssigkeit
auf der flimmernden Oberfläche zu Stande kommen.
Ein anderer wichtiger Punct , der bei Untarsuphung der Flimmer-
bewegung beachtet werden muss , ist die Geschwindigkeit der Bewe-
gungen. Ich verstehe hierunter den Weg , oder den Plächenraum, den
das ganze Flimmerhaar in der Zeiteinheit zurücklegt, also das Product
aus Frequenz (Schwingungszahl) und Schwingungsweite. Diess ist
offenbar das Maass für die Grösse der Bewegung ; nicht aber die Schnel-
ligkeit der Flüssigkeitsströmung an der Oberfläche der Zellen oder gar
die Schnelligkeit des Tempo allein. Der bisherige Sprachgebrauch un-
terschied hier nicht scharf : man findet meist nur gesagt, dass die Be-
wegung schnell oder langsam gewesen sei , sich beschleunigt oder ver-
zögert habe. Damit kann aber einmal — und ist es wol meist — die
Schnelligkeit der durch die Wimperthätigkeit hervorgebrachten Strö-
mung, zweitens aber die Schnelligkeit des Tempo, d. h. die Frequenz,
und endlich die wahre Geschwindigkeit, in dem oben bezeichneten
Sinne gemeint sein.
Dass die Schnelligkeit der durch die Wimperthätigkeit hervorge-
brachten continuirlichen Flüssigkeitsströmung nicht ein Ausdruck für
die Geschwindigkeit und Grösse der Flimmerbewegung ist, ergiebt sich
aus der Ueberlegung, dass jede ganze Schwingung eines Flimmerbaares
aus zwei halben Schwingungen von verschiedener Dauer und einander
entgegengesetzter Richtung sich zusammensetzt. Die Grösse des Unter-
schieds zwischen den lebendigen Kräften dieser beiden halben Schwin-
gungen ist es offenbar, von welcher die Geschwindigkeit der Strömung
abhängt. Diese Grösse könnte aber, wie eine einfache Rechnung zeigt,
gewaltige Veränderungen erleiden , während die Geschwindigkeit un-
verändert bleibt, oder sich sogar im entgegengesetzten Sinne ändert.
Die Differenz der genannten lebendigen Kräfte muss z. B. grösser wer-
den, wenn die erste halbe Schwingung des Haares (die Rückwärtsbeu-
gung) um ebensoviel an Dauer zunimmt als die zweite halbe daran
verliert. Und umgekehrt muss eine Abnahme der Differenz der leben-
digen Kräfte eintreten, wenn die erste halbe Schwingung an Dauer ab,
die zweite daran zunimmt. Hier könnte es kommen, dass der Unter-
schied der lebendigen Kräfte null wird. Letzterer Fall ist in der pen-
delnden Bewegung verwirklicht. — Aus diesen Gründen sind die oben
beschriebenen Methoden von CALLnuRCfes und Kistiakowskt, mit denen
man nur für den Unterschied der genannten lebendigen Kräfte ver-
gleichbare Maasse gewinnt , für die Bestimmung der Geschwindigkeit
der Flimmerbewegung streng genommen unbrauchbar: der Zeiger auf
Ueber di« Flimmerbeweguug. 341
dem Zifferblait des Apparates von Calliburc^s, des Siegellacktropfen
von KiSTiAKOWsKT Werden bei der lebhaftesten pendelnden Bewegung
der Fliromerhaare stillstehen. Nur in den Fällen, wo die Zu- oder Ab-
nahme der Differeox- der lebendigen Kräfte auf einer, beide halbe
Schwingungen gldchmassig und gleichzeitig betreffenden Zu- oder
Abnahme der verschiedenen Geschwindigkeiten beruht, würde man
aus der Schnelligkeit der Strömung einen Schluss auf die Schnelligkeit
der Bewegung der Flimmerhaare ziehen dürfen. Diese Bedingungen
scheinen in der That meist erfüllt zu sein.
Selbstverständlich ist, dass die Bestimmung des Tempo (das heisst
der Frequenz , der Schwingungszahlj allein nicht zur Bestimmung der
Geschwindigkeit der Bewegung ausreicht, da die Letztere das Product
aus Schwingungszahl und Schwingungsweite ist. Die Geschwindigkeit
kann zunehmen, wenn bei gleichbleibender oder sogar abnehmender
Frequenz die Schwingungsweite grösser wird, sie kann zunehmen
durch Steigerung der Frequenz bei gleichbleibender oder abnehmender
Excursionsweite, sie muss endlich zunehmen, wenn sowol Schwin-
gungsweite als Frequenz wachsen. Alle diese Fälle kommen in Wirk-
lichkeit vor, und es sind durchaus nicht die seltensten, in welchen sich
die beiden Factoren , Frequenz und Amplitude, in entgegengesetztem
Sinne ändern. Es ist desshalb nolhwendig, zur Ermittelung der Ge-
schwindigkeit der Bewegung , Frequenz und Schwingungsweite zu-
gleich zu messen. Dieser Forderung kann man innerhalb weiter Gren-
zen ziemlich gut nachkommen, wenn man nur sorgt, dass die Schwin-
gungsebene der Flimmerhaare der Oberfläche des Objecttisches parallel
sei. Die Bestimmung der Frequenz durch Zählen der Schläge unter dem
Mikroskop und die Messung oder Schätzung der Excursionsweite ist nur
dann nicht mehr möglich, wenn die Geschwindigkeit eine sehr bedeu-
tende Höhe erreicht. In diesem Falle sind die Wimperschläge einzeln
nicht mehr zu unterscheiden.
Unter normalen Bedingungen scheint die Geschwindigkeit der Be-
wegungen nun wirklich meist eine solche Höhe zu haben ; wenigstens
habe ich diess bei lebenden kleinen Batrachierlarven und Schnecken
(Planorbis, Paludina) beobachtet, die in demselben Wasser, in welchem
sie gelebt hatten in toto untersucht wurden. Aber auch an frisch und
vorsichtig herausgeschnittenen und in Froschblutserum liegenden Stück-
chen von der Mund- oder Rachenschleimhaut des Frosches kann man
dasselbe unmiilelbar nach dem Anfertigen des Präparats , bei gewöhn-
licher Zimmertemperatur sehen. Die Angaben von Kbausb, der die Fre-
quenz der Wimperschläge (beim Menschen?) auf 490 bis 320 in der
Minute angiebt, und die von VALBimn , welcher bei Anodonta nur auf
342 Tb. W. BngelnaiiD,
400 bis 450 kam, und ausspriobt, »dass jedes Haar bei normaler Be-
»wegung 2 bis '), seltner wie es scheint, mehr vollendete Bewegungen
»in der Secunde vollenden dürfte,« — diese Angaben gelten im Allge-
meinen nur für eine beträchtlich abgeschv^achte Bewegung. Untersucht
man die Bewegung beim Frosch unter den eben angegebenen Bedin-
gungen , so erscheint der Wimpersaum im Profil als ein zarter, Überall
gleich hoher Schattenstreif, welcher über die äussere Oberfläche der
Epithelzellen hinzieht. Er selbst scheint vöUig ruhig zu stehen und
verräth seine Bewegung nur durch die reissende StrOmung in welche
er die ihn bespülende Flüssigkeit mit den darin suspendirten festen
Theilchen versetzt. Die Verlangsamung der Bewegung macht sich zu-
erst bemerkbar durch kleine streifige Schatten und Lichter, welche von
Zeit zu Zeit blitzschnell in dem homogen scheinenden Sauoa auftauchen.
Anfangs kommen sie nur selten und an wenig Stellen, allmählich fol-
gen sie sich schneller und an mehr Ortön, und endlich zeigt der grOsste
Theil des Flimmersaumes jenes flimmernde Wogen und Wellenrieseln,
welches der Flimmerbewegung eigenthümlich ist. Noch kann man aber
weder die einzelnen Wimpern unterscheiden , noch gar ihre Schwin-
gungen zählen. Der vorher scheinbar continuirliche Gesichtseindruck
ist nur deutlich zu einem intermittirenden geworden. Bald verlang-
samen sich aber die Sdiwingungen mehr und werden nach einiger Zeit
zählbar. Ich kann sie mit Sicherheit erst zählen , wenn die Sohwin-
gungszahl ungefähr auf acht in der Secunde herabgesunken ist. So
weit diese Zahl die von den oben genannten Beobachtern angegebene
übersteigt, gilt sie, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, doch nur
für eine bereits beträchtlich verlangsamte Bewegung. — Wie schnell
das Tempo und wie gross die Schwingungsweite bei noch nicht ver-
langsamter Bewegung sei, lässt sich nicht genau angeben, doch möchte
nach einer Schätzung die Schwingungszahl im Maximum mindestens
4 2 sein. — Die Schwingungsweite kann im Maximum über 90 ^ be-
tragen (so häufig in schwach alkalischen Flüssigkeiten) ; wie gross sie
aber im normalen Zustand sei, lässt ^ich ebenfalls wegen der zu gros-
sen Geschwindigkeit nicht ermitteln. Die Veränderungen, welche
Frequenz und Amplitude unter verschiedenen Einflüssen erleiden,
sollen später näher geschildert werden. Das mag aber schon im Vor-
aus bemerkt werden, dass schon sehr geringe Aendeningen der äusse-
ren Bedingungen , Aendeningen , denen die Zellen auch im lebenden
Organismus normal ausgesetzt sind, genügen, um Tempo und Schwin-
gungsweite in kurzer Zeit erheblich zu ändern.
Wir gehen nun zur Schilderung des Einflusses verschiedener
Agenüen auf die Flimmerbewegung tä>er. Da dieser Einfluss bei Wim-
Ueber dis FUmnerbew^gnng. ^ 343
perhaaren Yersobiedener Localitäten und Thiere nicht immer derselbe
ist, beschreiben wir erst die Versuche, welche mit Flimmerzellen von
Wirbeltbjeren — vor Allem von der Rachenschleimhaut des Frosches — ,
dann die, welche an Süss- und Seewassermollusken angestellt wurden.
Endlich widmen wir der Bewegung der Samenfäden, die nur ein spe-
cieller Fall der Flinomerbewegung ist, einige Worte.
A. Yersnehe an FlimmerzeUeii ron Wlrbelthleren.
1. Einfluss dos Wassers auf die Flimmerbewegung.
Der Einfluss des Wassers auf die Bewegungen der Flimmerhaare
ist bisher nicht ausreichend untersucht worden ; dodi erwähnen ein-
zelne Untersuchungen schon , dass reines Wasser wenigstens auf die
Plimmcrzelien der Schleimhaute von Wirbelthieren sehr schädlich wirkt.
Und hiermit stimmen auch KOlliur's Erfahrungen an Spermatotoen
ttberein. tch untersuchte zuerst, welche Veränderungen die Flimmer-
bewegung in reinem Wasser erleidet
Bringt man ein kleines Stück der Raohenschleimhaut eines eben
getödteten Frosches in einen Treten dostillirten Wassers , so zeigt die
Flimmerbewegung in der ersten Minute ausserordentliche Schnelligkeit
und Stärke ^) ; aber nodi im Laufe der ersten oder in der zweiten H^
mite lassen die Bewegungen sowol an Frequenz als an Amplitude merk^
lieh nach, und während die Zellen und Flimmerhaare stark quellen,
erstere sich von der bindegewebigen Grundlage abheben und die Kerne
zu grossen belion Blasen mit deutlich vergrOssertem Kemkörperchen
aufschwellen , tritt Stillstand der Haare in schräg nach vorn geneigter
Lage ein. Innerhalb fünf bis zehn Minuten stehen meist alle Wimpern
still. Auch bei Frdsohen die bereits zwei, drei, ja sieben Tage todt und
bei gewöhDlichcr Zimmertemperatur unter einer mit Wasserdampf ge-
füllten Glasglocke aufbewahrt worden waren, zeigte sich derselbe Ein^-
fluss des Wassers : anfangs sehr verstärkte, dann langsam nachlassende
Bewegungen. Noch vier Tage nach dem Todo des Frosches, als die
Schleimhaut schon mit Millionen von Vibrionen bedeckt war, konnten
durch reines Wasser die Bewegungen vorübergehend unzählbar schnell
gemacht werden. Die Zellen sind zu dieser Zeit, wie auch schon am
1) Unter Stärke verstehen wir hier und in der Folge immer die Schnelligkeit
der dorch die Flimmerbewegang verursachten continuirllchen Flttssigkeitsstrtfmung.
S. oben.
344 1*^' ^* Gngelmannf
dritten Tage trübe, isoliren sich ungemein leicht, quellen aber in Was-
ser nicht so stark wie frische Zellen , und werden hierbei auch nicht
mehr durchsichtig. Auch tritt der Wasserstillstand die ersten Tage nach
dem Tode nicht so schnell ein, wie bei ganz frischen PlimmerzeUen.
Auf sehr verschiedene Weisen kann man , besonders bei frischen
Flimmerzellen den Wasserstillstand aufheben. Vor Allem durch was—
serentziehende Mittel, wie durch Lösungen vonKochsalz, Zucker,
durch Glycerin u. a. m. Welche Höhe die Bewegungen hierbei erreichen,
hängt von der Goncentration der Lösung, von der Dauer der Wasser-
einwirkung und von dem Zustande ab , in welchem die Flimmer2ellen
sich vor dem Zutritt des Wassers befunden haben. Schon nach 5 Mi-
nuten langer Dauer des Wasserstillstandes können die Bewegungen
für immer erloschen sein. Von einem nur wenige Secunden lang an-
gehaltenen Wasserstillstand kann dagegen durch Kochsalzlösung z. B.
die Thätigkeit der Cilien bis fast zur anfänglichen- Höhe wieder gestei-
gert werden, und sich dann lange so erhalten.
Ebenso, wenn gleich minder nachhaltig kann ein kurzer Wasser-
stillstand durch Säuren, z. B. Kohlensäure oder Essigsäure-
dämpfe aufgehoben werden. Die wiedererwachenden Bewegungen sind
aber klein, nicht frequent (selten mehr als 3 in derSecunde) und stehen
bei weiterer Säurezufuhr sehr bald wieder still. Die in den gequollenen
Zellen auftretende Trübung und massige Schrumpfung verräth deutlich
die Anwesenheit der Säure. Dieser Säurestillstand kann durch Luft (bei
Kohlensäure), oder durch Ammoniak (bei Essigsäure) aufgehoben werden.
Von Aether, Alkohol und Schwefelkohlenstoff gilt ungefthr
dasselbe wie von Säuren. Namentlich unter Einwirkung von Aether-
dämpfen kann die in reinem Wasser erloschene Thätigkeit frischer
Flimmerzellen wieder eine beträchtliche Höhe erreichen. Leicht tritt bei
etwas längerer Einwirkung Aetherstillstand ein, der durch Lufl wieder
aufgehoben werden kann , dann aber schnell vöUigetti Stillstände Platz
macht.
Anders als die bisher genannten Stoffe verhalten sich die Alkalien.
Ich benutzte meist Ammoniakdämpf e. Liess ich diese in der Gas-
kammer auf frische, soeben in destillirtem Wasser zur Ruhe gekommene
Flimmerzelleii einwirken, so erwachte die Bewegung nicht wieder; die
Zellen und Haare quollen vielmehr stärker und lösten sich leicht ganz
auf. Waren die Bewegungen durch das Wasser noch nicht völlig zur
Ruhe gebracht , so beschleunigte Ammoniak unter plötzlicher Zunahme
der Queliung den Eintritt des Stillstandes, der dann durch Säuren noch
vorübergehend aufgehoben werden konnte. Durch Kali und Natron
IJpber die Flimmerbewegiing. 345
kann man den Wasserstillstand ebensowenig als durch Ammoniak be-
seitigen.
Aach die Warme, sonst ein mächtiges Mittel zur Beschleunigung
erschlaflter Bewegung, versagt ihre Dienste, und befördert nur den
Eintritt der Flimmerruhe. Bei frischen Plimmerzellen vom Frosch,
deren Bewegungen sich in destillirtem Wasser vermindert haben , tritt
der Wanmestillstand schon viel früher als sonst , und ohne vorausge-
gangene Beschleunigung, häufig schon bei 30^ bis 35<^ C. ein. Kühlt
man gleich nach dem Eintritt des Wärmestillstandes das Präparat wie-
der ab, so erwachen die Bewegungen wieder, und dann tritt nach eini-
gen Minuten wie gewöhnlich der Wasserstillstand ein. Selbstverständ-
lich wird ein einmal eingetretener Wasserstillstand durch Temperatur-
erhöhung nicht aufgehoben.
Auch elektrische Reizung beschleunigt nur, unter Steigerung
der Quellung, den Eintritt des Wasserstillstands und ist niemals im
Stand, einen bereits ausgebildeten Wasserstillstand aufzuheben.
Untersuchen wir nun , unter welchen Umständen reines Wasser
im Stande ist, die durch andere Agentien zur Ruhe gebrachte Flimmer-
bewegung wieder zu erwecken. Wir beginnen mit der Schilderung des
Einflusses, den destillirtesWasseraufFlimmerzellen vom Frosch ausübt,
welche in sogenannten indifferenten Flüssigkeiten wie Serum,
Amniosflüssigkeit (mit oder ohne lod) ihre Thätigkeit vermindert haben.
In den meisten dieser Fälle beruht der Stillstand , wie aus gleich zu
erwähnenden Thatsachen folgt, darauf, dass die betreffende Flüssigkeit
in Wahrheit nicht vollkommen indifferent , sondern etwas zu concen-
trirt ist , oder dass sie es im Lauf der Beobachtung durch Wasserver-
dunstung geworden ist. Diess geschieht ja leicht , wenn das Präparat
nicht in einem beständig mit Wasserdampf gesättigten Räume liegt.
Wenn auch der Salzgehalt der Lösung den Indifferenzpunct nur sehr
wenig überschreitet, so tritt nach einiger Zeit, oft freilich erst nach
einigen Stunden Stillstand ein. Dieser stimmt vollkommen überein,
wird durch dieselben Mittel aufgehoben , wie der Stillstand in etwas
concentrirteren Lösungen von reinem Kochsalz z. B., von dem weiter
unten die Rede sein wird. — In seltneren Fällen beruht die Flimmer-
ruhe, welche man in den oben genannten und den ihnen verwandten
indifferenten Flüssigkeiten eintreten sieht, auf einer etwas zu geringen
Concentration der letzteren. Hier hat dann der Stillstand die Kennzei-
chen des Wasserstillstands, selbst wenn er erst nach Stunden eintritt.
— Aehnlich wie ein etwas zu grosser Wassergehalt der »indifferenten«
Flüssigkeit kann auch ein zu grosser Gehalt an Alkali wirken, wo dann
346 Tb. W. £ngelinaDn,
der Stillstand im Wcscntiicben dem später zu beschreibenden Alkali—
stillstand gleicht. Wir berücksichtigen hier die beiden letzteren Fälle
nicht, dagegen verdient der erstgenannte eine nähere Betracht^ing.
Hat sich die Bewegung bei einem z. B. in Serum liegenden Sdileim—
hautstttckchen so verlangsamt y dass die einzelnen Wimperschläge müBe—
quemlichkeit zu zählen sind — was bei einem Tempo von fünf Schwin—
gungen in der Secunde schon der Fall ist — so erreicht, wenn man
nun das Serum durch reines Wasser verdrängt, die Bewegung sogleich
eine ausserordentliche Schnelligkeit und Stärke. Binnen wenigen Se-
cunden werden die Schwingungen unzählbar. Ein vorher träge und in
wirrem Durcheinander flimmernder Saum erscheint auf einmal als ein
matter, bewegungsloser Schattenstreif, an dessen Oberfläche die Flüs-
sigkeit in reissend schnellem Strome vorbeifliegt. In dieser Stärke er-
hält sich die Bewegung »eine oder ein Paar Minuten und nimmt dann
ab, um nach wenig Minuten dem Wasserstillstand Platz zu mactien. —
Ganz ähnlich verhielt sich die Bewegung bei Flimmerzellen die 914 Stun-
den oder mehrere Tage nach dem Tode von Fröschen entnommen wur-
den und in frischem Amnioswasser zur Ruhe gekommen waren. Das-
selbe gilt auch , wenn statt des Amnioswassers Blutserum oder Humor
aqueus benutzt wird. Es versteht sich von selbst, dass b^* diesen Ver^
suchen das Präparat in der feuchten Kammer lag, so dass der erst
eingetretene Stillstand nicht auf eine durch Verdunstung herbeigeführte
Goncentrationszunahme der Zusatzflüssigkeit zurückgeführt werden
konnte. — Es gelingt nun freilich auch, die in einem Serumtropfen zur
Ruhe gekommene FUmmerbewegung dadurch wieder anzufachen, dass
man durch Neigen des Präparates den Serumtropfen ein paar Mal hin—
und herfliessen lässt und dadurch die Flimmerzellen mit neuen Flüs-
sigkeitsschichten in Berührung bringt. Diess ist von Roth schon beob-
achtet und zu Gunsten einer mechanischen Reizbarkeit der Flimmer—
haare gedeutet worden. Die mechanische Erschütterung der Flimmer—
haare ist hierbei aber ohne allen Einfluss^). Die Beschleunigung tritt
4) Der Erfolg scheint vielmehr, \vie schon Sharpey vermutheie, auf der Weg-
raumung eines Hindernisses der Bewegung zu beruhen. Die voriiberströmende
Flüssigkeit nimmt die Producte der Epitholzellen mit weg, die sich in der Ober-
fläche der Schleimhaut ansammeln. Hier hat man namenUich an die von den so-
genannten Becherzellen gelieferten Producte zu denken. Die genannten Zellen,
welche oft in ungeheurer Zahl zwischen den Flimmercylindem zerstreut sitzen,
sondern Tröpfchen einer hellen , ziemlich zähen Flüssigkeit ab. Diese kann durch
ihre allmähliche Anhäufung ein mechanisches Hinderniss für die Bewegung abgeben
und somit den Eintritt des Stillstands , der in dem Serumtropfen (wegen der nicht
vollkommenen Indifferenz desselben) auch (Arne diess zu Stande kommen würde,
l»esohleunigen.
üeber dw FUnDefbewegniig, 347
eben so schön ein, wenn das Präparat äusserst langsam aber etwas lan-
ger geneigt wird — , wobei die Flimmerhaare fast gar nicht oder höch-
stens sehr langsam bewegt werden — , als wenn man das Präparat ein
paar Mal rasch hin- und herschttttelt. Die Beschleunigung hält bei die-
sem Verfahren in der Regel einige Minuten an ; dann lassen die Bewe-
gungen wieder nach und werden so langsam als sie vorher waren.
Neues Neigen des Tropfens belebt sie wieder und dies kann man meh-
rere Male hinter einander wiederholen. Allmöhlich wird aber der Erfolg
der Wiederbelebung schwächer und hält immer kttrzere Zeit an : end-
lich ändert sich auch bei dem stäriisten Schütteln und Neigen des
Tropfens die Bewegung nicht mehr. Setzt man dann einen neuen Tro-
pfen Serum zu, so verstärkt sich in der Regel die Bewegung fittr einige
Minuten und lässt dann wieder nach. Wäscht man nun das Präparat
immer wieder mit frischem Serum aus, bis ein neuer Serumtrq>fen die
verlangsamte Bewegung nur wenig mehr beschleunigt , dann ruft doch
ein Tropfen destillirten Wassers sofort die heftigsten oft unzählbar
schnellen Bewegungen hervor, die Minuten lang anhalten und endlich
dem Wasserstillstande Platz machen. Hat man Serum, das mit etwas
Wasser verdünnt war, zum Auswaschen des Präparats benutzt, so wird
natürlich nachher die Wirkung des reinen Wassers weniger deutlich
und kann selbst fehlen.
Aehnlich belebend wirkt das Wasser auf Flimmcrzellen, die in einer
Atmosphäre von reinem Wasserstoff in indifferenten Lösungen zu
schlagen aufgehört haben. Ich brachte ein kleines Stttek der Rachen-
schleimhaut in einem Tropfen Kochsalz von 0,5 % auf die untere Fläche
des Deckglases der beständig mit Wasserdampf gefüllten Gaskammer,
und dicht neben diesen Tropfen einen zweiten Tropfen von destillirtem
Wasser, so nahe, dass bei einer bestimmten Neigung der Gaskammer
beide Tropfen zusammenfliessen mussten. Zuerst wurde nun wie ge-
wöhnlich die FUmmerbewegung in dem Kochsriztropfen beobachtet,
während die Kammer mit Luft gefüllt war. Zeigte sie sich nach fünf
oder zehn Minuten noch eben so schnell als zu Anfang, so ward reiner
Wasserstoff eingeleitet , bis die meisten Wimpern stillstanden. Liess
ich nun den Tropfen, in dem das Präparat lag, vorsichtig hin- und her-
fliessen , so dass die Flioimerfaaane mit neuen Flttssigkeitsschichten in
Berührung kamen, so beschleunigte sich die Bewegung etwas; nach
einigen Secunden , höchstens einer Mimite war aber die frühere Rahe
wieder hergestellt, und bei noch etwas längerer Dauer des Wasser-
stoffstillslandes half dann auch das Neigen des Tropfens nicht mehr.
Alles blieb still. Neigte man nun — während natürlich der Wasser-
stoffstrom ununterbrochen durch die Kammer ging — das Präparat so,
348 Th. W« KiigeliiMttn,
dass der Wassertropfen mit dem Tropfen, in welchem sich die Flimmer-
Zellen befanden, zusammenfloss, so erwadite alsbald an den Stellen,
wo das Wasser hindrang , die Bewegung wieder. Zugleidi begannen
die Zellen deutlich zu quellen. Ich sah noch nach mehr als halbstttn—
digem Wasserstoffstillstand die Bewegungen beim Zutritt des Wassers
eine Schnelligkeit von 6 Schlägen in der Secunde und darüber errei-
chen. Der Effect ist am schlagendsten , wenn man den Tropfen Koch-
Salzlösung klein , den Wassertropfen aber gross genommen hat ; denn
je verdünnter die aus der Mischung beider Tropfen resultirende Lösung
ist, um so mehr kommt der Einfluss dem des reinen Wassers gleich.
War der Wassertropfen klein , so sieht man die Zellen nur wenig auf-
quellen und die Bewegungen auch nur wenig beschleunigt. — Einige
Zeit nach der Vereinigung beider Tropfen tritt wieder Stillstand ein
und diesen kann man dann, falls die Zellen nicht durch Quellung zer-
stört sind, aufheben, indem man atmosphärische Luft in die Kammer
dringen lässt.
Vom Einfluss des Wassers auf den durch concentrirtere Salz-
lösungen herbeigeführten Stillstand wird weiter unten die Rede sein.
Hier sei erwähnt, dass unter Umständen auch der durch Säuren, z. B.
sehr schwache Essigsäuredämpfe bei in lodserum liegenden Zeilen her-
beigeführte Stillstand durch ein- oder mehrmaliges Auswaschen mit
destillirtem Wasser aufgehoben werden kann. Die wiedererwachen-
den Bewegungen sind immer sehr schwach. Bei etwas stärkerer Es-
sigsäureeinwirkung geschieht es dann leicht, dass Auswaschen mit
reinem Wasser die Bewegungen nicht wieder erweckt, wohl aber
Wasser, dem etwas Alkali zugesetzt ist.
Machte ich frische Flimmerzelleu vom Frosch in Serum durch Am-
moniak scheintodt, so begannen die Bewegungen beim Auswaschen
mit Wasser bei. den meisten Zellen wieder, darauf trat dann sehr
schnell unter Zunahme der Quellung Stillstand mit den Eigenthüm-
lichkeiten des Wasserstillstandes ein. — Stillstand durch Aether,
Alkohol oder Chloroform in indifferenten Lösungen herbeigeführt ,
konnte, wenn er durch Luft allein nicht mehr beseitigt wurde, auch
durch Auswaschen mit destillirtem Wasser nicht aufigehoben werden.
Ebensowenig Wärmestarre, wenn sie auch sonst beim Abkühlen
bestehen blieb, oder Stillstand, den Tetanisatipn mit starken Induc-
tionsschlägen veranlasst hatte. —
üeber die Fliamerbeweguug. ' 349
II. Einfluss von Kochsalzldsungen verschiedener Gon-
ceniration auf die Flimmerbewegung.
Dass man durch concentrirtere Kochsalzlösungen die Flimmer-
bewegung aufheben könne, haben schon Purkinje und Valentin gezeigt ;
dass man die Bewegung durch Verdünnen der Lösung wieder erwecken
könne, wird von Kölliker ^) zuerst erwähnt und von Roth und Stuart
bestätigt. Ich habe untersucht, wie sich die Flimmerbewegung gegen
Salzlösungen von verschiedenem Concentrafionsgrade verhält, welche
Mittel den durch concentrirtere Salzlösungen herbeigeführten Stillstand
aufheben, und unter welchen Bedingungen stillstehende Wimpern
durch Salzlösungen wieder in Bewegung gebracht werden können.
Alle Angaben beziehen sich auT die Rachenschleimhaut des Frosches.
Wie bei anderen chemisch indifferenten Substanzen giebt es auch
beim Kochsalz eine Concentrationsstufe , bei welcher die Bewegung
sich Stunden, ja Tage lang erhält. Diese Concentrationsstufe liegt
für Kochsalz, wie auch Roth findet, bei etwa 0,5%. Auch in Lösun-
gen von 0,67o ^^T^^ die Flimmerung noch Tage lang fortbestehen;
ebenso in solchen von 0,4%. Vermindert man aber den Salzgehalt
noch weiter, so tritt allmählich der Einfluss des Wassers deutlicher
zum Vorschein. Bringt man z. B. Stückchen der Rachenschleimhaut
in Kochsalz von 0,3% oder 0,25%, so beschleunigt sich anfangs die
Bewegung bedeutend, die Schwingungen bleiben Minuten lang sehr
frequent und gross, und nehmen dann ab, um bald unter Quellung der
Zellen zum Stillstand zu führen. Dieser Stillstand zeigt alle Eigen-
schaften des Wasserstillstands. Wendet man noch schwächere Salz-
lösungen an , so wird natürlich derselbe Effect schneller erreicht. —
Auf der andern Seite genügt schon eine geringe Steigerung des Salz-
gehaltes über 0,6%, um die Bewegung beträchtlich abzuschwächen.
In Lösungen von 1 % verlangsamt sich beispielsweise die Bewegung
innerhalb der ersten Minuten bedeutend, hält sich dann aber oft Stun-
den lang auf niedriger, sehr langsam abnehmender Höhe. Die* Bewe-
gungen werden klein, hakenförmig und langsam. Selten geschehen
mehr als zwei bis drei Schläge in der Secunde, meist weniger. Viele
Flimmerhaare stehen schon nach wenig Minuten ganz still. In Lösungen
von 1,25% tritt der Stillstand noch merklich schneller ein ; und wenn
man ein frisches Stückchen Schleimhaut direct in eine Lösung von
2,5% bringt, so stßhen die meisten Wimpern fast augenblicklich still.
Immerhin findet man auch hier fast stets eine Anzahl Flimmerhaare,
4) KOlliks«, Phy§iol. Studien tib. d. SamenflÜssigkeU. Ztschr. f. wiss. Zool.
4856. Bd. VU. p. tSt.
350 Tk. W. N^HniB,
welche ihre Bewegungen, wenn adion äusserst scfawadi und langsam,
noch einige Zeit, so weilen eine halbe Stunde und länger fortsetsen.
Man beobachtet diess sogar noch in Lösungen von 5®yQ Salzgehalt.
Roth hat also ganz Recht wenn er sagt, »dass die Flimmerhaare in re—
olaliv weiten Grenzen der Concentration ihre Bewegungen oonservi—
»reo.« Freilich gUt diess nicht von der Grösse der Amplitude und Fre—
quenz der Bewegungen. — Idi fand keine deutlichen Unterschiede in
der Wirkung starker Salzlösungen, wenn ich in dem einen Falle ein
frisches Präparat direct in die starke Lösung versetzte, in dem andern
die Stärke der Lösung, von 0,5% ausgehend, allmählich bis zur selben
Höbe steigerte. Jedem bestimmten Goncentrationsgrade scheint somit
eine l)estimmte mittlere Stärke und Schnelligkeit der Bewegungen zu
entsprechen und es wird nicht erlaubt sein, eine Accommodation der
Bewegungen an starke Goncentrationsgrade bei sehr langsamer Stei-
gerung des Salzgehaltes der Lösung anzunehmen, wie diess Roth thut.
— Die Veränderungen 9 welche man unter dem Einfluss stärkerer Koch-
salzlösungen (von 4 % aufwärts] im Aussehen der Flimmerzellen ein-
treten sieht, beruhen auf Flttssigkeitsentziehung. Die Zellen schrum-
pfen zusammen, erscheinen stärker glänzend, mehr homogen, bei stär-
keren Graden der Einwirkung dunkler und die Intercellularräume
erweitem sich zu hellen, messbar breiten Spalten. Die Flimmerhaare,
welche deutlich an Volum vermindern und dunkler aussehen, stehen,
wie bei früher beschriebenen Arten des Stillstands, steif und schräg
nach vorn geneigt, meiist alle unter demselben Winkel von 30 — 35<^,
zuweilen selbst 45^.
Unter den Mitteln, welche die durch stärkere Kochsalzlösungen
herbeigeführte Flimmerruhe beseitigen können, steht das Wasser
obenan. So{;»ald es in solcher Menge zugesetzt wird, dass die Concentra-
tion der Lösung auf etwa 4<^/oUnd weniger sinkt, zuweilen schon früher,
beginnen die Bewegungen, während die Zellen ihr normales Aussehen
mehr oder minder wieder erhalten. Die Salzlösung darf aber eine ge-
wisse Concentration nicht überschritten haben, wenn Wasser noch
wieder beleben soll, Lösungen von 1 0 % und mehr tödten die Zellen
selbst bei einer Einwirkungsdauer von nur wenigen Minuten. Die
Flimmerhaare lösen sich bei Wasserzutritt dann schnell auf, noch bevor
die Concentration unter 0,5% gesunken ist. Selbst wenn man die
Zellen eine oder mehrere Minuten in Salzlösungen 'von nur 5 % gehal-
ten hat, erwachen beim Verdünnen mit Wasser nicht alle Zellen wie-
der, keinesfalls aber erreichen die Bewegungen ihre normale Stärke
und Schnelligkeit. Diess gelingt nur, wenn der KochsalzstiUstaad durch
Ueber die Flimmerbewegiing. 351
noch schwächere Lösungen (4% bis 2,5% circa) herbeigeftthrt war. —
Auch wenn nach nur kurzer Einwirkung die starken Lösungen (5 %
und höher) ganz allmählich durch immer schwächere Lösungen ver-
drängt wurden, stieg die Bewegung beim Wiedererreichen der günsti-
gen Concentrationsstufe , wenn sie überhaupt wieder erwachte , doch
nie über eine äusserst geringe Höhe. Es kann also auch hier von einer
Accommodation nicht die Rede sein.
Das Wasser ist nun aber keineswegs das einzige Mittel, welches
den Kochsalzstillstand aufhebt. Waren die Lösungen nicht zu concen-
trirt, z. B. nur 1,5%? so erwacht die Bewegung auch wieder, wenn
man Ammoniak in Gasform dem Präparate zuführt. Die Bewegungen
beginnen hier aber meist erst, nachdem man die stark mit Ammoniak-
gas beladene Luft ein bis zwei Hinuten lang durch die Gaskammer
geführt hat; nicht schon nach wenigen Secunden wie beim Stillstand
in indifferenten Lösungen^). Je stärker die Concentration, um so län-
ger dauert es im Allgemeinen, ehe die belebende Wirkung des Ammo-
niaks sichtbar wird. Die ersten Bewegungen sind oft klein und lang-
sam, können aber (bei 1,5%igen Lösungen) in einer halben Minute
gross und rasch (5 bis 8 in 1 ") werden. Führt man ununterbf ochen
Ammoniak durch die Kammer, so stehen sie endlich still ; aber auch
dieser Stillstand tritt im Allgemeinen viel langsamer ein, als bei Flim-
merzellen, die in Kochsalzlösung von 0,5% Hegen. Betrug' der Salz-
gehalt der Lösung 2,5% und mehr, so konnte durch Ammoniak die
Bewegung nicht mehr hervorgerufen werden.
Auch durch Säuren, z.B. durch Kohlensäure, durch Dämpfe
von Essig- oder Salzsäure kann der Stillstand beseitigt werden, der
in massig concentrirten Kochsalzlösungen (1% bis 8%) eintritt. Auch
hier dauert es in den meisten Fällen eine oder mehrere Minuten ehe
die Bewegungen wieder beginnen. Sie können sehr schnell und gross
werden und halten sich bei fortdauernder Zufuhr von Säuredämpfen
auch länger als gewöhnlich. Sie hören nämlich erst auf, wenn die
Reaction schon Minuten lang stark sauer ist; ja, ich sah die Bewegun-
gen sogar erst nach mehr als viertelstündiger Anwesenheit der sauren
Reaction erlöschen.
Wie Ammoniak und Säuren heben auch Dämpfe von Aether, Al-
kohol und Schwefelkohlenstoff den Stillstand in Kochsalzlösungen
auf, wenn der Salzgehalt 8%bisS,5% nicht überschreitet. Auch diese
Körper bedürfen längere Zeit als bei indifferenteren Lösungen, um ihren
anfangs I^eschleunigenden, später hemmenden Einfluss geltend zu ma-
4) Diess beruht zum Theil vermulhlich auf der geringeren Grösse des Ab-
sor|>tionscoeff)cienten stärkerer Salzlösungen für die betreffenden Gase.
352 Th. W. EiigeliBanii,
eben. Endlich wirkt auch Wärmesteiger ung und elektrische
Reizung wieder belebend , wenn die Concentration nicht über 2 ^o
steigt. Hierüber wird in den Abschnitten über Wärrae und Eiektricität
ausführlicher gehandelt werden. —
Alle diese Mittel, welche den durch concentrirtere Salzlösungen
hervorgerufenen Stillstand aufheben, beseitigen auch die in sogenannten
indifferenten Lösungen nach einiger Zeit eintretende Flimmer—
ruhe. Man darf desshalb wohl annehmen — wie wir schon oben ge—
than — dass die letztere Art der Flimmerruhe gleichfalls darauf zu
schieben sei , dass die Qoncentrationsstufe nicht die richtige , die U^
sung also streng genommen nicht indifferent war.
Wir kommen nun zu der Frage, unter welchen Umständen still-
stehende Wimpern durch Salzlösungen wieder in Bewegung versetzt
werden können. Concentrirtere Lösungen können, soviel mir bekannt,
nur zwei Arten der Flimmerruhe aufheben, nämlich denWasserstill-
stand und den Alkalistillstand. Ich brachte Flimmerzellen vom
Frosch, die in einem Tropfen Kochsalzlösung von 0,5% i^ derGaskanri-
mer lagen , durch Ammoniakdämpfe zur Ruhe , wobei die Zellen , wie
früher erwähnt, etwas aufzuquellen beginnen. Nun legte ich einen klei-
nen Kocbsalzkrystall in die Nähe der Zellen in den Tropfen. Alsbald be-
gann die Bewegung bei den dem Krystall zunächst liegenden Zeilen
und mit fortschreitender Diffusion des Salzes allmählich auch bei den
weiter abgelegenen Zellen wieder. War der Krystall so gross, dass der
Tropfen eine starke Concentration annehmen konnte, so trat später na-
türlich Stillstand unter Schrumpfung der Zellen ein. — Säurestillstand,
Stillstand durch Metallsalze, durch Aether oder Chloroformdämpfe, lässt
sich auf diese Weise nicht aufheben. Ebensowenig Wärmestillstand
oder Stillstand durch elektrische Schläge.
Dass es möglich ist, durch Auswaschen der Zellen mit indifferenten
Salzlösungen einen durch Säuren oder durch Alkalien herbeige-
führten Stillstand aufzuheben,, davon kann man sich leicht überzeugen.
Roth hat schon erwähnt, dass es ihm gelungen sei, Wimpern, die vor-
sichtig durch Chromsäure von 0,27o — 0,027o *ür Ruhe gebracht
waren, durch Auswaschen mit halbprocentiger Kochsalzlösung wieder
zu erwecken. Den AmmoniakstilLstand kann man, wenn dabei die Zel-
len nicht sehr gequollen waren, selbst durch schwach alkalisches lod-
serum so vollkommen beseitigen, dass die Bewegung ihre normale Höhe
wieder erreicht. Ebensogut wirkt Chlomatrium von 0,5 %.
Minder gut wird der durch Essigsäure, Salzsäure, Chromsäure oder
andere Säuren veranlasste Stillstand durch Auswaschen mit Kochsalz
Ueber die FUmmerbewogung. 353
der angegebenen Conoenlration aufgehoben. Die Bewegungen können
zwar wieder eine Frequenz von i — 3 Schlägen in der Secunde errei-
chen, das trttbe Ansehen der Zellen bleibt aber bestehen. Erst wenn
diess durch Zufuhr von Alkali, am besten von etwas Ammoniakgas,
dem normalen Ansehen wieder Platz gemacht hat, erreichen die Be~
wegungen die normale Höhe wieder, iodserum, welches schwach alka-
lisch ist, beseitigt desshalb den Säurestillstand viel schneller und voll-
kommener als die indifferentesten Kochsalzlösungen.
Ganz ähnlich wie Kochsalz verhalten sich andere neutrale Salze
und auch Zucker, Kroatin und andere neutrale Stoffe gegen die Flim-
merbewegung. Doch sind die Concentrationsgrade, in denen man diese
Stoffe anwenden muss, um einen bestimmten Effect zu erreichen, an-
dere als beim Kochsalz, und im Allgemeinen für jeden Körper beson-
dere, vom endosmotischen Aequivalent des Körpers abhängige. So fand
ich beim Rohrzucker Lösungen von 1 % noch schädlich ; sie bewirkten
binnen wenigen Minuten Stillstand unter Quellung der Zellen und
Kerne, wie bei Einwirkung von reinem Wasser. Ziemlich indifferent
sind Lösungen von 2,5%, und selbst bei einem Zuckergehalt von 5%
steht die Bewegung nicht gleich still, sondern verlangsamt sich ganz
allmählich. Man findet zuweilen noch nach zehn Minuten die meisten
Wimpern in, freilich sehr matter Bewegung. Das Aussehen der Zellen
verräth hier die Folgen der Wasserentziehung: Schrumpfung und stär-
kere Lichtbrechung. Die Wiederbelebung aus dem Stillstand in stärker
concentrirten Lösungen anderer indifferenter Körper, Zudier z. B., wird
durch dieselben Mittel erreicht wie beim Kochsalz.
HL Einfluss von Säuren auf die Flimmerbewegung.
a, Kohlenfl&ure.
Nach älteren, oben schon citirten Angaben von SHAmpsT^), deren
Richtigkeit Valbrtin ^) bestätigt, soll das Flimmerphänomen der Kiemen
der Proschiarven in Wasser, welches mit Kohlensäure gesättigt ist, un-
gestört fortdauern. Neuere von Kühne s) an dem Flimmerepithel der
Kiemen von Anodonta angestellte Beobachtungen ergaben, dass die
Bewegung nicht nur in reiner Kohlensäure, sondern auch in einer nur
massig mit Kohlensäure vermischten Atmosphäre schnell erlischt.
4) Sharpbt in Tood's Cyclop. l, p. 686.
t) Valimtin, Artikel Plimmerbewegung in R. Waorih's Handwörterbuch der
Pbytiologie. Bd. I. p. 54t.
5) L. c. pag. S74.
B4. IV. 3. it
554 Tb. W. EiH^ttiarin,
Dasselbe hatte RüHNri früher für die ProloplasttiabcrwdgHngeii verschie-
dener Organismen gefunden.
Ich theile hier die Versuche mit, Welche ich an Fiimmerzellen todi
Frosche angestellt habe. Die Zellen wurden 2unädist in Koobsahlösuiig
von 0,5% in Blut, Blutserum oder anderen der oben aufgefiodinen ver«-
haltnissmSlssig indifferenten Flüssigkeiten untersucht. Die An-
fertigung des Präparates geschah in derselben Weise wie früher. Das-
selbe schwebte während d^ Versuchs in dem Tropfen an der Unter-
seite des Deckglases der Oaskammer. Einzelne Zellen zeigen bereits
unmittelbar nach der P^äparation, während noch die Gaskammer mit
reiner atmosphärischer Luft gefüllt ist, keine oder doch eine sehr ver-
langsamte Bewegung , ohne dass ihr äusseres Ansehen sich verändert
hStte. Bei den meisten tritt aber erst nadi längerem Liegen in der
»indifferenten« Lösung Stillstand oder Verlangsamung aus früher an-
gegebenen Ursachen ein. Wenn man nun über solche Zellen einen
raschen Strom reiner Kohlensäure durch die Rammer schickt, ist bin-
nen wenigen Secunden die Flimmerbewegung im ganzen Präparat im
schnellsten Gange. Flimmerhaare, die vorher ganz stillstanden, kön-
nen nach einer Viertelminute schon mit einer Frequenz von acht und
ihehr Schlägen in der Secunde schwingen. — Schon ein kleiner Koh-
lensäunegehalt der Luft genügt, alle Bewegungen wieder zu erwecken
und zu beschleunigen. Nimmt man das eine Ende des zur Gaskammer
führenden Kautschukschlauchäs in den Mund , während man zugleich
id's Mikroskop bildet, so braucht man nur langsam durch die Kammer
zu exspiriren, um überall die Bewegung sich auFs deftigste beschleu-
nigen zu sehen. Auch mit ziemlich stark abgekühlter Exspirationsluft
gelingt der Versuch, un4 am besten, wenn man den Athem etwas
lange angehalten hat. — Inspirirt man darauf durch die Kammer, saugt
man also die Kohlensäure zurück, so hört die Bewegung nach einigen
Minuten wieder auf, oder verlangsamt sich wenigstens. Ein neuer
Exspirationsstrom ruft sie wieder hervor und so kann man , je nach—
dem ein-^ oder ausgeathmet wird, Verlangsamung und Beschleunigung
miteinander wechseln lassen. — ^
In einer Atmosphäre vdn reiner Kohlensäure erlischt die Flimmer^
bewegung in kurzer Zeit. Bringt man frische Flimmerzellen in Koch-»
Sählosung von 0,5 % oder Serum in die Gaskammer und verdrängt die
atmosphärische Luft durch einen Strom reiner Kohlensäure, so vermin-
dert sich nach ein oder zwei Minuten die Bewegung im ganzen Präpa-
rate ; das Tempo wird langsamer und die Amplitude der Schwingungen
bei den meisten Wimpern kleiner. Fast alle zeigen die bakenfürmige
Bewegung. Nach etwa zehn Minuten stehen alle Flimmerhaare still und
Ueber 4ie FHininerbeweguDg. 355
zwar in derselben schräg geneigten Stellung^ wie im Rochsalz-, im Was-
serstoffsttllstande u. a. Dabei haben die Zellen ein gelbliches, trübes
Ansehen gewonnen, die Zellenkerne treten mit dunkelen Gontouren
hervor, auch die Wimpern scheinen gelblich und weniger durchscbei*-
nend geworden zu sein. Diese Veränderungen sind meist
schon einige Zeit vor dem völligen Stillstande ganz ausge*-
bildet. — Wie in reiner Kohlensäure tritt auch der Stillstand ein in
einer stärk mit Kohlensäure beladenen Atm(^phäre, doch um so spXter,
je geringer der Kohlensäuregehalt derselben ist. Bei sehr geringem
Kohlensäuregehalt der atmosphärischen Luft erhält sich dagegen, wie
schon erwähnt, die Bewegung viel länger als in reiner Luft.
Frisch präparirte Flimmerzellen , in Kohlensäure zur Ruhe ge*
bracht, fangen beim Verdrängen der Kohlensäure durch atmosphä-
rische Luft langsam wieder an, sich zu bewegen, und die Bewegung
kann, falls der Kohlensäur^stiilstand nicht zu lange angehalten hatte,
nach einigen Minuten wieder so lebhaft sein, wie vor dem Einleiten
der Kohlensäure. Sie erhält sich dann bei genügendem Sauerstoffzu-
tritt lange Zeit und es scheint nicht, dass der vorübergehende Kohlen- .
säurestillstand erhebliche bleibende Störungen hinterlassen habe. —
Der Wiederbeginn der Bewegungen bei dem Verdrängen der Kohlen-
säure durch atmosphärische Luft erfolgt nie so plötzlich, wie z. B. das
Erwachen der Bewegung aus dem später zu schildernden Wasserstoff-
stillstande durch Kohlensäurezufuhr. —
Es ist nun sehr bemerkenswerth, dass die oben erwähnten Ver-
änderungen im Aussehen der Zellen, welche beim Herannahen des
Kohlensäuresillstandes eintreten, beim Verdrängen der Kohlensäure
durch atmosphärische Luft wieder verschwinden. Sobald die Bewe^
gung wieder beginnt, verlieren die Zellen ihr trübes, gelbliches Aus-
sehen , die Kerne werden wieder undeutlich oder ganz unsichtbar und
auch die Wimpern scheinen heller zu werden. Dieser Wechsel im Aus-
sehen der Zellen wiederholt sich , so oft man Bewegung und Kohlea-
säurestillstand miteinander abwechseln lässt. Nach allzuhäufiger oder
allzulanger Kohlensäureeinwirkung stellt sich indessen das frühere An-
sehen der Zellen durch Luft nicht wieder her. — Auf entsprechende
Veränderungen an den rothen Blutkörperchen des Frosches madiie
mich Herr Doxdbrs gelegentlich aufmerksam. Hier treten ebenfatls bei
Zutritt von Kohlensäure die Kerne plötzlich scharf hervor und werden
wieder unsichtbar, oder doch äusserst blass, wenn die Kohlensäure
durch Wasserstoff oder atmosphärische Luft ausgewaschen wird. In
jedem Präparat von Flimmerzellen finden sich nun rothe Blutkörper«
chen in genügender Menge. Die Beobachtung lehrt, dass die unter deo
i3*
356 Tfc.,W.
oben erwähnleD BeiiingongfD eHoi^eade BescfaleaDigang der nimmer-
bewegODg dnrdi Kohlensäure in der Begel etwas froher ^ntritl als das
Sichtbarwerden der Kerne in den rolhen BhilkOrperchen. Diess ist am
besten tu eonstatiren, wenn (üe beireifenden ro4hen Elalkdrperdien
dicht neben der beobachteten Flimmerzelle liegen. Der Zeitnnterscfaied
beträgt oft nur wenige Seconden, zuweilen mehr. Bei manchen Zeilen
tritt aber anch die Bescfaleunigong der Bewegung erA aal, wenn schon
die Kerne der benachbarten Blntkörpercfaen zom Vorschein glommen
sind.
Untersacht man die Reaction des Präparats während der verschie-
denen Stadien der Kohlensäarednwirkong, z. B. mittels eines in den
Tropfen gelegten Stttcks blauen Lakmaspapiers oder fein in der Flüs-
sigkeit vertheilter Lakmaskömchen , so ergiebt sich Folgendes. Das
Wiedererwachen, respective die Beschleunigung der Bewegung durch
Kohlensäure beginnt in den meisten Fällen früher als die rothe Fär-
bung des Lakmus eintritt. Doch erreicht die Bewegung oft dann erst
ihr Maximum, wenn das Lakmuspapier im Tropfen bereits eine stark
rothe Farbe angenommen hat, und jedenlalls kann der Tropfen schon
mehrere Minuten lang sauer reagiren, ehe die letzte Bewegung erlischt.
Der Wiederbeginn der Bewegungen nach dem Kohlensäurestilistand
findet selten statt, bevor die neutrale Beaction wieder hergestellt ist.
Wie durch einen Luftstrom kann auch , und in der Begel noch
schneller, durch reinen Sauerstoff der Kohlensäurestillstand aufge-
hoben werden. Ganz ähnlich wirkt Verdrängen der Kohlensäure durch
reinen Wasserstoff oder andere indifferente Gase. Immer ver-
liert sich beim Wiedererwachen der Bewegung das trübe gelbliche
Ansehen der Zellen.
Die Wirkung der Kohlensäure kann aber eine solche Höhe errei-
chen, dass es nicht mehr möglich ist, durch indifferente Gase den
Stillstand zu beseitigen. Wie lange man aucfi Sauerstoff oder Wasser-
stoff über das Präparat fuhren möge — die Zellen bleiben trübe, die
Wimpern steif und still. In diesen Fällen beleben Alkalien die Bewe-
gungen wieder. Eine Spur Ammoniakgas, der Luft oder dem Wasser-
stoff beigemischt, reicht in der Begel dazu aus. Ebenso wirkt Aus-
waschen mit äusserst verdünnten Lösungen von Natron oder Kali oder
auch alkalisches Serum.
Von den Fällen, in denen die Kohlensäure belebend wirkt, haben
wir bereits einen ervvähnt, den wo die Bewegung in indifferenten
Flüssigkeiten bei alleiniger Gegenwart von atmosphärischer Luft
erlahmt ist. In den Abschnitten über Wasser und Kochsalz wurde
Ueber die Flimmerbewegang. 357
gleichfalls schon die Thalsnchc mitgetheilf^ dass sowol der Wasser-
stillsiand, als der Stillstand in concentrirteren Salzlösun-
gen (bis % %) durch Kohlensäure aufgehoben worden können. Weiter
unten wird der Wiedererweckung der Bewegung aus dem Alkali-
still sta n d durch Kohlensäure gedacht werden. —
Interessant ist das Erwachen der Bewegung aus dem Wasser-
stoffstillstand bei Zutrijlt reiner Kohlensäure. — Leitet man reines
Wasserstoffgas so lange über Flimmerzellenf die in neutralen Salzlösun-
gen passender Goncentration oder in Serum liegen, bis die Bewegung an
den meisten Stellen zur Ruhe gekommen ist, sperrt dann dem Wasser-
stoff den Zutritt zur Gaskammer ab und lässt nun aus einer Zweiglei-
tung plötzlich einen Strom reiner Kohlensaure einfliessen, so f^ngt
nach wenigen Secunden die Bewegung im ganzen Präparate wieder an.
Am schönsten zeigt sich das bei Anwendung' von Blut oder Blutserum.
Hier erwacht die Bewegung oft bei allen Zellen gleichzeitig , wie mit
einem Zauberschlage. Die ersten Bewegungen zeichnen sich meist
schon durch grosse Excursionsweite aus und das Tempo beschleunigt
sich so rasch , dass fünf bis zehn Secunden nach dem Erwachen die
Schwingungen unzählbar sind. Das im Tropfen hängende Schleim-
hautstttck wird durch die Schläge seiner Wimpern fortbewegt; isolirte
Gruppen von Flimmerzellen gerathen fast plötzlich in wirbelnde Dreh-
bewegungen.
Die Bewegung erwacht um so zeitiger und erreicht um so schnei -
1er ihr Maximum, je grösser die eingedrungene Kohlensäuremenge,
je flacher der Tropfen ist, in dem das Präparat schwebt, und je kür-
zere Zeit der Wasserstoffstillstand angehalten hat. Standen die Zellen
erst kurze Zeit still, so reicht die Beimischung einer sehr kleinen Menge
Kohlensäure zum Wasserstoffstrom zur Wiederbelebung aus, und selbst
nach mehrstündiger Dauer des Wasserstoffstillstandes bedarf es nicht
immer grosser Kohlensäuremengen , um dasselbe Resultat zu errei-
chen. — Wie man nun den bereits eingetretenen Wasserstoffstillstand
durch Kohlensäure aufheben kann , so kann man auch seinen Eintritt
verzögern, indem man dem Wasserstoffstrome etwas Kohlensäure bei-
mengt. In einem Gemisch von 5 Volumprocent Kohlensäure und 95 %
Wasserstoff erhält sich beispielsweise die Flimmerbewegung wol drei-
und mehrmal so lange als in reinem Wasserstoff. Es dauert nicht sel-
ten mehrere Stunden, ehe hier Jdie Bewegung der meisten Zellen auf-
gehört hat.
Auch Witnpern, die in reinem Sauerstoff in möglichst'indifferen-
ten Lösungen zu schlagen aufgehört haben, werden durch Kohlensäure
wieder erweckt und in der Regel sehr schnell, binnen einigen Secun-
deo. Sor^ fliaD dma dttlk'. dass deoi rmir itgiiniMi ^ oder lier
»UDo«pkäradMii Luft tot ärai Eintritt in die Gaifca— ncr beständig
eme kfef oe Men^ EoUensäare beisemisckt wird, so daBerl die Bewe—
gunir Tiele Stondeo lang fort imd ersi die Fäoliiiss nachft ihr ein Ende.
— Eheoso Eangen FUmnieriiaare, weldie so ian^ in einer Wasserstoff^
stUaasfhäfe Terweflt baben^ dass sie dnnck reinen Sanersloff nicfai ^«^ie—
der enredLi werden, sofkiA wieder an, sieb u bewegen, wenn dem
Sanerstoff Kohlensäure beigoniscfat wvd, und können dann fthi»nfpip^
in einem Gemisch von atmosphärisdier Lnft und elwas Eohlensünre
Um^e Zeit in Bewegung erhallen werden«
Ober die Form der Bewegungen beim Wiedererwacben aus dem
WasserstoflF- oder SauersloffisUlistaDde durch Kohlensaure ist nur we-
nig zu bemerken. In mandien Fällen sind ^ieh die ersten Bewegun-
gen weilenfdrmig und die feigenden bleiben es dann. Tide Flimmer—
haare beginnen aber mit hakenförmigen Bewegungen , welche entw^e—
der zu Anfang schon sehr gross sind, oder es doch bald werden. Sie
kleinen allmählich zu wellenförmigen Bewegungen übergehen. Wieder
andere FKmmerfaaare madien nur kleine hdienfönnige Bewegungen,
weiche nie eine grosse Amplitude erreichen. Das Tempo der Bewe-
gungen beim Wiedererwachen ist ebenfalls versctueden. In der Regel
geschehen die ersten Sdiwingungen langsam und folgen sich <lanii
immer schneller, so dass nach 5 bis 1 0 Secunden schon das Maximum
erreicht sein kann. Zuweilen beginnt die Bewegung schon in einem
Tempo von zwei oder drei Schlägen in der Secunde. —
im äusseren Anseh^i der Zellen ändert sich beim WTedereintreten
der Bewegung nichts. Weder trttbt sich das ZellproUq>lasma, noch
werdto die Zelienkeme sichtbar, noch auch macht sich eine Quellung
oder Schrumpfung der ganzen Zelle bemerklieb. Bald treten dagegen,
wenn grössere Koblensäuremengen längere Zeit über das Präparat ge-
leitet werden, die oben beschriebenen Veränderungen ein, die mit
einer Abnahme der Bewegungen Hand in Hand gehen. —
Hat man die Flimmerzellen durch Wasserstoff zur Bube gebracht
und durch Kobionsäure wieder in Bewegung versetzt, so kommen sie
bei foitgesetetem Durohleiten reiner Kohlensäure oder in einer Mischung
von Wasserstoff mit sehr viel Kohlensäure schneller zur Ruhe, als wenn
statt des Wasserstoffs atmosphärische Luft eingewirkt hatte. In der
Regel verstärkt und besoUeunigt sich beim Wiedererwachen aus dem
Wasserstoffstillstande durch Kohlensäure die Bewegung in der ersten
halben bis ganzen Minute bedeutend, nimmt aber schon in der zweiten
Minute wieder langsam ab, so dass dann nach drei Minuten, oft etwas
spüier, die meisten Zellen wieder in Ruhe sind. Auch hier werden die
Deber 4Ue FUiweiieweinng. ^ 359
Mkn iPttbe, 4ie Ker^e deutlich. — Verfangt man nun die Kohlen-
säiyure wieder durofc reinen Wasserstoff, so erwachen nadi etwa einer
bfiibw IKnute oder etwas spSUter bei vielen Zellen wieder Iangsd9)e,
xxmsX Ueine Bewegungext, die sich anfangs eijo wenig beschleunigen
und versiärk«^, aber bald wieder nachlassen. Nach drei Minuten pflegt
in den meisten Falten wieder vollkommener Stillstand dur^ den Was-
setrstoff berbepgefuhrt zu sein. — Neue Zufuhr von reiner S>)hlenstore
erweokt sofort wieder heftige Bewegungen, die ebenfalls ungefähr
gegen das Ende der ersten oder im Laufe der ^eweiten Minjote ihr Ma-
ximuaa erreichen. £ine <od^ zwei Minuten später steht Alles wieder
still. Abermaliges Verdrängen der Kohlensäure durch jreioen Wasser-
stoff ruft von Neuem einige schwache, bald wieder auflU^jrende Bewe-
gaxigen hervor und neue Kohlensäure bewirkt auch biersaaf Wieder-
er wachen starker Bewegungen. So kann man, indem* man Kohlensäure
u^ reinen Wasserstoff abwechselnd durch die Kammer fuhrt, Still-
stand und Wiederbelebung oft miteinander wechseln lassen. Je öfter
man den Versi^Gh an derselben Zelle wiederholt hat, um so schwächer
pflegen dann die Bewegungen beim Wiedererw^chen durch Kohlen-
säure zu sein und um so rascher tritt sowohl der Wasserstoff- als der
KeblensäuresliUstand ein. Doch habe ich Zellen, 4ie binnen einer
Stunde acht Mal den Wechsel durchgemacht hatten, ngch aus dem
Wasserstoffstillstande erwecken käanen, als ich zum neunten Mal reine
Kohlensäure zuführte. Um den Versuch so oft an einer und derselben
Zelle wiederholen zu k4ni9W) darf man aber jeden einzelnen Wasser-r
siqff- und KohlensäureaUUs^nd nicht läi^ger als etwa Ya bis 2 Minu-
ten anhalten lassen. — Wcnü endlich in diesen Versuchen die Bewe-
gung weder bei Wasserstoff- noch bei Kobiensäurezufuhr wieder erwa-
chen will , bedarf es nur einas Stromes atmosphärischer Luft oder
Sauerstofis, um sie wieder hervorzurufen, und zwar wird sie hier, wo
man längere Zeit zwischen Zufuhr von reinem Wasserstoff und von
reiner Kohlensäure abgewechselt hatte, durch reine Luft oder Sauer-
stoff aus dem Kohiensäurestilistande viel sicherer erweckt aU aus dem
Wassersteffstillstande, wenn bei letzterem jede Spur von Kohlensäure
aus der Gaskammer verdrängt war.
b. Andere Säuren.
Es Hess sich erwarten, dass der Einäuss anderer Säuren in allem
Wesentlichen derselbe sein würde, wie der der Kohlensäure, insbeson-
dere dass der unter so vielen Umständen gefundene belebende Einfluss
der Kohlensäure auch den anderen Säuren zukommen würde. In den
bisherigen Arbeilen ist immer nur von der Schädlichkeit der 3äpren
360 '^' ^* EDgelm&nn*
die Rede, und in dem einzigste Falle, in welchem man von SHnren eine
belebende Wirkung sah y beruhte diese auf Neutralisation von über-
schüssigem Alkali. — Purkinje und Valentin^) haben schon über den
Einfluss verschiedener organischer und anorganischer SHuren Mitlhei—
lungen gemacht. Sie fanden, dass die von ihnen untersuchten Säuren
die Flimmerbewegung zum Stillstand brachten. Essigsäure hemmte
noch in lOOOOfacher, Salzsäure, Salpetersäure in lOOOfacher, Ben—
zoesäure, Oxalsäure, verdünnte Schwefelsäure der preussischen Phar-
makopoe noch in lOOfacher Verdünnung. In lOOOOOfacher Wasser—
Verdünnung wirkte keiner der geprüften Körper. — Neuere Beobadi—
tungen von M. Roth 3) bestätigen diese Angaben. Erwähnung verdient,
dass Roth den durch äusserst verdünnte Essigsäure oder Chromsäure
bewirkten Stillstapd aufheben konnte, wenn er einen Strom von Tod—
serum oder Kochsalzlösung von 0,5% durch das Präparat fliessen Hess.
Roth widerspricht einer früheren Behauptung von HAmfOVKR^), d^s
in verdünnter Chromsäure Flimmerbewegung sich erhalten könne. —
KüHPTB^} endlich, der an Anodonta experimentirte, theilt mit, dass man
die mittels Ammoniakdämpfen zur Ruhe gebrachte Flimmerbewegung
durch Essigsäuredämpfe wiedererwecken könne. Ein Ueberschuss
der letzteren bewirke dann Stillstand, den man durch Alkalien wieder
aufzuheben vermöge.
Stuart kommt zu demselben Resultat an Essigsäure , Oxalsäure^
Phosphor-, Salz-, Salpeter- und Chromsäure, die er in tropfbar flüs-
siger Form den Zellen von der Rachenschleimhaut des Frosches zu-
führte. Auch er erwähnt nichts von einer erregenden Wirkung der
Säuren.
Meine eigenen Versuche, die wiederum hauptsächlich an den Flim-
merzellen der Mundschleimhaut des Frosches angestellt wurden, er-
strecken sich auf den Einfluss der Salzsäure, der Chromsäure, der
Oxalsäure, der Essigsäure und der Milchsäure. Salz- und Essigsäure
führte ich meist in Dampfform dem in der Gaskammer befindlichen
Präparate zu. — Die betreffenden Versuche kann man am schnellsten
und einfachsten so anstellen, dass man über die eine Ausftthrungs-
röhre der Kammer einen Kautschukschlauch zieht und dessen freies
1) Purkinje et Valentin, De phaenomeno generali et fundamentali moius vi-
bratorii 4885. pag. 74—76. — Valentin, Art. Flimmerbewegung in R. Wagnkr's H.
d. Pli. Bd. 1. pag. 54a.
S) Roth, Ueber einige Beziehungen des Flimmerepithels zum conlractilen Pro-
toplasma. In ViRCHOw's Archiv Bd. 37. 4 866. pag. 4 84.
3) Hannover in Müller's Archiv. 4840. pag. 557.
4) Kühne in M. Schultze's Archiv. 4866. p. 875.
lieber die Flinmerbewegimg. 36 1
Ende in den Mund nimmt. Vor die andei% Ocffnung der Rammer, aus
der man die Röhre herausschrauben kann, hält man einen mit der SHure
befeuchteten Glasstöpsel oder Glasstab. Die in die Kammer herein-
gesaugte Luft ist dann mit Süuredampten beladen ^).
Die Ergebnisse waren, bei Anwendung von Salzsäure- wie von
EssigsSuredämpfen, im Wesentlichen dieselben wie bei Kohlen-
säure.
Hat sich die Bewegung in indifferenten Lösungen verlang-
samt, so beginnen nach wenig Secunden an allen Stellen des Präpara-
tes die Bewegungen sich in hohem Maasse zu beschleunigen und zu ver-
stärken. Vorher stillgewesene Wimpern schlagen nach einer Viertel-
minute mit einer Frequenz von mehr als acht Schwingungen in der
Secunde, und an vielen Stellen erfolgen die Bewegungen so rasch, dass
selbst der Eindruck des Flimmems nicht mehr zu Stande kommt. Die
Bewegungen haben beim Wiedererwachen oft JVellenform ; auch vor-
her hakenförmige , kleine Bewegungen gehen beim Beginn der Salz-
säurewirkung nicht selten rasch in grosse wellenförmige über. —
Wenn nur eine äusserst geringe Menge Säure der Luft beigemischt
bleibt, kann sich die Bewegung sehr lange erhalten, auch wenn sie vor
dem Zutritt der Säure schon stillgestanden hatte. Bei Ueberschuss der
Säure tritt meist sehr schnell Stillstand ein. Beim Uebergang in den
Stillstand verlangsamt sich nicht nur das Tempo, sondern es werden
i) Leitet man die Sttaredi&mpfe vor dem Eintritt in die Gaskammer durch
Kautschukschläuche I so hat man auf einen Umstand zu achten, der zu groben Tttu •
schungen Veranlassung geben kann. Es fiel mir im Anfang meiner Versuche wie-
derholt auf, dass ich beim Durchsangen von starken Essigsäuredtfmpfen durch
Schläuche von nicht vulkanisirtem Kautschuk, keinen Säuregeschmack im Munde
bekam. Die Schläuche waren nicht länger als 0,5 Meter und ihr Lumen 8 Mm.
weit. Selbst als ich das eine Ende des Schlauchs in eine mit concentrirter Essig-
säure halbgefüllte Flasche hängen Hess und am andern Ende mit dem Munde kräf-
tig sog, schmeckte ich anfangs nichts von Säure. Erst nach längerem, oft minuten-
lang fortgesetztem Saugen machte 'sich Säuregeschmack bemerkbar. Bei näherer
Untersuchung zeigte sich , dass die Essigsäuredämpfe von den Kautschukschläu-
chen verschluckt waren. In der That hauchten diese Kautschukschläuche nun be-
*
ständig Säuredämpfe aus und zwar in so hohen\Maa8se , dass noch Wochen nach-
her alle atmosphärische Luft, die durch die Schläuche gesaugt wurde, stark sauer
herauskam. Und diess war selbst dann noch der Fall, als die Schläuche einige Tage
lang in ammoniakhaltigcm Wasser gelegen hatten. Man thut darum besser, solche
Schläuche überhaupt nicht zu gebrauchen. Bei Schläuchen von vulkanisirtem
Kautschuk ist mir der genannte Uebelstand nicht aufgefallen. Doch prüfe ich der
Sicherheit halber die Reinheit aller Schläuche, indem ich längere Zeit Luft hindurch-
leite und diese einmal in eben blauer, einmal in schwach rother Lakmustinctur auf-
fange. Letzteres ist nöthig, weil auch Ammoniakgas von manchen Schläuchen in
grossen Quantitäten verschluckt und dann ausgehaucht wird.
362 Th. W. Eugelvniuin,
auch die Excursionen in der fiegel viel kleiner JüooA die Jhal^^iörau^D
Bewegungen werden vorwiegend. Zugleich werden die l^len gelblich,
feinkörnig getrübt, die Kerne erscheinen mit dunklen unregetoäfisigen
Contouren, auch die Wimpern, acheinen dunkler contouriri ¥ud gelb-
lich und steheji endlich schräg und gestreckt still, ebenso wie daß frü-
her scboQ beschrieben wurde. — Die Beschleunigung der Bewegung
tritt ein, noch bevor die Kerne der im Präparate befindlichen rathen
Blutkö^rpercben durch die Säure sichtbar gemacht werden. Ebenso
tritt sie früher ein, als sich ein im Tropfen befindliches Stück blaues
Lakmuspapier reihet. Auch der Stillstand pflegt schon da zu sein, wenn
die rotbe Färbung eintritt.
Um nicbtflUchtige Säuren, wie Cbromsäure, Oxalsäure u, a. schon
im ersten Stadium zu beobachten, zog ich es vor^ die säurehaltige Flüs-
sigkeit nicht von der Seite her unter dem Deckgl9se durchfliessen zu
lassen, wie man das sonst wol mit Hilfe von Fliesspepier z. B. tbui.
Hierbei ist es aus. vielerlei Gründen unmögUeh, den Moment zu bestim-
men, in welchem die beobachteten Zellen mit der Säure in Berührung
kQiXtmen, namentlich ist die Schleimhaut oft mit einer, nicht öelten
ziemlich weit' von der Oberfläche der Zellen abstehenden ScUeimsobicki
Überzogen, an weddaer sich der Säurestrom bridit, und im Vordringen
zu den Zellen behindert wird. Aus diesen Gründen schlug iqh folg^-
des Verfahren ein. Ein Glasröhrchen wurde in eioe etwa 2 Gent, lange,
sehr feine capillare Spitze ausgezogen, und mittels einer nach allen
Richtungen frei beweglichen Klemme so fixirt, dass die Mündung die-
ser Spitze (die eine Weite von etwa 0,06 Mm. besass) in der Mitte des
Gesichtsfeldes vom Mikroskop dicht vor den zu beobachtenden Flim-
merzellen im Focus sich befand. In das GlaiSrohr war nun vorher die
säurehaltige Flüssigkeit so gefüllt worden, dass sie bis ungefähr ^4 Mm.
weit von der capillaren Oeffoung stand. Hierdurch wird erreicht, dass
beim Eintauchen der Spitze des capillaren Glasrohrs in den Tropfen,
in welchem sich die Flimmerzellen befinden, eine Luftblase von Y4Mm.
Länge die Mündung des Röhrebens verschliesst und verhindert, dass
die Säure sich ohne Weiteres mit der Flüssigkeit misofae, in der das
Object liegt. Ist das Glasröhrchen in der richtigen Einstellung fixirt,
so treibt man durch Blasen in einen über das weitere Ende des Glas-
rohrs gezogenen Kautschukschlauch erst die in der Mündung steckende
kleine Luftblase heraus , der sogleich die saure Flüssigkeit folgt. Je
nachdem man stärker oder schwächer bläst, geht die Flüssigkeit sohnel-
er oder langsamer heraus und kann auch durch Saugen sofort wieder
in das Capillarrohr zurückgebracht werden, falls sie nicht zu weit aus-
getreten war. Auf diese Weise kaiin man den Zutritt der Flüssigkeit
üeber 4ie FUBneiiew«|UDg. 363
aemlich genau loealisiren und reguüren' und alle Stadien der fiia-
Wirkung bequem beefcacblen.
loh brachle nun die Mündung des Capillarrohns vor eine Gruppe
vea Zellen, deren Bewegung eich in Kochsalz vcm 0,5% oder Serum
iheils verlangsamt hatte, 4heils schon stiUsiand. Trieb ich halbprooen-
tige Rochsalztosung oder Serum durch das R((hrchen auf die ZdUen, so
beschleunigte sich die Bewegung nicht oder nur wenig. Anders, wenn
ich mit Chromsilure.von 0,f % versetztes Serum in die hühre gefüllt
hatte. Im Moment, wo die schwach gelbliche Flüssigkeit aus der Mün-*
düng des Böhrchens austrat, beschleunigte und verstärkte sich die Be-*
wegung bei den vor der MUiodung liegend^i Zdlen erheblich, einzelne
erwachten aus dem Stillstande. Hiernach trat unter gelblicher Fär-
bung und Trübung der Zelle» StiHsUuid ein. Saugte ich die kleine
Meng0 der ausgetretenen Chromsäure in die Glasröhre zurück, so be-
gann die Bewegung wieder, doch nicht ^tark und nicht schnell. Zu-
gleich nahm die gelbliche Fürbung der Zellen etwas ab. —
Wurde statt der Chromsaare Oxalsäure oder Milchsäure be-
nutfiEt, so traten ganz dieselben Aenderungen der Bewegung ein : erst
Beschleunigung, dann Veriangsamung uimI Stillstand unter Trübung der
Zellen und Siahtbarwenden der Kerne. — JNimmt man die Säuren zu
ooneentrirt, oder treibt man sie sehr raseh aus der Mündung heraus,
so kann das Stadiiw der Beschleuniguiig unterdrückt werden und man
erhält segleioh Stillstand. —
In der hier angegebenen Weise kann man sich auch von der be-
schleunigeoden Wirkung der Kohlensäure überzeugen. Man beobach-
tet eine auffidUge Beschleunigung und Verstärkung der Bewegungen,
wenn man eine mit Kohlensäure geftUlte Luftblase aus der Mündung
des Capillarrohrs an die Zellen treten lässt.
Der belebende und erst bei fortgesetzter Einwirkung hemmende
Ei^oss der erwähnten Säuren zeigte sich auch femer unter ganz den-
selben Verhältnissen wie bei der Kohlensäure : bei dem Stillstande durch
Wasser, durch zu stark verdünnte und zu stark concentrlrte
Salzlösung, beim Stillstande in reinem Wasserstoff (wenigatens
in der ersten Zeit desselben) oder in reinem Sauerstoff in indiffe-
renten Flüssigkeiten Y endlich beim Alkalistil I stände. — Niemals
gelang es, durch eine der genannten Säuren einen durch Luft nicht
mehr zu beseitigenden Aethe-r- oder Chloroformstillstand zu he-
ben; ebensowenig einen Wärmestillsiand in Serum, der beim
blossen Abkühlen nicht weiohen wollte, oder einen durcii elektrische
Schläge herbeigef ahnen StiUstand .
Wie endlich zu erwarten war, ist es selbst bei grösstar Versieht
364 'Tb. W. Engelinauin,
nicht möglich, einen durch eioe Säure berbeigeftthrien Stillstand durch
Zufuhr einer anderen Säure aufzuheben. Hat maii aber z. B. einen
Kohlensäurestillstand durch atmosphärische Luft aufgehoben und be-
ginnen nach einiger Zeit die Bewegungen sich in atmosphärischer Luft
zu verlangsamen, so ruft dann Zufuhr von Salzsäure oder Essigsäure
ebensogut Beschleunigung und Verstärkung hervor^ wie Kohlensäure.
Gedenken wir noch mit einigen Worten der Mittel, welche die
durch Säuren vorsichtig zur Ruhe gebrachte Flimmerung wieder erste-
hen lassen. Wir berücksichtigen hier nur solche Fälle , in denen die
Zellen zu Beginn der Säureeinwirkung in indifferenten Flüssigkeiten
lagen. Hat man den Stillstand durch Salz- oder Essigsäuredämpfe äus-
serst vorsichtig herbeigeführt und lässt man sofort nach seinem Eintritt
reine atmosphärische Luft in starkem StroroQ durch die Gaskam-
mer gehen, so erwachen mitunter nach einiger Zeit (nach einer halben
bis mehreren Minuten) die Bewegungen wieder. Doch ist es viel häu-
figer, dass der Stillstand fortbestehen bleibt. Auch bleiben die Bewe-
gungen im ersten Falle kldn , nicht frequent und erlöschen in der Re-
gel bald wieder. Auch durch wiederholtes Auswaschen mit reinem Wa s-
ser, noch besser mit Kochsalz von 0,5% ^^^^ man, freilidi oft erst
nach Minuten, die Bewegungen wieder in^s Leben rufen. Aber auch in
diesen Fällen bleiben die wieder erwachten Bewegungen klein, haken-
förmig, wenig frequent. Vielleicht beruht diess Wiedererwachen nur
darauf, dass die Säure nicht weiter als bis in die oberflächlichsten Par-
tien der Zellen eingedrungen war und hier dann nach dem Auswaschen
der Säure dadurch neutralisirt wurde, dass schwach alkalische Flüs-
sigkeit aus den von der Säure nicht erreichten tieferen Partien der
Schleimhaut langsam nach der Oberfläche zu diffundirte. —
Das Hauptmittel gegen den Säurestillstand sind die Alkalien, von
(}cren Einfluss sogleich weiter die Rede sein wird. — Liess ich Flim-
merzellem durch Salz- oder Essigsäuredämpfe sehr vorsichtig bei ge-
wöhnlicher Zimmertemperatur zur Ruhe kommen, und brachte ich dann
die feuchte Kammer auf den stark geheizten Objecttisch von Scbultkb,
dann erwachten die Bewegungen niemals wieder, wohl aber (falls die
Erwärmung nicht zu weit getrieben war) , sobald etwas Ammoniak
durch die Kammer geführt wurde.
Taucht man frische Flimmerzellen in verdünnte oder concentrir-
tere Lösungen von reinen Mineralsäuren (Schwefelsäure, Salzsäure.
Salpetersäure von 0,IS% und mehr), so steht die Flimmerbewogung
augenblicklich und für immer still. Die Zellen werden dabei undurch-
sichtig und bräunlich.
lieber die Flimmerbeweguog. 365
IV. Einfluss von Alkalien auf die Fliromerbewegung.
Die güpstige Wirkung alkalischer Flüssigkeiten ist, nachdem wie
oben schon erwähnt, Yirghow den erregenden Einfluss von Kali und
Natron entdeckt hatte, von vielen Seiten bestätigt worden. Dodi sind
die Bedingungen , unter denen die Alkalien ihren belebenden Einfluss
äussern , nicht näher untersucht. Nur für den Säurestillstand haben
Gl. Bernar]> und W. Kühnb gezeigt, dass er durch Alkalien aufgehoben
werden kann, und letzterer Autor meint, dass wol auch in den andern
Fällen die günstige Wirkung des Alkali auf Neutralisation einer Säure
in den Flimmerzellen beruhen möge. — Ich untersuchte wie die Alka-
lien auf Flimmerzellen wirken , deren Thätigkeit unter verschiedenen,
bestimmten Bedingungen nachgelassen hat, und dann, welche Mittel
einen unter verschiedenen Umständen eingetretenen Alkalistillstand
aufzuheben im Stande seien.
Sind Flimmerzellen, die in Kochs aljc von 0,5 — 0,6% oder in
Serum liegen, bei Anwesenheit von atmosphärischer Luft oder in einer
Atmosphäre von reinem Sauerstoff zur Ruhe gekommen, so erweckt
Zusatz von Kali- oder Natronlauge die Bewegungen wieder und
wenn diese Flüssigkeiten in äusserst hoher Verdünnung benutzt wer-
den, kann sich die Bewegung dann lange erhalten. Beim Erwachen
sind die Bewegungen fast ausschliesslich wellenförmig und von sehr
grosser Amplitude, ihr Tempo, anfangs meist langsam, kann sich bald
zu derselben Höhe erheben , . wie wir das für die Kohlensäure und an-
dere Säuren fanden. Je weniger Veränderungen man beim Wieder-
erwachen der Bewegung im Aussehen der Zellen bemerkt, um so län-
ger dauert dann die Bewegung. Wird aber das Kali oder Natron nicht
in äusserst geringer Menge der indifferenten Flüssigkeit, in der das
Präparat liegt , zugesetzt, so bemerkt man theils beim Wiederbeginn
der Bewegung, theils bald nachher, unter gleichzeitiger Verlangsamung
der Bewegungen eine erhebliche Quellung. Die Zellen schwellen auf^
werden ganz durchscheinend; ebenso werden die Flimmerhaare. deut-
lich dicker und blasser, endlich können die Zellen platzen und Alles
wird aufgelöst. — Ganz ebenso wirkt nun das kaustische Ammoniak
auf die in Sauerstoff oder atmosphärischer Luft zur Auhe gekommene
Bewegung, Saugt man einen Luftstrom, dem Ammoniakdämpfe beige-
mischt sind, durch die Gaskammer, so gerathen alle Zellen im Präparat
in die heftigste Bewegung i). Der Tropfen nimmt zugleich eine deutlich
4) Zum Ueberfluss kann man sich auch hier vor dem Anstellen des Versuchs
Überzeugen , dass das Durchsaugen eines Stromes reiner atmosphärischer Luft die
Bewegungen nicht wieder anfacht.
366 Th. W. RngebDanir,
alkalische Reaction an. Die Fonn und das übrige Verhaltep der Bewe—
gung beim Wiedererwachen durch Ammoniak sind ganz ebenso wie
behn Erwachen durch die fixen Alkalien. Bei längerem Durchführen
des Ammoniakgases trili dann Stillstand ein, zuweilen noch bevor die
Zellenkdrper erbeblich gequoHeii sind. Endlich können , wie in Kali
ond Natron die Zellen zerfliessen, die Wimpern sich auflösen.
Wie wir früher gesehen haben , beruhte der Stillstand in indiffe-
renten Lösungen wie Serum , Humor aqueus u. s. w. darauf, dass Xe
Lösungen nicht indifferent, sondern in den allermeisten Fällen etwas
zu concentrirt waren. Es Hess sich desshalb erwarten , dass auch der
durch stark concentrirte Salzlösungen herbeigeführte Still-
stand durch Alkalien aufzuheben sein würde. Dass diess in der That
möglich ist, haben wir schon bei Besprechung des Einflusses der Salz-
lösungen angegeben. Wir fügen hier noch bei, dass durch eine sehr
geringe Zumischung von Kali , Natron oder Ammoniak ziemlich con-
centrirte und für sich schädliche Lösungen nahezu indifferent gemacht
werden können. So ist z. B. eine Traubenzuckerlösung von 3 % , der
eine Spur äusserst verdünnter Kalilauge zugesetzt wurde, viel günsti-
ger als reine Traubenzuckerlösung von derselben Concentration.
Es wurde gleichfalls oben schon mitgetheilt, dass die Alkalien ihre
belebende Wirkung vollständig versagen, wenn die Fliramerung durch
Einfluss von reinem Wasser verlangsamt oder zur Ruhe gekommen
ist. Die durch Wasser verlangsamten Bewegungen werden z. B. durch
etwas Ammoniak sofort unter plötzlicher Zunahme der Quellung zum
Stillstand gebracht, der bereits eingetretene Wasserstillstand niemals
durch Alkalien aufgehoben. Dasselbe gilt natürlich, wenn statt reinen
Wassers äusserst verdünnte neutrale Salzlösungen , wie Kochsalz von
0,3% und darunter zur Lähmung der Wimperthätigkeit benutzt wor-
den waren. Zu den Fällen, wo Aether, Alkohol, Schwefelkoh-
lenstoff oder Chloroformdämpfe den Stillstand veranlasst hatten
und wo dann ein Luftstrom allein die Bewegungen nicht wieder an-
fachen konnte, helfen Alkalien auch nichts mehr. — Wo dagegen durch
überschüssige Säurezufuhr dem Spiel der Wimpern ein Ende ge-
macht war, können Alkalien eine fast specifische belebende Wirkung
entfalten. Am schönsten sieht man diess bei Zellen, die in einer un-
schädlichen Flüssigkeit in der Gaskammer liegen und durch schwache
Essigsäure- oder Salzsäuredämpfe scheintodt gemacht sind,
wenn ein wenig Ammoniakgas , mit Luft gemischt über das Präparat
geleitet, oder — was unbequemer — wenn letzteres mit alkalischer
Flüssigkeit ausgewaschen wird. Die Veränderungen , welche die Säu-
ren im Aussehen der Zellen hervorgerufen hatten , verschwindeo unter
^
^
(Jeber die Plimmerbewegui^'^ 367
dem Einduäfi der Alkalien , und es iom&t meist ein Zeiipanct, wo die
Zellen ihr normales Ansehen wieder haben. Sehr leicht überschreitet
jedoch die Säurewirkung die'Grenze, wo eine Wiederbelebung durch
Alkalien noch möglich ist. Bei längerem Durchleiten von Ammoniak
oder Auswaschen mit Kali- oder Natronhahigen Lösungen werden in
diesem Fall die Zellen schliesslich aufgelöst , ohne dass ein Zeitpunct
kommt, wo die Bewegung wieder erwacht.
Ebenso wie die in atmosphärischer Luft oder in Sauerstoff zum
Stillstand gekommene Bewegung, kann in vielen Fällen auch der Was-
serstoffs tillstand ohne vorherigen Sauerstoffzutritt durch Alkalien
aufgehoben werden. Ich brachte neben den Tropfen halbprocentiger
Kochsalzlösung oder Serum, welcher die Flimmerzellen enthielt, einen
Tropfen Serum dem eine Spur Kali- oder Natronlösung zugesetzt war,
so dicht, dass die Ränder beider Tropfen sich beinah berührten. Nun
wurde Wasserstoff durch die Gaskammer geleitet bis die Bewegung
überall oder doch an den meisten Orten stillstand. Hierauf neigte ich
das Mikroskop mit der Gaskammer etwas , so dass der Kalitropfen mit
dem andern zusammenfloss. Sofort zeigte sich an allen den Stellen, wo
die Kalilauge hindrang Wiederbeginn der Bewegung , und wenn nur
die Lauge genügend schwach gewesen war, dauerte es dann lange, ehe
der Wasserstoffstillstand wieder eintrat. Lässt man unter gleichen Um-
ständen einen Tropfen Serum oder Kochsalzlösung ohne Alkali zu dem
Präparate fliessen, so tritt in der Regel keine Spur von Beschleuni-
gung ein.
Auch durch Beimischen von Ammoniak zum Wasserstoff kann man
den bereits eingetretenen Wasserstoffstillstand schnell aufheben und
wenn die beigemischte Menge Ammoniak klein genug ist, kann der
Eintritt des Wasserstoffstillstands bedeutend verzögert werden, gerade
wie diess eine Beimischung von etwas Kohlensäure zum Wasserstoff
thut. —
Beim Erwachen aus dem Wasserstoffstillstand^ durch Alkalien ha-
befi die Bewegungen meist Wellenform und sind gross. Das Tempo
kann binnen fünf Secunden schon beträchtlich schnell geworden sein.
— Hat der Wasserstoffstillstand schon sehr lange angehalten , bevor
das AlkaH zugesetzt wird, so erwacht die Bewegung in der Regel nicht
wieder, wenn nicht auch Sauerstoff zugeführt wird. In letzterem Falle
kann dann die Bewegung , wenn auch nicht die normale , doch eine
bedeutende Höbe erreichen.
Von grossem Interesse ist der Einfhiss der Alkalien auf Flimmer-
•reHen die durch kurzdauernde Erwärmung auf etwa W^ in Läh-
368 ,, Tb. W, EngeiiuaaD,
mung versetzt sind. Hierauf '^ommen wir weiter unten ausführlicher
zurück. .
Es fragt sich nun, welche Mittel den Alkalisiillstand aufbeben.
Wir denken hier zunächst an den Stillstand, der durch überschüssige
Alkalizufuhr zu möglichst indifferenten Flüssigkeiten herbeigeführt
wurde. Man braucht nicht lange Zeit Ammoniakdämpfe über em in
Serum oder noch besser Kochsalz von etwa 0,5,% liegendes frisches
Präparat zu leiten, um die Bewegung überall aufhören zu sehen. Sie
steht oft schon still, ehe die Zellen bedeutend gequollen sind und die
Lage der Wimpern ist dieselbe schräg nach vom geneigte, wie bei den
andern Formen des Stillstands. In solchen Fällen giebt es nun verschie-
dene Mittel der Wiederbelebung. Eins der schwächsten ist Wasser
oder äusserstverdünnte neutrale Salzlösungen. Hier tritt näm-
lich sehr bald nach der Wiederbelebung Wasserstillstand ein. Besser
wirken indifferente Salzlösungen\oder überhaupt unschädliche
Flüssigkeiten, auch wenn sie, wie Serum, schwach alkalisch sind.
Lässt man den Alkalistillstand nicht zu lange dauern und sind die Zellen
nicht durch zu starke Einwirkung des Alkali getödtet, dann kann
nach dem Auswaschen die Flimmerung ihre anfängliche Schnelle wie-
der erlangen. Da|ss die Wiedererweckung auch durch Einlegen eines
Kochsalzkrystalles in die Nähe der Stillstehenden Wimpern ge-
lingt, haben wir oben erwähhnt. — Aether und Alkohol können,
wenn nur der Ammoniakstillstand sehr vorsichtig eingeleitet war,
schwache Bewegungen wieder hervorrufen. Hiervon später. Die Säu-
ren aber sind es, welche am schnellsten und sichersten den Alkali-
stilistand beseitigen, und zwar thun sie diess nicht nur, wenn die Zellen
sich anfangs in indifferenten Lösungen befanden, sondern auch wenn
die Bewegungen durch sehr kurze Einwirkung von reinem Wasser eben
verlangsamt und dann durch wenig Ammoniakgas völlig still gemacht
worden waren. Auch wenn die Zellen in etwas stärker concentrirten
Salzlösungen lagen, und durch überschüssiges Alkali gelähmt wurden,
können Säuren noch wiederbeleben.
Man stellt diese Versuche am bequemsten in der früher beschriebe-
nen Weise mit Dämpfen von Essigsäure oder Salzsäure an oder führt Koh-
lensäure durch die Gaskammer. Immer aber muss darauf geachtet wer-
den, dass die Alkalieinwirkung nicht zu weit getrieben wird. Auch ohne
dass die Zellen aufgelöst werden, können sie solche Veränderungen da-
durch erleiden, dass Säuren dann nicht wieder erwecken. Experimen-
tirt man vorsichtig, so kann man dieselben Zellen wol fünf und mehrmal.
lieber die Flimmerbewegiiff: 369
abwechselnd durch Alkalien (am besten Ammoniak) und durch Säuren zur
Kühe bringen und wieder erwecken ond zwar scheint es gleichgültig
zu sein , ob man immer diesAbe Säure wieder wählt oder ob jedesmal
eine andere Säure zurBeaettigung des Älkalistillstandes verwendet wird.
V. Einfluss von Wasserstoff und Sauerstoff auf die
Flimmerbpwegung.
Die in der Einleitung citirten Versuche von Kühne an Anodonta
sind die einzigen , welche wir über den Einfluss von Wasserstoff und
Sauerstoff auf die Flimmerbewegung besitzen. Kühne zog aus ihnen
den Schluss, dass der bei längerem Verweilen in reinem Wasserstoff
eintretende Stillstand nicht auf einer giftigen Wirkung des Wasserstoffs,
sondern auf dem Verdrängen des Sauerstoffs beruhe. Beimischung von
nur wenig Sauerstoff reichte aus^ den Stillstand aufzuheben. Versuche
bei denen die Zellen in HämogbbinlOsung lagen , zeigten , dass die Be-
wegung von dem Moment an stillstand wo alles Oxyhämoglobin durch
den Wasserstoffstrom reducirt war. Versuche, welche ich über den
Einfluss vQn Wasserstoff auf die Flimmerbewegung bei Wirbelthieren
anstellte, haben in einigen Puncten andere Resultate ergeben.
Der zu den Versuchen benutzte Wasserstoff wurde durch Einwir--
kung von verdünnter Schwefelsäure auf Zinkblechstücke dargestellt,
vor seinem Eintritt in die Gaskammer in salpetersaurer Silberoxyd-
lösung , in Kalilauge und Wasser gewaschen und nach seinem Austritt
aus der Kammer von Zeit zu Zeit auf seine Reinheit geprüft. Vom luft-
dichten Verschluss der Gasleitungsröhren und der Gaskammer über-
zeugte ich mich jedesmal durch Zudrücken des AusfÜhrungsschlauchs
der Kammer : die Flüssigkeit der Entwicklungsflasche stieg sofort em-
por und in den Waschflaschen stiegen keine Gasblasen mehr auf.
Meist wurden die Flimmerzellen in der früher angeführten Weise
der Rachenschleimhaut eines eben getödteten Frosches entnommen,
und in einem Tropfen Blut, Serum , oder Kochsalz von 0,5% der Ein-
wirkung des Wasserstoffs ausgesetzt. Zur Beobachtung wurden meist
solche Zellen im Präparate ausgesucht, welche eine zwar verlangsamte
aber doch noch lebhafte Bewegung zeigten. Die ausgesuchten Zellen
wurden stets erst fünf Minuten bis eine Viertelstunde lang beobachtet,
während die Gaskammer mit atmosphärischer Luft gefüllt war. Hatte
sich dann ihre Bewegung nicht merklich verändert , so wurde mit der
Einleitung des Wasserstoffgases begonnen.
Wie sich herausstellte , war der Erfolg der Behandlung mit Was-
serstoff im Wesentlichen derselbe , ob nun die Flimmerzellen in Blut
^ Oller Blutserum, in Humor aqueus oder in Kochsalzlösung von 0,5%
Bd IV. 3. 24
370 " s Th. W. EflgetnMiD,
lagen. In allen Fällen tritt eine Abnahme der Bewegung, nach längerer
Einwirkung des Gases Stillstand ein. In der Regel iindert sich die Be-
wegung innerhalb der ersten Minuten nicht. Der Moment des Wasser-
Stoffzutritts verräth sich weder durch eine Beschleunigung noch durch
eine Verlangsamung der Bewegung. Nach drei Bis fUnf Minuten , oft
auch erst nach einer Viertelstunde oder später , im Allgemeinen um so
früher, je schneller der Wasserstoffstrom die atmosphärische Luft aus
der Gaskammer verdrängt, beginnt die Bewegung nachzulassen. Dieser
Nachlass erfolgt nie plötzlich, sondern allmählich und geht ebenso
allmählich in den Stillstand über. Oft vergeht eine halbe bis ganze
Stunde und mehr Zeit, ehe der grösste Theil der Zellen zur Ruhe ge-
bracht ist. — Die Abnahme der Bewegung erfolgt nicht bei allen Zellen
in derselben Weise. Bei der Mehrzahl verlangsamt sich das Tempo,
während zugleich die Amplitude der Schwingungen abnimmt. Die mei-
sten zeigen die hakenförmige Bewegung mit immer kleiner werdenden
Excursionen. In der Regel bewegen sich hier die Haare einer und der-
selben Zelle bis zu Ende synchronisch und in parallelen Richtungen.
Eine kleine Anzahl von Flimmerhaaren nimmt eine mehr pendelftfrmige
Bewegungen, bei der sich, wie oben auseinandergesetzt wurde, das
Basalstück der Wimper nicht betheiligt. Die Schwingungen beschrän-
ken sich auf ein immer kleiner werdendes Stück der Haarspitze, wobei
die Excursionsweite abnimmt , das Tempo aber nicht selten schneller
wird. Die Schwingungen benachbarter Haare erfolgen hier nicht mehr
in parallelen, sondern in mannichfach sich durchkreuzenden Richtun-
gen, und geschehen auf einer und derselben Zelle nicht mehr synchro-
nisch. Endlich sieht man nur noch die äussersten Spitzen der Haare
sehr kleine, zitternde Bewegungen ausführen. Diese werden bald un-
messbar klein, endlich nicht mehr wahrnehmbar. — Eine sehr geringe
Anzahl von Flimmerhaaren' behält bis zu Ende die wellenförmige Be-
wegung. Hier schwingen alle Haare derselben Zelle bis zuletzt synchro-
nisch und in parallelen Richtungen. Das Tempo verlangsamt sich aber
allmählich , so dass kurz vor dem Aufhören vielleicht nur von fünf zu
fünf Secunden eine Schwingung ausgeführt wird. Dann treten noch
grössere Pausen ein, von einer Viertdminute und darüber, es erfolgt
noch ein einzelner Schlag, endlich nichts mehr.
Wo schon vor dem Einleiten des Gases Verlangsamung der Bewe-
gung bemerkbar war , beschleunigt der Wasserstoff den Eintritt des
Stillstandes. Mitunter hört bei einzelnen Zellen die Bewegung selbst
dann nicht völlig auf, wenn der Wasserstoffstrom eine Stunde und
länger in unverminderter Stärke die Kammer passirt hat und wenn an
den benachbarten wie den entfernteren Stellen des Präparates die Be—
Oeber die PILmnerbewegnn^' 37 \
wegung schon lange stillsteht. Diess sjfiid meist ,. doch durchaus nicht
immer, solche Zellen, welche zu Anfang des Versuches eine sehr starke
und schnelle Bewegung zeigten. Man trifft sie namentlich bei Anwen-
dung von Blut oder Blut^arum als Untersuchungsflttssigkeit, doch im-
merhin selten. Stetv ist ihre Bewegung wenigstens sehr beträchtlich
verlangsamt, und kommt nach mehrstündigem Verweilen in der Atmo-
sphäre von reinem Wasserstoff endlich auch zur Ruhe.
Liegen die Zellen nicht in den obengenannten »indifferenten Flüs-
sigkeiten,a sondern in etwas concentrirterer Kochsalzlösung
(z.B. 4%), so tritt der Wasserstoffstillstand noch viel eher ein und zwar
viel früher, als er bei Anwesenheit von Sauerstoff in der letzteren Lö-
sung zu Stande gekommen sein würde.
Verschiedene Versuche, bei denen die Zellen in OxyhUmoglobin-
lösung oder reinem Blut lagen , ergaben das constante Resultat , dass
die Bewegung noch lange (eine Stunde und mehr) fortbestehen blieb,
nachdem alles Sauerstoffhämoglobin durch den Wasserstoffstrom redu-
cirt schien. Es wurde bei diesen Versuchen regelmässig erst längere Zeit
(eine Vieitelstunde und länger) Wasserstoff durch die vor der Gaskam-
mer gelegenen Theile des Apparates geführt, ehe die Gaskammer selbst
in den Wasserstoffstrom eingeschaltet ward. Der Druck im Innern der
Gaskammer war immer ansehnlich höher als der der Atmosphäre. Unter
diesen Umständen , wo von Anfang an reiner Wasserstoff in die Kam-
mer eintritt, brauchte man in der Regel nicht mehr als 40 — 15 Minuten
lang Wasserstoff durchzuführen um alles Sauerstoffhämoglobin zu re-
duciren , das sich in dem 1 wie gewöhnlich unbedeckt , an der Unter-
fläche des Deckglases schwebenden Tropfen befand. Schon für das
blosse Auge war zu dieser Zeit deutlich die bekannte Farbenverände-
rung eingetreten und mittelst des Mikroskops konnte man sich an den
einzelnen Blutkörperchen von derselben überzeugen. Die Untersuchung
mit dem Spectralapparat zeigte , dass die beiden anfangs sehr deutlich
wahrnehmbaren Absorptionsbänder des Sauerstoffhämoglobins ver-
schwunden waren. Dennoch hatte zu dieser Zeit die Stärke und Schnel-
ligkeit der Bewegung nur wenig oder gar nicht abgenommen. Als etwas
atmosphärische Luft in den Apparat gelassen wurde, erschienen die
Absorptionsbänder des Sauerstofihämoglobins sehr schnell wieder.
Zur Wiederbelebung aus dem Wasserstoffstillstand reicht Zufuhr von
Sauerstoff in vielen Fällen aus. Hat man durch einen Strom reinen
Wasserstoffgases die Flimmerbewegung , in Serum z. B. , verlangsamt
und mischt nun dem Wasserstoff plötzlich Sauerstoff bei , so beginnt
bald an allen Stellen die Bewegung sich zu beschleunigen und die Am-
372 s 'rh. W. KiigelmaHUt
plitude der Schwingungen sidh zu vcrgrössern. [st die zugeführte
Sauerstoffmenge sehr gering, so dauert es oft eine halbe Minute und
länger ; ehe die Beschleunigung sich bemerkbar macht. Auch tritt sie
dann nicht mit einem Schlage, sondern alknählich ein. Eine Minute
und mehr Zeit kann verstreichen , ehe die Wimpeln wieder so schnell
schlagen, wie vor dem Einleiten des Wasserstoffs. — Ist die zugeftthrte
Sauerstoffmenge gross, so kann schon nach zehn Secunden eine ziem-
lich plötzliche Beschleunigung und Verstärkung der Bewegungen be-
ginnen. Wenige Secunden später kann die Bewegung ihr Maximum
erreicht haben, und hält sich nun, wenn fortdauernd genügende Sauer—
stoffmengen zugeführt werden, lange Zeit auf dieser Höhe. — Im Beginne
der SauerstoflTeinwirkung beobachtet man gleichzeitig eine Vergrösse-
rung der Excursionsweile und eine Steigerung der Frequenz. Wim-
pern, die bei der Verlangsamung in Wasserstoff eine hakenförmige
Bewegung zeigten, nehmen dann zuweilen wieder die normale wellen-
förmige Bewegung an. Im Aussehen der Zellen ändert sich nichts.
Ist die Flimmerbewegung durch einen Wasserstoffstrom in Serum
oder Kochsalz von 0,5% völlig zur Buhe gebracht, so hängt die Schnel-
ligkeit der Wiederbelebung durch Sauerstoff von mehreren Umständen
ab. Einmal nämlich von der Zeit, welche der Wasserstoffstillstand be-
reits gedauert hat und dann von der Menge des zugeführten Sauer-
stoffs. Stehen die Wimpern erst kurze Zeit (einige Minuten bis eine
halbe Stunde) im Wasserstoffstrom slill, so genügt eine sehr kleine
Menge Sauerstoff, um sie wieder in Bewegung zu bringen. Sie er-
wachen um so später und um so langsamer, je länger sie schon im
Wasserstoff stillgestanden haben und je geringer die Sauerstoff'mengo
ist. Führt man den Sauerstoff erst zu, nachdem der Wasserstoffstill-
stand mehrere Stunden lang gedauert hat, so muss man oft einige Mi-
nuten warten, ehe die Bewegung wieder beginnt. Ja, wenn nur sehr
wenig Sauerstoff zugeleitet wird, kann es vorkommen, dass die Bewe-
gung innerhalb der ersten Viertelstunde und vielleicht überhaupt nicht
mehr erwacht. — Verdrängt man plötzlich den Wasserstoff durch rei-
nen Sauerstoff, so kann man w^enigstens, wenn die Zellen in Blut oder
Blutserum liegen , sicher sein , selbst nach langer Dauer des Wasser-
stoffstillstandes , die meisten Zellen wieder in Bewegung zubringen.
Doch muss man auch hier mitunter Minuten lang warten. Nicht alle
Wimpern fangen dann zu gleicher Zeit an, sich wieder zubewegen.
Einzelne beginnen mit einer sehr langsamen , grossen Schwingung,
andere mit sehr kleinen , hakenförmigen Bewegungen , die allmählich
grösser und frequenter werden. Selten erreichen die Bewegungen,
wenn sie längere Zeit in Wasserstoff stillgestanden haben, eine bedeii-
üeber die Flimmerbewegung;^'^ 373
tondo Geschwindigkeit. Bei nicht weniysfi' Zellen steht schon ein paar
Minuten nach dem Zutritt des Sauerstoffs die Bewegung wieder still.
Regelmässig erwacht bei einzelnen Zellen die Bewegung selbst in rei-
nem Sauerstoff nicht wieder. Ebenso wie der Sauerstoff wirkt auch
kohlensUurefreie atijiofiphärische Luft auf den Wasserstoffstillstanll.
Noch häufiger misslingt die Wiederbelebung der Bewegung durch
Sauerstoff, wenn die Zellen in etwas zu concentrirten Kochsalzlösungen
(fA^ etwi^ gelegen und schon längere Zeit im Wasserstoffstrom still-
gestanden haben. Da man hier ausser dem hemmenden Einfluss des
Wasserstoffs noch die schädliche Wirkung einer zu stark concentrirten
Flüssigkeit hat , nimmt es nicht Wunder, dass Sauerstoffzufuhr allein
zur Wiederbelebung nicht immer ausreicht. Und dasselbe gilt auch
von den angeblich indifferenten Lösungen, wie Serum, Humor aqueus
u. s. f., da diese, wie wir oben zeigten, fast immer etwas zu concen-
trirt sind. Auch wenn in diesen Flüssigkeiten die Flimmerzellen in rei-
nem Wasserstoffstrom zur Ruhe kamen , ist dieser Stillstand nicht dem
Wasserstoff allein zuzuschreiben. Diess geht daraus hervor, dass in den
Fällen , wo Verdrängen des Wasserstoffs durch Sauerstoff allein nicht
ausreicht, die Bewegung wieder zu erwecken , diess doch sofort ge-
schieht, wenn man einen Tropfen Wasser, den Dampf von einer Säure,
von Ammoniak , von Aether, Wärme, kurz irgend eins der Mittel dem
Präparat zuführt,* welche den in indifferenten oder zu concentrirten
Lösungen »von selbst« eintretenden Stillstand aufheben. Ja, wenn der
Wasserstoffstillstand nicht schon Stunden lang angehalten hatte , rei-
chen in der Regel sogar, wie früher schon erwähnt, die letztgenannten
Mittel allein zur Wiederbelebung aus, ohne dass es der Zufuhr von
Sauerstoff bedürfte. Hierauf beruht es denn auch, dass der Wasserstoff-
stillstand später eintritt in alkalischem Serum als in den günstigsten Koch-
salzlösungen, später in dreiprocentiger Zuckerlösung der eine Spur Alkali
zugesetzt wurde als in roiner Zuckerlösung von 3 % , später wenn dem
Wasserstoffstrom beständig eine Spur Kohlensäure beigemischt , wird,
u. s. L Das Nähere hierüber wurde schon in früheren Abschnitten mit-
getheilt. Die Flimmerbewegung kann sich also in einer
sauerstofffreien Atmosphäre noch einige Zeit (bis mehrere
Stunden) erhalten, wenn nur die Flüssigkeit in der die Zel-
len liegen eine passende Concentration, Reaction und
Temperatur besitzt.
Ganz ähnlich wie in Wasserstoff verhalten sich die Zellen in einer
Atmosphäre von kohlensäurefreiem Leuchtgas. Allmählich —
meist im Verlauf einer oder mehrerer Stunden — tritt Stillstand ein,
den Sauerstoffzufuhr aufhebt.
374 -v Th. W. Engelmftnn,
Lässt man den WasserstMTstillstand bei Zellen die in Serum oder
Kochsalz von 0,5% liegen, sehr lange, etwa mehrere Stunden dauern,
so gelingt die Wiederbelebung durch Wasser, Säuren, Alkalien ,
Wärme u. s. f. nicht, wenn Sauerstoff abgeschlossen bleibt, unter-
bricht man dann aber den" Wasserstoffstrom und lässt Luft in die Gas-
kammer eintreten, so erwacht die Thätigkeit der Zellen wieder.
Mischt man dem Wasserstoffstrom vor seinem Eintritt in <lie Gas-
kammer beständig eine Spur Sauerstoff bei, so erhält sich die Bewe-
gung viel länger als in reinem Wasserstoff. Die Menge des beigemisch-
ten Sauerstoffs ist auf die Dauer der Bewegung von merklichem Ein -
fluss. Im Allgemeinen hält die Bewegung um so länger an, je mehr
Sauerstoff beigemischt wird , doch reichen schon kleine Mengen dieses
Gases aus, um den Eintritt des Stillstandes lange hinauszuschieben.
Ist die Menge des Sauerstoffs im Yerhältniss zu der des Wasserstoffs
sehr klein, so tritt der Stillstand bei weitaus den meisten Zellen früher
edn, als er unter übrigens gleichen Umständen bei alleiniger Anwesen-
heit von atmosphärischer Luft eingetreten sein würde. Man kann schon
nach ein paar Stunden, bei Anwendung von halbprocentiger Kochsalz^
lösung , die Mehrzahl der Zellen in Ruhe finden. Doch ist es mir nie
gelungen alle Zellen still zu machen, wenn überhaupt noch etwas Sauer-
stoff in die Gaskammer gelangte.
Der günstige Einfluss des Sauerstoffs kann sich selbst dann noch
äussern , wenn die Flimmerbewegung in indifferenten Lösungen in at-
mosphärischer Luft sich zu verlangsamen beginnt. Schickt man einen
Strom reinen Sauerstoffgases durch die bis dahin mit atmosphärischer Luft
gefüllte Kammer, so beschleunigen und verstärken sich binnen wenigen
Secunden alle Bewegungen und können sich dann lange auf einer be-
trächtlichen Höhe erhalten. Auch bei Zellen , welche unmittelbar nach
dem Anfertigen des Präparates schon eine verlangsamte Bewegung zei-
gen , bewirkt das Verdrängen der atmosphärischen Luft durch reines
Sauerstoffgas eine Beschleunigung, oder falls schon Stillstand eingetre-
ten war, ein Wiedererwachen der Bewegung. Doch erlischt bei ihnen
nach einiger Zeit auch in reinem Sauerstoffgase die Bewegung.
Auch der Stillstand, welchen etwas zu concentrirte Koch-
salzlösungen herbeiführen, ebenso der Wasserstillstand, wenn
er erst seit sehr kurzer Zeit besteht , kann durch einen Strom von- rei-
nem Sauerstoffgas für kurze Zeit gehoben werden.
In einer Atmosphäre von reinem Sauerstoff scheint die Bewegung
zuweilen etwas früher zu erlösclien als untor sonst gleichen Bedingun-
gen bei Anwesenheit von Luft. Der einmal in reinem Sauerstoff ein-
lieber die Fliamerbewegung. ^ 375
/^
getretene Sliilstand kano aber niemals juitti Luft oder irgend ein in-
diflEerenies Gas beseitigt werden ; es hängt nur von der Beschaffenheit
der Uniersuchungsflttssigkeit ab , wdehe Mittel man zur Wiederbele-
bung wählen muss ; bei inj£fferenten oder etwas zu concentrirten Lö-
sungen also Wasser, Alkalien, Säuren, Wärme u. s. f.
Die in reinem Sauerstoff zur Ruhe gekommenen Flimmerhaare ha-
ben dasselbe Aussehen, wie die unter sonst gleichen Bedingungen in
'Wasserstoff oder in atmosphärischer Luft zur Ruhe gebrachten Zellen.
Die Cilien stehen schräg nach voni geneigt.
Dasselbe Verhalten gegen Wasserstoff und Sauerstoff, welches hier
für die Flimmerzellen der Mund- und Rachenschleimhaut des Frosches
geschildert wurde, zeigte auch die Flimmerbewegung vom Oesophagus,
vom Herzbeutel des Frosches, die der Tracheal- und der Nasenschleim-
haut des Kaninchens.
Ueber den Einfluss von Ozon habe ich keine Versuche angestellt.
VI. Einfluss von Aether, Alkohol und Schwefelk.ohlen-
stoff auf die Flimmerbewegung.
Nach den Angaben von Pürktnb und Valentin ^) hebt Schwefel-
ätber in hundertfacher, Alkohol in zehnfacher Wasserverdttnnung die
Flimmerbewegung »in kürzerer oder längerer Zeit« auf. In Ueberein-
siimmung hiermit fand später Köllikbr^], dass Alkohol und Aether
auch auf die Bewegungen der Spermatozoon schädlich wirken. Claude
Bkrkabb ^) endlich brachte den Oesophagus eines Frosches unter eine
mit AethM'dämpfen gefüllte Glasglocke und sah, dass die Bewegung
bald aufhörte, beim Aufheben der Glocke aber wieder begann. Diess
Wenige ist, soviel ich weiss, Alles, was über die Einwirkung der ge-
nanaten Stoffe auf die Flimmerbewegung bekannt ist.
Es lohnte sich, zu untersuchen , wie diese Körper wirken , wenn
man sie als Gase den Flimmerzellen zuführt. Ich benutzte dazu wieder
die früher beschriebene Gaskammer. Das Object hing auf der untern
Fläche des Deckglases im Innern der Kammer. Mittelsteines capillar aus-
gezogenen Glasröhrchens ward ein Aether- oder Alkoholtropfen durch
eine der seitlichen Mündungen auf den Boden der Gaskammer gebracht.
Um das Einführen der Flüssigkeit durch die Mündung zu erleichtem, war
eine der messingenen Ansatzröhren abgeschraubt worden. Ueber diean-
1) P. et V. De phaenomeno generali etc. p. 74. ~ R. W. U. Bd. I. pag. 541.
2) Ztschr. f. wiss. Zoologie Bd. VII. pag. 348.
8) Le^ons sur les propri^t^s des'tissus vivants. pag. 187. Paris 1866.
376 * "V Th. W. Engelmann,
dere war ein Kautschukschtau^h gezogen, dessen freies Ende ioh in der
Regel während der Beobachtung im Munde hielt, um — worauf es in
diesen Versuchen oft ankommt — jederzeit einen beliebig starken Luft—
Strom durch die Kammer saugen zu kOnnen. Durch ein paar Tropfen
Wasser wurde der Raum feucht gehalten.
Lässt man in dieser Weise Aether auf Flimmersellen wirken, die
der Rachenschleimhaut eines eben getOdteten Frosches entnomiq/BA
wurden, so beobachtet man Folgendes.
War die Flimmerbewegung in Serum oder in indifferenten
Kochsalz- oder Zuckerlösungen langsamer geworden, stellenweise
vielleicht ganz ausgelöscht, so erwacht sie beim Zutritt der Aether—
dämpfe und kann zuweilen die normale Höhe fast wieder erreichen.
Schon zehn bis zwanzig Secunden nach dem Einführen des Aethers be-
ginnt, wenn der Aethertropfen gross war, die Bewegung mit starken,
wellenförmigen Schlägen und in raschem , schnell das Maximum errei-
chenden Tempo. Wurde nur wenig Aether eingeführt, dann können die
ersten Bewegungen sehr langsam sein , sind aber auch meist gross und
wellenförmig und nehmen allmählich an Schnelligkeit zu. Im Aussehen
der Flimmerzellen selbst ändert sich hierbei nichts. — Bringt man nun
mehr Aether ein, so dass die Kammer beständig mit Aetherdampf gefüllt
ist, so verlangsamt sich die Bewegung bald wieder, wobei aber die
einzelnen^ Bewegungen meist gross und wellenförmig bleiben ; schon
nach zwei bis drei Minuten kann Stillstand im ganzen Präparat sein.
Zugleich entsteht eine feinkörnige Trübung im Innern der Zellen und oft
quellen dann hyaline Tröpfchen an der Oberfläche des Epithels, na-
mentlich aus den sogenannten Becherzellen heraus. — Die Wimpern
stehen in der Aetherruhe alle schräg nach einer Seite geneigt , ebenso
wie das früher für andere Arten des ^Stillstandes beschrieben wurde.
Je langsamer der Aether still stand eingetreten ist, und je kür-
zere Zeit er angedauert hat, um so leichter ist es, ihn zu beseitigen. Man
braucht dazu nur einen starken Strom atmosphärischer Luft durch
die Kammer zu saugen : allmählich fangen dann die meisten Wimpern
wieder an zu schlagen ; erst sehr langsam, dann schneller. Die Trübung
der Zellen nimmt hierbei wieder ab. Die Bewegungen erreichen aber,
namentlich wenn sie schon einige Minuten lang still gestanden hatten,
selten wieder eine bedeutende Grösse und Schnelligkeit. Sic bleiben
oft hakenförmig. —
War die Aethereinwirkung so stark , dass Durchsaugen von Luft
die Bewegung nicht wiedererweckt, so ^stehen die Zellen für immer
still. Weder Säuren noch Alkalien , weder reines Wasser noch Salz-
Ueber dieFlünmerbewegung.^^ 377
lösungen beleben sie wieder. Säuren u|drAlkalien befördern vielmehr
den Eintritt des Aetherstillstandes , wenigstens bei Zellen die in lod-
seruro oder indifferenten Salzlösungen liegen. Liess ich z. B. so lange
Aether einwirken, bis die Bewegung auf etwa 5 — 8 Schläge in 5 Se-
ounden verlangsamt war, so trat momentan Stillstand ein, als eine
Spur von Ammoniakgas in die Kammer gesogen wurde. Dasselbe ge-
schah, wenn staitt des Ammoniaks schwache Essigskuredämpfe ange-
wendet wurden.
Hat man die Flimmerbewegung durch schwach wasserentzie-
hende Mittel, z. B. Kochsalzlösung von ^,5% bis 2%, Zucker von
3 % oder verdünntes Glycerin verlangsamt oder zum Stillstand gebracht,
so wirkt der Aether ebenfalls erst beschleunigend und wieder erweckend,
bei längerer Einwirkung dann hemmend. Die Beschleunigung sowol
als der darauf folgende Stillstand treten hier aber langsamer ein , als
bei den ganz indifferenten Lösungen. Wie bei letzteren kann der Still-
stand, wenn er vorsichtig herbeigeführt wurde , durch Verdrängen des
Aetherdampfes mittelst atmosphärischer Luft aufgehoben werden. Ge-
lingt diess nicht, dann können weder Säuren noch Alkalien, auch Was»
ser nicht die Bewegung wiederbeleben. — Erreicht die Concentration der
Kochsalzlösung 2,5% und mehr, so vermag Aether nicht zu beleben.
Von Belang ist es , dass der Aether ebenso wie auf FUmmerzellen
die durch wasserentziehende Mittel zur Buhe gebracht wurden, auch auf
solche Zellen wirkt, welche durch Behandlung mit destillirtem Was-
ser, also unter Quellung still geworden sind. Auch im letzteren Falle
belebt Aether die Bewegung wieder, wenngleich nicht so stark als un-
ter den obengenannten Umständen. Bei fortdauernder Einwirkung tritt
dann Stillstand ein , der gleichfalls durch einen starken Luftstrom zu-
weilen aufgehoben werden kann.
Minder deutlich ist das Stadium der Beschleunigung, wenn die Flim-
merbewegung (in iodserum) durch Ammonia k gas verlangsamt ist.
Lässt man die Ammoniakdämpfe so lange einwirken, bis die Haare nur
noch ungefähr drei bis fünf Schwingungen in fünf Secunden ausfüh-
ren, und bringt man dann ein wenig Aether in die Kammer, so tritt eine
höchst unbedeutende Beschleunigung ein , der sehr schneU Stillstand
folgt. Letzteren kann man durch einen Luftstrom wieder aufheben. —
Waren die Zellen durch das Ammoniak schon völlig zur Buhe gekom-'
men, so gelingt eine Wiederbelebung durch Aether selten und auch
dann sind die Bewegungen nur sehr klein, mehr zitternd und von sehr
kurzer Dauer. Nach Durchsaugen von Luft kann man dann durch Säu-
ren den Stillstand fast ebenso leicht wieder aufbeben , als wenn kein
378 ^ Th. W. £Dgelinann,
/ Aether eingewirkt hätte; vdipusgesetzt , dass man nieht viel Aeiher
hatte einwirken lassen. —
Ebenso wie auf die durch Ammoniak wirkt nun der Aether auf
die durch Säuren verlangsamte Flimmerbewegung: äusserst schwache
Beschleunigung anfangs, die auch ganz fehlen kann, hierauf Stillstand,
der durch Luft aufzuheben ist. Säurestillstand konn nur selten und
immer nur sehr vorübergehend durch Aether beseitigt werden ; meist
aber durch Alkalien nach Verdrängung des Aethers durdli Luft. — iUe
durch schwere Metallsalze vorsichtig erzeugte Flimmerruhe bleibt bei
Zufuhr von Aether bestehen. —
Ganz übereinstimmend mit dem Aether wirken nun Alkohol und
Schwefelkohlenstoff. Sie beschleunigen unter densdbenBedingun*
gen wie der Aether die erlahmte Bewegung. Bei längerer Einwirkung
machen sie Stillstand. Auch dieser Stillstand kann unter Umständen selbst
nach Minuten langer Dauer durch einen l.uftstrom aufgehoben werden.
Vermag Luft allein nicht mehr diess zu thun, so helfen auch Säuren,
Alkalien und reines Wasser nichts; ebenso wenig natürlich Aether.
Die Veränderungen der Zellen bei der Einwirkung des Alkohols und
des Schwefelkohlenstoffs sind gami ähnlich denen , welche unter dem
Einfluss des. Aethers entstehen , Schwefelkohlenstoff macht die in lod-
serum liegenden Zellen etwas glänzend ; zugleich isoliren sioh die Zel-
len von einander.
VII. Einfluss des Chloroforms auf die Flimmer-
bewegung.
Die Wirkung des Chloroforms unterscheidet sidi wesentlich vod
der der drei ebenerwähnten Stoffe : es fehlt nämlich das Stadium der
Beschleunigung. Unter allen Umständen beginnt die Bewegung sogleich
sich zu verlangsamen, und sehr wenig Chloroformdampf genügt
schon , um selbst eine vorher äusserst lebhafte Bewegung völlig zur
Ruhe zu bringen. Beim Eintritt der Chloroformnarkose bildej. sich in
den (in lodserum liegenden) Zellen eine äusserst feinkörnige, allmäh-
lich zunehmende Trübung. Die Kerne erscheinen als matte, pralle
Bläschen mit deutlichem Kernkörperchen. Während der Narkose stec-
hen die Wimpern, wie bei andern Formen des Stillstandes, alle schräg
vom übergeneigt.
Ebenso leicht wie die Bewegung durch Chloroform einschläft, ebenso
leicht — schon naob ein paar Secunden — erwacht sie auch wieder,
wenn man einen Strom reiner atmosphärischer Luft durch die
, Ueber die FUnmerbewvgnng./^ 379
Gaskammer saugt. Die Zellen nehmen^werbei das normale Aussehen
allm^hlidi wieder an. Man kann bei einiger Vorsicht die Narkose ohne
Gefahr fttr die Zellen eine Vierielslunde und länger anhalten lassen.
An lodserumpräparalen habe ich den Ghloroformstillstand noch nach
einer Dauer von 20 Mkititen durch einen Luftstrom aufheben können.
Die Bewegungen sind beim Wiedererwachen von kurzem Still-
stande erst sehr langsam ( — die erste Schwingung dauert zuweilen
9l^Seo«Bden — ), aber fast immer sind sie gross und welleiiförmig.
Sie können binnen einer halben Minute ihre anfängliche Schnelligkeit
wieder erreichen. — Man kann auch die Zellen wohl fünf- und mehr-
mal nacheinander chloroformiren und wieder erwedien, ohne dass die
Bewegung dadurch bleibend geschwächt wird. Hierin unterscheidet
sidi die Ghloroformnarkose vom Aether; nach mehrmals wiederholtem
Aetherstillstande erreichen die Bewegungen keine grosse Höhe mehr. —
So leicht nun ein massiger Grad von Ghloroformnarkose durch
Verdrängen des Giftes mittels atmosphärischer Luft aufgehoben wer-
den kann, so unmöglich ist es, einen Ghloroformstillstand zu beseiti-
gen, der durch Luft allein nicht gelöst wird. Hier helfen weder Alka-
lien noch Säuren, weder Wasser noch Salzlösungen. Auch Aether,
Alkohol und Schwefelk4»Menstoff versagen ihreu belebenden Einfluss.
VIII. Einfluss einiger Gifte auf die Flimmerbewegung.
Nach den bisherigen Erfahrungen giebt es kein Gift fttr die FHm-
merbewegung. Die furchtbarsten Gifte sind nach PcitttNjB und Valbn-
TiN selbst in starken Goncentrationsgraden unschädlich : Blausäure und
salpetersaures Strycbnin z. B. haben nach den genannten Autoren we-
der in den gesättigtesten noch in der verdünntesten Lösung einen Ein-
fluss auf die Bewegung bei Unio und Anodonta. Morphium aceticum
und Extractum belladonnae ebensowenig. In gesättigter Lösung von
salzsaurem Veratrin soll die Bewegung erst nach 4 0 Minuten aufgehört
und in verdttnnteren Lösungen sich unverändert erhalten haben. Die
Anführung dieser Angaben, welche zum Theil auch von Sbarpey bestä-
tigt wurden, und denen, so viel mir bekannt, bisher nicht widerspro-
chen worden ist^ mögen hier genügen.
Meineeigenen Versuche, welche mit Veratrin, Gurare, Strycb-
nin, Atropin, Galabarextract an dem Flimmerepithel derRachen-
schleimbautdes Frosches angestellt wurden, zeigten gleichfalls, dass diese
Stoffe keine Gifte für die Plimmerbewegung sind. Hat man mit einem
der genannten Körper — gleichviel in welcher Dosis — einen Frosch
vergiftet , so bleibt die FKmmerbewegung unverändert bestehen , und
380 ^v Th. W. Engelmaun,
rcagiri gegen alle äusseren Ei)B}üsse wie die normale Bewegung. — An-
ders ist es natürlich, wenn man die Flimmerzellen direct in Lösungen
der Gifte bringt. Aber auch hier zeigt sich, dass minimale Dosen ohne
Einfluss sind. Die reinen Alkaloide verhalten sich wie andere alkalisch
reagirende Stoffe, ihre Salze sich wie andere Salze. Concentration und
Reaction bestimmen den Erfolg.
Bei einem bestimmten Concentrationsgrade , der sich von dem
nicht giftiger neutraler Salze nicht entfernt, sind neutrale LösungBfl
jener giftigen Salze indifferent für die Flimmerbewegung. Concentrir-
tere Lösungen wirken wasserentziehend, schrumpfend, verdttnnlere
zeigen die Wirkungen des Wassers um so deutlicher, je geringer der
Salzgehalt wird. In sehr kleinen Mengen indifferenten Flüssigkeiten,
wie lodserum beigemischt, äussern die giftigen Salze keinen Einfluss.
Diejenigen unter ihnen, deren wässerige Lösungen sauer reagiren, ver-
halten sich wie andere saure Salze. So z. B. das essigsaure Veratrin ;
diess bewirkt in einprocentiger wässeriger Lösung sofort Stillstand
unter allen Erscheinungen der Essigsäure-Einwirkung. Die Zellen
werden trübe, die Kerne deutlicher, die Wimpern stehen steif und
schräg nach vom geneigt. Führt man Ammoniakdämpfe über das Prä-
parat, so erwacht die Bewegung wieder. — Neutralisirt man .eine fünf—
procentige Lösung von reinem essigsaurem Veratrin so weif mit Am-
moniak, dass die Lösung nur noch kaum bemerkbar sauer reagirt, und
bringt man dann ein Stückchen von einer frischen Rachenschleimhaul
hinein, so erhält sich die Bewegung 40 Minuten lang und länger, bis
schliesslich Stillstand mit den Zeichen des Essigsäure-Stillstandes ein-
tritt.
Reagirt die wässerige Lösung des Giftes alkalisch, so verhält sie
sich auch gegen die Flimmerbewegung genau so , wie Lösungen von
andern alkalisch reagirenden Stoffen in entsprechender Concentration.
Hat man z. B. frische Flimmerzellen in Kochsalz von 1 % Hegen lassen
bis die Bewegungen sich bedeutend verlangsamt haben und bringt
man dann in unmittelbare Nähe der Zellen in den Tropfen einige Krü-
mel von reinem Veratrin, so bemerkt man nach einigen Secunden bis
Minuten, dass auf den dem Gifte zunächst liegenden Zellen die Furo-
merbewegung sich beschleunigt oder wiedererwacht. Allmählich ei^
wachen bei weiterem Fortschreiten der Diffusion des Giftes auch wei-
ter abgelegene Zellen wieder. Einen Veratrinstillstand konnte ich in-
dessen auf diese Weise nicht erhalten, was bei der sehr geringen Lös-
lichkeit des Giftes begreiflich ist. Auch die Beschleunigung war meist
nur massig ; die Frequenz der wieder erwachten Bewegungen stieg in
vielen Fällen nur auf zwei bis drei Schläge in der Secunde.
üeber die Flininerbeweguiif;. .- 3gi
IX. Einfluss der Wärme.
Die über den Einfluss der Wärme auf die Flimmerbewegung bis-
her gesammelten Erfahrungen wurden bereits in der Einleitung er-
wähnt. Ich habe zunächst untersucht, welchen Einfluss Tempera-
turerhöhung auf die Bewegung hat. wenn diese bei gewöhnlicher
Temperatur in verschiedenen Flüssigkeiten verlangsamt ist. — Die
Yeftangsamung) die in sogenannten indifferenten Flüssig-
keiten allmählich eintritt, kann immer durch Wärmesteigerung
gehoben werden , gleichviel «>b diess Letztere schnell oder langsam
erfolgt. Man beobachtet diess am besten mit Hilfe des heizbaren Ob-
jecttisches von Sghultzb. Der Tropfen, in dem das Präparat liegt,
muss natürlich vor jeder Aenderung der Concentration geschützt wer-
den. Diess geschieht am besten, wenn das Präparat in einem möglichst
grossen Tropfen und mit einem Deckglase bedeckt, in einer feuchten
Kammer untersucht wird. Man kann hierzu die BBciLiNGHAUScN'sche,
bequemer noch die oben beschriebene Gaskammer benutzen. Die Be-
deckung mit einem Deckglase ist desshalb wünschenswerth, weil bei
Erwärmung der mit Wasserdampf gefüllten Rammer sich leicht Wasser-
dämpfe auf dem Präparate niederschlagen und den Tropfen verdünnen.
Das Präparat ist nämlich, worauf ich an einem andern Orte >) aufmerk-
sam gemacht habe, wegen der beständigen Abkühlung durch das Ob-
jectiv, kälter als die übrigen Stellen der Kammer. Schützt man sich
gegen diese Abkühlung z. B. durch Einschalten eines Elfenbeinstücks
zwischen Tubus des Mikroskops und Objectiv, so wird die Bedeckung
des Objects mit einem Deckgläschen unnöthig.
Erwärmt man mit Beachtung dieser Vorsichtsmaassregeln das Prä-
parat allmählich auf dem heizbaren Objecttisch, so bemerkt man bald
eine Beschleunigung der verlangsamten Bewegungen. Diese beruht
vorzugsweise auf einer Verschnellung des Tempo's , weniger auf Ver-
grösserung der Excursionsweite. Die Bewegungen können unzählbar
schnell werden und so bleiben, bis bei weiter fortgesetztem Heizen (4<^
in einer halben Minute) die Temperatur des Präparats eine Höhe von
etwa iO^ erreicht. Hier verlangsamt sich die Bewegung wieder, indem
das Tempo langsamer, die Excursionsweite meist kleiner wird. End-
lich stehen die Wimpern still in derselben schräg nach vom geneigten
Lage wie beim Stillstände in Wasserstoff, in Kohlensäure u. a. Die
1} Over warmtemetingen met Max Schul tkb's voorwerptafel. Zu: Nederl. ar-
dilof voor gences-on natuurk. D. Ifl. «867. pag. 506. — S. auch: Üeber Wärme-
inf>s8ungen am Mikroskop. In Mhx SctirLTtR'«t Arrhiv für mlkr. Anal. Bd. 4. 4868.
oft ein wenig geschrumpften ZellenkOrper zeigen deutlicli eine schwache
Trübung, auch wohl gelbliche Färbung.
Zu genaueren Bestimmungen der Temperatur, bei welcher der
Wärmestillstand der Flimmerbewegung in indifferenten Lösun-
gen eintritt, benutzt man, wegen der zahlreiohen Fehlerquellen des
heizbaren Objecttisches besser ein Luft- oder Wasserbad. Man bemerkt
bald, dass ausser dem Temperaturgrade , welchem das Präparat aus-
gesetzt wird, auch die Dauer der Einwirkung von grossem Einfhiss Ml :
denselben Effect, den man bei höheren Wärmegraden binnen einer oder
weniger Minuten erhält, erreicht man bei etwas niedrigeren Wärme-
graden in längerer Zeit. Wird die Temperatur sehr hoch, oder dauert
die Einwirkung der Wärme sehr lange, so bleibt die Wärmestarre
beim Abkühlen des Präparates bestehen. Bei schwächeren Graden der
Einwirkung erwacht die Bewegung beim Abkühlen wieder.
Der erste Grad der Wärmeslarre, welcher dadurch charak-
terisirt ist, dass die Bewegung beim blossen Abkühlen wiedererwacht,
wird erreicht , wenn die Flimmerzellen einige Minuten oder länger auf
40^ G. erwärmt werden. Er tritt aber schon bei einer Temperatur von
37<^ — 38<^ ein, wenn dieselbe 15 — 90 Minuten oder noch länger auf die
Zellen einwirkte. Bei höheren Wärmegraden tritt der erste Starregrad
schneller ein , bei 42<^bis 44^ schon in wenigen Secunden bis Hinuten. —
Der zweite Grad der Wärmestarre, aus welchem die Zel-
len beim blossen Abkühlen nicht wieder erwachen, wird' beobachtet,
wenn das Präparat nur eine oder wenige Minuten auf 45^ und darüber
erwärmt wird^). Etwas niedrigere Temperaturen führen erst nach
länger fortgesetzter Einwirkung zum zweiten Starregrad. So erwach-
ten noch Zellen beim Abkühlen wieder, wenn sie in dem gebeizten Luft-
bade, die einen eine Stunde lang auf 35^—40^ C, andere 20 Minuten
auf H% wieder andere 10 Minuten auf 43 — 44^ erwärmt wurden. Alle
Zellen lagen bei diesen Versuchen in Kochsalzlösung von 0,5% oder
in Serum. Oft genug erwacht nur bei einer kleinen Anzahl Zellen die
Bewegung beim Abkühlen wieder; die andern Zellen des nämlichen
Präparates befinden sich im zweiten Grade der Wärmestarre.
Die Sdmelligkeit des Wiedererwachens ist sehr versdiieden : die
Bewegungen kehren um so später zurück, je höher die Temperatur
war und je länger sie eingewirkt hatte. Schnelles Abkühlen wirkt im
Allgemeinen günstig. Zuweilen kehren aber auch hierbei die Bewe-
4) Die in der Einleitung citirten Angaben von Clavdb Bkrhaiu», wonach die
Flimmerbewegnng bis 50 oder 600 zunehmen und erst bei 80<> ganz aufhören «toll,
können nur aur ganz groben Versuchsfeblem beruhen.
Ueber die Fluuiierbeweftang^ ^ 383
gangen sehr langsam, erst nach 5 h\s4h Minuten zurück. Hatte die
Erwärmung nur kurze Zeit gedauert, und war die erreichte Tempera-
tur nicht hoch (nicht über 44^) gewesen, so erhalten die Bewegungen
im Beginn der Abkühlung , besonders während die Temperatur
von 40®auf350siQkt, wieder eine höchst bedeutende Schnelligkeit
und Stärke. Diese kann je nach der Schnelligkeit des Äbkühlens mehr
oder weniger lange bestehen bleiben. Sinkt die Temperatur schnell
weiter auf die Höhe der Zimmertemperatur herab, so verlangsamen
sich dann die Schwingungen wieder und sind schliesslich kleiner und
schwächer, als sie zuvor bei der gleichen Temperatur waren. Macht
man dieselben Zellen mehrmals hintereinander , aber jedesmal nur für
sehr kurze Zeit, durch schnelles Steigern der Temperatur wärmestarr,
so wird die Bewegung in den meisten Fällen merklich geschwächt und
erreicht dann beim Abkühlen keine bedeutende Schnelligkeit mehr.
Das Wiedererwachen aus dem ersten Grade der Wärmestarre in
indifferenten Flüssigkeiten wird befördert, wenn man Dämpfe von Am-
moniak oder kohlensaurem Ammoniak über das Präparat strei-
chen oder verdünnte Kali lösung zufliessen lässt. Zuweilen gelingt
es auf diese Weise noch , Zellen wieder zu beleben , die bereits seit
einer Viertelstunde auf die Zimmertemperatur abgekühlt und stillge-
blieben waren ; aber niemals werden dann die Bewegungen gross und
frequent.^ Wasser, Säuren und Aether waren in diesen Fällen
erfolglos. Sie brachten in der Regel die bereits wieder erwachten Be-
wegungen sofort zur Ruhe.
Liegen die Zellen, während sie der Einwirkung höherer Tempera-
turgrade ausgesetzt werden, nicht in indifferenten Lösungen, so ver-
hält sich Manches anders. Hatte die Bewegung z. B. in stärkeren
Kochsalzlösungen (4% ^'^ ^%) nachgelassen oder aufgehört, so
beschleunigt sie sich bei Steigerung der Wärme oder erwacht wieder.
Die Wärmestarre tritt hier aber, wenn die Concentralion die angege-
benen Grenzen nicht überschreitet, bei derselben Temperatur ein, wie
in indifferenten Lösungen. Abkühlung, unterstützt durch Verdünnung
der Lösung, ruft die Cilienthättgkeit unter denselben Umständen wie-
der hervor wie da. — Anders ist es, wenn die Zellen in reinem Was-
ser oder in äusserst verdünnten Salzlösungen liegen. Hier
tritt die Starre viel früher, zuweilen schon unter 35^ ein, auch wenn
rasch erwärmt wurde. Beim Abkühlen erwacht die Bewegung für
einige Zeit wieder. Haben sich die Bewegungen in reinem Wasser
schon merklich verlangsamt, was stets innerhalb der ersten \ 0 Minuten
zu geschehen pflegt , so bewirkt schnelle Erwärmung keine Bescbleu-
"^B^^^B) sondern führt den Stillstand nur noch schneller herbei. —
384 ^ Tb. W. KngeluiHon,
Verlangsamung durch Alkalien (Amrooniakdifmpfe t. B.) wird durch
schnelle Erwärmung nicht selteti aufgehoben und macht einer ansehn-
lichen Beschleunigung Platz. Niemals aber konnte durch Erwärmen
ein Süurestillstand gehoben, oder auch nur der von der Säure he—
wirkten Verlangsamung Einhalt gethan werden.
Die meisten dieser Thatsachen können, wie auch das Meiste von
dem, was in den vorigen Kapiteln über den Einfluss anderer Agenfl&n
mitgetheilt ist, auch ohne Hilfe des Mikroskops constatirt werden. Ich
benutze dann die ausgeschnittene und mit vier Stecknadeln auf einem
kleinen Korkplattchen aufgespannte Rachenschleimhaut des Frosches
in toto und überzeuge mich von dem Vorhandensein und der Stärke
der Flimmerbewegung durch die Beobachtung kleiner, auf die Ober-
fläche der Schleimhaut gebrachter Partikelchen. Am besten eignet sich
zu letzterem Zwecke ein mit Serum oder halbprocentiger Kochsalz-
lösung angerührter feinkörniger Farbstoff, Zinnober z. B., von dem
man einen kleinen Tropfen auf die Schleimhaut bringt und nun die
Schnelligkeit misst, mit der die Farbstoffkörnchen sich fortbewegen.
Will man genauer messen, so verftihrt man nach der im nächsten Ab-
schnitt ausführlicher zu besprechenden Methode. — Wenn sich auch
auf diese Weise der völlige Stillstand der Wimperbewegung nicht sicher
nachweisen lässt (s. oben), so sind doch im Allgemeinen Aenderungen
in der Stärke der Bewegung leicht nachzuweisen und zu messen. —
Taucht man nun die erst mit Kochsalz von 0,5% — ^% abgespülte
Membran einige Secunden oder Minuten lang in eine gleichstarke Koch-
salzlösung, die auf 35^ — 40^ C. erwärmt ist, so bemerkt man unmit-
telbar nach dem Herausheben der Membran, dass die Stärke der Be-
wegung gewaltig zugenommen hat , und nun beim Abkühlen wieder
auf die anfängliche Höhe herabsinkt. — Taucht man die Membran einige
Minuten lang in halbprocentige Kochsalzlösung von 40 — 44^, so fin-
det man unmittelbar nach dem Herausheben der Membran an ihrer
Oberfläche keine Strömung. Nach einigen Secunden beginnt dieselbe
aber, erreicht vorübergehend eine bedeutende Stärke und sinkt weiter,
gewöhnlich bis unter die anfängliche Grösse. — Wird die Schleimhaut
nur eine halbe Minute lang in Kochsalz von 45<) oder darüber versenkt,
so sind die Zellen todt. — Taucht man die Flimmerhaut anstatt in
Kochsalzlösung in erwärmtes Wasser, so zeigt sich, dass schon bei
einer Temperatur von 30^ — 35^ C. die Strömung aufhört. Hatte die
Einwirkung nur wenige Minuten lang gedauert, so stellt sich die Be-
,wegung beim Abkühlen wieder her; nicht aber, wenn die Erwärmung
in Wasser länger fortgesetzt wurde.
Ueber die PUnmerbewegni^ 3g5
f
X. Einfluss der Elektricität a^f die Flimmerbewegung,
In der Einleitung wurde bereits erwähnt, wie Kistiakowskt, ent-
gegen den alteren Angaben von Purkinje und Valentiit, fand, dass so-
wol der constante elektrische Strom als abwechselnd gerichtete In-
ductionsschlage eines du Bois^schen Schlittenapparates (ohne Helm-
HOLTz'sche Ifodification) die Flttssigkeitsströmung an der Oberfläche der
ntenernden Rachenschleimhaut vom Frosch beschleunigten. Die Be-
dingungen, unter welchen die Elektricität einen beschleunigenden Ein-
fluss ausüben könne, wurden jedoch nicht weiter untersucht; nicht
einmal der Versuch wurde gemacht, zu ermitteln, ob der erregende
Einfluss nur von Dichtigkeitsschwankungen des Stromes oder auch
vom Strome in beständiger Dichte ausgeübt werde ; ebenso blieb eine
Reihe anderer wichtiger Fragen späterer Beantwortung überlassen. Im
Folgenden soll diesem Mangel wenigstens einigermaassen abgeholfen
werden.
Um den Einfluss der Elektricität am Mikroskop beobachten und
gleichzeitig das Präparat der Einwirkung beliebiger anderer Agentien
aussetzen zu können, bediene ich mich wieder der Gaskammer, indem
ich dieselbe in der Weise mit den durch du Bois eingeführten unpola-
risirbaren Elektroden in Verbindung bringe, dass die Thonspitzen der
letzteren durch den Deckel der Kammer hindurch bis zum Präparat
verlängert werden. Anstatt des für gewöhnlich gebrauchten Messing-
deckels wird der auf pag. 333 erwähnte gläserne Deckel (Fig. 4 u. 5)
angewendet. Die beiden seitlichen Durchbohrungen desselben, von
denen jede einen Durchmesser von 2 — 3 Mm. besitzt, werden ausge-
ftlllt mii Thon, der mit Kochsalzlösung von h Yq getränkt ist. Von jeder
dieser OefiTnungen führt auf der inneren Seite des Deckels eine durch
zwei schmale gläserne Schutzleisten gebildete Rinne in gerader Rich-
tung bis an den Rand des Deckglases. Diese Rinnen werden gleichfalls
mit Thon ausgefflUt, die Thonstreifen nach Belieben noch ein Stück
weit auf die untere Seite des Deckglases verlängert und dann der zwi-
schen beiden auf dem Deckgläschen bleibende Raum mit der Kochsalz-
lösung oder dem Serum gefüllt, in welches das Präparat zu liegen
kommt.
Zur Beobachtung wähle ich meist einen 4 — 6 Mm. langen, 4 — 2
Mm. breiten Lttngsstreifen der Rachenschleimhaut vom Frosch, der
senkrecht zur Richtung des elektrischen Stromes in der Mitte zwischen
beiden Elektroden gelagert wird. Nachdem Letzteres geschehen, wird
der Deckel auf die durch ein paar Tropfen feucht gehaltene Gaskammer
aufgelegt und kann zur besseren Fixirung.noch durch eine der früher
Bd. IV. 3. S5
386 "S l*^* W. Engelmann,
> •
erwähnten Klammern angedrückt werden. Nun wird die Kammer un-
ter das Mikroskop gebracht, so dass ein Stück des flimmernden Saumes
im Gesichtsfeld ist. Hierauf werden die Thonspitzen der dü Bois\scbeiv
Elektroden auf die aus den zwei seitlichen Durchbohrungen des Glas-
deckels hervorragenden Thonpfröpfchen fest aufgesetzt und für gute
Verbindung beider gesorgt. Die Drähte der Elektroden führen rück*
wUrts zu einem du Bois'schen Schlüssel, von da durch eine Wippe zur
secundären Spirale eines Induclionsapparates , oder zur constailföii
Kette.
Eine zweite Methode, nach welcher sich der Einfluss der Elektri—
cität auf die Flimmerbewegung makroskopisch sehr bequem untersu-
chen und demonstriren lässt, besteht darin, dass man die Flimmerhaut
horizontal ausspannt und die Schnelligkeit der Strömung an ihrer Ober-
fläche mit Hilfe eines durch die Strömung fortbewegten Signals missi.
Diese Methode gestattet eine Reihe der wichtigsten Erscheinungen zu
beobachten und giebt zugleich bequem in Zahlen ausdrückbare Resul-
tate. Sie wurde schon von Kistiakowskt bei den meisten seiner Ver-
suche benutzt, und ich habe mich ihrer gleichfalls häufig bedient. Von
der ziemlich umständlichen Einrichtung , die Kistukowset seinen Ver--
suchen gab, habe ich indessen keinen Gebrauch gemacht, sondern ver-
fuhr folgendermaassen. Auf einem grösseren Objeotiräger von Spie-
gelglas war durch Aufkleben von Glasstreifen ein kleiner viereckiger
Trog errichtet, der 40 Mm. lang, 20 Mm. breit und 4 Mm. tief war. In
die beiden äusseren Viertel dieses Raumes wurden Korktäfelchen von
i Mm* Dicke und 10 Mm. Breite eingelegt. Auf den Boden der beiden
mittleren Viertel kam eine kleine, nur 2 Mm. dicke Glasplatte. Nach-
dem man nuti den Trog mit Kochsalzlösung oder Serum bis zum Rande
gefüllt bat^ wird die Raohenschletmhaut eines Frosches herausgeschnit-
ten und mit HlUe von vier Stecknadeln zwischen den zwei Korktäfel-
chen im Glaatroge der Länge nach ausgespannt. Man sorgt dafür, dass
die Hsiut ungefcibr ku ihrer normalen Länge ausgedehnt werde, und
wenigstens in dem gröasten Theile ihrer Breite glatt und eben liege.
Letzteres erreicht man am leichtesten, wenn man in den mittleren
Raum unter die Schleimhaut noch ein 8 Cent, langes ,. 4 Cent, breites
und etwa 2 Mm. hohes Glasplättchen schiebt. — Nun bringt man die
Elektroden an. Auch hier bediene ich mich ausschliesslich der unpo-
larisirbaren Elektroden von du Bois, welche vor den unpolarisirbaren
Elektroden von Kistukowset und Stuart den grossen Vorzug haben,
dass man den elektrischen Strom durch beliebig gelegene und beliebig
ausgedehnte SteUen der Schleimhaut und in jeder Richtung schidnen
kann welche man will. Soll der Strom in der Längsrichtung durch die
Ueber die FiimmerbeweguBg;^^ 387
Schleimhaut gehen, sq worden die Th9ifl|)itzen auf die beiden an den
Korkplätichcn festgesteckten Enden der Schleimhaut aufgesetzt. Man
sorgt, dass sie gut mit Salzlösung (Von 0,5 — 0,75%) getrfinkt seien
und knetet die Spitzen recht fest. Letzteres muss wenigstens bei der
oberen Elektrode immer der Fall sein, weil von dieser leicht durch die
Thtttigkeit der Wimperhaare, aber auch unter dem Einfluss starker
elektrischer Entladungen Thonbröckel abgelöst und dann in schmutzi-
fMQ -iSirome über die Oberfläche der Schleimhaut nach der unteren
Elektrode fortgeführt werden. Man kann sich dagegen auch wohl
schützen, indem man im Umkreise der oberen Elektrode das Flimmer-
epithel mit einem Glassläbchen wegkratzt, und wenn man die Thon-
spitze nach dem Aufsetzen auf die Schleimhaut wieder so weil hebt,
dass sie nur durch einen etwa i Mm. hohen Flttssigkeitskegel mit der-
selben noch in Verbindung bleibt. Sind die Elektroden vorläufig an-
gebracht, so regulirt man den Stand der Flüssigkeit im Glastroge durch
Zufügen oder Wegsaugen so, dass die Oberfläche der Schleimhaut mit
einer äusserst dünnen Flüssigkeitslage eben bedeckt bleibt. Ist die
Flüssigkeitslage dicker, so treten leicht Unregelmässigkeiten in der Be-
wegung des Signals ein.
Als Signal benutze ich ein 1,5 Mm. langes, 0,5 Mm. breites, an
einem i 5 Cent, langen Goconfaden genau vertical über der Mitte der
Schleimbaut aufgehängtes Lacktröpfchen. Der Goconfaden wird von einer
Klemme gehalten, die an eibem Träger auf und nieder bewegt werden
kann. Beim Aufsetzen des Signals senkt man die Klemme so weit,
dass das Signal auf die Schleimhaut aufstösst; hierauf hebt man dann
die Klemme wieder so weit, dass nur die Spitze des Lacktröpfchens
noch die Oberfläche der Schleimbaut berührt, diese aber nicht drückt.
In dieser Stellung wird die Klemme fixirt. Man kann dann das Signal,
indem man den Goconfaden mit einer trocknen Pincette anfasst, ohne
Nacbtheil für die Zellen von der Schleimhaut abheben und wieder auf-
setzen.
Es kommt nun darauf an, die Lage und Länge der Bahn zu be-
stimmen, welche das Signal durchlaufen soll. Diese Bahn muss in allen
zu einer Reihe gehörenden Versuchen genau dieselbe sein. Man be-
merkt nämlich sogleich, dass die Schnelligkeit, mit .der das Signal fort-
bewegt wird, selbst auf einer ganz horizontal und faltenlos ausge-
spannten Schleimhaut an verschiedenen Stellen ziemlich verschieden
ist. Denkt man sich die Schleimhaut der Länge nach in parallele Strei-
fen von 0,5 Mm. Breite getheilt, so beträgt der Unterschied in der
Sdinelligkeit der Strömung an der Oberfläche zweier benachbarti^r
Streifen zuweilen iO% bis 80%. Ebensowenig ist an allen Stellen
23*
388 ^'* Th. W. engelmahn,
desselben Streifens die Bewe^ng immer gleich schnell. Man muss
desshalb noch genauer verfahren als Ristiakowsky, der durch zwei quer
ttber die Schleimhaut gelegte Glasßlden die Lunge der zu durchlaufen-
den Bahn abgrenzte. Bei der Rana tempofaria , welche ich fast aus-
schliesslich benutzte, bietet die Durchsichtigkeit der Rachenscbleim-
haut zur Erreichung des genannten Zweckes die besten Mittel. An den
verschiedensten Stellen der Membran sieht man nämlich äusserst kleine
Gruppen von Pigmentzellen , Blutgefösschen , auch Nervensläfmuehe»^
durchscheinen 4 Ich setze nun genau über, oder dicht oberhalb einer
solchen Stelle — die kaum einen halben Millimeter im Geviert messen
darf, und ^enau gemerkt werden muss — das Signal auf, und messe
mit Hilfe eines MXLZL'schen Metronoms die Zeit, welche dasselbe braucht,
um bis zu einem zweiten charakteristischen Puncto, etwa dem Rande
eines Blutgefässes, zu gelangen. Hier angekommen, wird das Signal
sogleich abgehoben und an die erste Stelle zurückversetzt. Mittels
eines Zirkels misst man die Entfernung der beiden Puncte. Zu ge-
nauerer Beobachtung des zeitlichen Verlaufs der Veränderungen, wel-
che die Sdinelligkeit der Bewegung an einer bestimmten Stelle erlei-
det , muss man die vom Signal zu durchlaufefnde Strecke klein, nur
wenige Millimeter lang, nehmen und das Signal, so wie es am End-
puncte der Bahn angelangt ist, schnell wieder an den Anfangspunct
versetzen. Die Länge der Bahn betrug bei den meisten der folgenden
Versuche nicht mehr als 3 — i Mm., und diese Strecke war durch eine
unter die Membran geschobene, mit Bleistift auf einen weissen Papier-
streifen gezeichnete Scala noch in einzelne Millimeter eingetheilt. Diese
Scale war auf dem unter die Membran geschobenen Glasplättchen auf-
geklebt und mit einem dünnen Streifen Deckglas bedeckt. Die Durch-
sichtigkeit der Membran erlaubt die einzelnen Theilstriche scharf zu
sehen, und somit die Zeit zu messen, welche das Signal zum Durch-
laufen jedes dnzelnen Millimeters braucht. Das Glasplättchen mit der
Scala wird unter der Schleimhaut so verschoben , dass der Anfangs-
punct der Bahn — etwa eine 6ruppe Pigmentzellen — gerade auf einen
Theilstrich zu stehen kommt. Findet man, dass das Signal in einigen
unmittelbar hintereinander angestellten Proben genau dieselbe Bahn
beschreibt, so kann der Versuch anfangen.
Bevor man indess mit der elektrischen Reizung beginnt, ist es
nölhig, die Schnelligkeit des Signals eine Zeit lang zu messen. Diese
Schnelligkeit ist nämlich, trotz der erwähnten Vorsichtsmaässregeln,
in der ersten Zeit ziemlich wechselnd, gleichviel ob man den Trog nnt
Kochsalzlösung oder mit Serum gefüllt hat. Anfangs pflegt sie am.
grv5ssten zu sein, nimmt im Verlauf einiger Minuten allmählich ab.
Ueber die Flimmerbewegiul^ 3g9
beschleunigt sich hierauf wieder, verlangsamt sich von Neuem , wird
wieder schnell und diese Unregelnotfssigkeiten wiederholen sich nicht
selten innerhalb der ersten Stunden fortwährend. Es ist sehr leicht,
die Ursache dieser Störungen zu finden: sie liegt in der Schleim-
production der Hembran. Die zahlreichen Becherzelien, welche
zwischen den Fiimmerzellcn ^) zerstreut sitzen, entleeren bestlindig
ihrcU'lBhali in Form von Tröpfchen einer schleimig klebrigen, zuweilen
auch kömigen Masse. Diese Tröpfchen quellen auf und bilden in kur-
zer Zeit einen dünnen membranartigen Ueberzug über die ganze Flim-
merhaut. Hierdurch wird der Bewegung der Flimmerhaare ein bedeu-
tendes mechanisches Hinderniss gesetzt. Wie man unter dem Mikroskop
leicht constatircn kann, reiben sich die Spitzen der Flimmerhaare an
dem sie bedeckenden schleimigen Ueberzuge, und werden an grossen
und raschen Excursionen verhindert. Anfangs zwar, wenn die Schleim-
lage noch sehr dünn ist, wird sie durch die Thatigkeit der Cilien ziem-
lich rasch nach abwärts getrieben ; am unteren Ende der Schleimhaut
häuft sich dann schon innerhalb einiger Minuten ein dicker Wall von
Schleim auf. Je mehr sich aber der schleimige Ueberzug der Membran
verdickt — und das findet natürlich dicht am unteren Ende der
Schleimhaut am schnellsten statt — um so mehr wird die Bewegung
verlangsamt. Reisst dann die Schleimlage an einer Stelle ein, so be-
schleunigt sich die Bewegung vorübergehend, bis eine neue Schleim-
decke da ist. Man kann die Bewegung willkürlich beschleunigen^ wenn
man z. B. mit einer spitzen Nadel oberhalb quer über die Schleimhaut
wegföhrt, und so den schleimigen Ueberzug zerreisst. Sogleich sieht
man den Schleim wie einen zarten Schleier an der Oberfläche der Mem-
bran nach abwärts treiben. Oft kann man auch diesen Schleier ge-
radezu mit der Pincette wegziehen und abheben. Dass die hiemach
eintretende Beschleunigung der Bewegung nicht etwa Folge einer me-
chanischen Reizung der Membran durch den Druck der Nadel sei, er-
giebt sich, von anderen Gegengründen zu schweigen, schon daraus,
dass die Beschleunigung auch noch eintritt, wenn man den physiolo-
gischen Zusammenhang der von der Nadel berührten Stellen mit den
unterhalb gelegenen vorher durch Schnitt oder Quetschung mit der
Schärfe eines Messers aufgehoben hat.
4) Versuche, die ich bald weiter auszudehnen und mitzutheilen hoffe, erge-
ben, dass die Absonderung der Becherzellen unter gewissen Bedingungen durch
elektrische Stromschwankungen bedeutend angeregt wird. Namentlich bei Reizung
mit stärkeren Inductionssch lägen wird ein Theil der Zellmasse oft plötzlich aus-
gestossen. Bei wiederholter Reizung erschöpfen sich die Zellen aber rasch.
390
Jh. W. Ei«ciMu,
In der folgaiden Tabelle I sind einige Messongen der Veränderun-
gen ao^ezeichnei, welche die Schnelligkeii der Strömung an der Ober—
flädie der frisch präparirien Sdileimhaat untergeht. Die vom Signal
durchlaufene Bahn war 3 Mm. lang; die Zeit, in weldier dieser Weg
zurflckgel^ wurde, ist in der zweiten Colunme in Secunden angege—
ben; zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Beobachtungen liegen
nur wenige Secunden , zwischen Nr. 4 und Nr. 2 jedoch mehrsPQ Mi-
nuten. Unmittelbar vor jeder der mit einem Stern versehenen Be—
obaditungen wurde der schleimige Ueberzug der Membran oberhalb
der beobachteten Strecke mit einer sdiarfen Nadel durchgeschnitten ;
vor Nr. 61 wurde der Schleim ausserdem noch mit einer Pincette weg^
gezogen.
«
Tabelle I.
Nr. der
Zeit in
Nr.aer
Zütim
Nr. dar
Zeit in
Beobac]itiiii(^
Seeanden.
Beokuktaog.
SacandeB.
BMbMhtang.
Seeanden.
4
12
27
18
•53
12
8
15
28
17
54
14
3
16
89
18
55
16-
4
16
30
18
56
18
5
17
31
20
57
18
6
17
32
21
•58
14
7
18
33
18
59
13
8
18
34
18
60
14
9
18
35
18
61
15
»0
18
•36
12
62
18
11
19
37
13
63
18
12
22
38
15
•64
9
13
21
39
15
65
9
U
22
40
15
66
8
15
21
41
19
67
10
16
23
42
20
68
13
17
16
43
20
69
16
18
16
44
16
70
18
19
19
45
17
71
18
SO
16
46
18
•72
10
S1
17
47
19
73
12
22
19
•48
•13
74
15
23
16
49
14
75
17
24
17
50
15
76
17
25
18
51
17
77
20
26
18
52
17
78
20
Ueber die FKnaierbeweguuii» 39 t
Der Einfiuss, welchen die Durchs^mieidung der Schleimdecke auf
die Geschwindigkeit des Signals ausübt, springt deutlich in die Augen.
Bei Membranen, die mehrere Stunden ausgespannt gelegen haben,
und wiederholt vom Schleim befreit wurden, wird die Schnelligkeit
der Strömung allmähUdi ziemlich constant; die reiche Schleimproduo-
iion hört auf: die Becherzellen erschöpfen sich. Nicht alle SchleimhSlute
verhalten sich übrigens gleich. Manche ^) produciren von Anfang an
afztfallend wenig Schleim , und die mikroskopische Untersuchung zeigt
dann auch, dass die Anzahl der Becherzellen auffallend gering ist.
Solche Membranen eignen sich am meisten zu Versuchen. Bei reich-
licher Production von Schleim muss man , um brauchbare Zahlen zu
gewinnen, bestündig für Entfernung desselben sorgen, oder warten bis
die Schleimbildung nachlüsst. Noch nach zwei Tage langem Liegen und
später sind die ausgespannten und während dieser Zeit vor Verdun-
stung geschützten Schleimhäute zu Versuchen brauchbar.
Ausser den Veränderungen , welche in Folge der Schleimproduc-
tion in der Schnelligkeit der Bewegung eintreten, scheinen nun häufig
noch andere vorzukommen, deren Ursache nicht nachweisbar ist. Bei
der Beobachtung im Mikroskop sieht man nämlich, wenn die Bewegung
schon nachgelassen hat, deutlich, dass auf einer einzelnen Zelle oder
auf einer kleinen Gruppe von Zellen die Bewegung sich periodisch ver-
schnellt. Die Perioden, in denen dieses geschieht, sind zu weiten ziem-
lich regelmässig, von mehrere Secunden bis mehrere Minuten langer
Dauer; die Verschnellung hält aber in der Regel nur einige Secunden
an, und ist selten bedeutend. Niemals scheinen diese Schwankungen
isoclironisch auf einer grösseren Strecke der Schleimhaut vorzukom-
men, und dicss ist wahrscheinlich der Grund, dass sie sich nicht deut-
lich bemerkbar machen, wenn man, wie nach der zweiten der oben
beschriebenen Methoden die Schnelligkeit der Strömung makroskopisch
untersucht. Nur bei elektrischer Reizung unter dem Mikroskop könnte
ihre Nichtbeachtung zu Irrthümorn Veranlassung geben.
Endlich ist bei diesen Versuchen , ganz besonders bei denen , die
nach der zweiten Methode'angestellt werden, auf die Zimmertemperatur
zu achten. Es ist wünschenswerth, dass die Temperatur während jeder
Versuchsreihe constant bleibe. Aendert sich die Zimmerwärme inner-
t) Diess sebeincn besonders die Schleimbfluto von iiolchen Fröschen zu sein,
die unter den günstigsten Bedingungen gelebt und frisch eingefangen sind. Bei Frö-
sehen dagegen, die lungere Zeit in der Gefangenschaft, in schlechtem Wasser, oder
zu trocken aun)e\vahrt waren, fand ich meist enorme Massen von Bccherzellen, ofl
in Gruppen von 3 bis 5 dicht beieinander. Sie übertrafen zuweilen die Flimmcr-
zellen an Zahl.
392 ^ Th. W. EflgelmaDD,
halb kürzerer Zeit um einige ^rade , so macht sich diess fast immer
durch eine entsprechende Yerändening in der Schnelligkeit der Be^ve—
gung bemerkbar. Ja , anfangs schien ed mir sogar fraglidi, ob nicht in
den Versuchen von Kistiakowskt die während des Tetanisirens mit
abwechselnd gerichteten Inductionsschlägen und während des Durch-
führens eines starken constanten Stroms beobachtete Beschleunigung
der Bewegung nur auf Erwärmung der einen starken Widerstand bie—
tenden Membran durch den Strom beruht habe. In der ThatfinAet
hierbei eine schon mit groben Hilfsmitteln nachweisbare Erwärmung
statt. Man braucht nur die Kugel eines gefühligen Quecksilberthermo—
meters auf die ausgespannte Rachenschleimhaut zu legen : beim Teta—
nisiren der Membran steigt das Quecksilber sofort. Abwechselnd ge-
richtete Inductionsschläge eines von 2 DANiELL'schen Elementen getrie—
benen Schlittenapparats du Bois'scher Construction (ohne Hblhholtz'—
sehe Abänderung) bewirkten bei OMm. Rollenabstand und möglichst
raschem Gang des Unterbrechers , dass das Quecksilber innerhalb der
ersten Minute um etwa ,1^G. und innerhalb der nächsten drei Minuten
noch um weitere ä ^ stieg ; bei langsamerem Gang des Hammers oder
bei grösserem Rollenabstande betrug natürlich die Erwärmung in glei-
cher Zeit weniger. Hört man auf zu tetanisiren, so sinkt das Queck-
silber im Lauf einiger Minuten wieder auf die anfängliche Höhe zurück.
Diesen TemperaturVeränderungen der Membran, welche, vor Allem
wegen der ungünstigen Lagerung des Thermometers , durch letzteren
offenbar viel zu klein angegeben werden, mussten natürlich Ver-
änderungen in der Stärke der Flimmerbewegung entsprechen. Sie
Hessen sich auch leicht durch Beobachtung des Signals nachweisen.
Die gefundenen Zahlen stimmten mit den von Kistiakowskt angegebe-
nen sehr gut überein. Weder aus ihnen noch aus denen von Ristu-
KOWSKY liess sich aber entscheiden, ob die beobachteten Veränderungen
der Bewegung ausser auf thermischen auch noch auf anderen Wirkun-
gen der Elektricität beruhten. Eben so wenig bewiesen die Zahlen in
KistiakowskVs Versuchen über die Einwirkung des constanten Stroms
einen specifischen Einfluss der Elektricität. * Man sah aus denselben
nicht, ob die Erregung, deren Ausdruck die Verstärkung der Bewegung
ist, allmählich oder plötzlich eintrat, ob sie, so lange der Strom durch-
ging zunahm, gleichblieb, oder sich verminderte. Die während der
Dauer des Durchströmens gefundene Zunahme der mittleren Schnellig-
keit des Signals konnte auf allmählicher Erwärmung, die nach der
Oeffnung beobachtete Abnahme auf allmählicher Abkühlung der Mem-
bran beruhen. Nur die auf Tab. III von Kistiakowskt zusammen-
gestellten. Versuche , bei denen der constante Strom während mehrerer
Ueber die Flimmerbeweguqfr^ 393
aufeinanderfolgender Beobachtungen gespilossen blieb, sprechen dafür,
dass nicht der ErwSrmung allein dys- beobachtete Beschleunigung zu-
zuschreiben sei. Auf diese Versuche, deren Werth Kistukowskt über-
sehen tu haben scffeint, kommen wir indessen später zurüd:.
Obschon sich nun im Verlauf dieser Untersuchung bald eine Reihe
von Thatsachen herausstellte , aus denen ein specifischer Einfluss der
Elektricität klar hervorging , unterliess ich doch nicht, einige Versuche
über den Einfluss der Erwärmung auf die Schnelligkeit der Bewegung
des Signals anzustellen. Ich bestimmte die Beschleunigung der Bewe-
gung,, welche eintrat, w^enn die Membran einmal durch Tetanisiren mit
Inductionsströmen und dann wenn sie mit Hilfe eines untergeschobe-
nen Platin- oder Kupferstreifens erwärmt wurde. Der Grad der Er-
wärmung wurde nach derselben, freilich sehr rohen Methode wie oben,
mit Hilfe eines an die Schleimhaut angelegten Quecksilberthermometers
gemessen. Die Kugel desselben lag auf der intrapolaren Strecke und
zwar so , dass sie bei Erwärmung der Membran durch den unterge-
schobenen Metallstreifen von der kühlsten Stelle des letzteren noch um
einen halben Gentimeter entfernt war, während die vom Signal durch-
laufene Strecke gerade über dem Metallstreifen lag, also der Erwärmung
viel mehr ausgesetzt war. Es zeigte sich, dass bei gleich hoher und
gleich schneller Temperatursteigerung die Beweg\ing viel mehr be-
schleunigt wurde wenn die Temperaturerhöhung der Membran durch
elektrische Ströme als wenn sie durch Erwärmen des Metallstreifens zu
Stande gebracht worden war. Dieselbe Beschleunigung des Signals
welche eintrat, als beim Erwärmen des Mctallstreifcns der Thermometer
in den ersten drei Minuten um 5 ^ stieg , wurde in dem unmittelbar
vorausgehenden und dem darauf folgenden Versuche beobachtet , als
die Temperatur unter dem Einfluss abwechselnd gerichteter Inductions-
schläge in der gleichen Zeit nur um 0,2 ® stieg. Waren die Inductions-
schläge so schwach oder folgten sie sich so langsam , dass das Queck-
silber im Thermometer nicht stieg, so konnte doch gleichzeitig sehr
starke Beschleunigung der Bewegung vorhanden sein. Auf der andern
Seite konnte durch schnelles oder langsames Erwärmen des Metallstrei-
fens die Temperatur der Membran merklich, wenn schon wenig, erhöht
werden ohne dass die Bewegung verstärkt wurde. Hiemach scheint
nur bei Anwendung von starken , rasch aufeinander folgenden Indoc-
tionsschlägen oder nach längerem Durchfliessen eines starken constan-
ten Stromes eine Einmischung der thermischen Wirkungen der Elek-
tricität zu fürchten.
394 'A Th. W. Bngefananof
Nachdem ich mich durch diese vorläufigen Versuche überzeugt
hatte, dass die Elekiricität, auch abgesehen Ton der Erwärmung, einen
erregenden Einfluss auf die Flimmerhewegung ausüben könne, schien
es vor Allem nötbig, zu untersuche^ ob nm* Dichti^eitsschwankungen
des elektrischen Stroms oder ob auch der Strom in beständiger Dichte
erregend wirke. Die weiteren Fragen ergaben sieh dann von selbst.
Wir beginnen mit der Schilderung des Einflusses , welchen ein
einzelner Indu et ionsschlag auf die Flimmerbewegung ausübt.
Schickt man durch Flimmerzellen, deren Bewegung sich nach län-
gerem Liegen in Serum, Humor aqueus oder Kochsalzlösung
von 0,5% bis i% verlangsamt hat, einen einzelnen kräftigen In-
ductionsschlag , so findet Erregung statt. Diese äussert sich als eine
anfangs zunehmende , dann langsam wieder abnehmende Beschleuni-
gung und Verstärkung der Bewegung. Standen die Cilien vorher ganz
still, so kann in Folge der Reizung die Bewegung wieder erwachen ; es
folgt dann eine Reihe von Schwingungen , deren Frequenz und Grösse
anfangs zu- und später wieder abnimmt. Der einzelne Reiz löst
also nicht, wie man etwa hätte erwarten können , eine einzelne
Schwingung oder Zuckung des Flimmerhaars aus, son-
dern erhöht nur die rhythmische Thätigkeit derCilien,
wenn sie in Abnahme begriffen, oder erweckt sie für
einige Zeit wieder, wenn sie bereits erloschen war. Grösse
und Verlauf der Erregung hängen , wie sich aus den sogleich zu be-
schreibenden Versuchen ergiebt, von der Grösse und Scbnelh'gkeit der
Dichtigkeitsschwankung des reizenden Stromes, und ausserdem von
dem Zustand der Flimmerzcllen vor der Reizung ab.
Tersueh L Die Reizung geschieht innerhalb der Gaskammer unter dem
Mikroskop. Von den Elektroden führen Drähte zu den Polen der secund'aren
Spirale eines dv Bois^schen Schlittcnapparats. In den Kreis des primären
Stroms, der von vier DANiBLL'schen Elementen erzeugt wird , ist ein Qucck-
Silbernäpfchen eingeschaltet, in welchem mit Hilfe eines an der Spitze amal-
ßamirten Kupferdrahts 4ßr Strom geschlossen und unterbrochen wird. Ein
dünner Streifen der Rachenschleimhaiit eines eben getödteten Frosches liegt
in Kochsalzlösung von 1% zwischen den Elektroden. Nach viertelstundigeih
Liegen sind die Bewegungen bedeutend kleiner nnd langsamer geworden.
An der zur Beobachtung ausgesuchten Stelle machen die Cilien 1 2 Schwin-
gungen in 5 Secunden. Es wird nun der Einfluss des Schliessungs- und
Oelfnungsschlags bei verschiedenen Rollenabsländen untersucht.
a. 0 Gent. Rollenabstand.
Schliessung. Nach einigen Secunden deutliche, obschon geringe
lieber die Flifflmerbewegnigv 395
r
Yerschnellung , die anfangs zunimmt , nach 5 — 10 Secunden allmählich
wieder nachlässt.
Oeffnung. Innerhalb der ersten Secunde keia Einfluss bemerk-
bar. Hierauf ziemlich plötctfch starke» rasch zunehmende Beschleunigung,
verbunden mit Vergrösserung der Excursionen. Am Ende der zweiten
Secunde sind die einzelnen Schwingungen nicht mehr zu unterscheiden ;
sie bleiben etwa K 0 Secunden lang unzählbar, verlangsamen und verklei-
nern- «ich hierauf allmählich und haben nach Verlauf von einer Minute
ungefähr die anfängliche Frequenz wieder erreicht.
6. \ Cent. Rollenabstand.
Alles ebenso wie bei a.
c. t Gent. Rollenabstand.
Schliessung wirkt sehr wenig.
Oeffnung. Erst in der dritten Secunde merkbare Beschleunigung.
Noch innerhalb der dritten Secunde werden die Bewegungen unzählbar
schnell. Nach Verlauf von einer halben Minute (vom Moment der Oeff-
nung an) hat die Bewegung wieder die anfängliche Grösse. \
c/. 3 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Rein deutlicher Erfolg.
Oeffnung. Beginn der Beschleunigung in der vierten Secunde. Im
Lauf der nächsten Secunden werden die Bewegungen zwar unzählbar
schnell, sind aber noch einzehi zu unterscheiden. Nach 20 Secunden
wieder die anfängliche Frequenz.
e. 3,6 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Kein Einfluss.
Oeffnung. Wie in d\ doch ist die Gesammtdauer der Erregung
kürzer, etwa 15- Secunden.
f, i Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Kein Effect.
Oeffnung. Nach i Secunden erst deutliche Beschleunigung und
Verstärkung. Nach K 0 Secunden wieder wie zu Anfang.
Q. d,5 Cent. Rolienabstand.
Schliessung. Kein Erfolg.
Oeffnung. In den ersten fünf Secunden keine deutliche Verände-
rung. Darauf eine geringe anfangs wachsende, dann wieder abnehmende
Beschleunigung. Gesammtdauer der Erregung höchstens 1 0 Secunden.
A. 0 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Nach einigen Secunden deutliche Beschleunigung,
die binnen 4 0 Secunden wieder aufhört.
Oeffnung. In der zweiten Secunde plötzlich starke Beschleuni-*
gung. In der dritten Secunde sind die einzelnen Schläge schon nicht
mehr zu unterscheiden. Im Laufe einer Minute kelirt allmählich die an-
fängliche Schnelligkeit zurück.
t. 4 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Kein Erfolg.
Oeffnung. Erst nach 4 — 5 Secunden geringe Beschleunigung;
nach 1 0 Secunden wieder wie zu Anfang. — Hierauf wird bei demselben
396 "^ Tb. W, Engelmann,
Rollenabstand dreimal rasch hintereinander geschlossen und geöfifnel:
.starke Beschleunigung. Nach 5 — ^6 Secunden sind einzelne Schläge nicht
mehr zu unterscheiden. Im Lauf der nächsten Minute allmähliche Ab-
nahme.
k. 0 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Nach einigen Secunden geringe aber deutliche Be-
schleunigung , die sich im Lauf von 4 5 Secunden wieder verliert.
Oeffnung. Noch innerhalb der ersten Secunde starke Bosolüeuni-
gungy die fast eine Minute anhält.
L 4 Cent. Rollenabstand.
Schliessung. Kein Erfolg.
Oeffnung. Nach etwa 5 Secunden deutliche , ziemlich starke Be-
schleunigung, die i 0 — i ö Secunden lang anhält.
m. 0 Cent. Rollenabstand.
Wie in Ar, die Beschleunigung nach der Oeffnung hält jedoch länger,
fast zwei Minuten lang an.
n. 4 Cent. Rollenabstand.
Wie in / ; doch ist die Gesammtdauer der Erregung nach der Oeff-
nung etwas länger.
Aus diesem Versuche geht hervor, dass mit der Stärke der Induc—
tionsschliige die Grösse und Dauer der Erregung zunimmt. Wie man
sieht, dauerte es merkliche Zeit, ehe eine Beschleunigung bemerkbar
wurde. Diese Zeit, die man als Zeit der latenten Erregung be-
zeichnen kann, ist um so kürzer, je stärker der Inductionsschlag war.
Sie kann bei sehr starken Reizen für die Wahrnehmung zu klein wer-
den. Als ich mit dem Oeffnungsschlag eines grossen RuHMKORFF^schen
Apparats reizte, dessen primäre Spirale mit 4 grossen GROVB'schen
Elementen in Verbindung stand, schien die Beschleunigung im Moment
der Reizung einzutreten. Dasselbe kann man auch bei Gebrauch eines
kleinen Ruhmkorff^s oder eines du Bois'schen Schlittcnapparats beob-
achten, wenn man den primären Strom stark genug macht. Wie kurz
die Dauer der latenten Reizung werden könne , lässt sich wegen der
UnvoUkommenheit unserer Hilfsmittel nicht entscheiden. Aus demsel-
ben Grunde lässt sich ^uch nicht mit Bestimmtheit behaupten , ob die
Erregung bei Reizung von noch in Bewegung begriffnen Gilicn in der
ersten Zeit wirklich latent , oder ob sie nur ftir die grobe Wahrnehmung
zu gering sei.* Ich möchte auf Grund von Versuchen mit schwachen
Oefinungsschlägen das Erstere annehmen. Stuft man die Stärke der
Schläge, z. B. durch Entfernen der secundärcn Spirale von der primä-
ren, mehr und mehr ab , so wird auch das Stadium der latenten Rei-
zung immer länger, und es kann endlich 7 Secunden und mehr dauern.
Ueber die FUnmeHtevegun^T^ ' 397
ehe man eine Aenderüng der Bewegung ^hrnimmt. In verschiedenen
Versuchen, wo später deutliche Beschleunigung eintrat, fand ich die
Frequenz der Schwingungen ia den ersten fünf Secunden nach der
Beizung eben so gross als m den fünf vorangegangenen. Auch eine
Aenderüng in der Grösse der Excursionen war nicht wührzunebmen.
Standen die Gilien vor der Beizung ganz still , so konnten mehrere
Secunden verfliessen ehe merkbare Bewegungen begannen, und bei
Reizung mit noch schwächeren Schlägen blieben die Cilien in Buhe
stehen.
Auf das Stadium der latenten Beizung folgt ein Stadium , in wel-
chem die Schnelligkeit und Stärke der Bewegung bis zu einem Maximum
zunimmt. Es kann als Stadium der steigenden Energie be-
zeichnet werden. Das Maximum bis zu welchem die Schnelligkeit steigt,
liegt bei starken Beizen höher als bei schwachen. Die Zunahme der
Schnelligkeit erfolgt um so rascher je stärker der Beiz war. Nur bei
schwachen Induclionsschlägen lässt sich indess durch Beobachtung mit
dem Mikroskop bestimmen , wann ungefähr die Bewegung das Maxi-
mum der Schnelligkeit eiu*eicht habe. Sie bedarf hierzu immer einer
Beihe von Secunden. Bei starken Schlägen werden binnen einer oder
zwei Secunden die Schwingungen so schnell, dass sie einzeln nicht
mehr zu unterscheiden , eine weitere Zunahme der Schnelligkeit also
nicht zu erkennen ist. — Ebenso kann man nur in den Fällen, wo wäh-
rend der Dauer des Maximums der Schnelligkeit die einzelnen Schläge
noch sichtbar bleiben, also im Allgemeinen bei schwächeren Reizen,
mit dem Mikroskop entscheiden , wann die Schnelligkeit abzunehmen
beginnt, und wie lange etwa das Stadium — es möge das Stadium
der sinkenden Energie heissen — dauert, in welchem die Bewe-
gung vom Maximum bis auf ihre anfängliche Höhe zurückkehrt. Dass
alle diese Zeitbestimmungen noch ziemlich ungenau sind, ist selbstver-
ständlich. So viel lässt sich aber feststellen , und geht aus Versuch I
schon hervor, dass die Dauer des Stadiums der sinkenden Energie bei
schwachen Beizen kürzer ist als bei starken. Auch die Gesammtdauer
der Erregung beträgt um so weniger, je schwächer der Beiz war. Ist
die Schnelligkeit auf der anfänglichen Höhe wieder angekommen , so
pflegt sie , falls die übrigen Bedingungen sich tezwischen nicht ver-
ändert haben, zunächst nicht weiter zu sinken.
Der grösste Theil der durch Beobachtung im Mikroskop gewonne-
nen Besultate lässt sich bestätigen, wenn man nach der zweiten der
oben beschriebenen Methoden die Geschwindigkeiten eines Über die
flimmernde Schleimhaut geführten Signals misst. Diese Methode giebt
ausserdem über die Grösse, über die Gesammtdauer und über einzelne
398
Tb. W. Eigelmim,
Puncte des Verlaufs der Erni|aDg genaoere Anskatift. Ich lasse hier
einen Versuch folgen.
feisach II. Frische Rachenschleimbaut vom Frosch, in dem mit haU>-
procentiger Kochsalzlösung gefüllten Glastrog ausgespannt. Die vom Signal
durchlaufene Bahn ist 2 Mm. lang und liegt ungefähr in der Mitte zwischen
beiden Elektroden. Die Zeit, welche zum Durchlaufen des ersten und des
zweiten Millimeters gebraucht wird , ist mit Hilfe eines MALZL'schen lletro-
noms gemessen, welcher Drittelsecunden angiebt. Die Thonspitzen der nn-
polarisirbaren Elektroden sind in einem Abstand von 1,6 Cent, oben und
unten auf die Schleimbaut aufgesetzt. Sie sind in Verbindung mit der se-
condären Spirale des Schlittenapparats. Der primäre Strom wird von 4
grossen Gbove's geliefert. Schliessung und Oeffnung geschehen mit Hilfe
eines Quecksilbernäpfchens und zwar in dem Moment, wo das Signal vom
Anfangspunct seiner Bahn abgebt.
Tabelle
iH.
ÜBrnmei
der
'BcobMiiting.
Z«it dar
BtotaeUnag.
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Beiz.
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42 h.
OefTnung
0 Mm.
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8
8
Ueber dn Fltnmerbeweganfl^
399
Kummer
der
Beobaclitun^.
Zeit der
Beobachtung.
Heiz.
•
r
Bollenabstand.
Zeit in DritteUecnnden
für den fftr den
ersten zweiten
Millimeter. MilUmeter.
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'
8
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0 Mm.
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>^ Tb. W, Bngelmann,
Nammer
der
Beobachtung.
Zeit der
Beobachtung.
Bollenabstand.
Zeit in DrittelMemiden
fbr den
ersten
Millimeter.
fbr den
iweiten
Millimeter.
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
12h. 30'
OelTnung
30 Um.
12h. 35'
12h. 38'
12h. 45'
Schliessung 30 Mm.
Oeffnung
12h. 48'
Schliessung
30 Mm.
50 Mm.
OefTnung
50 Mm.
8
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Schliessung
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Schliessung
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OeffiAung
80 Mm.
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Schliessung
70 Mm.
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Ueberblickt man die vorstehende Tabelle , so sleki man zunächst,
dass die mittlere Geschwindigkeit des Signals nach dem Ende des Ver-
suchs SU ailmlihlich bis etwa auf die Hälfte abnimmt Da diese allmäh-
liche Veriangsamang auch in Versnchen ohne Reizung mit ungefähr
derselben Schnelligkeit wie hier eintreten kann, darf man sie nicht auf
Ermttdung durch Heizung beziehen. Man sieht femer aus der Tab^e,
dass bei gleichem Rollenabstand die Erregung durch den Seh lies-
snngsindnctionsschlag weniger stark und von etwas kUr-
zererDauer ist, als die Erregung durch den Oeflhungsschlag. Auch ist
deutlich , dass mit zunehmender Entüemung der secundären von der
primären Spirale, sowol bei Schliessungs- als bei Oeffnungsreizung die
Stärke und Dauer der Erregung abnimmt Ueber die Dauer des Sta-
diums der latenten Reizung und deren Abhängigkeit von der Strom-
stäAe giebi die Tabelle nur wenig AufsoUuss. Doch sieht man so viel,
dass der erste Millimeter der Bahnstrecke unmittelbar nach der Reizung
mit Schliessungsschlag in derselbe Zeit wie unmittelbar vor der Rei-
zung, nach Reizung mit dem Oeflhungssohlag dagegen rascher als un-
mittdbar vorher zurückgelegt wird. Beim Verfolgen des Signals mit
dem Auge sieht man im letzteren Fall auch , dass erst nachdem achon
404 ) n W. E«getaian,
ein Theil des ersten Millimet^ der Bahn durclilaufen ist, eine deut*
Jiche , fast plötzliche Beschleunigung eintritt. Was den weiteren Ver-
lauf der Erregung angeht, so ergiebt sich, dass die Starke der Bewe-
gung im Allgemeinen rasch ihr Maximum Erreicht. Auf diesem pflegt
sie sich mehrere Secunden lang zu halten, um dann langsam abzunelb-
men. Es wird aber, wie die Tabelle zeigt, das Stadium der steigenden
Energie desto länger, das der sinkenden desto kürzer, je sdiwäclier
der Reiz war. Beide Stadien können schliesslich ungefähr gleiA lang
werden.
Man könnte den Gang der Erregung durdi eine Gurve ausdrttf&en,
deren Abscissen die Zeiten vom Moment der Reizung an, deren Ordi-
nalen die entsprechenden Geschwindigkeiten des Signals an der gereiz-
ten Stelle darstellen. Es geht dann aus Versuch U hervor, daas die
Form und Ausdehnung dieser Curve wesentlich abhängt von der Stärke
des reizenden Stromes , d. h. von der Grösse der Dichtigkeitsschwan-
kungen desselben. Die Gurve steigt am so früher und um so steiler,
und sinkt um so langsamer je grösser die Dichtigkeitsschwankung war.
Auch das Maximum der Erhebung der Gurve liegt bei grösseren Strom-
schwankungen im AUgemeinen höber. Es giebt indessen du absolutes
Maximum , welches bei weiterer Steigerung der Reizstärke nicht td[>er-
schritten wird. Die Grösse dieses Maximums hängt von dem Zustande
der Flimmerzellen ab. Schon vor der Reizung können nämlich die
Flimmerzellen auf der höchsten Stufe der Thätigkeit sein. Diese ist fast
bei jeder ganz frischen Rachenschleimhaut vom Froseh unmittelbar
nach der Präparation der Fall, wenn man den Glastrog, in dem die
Haut ausgespannt wird , mit einer möglidist indifferenten Flüssigkeit
gefüllt hatte. Die Geschwindigkeit des S'ignals betrug dann in meinen
Versuchen oft einen Millimeter In der Secunde. Schickte ich nun in
einem solchen Falle einen Inductionsschlag von beliebiger Stärke durch
die Membran, so trat keine weitere Beschleunigung der Bewegung ein.
Würde die Membran vor der l^eizung so lange liegen gelassen , bis die
Schnelligkeit der Bewegung sich bis auf 0,8 Mm. in der Secunde ver-
langsamt hatte, dann war das Maximum bis zu welchem die Bewegung
durch, einen einzelnen Inductionsschlag wieder bescUeunigt werden
konnte, 0,4 — 0,5 Mm. in der Secunde. Hierzu reichte ein Oeffnungs-
schlag des mit 4 grossen Grotb's in Verbindung stehenden Sdilitten—
apparats aus, als der Rollenabstand 30 Mm. betrug. Auch als die Rollen
ganz aufgeschoben waren , wurde keine stärkere Beschleunigung er—
reidit, und ebensowenig vermochten diess die starken Oefibungs-
schlüge eines kleinen und eines grossen RuHMXORPF'sdben Apparats,
durch deren primäre Spiralen die Ströme von 4 grossen GROvi'sohen
Ueber die Flwneilewegui^^ 405
Elementolii igiogen. Ist dieiThttUgkeit d# GiUen vor der Reizung noch
weiter gesunken, — sei es nun durch längeres Liegen in mehr indiffe-
reolen PHlssigkeMen, oder duceb kürzere Einwirkung von etwas zu
slark ooooentrirten KochsalsMsungen — , dann liegt das Maximum bis
f u welcbem die Schnelligkeit des*Signals durch einen einzelnen Induc«-
tictasschkg gesteigert werden kann, noch viel niedriger als bei frischen
SchleimhUuten. Auch scheint der Verlauf der Erregung dann ein an-
derer Sil sein. Es wttre interessant, zu untersuchen, wie bei Zellen,
deren Bewegung durch verschiedene chemische oder physikalische
Einflüsse verlangsamt oder zur Ruhe gebracht ist, die Erregung durch
einen einzelnen Induotionsschlag verltfuft, und in welcher Weise sich
in diesen verschiedenen Fällen die Grosse und der zeitliche Verlauf der
Erregung mit der Grösse der reizenden Dichtigkeitsschwankung ändert.
Ich habe mich indess im Vorstehenden darauf beschränkt, f(ir Flimmei^
zelten die sich unter verhällnissmässig normalen Bedingungen befinden,
die Form der Erregungscurve und ihre Abhängigkeit von der Grösse
der Stromschwankung wenigstens annäherungsweise zu bestimmen.
Es war zu erwarten, dass auch die Schnelligkeit, mit der die rei-
zende Stromesschwailkung verläuft, von Einfluss auf die Erregung sein
würde. Diess zeigte sich deutlich in Versuchen mit Inductionsschlägen
von sehr verzögertem Verlauf. Letztere wurden dadurch erhalten, dass
die secundäre Spirale eines du Bois'schen Schlittenapparats* bei ge-
schlossenem primären Strom und feststehendem Hammer rasch auf-^
oder abgeschoben wurde. Selbst als im primären Kreis vier grosse
GROTs'sche Elemente sich befanden und das Verschieben der Rollen
(von 45 oder 40 Cent. Abstand auf 0 oder umgekehrt) mit grösslpiüg-
licher Geschwindigkeit (in höchstens einer Viertclsecunde) ausgeführt
wurde., war es nicht möglich , eine Beschleunigung der Bewegung zu
erwecken. Wurde dann bei einem festen Rollenabstand von 8 Cent,
der primäre Strom plötzlich geöffnet, so trat, starke Beschleunigung ein,
und dasselbe, wenngleich etwas schwächer, bewirkte die Schliessung
bei dem nämlichen Rollenabstand. Viel stärker noch war der Erfolg
der plötzlichen Schliessung und Oeffnung bei OMm. Abstand. Aus die-
sen Versuchen, welche nach beiden oben beschriebenen Methoden, mit
und ohne Mikroskop, angestellt wurden, folgt, dass bedeutende
elektrische Dichtigkeitsschwankungen nicht erregend
wirken, wenn sie langsam verlaufen. Das genauere Verhält-
niss der Abhängigkeit , welches besteht zwischen Grösse und Verlauf
der Erregung und der Schnelligkeit, mit der die reizende Stromschwan-
kung abläuft, ist durch weitere Versuche erst zu ermitteln.
406
\ Tli. W. BügelBMo,
Wir gehen jetzt zur ScbiUerung des Einflusses über, welehen der
constante Strom auf die FliiDiiierbeweguBg ausld^t.
Schickt man durdi eine ausgespantite Rachensehtoilnfaaut, oder
durch ein in der Gaskammer liegendes Stttck dei^lben einea miasig
starken, oder starken constanten Strom (2 DaKi&li.'s u. m.), so beginni
spätestens einige Secunden nach der Schliessung des Stromes die
Bewegung sich zu beschleunigen und erreicht bald ein Maximum. Hier-
nach sinkt sie langsam auf die anfonglicbe Höhe surQck und \M% aUk
auf dieser so lange der Strom geschlossen bleibt. Wird dann geöffnet,
so erfolgt wieder eine anfangs zundiimende, bald abw nachlassende
Beschleunigung. Man unterscheidet also hier wie bei det Erregung
durch einen elnzdnen Indüctionsschlag drei Stadien : das der latenten
Reizung, das der steigenden und das der sinkenden JE^ergie. Folgender
Versuch diene zur Erläuterung.
Versieh III. Racbenscbleimhaut im Glastrog ausgespannt, der mit Koch-
salz von 0,6 Yo gefüllt ist. Die Bahnstrecke, welche das Signal durchläuft,
ist 4 Mm. lang und genau in der Mitte zwischen den beiden Elektroden ge^
legen. Die Zeit in welcher jeder einzelne Millimeter vom Signal zurückge-
legt wird, ist in Secunden angegeben. Die Elektroden sind in einem Abstand
von i Cent, oben und unten mit breiter Fläche auf die Schleimhaut aufge-
setzt. Die Reizungsdrähte führen rückwärts zu einem Schlüssel , zu einer
Pom.*schen Wippe (mit eingelegtem Kreuze] und von da zu den Polen einer
Kette von 8 hintereinander verbundenen DANiBLL'schen Elemeaaten. SchHes*
sung und Oeffnung geschehen stets iii dem Moment, wo das Si^qmI vom An-
fangspunct der Bahn abgeht. — Vor Beginn der Reizung hatte die Membran
über eine Stunde lang Im feuchten Baume gelegen und war wiederholt von
Schleim befreit worden. Die Geschwindigkeit der Sigoalbewegung war in
der letzten halben Stunde vor der Reizung ziemlich constant gewesen , hatte
im ganzen jedoch etwas zugenommen.
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Millimeter.
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—
9
7
6
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5
Der vorstehende Versuch bedarf nur weniger Worte zur Erläute-
rung. Deutlich sieht man , dass nach jeder Schliessung und Oeffnung
eine auffallende Beschleunigung der Bewegung eintritt. Der Verlauf
dieser Beschleunigung stimmt ganz überein mit dem Verlauf der Erre-
gung durch einen starken Inductionsschlag : erst rasches Steigen, dann
langsames Sinken der Energie.
Eine Vergleichung der für die Schliessungserregung gefundenen mit
den für die Oeffnung ermittelten Zahlen lehrt, dass die Schliessung
ein stärkerer Reiz als die Oeffnung ist. Sowohl das Maximum
der Schnelligkeit, welches im Verlauf der Erregung erreicht wird, als
die Dauer der Erregung ist grosser nach der Schliessungs- als nach der
Oeflhungsreizung. Das Maximum der mittleren Geschwindigkeit des
Signals betragt im vorstehenden Versuch, nach der Schliessung min-
destens 0,5 Mm. , in einem Fall sogar 1 Mm. in der Secunde, nach der
Oeffnung höchstens 0,33 Mm. Nach der Schliessung dauert es wenig-
stens anderthalb bis zwei Minuten , ehe die anfängliche Schnelligkeit
ungefUhr wieder erreicht ist : nach der Oefluung höchstens eine Minute,
in der Regel etwa eine halbe Minute. Nachdem die Schliessungserre«
gung vorbei ist, bleibt die Schnelligkeit des Signals, so lange der Strom
durch die Membran fliesst, ziemlich constant, und zwar ungefähr eben
so gross als «ie vor der Schliessung war. Doch scheint es in einigen
Fällen als ob auch noch eine schwache Erregung durch den Strom von
beständiger Dichte stattfände. Vergleicht man z. B. die Zahlen der
Beobachtungen 45-~<9 und 50—54 mit denen der Beobachtungen 36—
40, oder die von 50—54 und 73—78 mit denen von 60—64, so zeigt
Uebeff & FUMieiiMwcgu||gr 4 1 1
sieh eiD kleiner Unlersoliied xa G^n^lelilbr Beobachtungen, während
welcher der Strom durch das Prüparat iloss. Nicht bemerkbar ist die-
ses Yerbähniss in den Beobachtungen 86 — 90 und 190 — 4 St, wie
ein Vergleich mit den B^obaehtungen 73 -- 78 und 105 — 409 Idirt.
Der Verlauf und gelbst die Gri^sse der einzelnen Schliessungserre-
gungen ist im yorliegenden Versuch in den meisten Fällen gleich. Dodi
ist die erste Scbfiessungserregung (Beobachtung 6 u. f.) etwas wenir-
ger slaA und von kürzerer Dauer als die folgenden (Beobachtung 44
u. f. und 65 u. f.). Die grösste Schnelligkeit wird nach der vierten
Schliessung erreicht. Aber selbst naoh der letzten Schliessung, wo
die Bewegung im Ganzen schon langsamer geworden ist, ist die Be^
schleunigung noch etwas grösser als nach der ersten Schliessung. Auch
die Zahlen fttr die Oeffhungserregung sind in den einzelnen Versuchen,
mit Ausnahme des letzten, ungefähr dieselben. Nach dem Ablaufe der
Oeffhungserregung «inkt die Schnelligkeit in einigen Fällen tiefer als
sie vorher war und hebt sich dann wieder auf etwa die anfängliche
Höhe. — ■
Die Erregung ist auf allen vier Millimetern der Bahn nach Schlies-
sung wie nach Oeffnung nahezu gleich gross. Dass die Zeiten fttr den
letzten und vorletzten Millimeter stets etwas kleiner sind als die fttr die
beiden ersten, beweist nicht, dass auf diesen Strecken die Energie der
Plimmerhaare grösser war, sondern -kann auch daraus erklärt werden,
dass das Signal mit sehr wenig Widerstand sich fortbewegte. Wenn
die Thätigkeit der Cilien auf allen Puncten der Bahn gleich energisch
war, musste sich das Signal dann doch mit beschleunigter Geschwin-
digkeit vorwärts bewegen. Man kann in allen ähnlichen Fällen durch
Heben oder Senken des Signals den Widerstand , der namentlich auf
der Beibung des Signals an der Oberfläche der Zellen beruht, so regu-
liren, dass die Bewegung eine beschleunigte oder eine mehr constante
ist. In andern Fällen ist aber wirklich die Energie der Cilien auf ver-
schiedenen Strecken der Bahn verschieden gross. Um diese Unter-
schiede zu finden, muss man aber sorgen, dass das Signal am Anfang
jeder Strecke die gleiche Geschwindigkeit z. B. null habe.
Die Erregung ist laut Versuch III in der Nähe der Elektrode nicht
anders, als in einiger Entfernung davon, und diess war immer der
Fall, wenn die Elektroden in der ganzen Breite der Membran aufge-
setzt waren. Da der Querschnitt der intrapolaren Strecke auf allen
Stellen ungeftihr derselbe war, musste dann auch die Dichtigkeit des
Stromes auf allen zwischen den Elektroden gelegenen Puncten unge-
fähr gleich sein. Anders ist es, wenn die Elektroden die Membran
spitz bertthrten. Hier ist dann jedesmal in der Nähe der Elektroden
412
\ Tb. W. EftgelnMiin,
die Erregung am grössten un^ bei sdiwachen SlrOmen findel sie dann
dort allein statt.
Auch die Richtung des constanten Stromes scheint nach
Versuch ÜIohneEinfluss auf die Grösse on'd den Terlauf der Erre»
gung zu sein. In den ersten Versuchen floss der Strom gleichsinnig,
d. h. in derselben Richtung , in welcher sich das Signal bewegte ; in
den Beobachtungen Nr* 144 u. flg. floss er ungleichsinnig. Die Erre-
gung war im letzteren Falle ebensogross und von demselben Verlaufe
wie in den ersteren.
Zum Beweis, dass die Stromesrichtung ohne merklichen Einfluss
ist, diene nodi der folgende Versuch.
Tersich IT. Racbenschteimhaut , in Kochsalz von 0,5 % ausgespannt.
Die Bahn ist t Mm. lang und liegt dicht an der miteren Elektrode, bei gleich-
sinnigem Strome also an der Kathode, bei ungleichslttiigem an der Anode.
— Constanter Strom von 8 hintereinander verbundenen DANiELL*schen Ele-
menten. — Die Schleimhaut hatte vor Beginn des Versuches zwei Stunden
lang gelegen. Die Schnelligkeit des Signals war in dieser Zeit wegen reich-
licher Schleimproduction ziemlich unregelmässig gewesen, hatte im Ganzen
aber ungefähr von 0,1 Mm. auf 0,05 Mm. in der Secunde abgenommen. —
Tabelle IV.
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Schliessung
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Schliessung
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3 h. 3'
Scbliessnng
ungleich-
sinnig
20
•
Trotz der Unregelmässigkeiten, welche die Zahlen in diesem Ver*
suche zeigen und deren Grund in der anhaltenden Schleimproduction
der Membran gesucht werden musste, offenbart sich auch hier wieder,
dass Schliessung des Stromes starker, Oeffnung schwächer erregt. Die
Grosse der Erregung — durch den Schnelligkeitszuwachs gemessen,
welchen die Bewegung des Signals in der ersten Beobachtung nach
der Reizung erhält — ist fast dieselbe bei gleichsinnig gerichtetem wie
bei ungleichsinnigem Strome. Der Unterschied , der zu Gunsten des
gleichsinnigen Stromes zu bestehen scheint, ist so gering, dass er in-
nerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler und der normalen Schwan-
kungen liegt. — Die Grösse der Erregung nimmt bei den späteren Rei-
zungen mehr und mehr ab, während zugleich auch die Energie der
Bewegung ausser der Reizung sinkt. — Während des Geschlossenseins
des Stromes findet in Versuch IV offenbar keine Erregung statt. Die
Zahlen sprechen eher dafür, dass hier die Energie der Cilien durch den
Strom von beständiger Dichte herabgesetzt ward. Doch ist auch diess
Verhältniss nicht constant und erklärt sich in der eben angeführten
Weise.
Es wurden nun auch Versuche angestellt , in welchen der con-
stante Strom rechtwinklig und unter verschiedenen schiefen Winkeln
zur Richtung der Flimmerströmung durch die Ebene der Membran
lieber die Flinnerb6W0goiig. ^ 415
wurde. In «Heo Fttlleo leigle fuitib Schliessungs- und Oeff-
nungserregung ; ein deutlicher Einfluss der Stromrichtung auf Grösse
und Verlauf der Erregung war aber nicht nachzuweisen. Allein die
Grösse und Schnelligkeit der Stromschwankung und der Zustand der
Flimmersellen bestimmte den Erfolg.
Bedeutungsvoll schien die Frage nach der Abhängigkeit der
Wirkung des constanten Stromes von der Stromstärke.
Hierüber wurde an Membranen, die in Serum oder Kochsalz von 0,5 —
1 % l^S^Q) Folgendes ermittelt. Bei jeder Stromstärke findet deutliche
Erregung nur durch die Schliessung und durch die Oeffnung des Stro-
mes statt. Wahrend des Durchfliessens erregt der Strom nicht, falls
er nicht äusserst stark ist. In diesem Falle beruht Beschleunigung der
Bewegung auf Erwärmung der Membran durch den Strom. — Die
Grösse der Erregung nimmt mit der Stromstärke bis zu einem Maxi-
mum zu, dessen Höhe von den gesammten Bedingungen abhängt, un-
ter welchen sich die Flimmerzellen befinden. Das Stadium der latenten
Reizung und das der steigenden Energie ist um so kurzer, das der sin-
kenden Energie um so länger, je stärker der Strom war. In allen
Fällen wirkt die Schliessung stärker als die Oeffnung. Bei keiner
Stromstärke ist ein Einfluss der Stromesrichtung deutlich. Die Erre-
gung findet stets an allen Stellen der intrapolaren Strecke statt.
Um den Einfluss der Stromstärke zu untersuchen, ist es, wie
schon bei Reizung mit einzelnen Inductionssdilägen , nöthig, solche
Membranen auszuwählen, deren Sohleimproduction gering ist. Nur bei
diesen bleibt die Schnelligkeit des Signals längere Zeit constant genug,
um eine Entscheidung darüber zu erlauben, ob kleine Aenderungen
der Schnelligkeit wirklich als Folgen schwacher Reizung aufgetreten
seien. — Femer darf die Energie der Bewegung beim Beginn des Ver-
suchs nicht mehr gross sein. Je näher sich die noch nicht gereizten
Zellen schon am Maximum ihrer Thätigkeit befinden, um so geringer
pflegt die Beschleunigung durch eine bestimmte Stromschwankung
auszufallen. Bei einer Geschwindigkeit unseres Signals von 0,5 bis
4 Mm. in der Secunde wurde weder durch schwache noch durch starke
Ströme Beschleunigung bewirkt. Die Energie darf aber auch nicht zu
weit gesunken sein, weil in diesem Falle schwache Reizung keine Be-
schleunigung mehr hervorbringt. Auch ist dann meist die Geschwin-
digkeit des Signals ziemlich unregelmässig. Am günstigsten scheinen
Membranen zu sein, auf welchen die Geschwindigkeit^ des Signals bei
möglichster Verringerung der Widerstände ungefähr auf 0,1 bis 0,15
416
Tb. W. Eftgelmann,
Mm. in der15eöüode abgetiemmen halle. J^ langsamer dre Abnähme
der Bewegung vor sich gegangen war, um so geeigneter pflegte das
Präparat zu sein. Darum sind Membranen, die in Serum oder Koch-
salz von 0,57o liegen, brauchbarer als solche in Kochsalz von 1%
und darüber. Ich lasse zur Erläuterung des Einflusses der Strom-
stärke einen Versuch folgen.
, Vertadi V. Kachdnschldmhaut in Kochsalz von 0,5 % seit einer Stunde
ausgespannt. Die vom, Signal durchlaufene Bahn war 3 Mm. lang und dicht
an der unteren Elektrode gelegen. Die Elektroden sind in einem Abstände
von I Cent, oben und unten breit auf die Schleimhaut aufgesetzt. Die Rei-
zungsdrähte fahrten Von den Elektroden rückwärts zu einem Schlüssel, einer
Wippe mit eingelegtem Kreuze und von da zur Kette. Diese bestand aus
einem oder mehreren hintereinander verbundenen DANiELL'schen Ele-
menten.
Tabelle V.
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3
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7
8
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1 1 h. 35'
Zeit in Secnnden fftr flen
ersten MilU-
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zweiten
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Schliessung (an-
gleichsinnig)
Oeffntmg
Schliessung
(gleichsinnig)
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6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
6
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
5
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dritten
MUliMien
5
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5
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6
6
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6
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6
34
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—
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6
6
6
35
—
—
—
6
6
6
36
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2
Schliessung
(gleichsinnig)
6
5
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4 4 h. 52'
2
Schliessung
(ungleichsinnig)
6
5,5
5,5
48
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—
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5,5
5
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49
4 4 h. 53'
—
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4 4 h. 65'
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Oeflhung
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6
6
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Schliessung
(gleichsinnig)
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(ungleichsinnig)
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—
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6
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6
6
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—
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—
—
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5,5
5,5
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—
6
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—
6
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—
Oeffnung
6
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(ungleichsinnig)
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—
—
6
6
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—
6
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6
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—
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6
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Schliessung
(ungleichsinnig)
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(gleichsinnig)
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(gleichsinnig]
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(gleichsinnig)
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(ungleichsinnig)
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(gleichsinnig)
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(gleichsinnig]
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Nur wenige Worte Über die Tabelle! Man sieht aus derselben,
dass Verlauf und Grosse der Erregung bei verschiedner Stromstärke,
bei Schliessung und Oeffnung verschieden sind. Es f^lt auf, dass
auch hier in einigen Versuchen, vor Allem nach Oeffnung des ungleich-
sinnig gerichteten starken Stroms eine ansehnliche Verlangsamung der
Bewegung eintritt. Die Ursache hiervon schien in vorübergehend
stärkerer Schleimbildung der Membran zu liegen. Diess machte we-
nigstens die starke Beschleunigung wahrscheinlich , die sofort eintrat,
als der Schleim mit einem Pinsel abgehoben oder mit einer Nadel ober-
halb dupchgeschnitten wurde. Die Beobachtungen, vor denen diess
geschah, sind mit einem Sternchen bezeichnet. Es sind die Beobach-
tungen Nr. 153, 175, 192,
Es Hess sich erwarten, dass ebenso wie %;hliessung und Oeffnung ,
eines constanten Stromes auch Verstärkung und Schwächung
desselben erregend wirken würden , wenn die Stromschwankung nur
gross und steil genug war» Diese Erwartung bestätigte sich vollkom-
men. Wurde die Stromdichte in der Membran plötzlich durch Besei-
tigung einer Nebenschliessung bedeutend vermehrt oder durch Ein-
schalten einer Nebenschliessung plötzlich vermindert, so fand Erregung
statt. Dasselbe geschah, als die Stromschwankung nach der zuerst von
Eckhard gebrauchten, Methode, hervorgebracht ward durch einen durch
Ueber di« FUuuDeiMwfgiDug./
423
den Kreis der constanten Kette geschickten Inductionsschlag. In die-
sen Kreis war die secundäre Spirale eines du Bois'schen Schlitten-
apparates aufgenommen. Durch Schliessen oder Oeffnen des primären
Stromes konnten also im Kreise der constanten Kette rasche Strom-
schwankungen hervorgebracht werden , deren Grösse von dem gegen-
seitigen Abstände der beiden Spiralen abhing. Als Beispiel fUr letz-
teren Fall möge hier ein Versuch folgen.
Versieh VI. Rachenschleimhaut in Kochsalz von 0,5% ausgespannt.
Länge der vom Signal durchlaufnen Bahn 3 Mm. Constanter Strom von
6 hintereinander verbundenen DAMELi/schen Elementen. Der primäre Strom
des Inductionsapparates wird von 2 DAKiELL'schcn Zellen geliefert und mit
Hilfe eines Quecksilbernäpfchens geschlossen und unterbrochen. Der Ab-
stand der beiden Spiralen des Schlittenapparates beträgt 0 Mm. Schliessung
und OefTnung geschehen stets in dem Augenblick, wo das Signal vom An-
fangspunct der Bahn abgeht.
Tabelle VI.
1
Zeit in Seeonden f&r 3 Mm.
Nnmmer der
BfobMhtmig.
Zeit der
BeotacUtttiig.
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Kette.
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Th. W. Eigttauu,
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Zait in SMudea ftr 3 Ha.
bei geiffnater kci geacUo*-
Kdtt*; na«r Kette.
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Schliessungsschlag
Oeffnungsschlag
•
70
61
64
39
—
—
66
Die Schwankung, welche der Schliessungsinductionsschlag im
Kreise der constanten Kette hervorbrachte , zeigte sich , wie man aus
der Tabelle sieht, wirkungslos. Der Oeffnungsschlag macht dagegen
ansehnliche Beschleunigung. Somit ist es zum Zustandekommen der
Erregung nicht nöthig , dass die Stromschwankung von der Dichtig-
keit 0 ausgebe oder auf 0 zurücksinke.
Es würde nun weiter zu untersuchen sein, wie Grüsseund Verlauf
der Erregung durch eine bestimmte Stromschwankung sich ändern
mit der Zeit, während welcher der constante Strom durch die Zellen
flpss, lind ferner, nach welchem Gesetze Grösse und Verlauf der Erre-
gung durcb ejne bestimmte Stromschwankung abhängen von der ab-
soluten Höhe der Ordinalen der Stromdichten , zwischen welchen die
Stromschwankung vor sich geht. Hierüber habe ich noch keine Ver-
suche angestellt.
Nach allem Vorausgegangenen , vor Allem auch nach dem , was
wir über die Wirkung langsam verlaufender Inductionsströme mitge-
theilt h^ben, war es sehr wabrßoheinlicb , dass der constante Strom,
wenn er nicbt plötzlich, sondern allmählich auf seine volle Stärke an-
wächst, nicht erregt, mit andern Worten, dass beim Hineinschlei-
chen in eine starke Kette keine Erregung zu Stande kommen
würde. Da ich nicht im Besitz einer Vorrichtung war , welche erlaubt
hätte, eine lineare Stromschwankung von hinreichender Grösse und
lieber die FlinMefbewegang. 425
Langsamkeit .henustellen, begnttgte ich mieh mit Versuchen, in denen
die Stromstärke rudLweise, aber jedesmal nur um eine massige Grösse
gesteigert wurde. Es zeigte sich, dass, wie hoch auch die Strom-
starke auf diese Weise wachsen mochte, niemals Erregung eu Stande
kam. Man sieht diess aus folgendem Beispiel.
Auf einer in Kochsalzlösung von 0,5% ausgespannten Membran
hatte sich die Geschwindigkeit der Bewegung nach längerem Liegen
bis auf etwa 0,1 Mm. in der Secunde verlangsamt. Der Strom eines
DANiELL'schen Elementes ward durch die Membran geschlossen: die
Bewegung beschleunigte sich nicht. Nun wurden nach und nach im
Laufe von einigen Minuten noch 7 Daniells hintereinander in den Strom-
kreis eingeschaltet. Niemals zeigte sich beim Einschalten eines neuen
Elementes Yerschnellung der Bewegung. Die Geschwindigkeit nahm
vielmehr gleichmassig bis auf ungefähr 0,08 Mm. ab. Nun ging der
Strom von 8 Zellen durch die Membran. Als er geöffnet wurde, be-
schleunigte sich die Bewegung des Signals sogleich auf 0,4 4 Mm., nahm
wieder ab bis auf 0,09 Mm. und stieg dann bei neuem plötzlichem
Schliessen der 8gliedrigen Kette rasch auf 0, 4 6 Mm. Das Präparat war
also bei^ diesem Versuche anfangs ohne Erregung in die starke Kette
eingeschlichen. — Es ist nicht zu bezweifeln, dass Versuche, in denen
die- Stromstarke continuirlich , nicht wie hier ruckweise wächst, da»*
selbe Resultat ergeben werden.
Fassen wir alle vorstehenden Versuche zusammen, so ergiebt sich
als allgemeines Gesetz für die Erregung der Flimmerzellen durch den
elektrischen Strom der Satz : jede grössere positive oder ne-
gative Schwankung der Stromdichte wirkt erregend,
wenn sie sehr rasch verläuft So lange die Stromdichte gleich
bleibt, findet, ausser durch Wärmeentwickelung, keine Erregung statt.
Dieser letztere Satz ist jedoch durch unsere Versuche nicht bewiesen,
sondern nur wahrscheinlich gemacht. Wären die Methoden zur Mes-
sung der Energie der Flimmerbewegung feiner, wären ihre Fehler-
quellen leichter zu beseitigen, so würde es vielleicht möglich sein, eine
schwache Erregung auch durch den Strom von beständiger Dichte
nachzuweisen, und dann wllrde das allgemeine Gesetz der elektrischen
Erregung fttr die Flimmerbewegung genau dasselbe sein, wie für Ner-
ven und Muskeln. — Es muss nochmals hervorgehoben werden, dass
dieses Gesetz nur für Flimmersellen gilt, deren Thätigkeit sich in indif-
ferenten Flüssigkeiten oder in etwas zu concentrirtcn Kochsalzlösungen
verlangsamt hat.
426 Th. W, fingeliMtia,
Nachdem wir den Einfluss der eintelnen Strofusch wank fing , also
des elekiriacben Reizelements, betrachtet haben, untersuchen w4r wei-
ter, was geschieht, wenn mehrere Stromschwankungen nach einander
die Flimmerzellen treffen. Die Versuche, welche ich hierüber ange-
stellt habe, ergeben, dass die Wirkungen aufeinanderfolgen-
der Reize sich verstärken. Der Verlauf und die Grösse der Ge-
sammterregung durdtk mehrere Reize hängen ab von der Stärke und
Zahl der Partialreize, und von der Schnelligkeit, mit dfer
diese sich folgen. Bei gleicher Stärke der Partialreize wächst, wie es
scheint, die Err^ung im Allgemeinen um so steiler an, und steigt um
so höher, je schneller die Rei2e aufeinander folgen. Man kann diess
bei Versuchen mit Inductionsschlägen von gleicher Stärke und gleichem
Verlaufe beobachten. Entweder reizt man mit Oeffnungsschlägen und
blendet die Schliessungsschläge ab, o(fer umgekehrt, oder man tetani-
sirt mit Anwendung der HELMHOLTZ^schen Modification. Je schneller
im letzteren Falle der unterbrechende Hammer schwingt, desto rascher
wächst die Geschwindigkeit des Signals, und desto frtther wird im All-
gemeinen das Maximum erreicht. Dasselbe zeigt sich natürlich auch
bei Tetani^iren ohne HKiHHOLTz'sche Modification , wo sich die schwa-
chen Wirkungen der Schliessungsschläge und die starken der Oeff-
nuagssehläge summiren.
Auf der Summation der Reize beruht auch die schon von Kistu-
KowsKT beobachtete Tfaatsache, dass Beschleunigung der Bewegung
eintritt, wenn ein constanter Strom, der die Membran durchfliesst,
durch Umlegen einer Wippe plötzlich unterbrochen, und gleich darauf
in entgegengesetzter Richtung wieder geschlossen wird. Hier summi-
ren sich die schwächere Oeffnungs- und die stärkere Schliessungsrei-
zung. Das Umkehren des Stromes ist dabei nicht wesentlich, denn
Beschleunigung tritt auch ein, wenn man den Strom in jer gleichen
Richtung wie zuvor wieder schliesst. Doch war in meinen Versuchen
die Beschleunigung in der That grösser, wenn der Strom abwechselnd
in der einen und der andern, als wenn er immer wieder in derselben
Richtung durch die Membran geschickt \^iirde. Diess zeigt z. B. fol-
gender Versuch.
Versvek ¥11. Rachenschleimhaut in Kochsalz von 0,8%. Bahnlänge
A Mm. Die Membran war seit einer Stande präparirt und in dieser Zeit
mehrmals minutenlang mit Inductionsschlägen behandelt worden. Die mitt-
lere Geschwindigkeit der Bewegung war noch dieselbe wie unmitlelhar nach
der PrUparalion. — Constanter Strom von acht hintereinander verbundenen
DANiBLL'schen Elementen. In den Kreis ist eine Wippe zur Stromwendung
üeber die Fliniierbewegnug. ' ' 427
eingeschaltet. IHe Zeit, welche vom Signal gebraucht wird, ist in Secan-
den angegebctt. UmlegeD der Wippe , sowie Unterbrechen und Schlieasen
,des Stromes in gleicher Richtung geschehen immer so rasch wie möglich«
Tabelle Vn.
Vor der Reizung. 2 L S^
30. 3f. 33. 34. 35. 35. 35. 33. 33. 35.
Gonstanter Strom, ^eichnnnfg. S k W.
34. 30. 30. 30. 29. t9. 30. 3f. 31. 3t. 3S. 39. 39. 3t.
31. 30. 39. 3i. 3i. 33. 34. 33. 34.
Wippe umgelegt. 2 k 22^
98. 31. 31. 33. 33. 34. 34. 34. 34. 34. 35.
Wippe umgelegt. 2 k M '.
99. 99. 39. 34. 36. 38. 35. 35. 36.
Strom unterbrochen und sogleich wieder in derselben Richtung ge-
schlossen.
39. 35. 38. 40. 49. 45. 48.
Strom unterbrochen und In gleldier Richtimg wieder geschlossen.
45. 48.
Wippe umgelegt.
98. 46. 45. 45.
Wippe umgelegt.
96. 40. 48. 50. 55.
Strom zweimal rasch hintereinander unterbrochen, und in gleicher
Richtung wieder geschlossen.
50. 55.
Strom dreimal rasch hintereinander unterbrochen und geschlossen.
48. 60. 68.
Strom ganz geöffnet.
65. 60. 75.
Strom gleichsinnig, geschlossen.
58.
Wippe in jeder Secunde zweimal umgelegt.
33. 33. 30. 33.
Strom ganz geöffnet.
48. 45. 65.
Die Tha^tsache, von welcher die vorstehende Tabelle Rechenschaft
giebt, spricht für das Entstehen elektrotoniscber Erregbar-
keitsänderungen in den Zellen. Nimmt man an, dass jede ein-
zelne Flimmerzelle da, wo der Strom in sie eintritt, in einen Zustand
herabgesetzter Errecbartnii ^4nelektrotonu8), wo der Strom aus-
tritt, ir -' Erregbarkeit (Katolektrotonus)
428 ' Th. W. Engelfflann,
versetzt wird ^j, und nimmt man weiter an, dass die Schliessungsei
gung auf dem Entstehen von Katelektrotonus beruht, dann ist es —
aus denselben Gründen wie bei Muskeln und Nerven — vollkommen
begreiflich , dass eine stärkere Erregung zu Stande kommt wenn un-
mittelbar nach Oefifhung der Kette der Strom in entgegengesetzter
Richtung , als wenn er in derselben Richtung wie zuvor wieder ge-
schlossen wird. Hiermit würde sich eine neue Analogie zwischen Flim—
merzeilen und anderen reizbaren Elementen , vor Allem mit MuskeTü'
und Nerven ergeben ^) . Die Frage ist wichtig und fordert zu näherer
Untersuchung auf.
Durch Summation kann die Erregung selbst dann noch bedeutend
werden, wenn die Partialreize einzeln oder in kleiner Anzahl zu schwach
sind^ um merkliche Beschleunigung hervorzurufen. Doch darf man
nicht glauben, dass die Schnelligkeit der Bewegung auf ihr Maximum
steigen müsse, wenn in letzterem Falle nur die Reize rasch und lange
genug aufeinander folgen. Wenige starke Reize bringen auf derselben
Membran oft eine viel bedeutendere Beschleunigung zu Stande, ate un-
gemein rasch aufeinander folgende, sehr schwache Reize. Man sieht
diess z. B. an folgendem Versuch , aus welchem zugleich der Einfluss
erhellt, welchen die Schnelligkeit, mit der die Reize sich folgen, auf
die Erregung ausübt.
Tenich Till. Rachenschleimhaut in Serum. Die Membran lag seit drei
Stunden ausgespannt und war einige Zeit vor dem Versuch minutenlang
tetanisirt worden. Die mittlere Schnelligkeit der Bewegung halte von 0,11
Mm. auf 0,06 Mm. abgenommen. LSnge der Bahn 4 Mm. — Reizung ge-
schieht durch abwechselnd gerichtete InductionsschlSge eines Schlittenappa-
rates ohne HsLMHOLTz'sche Modification, einmal bei langsamem Gang (etwa
50 Schwingungen] und dann bei raschem Gang des Unterbrechers (etwa
300 Schwingungen in der Secundej. Primärer Strom von 4 Daniells hinter-
einander. Rollenabstand bis zur Beobachtung Nr. 22 7 Centim., von da an
0 Centim. Die Reizung begann jedesmal in dem Moment, wo das Signal
vom Anfangspunct der Bahn abging und wurde so lange fortgesetzt, bis die
ganze Bahnstrecke durchlaufen war.
4) Natürlich würde auch die Rolle der Pole die umgekehrte sein können ; doch
ist diess weniger wahrscheinlich.
2) Vergl. das zweite Heft der Jenaischen Zeitschrift. Bd. IV : Heber Reizung
der Muskeifäser durch den constanten Strom.
Ueber 4i« FluuMiliewtgaiig. /•
429
Tabell
e vin.
Zeit in Seeiud
beiUuigra-
len
iMi nschein
1^
1^
Zeit in Beenndea
iMi Umir ^i »Mliem
II
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Bcix.
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des
Hamnen.
€(Mig des
Hanmen.
ohne
Beis.
mem Gang
des .
Hammers.
Oaagdes
Hammers.
1
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15
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.^
2
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—
16
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—
—
3
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—
17
—
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4
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18
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—
60
5
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19
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—
—
6
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55
7
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31
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S
—
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23
25
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24
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^
11
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—
—
25
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—
— -
12
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—
26
445
_
13.
75
—
27
—
25
U
•
50
28
—
35
—
Man sieht hier deoilioh, dass bei schnellerem Gang des Hammers
die mittlere Geschwindigkeit des Signals grösser . als bei langsamem
war, und femer, dass stärkere Reize (Nr. 23 u. flg.) selbst bei lang-
samem Gang des Hammers die mittlere Geschwindigkeit bedeutend
mehr steigerten, als schwache bei schnellem Gang des Unterbrechers.
Dieser Unterschied der mittleren Geschwindigkeit bei verschieden star-
ken Reizen könnte auf mehrere Weisen zu Stande gekommen sein.
Einmal könnte die Geschwindigkeit in beiden Fallen zwar dasselbe
Maximum, aber bei Reizung mit schwachen viel spater als bei Reisung
mit starken Schlagen erreicht haben. Zweitens aber könnte der Unter-
schied darauf beruhen, dass das Maximum, welches die Beschleunigung
erreichte, bei Summirung starker Reize höher lag , als bei Summirung
schwacher. Letzteres, was aus der Tabelle allerdings nicht mit Noth-
wendigkeit folgt, war hier der Fall und schon für das blosse Auge
deutlich zu bemerken. Der Unterschied der mittleren Geschwindigkeit
wurde aber noch vergrössert durch die grössere Schnelligkeit, mit der
bei Reizung durch starke Schlage das Maximum erreicht ward. ]
Schickt man sehr starke Inductionsschlage, z. B. die
eines grossen RüHMKOEPp'schen Apparates, schnell nacheinander durch
di^ Membran, so wird die Schnelligkeit, mit der sich das Signal be-
wegt, nicht höher gesteigert als durch einen einzelnen Inductionsschlag
X
4S0
Th. W. EmdüMiii,
von derselben Stärke, wohl aber wird die Dauer der Erregung grosser.
Setzt man die Reizung längere Zeit fort, so lässt allmählich die Bewe-
gung nach, doch ist es auffallend) wie lange man die Flimmerzellen mit
starken Induotionsschlägen tetanisiren kann, ohne dass die Schnellig-
keit des Signals abnimmt Man sieht diess aus folgendem Versuch.
Versieh U. Rachenschleimhaut in Kochsalz von 0,5%. — PrimSrer
Strom von 8 Daniells hintereinander. Rollenabsland 0 Mm. Der unter-
brechende Hammer macht etwa 200 Schwingungen in der Seconde.
Tabelle IX.
Zeit in Seeanden
Zeit der
mit Beixung
Beobachtung.
ohne HsLMHOLTz'sche
mit HsLMBOLTz'eclier
olinaBtiz.
Modification.
Hodiflostioa.
4 h. 15'
32.
30. 34.
•_
..
32.
31. S9.
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——
—X
30.
28. 29.
—
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1 h. 22'
17. U. 15.
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15. 14. 15.
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16. 14. 45.
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U«bei4ieFliiinwthewtgniig. /-
431
\
Zeti in S«eiiiiden
Z«it der
mit Reizung
Beobachtung.
ohne HxLMBOLTz*8che
mit HiuiHOLTz'scher
ohne Reix.
Hodificatlon.
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26. 26. 26.
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2 h. 3'
28. 30. 30.
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i>9. oO. v(5.
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33. 35.
^—
— —
£eim Xetanisiren mit so starken Schlttgen, wie im vorstehenden
Versuch, findet immer aUoh Erwärmung der Membrdn statt. Der
Antheil, den diese Erwämiung an der BesobleunigaDg der Bewegung
hat, Ifisst sich nicht genau bestimmen , doch musste er sehr klein sein«
Die Schnelligkeit des Signals änderte sich nämlich nichts als ein kllhler
Luftstrom längere Zeit über das Präparat geführt wurde. Auch als ich
in der Gaskammer unter dem Mikroskop mit Inductionsschlägen reizte,
konnte ich keine Abnahme der besdüeunigten Bewegung bemerken,
wenn ein kttUer Luftstrom längere 2eit über das Präparat geleitet
wurd. Nur wenn die Schläge sehr stark waren , und sehr rasch auf-
einander folgten, machte sich nach einiger Zeit Verlangsamung bemerke
bar* Diese trat aber ebenso firtth ein, Wenn ein JLalter Luftstrom
durch die Kammer ging, als wenn diess nicht der Fall war. Die
beobachteten Yeränderuogen der Bewegung waren also der Elektrici«^
tat direct , und nicht den thermisohen Wirkungen derselben zuzu-
sdireihen.
Die Verlangsamung der Bewegung, welche durch elek«-
trischeSohläge herbeigeführt wird, beruht meist auf gleichmässi^
ger Abnahme der Frequenz und der Grösse der Schwingungen. Zu**
weilen bleiben die Bewegungen noch ziemlich longa wellenförmig , oft
aber auch , besonders wenn die Uatersncbungaflüssigkeit etwas ooa-^
oentrirter ist, werden sie kleiner und hakenftemig. Im Aussehen der
Zellen ändert sich wenig oder nichts. Setzt man die Beisung mit star«*
ken Schlägen nodi länger fort^ so tritt endlich Stillstand ein. ' Schon
mit einem einzehien kräftigen Induetionssohlag ist es möglich, die Be-
wegung EU sistiren. Lie(gen die Zellen in indiflbrenten Lösungen , so
werden sie dabei etwas trübe , di9 Kerne meist deutlicfa, dunkelran«*
digi und die GUien stehen steif) entweder sehittg nach vom geneigt«*
432 Th. W. EügetaiBfi,
oder senkrecht auf der Oßbrfläche der dann oft kugelförmig gewor-
denen Zelle.
Hat sich die Flimmerbewegung durch den Einfluss elektrischer
Schläge in indifferenten Flüssigkeiten verlangsamt , so erholt sie sich
nicht wieder, wenn man die Zellen ruhig liegen lässt. Diess gilt we-
nigstens für solche Flimmerzellen , die aus dem lebenden Organismus
entfernt sind. Am lebenden Frosch habe ich keine Versuebe <Aer
etwaige Wiederherstellung der Bewegung vorgenommen.
Zuweilen gelang es, die Bewegung, wenn sie durch elektrische
Schläge bloss verlangsamt war, durch Tetanisiren mit noch stärkeren
Schlägen vorübergehend zu beschleunigen. Rasch folgte dann aber
Yerlangsamung und endlich Stillstand. Ob es möglich sei, durch den
Constanten Strom die erlahmte oder erloschene Bewegung wieder an-
zufachen, habe ich nicht untersucht. — Die Bewegung erwachte nie-
mals wieder, wenn sie durch elektrische Schläge schon völlig zur Ruhe
gebracht war. Es ist ganz gleicbgiltig , mit welchen Mitteln man die
Wiederbelebung versucht: Wasser, Salzlösungen, Alkalien, Säuren,
Aether, Wärme, alle helfen nichts.
Die bisher mitgetheilten Versuche bezogen sich auf Flimmerzellen,
die von möglichst indifferenten Flüssigkeiten bespült waren,
also sich unter verhältnissmässig normalen Bedingungen befanden. Es
war von Interesse, zu untersudien, wie elektrische Stromschwankun-
gen auf Flimmerzellen wirken, deren Bewegungen sich unter dem Ein-
fluss anderer Agentien verlangsamt haben. Was ich darüber ermittelt
habe, ist Folgendes.
Behandelt man Flimmerzellen in der Gaskammer solange mit rei-
nem Wasser, bis 'die Bewegung unter Quellung der Zellen verlang-
samt ist, und reizt man nun elektrisch, sei es durch Schliessung eines
Constanten Stromes oder durch einen oder mehrere kräftige In-
ductionsschläge, so tritt, ohne vorausgegangene Beschleuni-
gung, rasch Stillstand ein, oder es verlangsamt sich wenigstens die
Bewegung plötzlich stärker. Man beobachtet meist im Beginn der Rei-
zung eine plötzliche Zunahme der Quellung. Die Zellen werden dann
etwas trübe und die Kerne erscheinen als grosse, pralle Blasen mit
grossem, rundem Kemkörperchen. Dauert die Reizung nur kurze Zeit,
so dass sie nicht bis zum völligen Stillstand der Gilien führte, so kann
sich die Bewegung nach dem Aufhören der Reizung wieder beschleu-
nigen, um später dann dem gewöhnlichen Wasserstillstande Platz zu
•machen. Man kann die Verlangsamung durch elektrische Reizung audi
Oeber die FtinnerbewogiiDg.^ 433
sehr deutlich an der ausgespannten Racb/Mischleimhaüt mit Hilfe des
Signals beobachten. Wäscht man die Membran längere Zeit mit destil-
Urtem Wasser ab und schickt nun einen starken constanten Strom
durch sie, so tritt unmittelbar nach der Schliessung eine vorüberge-
h^ide Verlangsamung eis. So verlangsamte sich beispielsweise die
Bewegung durch Sohliessen eines constanten Stromes von 8 hinter-
einander verbundenen DA.iaiLL'sohen Elementen, von 0,42 Mm. auf
QyAO MUk in der Secunde. Während der Strom geschlossen blieb, stieg
die Geschwindigkeit allmählich wieder auf 0,4 und 0,42 Mm. Noch
auffallender ist die Verlangsamung beim Tetanisiren mit Inductions-
schlagen, doch kann hier die Erwärmung eine Rolle spielen.
Ganz ähnlich wie auf die durch Wasser verlangsamte Bewegung
wirkt elektrische Reizung , wenn man die Thätigkeit der Gilien zuvor
durch Ammoniakdämpfe in indifferenten Lösungen herabgesetzt
hat: unter plötzlicher Zunahme der Quellung und ohne voraus-
gegangene Beschleunigung plötzliche Zunahmeder Verlang-
sam ung, bei stärkerer, oder länger dauernder Reizung bis zum Still-
stand führend. Nach Aufhören der Reizung kann die Bewegung sich vor-
übergehend wieder erholen und nach Neutralisation des Alkali , durch
Essigsäure z. B., sogar wieder eine ansehnliche Schnelligkeit erreichen.
Ebensowenig wie einen Ammoniakstillstand vermag elektrische
Reizung allein einen Säurestillstand zu beseitigen . Hiervon habe
ich mich öfter an Zellen überzeugt, die in Kochsalz von 0,5% ^^ cler
Gaskammer lagen , und durch Essigsäuredämpfe vorsichtig zur Ruhe
gebracht waren. — Dasselbe gilt für Zellen, die durch Aetber- oder
Chloroform dämpfe narcotisirt sind, und für solche, die sich in der
Wärmestarre befinden. Somit äussert sich die erregende Wirkung der
Elektricität nur bei Zellen, die sich in indifferenten Flüssigkeiten, wie
Serum, oder in etwas zu concentrirten Lösungen neutrtiler Stoffe, wie
Kochsalz, befinden. Ueberschreitet die Goncentration der Kochsalz-
lösung 2,5%, so versagt auch die Elektricität ihren belebenden Ein-
fluss. — Die Bedingungen, unter denen elektrische Stromschwankun-
gen erregend wirken, sind, wie man sieht, fast genau dieselben, unter
denen auch höhere Wärmegrade die Bewegung beschleunigen.
Zum Schluss sei noch bemerkt, dass die WiriLung der Elektricität
sich ebensogut an vollkommen isolirten, frei schwimmenden Flim-
merzeUen äussert, wie an solchen, die noch im Zusammenhang auf der
Schleimhaut sitzen.
Eine Fortleitung der Erregung in der unversehrten Schleim-
haut lässt sich durch das Experiment nicht nachweisen. Zwar siebt
man bei Anwendung starker Ströme oft, dass die Bewegung noch in
Bd. IV. 3. 98
434 Tfa. W. Engdmmn,
ziemlich grosser Entfernung von der intrapolaren Strecke sidi
schleunigt. Diese Beschleunigung wird aber nachweisbar immer direct
durch Stromzweige hervorgebracht. Sie nimmt an Glosse mit der Bot*
fernung von der intrapolaren Strecke ab und bleibt bestehen, wenn
man den physiologischen Zusammenhang der betreffenden Schleim^
hautstelle mit der intrapolaren Strecke durch Schneiden oder Qnetsehen
aufhebt. Bei schwächeren Reizen und bei kurzer intrapolarer Strecke
beschränkt sidi die Erregung auf die letztere. Auch von chemioehon
Agentien , wie Säuren und Alkalien , habe ich , was hier beiläufig be-
merkt sei, niemals eine andere als rein locale Wirkung selbst auf voll—
kommen intacten noch im lebenden Thier befindlichen Sdileimhäuten
gesehen. Doch sprechen einige Erscheinungen, auf die wir später noch
zurückkommen werden, dafür, dass vnrklidi ein Vorgang , analog der
Erregung, auf unversehrten Schleimhäuten von Zelle zu Zelle sich fort-
pflanzen könne. —
B. Tersuehe an FlimmerzeUen wirbelloser Thlere«
I. Einfluss des Wassers.
Die Flimmerbewegung der Süsswassermollusken, i. B. der
Kiemen von Anodonta, die der Fühler von Planorbis, Paludina u. a.,
wird durch Wasser viel weniger intensiv als die Flimmerbewegung der
Wirbeltbiere beeinfhisst. In Brunnen- und Flusswasser können die
Gilien viele Stunden, ja Tage lang thätig bleiben. Im Laufe dieser Zeit
losen sich die Zellen nicht selten von ihrer Unterlage ab, isoliren sich
vollkommen, und verfallen dann unter Quellung und theilweiser Go-
agulation ihres Protoplasma allmählich der Verwesung. Auch auf den
isolirten und kuglig gewordenen Zellen schwingen die Haare oft noch
Stunden lang , doch lässt die Stärke der Bewegung auf den isolirten
Zellen bald nach. In destillirtem Wasser erloschen die Bewegungen
früher, doch ebenfalls erst nach Stunden. Verdrängen von Fluas-- oder
Sumpfwasser durch destillirtes Wasser bevdrkt oft eine vorüber-
gehende geringe Beschleunigung und VerstäriLung der Bewegung. In
viel stärkerem Maasse zeigt aber das Wasser eine belebende Wirkung,
wenn die Zellen 'durch Salzlosungen von massiger Conoentration
(Kochsalz von 0,25% bis 4% z. B.) ruhig gemacht worden waren.
Stillstand durch Säuren konnte durch Auswaschen mit Wassc^ nieht
Debet 4ie Fliamerbewegnng. ' 435
«lilgehobeo werden, Wol aber der Ammoniaksttllsiandi wenn er
vorsichtig herbeigeführt war.
Die ia deeiilUrtem Wataer. zur Ruhe gekommenen Flimmertiaare
von AnodoOla, Paludina u. a. konnte ich durch Ammoniak, durch Säu-
ren, Aether, Wärme niefat wiederbeleben. Auch mit schwächeren
EaehaaLiU)attngeD girisiig diess nur selten und dann nur sehr vorüber-
gebetd.
Ganz anders ist der Einfluss des Wassers auf die Flimmerbewe-
gung der in Salzwasser lebenden Mollusken. Hier dienten als Un-
tersuchungsobject die zwei Arien Flimmerepithel von den Kiemen der
Auster. Setzt man zu einem in lebhafter Bewegung befindlichen und
in Salzwasser gelegenen Präparat reines Wasser, oder Flusswasser,
so erlischt die Bewegung in wenigen Secunden, während sogleich die
Flimmerhaare blitzschnell aufquellen und unsichtbar werden. Durch
wasserentziehende Mittel, z. B. Kochsalzlösungen von 2% bis 3%,
gelingt es .nicht, die Wimpern wieder zur Ansicht «zu bringen ; an ihrer
Stelle erscheint dann ein feines unförmliches Gerinnsel. Ebensowenig
vermögen andere Mittel die Wimpern wieder herzustellen.
Aehnlich wie reines Wasser, doch im Allgemeinen langsamer, wir-
ken auch sehr verdünnte Salzlösungen, wie Kochsalz von 0,5% und
darunter. Günstig wirkt Wasser wie es scheint nur dann, wenn stär-
kere Salzlösungen auf die Flimmerzellen eingewirkt haben.
IT. Einfluss von Salzlösungen.
Schon sehr verdünnte Kochsahüösungen bewirken bei den Flini-
morhaaren der Sttsswaasermollusken Stillstand; Lösungen von
0,S57o bis 0,5% thun diess schon innerhalb einiger Minuten, höhere
GoBcoairatMOsgrade noch viel schneller. Die Schwingungen werden
im Laufe der Verlangsamung sehr klein, fast immer hakenförmig. Die
GÜien und Zellenkörper schrumpfen dabei deutlich zusammen, werden
gläncender, stärker liohibrechend. Verdünnen mit Wasser oder mit
äosserei schwachen Salzlösungen kann die Bewegungen wieder er-
weeken , indem zugleich die Zellen und Haare ihr normales Ansehen
iiahesu oder völlig wiedergewinnen. Doch darf die erste Salzlösung
nifibt m eoncentriri gewesen sein , weil sonst beim Verdünnen mit
Waater die Flinmerhaare leicht zerstört^ scheinbar aufgelöst werden.
Nur ein in äusserst verdünnter Kochsalzlösung eingetretener Stillstand
kaBQ ausser durch Wasser auch durch Ammoniak, durch Aether,
Alkohol, Warme aufgehoben werden. Säuren, auch in noch so
kleiner Menge, erwiesen sich fast stets erfolglos. Nur in vereinzelten
SS*
436 Th. W. EBgefaHBii,
FsUeD zeigte sich bei Durdißlbning von wenig Kohlensaure- oder
Esslgsäuredämpfen hier und da eine sehr schwache Beschleu-
nigung, selbst ein Wiedererwachen eipzelner Cilien zu kleinen lang-
samen Bewegungen. Diesem folgte aber immer sehr schnell Still-
stand.
Bei der Auster bedarf es starker KochsaldUtangen , um die Be-
wegung zu sistiren. In Lösungen von 4,5% ^i^ 3% 8^^^^ ^^ Flim-
merung sehr gut weiter. Höhere Goncentrationsgrade bewifken.Stilk-
stand unter Schrumpfung. Dieser kann durch vorsichtiges Verdünnen
mit Wasser wieder aufgehoben werden; aber immer scheinen die
Wimpern nach dem Kochsalzstillstande leichter durch Wasser zerstört
zu werden als vorher.
Bei schwächeren Graden des Kochsalzstillstandes erweisen sich
Ammoniak, Aether, Wärme, elektrische Stromschw^an —
kungen meist als Belebungsmittel. Durch Säuren wird man
niemals eine auffallende Beschleunigung oder ein Wiedererwachen leb-
hafter Bewegungen erzielen können.
in. Einfluss von Säuren.
Der belebende Einfluss, welchen, wie wir fanden, alle Säuren auf
die Flimmerbewegung der Wirbelthierschleimhäute ausüben, wird bei
den Flimmerzellen der Süss- und Seewassermollusken nur in wenigen
Fallen gefunden. Wie wir sahen, lösten Säuredämpfe bei jenen die
Flimmerruhe, wenn sie durch Steigerung der Concentration des um-
hüllenden Mediums, durch Einwirkung reinen Wassers oder durch
Alkalien herbeigeführt war. Die Flimmerzellen der Mollusken werden
dagegen nur dann durch Säuren zu energischer Thätigkeit erweckt,
wenn sie vorher durch Beimischung von Alkalien zu dem sie um-
spülenden Wasser gelähmt waren.
Das Wiedererwecken der Zeihen durch Säuren aus dem Alkali-
stillstände lässt sich an allen Flimmerzellen der verschiedensten Wir-
bellosen mit grösster Leichtigkeit constatiren. Man benutzt natürlich
die Gaskammer. Erst leitet man schwach mit Ammoniak oder kohlen-
saurem Ammoniak geschwängerte Luft über das Präparat, das sich am
besten in mögßchst indifTerenter Flüssigkeit, also Fluss- oder Seewas-
ser, befindet. Sowie die Bewegung dem völligen Stillstände nahe ist
oder eben still steht, was je nach dem Ammoniakgehalte der durch die
'Kammer geführten Luft in Secunden oder Minuten zu geschehen pfl^t|
ässt man schwach mit Säuredämpfen (Essigsäure, Salzsäure) beladene
Luft durch die Kammer streichen. Es dauert nur wenige AugenMicke
üeber die FltmmerbewegQng. ^ 437
und die Bewegung ist wieder in vollem Gange. Sie erreicht bei vor-
sicbfigem Experimentiren — welches darin besteht, dass man nur mit
eben ausreichenden Mengen von »Alkali und Säure arbeitet — die nor-
male Höhe wieder. Waren die Zellen vorher unter dem Einfluss des
Ammoniak etwas aufgequollen und blasser geworden , so nehmen sie
nun unter Einwirkung der Säure ihr normales Ansehen wieder an.
Unterbricht man, sobald diess erreicht ist, die Säurezufuhr und ver-
drttftgt dns Gasgemisch in der Kammer durch reine atmosphärische
Luft , sa bleibt die Bewegung fortbestehen , als ob sie niemals unter-
brochen gewesen wäre. Nur ein geringer SäureUberschuss aber ge-
nügt, um unter plötzlicher Trübung der Zellen die Bewegung wieder
zu sistiren. Auch die Flimmerhaare selbst, in normalem Zustande voll-
kommen glashell und durchsichtig, werden dann fast momentan getrübt
und nehmen, wie die Zellen , eine bräunliche Farbe an. Die Trübung
in den Zellen ist ganz diffus , gröbere Niederschläge sind nicht zu er-
kennen, doch werden die Zellenleiber oft fast vollkommen undurch-
scheinend und (bei durchfallendem Licht) dunkelbraun. Man sieht
desshalb in vielen Fällen die Kerne nicht. Diese Veränderungen in den
Zellen der Mollusken, welche der Säurestillstand u. a. mit dem Aether-
und Ghloroformstillstande gemein hat, verschwinden wieder, sobald
die Säure durch Ammoniakdämpfe neutralisirt wird, und in der Regel
erwacht dann auch die Bewegung wieder. Wie bei den Flimmerzellen
des Frosches, ist es auch hier bei einiger Vorsicht möglich, Säure-* und
Alkalistillstand vielmal nacheinander wechseln zu lassen. Auch mit
den Opalinen aus dem Darmcanale des Frosches gelingt diess.
Wie durch Essigsäure und Salzsäure, kann man den Ammoniak-
stillstand auch durch Kohlensäure beseitigen. Und zwar gelingt
diess so leicht und an allen Flimmerzellen aller möglichen Wirbellosen,
dass ich nicht begreife, wie Kühne der Versuch niemals glüdien konnte.
Man braucht gar nicht mit besonderer Vorsicht zu verfahren ; ein voll-
kommener Stillstand , durch Ammoniak oder kohlensaures Ammoniak
erzeugt, löst sich in wenigen Secunden, wenn ein Strom reiner Koh-
lensäure über das Präparat streicht. Oft genügt schon die Exspira-
tionsluft zum Wiedererwecken. — Auf der anderen Seite können die
Zellen der Mollusken Minuten lang in einer Atmosphäre von reiner
Kohlensäure stillstehen und bei Durchsaugen von atmosphärischer
Luft wiedererwachen. Hier wie bei den Zellen derWirbelthiere bedarf
es keines Alkali, um den Kohlensäurestillstand aufzuheben. Beim Durch-
führen von gewöhnlicher Luft, selbst von reinem Wasserstoff, ver-
schwindet die mit dem Säurestillstande einhergehende Trübung in den
Zellen und das Wimperspiel beginnt wieder. Von einem spedfisoh
433 Th. W. Engelmaiin,
schädlichen Einfluss der KoUensfture, den Kühne ihr zuschreibt , kaim
also keine Rede sein. Nur bei lange fortgesetztem Durchführen fQ^ner
Kohlensäure oder stark mit Kohlensäure beladener Luft kann es, unter
zunehmender Trübung der Zellen , so weit kommen , dass die Bewe*-
gung beim Durchsaugen von Luft , selbst wenn dasselbe lange forCge-*
setzt wird, nicht wiederkehrt.' Auch die Trübung d6r Zellen verschwin—
det dann nicht mehr. Dann kann man aber meist noch durch Zufuhr
VOR etwas Ammoniak den Stillstand aufheben und zugleich die Zrtlen
wieder durchsichtig macheli.
Während somit die Wirkung der Säuren beim Alkalistillstande für
die Flimmerzellen der Wirbellosen dieselbe ist, wie für die der Wir*
belthierschleimhäute , zeigt sich ein beträchtlicher Unterschied , wenn
man die Zellen durch Steigerung der Coneentration des Me-
diums zur Ruhe gebracht hat und nun Säuren einwiiiLen lässt. Weit
entfernt, wie bei den Flimmerzellen des Frosches die Bewegung wie--
der zu erwecken , scheint es auf den ersten Blick , dass Säuredämpfe
die Bewegung der Flimmerzellen von Mollusken, wenn dieselbe in
etwas zu concentrirter Kochsalzlösung nachgelassen hatte,
nur noch schneller zur völligen Ruhe bringen. In der^at, legi man
Zellen von den Kiemen der Anodonta, oder anderer SttsswassermoUus-*
ken in Kochsalzlösung von 0,5 bis 1% und wartet man, bis die Be-*
wegungen dem Stillstande nahe sind , dann sieht man sofort überall
Ruhe eintreten, wenn ein mit etwas Essigsäure- oder Salzsäuredampf
versetzter Luftstrom über das Präparat geleitet wird. Die Zellen wer-*
den dabei trübe , die Gilien steif und ebenfalls dunkler. Auch wenn
man der Luft nur sehr wenig Säuredampf beimischt, und die Zellen
durch langsame und möglichst geringe Steigerung der Coneentration
gelähmt hat, gelingt es doch nie, das Wimperspiel zu einer merklidien
Lebhaftigkeit anzuregen, geschweige denn es zu dem hohen Grade der
Energie zu erwedien , wie diess bei den Flimmerzellen von Wirbd-
thierschleimhäuten der Fall ist. Aber es ist nicht zu verkennen, dass
bei so versichtigem Experimentiren oft eine Beschleunigung die erste
Wirkung der Säurezufuhr ist. Ich habe mich hiervon bei Süsswasser-
molittsken wie bei der Auster (wo man natürlich stäikere Sahlösungen,
4 — 5 7o) ^^ Medium gebrauchen muss) öfter überzeugt. Man muss
zu solchen Beobachtungen Zellen aussuchen, deren Gilien nur noch
eine oder wenige Schwingungen in der Seounde machen, und deren
Sehwingungsebene parallel der Ebene des Objectiisches liegt. Nur
dann kann man nämlich ausser über Aenderungen der Frequenz auch
über kleinere Aenderungen der Ezcursionsweite genau unterrichtet
werden. Man zähh nun eine Zeit lang die Schwingungen und führt,
Deber die Fynnerbewegiing. ^ 439
wenn die Frequenz während dieser Zeit gluich geblieben oder kleiner
geworden ist, äusserst verdünnte Säuredämpfe durch die Kammer.
ZttbU man nun wieder , so wird in den meisten Fällen eine deutliche
Steigerung der Frequenz , ohne Abnahme der Excursionsweite gefun-
den. Zuweilen betrug diese Stsigerung das Doppelte und mehr: z. B.
von 4 Schlägen in 5 Secunden auf 9, von 3 auf 7. Die Steigerung trat
fast immer allmählich ein und hatte etwa im Laufe einer halben Minute
QC8l<den Höhepunct erreicht. Sie konnte sich Minuten lang erhalten ;
bei nur wenig gesteigerter Säurezufuhr trat aber Stillstand ein. —
Besser als bei den Flimmerzellen der Mollusken lässt sich die erre-
gende Wirkung der Säuren bei Kochsalzstillstand an Opalinen vom
Frosch wahrnehmen. Hier ist es, namentlich mittels Kohlensäure, nicht
schwer , die Bewegungen ziemlich erheblich zu verstärken , wenn sie
in Köchsalzlösung, von i% etwa, nachgelassen hat. Ja sie kann selbst
aus völligem Stillstande wiedererwachen , wennschon niemals bis zu
erheblicher Höhe. Auch hier tritt aber bei nur wenig gesteigerter Säure-
zufuhr Stillstand ein.
In den Fällen, wo die Wimperbewegung der Wirbellosen durch
Sauerstoffentziehung (z. B. in einer Wasserstoffatmosphäre],
durch Aether, Alkohol, Chloroform, Metallsalze, höhere
Wärmegrade oder starke elektrisöhe Reize gelähmt ist, ver-
mögen Säuren keinen belebenden Einfluss auszuüben. Sie beschleu-
nigen im Gegentheil den Eintritt des Stillstandes, wenn er noch nicht
völlig ausgebildet war.
Unter den Mitteln, welche einen Säurestillstand aufheben kön-
nen, stehen, wie schon erwähnt, auch bei Wirbellosen die Alkalien
obenan. Leichtere Grade des Stillstandes können aber auch durch Aus-
waschen der Zellen mit Wasser (bei Süsswassermollusken] oder 1 y,
bis 3Vo>8^^K^^^^^'^'^^^^8 (bei Seethieren) aufgehoben werden.
Die Bewegungen pflegen aber dann niemals die Stärke zu erreichen,
wie nach Neutralisation der Säuro durch ein Alkali. Bei Kohlensäure-
StiUstand genügt, wie oben gleichfalls gemeldet, in der Hegel ein Luft-
Strom.
IV. Einfluss von Alkalien.
«
Die Veränderungen, welche die Flimmerbewegung unter dem Ein--»
flttss von Alkalien erleidet, sind bei Wirbellosen im Wesentlichen
dieselben, wie bei Wirbelihieren. Dooh zeigt sich auch hier wie bei
den Säuren eine grössere Empfindlichkeit auf Seite der Flimmertellen
Wirbelloser. Es bedarf viel geringerer Mengen, Ammoniakgas z.B.,
440 ^ Th. W. Engelfflann,
um die im adäquaten Meiijum (Süss- oder Seewasser) in köcfaster
Energie stattfindende Bewegung auszulöschen. Brauchte man bei Fliiii~
merzeilen vom Frosch, die in indifferenter Flüssigkeit lagen, eine halbe,
ja mehrere Minuten, um die Bewegung vom Maximum ihrer Schnellig-
keit auf Null herabzusetzen , so genügen hierzu — alle übrige Bedin*-
gungen gleichgesetzt — bei Wirbellosen (Anodoata, Paludina etc.,
Ostrea) 1 0 Secunden. Derselbe Unterschied zeigt sich bei Anwendung
von verdünnter Kali- oder Natronlösung. Der Alkalistill&tand^UiU
also bei Wirbellosen leichter ein. Auch hier begleitet den Alkalisiill—
stand ein gleichmässiges Aufschwellen und Erblassen der Zellen. --
Belebend wirken die Alkalien auf die Flimmerbewegung Wirbel-
loser hauptsächlich dann, wenn vorher Säure eingewirkt hatte. Beim
Wiederbeginn der Bewegung verschwindet die durch die Säure her-
vorgerufene Trübung in den Zellen. War die Säurestarre nur bis zu
einem leichten Grad gediehen, so lässt sich durch ausreichende Ammo-
niakzufuhr das Wimperspiel in seiner anfänglichen Stärke wiederher-
stellen. Ebenso durch Kali oder Natron.
Der Kochsalzstillstand kann, wenn er vorsichtig herbeigeführt
ward, ebenfalls durch Ammoniakgas gehoben werden. Doch ist die
Grösse, welche die Schnelligkeit der Bewegung auf diese Weise wieder
erreichen kann, nie so bedeutend, wie wir das bei den Flimmerzelien
vom Frosch sahen. Der Ammoniakgehalt der durch die Kammer ge-
führten Luft muss sehr klein und die Bewegung unter dem Einfluss
der concentrirteren Kochsalzlösung noch nicht völlig erloschen sein,
wenn man eine merkliche und etwas anhaltende Beschleunigung erzie-
len will. Im andern Falle, d. h. bei zu starker Ammoniakzufuhr, wird
das Stadium der Beschleunigung unterdrückt und man bekommt so-
gleich Ammoniakstillstand, der dann durch Säuren gehoben werden
kann.
Einen entschieden hemmenden Einfluss üben Alkalien auf die
Flimmerbewegung der Mollusken, wenn die Bewegung durch ein Quel-
lung bewirkendes Agens vorher verlangsamt war. Diess sieht man
z. B. an Flimmerzellen von den Kiemen der Auster sehr gut, wenn
man auf sie erst jeu verdünnte Kochsalzlösung (0,5% etwa), bis zum
Eintritt bedeutender Verlangsamung, einwirken lässt und nun schwache
Ammoniakdämpfe zuführt. Sofort stehen, unter Zunahme der Quel-
lung, die Wimpern still. Hier ist also das Verhalten das nämliche, wie
bei den Flimmerzellen der Wirbelthierschleimhäute, und dasselbe gilt
vom Einfluss der Alkalien bei Stillstand oder Verlangsamung durch
Aether, Chloroform oder Metallsalze. Auch in diesem Falle
Ueber die Flinnerbew^ni;. ^ 44 ^
zagen die AlkalieD sieb ohne belebende Wirkung, ja sie beschleunigen
sogar den Einiriit des Stillstandes.
Der Wassersioffstillstand wird, wenn er nicht in einer
etwas zu conoentrirten oder gar schwach sauren FIttssigkeit statt-
findet, durch Alkalien ohne gleichzeitige Sauerstoffzufuhr nicht aul^e-
hoben. Die hierauf bezüglichen Versuche wurden in derselben oben
besdiriebenen Weise, wie an den Fliminerzellen vom Frosch ange-
stellt —
Ist durch geringen Ueberschuss von Alkali, z. B. Ammoniak, Still-
stand eingetreten, so erwecken, wie schon erwähnt, Säuren — auch
Kohlensäure — die Bewegungen wieder. In vielen Fällen genügt selbst
Auswaschen des Alkali mittels indifferenter Flüssigkeiten , also Süss-
oder Seewasser.
V. Einfluss vom Wasserstoff und Sauerstoff.
In reinem Wasserstoffgas erlischt die Flimmerbewegung der Wir-
bellosen wie die der Wirbelthiere viel früher, als in einem indifferen-
ten sauerstoffhaltigen Gasgemisch, z. B. atmosphärischer Luft. Wie
bei den Zellen des Frosches tritt aber der StiUstand in einer Atmo-
sphäre von reinem Wasserstoff erst ein, lange Zeit nachdem schon aller
Sauerstoff aus der Flüssigkeit ausgetrieben ist. Bei Anwendung mei-
ner Gaskauimer waren zur^ völligen Ausbildung des Stillstandes immer
einige Stunden nöthig, während die beiden Absorptionsbänder des
Sauerstoffliaemoglobin regelmässig schon nach 1 0 bis höchstens 1 5 Mi-
nuten verschwunden waren. Ich bin hierin also in Widerspruch mit
KüHifB, welcher, nach seinen bereits erwähnten Versuchen an Ano-
donta, die Anwesenheit von freiem oder locker (wie im Sauerstofihae-
moglobin) gebundenem Sauerstoff für eine Bedingung des Zustande-
kommens der Flimmerbewegung erklärt. Aus meinen Erfahrungen
folgt dagegen , dass die Flimmerbewegung Stunden lang fortbestehen
kann, ohne dass gleichzeitig durch die Zellen Sauerstoff aufgenommen
wird.
Bei der Wichtigkeit der Frage für die Beurtheilung der chemischen
Vorgänge, welche der Flimmerbewegung zu Grunde liegen, habe ich
mir die Entscheidung dieser Differenz besonders angelegen sein Jassen.
Trotzdem kann ich nicht mit einiger Sicherheit angeben, woran es
gelegen haben mag, dads Kühnb den StUlstand so viel früher als ich,
und immer gerade in dem Moment eintreten sah, wenn alles Sauerstoff-
haemoglobin redudrt war. Man könnte daran denken, dass geringe
Verunreinigungen des Wasserstoffs , mit Phosp&orwasserstoff ^ Arsen-«
442 -x Tb. W. fingelniMii,
Wasserstoffs. B., welche ättssersi sdiädiicli duf die Flimmerbewegung
wirken y in Köhnb^s Versuchen den fitlheren Eintritt des Stillstandes
bewirkt hstten ; oder, was vielleicht eher anzunehmen, dass wahrend
des Durchströmens von Wasserstoff durch die Gaskammer die Gonoen«*
tration des Tropfens, in dem die Zellen lagen, zugenommen bdbe, Lets-
teres kann in der That leicht geschehen , wenn mit dem Wasserstoff-
strome nicht zugleich hinreichend Wasserdampf zugeführt wird und
vor Allem auch, wenn das Präparat in einem flachen Tropfen liegt-uod^
der Wasserstoff darüber in starkem Strome, wie der Wind über eine
Lache hinstreicht. Doch lässt sich hierüber um so weniger etwas Be*
sttmmtes sagen, als in Kdhnb^s Beschreibung seiner Versuche hierauf
nicht Rücksicht genommen ist, und auch nähere Zeitangaben von Kühni
nicht gemacht sind.
Darin stimme ich mit Kühnb vollkommen überein, dass sehr wenig
Sauerstoff genügt, um den Wasserstoffstillstand auf-
zuheben. Lusst man nur soviel Sauerstoff zutreton, dass die Bewe-
gung eben wieder in Gang kommt, und führt dann wieder reinen
Wasserstoff durch die Rammer, so tritt der zweite WasserstoffistiUstand
ansehnlich schneller als der ersto ein, oft schon nach einigen Minuton.
Läset man dagegen Hinuten lang atmosphärische Luft über das Präparat
sireicbeD — wobei dann die Bewegung eine bedeutonde Höhe wieder
erreichen kann — so bedarf es längeren Durchieitons (Y, Stunde u. m.)
von Wasserstoff, um alle Gilien wieder zur Ruhe zu bringen. Die Zellen
scheinen also während des Durchieitons von atmosphärischer Luft
Sauerstoff aufgespeichert zu haben.
Andere Mittol, den Wasserstoffstilistond — vorausgesetzt, dass die
ZeUen dabei in indifferenter Flüssigkeit lagen — zu beseitigen , habe
iebnicht gefunden. Reiner Sauerstoff beschleunigt die Bewegung bei
Wirbellosen auch, wenn sie sich bei Gegenwart atmosphärischer Luft
in etwas zu ooneentrirton Lösungen indifferenter Stoffe, Kochsalz,
Zucker z. B., verlangsamt hat.
- VI. Einfluss von Aether, Alkohol und Chloroform.
Aether und Alkohol äussern bei den Wirbellosen fast unter den-**
selben Umständen, wie bei den Flimmerzellen der Wirbelthierschleim-*
häute, einen erregenden Einfluss, nämlich vor AUem dann, wenn
die Bewegung durch wasserentaiehende, übrigens indifferente Mittel ver-
langsamt war. ^Doch wird man niemals eine so bedeutende Beschleu-
nigung der Bewegung erzielen, wie bei Wirbellhieren. Sehr leicht folgt
auf da& Stadium der Erregung Verlangsamung und Stillstand; es
Deber die nnuMrbewegQDg. ,- 443
reiehen hierza schon sehr kleine Mengen von Aelherdampf aus. *-* Die
Aetherrahe, in welcher die Zellen diffus getrübt und dunkel erscbeinen,
kann, wenn sie durch eine niögiicbst kleine Aethermenge herbeigeführt
war, durch atmosphärische Luft wieder gehoben werden* War
die Aethereinwirkung zu stark gewesen , dann bleibt die Trübung der
Zeilen beim Durchsangen von Luft bestehen und die Bewegung erwacht
iftioht wieder, welche Mittel man auch zu ihrer WiederbdebuBg anwen-
älenr-viOge. — Vom Alkohol gilt dasselbe wie vom Aelher. —
Chloroform bewirkt auch bei den Wirbdiosen, utiter allen Um*«
ständen und ohne vorausgehende Beschleunigung, Verlangsamung,
bei gesteigerter Zufuhr Stillstand unter Trübung der Zellen. Leiohie
Grade der Ghloroformnarkose werden durch atmosphärische Luft
beseitigt, höhere Grade sind durch kein Mittel aufzuheben. Also hierin
Uebereinstimmung zwischen den Zellen der Wirbellosen und der Wir-
belthiere I Im Allgemeinen sind jedoch die Zellen der Wirbellosen» be-
sonders der Sttsswassermollusken <} , gegen Aether, AUiobol und Chloro-
form empfindlicher als die Zellen der Wirbelthiere.
VII. Einfluss von Giften.
Die w enigen Versuche, welche ich über den Einfluss von giftigen
Alkaloideii auf die Flimmerbewegung Wirbelloser angestellt habe, gaben
dasselbe Resultat wie die Versuche an den Flimmersellen der Frösche.
Der Einfluss von Curare, Stryohnin, Veratrin, Morphium,
Atropin, Calabarextract, hängt nur von der Reaction und Gon-
centratiou der Auflösung ab ; in kleinen Mengen indifierenlen Flüssig
ketten zugesetzt, sind die genannten Körper ohne Einfluss. Wahre Gifte
sind dagegen auch für die Flimmerzellen der WirbeUosen , die Salze
der schweren Metalle. Diese führen schon in minimalen Gaben
Tod der Zellen unter Trübung ihres Inhalts herbei.
VIIL Einfluss der Wärme.
Temperatursteigerung bewirktauch bei Wirbellosen in den
Fällen Beschleunigung der Bewegung, wo die Veriangsamung
infeige von Wasserentziebung (durch Einwirkung concentrirter
Kochsalzlösungen z. B.) eingetreten war; nicht aber, wenn Qaei-
lung, Einwirkung von Säuren, Aether, Chloroform, Metallsalsen die
K) Hieran mag wol der grössere Absorplionsco^fQci^nt^ des Wassers ftir ^
naante Körper haoptsächKoh schuld sein.
444 Tb. W. fingelmann,
Ursache der Verlangsamung war. Dann pflegt im Gegentheil der Ein-
tritt des Stillstandes beschleunigt zu werden.
Durch Erwärmung auf Temperaturen von 40 ^ und mehr werden
die Plimmerzellen der Sttss- und Seewassermollusken in Stillstand
versetzt. Man muss auch hier zwei Grade des Wärmestillstandes un-
terscheiden. Der erste Grad, welcher dadurch charakterisirt i^t, dass
er durch blosses Abkühlen wieder aufgehoben wird, tritt bei kurzem
Erwärmen auf 40 bis etwa H^ ein, oder nach längerem Erwävniaa
auf etwas niedrigere Grade. Die Zellen müssen sich hierbei aber in
indifferenten , oder ein wenig zu concentrirten Flüssigkeiten befinden.
Sind die Flüssigkeiten zu verdünnt (bei der Auster z. B. Kochsalz von
0,5 oder 1%)) so tritt der erste Grad des Wärmestillstandes schon bei
niedrigeren Temperaturen ein. — Der zweite Grad der Wärmen-
starre, der durch Abkühlen nicht gehoben wird, tritt beim Erwärmen
auf etwa 45 ^, wie es scheint, plötzlich ein. Aber auch bei länger fortge-
setztem Erwärmen auf 40 ^ wird der zweite Grad erreicht. Die ZeUen,
deren Inhalt getrübt und -bräunlich erscheint, sind dann todt. — Ueber
die Einwirkung niederer Temperaturgrade sind die Angaben von Botr
zu vergleichen. —
IX. Einfluss der Elektricität.
Die wenigen Versuche, welche ich zur Ermittlung des Einflusses
der Elektricität auf die Flimmerbewegung an Wirbellosen anstellte;
ergäben in den Hauptpuncten vollkommene Uebereinstimmung mit
dem, was wir bei Wirbelthieren gefunden hatten. Ich habe desshalb
unterlassen, alle die an der Rachenschleimhaut vom Frosch angestellten
Versuche, welche mehr specielle Fragen betreffen, auch an Wirbellosen
M wiederholen. — Als Versuchsobjecte dienten die Flimmerzellen von
den Kiemen verschiedener SüsswassermoUusken und der Auster. — Das
Gesetz, dass nur elektrische Dichtigkeitsschwankungen,
nicht aber der Strom in beständiger Dichte erregend wirken, fand
sich bestätigt. Die Bedingungen, unter welchen Beschleunigung der Be-
wegung durch elektrische Reizung eintreten kann, scheinen dieselben zu
^in, wie bei den Zellen des Frosches. Vornehmlich dann ist die Erregung
deutlich, wenn die Thätigkeit der Zellen durch gelinde Wasserent-
ziehung, also z. B. durch Einwirkung etwas zu concentrirter Koch-
salzlösung, vorher vermindert war. — Die Erregung durch einen einzel-
nen Inductionsschlag äussert sich nicht als eine einzelne Schwingung
oder Zuckung des gereizten Haares, sondern besteht in einer im Allge-
meinen rasch zunehmenden, langsamer wieder abnehmenden Be3chleu-
Uebeifdie FKnnerbeweguiig. ^ 445
nigung der rhythmischen Bewegungen der Cilie. Die Wirkungen kurz
aufeinander folgender Schläge summiren sich. Durch einzelne sehr
siarke SohUge oder Unger fortgesetztes Tetanisiren werden die Zellen
getödtet. Ein dem Tetanus vergleichbarer Stillstand der Cilien , der
beim Aufhören der Reizung der regelmässigen Bewegung wieder Platz
machte, kommt nicht vor.
C. TersQche an SpermatozoSn.
Die vielen Analogien, welche die bisherigen Untersuchungen zwi-
schen Flimmer- und Spermabewegung bereits aufgedeckt hatten, for-
derten zu einer neuen Vergleiohung der Bedingungen beider Bewe-
gungen auf. Ich habe desshalb einen grossen Theil der an den Flim^
merzeilen angestellten Versuche an den Spermatozoon des Frosches
wiederholt. Eine Anzahl dieser Versuche ist nicht neu : sie sind von
alteren Untersuchen! , vor Allem von Kölliue ^) bereits beschrieben.
Wir werden ihre Resultate zum Theil nur zu bestätigen haben. Der
Besitz einer Gaskammer gab uns aber zugleich den Vortbeil, eine Reihe
von Versuchen anstellen zu können, die frtther unmöglich waren. Es
war so möglich, den Einfluss der Sauerstoffentziehung und Sauerstoff-
zufuhr zu untersuchen und eine Reihe von Stoffen, wie Säuren, Am-
moniak, Aether, Alkohol, Chloroform nicht in wässrigen Lösungen,
wie das von den früheren Untersuchern gethan ist, sondern in Dampf-
form dem Objecte zuzuführen. Aus letzterem Umstände erklären sich
die abweichenden Resultate, zu denen wir in Betreff der Wirkung jener
Stoffe gekommen sind.
Die ausgebreiteten Untersuchungen von Kölliur haben in dem
Verhalten gegen Reagentien eine so grosse Uebereinstimmung zwischen
den Samenfäden der verschiedensten Wirbelthiere kennen gelehrt,
dass es für upsere Zwecke überflüssig erschien, an Spermatozoon ver-
schiedener Thierarten zu experimentiren. Es wurden desshalb fast
ausschliesslich die Samenfäden des Frosches (Rana temporaria) zur
Beobachtung ausgewählt.
4) A. KöLLiKBR, Physiologische Studien über die Samenflüssigkeit. In Zeitschr.
f. wiss. Zool. Bd. VII. p. SOI — 27S. 4 855.
/
446 ^ Th. W. builmMiB»
1. Einfluss des Wassere.
Drttckt man aus dem Testikel eines Winterfrosches ein Tröpfchen
der dickAttssigen Samenmasse aus, so zeigen die Fäden weder bei so-
gleich angestellter Untersuchung noch später Bewegung. Nur tmt^
nahmsweise sind einzelne Fäden, wie schon ANftBftMANrt ^) fand, tn B^^
wegung. Lässt man nun einen Tropfen destillirten oder Brunnenwas-
sers zufliessen, so erwachen an allen Stellen, im Moment, wo ilas
Wasser sie erreicht, die lebhaftesten Bewegungen. Dieselben lassen
jedoch bald nach, und zwar hängt es von der Menge des zugeftthrten
Wassers ab, wie bald diess geschieht. Wird z. B. ein Tröpfchen Sperma
mit etwa dem vierfachen Volum Wasser vermischt, so lassen die Grösse
ond Frequenz der Bewegtnigen nach einigen Minuten nach. Die Fäden
quellen hierbei allinählich auf: der Kopf- und Sehwanztheil werden
blasser und dicker. Fast bei allen tritt Oesen-^ und Schlingenbildung
am Kopfende ein. -^ Nach zehn Minuten findet man sohog sehr viele
Fliden still und nach Verlauf einer Stunde sehen noch einen in Bew*e-
gung. — Bei Zusatz von weniger Wasser bleibt die Bewegung länger
bestehen, die Fäden quellen langsamer.
Sind anfangs bewegliche Samenf£(den nach längerem Liegen in so-
genannten Indifferenten Flüssigkeiten, wie in Blut, Blutserum,
zur Ruhe gekommen, so erweckt Wasserzusatz gleichfalls meist hefUge
Bewegungen. Wir müssen hier indessen wie bei der Plimmerbe wegung
zwei Fälle unterscheiden. Der Stillstand, welcher in »indifferenten«
Flüssigkeiten »von selbst« eintritt, kann nämlich einmal — und zwar
ist diess weitaus am häufigsten — darauf beruhen, dass die angeblich
indifferente Ldsung in derThat etwas zu concentrirt ist, oder es im
Laufe der Beobachtung durch Verdunstung wurde ^j . Je geringer die
Ueberschreitung des Indifferenzpunctes der Concentration ist, desto
später beobachtet man dann die Verlangsamung und den Stillstand der
Be^vegungen. ^ Der Stillstand kann aber zweitens auch darauf beru-
hen, dass die »indiflerentea Losung nicht concentrirt genug ist, dass
4) Akkemukm, De motu et evolutione Alonim spermatic. rananun. Dias, inaug.
Regimonti 4854. — S. auch : Einiges über die Bewegung und Entwicklung der Sa-
menfaden des Frosches. In Zeitschr. f. wiss. Zeel. VÜI. 4857. pag. 429.
2) Jedenfalls spricht für diese Auffassung der Umstand, dass der Stillstand in
den meisten der »indifferenten« Flüssigkeiten in allen Puncten dasselbe Verhalten
zeigt, u. a. durch dieselben Mittel aufgehoben wird, wie der Stillstand, den schwach
wasserentziehende Kochsalzlösungen herbeiführen. S. auch die Schlussbetracb-
tungen.
Uebtr üe Fluuierbew«|toiig. 447
der Prooe&tgebah an Kochsais , Zooker oder was es gerade sei, unier
dem Indifferenzpunct bleibt. Hier hat d^nn der Stillstand, so spat er
auch eintreten mdg^, die Eigenschaften des Wasserstillstandes. Nur
im ersten Falle wirkt Wasser wiederbelebend, niemals im zwei-
ten. — Dass der Stillstand, welchen man künstlich durch Zusatz con-
centrirterer Kochsalzlösung hervorrufen kann, durch Wa^er auf-
gehoben wird, ial eine schon von Köllkkk wiederholt betonte That-
Sache, die sich leicht bestätigen lässt% Die Salzlösung darf nur nidht zu
hoch Concentrin (Ober 10%) gewesen sein oder zulange eingewirkt
haben. Hierauf kommen wir gleich zurück.
Die Mittel, welche den durch tlbermässige Wassereinwirkung er-
zeugten Stillstand aufzuheben vermögen , sind fttr Spermatozoon die-
selben wie fttr die Plimmerzellen. Vor Allem sind es, wie schon Köllt-
UR, namentlich für die Samenfaden der Sauger, ausführlich gezeigt
hat, chemisch indifferente Salzlösungen verschiedener, doch nicht
zu geringer, Goncentration. Man kann diess leicht bestätigen. Hatte der
Wasserstillstand kurz gedauert und ist die aus der Mischung der Salz-
lösung mit dem samenhaltigen Wassertropfen resultirende Lösung nicht
zu concentrirt, so können die Bewegungen wieder schnell und stark
werden. Dasselbe lasst sich, wie durch Kochsalz, durch andere was-
serentziehende Mittel, z. B. Zucker, Glycerin, erreichen. Auch Säuren,
in Gasform zugeführt, heben den Wasserstillstand auf, und die wieder-
erwachten Bewegungen sind zuweilen sehr klüftig und frequent. Sie
hören, wenn mehr Säure zugeführt wird, sehr bald, zuweilen schon
nach einer Viertel- bis halben Minute, wieder auf. Diess habe ich
wenigstens bei Kohlensäure und Essigsäure gefunden. Andere Säuren
wurden nicht angewendet.
Auch durch Ae ther und Alkohol konnte der Wasserstillstand für
kurze Zeit (einige Minuten) aufgehoben werden. — Dagegen versagen
hier die A 1 k a 1 i e n ihre belebenden Dienste gänzlich ; sie beschleunigen
den Eintritt des Stillstandes in Wasser. Brachte ich z. B. ein wenig
Sperma aus dem Hoden des Frosches in einen verhältnissmässig gros-
sen Tropfen destillirten Wassers und wartete, bis die Bewegungen
langsamer geworden waren, so trat dann beim Durchführen von etwas
Ammoniakgas binnen wenigen Secunden Stillstand, ohne vorherige Be-
schleunigung ein, während aUe Fäden plötzlich stärker aufquollen und
blass wurden. Schnelle Zufuhr von etwas Kohlensäure konnte die Be-
wegungen für sehr kurze Zeit wieder erwecken. — Beim Erwärmen
tritt der Wasserstillstand schneUer ein.
Wie sehr nach alledem das Verhalten der Samenbewegung gegen
44S Tli« W. K^ielBMH,
Wasser mit dem oben gesditlderlen Yerbalteii der FBromerbewegOBg
ttbereinsUmme, braucht nicht. weiter hervorgehoben za werden.
11. Einfluss von Kochsalzlösungen.
In Kochsalzlösung von 0,5% erhalt sich die Bewegung der reifen
Samenfaden des Frosches lange Zeit; in verdünnt^ren Lösungen er-
lisdit sie unter den Zeichen der Wasseraufnahme (Quellung), in oon-
centrirteren unter den Zeichen der Wasserentziehung (Schrumpfung) »
Diess sind Angaben von Kölliub, welche unsere Versuche im Ganzen
bestätigt haben. Wir fügen denselben noch Einiges hinzu.
Nimmt man Sperma aus dem Hoden von Winterfröschen und
mischt dasselbe mit einem verhaltnissmässig grossen Tropfen Kochsalz
von 0y57o) so bleiben die Faden bewegungslos; nur hie und da zei-
gen sich einmal schwache Bewegungen. Es bedarf verdttnnterer Lö-
sungen (0,3% etwa), um die Bewegung Überall zu erwecken und zu
erhalten. Sinkt die Concentration auf 0,25% oder weiter, so trilt nach
einiger Zeit Stillstand ein, der die bereits geschilderten Zeichen des
Wasserstillstandes hat.
Steigt die Concentration der Lösung noch höher als 0,5%, so
bleiben natürlich die Faden bewegungslos; je grösser der Salzgehalt^
desto starker schrumpfen sie. Doch ist es selbst nach längerer Behand-
lung mit Lösungen von 2,5% bis 5% noch möglich, die Bewegung
durch Wasserzusatz wieder anzufachen. Auch diese Thatsache hat
KöLLiKBR schon beobachtet. —
Für die Flimmerzellen fanden wir ausser dem Wasser noch eine
Beihe anderer Agentien auf — Sauren, Alkalien, Aether, Alkohol,
Schwefelkohlenstoff, Warme, Elektricitat — , welche im Stande waren,
den durch zu concentrirte Kochsalzlösungen veranlassten Stillstand auf-
zubeben. Diese Agentien erwiesen sich auch bei Spermatozoon im Gan-
zen in demselben Sinne wirksam. Der Salzgehall der Lösung darf aber
auch hier eine bestimmte, ziemlich niedrige Grenze nicht überschrei-
ten, wenn Wiederbelebung möglich sein soll. Buhende Samenfäden aus
dem Hoden eines Winterfrosches, die in Kochsalz von 0,5% unbeweg-
lich lagen, erwachten, wenn Kohlensaure, Essigsaure, AetheT
oder Alkoholdampfe über das Präparat geführt wurden, binnen we-
nigen Secunden bis Minuten. Dagegen konnte ich Faden aus demselben
Testikel durch die genannten Mittel nicht mehr erwedLon, wenn sie in
Kochsalzlösungen von 1% utid mehr lagen. — Ammoniak, Kali und
Natron erwiesen sich in vielen Fallen, wo die Wiederbelebung aus
dem Kochsalzstillstande durch Sauren gelang, vollkommen unfähig
/
0^
r
Deberii0 nteaerbew^gang. 449
daitt. Diess sieigle sieh oft bei unreifen SamenfiUlen. Reife Freien
stimmten in ihrem Verhalten mit den Fliiiiinerzeilen üherein.
Für andere neutrale Salze als Kochsalz gilt, ebenso wie für Zucker,
Kreatin u. s. f., ganz dasselbe, nur dass die sich in ihrer physiologi-
schen Wirkung cmtsprecbenden Gonoentrationsgrade fflr jeden dieser
Stoffe andere, wie es scheint nur vom Quellungsco^fficienten abhängige
sind.
IlL Einfluss von Säuren.
In den bisherigen Angaben übet den Einfluss von Säuren auf die
Bewegung der Samenfäden ist immer nur von einer schädlichen Wir-
kung der Säuren die Rede, geradeso wie das auch bei der FIfmmerbt -
wegung früher aligegeben wurde. Da wir aber bei dieser gefunden
hatten, dass das erste Stadium der Säurewirkung fast immer ein Sta-
dium der Erregung, d. i. der Beschleunigung und Verstärkung der Be-
wegungen ist, so stellte sich von selbst die Frage ein , ob diess auch
für diä Samenbewegung gälte. Eine Reihe von Versuchen , an den
Spermatozoon des Frosches angestellt, bewiesen, dass diess in derThat
der Fall ist. Die Säuren wurden in dier Regel in Gasform zugeftthrt.
Dass die Samenbewegung selbst in sehr, verdünnten wässrigen
Lösungen von Säuren bald still steht, ist ein bekanntes Factum, wel-
ches der Bestätigung nicht mehr bedarf. Wir gedenken desshalb zu-
nächst nur der Fälle, in denen Säuren einen erregenden Einfluss äus-
sern. Diess sind nun dieselben, wie bei der Flimmerbewegung. Es ist
in den vorhergehenden zwei Abschnitten bereits erwähnt worden, dass
sowohl der Wasserstillstand, als der Stillstand, welcher in con-
centrirteren Lösungen neutraler Salze eintritt, durch Säu-
ren, z* B. Kohlensäure, Essigsäure, aufgehoben werden kann. Nur darf
im einen Falle der WassersUHstand nicht zu lange gedauert, im andern
die Conoentralion eine gewisse, wenig über dem Indifferenzpunct gele-
gene Höhe nicht ttberschriiten haben. Bei Zufuhr von mehr Säure tritt
bald Stillstand ein , beim Wasserstillstand schneller (nach einigen Se-
cunden bis einer Viertelroinute z. B.), langsamer (nach Minuten] beim
Stillstand durch Satze. Im letzteren Falle reagirt der Tropfen oft schon
mehrere Minuten lang sauer, wenn die letzten Bewegungen erlöschen.
Hat man die Samenfilden in indifferenten Flüssigkeiten durch Am -
moniakgas oder durch Zusatz von etwas Kali oder Natron vor-
siühtig zur Ruhe gebracht, so wirken Säuren — auch Kohlensäure —
regelmässig wiederbelebend. Und dasselbe ist der Fall, wenn die Sa-*
menfäden in sogenannten indifferenten Lösungen v^von selbst«
zur Ruhe gekommen sind. Es scheint hierbei gtoiohgUHtg, ob der StlH-
Bd. IV. 3. 19
450 Tb. W. E«glüiiMiiit
stand einer etwas zu gerin^n, oder einer etwas zu starken Goncentra-
tion der angeblich indifferenten Flüssigkeit sein Entstehen verdankte.
Bei fortgesetzter Säurezufuhr tritt bald Stillstand ein.
Dieser Säurestillstand kann in allen Fällen durch Alkalien auf-
gehoben werden. Auch hier empfiehlt sich zu schneller Beobachtung
die Anwendung des Ammoniak in Gasform. — Bei dem Kohlensäure-
Stillstande genügt in den meisten Fällen ein blosser Luftstrom und —
wenn die Zellen nicht etwa schon seit längerer Zeit in einer sauerstoj^
freien Atmosphäre verweilt hatten — auch ein Strom von Wasserstoff
oder eines anderen indifferenten Gases, um die Bewegungen wieder
erstehen zu lassen.
Niemals sah ich, dass Samenfäden sich bei Säurezufuhr wieder
bewegt hätten, wenn sie so stark durch Aether oder Chloroform-
dämpfe in indifferenten Flüssigkeiten betäubt waren, dass Luft allein
sie nicht wieder erweckte.
Dass man einen Säurestiilstand nicht durch eine andere Säure auf-
heben könne, war vorauszusehen. Ebenso traf die Erwartung ein, dass
siph die Angabe von Kölliker, nach welcher saure Salze im Allgemei-
nen ebenso wie Säuren wirken, bestätigen würde.
IV. Einfluss von Alkalien.
Der Einfluss, den Alkalien auf die Spermabewegung ausüben, ist
Je nach den Bedingungen, unter denen sich die Samenfäden befinden,
ein verschiedener, und hängt auch von dem Grade der Reifheit der
Samenkörperchen ab. In den meisten Fällen, wo reife Samenfäden in
»indifferenten Flüssigkeiten« ihre Bewegungen »von selbst«
eingestellt haben, ist der erste Erfolg des Alkalizulritts Wiedererwa-
chen der Bewegung. Es sind diess diejenigen Fälle, wo die angeblich
indifferente Flüssigkeit ein wenig zu concentrirt ist. Dasselbe gilt,
wenn die Bewegung durch Zusatz concentrirterer Kochsalz-
lösungen (0,5 bis 1%) künstlich gehemmt ward. Sind die Samen-
faden nicht reif, — obschon morphologisch von reifen Fäden nicht
zu unterscheiden — , dann pflegen Alkalien (Ammoniak, Kali, Natron)
unter den angegebenen Umständen nicht erregend zu wirken, während
doch im gleichen Falle Säuren, Wasser, Aether, Wärme die Bewegun-
gen in's Leben zu rufen vermögen. In wie schwacher oder starker
Dosis man auch das Alkali anwenden möge: die Fäden bleiben still
und quellen endlich bis zur Unkenntlichkeit auf.
Sind Samenfäden durch Wassereinwirkung (wozu auch die Wir-
kung allzu verdünnter Salzlösungen gehört)^ zur Ruhe gebracht worden.
Ueber dle^FlInnerbewegn Dg. 451
dann vtersagen die Alkalien ausnahmslos ihren belebenden Einfluss.
Es wurde oben schon erwähnt , dass i. B. Amnioniakdämpfe den Ein-
tritt des Wasserstillstandes stark beschleunigen. Dasselbe gilt von' Kali
und Natron.
Belebend wirken dagegen die Alkalien in der ersten Zeit des
Wasserstoffstillstandes, wenn bei demselben die Samenfäden
in möglichst indifferenter (jedenfalls in nicht zu verdünnter) Flüssig-
keit lagen. Selbstverständlich war Sauerstoffzutritt ausgeschlossen.
Die betreffenden Versuche wuinlen in derselben Weise wie mit den
Flimmerzellen angestellt.
Als specifisches Belebungsmittel erweisen sich die Alkalien beim
Säurestillstand, und umgekehrt heben die Säuren, wie bereits
erwähnt, den Alkalistillstand auf. Man kann diess bei abwechselnder
Behandlung mit Essig- oder Salzsäure einerseits und Ammoniakdäm-
pfen andererseits an demselben Präparat leicht mehrmals nacheinander
constatiren. Am besten ist es, wenn sich die Fäden bei Beginn des
Versuchs in möglichst indifferenten Flüssigkeiten befinden, und nöthig
ist es, dass man mit möglichst geringen Mengen von Säure und Alkali
experimentirt.
Stillstand durch Aether, Alkohol oder Chloroform wird,
wenn Luft allein zur Wiederbelebung nicht mehr ausreicht, auch durch
Ammoniak nicht beseitigt. Und ebensowenig wird ein Alkalistillstand
durch ein anderes Alkali aufgehoben. —
Basische Salze der Alkalien, vor Allem die kohlensauren, wirken
unter denselben Bedingungen wie die kaustischen Alkalien günstig oder
ungünstig auf die Spermabewegung, doch ist ihre Wirkung, wie schon
KöLLiKRR hervorhebt, im Allgemeinen weniger stark.
V. Einfluss von Wasserstoff und Sauerstoff.
Die Bewegungen der Samenfäden können sich in einer Atmosphäre
von reinem Wasserstoff mehrere Stunden erhalten, — vorausge-
setzt, dass die Concentration und Reaction der Unt^rsuehungsflüssig-
keit die für die Erhaltung der Bewegungen günstigsten sind. Die
Samenbewegung bedarf also zu ihrem Zustandekommen
nicht des Sauerstoffes der Umgebung. —
Der Stillstand der Fäden in Wasserstoff tritt ganz allmählich
ein und nicht bei allen gleich schnell. — Wie bei den Plimmerzellen
genügt dann Zutritt von Sauerstoff zur Wiederbelebung. Nur
in den Fällen, wo die Fäden in etwas zu concentrirten, in zu stark al-
kalischen oder sauren Flüssigkeiten lagen, reicht begreiflicherweise
s«*
452 . Tk W. iil^fcuiii,
Sauerst4)ff allein zur Wiederbelebung aus dem WasseretofeiiUstande
nicht immer aus und es bedarf dann, je nach den Umstanden, noch des
Zusatzes von Wasser, Säure oder Alkali. — Auf der anderen Seile
reicht, wenn die Samenfäden nicht in nvttglichst indifferenter Flüssig-
keit lagen, in der ersten Zeit des Wassersto&tillstandes Wasser (resp.
Säuren oder Alkalien), ohne Sauerstoffzutritt, zur Wiederbelebung hin.
Bei längerem Durchleiteu von Wasserstoff tritt dann aber Stillstand
ein, der ohne Sauerstoffzufubr nicht mehr zu heben ist.
Auch kohJensäurefreies, gereinigtes Leuchtgas wirkt wie Wasser-*'
Stoff auf die Samenbewegung.
Ein Strom reinen Sauerstoffes beschleunigt die Bewegung
in den meisten Fällen , wo sie in Verlangsamung begriffen ist, merk-
lich. —
Da sich in allen Puncten , welche das Verhalten gegen Sauerstoff
und Wasserstoff betreffen, die Spermabewegung vollkommen an die
Flimmerbewegung anschliesst, verweisen wir einfach auf das früher
Gesagte. Die Versuche wurden in derselben Weise wie mit den Flim-
mer/ellen angestellt. —
VI. Einfluss von Aether und Alkohol.
Die wenigen Mittheilungen, welche über den Einfluss von Aether
und Alkohol vorliegen^), gedenken nur der schädlichen Wirkungen,
den diese Stoffe ausüben. Es fragte sich, ob nicht aucli hier der läh-
menden Wirkung ein Stadium der Beschleunigung vorausginge, wie
wir es bei den Flimmerzellen gefunden hatten. In der That zeigte sich
in diesem Puncto, wie folgende Versuche beweisen, wieder die wün-
schenswertheste Uebereinstimmung zwischen Flimmer- und Samen-
bewegung.
Samenfäden wurden aus dem Hoden des Frosches in einen Tropfen
Kochsalzlösung von solcher Concentration (etwa 0,3%) gedrückt,
dass sie langsame Bewegungen machten. Als nun Aetherdämpfe
über das Präparat strichen , begann die Bewegung nach wenigen Se-
cunden bei allen Fäden an Frequenz und Grösse bedeutend zuzuneh-
men. Diess Stadium der Beschleunigung hielt je nach der Mengender
zugeführten Aetherdämpfe verschieden lange, zuweilen mehrere Minu-
ten lang an. Hierauf folgte bei weiterer Aetherzufuhr Stillstand,
welcher, wenn er nur kurze Zeit unterhalten und sehr vorsichtig her-
beigeführt war, sehr leicht durch einen Strom atmosphärischer
1) KöLLiKBH, a. a. 0. pag. 248. — AtfifiRMAmr in Zeitschr. f. wiss. Zool. VIU.
p. 488.
/
f
Ueber die FliBMerbewegiiug. 453
Luft aufgehoben wurde (erster StartiBgrad) . — Bei längerdauern-
der oder vorübergehend sehr starker Einwirkung von Aether trat Tod
der Fäden (zweiter Starregrad) ein : sie waren durch kein Mittel mehr
zu beleben.
Das Stadium der Beschleunigung durch Aether und — auf dieses
folgend — den ersten Starregrad fand ich sowol bei Fäden, welche in
etwas zu ce^cen tri rten, als bei solchen, die in zu verdünnten
Satzltfsungen erlahmt waren. Der Stillstand in Wasser wurde
durch Aetherdämpfe für kurze Zeit aufgehoben.
Alkohol wirkte in demselben Sinne wie Aether.
VII. Einfluss von Chloroform.
Auch in der Wirkungsweise des Chloroforms zeigt sich Ueberein-
Stimmung zwischen Flimmer- und Samenbewegung. Chloroform —
in Dampfform zugeführt — lähmt die Bewegung der Samenfaden un-
ter allen Umständen. Ein Stadium der Beschleunigung habe ich nie-
mals beobachtet. —
Die Bewegungen können durch einen Luftstrom wieder-
erweckt werden, und, falls sie nur sehr kurze Zeit und vorsichtig ein-
geschläfert worden waren, nachher sogar die anfängliche Höhe wieder
erreichen. Es gelingt leicht, dieselben Fäden durch abwechselndes Be-
handeln mit Chloroform und reiner Luft mehrmals hintereinander ruhig
und wieder ihätig zu machen.
Bei stärkerer Einwirkung tritt Tod (zweiter Starregrad) ein.
Vlll. Einfluss einiger Gifte.
Unter den giftigen Alkaloiden scheint kein einziges als Gift auf
die Samenbewegung zu wirken. Diess darf mit Sicherheit wenigstens
vom Curare, Veratrin, Strychnin, Atropin undCalabar-
extract behauptet werden. Nur der Wassergehalt und die Reaction
der Lösung des Giftes bestimmen den Erfolg : sehr verdtinnte Lösun-
gen wirken wie Wasser, alkalische wie Alkalien, saure Lösungen wie
Säuren. — Nur die Salze der schweren Metalle äussern schon in
äusserst kleinen Mengen (indifferenteren Flüssigkeiten zugesetzt) eine
hemmende Wirkung. Sie führen, wie es scheint, stets ohne voraus-
gegangene Beschleunigung Verlangsamung und Tod herbei. Einen
Stillstand , der dem ersten Starregrad durch Einwirkung von Aether,
Chloroform, Wärme u. s. f. vergleichbar, also durch irgend eiif Mittel
■
454 Th. W. Ivflgelnuin,
aufzuheben wäre , konnte ich auch bei äusserst vorsichtiger Anwen-
dung der Metailsalze nicht hervorrufen.
IX. Einfluss der Wärme.
Die Veränderungen, welche die Bewegung der Sainenkörperchen
unter dem Einfluss von Tempcraluränderungen erleidet, sHid ganz die
nämlichen wie die der Flimmcrbewegung : unter denselben BedingtaT'^
gen, unter welchen Temperaturerhöhung diese beschleunigt, thut sie
das auch bei j e ner; bei gleicher Temperatur tritt bei beiden der erste
Grad der Starre, bei gleicher Temperatur bei beiden der Tod ein. Diese
Uebereinstimmung erlaubt uns, in der Schilderung unserer Versuche
kurz zu sein.
Erwärmt man einen Tropfen Samenflttssigkeit vom Frosch, wel-
cher bewegliche reife Samcnkörperchen enthält, langsam auf dem heiz-
baren Objecttisch ^], so bemerkt man bald eine allmählich wachsende
Steigerung in der Energie und Frequenz der Bewegungen. Die Bewe-
gungen erreichen die höchste Lebhaftigkeit, wenn die Temperatur des
Tropfens etwa 35® C. erreicht hat, bleiben dann sehr energisch bis
etwa 40® und nehmen, sobald dieser Wärmegrad erreicht ist, sehr
rasch bis zum völligen Stillstande ab. Im Aussehen der Fäden ändert
sich beim Eintritt der Starre nichts. — Kühlt man ab, so erwachen die
Fäden wieder, die Energie ihrer Bewegungen erreicht ein Maximum
bei ungefähr 35 ® und lässt bei weiterem Sinken der Temperatur wie-
der nach, bis etwa die anfängliche Höhe wieder erreicht ist. — Erhitzt
man den Tropfen weiter als auf 40". so ist Wiederbelebung durch
blosses Abkühlen nur möglich, wenn die Temperatur 45 ® nicht über-
stieg, oder nur kurze Zeit hO^ übertraf. Denn auch längeres Erwär-
men auf 40® bis 4i® führt den zweiten Starregrad herbei, um so
schneller, je höher die Temperatur war.
Ganz übereinstimmend ist der Einfluss der Temperaturerhöhung
auf Samenfäden, die in etwas zu concentrirton Kochsalzlösun-
gen (0,5 bis 1%) ihre Thätigkeit eingestellt oder vermindert haben:
allmähliches Wiedererwachen und Zunahme der Energie bis ungefähr
35® C, dann erster Starregrad bei 40® und Tod bei etwa 45®.
Hat sich aber die Bewegung durch Aufenthalt. der Fäden in Was-
ser oder äusserst verdünnten Kochsalzlösungen unter 0,5®/o
verlangsamt, so ist der erste Effect der Tempcraturzunahme keine
1, Hierbei soll das Präparat in der feuchten Kammer schweben und mit einem
Deckglase bedeckt sein.
lieber die Flinmerbewegunj^. ^ 455
Beschleunigung, sondern stärkere Abnahiü^i der Bewegungen, die bald
zum Stillstand führt. — Ebenso wirkt Erwärmung unmittelbar hem-
mend, wenn die Bewegung dupolr Säureeinwirkung etwa^ abge-
nommen hatte.
X. Einfluss von Elektricität.
Dia wenigen Versuche, welche ich über den Einfluss elektrischer
Reizung auf die Bewegung der Samenfaden des Frosches angestellt
habe, betreffen nur einige Hauptpuncte. Sie bestätigen auch für die
Samenfäden das Gesetz , dass nur elektrische Dichtigkeitsschwankun-
gen, nicht aber der Strom in beständiger Dichte erregend wirken. Die
Bedingungen, unter denen die Erregung sich als Beschleunigung
und Verstärkung der Bewegung zeigt, sind dieselben, wie bei Flim-
merzellen : möglichst indifferente Flüssigkeit als Medium für die Sa-
menkörper, oder ein wenig zu concentrirte Kochsalzlösung. — Liegen
die Fäden in Wasser oder allzuverdünnten Kochsalzlösungen, so äus-
sert sich die Erregung als Hemmung der noch vorhandenen Be-
wegung.
Die Erregung durch einen einzelnen InducUonsschlag von genü-
gender Stärke äussert sich als eine erst zunehmende, bald wieder sin-
kende Erhöhung der rhythmischen Thätigkeit des Fadens, nicht als eine
einmalige Schwingung desselben. Ebenso verläuft die Erregung bei
Schliessung eines constanten Stromes. Die Beschleunigung kann vor-
übergehend das Doppelte und Dreifache der ursprünglichen Frequenz
betragen.' Zugleich werden die Excursionen grösser. — Die Erregung
wird grösser und hält länger an, wenn eine grössere Anzahl elektri-
scher Reize in rascher Aufeinanderfolge die Samenfäden trifft.
Alle hierauf bezüglichen Versuche wurden in der Gaskammer mit
unpolarisirbaren Elektroden angestellt. Wir verweisen desshalb für
Einzelheiten der Methode auf das, was oben bei der Flimmerbewegung
gesagt ist. —
456 ^^ Tb» W. EngfhBMitt,
ScIihisshetrachtunKeii.
Aus der vorstehenden ünlersuchung ergiebl sich, welches dir
äusseren Bedingungen sind, unlcr welchen die Bewegung der Flimmer-
haare und Samenfclden /.u Stande kommen und sich erhallen kann,
lind welche Aenderungen die Bewegung bei Aenderung dieser äusseren
Bedingungen erleidet. Es fragt sich , in wie weit die erhaltenen Re-
sultate, im Verband mit den tibrigen bekannten Thatsachen, einen
Einblick in das Wesen der Flimmerbewegung erlauben , ob sie uns
Schlüsse gestatten auf die Art der Vorgange, welche der Wimper-
bewegung tu Grunde liegen.
Zur Beantwortung dieser Frage uird es von Vortheil sein, erst
einen kurzen Blick auf die Entwickclung, den Bau und die chemische
Zusammensetzung der Flimmerapparate zu werfen und zu untersuchen,
welche Uebereinstimmung in Rtlcksicht auf diese Puncto zwischen den
verschiedenen Wimperorganen besieht.
.Alle Flimmerwerkzeuge, Cilien wie undulircnde
Membranen, entwickeln sich, wie es scheint, direct aus
Protoplasma. Zwei Fülle kann man hier unterscheiden: in dem
einen bildet sich einTheil der oberflächlichsten Lage, der Rindenschichl,
des Protoplasma zum Flimmerapparat um; in dem andern differenziren
sich mehr nach innen gelegene Partien des Protoplasma zum Wimper-
organ. Der letztere Fall scheint bei Entwickelung der Samenfaden
verwirklicht. ^) Ja hier wird vielleicht, nach ScnwEiGGSR-SEmEL '^j und
V. LA Valette St. George, •') häufig das ganze Protoplasma der Mutter-
zellc zur Bildung des schwingenden Fadens verbraucht. Der erslere
Fall ist der gewöhnliche und lässt sich besonders bei Infusorien leicht
4) Nur KöLLiKER hiill nocii an seiner früheivn Anguho fcsl, dass dio Samen-
äden nur aus dem Kern der Samenzelle sich entwickeln. S. Kolliker, (jewebc-
lehre. 5. Anfl. p. 530.
2) F. Schweicger-Skidel, Deber die Sanienkoqierelien und ihre füntwickolnn^.
Arch. f. mikr. Anat. I. 4865. p. 809 Hg.
3) V. LA Valette St. George , (Jeher die Genese der Saoienkörper. .Archiv Tür
mikr. Anat. I. 4865. u. 111. 4867.
/
f
lieber die Fllimerbewe^ing. ^^ .457
verfolgen. Bei Fiimmerepilhelzenen ist dfer Vorgang der Wimper-
hiMung aus dem Protoplasma noch nicht näher ermittelt, erfolgt aber
höchst wahrscheinlich in derselbea'>Wetse wie auf der Körperobertittche
der Infusorien. ^)
Der Process beginnt hier mit der Bildung einer wulstartig hervor-
ragenden, glashellen 4- homogenen Verdickung der Rindenschicht des
Leibes. Gleich von Anfang an zeigt dieser Wulst undulirende Be-
we^lttogen. Die unmittelbar unter dem neuentstehenden Wulst ge-
legene Partie des Körperprotoplasma behalt dabei ganz das gewöhnliche
Ansehen und lässt durchaus keine Bewegungen erkennen. Sie unter-
scheidet sich nicht merkbar von den benachbarten Stellen der Körper-
rinde. Je nachdem sich min aus dem primitiven Wulst eine einzelne
Wimper oder mehrere entwickeln sollen, ist die Form und Weiter-
entwickelung des Wulstes verschieden. Dient er nur jEur Bildung einer
einzigen Wimperg so erhält er bald Kegelform und streckt sich unter
rhythmischen, meist in un regeln lässigen, kurzen Perioden wieder-
kehrenden Bewegungen allmählich zur Wimper aus. Sollen sich aber
aus dem Wulst eine Reihe von Wimpern entwickeln , so hat derselbe
von Anfang an eine langgestreckte, leistenartige Form. Diese Leiste
wird bei weiterem Wachsen höher und höher und ist bald zur undu-
lirenden Membran ausgebildet. Diese Membran spaltet sich dann,
wenn sie eine gewisse Grösse erreicht hat, allmählich in einzelne
parallele Stücke, die durch weitere Spaltung in einaielne Wimpern sich
zerkltlften. Die Zerklüftung kann vollkommen oder unvollkommen
sein. ^) — Die Neubildung bleibender undulirenden Membranen erfolgt
ganz in derselben Weise aus der Hautschicht des Protoplasma, nur
kommt es nicht zur Spaltung in einzelne Cilien. ^j
Als Verlängerungen oder Auswüchse echter präformirtcr Zell-
membranen scheinen Wimpern niemals zu entstehen. Früher, als noch
jedem Protoplasmakörpcr eine umhüllende, nach innen scharf abge-
grenzte Membran zugeschrieben ward , nahm man das allgemein an.
4) Die obortläcblichHie Schlctit des Infusorieiikörpers ist ebeafalU nur als Bin-
denschicbt des Protoplasma aufzufassen. Nur ausnahmsweise kommt es zu wirk-
licher Memkyranbiklung ; dann fehlen aber Wini|)eni.
9) Der ganze hier erwähnte Vorgang lässt sich mit wünschcnswerthesler Deut-
lichkeit bei VoriioeJIen lieobachten, die in Theilung begriffen sind, und noch besser
bei grossen Arien von Epistylis (E. plicatilis z. B.) und Opercularin, die, im BegrifT
sich von ihrem Stiel zu lösen, Leinen hinteren Wimperkraiiz bilden. Sehr günstig
Objecto sind auch sich theilendc Slylonychien und Oxytrichen.
a) Die EntWickelung bleibender undultrender Membranen ist bei allen Ow-
trichiDen wttbrend des TheiUingsactes leicht zu beobachten.
458 ^ , Tb. W. fiiigekaaun,
Jetzt fehlt uns zu einer solchen Annahme jeder Grund ; denn noch ist
für keine Flinimei*zelle die Aiiwesenheit einer solchen Membran er-
wiesen oder ist es nur wahrscheiAlidh gemacht, dass die oberfläch-
lichste Schicht jeder Flimmerzelle etwas anderes als Protoplasma sei.
In einzelnen Fällen zeigt das Protoplasma selbst, noch bevor sich
die Wimpern aus ihm entwickeln, spontane Beweglichkeit, so die
Muttorzellen der Samenfäden vieler Wirbelthiere nach r. la Valettb
St. George, ij Wir legen hierauf jedoch kein grosses Gewichte, d» ««is,
unter anderm durch Beobachtungen an Infusorien, ausgemacht ist,
dass auch aus bewegungslosem und bewegungslos bleibendem Proto-
plasma direct bewegliche Gilien sich hervorbilden köfinen.
Wie in der Entwickclung , so zeigt sich, so viel man bei dem
mangelhaften Stand unserer jetzigen Kenntnisse sehen kann, auch im
Bau der verschiedenen Flimmerorgane manche wichtige Ueberein—
Stimmung. Von der Form l^sst sich das freilich ^nicht sagen: wir
finden dünne cylindrische, dicke kegelförmige Wimpern , breite un-
dulirende Membranen und alle möglichen Zwischen formen. ^) Das
Zustandekommen der Flimmerbewegung überhaupt ist also an eine
bestimmte Form nicht gebunden. Nur für den speciellen Charakter der
Bewegung scheint die Form des Wimperorgans von einiger Bedeutung
zu sein. — Sehr übereinstimmend sind die optischen Eigen-
schaften der Flimmerhaare , Samenfäden^) und undulirenden Mem-
branen. Alle bestehen aus einer durchsichtigen , ziemlich stark licht-
brechenden, farblosen Substanz, welche vollkommen homogen erscheint,
weder Körnchen noch Vacuolen enthält, ^j Ihr Verhallen gegen den
polarisirten Lichtstrahl ist noch nicht näher untersucht. Nach Andeu-
i) V. LA Valette St. George, Ueber die Genese der Samenkörper. Archiv für
mikr. Anat. I. 4865. p. 403 flg.
3) Alle diese verschiedenen Formen von Flin\merorganen findet man bei man-
chen Infusorien, z. B. auf jedem Exemplar einer Stylonychiai beisammen.
8) Wir verstehen hier unter Samenfäden nur den der Cilie entsprechenden,
activ beweglichen Theil des Samenkörperchens , das Schwanzstück.
4) Nach A. Stuart lassen sich Indess an den Wimpern des Cirrhenvelums von
Opisthobranchiem mit Hilfe starker Vergrösserungen und bei sehr günstiger Bc-
leuchtung Längsreihen »länglicher, viereckiger, abgerundeter, in ein schwach licht-
brechendes, leicht körniges Protoplasma eingebetteter Muskeltheilchen« erkennen.
Vgl. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. XV. 4865. p. 99. — Auch Hbivsev (Ibid. p. %%i)
glaubt an den pigmentirten Epithelzellen der Augen einiger Lamellibranchiaten
(Pecten Jacobaeus und Area) Flimmerhaare gesehen zu haben, an welchen »die von
Stuart beschriebenen rechteckigen Muskelelemento auffallend klar« waren, le^l
jedoch kein Gewicht darauf, weil seine Präparate in chromsaurcm Kali erhärtet
waren. — Ich habe bei keiner Art Wimpern, auch nicht an den grOssten Gilien von
Ueber die Flimnerbewegnug. r 459
langen von Valsntüv i) soheinl indess den SdnienfMden die Eigenschaft
der Doppelbrechung zuzukommen. An den Flimmerhaaren des Mund-
höhlenepithels vom Frosch glück to-es mir nicht, etwas A<;hnlicbes zu
finden. Vielleicht geben die dicken und grossen Flimmerhaare mancher
Infusorien bessere Resultate.
Alle Wimperorgane, insbesondere die der Samenföden, besitzen,
soviel die mikroskopische Beobachtung lehrt, im normalen Zustand
eiiMTwemliche Festigkeit und eine — natürlich nur innerhalb sehr
enger Grenzen — vollkommene Elasticitdt. Ruhende Wimpern
lassen sich leicht ohne merkliche FormverHnderung weit umbeugen,
kehren abßr sich selbst überlassen, schnell in die anfängliche Lage
zurück. Gewaltsam plattgedrückte Wimpern nehmen nach Aufhören
des Drucks sehr rasch wieder die normale Form an.
Viele Wimpern zeigen eine sehr ausgesprochene Spaltbarkeit^)
in de&Längsrichtimg. Man beobachtet dies z. B. an den grossen, mit
breiter ^Basis aufsitzenden Flimmerhaaren des Riemenepithels von
Bivalven , noch häufiger und besser aber bei Gilien vieler Infusorien. ^)
Infusorien (Stylonychia mylilus, Onychodromus grandis), etwas Aehnliches wahr-
nehmen können. Zur Controle der STUAnr'schen Angaben fehlt mir leider 'das
Material.
1) Valektin, Uutersucimng der Pflanzen- und Thiergewebe in polarisirlem
Lichte. 4864. p. 805.
i) Die Hautschicht des Protoplasma's gewisser Myxomyceten zeigt zuweilen
dieselbe Eigenschaft. Ich sah dies namentlich einmal an einem im Einziehen be-
griffenen Ast eines Plasmodium von Aethalium septicum. Hier war die dicke,
körnerlose Hautschicht von äusserst zahlreichen, zur Oberfläche senkrecht sehen-
den Streifen und feinen Spalten durchsetzt, welche fast das Aussehen eines starren
Flimmersaumes hervorbrachten. Einen ganz ähnlichen Fall beschreibt HoFMBisTia
(Lehre von der Pflanzcnzelle. 4 867. p. 24 u. Fig. 8). Auch in dem von mir be-
obachteten Falle floss nach einiger Zeit (ungeftihr einer Viertelstunde) die Haut-
schicht unter *Versch winden der Streifung und Spaltung mit dem übrigen Proto-
plasma wieder zusammen. — Ohne Zweifel gehören hierher auch die Fälle von
Spallbarkeiti welche man an gewissen, wahrscheinlich nur durch eine bleibende
Umformung der Hautschicht des Protoplasma entstehenden Gebilden beobachtet.
Wir erinnern hier an die porösen Deckelsäume der Epithelzellen des Darrocanals.
Nirgends sind diese Säume so colossal ausgebildet und die Neigung zur flbrillären
Spaltung so gross, als bei den Darmepithelzellen der Arthropoden. (Vergl. auch
Letdig, Lehrb. der Histologie. 1857. p. 382 u. Fig. 477 und p. 835, Fig. 484). Bei
den Fliegen z. B. erhält man oft vollkommen das Bild einer mit grossen ruhenden
Flimmerhaaren besetzten Zelle. Auch in vielen anderen physikalischen und chemi-
schen Eigenschaften scheint die Substanz, aus der diese Säume bestehen , mit der
Ciliensubstanz übereinzustimmen.
8) Auch für die Untersuchung dieser Verhältnisse sind die mit mächtigen
Wimpern ausgestatteten Oxytrichinen, namentlich die geroeine Gattung Stylonychia,
femer die Euplotinen zu empfehlen.
460 \ Th. W. «iigelmanii,
Die Spaltung lasst sich hier leicht durch äussere Eingriffe, besonders
Druck, Quetschung, hervorrufen, findet steh zuweilen aber auci) ohne
nachweisbare Veranlassung. Oft beiriSt die Spaltung nur die Spitze
der Wimper , welche dann gleichsam in ein feines Haarbüschel zer-
fasert ersöheint; oft spaltet sich das Haar in seiner ganzen Liinge, von
der Spitze bis zur Basis, in zwei, drei oder viele Stttcke, die häufig
ungleichen Dickendurchmesser haben. Oft auch zeigt' «ich nur eine
Streifung, ohne dass es zur wirklichen Spaltung käme. Das-ihirch
Spaltung zerfallene Flimmerhaar bleibt activ beweglich. Bei Infusorien-
Wimpern pflegt sich sogar jede einzelne abgespaltene Fibrille für sich
bewegen. Es kommt nicht selten vor, dass ein gespaltenes Flimmer—
hc'tar durch Vereinigung der einzelnen Fibrillen wieder zu einem Ganzen
wird und als solches fortarbeitet.
Eine ganz allgemeine und für das Zustandekommen der Flimmer-
bevvegung höchst bedeutungsvolle Eigenschaft der <]iliensubstanz ist
ihre Quell ungsfühigkeit. Alle Flimmerorgane imbibiren leicht
unter Volumzunahme Flüssigkeit und geben leicht unter Volumvermin—
derung Flüssigkeit ab. Die Fithigkeit, sich mit Wasser zu imbibiren,
zeigt sich im auffallendsten Maassc bei allen den Flimmerhaaren , die
während des Lebens von stärker concentrirten Salzlösungen bespült
werden , vor allem also an den Flimmerapparaten der Seethiere. Diese
werden bei Zutritt von reinem Wasser blitzschnell zerstört , indem sie
zu einer schleimigen, durchsichtigen Masse aufquellen. Bei den
Flimmerhaaren der Wirhelthiorschleimhäute erfolgt die Wasserauf-
nähme etwas weniger rapid. Bringt man sie in reines Wasser, so sieht
man sie blasser und dicker werden. Stehen sie sehr dicht auf einer
Zelle zusammen , so kann es geschehen , dass sie durch Queilung bis
zur gegenseitigen Berührung aufschw^ellen und dann mit einander zu
einer dicken Masse verkleben. Bis zur vollkommenen Zerstörung durch
Quellung im Wasser scheint es jedoch bei diesen Wimpern nicht zu
kommen. Eben so verhalten sich die Samenfäden. Besonders die der
Amphibien und Fische quellen im Wasser ansehnlich auf. Die wahrend
des Lebens von süssem Wasser bespülten Wimpern zeigen dagegen in
deslillirlem Wasser keine merkliche auf Quellung deutende Ver-
änderung.
Stärker quellend als reines Wasser wirken kaustische Alkalien,
selbst in starker Coneenlration : am meisten Kali, am wenigsten Am-
moniak. Neutrale Salzlösungen besitzen einen, für jedes Salz ver-
schiedenen Concenfralionsgrad , bei weichem keine Quellung oder
Schrumpfung eintritt. Steigerung des Salzgehaltes wirkt schrumpfend;
Steigerung des Wassergehaltes der Lösung wirkt quellend, die Queilung
r
lieber iSm Plinmeriiewei^ang. f 461
ist um so st^lrker, \^ gröfi^scr der Wassergeh^. In alkalisch reagiren-
den Salzlösungen pflegen die Zellen rascher zu quellen als in neutralen.
Stärker concentrirte Lösungen neutraler Salze, die für sich schrumpfend
auf die Oilien wirken, oder doch keine Queliung hervorbringen, können,
gemischt mit reinem Alkali (ohne Wasser), stark quellend wirken.
Durch Zusatz von Spuren kann das Quellungsverhültniss solcher Salz-
lösungen in den meisten Fällen nicht gesteigert werden. Nur bei den
Samenffideu' von Amphibien und Fischen ist durch Köllikbr das Gegen-
theil erwiesen. Ich kann dies für den Frosch bestätigen. Bei den
Haaren von Flimmerepithelzellen habe ich niemals deutliche Quellung
in Folge von Säurezutritt beobachtet, wohl aber deutliche Schrumpfung,
die bei Neutralisation mit Alkali wieder verschwindet. Es scheint
ferner, dass zur Erhaltung des normalen Quellungszustandes Sauerstoff
nöthig ist. Wenigstens können wir uns nur unter dieser Voraussetzung
erklären , warum Zellen , die in möglichst indifferenten Flüssigkeiten
lagen, in so vielen von uns beobachteten Fällen schneller schrumpften,
wenn sie in^eine Wasserstoffatmosphäre gebracht, als wenn sie in
Luft bewahrt waren.
Erwärmung, unterhalb 40®G., erhöht die Imbibitionsgeschwindig-
keit. Flimmerbaare der Rachenschleimhaut vom Frosch quellen z. B.
in Wasser von 30® C. viel rascher als in Wasser von 15<^ C. ; ebenso
rascher in wannen Salzlösungen von grossem Wassergehalt, als in
kalten. Geradoso verhalten sich auch Samenfiiden vom Frosch. —
Aehnlich wie Wärme wirken starke elektrische Stromschwankungen
erhöhend auf die Imbibitionsgesoh windigkeit. Dies kann man z. B. an
Flimmerhaaren vom Frosch, die in Wasser zu quellen begonnen haben,
deutlich beobachten.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die an den Cilien und Samen-
faden beobachteten Quellungserscheinungen zum grossen TheH einem
(iehalt derselben an Protagon zuzuschreiben sind, das wenigstens in
den Samenfäden nachgewiesen ist. Schon Köllikbe hat diese Ver-
muthung geäussert. Die Unterschiede der verschiedenen CiKenarten in
Bezug auf Quellungsfähigkeit würden dann auf einen verschiedenen
Protagongehalt derselben weisen.
Von wie grosser Bedeutung die Imbibitionsfähigkoit der Gilien-
subslanz für das Flimmerphänomen sei , davon haben unsere Unter-
suchungen, wie für die SamenfeUlen besonders Kölliker's Arbeiten die
zahlreichsten Beispiele geliefert. In dem Quellungszustand, in dem die
Gitic sich befindet, liegen die wichtigsten mechanisclien Bediogjungen,
von denen das Zustandekommen der Bewegung abhängt Ein grosser
Tbeil der Aenderungen , welche die Flimmerbewegung durch äussere
462 > '^' ^' GoS^iHBo,
Agenlien erleidet, berabi im Wesentlichen auf den Veränderungen des
Imbibitionszustandes der Cilien. Unter normalen Lebensbedingungen
befindet sich jede Cilie und Zelle in einem mittleren Grade der
Quellung , der von der QucUungsßfhigkeit ihrer Beslandtbeile und dem
Quellungsverhältniss der umgebenden Lösung bestimmt wird. So
lange dieser Zustand bestehen bleibt, findet die Bewegung ungeslörl
statt. Bei den Flimmerzellen geht die Bewegung in diesem Zustande
in regelmässigen Perioden und regelmässigem Rhythmus fort und die
Excursionen behalten gleiche Grösse. Jeder Aenderung dieses mflUi^n
Quellungszustandes entspricht aber eine Aenderung der Bewegung.
Schon im lebenden Körper finden häufig, mit Aenderung des die Zellen
bespülenden Mediums, solche Aenderungen statt; alle sind von Aende-
rungen der Bewegung begleitet. Sinkt der Flüssigkeitsgehalt der Gilic
durch Schrumpfung unter die Norm , so verkleinern und verlangsamen
sich die Excursionen , unter Umstanden bis zum Stillstand. Steigt der
Flüssigkeitsgehalt durch Quellung über die Norm , so nimmt die Grösse
der Excursionen , aber auch die Frequenz anfänglich zu. Bei weiter
fortgehender Quellung pflegt sich zuerst die Frequenz, später erst die
Grösse der Excursionen zu vermindern. Letztere bleibt zuweilen bis
zum Eintritt des Stillstandes maximal. Bei der Schrumpfung werden
die Wimpern fester, oft, von der Spitze anfangend, ganz steif. Bei der
Quellung werden sie weicher, äusserst biegsam, endlich können sie
flüssig werden.
Die Verkleinerung der Schwingungen, der endliche Eintritt des
Stillstandes bei der Schrumpfung lässt sich leicht rein mechanisch aus
der hierbei eintretenden Vermehrung der Gohäsion, der geringeren
Verschiebbarkeit der Molecüle erklären , wie umgekehrt das Zustande-
kommen grösserer Bewegungen in Folge der Quellung aus der hierbei
eintretenden Abnahme der Gohäsion , der leichteren Verschiebbarkeit
der Molecüle begreiflich ist. Auch der nach weiterer Quellung erfol-
gende Stillstand hat nichts Wunderbares , wenn man bedenkt, dass
dabei die Substanz der Flimmerbaare dem flüssigen Zustand nahe ge-
bracht wird: im flüssigen Zustand hört aber alle Organisation auf.
Warum das Tempo der Bewegungen bei Zunahme der Quellung über
die Norm anfangs schneller, später, wie auch nach Schrumpfung,
langsamer wird , ist aus den blossen Aenderungen der Gohäsion nicht
verständlich, i)
4) Viele der hierher gehörigen Erscheinungen lassen sich befriedigend nü\
Hilfe der von Uofveistkii aufgesletllen Hypothese über die Mechanik der Proto-
plasma- und Wimperbewegung erklären. Indessen wird es beim Versuch , alle be*
r
Deber die FH>i«erlew«gnng. ^ 463
Aus den Aenderongen des Quellungszuslimdes begreifen sich eine
Reihe der Verynderungen sehr gut, welche die Flimmerbewegung
durch Einwirkung verschiedener Agentien unier verschiedenen Be-
dingungen erleidet. Es begreift sich zunächst, warum Wasser und
Alkalien den Stillsland in concentrirteren Lösungen indifferenter Stoffe
aufzuheben vermögen , warum die Alkalien auf Wimpern , die durch
Wassereinwirkung geschwächt sind, nicht belebend, sondern hemmend
wirken. Auch bei der Wiederbelebung der Gilien durch Säuren aus
dem Aikalistillstande kommt wol dasselbe Moment ins Spiel. Es be-
greift sich , warum der Wasser- und Alkalislillstand durch wasser-
entziehende Salzlösungen beseitigt werden kann. Es begreift sich,
warum der Wassersteffstillstand, der In möglichst indifferenten Flttssig-
keiten (Kochsalz 0,5%, Blutserum z. B.) bald einzutreten pflegt, an-
fangs durch Quellung erregende Mittel , Wie Wasser, Alkalien, ohne
Zufuhr von Sauerstoff, aufgehoben werden kann. Es begreift sich
ferner, warum die Bewegung, wenn sie durch Wasser verlangsamt ist,
beim Erwärmen und beim Durchleiten starker, elektrischer Schläge sich
nicht beschleunigt, sondern noch schneller zur Ruhe kommt.
Dass in derselben Weise die belebende Wirkung zu erklären sei,
welche Wasser und Alkalien in den gewöhnlichen Fällen haben, wo
die Bewegung in angeblich ganz indifferenten Flüssigkeiten »von selbst« «
zur Ruhe gekommen ist , wird schon aus früher Gesagtem deutlich ge-
worden sein^ Ich hatte anfangs daran gedacht, ob der unter solchen
Verhältnissen eintretende Stillstand der Flimmerhaare nicht etwa auf
der allmählich eintretenden »spontanen« Gerinnung eines Eiweiss-
körpers in der Flimmersubstanz (etwa Myosin) beruhe , und die be-
klebende Wirkung der Alkalien und Säuren der Lösung dieses Ge-
rinnsels zuzuschreiben sei. Allein diese Vermuthung lässt sich nicht
halten, gegenüber den mir damals unbekannten Thatsachen, dass eben
so belebend wie Alkalien und Säuren auch Wasser, Aether und Alkohol
wirken. Wir sehen ja auch , dass, wenn nur der normale Quellungs-
zustand durch Zufuhr von Wasser und Sauerstoff erhalten wird, die
Bewegung unablässig, selbst Wochen lang nach dem Tode des Ge-
sammtorganismus fortbesteht, und erst mit der Fäulniss ein Ende
kannten Thatsachen anter den Gesichtapunct dieser Hypothese zu bringen , sehr
bald nöthig , Hilfshypothesen von so mancherlei Art herbeizurufen , dass wir von
der Ausführung eines solchen Versuches Abstand genommen haben. Uns scheint
jedoch die genannte Hypothese , die erste , welche eine Erklärung der sogenannten
Contractilitlltserschcinungen versucht, weilerer Ausbildung sehr wohl Rihig und
fruchlverheissend. Wir verweisen hier auf ihre ausführliche Begrttudung und Dar-
legung in Hopmeistbk's »Lehre von der Pflansenzelle.« 4867.
464 ^ Tfc, ¥• EasiiMM,
nimmt. Aul halb verfaulten , stinkenden Sehleimhänten fanden ^^ir,
wie früher erwähnt, die Flimmerbewegung nach Wassenusati noch in
Gang. Eine der des Muskels entsprechende spontane Todlenstarre
der Flimraerhaare exisiirt also gar niehL Die Thatsache.
dass die Wärmeslarre der Fhmmerhaare bei ungefiihr derselbeo Tem-
peratur einzutreten pflegt, bei welcher das Myosin plötzlich gerinnt,
reicht uns für die Annahme einer spontan coagulirenden Substanz
in den Flimmerhaaren nicht aus.
Bei der Wirkung der Säuren, des Aethers, Alkohds und Schwefel-
kohlenstoffs scheint die Aenderung des Quellungsznstandes im Allge-
meinen von weniger Gewicht zu sein. Denn wir sehen, dass diese
Körper sowohl bei stärker gequollenen als bei geschrumpften Cilien
anfangs die Bewegung steigern und dann erst hemmen. Aus denselben
Gründen beruht die hemmende Wirkung des Chloroforms nicht auf
Veränderung des Flttssigkeilsgehaltes der Wimpern. Unmöglich scheint
es für jetzt, näher anzugeben , auf welchen Voi^ängen der erregende
Einfluss beruhe , den Säuren , Aether , Alkohol , Schwefelkohlenstoff in
so vielen Fällen auf die Flimmerbewegung ausüben. Die bereits ange-
führten Thatsachen machen es am Wahrscheinlichsten, dass dieser
Einfluss weniger auf Verbesserung der mechanischen Bedingungen,
Verminderung der inneren Widerstände im Fiimmerhaar beruhe, als
auf dii*ecter Steigerung der chemischen Umsetzungen, welche der Be^
wegung zu Grunde liegen. Jedenfalls kommt dieser Einflpss auch bei
den zunächst durch die Grösse ihrer mechanischen Wirkungen auf-
fallenden Agentien, wie Wasser, neutralen Salzlösungen, Alkalien
wesentlich in Betracht , wie namentlich die Aendemngen in der Fre-
quenz der Schläge wahrscheinlich machen. Beide Einflüsse werden^
sich entgegenwirken oder unterstützen können, und der Gesammterfolg
der Em Wirkung eines Agens (Anregung oder Hemmung der Bewegung)
wird von der Stärke jedes der beiden Einflüsse und dem Sinne in dem
jeder einzelne wirkt, bedingt sein.
Kaum einem Zweifel kann es unterliegen , dass auch die Tempe-
ratursteigerung und sehr wahrscheinlich auch die elektrischen Strom-
schwankungen ihren die Bewegung anregenden Einfluss vor Allem
einer Erhöhung des physiologischen Stoffurosatzes in der Zelle und nur
zum geringeren Theil den unmittelbar durch sie gesetzten Aendemngen
der mechanischen Bedingungen [Zunahme der Quellung) verdanken.
Nicht schwer scheint es, die Ursache der Hemmung zu finden,
welche bei fortgesetzter Einwirkung von Säuren, Aether, Alkohol,
Chloroform und Wärme auftritt. Die mit dem Mikroskop deutlich
wahrnehmbare , öfter feinkörnige Trübung , welche in den Zellen und
r
■
Oeber die Flimaierbew<^Qng. 465
Cilien eintritt bei Einwirkung von Aether, Alkohol, Gbloroform, Metall-
3dl2en , mit Ausnahme der Samenfäden von Amphibien und Fischen
ajuicb bei Einwirkung von Säuren, selbst Kohlensäure, und der Eintritt
derselben Trübung beim Erwärmen auf etwa 45^, beweisen, dass in
den Flimmerhaaren EiweisskOrper enthalten sind , welche durch jene
Agentien zur Gerinnung gebracht werden. In dieser Gerinnung dürfen
wir den Grund für das Aufhörep der Bewegung erblicken. Es
spricht nicht gegen diese Annahme , dass der Stillstand der Bewegung,
den jene Agentien herbeiführen, häufig früher eintritt, als eine optische
Veränderung an den Zellen und Cilien wahrnehmbar ist, denn wir
wissen , dass Eiweissmassen im ersten Stadium der Gerinnung voll-
kommen durchsichtig erscheinen können. Das Eiweissgerinnsel, durch
dessen Auftreten die Cilien fester werden, muss schon rein mechanisch
das Zustandekommen der Bewegung verhindern können. In der That
kann , wie wir gesehen haben , durch Wiederlösung desselben die Be-
wegung wieder hergestellt werden. So bei fixen Säuren durch Alka-
lien, bei Kohlensäure durch Luft oder Alkalien , beiAetber, Alkohol,
Chloroform durch Luft.
Für die Lösung der Fundamentalfrage, welche chemischen
Processe der Flimmerbewegung zuGrunde liegen, bietet
sich natürlich bei dem ärmlichen Zustand unserer Kenntnisse von der,
auch nur qualitativen, chemischen Zusammensetzung der Flimmer-
substanz wenig Aussicht. Die wichtigste Grundlage fehlt, auf der eine
Physiologie der Flimmerbewegung zu bauen hätte. Inzwischen lassen
sich doch aus dem vorhandenen Material einige allgemeinere Schlüsse
ziehen auf die Art der chemischen Processe, auf denen die Cilien-
thätigkeit beruht, und auf die allgemeineren chemischen Bedingungen,
von denen die Erhaltung des Lebens der Flimmerzellen abhängt.
Freilich zeigt sich sogleich, dass mit dem Ergebniss dieser
Schlüsse für das Verständniss der Flimmerbewegung vorläufig nicht
viel gewonnen ist. Denn es stellt' sich das Resultat heraus, dass der
Stoffwechsel der Flimmerzellen in den Hauptzttgen mit dem der Mus-
keln , nach den neuesten Mittheilungen von Ranke auch mit dem der
Nerven , und vielleicht noch mit dem vieler anderer Gewebe überein-
stimmt. Diese Uebereinstimmung zeigt sich zunächst in der Thatsache,
dass jede Art der Flimmerbewegung bestehen und sich
eine Zeit lang erhalten kann, während weder Sauer-
stoff noch oxydirbare Substanz der Zelle zugeführt
wird.
Dass die Flimmerbewegung unabhängig von Sauerstoffaufnahme
aus der Umgebung bestehen könne , haben uns die Versuche ntiit
Bd. IV. 3. M
466 Tb» W. Eiigelfflann,
Wasserstoff und kohlensäurefreiem Leuchtgas gelehrt : wi^ sahen die
Bewegungen der verschiedensten Fliminerzellen , wie die Beweguhgen
der Samenfiiden sich einige Zeit (bis Stunden) lang in vollkommM
sauerstofiffreiem Medium erhalten. Die Thatsache, dass vollkoinn»en
isolirte Zellen oder Zellgruppen in reiner Kochsalzlösung vott 0,$ bis
0,7% oder in anderen möglichst indifferenten Lösungen anorganischer
Salze ihre Bewegungen fortsetzen^ ^beweist, dass die Bewegung un- '
mittelbar unaMiöngig ist von Zufuhr organischen , oxydirbaren Mate-
rials. Und zwar zeigt sich , dass die Wimperzelten der Zufuhr orga-
nischer Substanz viel länger entbehren können , als des Sauerstoffs,
denn tagelang sehen wir sie in jenen Salzlösungen fortleben, falls
ihnen genügend Sauerstoff geboten wird.
Aus den beiden fundamentalen Thatsachen , dass alle Wimper-
be\^egung ohne Zufuhr von Sauerstoff und ohne Zufuhr von orga-
nischer Substanz eine 2Seit lang fortbestehen kann, folgt, dass jede
FKmmerzelle , jeder Samenfaden , efinen gewissen Kraftvorrath in sich
aufgespeichert besitzen , der zur Erhaltung ihres Lebens und Unter-
haltung ihrer Thätigkeit auf einige Zeit ausreicht. Die weitere That-
sache abe^r, dass zu längerer Fortsetzung der WimperbeweguDg Sauer-
stoff unentbehrlich ist, beweist, dass der chemische Process, auf
welchem das Zustandekommen des Wimperspiels beruht , mft Sauer^
stoffVerbrattch vei4)unden ist. Hieraus folgt, dassjedeZelle ausser
einem Yerrath an oxydirbarer Substanz auch einen Vorrath von
gebundenem Sauerstoff besitzen muss, welcher bei der
Thätigkeit der Zelle verbraucht wird. Dieser Sauerstoff-
vorrath reicht nur zur Bewältigung eines sehr kleinen Theiles des in
der Zelle aufgespeicherten oxydiit>aren Materials aus. Ist er ver-
braucht , so vermag die ZeHe ihn durch Aufoahme gasförmigen Sauer-
stoffs von aussen tm ersetzen. Diess lehrt das Wiedererwachen der
fiewegung aus dem Wasserstoffstillstand und die Besohleunigung der
im Wasserstoffstrom verlangsamten Bewegung bei Sauerstoffziutritt.
Aber auch in den Fttiten , wo man keinen Grund zu der Annahme
hat , dass der in der Zelle aufge^icherte Vorrath von Sauerstoff ab-
genommen habe, wird von der Zelle leicht mehr Sauerstoff aul^-
nemmen und zur Steigerung ihrer physiologischen Thätigkeit ver^
wendet. Man muss diess aus den oben mitgetheilten Tbatsacben
sohliessen, dass frische FlimmerzelleA , dereti Bewegungen ftich bei
AAiwesenheit reiner atmosphöriscker Luft duröh kurze £inwirkuiig ven
stärker concentrirten Kochsalzlösungen oder von reinem Wasser, eder
audh afHmliiilieh in indifferenten Rttssigkeiten veriangsamt hat, durch
^en Strom reinen Sauerstoffgases fast {»kitzliob zu stärkerer Thati^
Deber die Plimiaerbew^Dg. 467
keil angerf\gi werden. Obschon also das SnstaDdekommen des Plim-
merphäoomeos siebt nothwendig an Aufsahme von Sauerstoff aus der
Uiqgebung gebunden ist, übt doch der Gebalt des umgebenden Me-
diums an freiem Sauerstoff grossen Einfluss auf die Intensität des
Phänomens aus; Diess beweisen auch die Versuche, bei denen die
FUmwerzellen in Gasgemischen von Wasserstoff und verschiedenen
Mengen Sauerstoff sich befanden. ,
Wir dürfen wol hiernach annehmen , dass die Grösse des physio-*
logischen Stoffumsatzes in derFlimmerzelle nicht unwesentlich abhängt
von dem gleichzeitigen Gehalt des umgebenden Mediums an freiem
Sauerstoff. — Ob die Flimmerzelle auch im Stande sei , locker gebun-
denen Sauerstoff aus der Umgebung an sich zu reissen und zur Er-
haltung ihrer physiologischen Thätigkeit zu verwenden , wie das Kvbnb
nach Verauchen mit Sauarstofihämoglobin behauptet , lassen wir un-
entschieden, halten es aber nicht für unwahrscheinlich.
Leider reichen diese wenigen Erfahrungen nicht aus, um über
die specielle Art der der Flimmerthätigkeit zu Grunde liegenden
chemischen Processe etwas festzustellen. Wir wissen nicht, welches
die Substanz oder die Substanzen seien , welche den in der Zelle vor-
handenen Sauerstoff unter Entwicklung lebendiger Kraft verbrauchen ;
wir wissen nicht, welches die Producte des Stoffwechsels in der leben-
den Zelle sind , ob Kohlensäure , ob andere Säuren , ob und welche
stickstofibaltigen Zersetsungsproducte gebUdet werden.
Eine einzige Reihe nur von Thatsachen scheint bis jetzt darauf
hinzudeuten, dass die in der thätigen FUmmerzelle ablaufenden chemi-
schen Processe mit Säurebildung verknüpft seien. Wir denken hier
nicht an die Thatsaohe, dass Alkalien die unter möglichst normalen
Verhältnissen zur Ruhe gekommene Flimmerung meist wieder anregen.
Denn durch den Nachweis, dass unter denselben Umständen wie
Alkalien auch Wasser, Alkohol, Aether, ja Säuren selbst die Zellen
wieder erwecken , ist die noch unlängst wieder ausgesprochene Mei-
nung widerlegt , dass die belebende Wirkung der Alkalien in den ge-^
nannten Fällen auf Neutralisation einer Säure in den Zellen beruhe.
Wir denken hier vielmehr an einige Thatsachen , die wir bei SchUde-
rung des Einflusses der Wärme schon erwähnt haben. Es sind
folgende: Erstens, Zufuhr von etwas Alkali befordert das Wieder-
erwachen der Fbmmerzellen aus der Wärmestarre — andere Re-
lebung/iDUttel der Wimperthtttigkeit, wie Säuren, Wasser, Aether
haben diese Wirkung nicht, sie scheinen im Gegentheil die Wärme-
starre zu befestigen. Zweitens , Verlangsamung durch tiberachüssiges
468 '^' ^* ßneetmann,
Alkali wird durch schnelle Grwännang nicht selten aufgehoben , und
macht einer ansehnlichen Besebleunigung Platz — niemals konnte da-
gegen durch Erwärmen ein Säure- oder Wasserstillstand gehoben
oder auch nur der von der Säure oder dem Wasser bewirkten Ver-
langsamung Einhalt gethan werden.
Diese Thatsachen erklären sich sehr befriedigend , wenn man eine
physiologische Säurebildung in der Zelle annimmt, deren Grösse mit
der Grösse des Stofiumsatzes in der Zelle überhaupt wächst. Die bei
Erwärmung auftretende Steigerung der mechanischen Thätigkeit der
Zelle , die Beschleunigung der Bewegung scheint nun , wie die Ver-
gleichung einer Anzahl von Thatsachen lehrt, wenn nicht ausschliess-
lich, doch zum grOssten Theil auf einer Steigerung des physiologischen
Stoffumsatzes in der Zelle zu beruhen. Somit würde unserer Annahme
gemäss in den Zellen , deren Bewegungen durch Temperaturerhöhung
beschleunigt sind , die Säurebildung gesteigert sein. Diese vermehrte
Säurebildung könnte nun zum Theil mit die Ursache der Starre sein,
welche bei fortgesetztem Er\% armen der Zellen auf etwa 40^ G. eintritt.
Wir sehen ja, dass bei einem gewissen Grade der Säuerung das
Wimperspiel aufhört. Wir sehen aber auch femer , dass der Säure-
stillstand durch Alkalizusatz aufgehoben werden kann. Finden wir
nun, dass wprmestarre — in neutralen Flüssigkeiten liegende —
Flimmerzellen bei der Abkühlung sicherer und schneller erwachen,
wenn ihnen etwas Alkali , als wenn ihnen nichts, oder ein anderes der
üblichen Belebungsmittel , vor Allem eine Säure beigebracht wird , so
werden wir mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, dass
eine Säure , und zwar eine fixe Säure , wenigstens zum Theil Schuld
an der beobachteten Starre gewesen sei. Indessen würde für die Er-
klärung dieser Thatsache auch die früher erwähnte Annahme aus-
reichen , dass durch die Erhitzung ein Eiweissköi*per in den Flimmer*
haaren coagulirte, der, vielleicht rein mechanisch, die Bewegungen des
Haares gehindert habe und nun durch das Alkali gelöst worden sei. —
Unzweideutiger spricht die zweite der eben erwähnten Thatsachen für
eine in der lebenden Zelle vorhandene und durch Erwärmung ge-
steigerte Säurebildung. Die Beschleunigung der durch Alkali verlang-
samten Bewegung bei Erwärmung ' begreift sich dann leicht , da wir
wissen , dass die schädliche Wirkung der Alkalien durch Säuren auf-
gehoben werden kann. Und ebenso begreift sich, dass Zellen, deren
Thätigkeit durch Einwirkung saurer Flüssigkeiten zum Abnehmen ge-
bracht war, beim Erwärmen noch schneller zu Ruhe kommen: denn
hier fügt sich dann zu der Wirkung der bereits vortiandenen, von
üeber die Rioioierbcwfffung. ^ 4g9
aussen zugefuhrien Säure die Wirkung A^ beim Erwttrmen neuge-
bildeten Säure hinzu. ^)
Kil der Gonsiatirung aller dieser , den Stoffwechsel der Flimmer-
zelien betreffenden Thatsachen, sind wichtige Analogien zwischen
den Lebensvorgängen der Flinmierzellen und denen der MudLoln und
Nerven festgestellt. Auch diese Gewebe vermögen eine Zeit lang un«-
abhängig von Sauerstoffaufnahme und von Aufnahme oxydirbaren
Materials zu leben; auch sie produciren bei der Thätigkeit Säure.
Diese Analogien wachsen noch, wenn man sich erinnert, dass die
Flimmerzellen , wie wir vor Kurzem gezeigt haben, elektromo-
torisch wirksam sind. Es ist wenigstens höchst wahrscheinlich,
dass die von uns in der Racbenschleimhaut des Frosches gefundenen
elektromotorischen Kräfte in den Flimmerzellen und nicht in den
Becherzellen (oder vielleicht in beiden) ihren ^itz haben. Da indessen
die Untersuchungen hierüber noch nicht weit genug gediehen sind,
vermeiden wir ein näheres Eingehen auf diesen Punct und begnttgen
uns damit, die Hauptthatsachen in einer Anmerkung hier beizu-
fügen. 2)
I) Direet nachweisen lässt sich eine Säurehildung in den Flimmerhaaren und
selbst in der Gesammimasse der Flimmerzellen nichti da man sie nicht unvermengt
mit anderen Elementen bekommen kann. So hat man bei dem Epithel der Rachen-
schleimhaut des Frosches ausser den Flimmerzellen immer noch eine grosse Menge
von Becherzellen. Die Reaction des gesammten Epithels der Rachenschleimhaut
ist neutral ; in einigen Fällen fand ich ich sie ganz schwach alkalisch. Beim Er-
wttrmen auf 450 und darüber ändert sich die Reaction nicht merklich. Niemals
fand ich sie nach dem Eintritt der Wärmestarre sauer. — Ebensowenig ändert sich
die ziemlich stark alkalische Reaction der Hodensubstanz des Frosches , wenn man
sie auf mehr als 45^ C. erwärmt.
Beiläufig machen wir hier darauf aufmerksam, dass das lebende Protoplasma
von Amoeben und Infusorien schwach alkalisch oder neutral , aber auch schwach
sauer reagiren kann. Ich ermittelte diess, indem ich diese Organismen mit Lakmus-
körnchen fütterte. Blaue Lakmuskörnchen , von Amoeben (A. Umax z. B.) aufge-
nommen , blieben stundenlang blau. Als eine Spur Kohlensäure über das Präparat
geführt wurde, färbten sich die Körnchen im Innern der Amoebe augenblicklich
roth , ohne dass die Protoplasmabewegungen aufgehört hätten. — Auch Lakmus-
körnchen , die von Infusorien (Stylonychia , Oxytricha] verschluckt waren , blieben
lange Zeit blau. Führte ich dann eine Spur Kohlensäure zu, so rötheten sich die
verschluckten Lakmuskörnchen plötzlich, während gleichzeitig die Wimper-
bewegung sich beschleunigte, die Thiere unruhig wurden. Die rothe Farbe der
Lakmuskörnchen blieb oft fortbestehen , nachdem wieder reine Luft zugeleitet war
und die Thiere wieder das normale Verhalten zeigten. — Zuweilen trat die rothe
Färbung der verschluckten blauen Lakmuskörnchen nach längerem Aufenthalt im
Protoplasma von selbst ein. —
9) Wird die Rachenschleimhaui eines Frosches aus dem eben getödteten Tbier
herausgeschnitten , auf einem Korkrahmen ausgespannt und mit unpolarisirbaren
Elektroden, die zu einem Multiplicator führen , abgeleitet, so zeigt die Nadel in
vielen Fällen einen Strom an. Bezeichnet man die der Mundhöhle zugekehrte
Flache der Schleimhaut als Oberfläche , die entgegengesetzte als Unterflttche und
den künstlich durch die Präparation hergestellten scharfen Rand al9 Querschnitt
470 "Hl. W. Engelmann,
Zum Schluss gedenken wir hier noch einiger wichtiger, die Be-
ziehungen der Flimmerbaare zum Protoplasma betrefFend^ü
Fragen. In neuerer Zeit ist die Frage nach der anatomischen Ver-
bindung zwischen den Cilien und dem darunterliegenden Protoplasma
wiederholt besprochen worden. Man hat sich vielfach bemüht , Fort-
setzungen der Gilien in die tieferen Schichten des Protoplasma nach-
der Membran, so lassen sich die beobachteten Erscheinungen folgendermaassen
ausdrücken.
Leitet man zwei Puncte der UnterflAche oder des Querschnittes ab, oder iwei
Puncto der Oberfläche, die gleich weit vom Querschnitt entfernt sind , so bleibt die
Nadel des Multiplicators in Ruhe. — Leitet man dagegen einen Punct der Ober-
fläche und einen der Unterfläche ab , so schlägt die Nadel stark aus und bleibt
dauernd abgelenkt. Der angezeigte Strom geht in der Haut von der Oberfläche
nach der ünterfläche. — Leitet man einen vom Querschnitt entfernteren Punct der
Oberfläche und einen Punct des Querschnittes selbst ab , so erfolgt ebenfalls ein
starker Ausschlag der Nadel , der einen in der Haut von der Oberfläche zum Quer-
schnitt gerichteten Stroix\ anzeigt. — Verbindet man Querschnitt und Unterfläche,
so zeigt sich ein äusserst schwacher Strom , in der Schleimhaut vom Querschnitt
nach der Unterfläche gerichtet. — Berührt man zwei Puncte der Oberfläche ab-
leitend, von denen einer näher am Querschnitt gelegen ist, so zeigt die Nadel einen
Strom an , der in der Haut nach dem dem Querschnitt näheren Punct läuft. Je
näher letzterer Punct dem Querschnitte rückt, um so grösser wird die Abweichung
der Nadel.
Die Anwesenheit der elektrischen Ströme hängt von der Anwesenheit des
lebenden Epithels ab. Entfernt man das Epithel mit Hülfe eines Glasspatelchens
oder tödtet man es durch Druck oder durch Bepinseln mit Säuren, Alkalien, Metall-
salzen, Aether, Chloroform u. s. w., so erhält man keine Ströme mehr.
Es fragte sich , ob die elektromotorische Wirksamkeit des Epithels in einem
bestimmten Verband stände mit der Bewegung der Cilien. Zu diesem Zwecke
wurde untersucht, wie sich das elektromotorische Verhalten der Schleimhaut
ändere unter dem Einfluss von Agentien , welche die Flimmerbewegung beschleu-
nigen oder verlangsamen. Hierbei ergab sich Folgendes.
Reizt man die mit Kochsalzlösung von 0,5 o/g bedeckte Membran durch einen
einzelnen oder durch eine Reihe von Inductionsschlägen , so zeigt sich unmittellmr
nach dem Aufhören der Reizung eine stärkere Abweichung der Multiplicatornadel
als vorher. Im Lauf einer oder weniger Minuten kehrt die Nadel dann auf ihren
früheren Stand zurück. — Taucht man die Schleimhaut 1/4 bis 2 Minuten in halb-
procentige Kochsalzlösung von 80 >-400 C., dann ist gleichfalls unmittelbar nachher
der von der Membran abgeleitete Strom stärker, nimmt jedoch bald wieder ab.
Nach einem Aufenthalt von V2 bis ^ Minute in halbprocentiger Kochsalzlösung von
450 ist die elektromotorische Wirksamkeit , wie die Flimmerbewegung, vernichtet
und kehrt nicht wieder zurück. Bei einer Temperatur von 700 genügt dazu schon
ein Aufenthalt von 5 Secunden. Sind die Zellen durch mehrere Minuten langes
Verweilen in Kochsalz von 40 — 44<> in den ersten Grad der Wärmestarre ge-
kommen, dann findet man oft, dass die Richtung des Stromes sich umgekehrt hat.
Sie bleibt es dann , auch nachdem die Bewegung aus der Wärmestarre wieder er-
wacht ist. Ebenso kehrt sich der Strom um , wenn die Schleimhaut V4 Minute in
Kochsalzlösung von SSO verweilt. Die Zellen befinden sich dann im zweiten Grad
der Wärmestarre. — Taucht man die Membran in reines Wasser (wodurch die
Flimmerbewegung, wie ich früher fand, bedeutend verstärkt wird) , so zeigt die
Nadel einen bedeutend stärkeren Strom im Multiplicatorkreis an. Dieser Strom
kann längerd Zeit in gleicher Stärke fortbestehen. — Behandelt man die Schleim*
baut mit Kochsalztösung von 4,5 bis %^/q, dann erlischt die Flimmerbewegnng viel
firüher als die elektromotorische Wirksamkeit. Nach Einwirkung von Sprocentiger
Kochsalzlösung bleibt die Nadel auch bei stärkster Anordnung in Ruhe. Verdrängt
maft die Kochsalzlösung sogleich wieder durch Wasser oder äusserst verdünnte
Deb«r die FllianeH)ewegiiDg. /^ 471
«IWQimi« Ja von manohen Seiten werden sokbe Fortselxungen gleich-
sam als ein physiologisches Postulat hingestellt und die ToreteUuBg ge-r
äussert, 4ils ob die Wimperbewegung durch Contractionen in dem unter
den CUien gelegenen Protoplasma ausgelöst würde und werden müs^te.
In der Tbat sind einige Beobachtungen dieser Vorstellungsweise
nicht gerade ungünstig. Verschiedene Untersucher (VALurmr, Bvbl-
■ANN, FanDREicH y Emuth , Marchi) glauben deutlich gesehen au haben,
dass die CiUen nicht an der Oberfläche der Zdlen aufsitxen , sondern
tiefer ios Protoplasma hineinragen. Vor Allem aber hat A. Stuart^)
einige Beobachtungen mitgetheilt, welche, wenigstens für einen Paii,
die Bichtigkeit der obigen Anschauungswdse sehr wahrsobeinlioh
machen würden. Er sah den Inhalt der Flimmerepithelsdlen des
Veluna v«n jungen Eolidinen in eine Anzahl der* Längsaxe der Zelle
parallele Streifen differensirt , welche sich durch den hyalinen Dediel«*
savm unmittelbar in die Flimmerhaare fortsosetaen sdiienen.- Diese
Protoplasmastrange zeigten bei Zellen , deren Wimpern in ThtftigkeU
waren , active Bewegungen , durch welche der Zellenkem hin-* und
bergeschoben wurde. Standen die Flimmerhaare stül, so war ge*
w^bolick auch der Kern in Buhe ; fingen sie an sich zu bewegen , so
begannen auch die Verschiebungen der Kerne. ') Nach Babl-Bugk-
«AAD 3) würden freilich die von Ebirth und Marchi beobachteten an-
gebliehen Forlsetzungen der Gilien im Innern der Zelle durch Falten in
der Zellmembran oder nach unserer Auffassung dieses Theils der Zelle,
in der Bindenschicht des Protoplasma vorgetäuscht sein. 4) Er be^
Salzlösungen, so kehrt die Flimmerbewegung bald zurück, die elektromotorische
Wirksamkeit bleibt dagegen maist noch eine Zeit lang unterdrückt, kann sich aber
im Verlauf von Minuten bis Stunden vollkommen wieder erholen. — Bringt man
die Flimmerl>ewegung durch Kochsalz von 4,5% zur Ruhe und lässt dann Am-
moniakdampte auf die Membran einwirken, so steigt innerhalb der ersten Minuten,
während auch die Bewegung wieder erwacht, die Stärke des abgeleiteten Stromes,
um dann wieder zu sinken. Aehnlich wirken Aetherdämpfe , die den Strom bald
auf Null bringen. — * Narcotisirt man eine iVisohe Membran durch Chloroform-^
dämpfe , so nimmt die Stärke des abgeleiteten Stromes , nachdem sie anfänglich
beträchtlich gesteigert war, ausserordentlich ab. Verdrängt man hierauf das
Chloroform durch atmosphärische Luft, so erwacht die Flimmeri>ewegttng bald
wieder , die elektromotorische Wirksamlceit bleibt aber unterdrückt. —
4) Stuaet, Ueber die Flimmerbewegung. Inaugur. Diss. Dorpat 4867. p. 19.
Die beige^ebene Zeichnung sieht leider wenig vertrauenerweckend aus.
2] Leider ist nicht gesagt , ob die Bewegungen der Protoplasmasträngc regel-
mässig periodisch und isochron mit den Bewegungen der Cllien oder wie sonst ge-
wesen seien.
3) RuL-Ruzcuuao» Einiges über Flimmerepithel und Becherzellen. Archiv
L Anat u. Physiol. 4868. p. 7S.
4) Die Fälle, wo man eine streifige Fortsetzung der CUien im Innem des
Protoplasma zu sehen meint, sind häufig genug. Die Bikier sind oft nicht leiirfit
ZU beurth^il9i|. Ich möchte hief auf eine Quelle von TäOschungoD aufifierkBam
472 N Tb. W. EngelmäDD,
obachtete diese Streifen auch bei nicht flimmernden Epithelaellen der
Sypho von BuScinum undatum.
Wenn wir aber auch die von Stuart und seinen Vorgängern mR-
getheilten Beobachtungen als richtig anerkennen, so steht es dodi
ebenso fest, dass in sehr vielen Fällen, und zwar in solchen, bei
denen die Hauptbedingungen ftlr die Entscheidung so feiner Fragen
erfüllt sind , keine Verlängerungen der Gilien ins Innere des Proto-
plasma sich nachweisen lassen. Es soll hier weniger daran erinnert
werden, dass es unmöglich ist, bei vielen und grosshaarigen FlimBier-
epithelzellen von Wirbelthieren und Wirbellosen solche Verlängerungen
wahrzunehmen. Wir möchten vielmehr darauf hinweisen, dass selbst
bei vielen grossen Wimpern von Infusorien (z. B. den mächtigen
Afterwimpern und Endborsten der Stylonychien), bei denen man doch
am Ersten noch eine höhere Differenzirung erwarten dürfte , durchaus
keine weiteren Fortsetzungen ins Protoplasma zu bemerken sind. Die
Wimpern sind hier , wie bei den meisten Flimmerepithelzellen einfach
Anhänge , Auswüchse der Rindenschicht des Protoplasma. Bei vielen
Flimmerzellen ist die Rindenschicht in der Ausbreitung, wo die Wim-
pern aufsitzen , noch besonders zu einem deckelartigen Saum verdickt,
der ansehnliche Dicke erreichen kann.
Es steht ferner vollkommen fest, dass das Protoplasma der
meisten Flimmerzellen, auch an den unmittelbar unter den Ciiien
gelegenen, die Basis derselben berührenden Stellen , keine active Be-
weglichkeit zeigt, gleichviel ob die Flimmerhaare starke oder schwache
Bewegungen ausführen. Ich habe mich durch häufige Beobachtungen
hiervon überzeugt. Schon durch diese Thatsache wird die Annahme
widerlegt, dass die Anregung zur Flimmerbewegung von Gontrac-
tionen im Zellprotoplasma ausgehe. Ausserdem wird die Unrichtig-
keit dieser Vorstellung durch Beobachtungen an Samenfäden dargethan.
Auch hier sind ja das Kopf- und Mittelstück, von denen letzteres
nach ScHWüiGGER-SEmsL dem Zellprotoplasma (genauer vielleicht dem
Deckelsaum) der Flimmerzellen entspricht, unfähig, active Bewegungen
zu vollziehen. ^)
machen , welche wol den meisten Trugbildern dieser Art zu Grunde Hegt. Bei der
grössten Mehrzahl der Flimmerzellen sitzen die Wimpern In grösserer Anzahl ttber
eine krumme Flache zerstreut. Diese Anordnung macht es unmöglich, alle Wim-
pern gleichzeitig scharf ins Profil zu stellen. Entspringen nun, wie es fast immer
der Fall ist, hinter dem flxirten Rande der Zelle einige Wimpern , so bringen diese,
jndem sie wie convexcylindrische Gläser wirken , helle Linien in der dunkleren
Zellsnbstanz hervor und täuschen dadurch streifenartige Fortsetzungen der Wim-
pern im Innern des Protoplasma vor.
i) Vgl. hierüber Scbweigger-Seidel, im Arch. f. mikr. Anat. I. 4865. p. 8S8
Deber die Fltinnierbewegiing. '' 473
Wir sehen auch gar nicht ein , warum gerade einqgC o n ir a c t i o n
des Protoplasma der Zelle den Anstoss zur Bewegung geben soll. Wir
veribögen uns eben so gut vorzustellen , dass der Anstoss zur Be-
wegung der GUie durch einen Vorgang in dem Zellprotoplasma ge-
geben werde , der sich nicht als sichtbare Ortsbewegung im Proto-
plasma äussert.
Eine ganz andere Frage ist es, ob zum Zustandekommen der
Wimperbewegung niithig sei, dass die Cilien noch mit der Zelle zu-
sammenhängen. Hiermit hängt die Frage zusammen , ob der Reiz fttr
jede Bewegung des Flimmerhaares von der Zelle ausgehe , oder ob in
der Wimper selbst der Anstoss zur Bewegung erzeugt werde.
Man ist ziemlich allgemein der ersteren Ansicht und stützt sich
dabei, ausser auf die erwähnten Beobachtungen über das Eindringen
der GiUen ins Innere des Protoplasma , vor Allem auf die Thatsacfae,
dass von der Zelle abgelöste Wimperhaare keine Bewegungen mehr
zeigen. — Dass die erste Reihe von Beobachtungen nichts beweisen
kann , liegt zu sehr auf der Hand , als dass wir Worte darüber zu ver-
lieren brauchten. — Der zweiten Beobachtung, dass isolirte Flimmer-
haare nicht mehr schlagen , können wir gleichfalls keine Beweiskraft
zuerkennen. Auch unter der Voraussetzung, dass die Ursache der
Bewegung in den Plimmerhaaren selbst, und nicht im ZeUenleibe
läge , ist diese Tliatsache nidit wunderbar. Denn die EingritTe , durch
welche das Flimmerhaar von der Zelle entfernt wird, sind von der
Art, dass weder die Zelle noch die Gilie Lebensfähigkeit zu behalten
braucht ; es sind gewaltsame chemische oder mechanische Missband-
lungen, die voraussidiUich auch wenn sie den Zusammenhang
zwischen Gilie und Zelle nicht lösten , doch die Bewegung unmöglich
machen würden.
Es giebt indessen eine andere Reihe von Gründen, welche die
Annahme stützen , dass der Anstoss zur Bewegung nicht in der Gilie
selbst, sondern in dem Protoplasma, auf dem sie ruht, entstehe. Bei
den Wimpern der Infusorien, die unter Herrschaft des »Willens«
stehen , scheint zunächst keine andere Möglichkeit denkbar , als dass
der normale Reiz vom Protoplasma ausgehe. Sehen wir jedoch von
diesen hier ab , so bleiben nodi folgende Thatsachen , die ins Gewicht
fallen. Vor Allem deutet der Isochronismus der Bewegungen aller
auf einer und derselben ZeUe eingepflanzten Gilien darauf hin , dass
der Reiz , welcher diese Bewegungen auslöst , von einer gemeinschaft-
lichen QueUe , also dem Boden , auf dem alle Gilien gemeinschaftlich
wurzeln, ausgehe. Der Werth dieser Thatsache des Isochronismus
wird noch erhöht durch die leicht zu bestätigende Beobachtung , dass
474 > Tb, W, EBgelnana,
die Frequenz ^r Scbwiä|iungen au£ zwei benachbarü^n Zellen sehr
verschieden sein kann: oft sieht man die Wimpern der.eiAep Zelle
kaum eine Schwingung , die der Nachbarzelle fünf und mehr Schwio-
gungen in der Secunde machen. — Sind die Wimpern durch Ein-
wirkung von z. B. Alkalien oder Säuredämpfen zur Ruhe gekommeOi
so erwachen bei Neutralisation der schädlichen Flüssigkeit die Gilien
einer und derselben Zelle fast immer gleichzeitig , während auf zwei
benachbarten Zellen das Wiedererwachen sehr Ungleichheit^ st^U-
finden kann. Auch diese Beobachtungen sprechen für obige Auf-
fassung und nicht mifider die Thatsache, dass die Bewegungen aller
Cilien an der Basis zu beginnen und sich erst von hier nadi der Spitze
der Haare fortzupflanzen pflegen.
Indess könnte hier immer noch gezweifelt worden^ ob der Anstoas
für die Bewegung wirklich von dem eigentlichen Protoplasma 4er Zelle
ausgehe, oder nicht vielleicht blos von dem deckelartigen Saum, der die
gemeinschaftliche Basis aller Flimmerhaare einer Zelle zu bilden pflegt.
Wir halten diese Frage für sehr untergeordneter |fatur^ da wir ui^s ini
Hinblick auf die chemischen und physikalischen Eigenschaften der
üusseren Begrenzungsschicht des Protoplasma der Flimmerzellen zu der
Annahme einer wirklichen Zellmembran nicht entschliessen künnea,
sondern darin nur eine dichtere Schicht Protoplasma erkenneq, wie sie
an den freien Flächen fast aller lebendei^ ProtoplasmakOrper vorhan-
den ist) eine Schicht nämlich, die nach innen zu ganz allmählich in
minder dichtes Protoplasma übergeht. Diese Rindenschicht kaiin sich
unter den FUmmeiiiaaren zu einem merklich dicken Saum ausbilden,
der sich in vielen Fällen dann allerdings schärfer gegen das Zellproto-
plasma abgrenzt* Sehr häufig ist aber sicher kein besonders differen-
zirter Saum als Grundlage der Cilien da. Bei den Flimmerzellen vom
Frosch findet man ihn zuweilen nicht , zuweilen ist er ^hr deutlich
und es scheint, als ob er leicht unter dem Einfluss gewisser Reagentien
entstehen könne.
Jedenfalls ist sicher, dass ein grosser Theil des Zellprotoplasma
verloren gegangesi sein k^nn, ohne dass die Bewegungen aufhören
oder ihren Charakter ändern. Idi habe mehrmals ganze Reihen Wim-
pern von Austerkiemen noch minutenlang fortschlagen sehen , nach-
dem der grösste Theil des Protoplasma der Zdlen mit den Kernen ab-
gerissen war. Und so sieht man ja oft auch Samenfäden von Säuge-
thieren z. B., an denen der Kopf fehlt und wo es oft zweifeUiaft ist,
ob von dem Mittelstttok noch etwas mit dem Schwanz in Verbindung
blieb. Hieraus geht jedenfalls hervor , das» der Anstoss zur Bewegung
nicht vom Kern ausgeht und dass , falls wirkliob d^^ Protoplasma der
Deber die Fltaawliew^Qag. 475
Zelle (resp. das MiUeisttKA des Samen fade vs) die Qudfr der Erregung
bt, der dkht unter den Wimpern gelegene Tbeil desselben zur ünler-^
bakung der rfaytmisöhen Erregung genügt.
In engem Verband mit der vorliegenden Frage stehen noch einige
imeressanle Thaisaeben , deren wir hier gedenken wollen , da sie den
Beweis zu liefern scheinen , nicht nur dass der Anstoss für die Be-
wegung der FUmmerhaare im normalen Zustand vom Zellmikörper
ausgebe , sondern auch dafür , dass sieh die Reizung , wenigstens in
einem Flimmerepitbeliom , dessen Zellen noch in normaler Weise
untereinander zusamro^ililf ngen , von Zelle mä Zelle fortzupflanz^i
vermöge. Das eine Pfadlnoroen, welches eine gründliche Unter-
suchang in hohem Ifaasse verdienen würde , ist Jedem bekannt, der
öfter lebendes Flimmerepilhel untersucht hat. Es besteht in Folgen--
dem. Beobachtet man einen fUmmemden Epitbelstreif, am Besten
ein Kiemenstüdscben einer Muschel, so bemerkt man sogleich, dass
die Sdiwingungen derCilien auf benachbarten ZeUen nicht isochroniach
sind , sondern in einer festen Ordnung auf einander folgen. Geht man
von einer bestimmten Zette aus, so sieht man, wie hier die Bewegung
in einem bestimmten Augenblick beginnt, einen Moment spfiter die
nächstliegende Zelle ergreift, noch etwas später die auf diese folgende
ZeUe u. s. w. So läuft der Erregungsvorgang wie eine Welle in go*
rader Linie von Zelle zu Zelle fort. Dies wiederholt sich immer auCs
Neue, und immer wieder läuft die Welle in der nämlichen llichtung. ^)
Die Richtung ist meistens geradlinig, aber in Bezug auf die Sehwin«
gungsebene der Himmerhaare nicht auf allen Localitäten gleich, bei
den grosshaarigen Flimmerzellen auf den Kiemen der Bivaivea z. B.
senkrecht auf der letzteren. Je schneller die Gilien schwingen , desto
rascher läuft auch die Welle. Ihre Geschwindigkeit schätzte idi bei
mtfglidist unversehrten Kiemenstückchen, der Auster z. B., oft auf
0,5 Mm. in der Secunde. Werden die Bewegungen der Gilien lang*
samer, so pflanzt sich auch die Erregung langsamer von ZeUe zb
Zelle iDrt. Anfangs läuft die Welle immer so weit, als unversehrte
Zellen neben einander liegen. AUmählich wird aber ihr Lauf durch
Absterben einzelner Zellea unterbrochen. Einzelne Zellen beginnen
mit anderer Frequenz zu schwingen als die benachbarten, und
endlich kann die Periode iaat für jede ZeHe eine andere sein. In
diesem Zustand, der bei dem erwähnten Kiemenepithel derBivalven
4 ) Dasselbe Phänomen ist auch auf wimpernden Körpertheilen , die keine Zu-
sammensetzung aus Zellen erkennen lassen , sehr verbreitet. So bei vielen niedern
Organismen. Die Rädertliiere verdanken ihm ihren Namen,
476 Th. W« Ettgetoiaiinf
oft erst sehr #pät , auf der zweiten ^ zartbemmpeiien Art des
Kiemenepithels von Muscheln, wie auch auf dem Epithel der Rachen*
Schleimhaut vom Frosch schneller einzutreten pflegt , ist von einefii
wellenartigen Fortschreiten der Bewegung nur hie und da noch
etwas zu sehen. Statt langer, Ober grosse Strecken hinlaufender
Wellen , sieht man viele kleine Wellensysteme , hervorgebracht durdi
die Thätjgkeit kleinerer und grösserer Gruppen von Zellen , die noch
im gleichen Tempo und in regelmässiger Aufeinanderfolge arbeiten.
Dies sind immer Zellen, die. unter sich in normaler Weise zusammen-
hängen , sich vollkommen berühren. Ich glaube das Phänomen einige
Male an Zellen beobachtet zu haben, die sich im Zusammenbang von
dem Bindegewebe der Schleimhaut abgelöst hatten und frei herum-
schwammen.
Ein anderes merkwürdiges Phänomen beobachtete ich am Kiemen*-
epithel von Bivalven. Die Bewegungen hatten sich in Folge des Zur-
satzes etwas concentrirterer Kochsalzlösung ein wenig verlangsamt;
an verschiedenen Stellen waren die Bewegungen auf längeren Zellen—
reihen ganz erloschen. Plötzlich begann auf einer oder mehreren
dieser Zellenreihen die Bewegung wieder, und zwar sofort mit grosser
Kraft und Frequenz. Nach ein paar Hinuten standen die Gilien wie-
der still. Einige Zeit darauf fing das Spiel plötzlich in derselben Weise
wieder an, und dies wiederholte sich noch mehrmals. Noch merk-
würdiger ist eine ähnliche Beobachtung, welche Purkinje und ViiLVKTUf
an den Nebenkiemen der Muscheln machten, und die ich gleichfaUs
einige Male bestätigt habe. Das Phänomen wird ^on Valbntin sehr
treffend folgendermaassen beschrieben: »Nachdem eine fteihe von
Haaren eine Zeit lang gleichförmig und in einer bestimmten Richtung
geschwungen, wendet sie sich plötzlich mit einem RudL, und ebenfalls
gleichförmig , gleich einer sdiwenkenden Colonne Soldaten , nach der
entgegengesetzten Richtung , schwingt nun nach dieser Directimi , und
kehrt nicht selten durch einen neuen, ähnlichen, gleichförmigen ^ aber
entgegengesetzten Ruck zur alten Schwingungsrichtung wieder zurQck.
in der Regel hat die Colonne vorn und hinten scharfe Grenzen , wäh-
rend' dicht neben diesen befindliche Haare mehr selbständig ungestört
fortschwingeh.a
Diese Bed^kchtungen stützen die Annahme wol am Meisten, dass
der Anstoss zur Bewegung der Cilien nicht in den Flimmerhaaren
selbst entstehe, sondern von den Zellen ausgehe. Indessen stehen
ihnen einige Thatsachen gegenüber, welche zu Gunsten der Ansicht
1) Valkktin, Art. FUmmerbeweguDg im Handwörierbacb d. Pbysiol. i. p.518.
Ueber die FIlsaefbewegiiDg. 477
gedeulH werden dttrfen , dass audi in der Substanz der Cilie selbst,
unabhängig von dem Protoplasma der Zellen, Reize für die Bewegung,
und zwar für rhythmische Bewegung entstehen können. Die Beobach-
tung, die hier Alles mit einmal entscheiden würde, die Beobachtung
nümlich einer voNkommen von der Zelle isolirten schwingenden Wim-
per ist leider nicht gemacht. Ein Bespiel automatischer Erregbarkeit
der Giliensubstanz sdieinen indess die fadenförmigen Spermatozoen
mancher niederen Thiere (gewisser Wttrmer und Arthropoden nament-
lich) zu liefern. Diese FSden lassen nach den bisherigen Untersuchun-
gen durchaus keine Differenzirung in mehrere Abschnitte (analog
Kopf-, Mittel- und Schwanztheil) erkennen , sondern scheinen in der
ganzen Lange aus derselben Substanz zu bestehen. ^) Hieraus würde
jedoch noch nicht folgen, dass alle Giliensubstanz automatisch erregbar
sei, und es bliebe immer noch denkbar, dass sie in den Fällen, wo sie
mit Protoplasma zusammenhinge, immer von diesem aus den Reiz
empfinge. Die Beobachtungen, welche mit der Annahme vereinbar
sind , dass auch in den letzteren FSUen eine automatische Erregung
der Plimmerhaare möglich sei, sind folgende. Oft bewegen sich bei
Flimmerhaaren nur die Spitzen , während die nach der Basis zu ge*
legenen Partien ganz ruhig sind. Wir haben diese Erscheinung schon
früher erwähnt und unter anderen bei Schilderung des Wasserstofi*-
Stillstandes der Flimmerzellen des Frosches hervorgehoben , dass diese
Schwingungen rhythmisch erfolgen, aber bei verschiedenen Gilien
einer und derselben Zelle meist nicht mehr isochronisch sind. — Eine
ganz Ähnliche Erscheinung beobachtet man oft bei Infusorienwimpera
(den Endborsten von Euplotes z. B.), deren Spitzen in Fibrillen ge«
spalten sind. Die Hauptmasse des Haares, das übrigens in allen seinen
Tbeilen vollkommen gut beweglich bleibt, ist hier oft eine Zeit lang
ganz still, wahrend die Fibrillen an der Spitze des Haares lebhafte
Bewegungen ausführen. Diese Thatsachen lassen nur zweiErklflruügen
zu : entweder nimmt man an , die Giliensubstanz besitze automatische
Erregbarkeit; oder man nimmt an, sie sei nur durch einen vom Proto-
plasma ausgehenden Reizungsvorgang erregbar und dieser könne sich
durch einen Theil der Wimper fortpflanzen , ohne in diesem Bewegühg
auszulösen. Beide Annahmen lassen sich vertheidigen.
Endlich gedenken wir hier noch der in vieler Hinsicht meriiwür-*
digen Resultate , welche die Untersuchung über den Einfluss elektri-
4) Leider habe ich keine eigenen Erfahrungen Über diese Gebilde. Bs ist
denkbJBf, dass bei genauerer Untersuchung auch hier ein complicirterer Bau sich
nachweisen Hesse.
478 Th. W. EmriMMB, fhte die flmmtA^m^gu^
sdier Reiulng geHefert hat. Vor Allem die BeobaditmigeD Ober die
Wirkung einer einzelnen Stromschwamkong scheineH uns beiMerkens-
werth , weil sie in so auffälliger Weise4ie Uniultfssigkeit ^»msser be-
liebter Yergleidie zwischen Gilien-^ und Muskelsubslanz dafthun. Wir
sahen , dass in Folge memeiilBner elektrischer Beizung niemals ein der
Zuckung des Muskels Tergieichbares einfacbes Phänomen am gereizten
Flimmeriiaar auftrat , sondern dass sich die stattgehabte Erregung als
Steigerung (unter gewissen, bekannten Umständen auch alsHemmuBg)
der periodisch-rhythmischen TbStigkeit der Cilie äusserte. Diese Thai-
sache iässt nur zwei Annahmen zu. Entweder die Cüiensubstanz selbst
ist elektriscb nicht nsiebar — imd dann beruht der Erfolg der Reizung
auf einer Erhöhung der periadiseh^-rhythraischm Thätigkeit des Proto-
plasma, auf dem die Cilien sitwn, verbunden ▼ieHdcht mit einer Ver-
änderung der Erregbarkeit der Wimpersiriistanz für den votft Proto-
plasma kommenden fteiz. Oder dfe GiheDsaintana selbst ist elektrisch
reizbar, und damn liegt die Ursache der Periodioilät der Bewegungen
in ihrem eigenen Bau. Welcher der beiden Annahaen man sich auch
zuwenden möge, jedeoüaUs beweist die Thatsacbe, dass zwischen
Muskel- und Fümmersubstanz fundamentale Unterschiede bestehen.
Sie warnt uns^ im Verein mit den übrigen Ergebnissen unserer Unter-,
suchung, vor dem Versuche -— za dem «eueidittgs wieder häufig der
Anlauf genommen wurde — eine möglichst vollständige Analogie
zwischen den am Muskel und den an den Flimmerapparaien beohaeh-
ieten Erscheinungen herzustellen. Auch eine Betrachtung der Ana^
logien, welche zwischen Flimmer- und Protoplasmabewegung be-
stehen , scheint uns so lange noch wenig Nutzen zu versprechen , aJs
die Bedingungen , unter denen die Protoptasmahawegung au Stande
kommt und die Aenderungen, wefcbe dieselbe unter dem Einliuss ver-
schiedener Agentien unter verschiedenen Bedingungen erleidet, nicbt
noch grttndlicber bekannt sind. Vielleicht finden wir selbst bald Ge-
legenheit, zur Ausfilliung dieser Lücke etwas beizifttragen.
ErUlniiic Aar Abbildugett.
TtM TL
Alle Figuren sind in natürlicher Grosse gezeichnet.
•
Fig. I. Flöchenansicht der Gaekamjner von oben.
aa Der Deckel mit der centralen Oeffnung 6, welche innen durch das
Deckglas verschlossen wird (vergleiche Fig. II u. IV).
ec Die Klammem mit den Schrauben, durch welche der Deckel auf die
messingenen Seitenwttnde der Kammer aufgepresst wird. Ihre An-
wendung ist nur dann döthig, wenn der Gasdruck im Inneren der
Kammer so hoch steigen sollte, dass der Deckel emporgehoben wird.
Für gewöhnlich reicht es aus > die Ränder des Deckels mit etwas Fett
zu bestreichen und denselben dann fest aufzudrücken,
d Bin Einschnitt im Deckel, der das Hervorziehen und hiermit das Ab-
heben des D«0kels erleichlerl
ee Die messingenen Ansatcrtfhren, zum Befestigen der Kaulschuk3ChUiu-
che. Für den Gebrauch der Kammer auf dem heizbaren Objecttiscb
von M. ScHCLTZE werden Ansatzröhren von 35 Millimet. Länge ange-
schraubt.
Fig. R. VertlcalerLttngsschiittl durch die Mitte der «Gaskammer. '
M Der Deckel.
b Das Deckglas, welches die centrale Oeffnuog voa untao her verschlieset
und an dessen Unterfläche der Tropfen mit dem Object^koromt.
€, d, e wie in Fig. I.
f Die den Boden der Gaskammer bildende Glasplatte.
Fig. m. Veiticaler QtierschnKt durch die Kammer, in der Htfhe einer der beiden
Klammem. Zslgl die BefeBügung des Glasbodeu f in den Seilenwttndeo.
Ebenso die Befestigung der Klammer cq.
Fig. IV. Verticaler Längsschnitt durch die Mitte des Glasdeckels für elektrische
Reizung.
X» Die beiden Oeffnungen im Glasdeckel , durch welche df c Elektroden
in's Innore der Kammer treten. Die Oeflhungen sind mit Thon aus-
gefüllt, welcher sich a«f der unteren Flächrdes Deckels in einer Rinne,
die unten durch ein JDeckglas k gescfolossen ist, bis an den Rand des
Präparates fortsetzt. Bei xx werden die Thonspitzen der od Bois'schen
unpolarisirbaren Elektroden aufgesetzt.
Fig. V. Verticaler Querschnitt durch den Deckel für elektrische Reizung, in der
Höhe einer der Oeffnungen für die Elektroden.
gg Die beiden Glasleistchen im Querschnitt, welche die Rinne für den
Thon bilden.
X und h wie in Fig. IV.
482 •r- M. Seldäl,
54 — 60. - —
64 — 70. - 1
74 — 80. - —
18.
Die Vertheilung der Fälle auf die einzelnen Monate entspricht im
Ganzen dem häufigsten Verhalten der Krankheit, die grOsste Frequenz
fällt auf September und October^ sie nimmt allmählich durch die
Winterooonate hindurch ab ; im April und Mai fehlt die Krankheit voll-
ständig und steigt vom Juni bis August die Frequenz ziemlich rasch.
In Betreif des Alters stellt sich das Yerhältniss so, dass von den 430
Fällen 46 auf das 1. bis 15. Jahr^); also auf das Kindesalter fallen,
= 35,4 %; 62 auf das 46. bis 40. Jahr, = 47,7 %; jenseits des
40. Jahres 22, = 4 6,9 7o; »och jenseits des 50. Jahres 9, « 6,9 %.
Es stimmt dtestils Prooentverbältniss der ErkrankungcB nach dem Alter
nur mit wenigen Beobachtungen , die ich darüber vergleichen konnte.
Das überwiegend starke Erkranken im eigentlichen Blttthealter, speciell
vom 20. bis 40. Lebensjahre, entspricht zwar dem Resultate vieler
Statistiken ; ganz auffallend aber sind die Zahlen für das Kindesalter
und höhere Alter durch ihre abnornte Höhe. Gribsinger fand in seiner
Statistik aus dem Züricher Spitale für die Altersklasse jenseits des
40. Lebensjahres 42,9 %, »eine Zahl die Alles, was an anderen Orten
hierüber beobachtet wurde , übersteigt , und auf in Zürich wirkende
intensive Typhusursachen schliessen lässt.« Unsere Procentzahl ist noch
um ein Yiertheil höher , und wenn sich auch nicht verkennen lässt,
dass dieselbe nach der Durchschnittserfahrung sehr hoch ist, so muss
man doch berücksichtigen , dass die in Spitälern gewonnenen Zahlen
den wirklichen Häufigkeitsverhältnissen aus naheliegenden Gründen
durchaus nicht immer entsprechen. Mau braucht sich nur daran zu
erinnern, wie viel häufiger Gesellen, Dienstboten u. s. w., die meist
im jugendlichen Alter stehen , bei länger dauernden Erkrankungen in
die Spitäler eintreten , als Verheii^thete oder überhaupt Glieder einer
im Orte wohnenden Familie. Es kommen deshalb Zahlen die aus
Spital und poliklinischer Praxis gewonnen werden, der Wahrheit schon
beträchtlich näher. Ich bemerke, dass einige Male sehr intensive Haus-
epidemieen beobachtet wurden , so dass bei einigen sämmtliche Fa-
milienglieder erkrankten. Dies war z. B. in einem Hause der Fall, wo
4) Nur 3 Fälle hatten d«s U. Lebensjahr til^rschritten nnd beide hatten noch
vollständig den kindlichen Habitus.
Beitrag zu; («ebre rom lleotyphn;^ 483
4er ältesta und jüngste Fall unserer fieotfechtung , eine Frau voo 72
Jahren , ein Knabe von 1 Y2 J^bren erlfranklen , nachdem die übrigen
^ Faaülicnglieder der Reihe nach am Typhus erkrankt und mm Theil
gesUrben waren. Wenn aber auch ein Theil der zahlreioben Ei^ran-
kmgen von Sandern und alten Leuten auf intensive Hausepidemieen
k/mwt, so bleibt doefa ein beträchtlicher Tbeil, wo dieses Verbal tniss
Xkidii lerhoben werden konnte.
üaA weit mehr aber als in Bezug auf die Häufigkeilsverhältnisse
weidben unsere Zahlen ab von den gewöhnlichen Resuhaten in Bezug
auf die Mortalität nach den verschiedenen AHerscIassen.
Bis ZUBQ 45. Jahre stettt sich das Verhältniss 2 auf 46 «5 4,34 %; vom
15. bis 40. Jahre U auf 62 « ^2,58 %; jenseits des 40. Jahres 2 auf
82 m 9,09 %. Die Kindertypben , überhaupt leichter ab die der Er*
wachsenen , geben nach anderen Zusammenstellungen etwa eine Mor^
talitat von 40 %, über das Doppelte höher als unsere Procentzahl.
Ebenso nur noch bedeutender ist die Differenz für ältere Leute.
GansmoBft naoh einer beträchtlichen Zahl von Fällen eigener Beobaoh*
tung^ berechnei die Mortalität jenseits des 40. Jahres auf 26 % , bei
UatK, allerdings nur nach 9 Fällen stellt sie sich gar auf 56%. Unsere
Kftlle jenseits des 40. Jahres waren in der Mehrzahl schwerere und von
langer Dauer , doch auch recht leichte darunter ; die 72jährige Frau,
die oben erwähnt wurde , überstand den Typhus nach mehrwöcbent-
lichem Krankenlager glücklich. Gerade das Blüfhenalter hat bei uns
eine yerhälinissmässig hohe Procentzahl. Mortalittttsstatistiken nach
den Lebensjahren haben an sich im Ganzen wenig Werth. Das wirk*-
liohe Gealtertsein, das in Bücksicht auf die Widerstandsfiifaigkeit gegen
das andauernde Fieber von Belang sein mag , riditet sich bekanntlich
nicht immer nach den Jahren. Unsere Zahlen mtfgen dazu beitragen,
zu «eigen, dass man bei so differenten Resultaten nur nach sehr
grossen Zusammenstellungen eine annähernd richtige Beurtheilung
der hier in Frage stehenden Verhältnisse wagen kann.
Von den 4 8 Todesfllllen konnte die Zeit, die vom Anfange der Er-
krankung bisaum Tode verlief, auf den Tag genau ermittelt werden bei 4 0.
Es starben von diesen 4 0 in der \ . Woche ^ , 2. Woche 2, 3. Woche
4, 4. Wodie 2, 5. Woche 2, 6. Woche 3, 46 Mal konnte die Section
gemacht werden. Aus den Protokollen theile ich nur das Wichtigere
mit. Die Infiltration und Verschwärung.der P.eyersoheji
PMq^ueS'und solitären Follikel war 40 Mal intensiv, 6 Mal un-
-faedoutend; im Colon 40 Mal Infiltration und Ulceration der solitären
Drüsen. 4 Mal reichlich , 6 Mal unbedeutend. Ausserhalb des Ueum
und Colon wurden keine Infiltration«! beobachtet. Die Mesenterial-
84*
s
484 Dr. M. Seidel,
drttsen stets geschwollen | mitunter zu nussgrossen Packeten mit
Infiltration. Perforation deä Darms i Mal Ende der 3. Woche.
Herz: frische Endocarditis i Mal;- beide Fälle mit keilförmigen
Heerden in der Milz, der eine dunkelroth, der andere bereits gelblich ge-
färbt, in der Mitte erweicht. Ergüsse insPericard4 Unze und darOber
4 Mal. Blasse Färbung der Musculatur des Herzens bald mehr des rechten,
häufiger des linken Ventrikels mit mehr weniger grosser Brüchigkeit
derselben, wurde 10 Mal notirt. In den Lungen wurde ausser den
gewöhnlichen Befunden von Katarrh der Bronchen, Emphysem, Oedem,
Atelektase, Hypostase und lobulären Heerden gefunden: grössere
pneumonische Heerde 3 Mal mit frischer Pleuritis ohne erhebliche
Exsudation ; i Mal 4 grosses fibrinös seröses Exsudat etwa 1 Maas mit
einem apfelgrossen pneumonischen Heerd im rechten oberen Lappen ;
einmal ein keilförmiger Heerd am linken oberen Lappen grauroth, die
Pleura darüber nekrotisch ; einmal Ossification der Bronchen; einmal
innerhalb einer gallertigen Hepatisation des rechten unteren Lappens
nahe der Oberfläche eine nussgrosse Höhle mit fetzigen Wandungen,
Verstopfungen mehrerer Pulmonalarterienäste grösseren Kalibers durch
Embolie aus der linken Vena cruralis. Kehlkopf: Ulcerationen 8 Mal,
das eine Mal ausgebreitet, das andere Mal eine kleinere , beide an der
hinteren Wand ; ein Mal noch eine linsengrosse stark geröthete Stelle
an der hinteren Wand. Die Milz oft beträchtlich vergrössert, ebenso
die Nebenmilzen , einmal die Milz, die nicht vergrössert war, sträng-
förmig fixirt, die Kapsel mit alten Verdickungen versehen. 7 Mal fan-
den sich Ekchymosenan verschiedenen Organen, Pleura, Pericard,
Leber , Magen etc. Im Hirn ausser leichterem Oedem und etwas ver-
mehrtem Serumgehalt der Ventrikel ein Mal ein kleiner Erweichungs-
beerd im Pens. Die Nieren in einigen Fällen in der Corticalis ge-
schwellt, blassgelb, streifig. Die Leber wurde in der Mehrzahl der
Fälle von etwas blasserer Farbe , grauroth , selbst graugelb gefunden,
brüchig , fettreich , die Zeichnung der Acini undeutlich. —
Von den Ortschaften , die dieses Material lieferten , werden einige
häufiger, andere seltener vom Typhus befallen. In der Stadt Jena
kommen wohl alljährlich Typhusfälle vor ; ebenso in den ganz nahe an
der Saale tief gelegenen Ortschaften Camsdorf und Wenigenjena; auch
Jenapriesnitz hat schon wiederholt grössere Epidemieen gehabt. ^]
Ziegenhain hatte die letzte im Jahre 4859 — 60. Aus den genannten
Ortschaften und den hoch gelegenen Dörfern Ltttzeroda und Cosfhda
stammen von den 4 30 Fällen 4 47; der Rest tsiüi auf eine Anzahl an-
1) LoTHHOLf , Dissertat : Beitrag zur Aetiologie des Ileotyphus. Jena 4866.
r
Beitrag lar Lehre fom Ileotyphus.^ 485
ctorer IMrfer , die von der Poliklinik aus jffiiandelt werden ; und auf
von außsen eingeschleppte.
Genaue Krankengeschichten liegen mir von 50 Fällen vor, davon
44 aus dem Spital; und zwar betreffen diesell>en 36 Erwachsene und
K 4 Kinder. Aus diesem Material sind die folgenden Bemerkungen über
eine Reihe der wichtigeren und interessanteren Puncto der Erkrankung
eninommen.
Unter 50 Fällen kamen 23 Personen aus Häusern , wo notorisch
Typhus herrschte , so dass öfters mehrere Familienglieder oder Haus-
genossen von demselben erkrankt waren. 2. Hai herrschte Typhus
nicht im Hause selbst, sondern in der nächsten Nachbarschaft; 9 Mal
herrsdite Typhus im Orte, 4 Mal erkrankten Kranke, die in der Anstalt
an anderen Krankheiten lagen, oder daselbst beschäftigt waren (siehe
unten] ; 2 Fälle kamen weiter her von auswärts , einer von Hamburg,
einer von einem Manövre. In 40 Fällen konnte kein näherer Zu-*
sammenhang ermittelt werden, obgleich auch bei diesen Fällen die
Sache mehrmals so lag , dass in den nächsteü Nachbarorten bestimmt
Typhuskranke lagen, die betreffenden Individuen auch in diesen Orten
gewesen, aber angeblich nicht in Häuser, wo Kranke lagen, gekommen
waren. —
Von Hausepidemieen hatten wir ausser dem z. B. oben er-*
wähnten eclatanten Falle, wo sämmtliche Individuen vom zartesten
Kindesalter bis ins höchste Greisenalter erkrankten , noch eine ganze
Reihe von Fällen; und ebenso liess sich mehrfach ein Ausstrahlen
der Erkrankung von einem intensiven Heerde und die Bildung
neuer Typhusheerde verfolgen; Zustände, die sich am besten
durch eine Contagion im weiteren Sinn des Wortes erklären lassen.
Von der eben erwähnten Familie wurden nach dem Tode der beiden
Eltern die Kinder einige Tage bei Verwandten untergebracht, bevor sie
ins Spital Übersiedelten; nach einiger Zeit erkrankten mehrere dieser
Personen. Nachdem in Wenigenjena 4864 in unmittelbar bei einander
liegenden Häusern 9 Typhusfälle vorgekommen waren , wurden Mann
und Frau W. nebst deren Dienstmädchen B. wegen gänzlichen Mangels
AU Pflege ins Spital aufgenommen. Die Schwester der Frau W., Frau
G., nahm die Kinder dieser Eheleute am 4 4. September zu sich nach
Jena. Eines der Kinder litt damals angeblich einige Tage an ein-
facher Diarrhoe. Am 3. October erkrankte zunächst der Ehemann
der Frau G. — der die erkrankton Verwandten nicht besucht hatte,
am Typhus; am 9. October die Frau G. selbst, die mehrfach bei ihrer
486 * X Di*, yi. Seidel,
kfanked Schwester geweseli ^ar, dieselbe starb; und endHeh-
krankte auch der Sohn dieser Eheleute, E. 6. In einer Reibe anderef
PaUe, deren Mittheilung ich der Güte des Herrn Hofrath Gervaabt ver—
danke, war der Zusammenhang und die iT^sebleppung des Contagiums
nach anderen StadUheilen , und die Bildung neuer Heerde ebenfalls
genau zu verfolgen. In einem höchst unreinKcb gehaltenen kleinen
Hause , in dem die Luft mit Fäulnissproducten aller Art geschwängert
war, erkrankten Ende des Mai 1864 ein 9jähriger Knabe T., später
dessen Mutter , als er selbst Reconvalescent war , und als die Mutter in
Genesung begriffen war, auch der Vater, so dass sich in diesem Hause
die Fälle durch ijüfonate bis Ende September hindurchzogen. Erst zu
Anfang October brach in den Nachbarhausem der Typhus aus, von
denen 5 Fälle zu unserer Kenntniss kamen. Von diesen 5 ging ein
Dienstmädchen, Gh. R., die nur sehr leicht erkrankt war, zu ihrer
Mutter in einen ganz anderen Stadttheil und liess sich dort 4 0 Tage
verpflegeti. Nach einiger Zeit erkrankte ihre Mutter und starb Anfamg
Decembers. Kurz hinter einander erkrankten dann in einem Nachbar-
bause 3 weitere Personen und in geringer Entfernung in derselben
Gasse noch eine Reihe von Individuen. Von demselben Hause T., von
dem diese ganze Erkrankungsreihe ausging , datirte auch ein Fall in
einem Nachbardorfe A., der Tagelöhner S., der im Hause des T. mehr-
fach gearbeitet hatte und schon Mitte October erkrankte. Er blieb in
seinem Dorfe vereinzelt. — Von den 4 Personen, die im Spital er-
krankten zu einer Zeit, als das l6olirhau3 noch nicht existirte, sind 3
mit Wahrscheinlichkeit als durch Typhuskranke vermittelt anzusehen,
wenigstens die Mogliobkeit der Erkrankung auf dem Wege der An-
steckung vorhanden. Der erste Fall W. trat ins Haus ein wegen
secundärer Syphilis am 30. September 64 , erkrankte am Typhus den
SI5. Novbr. Es lag Typhus im Hause seit den H. August, eine Kranke
D., die am 22. August starb, doch lag diese in einer ganz anderen
Etage, weit entfernt bei einer anderen Wärterin, dann wurden am
13. und 14. September 3 Typhen aufgenommen, darunter ein sehr
schwerer auf demselben dorridor in ein geräumiges Zimmer gd^gt»
der dort bis Ende November lag. Auch am 9. November war ein Fall
aufgenommen worden und auf denselben Gorridor gelegt. Dassdbe gik
für den 2. Fall E., die ebenfalls an secundärer Syphilis am 86. Oe(.
aufgenommen wurde und am 1 2. December erkrankte. • Sie befand sich
in demselben Zimmer, wie die W., unter ganz gleichen Bedingungen,
und lag mit dieser in den ersten paar Tagen , ehe die Diagnose auf
Typhus gestellt werden konnte, Bett an Bett. Die dritte Person , Wär-
terin H., erkrankte Ende November, nachdem vom September ab
Beltng zur Lete ron lleotyphus. r 487
TyphesiM Havse aber nichl auf ihrer Ab^jf^ung gelegen hatta. AU^
3 S)er8iMi6D befanden sich in, wenn auch iiicht unuiltelbarer Ndhe von
Typbuskranken , so cboh in manchen indiraelen Besiehungen, durch
dbs Wactperaonal , durch Q^olaung der Aborle, wo die Typhus-^
dqeelionen entleert waren u. s. w. Beim 4. Fall. K. lä$at aich ein
näherer Zusammenhang nicht angeben. Das Kind lag sobon seit ?ip^r
Reihe von MonatM im Hause, erkrankte am U. Juli 6I>, nachdem der
letzte Typhvafall bereits am II . April 65 das Haus verlassen batt^.
Fttr die Incubation läsat sich aus unseren FlUlen nur einer
verwerthen^ dei\aber auch recht beweisend ist. Die kranke P. pflegte
auswärts, 8 Stunden von hier, ihre Mutter 3 Wochen lang an Typhus,
bis zu deren Tode. Sie kehlte hierher zurück am 26. Juli 66 und ^x^
krankte am 8* August ganz iaolirt. Die letzten TjpbusfeiUe waren im
März dagewesen, die nächsten kamen erst im November. Es b^echnet
sich die Ineubalion also mindestens auf \ % Tage. Der oben mitr-
getheilte Fall der Familie G., die .die Kinder ihrer am Typbus e^*-
krankten Verwandten , von denen das^ eine an Diarrhoe litt , zu aich
nahmen , spricht ebenfalls für eine beträchtliche Dauer dei' Incubation.
Es reihen sich diese Beobachtungen denen von Lothuolz s. ob. publi*
einen Fällen ^iner längeren Dauer der Incubation an. Es sq^richt für
dieselbe schon die oft bezweifelte Gonlagiosiiät der Erkrankung , die
bei langer Incubation verständlioher wird. Ob auch ganz kurze Incur
bationsdauer vorkommt , von Stunden oder ein paar Tagen laase )Qh
dahingestellt , nach den £rfahnlng^n bei den meisten InfactionakrfiDkT
halten , ist eine so beträchtliche Differenz nicht gerade wahrscheinliob«
Beiraohten wir zunächst die 36 Fälle , die Erwachsene beU^fen,
in Bezug auf die Symptomatologie etwas genauer. Die gewähnlichen
Initialaymp tarne: Kopfschmerz, Schwindel, Mattigkeit, Flimmern
vor d«i Augen , Ohrensausen , Uebelkeit , Appetitmafngel waren in den
verschiedenen Fällen verschieden vertreten. 7 Fälle begannen mit
einem intensiven Froate, 3 ohne alles Frieren, sogleich mit Hitzegßfühli
es waren sämmtlich Personen, die sich im Zimmer aufzuhalten gen-
nöthigl waren, die, meisten Fälle begannen mit wiederholtem Frästeln ;
ä Mal begann die Erkrankung mit lästigem beängstigendem Herz*
klopfen, das aich später verlor, ohne dass während des Verlaufs und
später am Herzen irgend welche Veränderung nachgewiesen werdep
konnte. Ein Typhusanfang wurde verwischt durch Symptome einer
Jadvergiftung: Thränen der Augen, Injeotion der Qo9\junctiva, leichten
SpeiebelflusB , Schmerzen in den Drüsen des Unterkiefers uud kcm-r
erupüon; das Thermometer klärte den Fall alsbald auf. Sehr "h^tt
breitete Gliederschmerzen in Nacken^ GelenkeU) Kreuz, Extre-^
4g8 ^'^ ^ !>'• M. Seidel,
mitäten, und von Anfang dp auffallende Mattigkeit, so dass aicii
selbst kräftige Individuen sofort eu Bett legten , kamen 7 Mal vor imd
sind prognostisch schlecht, von diesen 7 starben 4. 2 PäUe waren
sehr schwer, in einem davon fcdgten ti^ der Reconvalesoens befUge
Schmerzen, Sdiwäche, fibrilläre Zuckungen und GircumfereniabnahoM
der rechten oberen Extremität; nur ein Fall bei einer scbwächliohen
Person, der auch ausserdem mit starken Nervensymptomen begann^
verlief abortiv. —
In Bezug auf die Schwere oder Leichtigkeit des Verlaufs, beurlhe&t
einmal besonders nach dem Fieber — Dauer überhaupt, Dauer der
hohen Abendtemperaturen, Höhe der Temperatur ttbeiiiaupt etc. — ,
dann nach der Schwere der Nervensymptome und der Symptome von
Lunge , Herz und Abdomen , stellt sich das Verhältniss so , dass 6 gans
leicht und abortiv , 1 2 leicht , 6 voll entwickelt , 4 schwer und 8 lethal
verliefen , 2 durch schwere Gomplicationen von Seiten der Lunge , 3
unter dem Zeichen der Herzschwäche, 3 an dem hoben und lang*
dauernden Fieber. —
Von den 6 ganz leichten Fällen war der kürzeste bereits am
Abend des 40. Tages fieberfrei, nachdem am Abend des 5. Tages die
höchste Temperatur, 32,2 erreicht, und schon am 6. Tage eine grosse
Remission aufgetreten war; dieser FaQ stammte aus einem Typhus«-
hause und schien im Anfang wegen der starken Nervensymptome ein
schwerer werden zu wollen. In den übrigen 5 Fällen trat der Abfall
des Fiebers zwischen dem 8 — i 5. Tage ein , theils in grossen Remis--
sionen , in 3 Fällen ohne diese , staffeiförmig , die völlige Entfieberung
vom \3 — 19. Tage; die höchsten Abendtemperaturen betrugen 34,5;
31, g; 32,0; 32,2. Ein Fall machte 2 Abortivtyphen durch; am 43.
Erankheitstage Abends völlig fieberfrei , blieb er 4 4 Tage ohne Fieber
und erholte sich etwas — der Fall betraf eine geschwädite Person —
dann trat plötzlich wieder Fieber auf, das am Abend des 2. Tages die
grösste Höhe, 32,5, erreichte, aber sofort in steilen Gurven abfallend,
nach Verlauf von 4 6 Tagen aufhörte. —
In den leichten Fällen traten stärkere Remissionen auf im Durch-
schnitt Ende der 2. Woche, in einigen Fällen einige Tage früher, in
einigen erst am Ende der 3. Woche bei massiger Temperaturhöbe;
doch wurden in allen Fällen , mit/ Ausnahme eines einzigen , der nur
auf 34,7 kam, 32,0 erreicht, und überschritten bis auf 32,5 und 32,8.
Völlige Entfieberung traf nur einmal, bei raschem Abfall in der 2. Pe-
riode auf den 4 8. Tag ; in den übrigen Fällen Mitte und Ende der 4.
Woche, selbst in dem Anfang der 5. — In den voll entwickelten Fällen,
die sämmtlich eher schwer zu nennen waren , hielt die hohe Tempe*
Beitrag xnr Lelire Ton Ileotyphns. 489
ralur bis ans Ende der 3. Woche im Durchschnitt an , s^mmtlicfae
hatten Temperaturen von 39,0-*- 32,8, lagere Zeit; die Entfieberung
fiel in die 6. Woche. — Die 4 schweren Fälle - betrafen sämmtlich
weiUiohe Individaen. G. 40 J. alt hatte bis zum Ende der 3. Wodie
flrilasige Abendtemperaturen, meist nur 34,5 oder etwas darunter,
selten 32,0, und ziemliche Morgenremissionen; mit Beginn der 4. Woche
steigen die Abendtemperaturen wieder auf, erreichen nochmals 32,0
und bawegt sich die Temperatur mit starken Morgenremissionen
zwischen 34,0 und 32,0 bis in die Mitte der 5. Woche; alsdann wer*
den die Remissionen sehr unbedeutend und die Temperatur halt sich
um 31,5 bei gleichzeitig hohen Pulsfrequenzen HO — 430 bis ans Ende
der 6. Woche ; erst dann treten grosse Morgenremissionen bei lang^
saroen Abfall der Abendtemperaturen auf, aber noch in der 9. Woche
war die Abendtemperatur Über 30,0. — Frau W. hatte bis Mitte der
2. Woche sehr hohe Temperaturen , 32,0 — 32,8 mit Remissionen von
unter 0,5; dann wurden die ersten etwas niederer, nur 32,0, die
zweiten etwas grtaser, durchschnittlich 0,5, selten 4,0 bis Ende der
4. Woche, von da war die Abendtemperatur um 34,5 — 34,8 bei
starken Remissionen ; am 2. Tage der 5. Woche trat ein Collaps ein,
die Tp. sank von 34,5 auf 27,8, stieg unter Anwendung von Reiz-
mitteln in 3 Stunden nur auf 28,0; dann allmählich auf normal; er-
reichte aber von da ab Abends nur noch 30,5 und fiel bis in die 6.
Woche allmählich auf normal. — P. W. hatte die ganze erste Woche
Abends über 32,0 mit Morgenremissionen von nur ein paar Zehnteln;
am 7. Abend 33,0, bis fast zum Ende der 4. Woche Abends 32,0 und
meist darüber, mit Remissionen von durchschnittlich nur 0,5; Ende
der 4. Woche wird der Verlauf unregelmässig, die Temperatur erreicht
nicht mehr 32,0 , ist meist 34,3 — 6 , nur einmal am 30. Tage wieder
32,2, dann folgt ein rasdier Abfall in steilen Curven im Verlauf einer
Woche auf normal. — H. 50 Jahre alt, wird erst am 48. Tage der Er-
krankung, sie war in derPoliklinik behandelt worden — aufgenommen ;
bei grosser Prostration Abendtemperatur von 32,0 und darüber, mit
Morgenremissionen von 4,0 am 24. Tage Abends 33,0 mit Remissionen
von 2,3 am anderen Morgen. Es schwankt nun die Temperatur bis
zum Ende der 4. Woche zwischen 34,6 und 32,2 und zwar so, dass
die Steigerungen derselben 4 Tage lang auf den Morgen
fallen, die Remissionen auf den Abend, an diese letzte
Abendremission schliesst sich dann ein niederer, unregiolmässiger
Fieberzustand von c. 30,5, meist Abends einige Zehntel höher als am
Morgen, bis in die Mitte der 6. Woche, dann steigt die Temperatur
wieder höber um 31,0 und fMlt mit grossen Morgenremissionen bis in
die 8. Woche hinom ab. -*^ Yoa den tödilich v^laafeiiea FäUen baue
der eine £. noch in der 5. Woche Abends um 38,0 mit lUunissiaiieii
von durchsdinitüioh nur 0,5; Z. 64 Jahr alt, zwar keine sehr hohen
Temperaturen und stariLe Remissionen, aber bis in den Anfang der
6. Woche hinein Abends bis 3f ,5. W. 49 Jahr, bis Mitte der 2. Woeh»
Abends um 32,0 mit Remissionen von etwa 0,5, dann bis Mitte der 3«
Woche, stärkere Remissionen bei etwas niederer Abet^dtemperalur«
Mitte der 3. Woche Erhebung auf 32,0—32,8, fast dine Reisiasionea
bis Anfang der 5. Woche; am 33. Tage GoUaps von 32,0 auf 30,0"^
den anderen Tag ein neuer Gollaps von 32,0 auf 2^,3 mÄl Lethalitäi.
Frau G., 37 Jahre, erst 5 Tage vor der Erkrankung entbunden und
vor und sogleich nach der Entbindung mit Wartung ihres am Typhus
erkrankten Mannes beschäftigt, und Th. G. , 29 Jahre, die wahrsoban-
höh 6 Wochen vor der Erkrankung abortirt hatte , zeigten von Aniang
an hohe PulsfrequeuEen, 410, 120 bis 4 40. Die erste dabei hohe Tem-
peratur mit kleinen Remissionen , bis Ende der. 2. Woche meist über
32,0, starb am 16. Tage , die zweite eine massig höbe Temperatur um
31,7, mit Remissionen von 0,5, starb am 44. Tage. D., 49 J^dire, bis
;&um 40. Tage 32,2 ^32,6, fast ohne Remission, bei grosser Oispnoe
in Folge eines sehr verbreiteten Katarrhs, am 40. nach einem RrechnitAel
Gollaps von 32,4 auf 29,8, am Abend wieder 34,7, mit Remission zum
nächsten Morgen auf 30,2 , Abends wieder 34,7 und Tod. — Die von
Wi»fDERLicH aufgestellten Stttee über die Temperaturverhttltnisse bei
Ueotyphus finde ich in ihren Hauptpunoten vollstHndig zutreffend und
halte eine genaue Kenntniss derselben zur richtigen Beurtheilung aUer
bei dieser Krankheit in Frage kommenden Verhältnisse ftlr dringend
geboten. Nur einige sind in ihrer Fassung etwas zu streng.
Von Seiten des Cef ässsy Sterns kommen, abgesehen von leichten
Abnormitäten, die sich häufig finden: — systolische Gerifcusdie aus
mannidifachen Gründen , Schwäche der Töne besonders in der 2, Pe-
riode , leichte Unregelmässigkeiten des Pulses — , und abgesehen von
dem fast rc^elmüssigen , wenigstens vorübergehend zu beobachtenden
Dicrotismus und dem raschen Steigen der Pulsfrequenz bei Anstrei^
gungen des Körpers, das übrigens in manchen Fällen vollständig feUt,
noch folgende Zustände zur Beobachtung : schwere Schwächezustände
des Herzens in einigen tüdtliehen Fällen mit raschem Gollaps. In
einem Falle wurde die fettige Degeneration des Herzens diagneslicirl,
wo bei vei^bältnissmässig nicht ungünstigem Fieber verlauf , und ohne
schwerere CompUcation von Seiten der Lungen starke Gyanose , Angst
und Unruhe bei kleinem, unregelmässigem frequenten Pulse, schwachem
Herzstoss und undeutlichen Tönen sich fandeni — In einem anderen
r
Beitrug lur L«Im fdn ReoCypIios* ^^ 401
Falb ^ bei «nev WttdliieriB w«r «diMi in d^r ersten Woohe die Hera^
dimpfiuil! elwBS Teri)rei«0rt , die Ttfiie sUmmtlicIi soll wacb , der erste
MitiraUon durdi ein in iwei Htiflen gespeltenes Gerüusch ersetzt; aueh
die ersten Time an der Ba^ii gespellen. In der ^. Woche des sdir
schweren V«iau^ wnrde der Puls nndulirend und se stark diorot,
dSBs man im Ztthien irre wurde, nnd es fielen die ersten TOne aus, und
tnmien erst dumpf nnd midentlieh wieder kurz vor dem Tode gekdrt,
als die Hstrtctk» so sittrmisoh \iion)e, dass man das Foeken vor der
Bnial hMe^ Das Verhalten erinaert an die irischen Typhen. — Noch in
einem anderen tbdtKoben Fall war der Pub eo dicrot, dass man am
Herzen 124 , an der Radialis 4 44*-*- 164 lahlte. -«* In einem Falle "ron
frischer Endecarditis , auf der von früher her etwas verdick len und
veriUlrston Mitralis fand sich schon bei der Aufnahme die Heradflmpfung
etwas verbreitert, sterker Spitaeostoss, der bald abnimmt , ziemlich
starkes, systoliaehea Ger ttnach an der Spitee, der Puls wnrde bald klein
und unregdnritesig «od bis inm Tode auffallend dicrot. Ein anderer
Fall mit dem Zeichen einer beraite lange bestehenden geringen Mitral^
Stenose verlief schwer und langwierig mit Schwacheerscheinungen von
Seiten des Herzens, genas aber eDdlieh. -* Pericarditis entotend in
einem mittelachweren Falte in der i. Woche: Empfindlichkeit der
Heragegend gegoi Druck, VergrOsserung der Heradttmpfung nach oben,
parioardiales Geräusch, Unregebnilssigkeit des Pulses ; gleichseitig ver*-
wandelte sich der erste Ton an der Mitralis in ein sterkes GerSusch,
spttter erschien der zweite Ten an der Spitze gespahen und blieb es
bis zum Austritt der Kranken , ohne dass sich sonst Verttnderungen am
Herzen nachweiaat liessen. — Wahrend der Entfieberung sank der
Puls auch bei ganz indifferenter Behandlung mehrmals tief bis auf 48.
Von den Abdomlnalaymptomen habe ich zunttdist zu er-
wähnen den auffallend häufigen Mangel der Diarrhoen. In 8
FttUen von 36 fehlten sie wahrend des ganzen Typhus vollständig , so
dass Glysmategegen mehrtägige Stnhlreterdation mehrfach nOthig waren.
In einem weiteren Falle traten sie erst in der 6. Woche auf, bei einem
Heddiv; in 4 anderen Fttllen erschienen sie erst in der 3. Woche ganz
vorttbergehend; in 3 Fallen hatten sich die Kranken selbst Abführ-
mittel verordnet, hatten darnach einige Male dUnnen Stuhl gehabt und
trotzdem Stuhlverstopftang wahrend der Krankheit. Unter diesen 45
Fallen sind nur S schwere. Es spricht dies Verhältniss dafür , -^ was
wenigstens im Allgemeinen angenommen wird <^ dass die Infiltration
der Peyerschen und solitaren Drüsen parallel geht der Schwere der Er-
krankung. Damit stimmt auch, daaa in 6 Fallen mit profusen Diarrtieen
6 Mal des Tages und darüber der Verlauf % Mal mittelschwer , 2 Mal
^
492 ^ Dr. ILSttdel,
schwer, 2 Mal todüich war. -^ Blutige Diarrhoe fand sich nur in einem
ttfdUich verlaufenden Falle unbeiräcbüich vor; Meteorismus und
stärkere Scbmerzhaftigkeit des Abdomens nur 4 Mal , atteh da nicht in
den höchsten Graden; keine PeritonitiS| keine Perforation. — Mit
Brechmitteln ganz im Beginn der Erkrankung wurden S Falle
auswärts behandelt, einer starb, der andere verlief ganz abortiv. Mit
Abführmitteln von Anfang an, -— nur einmal mit Calomel — auch
auswärts behandelt wurden 5, darunter verlief auffälliger W«se keiner
schwer, wie man nach andern Erfahrungen hätte erwarten sollen«
Starker Rachenkatarrh und Stomatitis fand sich 6 Mal; da-
von 8 Mal bei Kranken, die eine Mercurialcur eben beendet hatten. In
einem Falle- zeigte sich durch eine Reihe von Tagen ungleicher Zungen-
beleg, so, däss die linke Hälfte der Zunge glatt und blass, die rechte
Hälfte roth und dick belegt war. Appetit blieb in 3 Fällen bis in die
3. Woche hinein, man kann fast sagen leider, erhalten.
In Bezug auf die Milz sind unsere Resultate in einigen Puncten
ebenfalls abweichend. Die Anschwellung fehlte nur in i Fällen , im
ersten Fall durch Verdickung der Kapsel und Verwachsung mit der
Umgebung unmöglich, im anderen Falle bei einer älteren Person — war
auch in den leichtesten Fällen, wenn auch massig vorhanden. Die Milz
soll nur selten fühlbar sein. 42 Mal konnte dieselbe meist schon in
Rückenlage oder bei rechter Seitenlage deutlich gefohlt werden.
Leichter ist dies natürlich bei schlaffen Bauchdecken , z. B. bei Frauen,
die geboren habeb, aber es ist auch sonst sehr häufig möglich, und
von den ii Personen sind 5 Männer und 2 junge Frauen, die noch
nicht geboren hatten. Die Resistenz des Organs ersdieint für die zu-
fühlenden Finger meist derber , als sie sich bei dem Autopsien zeigt.
Geringer oder fehlender Meteorismus ist nattlrlich für die Palpation
güofitig, während stärkerer die Milz nach derConcavität des Diaphragma
hinaufdrängt und das Fühlen der Spitze verhindert. Die Geringfügig-
keit des Meteorismus mag auch zum TheU wenigstens unser Resultat
erklären.
Ueber den Tag, an dem die Milzvergrösserung nach^
weisbar wird, konnten wir mehrere Fälle, die von dem ersten Tage an
in Beobachtung waren, verwerthen. In 3 Fällen war dies schon am
4. Abends und am 5. Tage möglich — 2 Fälle starben, einer war
schwer — ; ein Fall bekam schon am 5. Tage heftige Schmerzen in der
Milzgegend. In einem leichten Falle trat die Sdiwellung am 6. Tage
auf, in der Mehrzahl am 7. und 8., dodi auch erst am 40. Tage, in-
teressant sind die Recidive bei Personen^ wo man die Milzgrösse durch
die Palpation controliren kann. Bei der kranken P. war in der 6* Woche
Beitrag lar Lebte ?oid Ueotyphas. . ' 493
bei tiefem Attiineii der dttnne Rand der Iftlz noch ftthlbar; am 40.
September beginnt das Recidiv , schon am \ 2. September ist die Milc
grösser und dicker , am 1 5. September ist sie vor den Rippenbogen
auch ohne Athmen zu fühlen/ am 18. September ist sie weniger hart,
am 26. September ist sie auch beim Athmen nicht mehr zu fühlen.
Die nachweisbare Ansehwellung dauerte je nach der Bauer der Er-
krankung 3 oder selbst 6 Wochen. In einem voll entwickelten Falle,
wo von Anfang an starke Empfindlichkeit der Milz bestand gegen
Druck , blieb dieselbe , obgleich die Kranke in der 5. Woche fieberlos
war, bis in die 6. Woche hinein vergrössert, und in der 4. Woche
schwollen die Leistendrüsen stark, andere periphere Drüsen in ge-
ringerem Grade an ohne nachweisbaren Grund. — In einem Falle
wurde am 11. Tage über der Milz ein respiratorisches Reibe-
gerausch gehört. Die Kranke litt an secundarer Syphilis, so dass
dasselbe sich nicht gerade mit Restimmtheit auf den typhösen Tumor
beziehen ISsst. Ich habe sehr oft vergeblich nach perisplehitischen Reibe-
geräuschen gesucht , die man zwar a priori beim typhösen Milztumor
an sich nicht leicht erwarten kann , wol aber bei Vorgängen , die mit
Entzündung des Ueberzugs verlaufen: Infarkte, Abscesse etc. — Auch
in dem oben erwähnten Falle blieb die Milz in der fieberfreien Zeit bis
zum Recidiv vergrössert. Man muss darauf achten, ob sich dieses Ver-
hältniss öfters findet. In der Reconvalescenzzeit wird. die Milz meist
weniger berücksichtigt als im Anfange der Erkrankung. Ein Mal fand
sich die Milz anomal gelagert bei der Frau, die nach der Geburt un-
mittelbar erkrankte, das Organ stand fast senkrecht, die Spitze neben
der Spina ossis Ilei ant. sup. —
lieber die Urinsecretion bemerke ich nur Einiges. Eiweiss
war in 1 5 Fällen — bei den paar Krankengeschichten aus der Poli-
klinik fehlen die Angaben darüber — vorhanden, bald reichlich, bald
in Spuren, bald ziemlich anhaltend, bald Tage lang fehlend. Der Ei-
weissgehalt an sich erscheint nicht bedenklich, er fand sich gering
auch in 2 leichten Fällen. Am frühesten wurde er beobachtet Ende
der ersten Woche; dann in der 2., 3., selbst erst in der 6. Woche.
— Doch filllt meist die Mehrzahl auf die schweren und tödtliohen Plllle,
5 starben; dabei war bei 3 der Eiweissgehali rdchüch und constant,
bei den übrigen Tageweise fehlend. — Die geringste Menge Urin ent-
leerte ein Kranker R., in 2 Tagen nur etwa- 3 Unzen ; der Grund war
ein meist mechanisdier : starke . Ueberfüllung des Yenensyslems mit
hochgradiger Gyanose durch einen intensiven Rronohialkalanrh. Eine
Kranke, P., bekam vorübergehend Polyurie. Erkrankt am
494 ^r. M. Sotäel,
7. Aagusi rec. IS. August. Bis zim 49. Anpist: Urin 50D«^1#M, auf-
ÜBttend bless, mit geiingem ShmsB. •
20. August 4000 , fast aller qnter Tag gelassen , der Urin
geht nur langsam ab.
24. -
5400
sp.
4003
22. -
4700
—
4003
23. -
3500
—
4006
24. -
3200
—
—
25. -
3000
—
4007
26. -
3200
—
27. -
4200
—
1004
28. -
3600
—
^—
29. -
4000
—
30. -
4800
—
40.10
3\. -
4500
—
— —
1. Sept.
4500
—
tritt wieder Ei
2. -
4500
,
4. -
2000
5. -
4SD0
■<■
1009 etc.
8. -
600
von
dunkler Farbe.
9. Octbr,
800
n. -
1200 blass.
13. -
500 dunkel.
Henslruation.
U. -
450
—
<5. -
500
—
47. -
700.
-
<8. -
600
—
19. -
700 blasser.
24. -
1'4 00 normale Farbe.
2*. -
4400
.,
- — etc.
Die NernrensytapiaBte waren dalwi eiendich »intensiv: grosse
tPUMtradion , tfibiiltare ZuokiiBgen im (Geskdit , «ungleiche Pupillen , Pols
von Anfang .an isähr «umgeiinätsig, ohne dass am iHereen anoh im
«pttteren Yerlaidf et^pvas tnachcuweisen «war« -- Intensiveren lOtilMfaii»—
stoffgehalt bot« der Urin nur in einigen it^dtlichen FaUen.
Vion den Aeftpiirvtio:n8«tpgaaeii kamen natttrlioh £abanbe
imd Bypostssnn Jiäiiifig im*'Bsoba«hlmig, fetster^Mufigeriss^^ der
igttnitige fliniluss passender Lagerung fdes iKcanken ^Hf die Hypostase
Iflsst sich manchmal durch die Percussion controliren. Verhältnisse
Beitrag iqr Ltlwe Mm lleoiyphos. . 49|
mttisig stMen finde lok auflgebrettalere VeldichUingen mie
GonsonanzeracteinuDgen. In 3 FflUeo traten die Synqitonie von
Seiten der Lunge , Dyspnoe etc« sa^m den Vordergrund» dass sie die
SituatioB beberrsobten, 3 F^le tödtlich^ 4 schwer. Einmal entwickelte
aioh in der 2. Woche ein grosses PleuraexsU'dat neben einem
grösseren pmottmonisefaen Heerde mit rasdiem Tode, eifimal ein kleines
in der 4. Woche, das bald heilile, S Mal fanden sich trockene Pleuri-
tiden. Auffallend starke Klagen über Schmenshaftigkeit im Kehlkopf,
spontan und bei Druck in der 8. und 3. Woche fanden sich 3 Mal^
ohne Heiserkeit und sonstige Zeichen fttr eine Uloeration. In einem
Fall nur entwickelte sich ein grosses Ulcus laryngis ; schon am «ll . Tage
traten die ersten Symptome auf, bereits am 43. hustete der Kranke
gangränöse schwarze Fetien aus. . Der Fall beweist , dass audk in der
4. Periode JRi^lkopfgesdiwüre vorkommen können, wenn sie auch in
der 2. Periode häufiger sind. Laryngoskopirt habe ich von den 3 ebeü
erwähnten Fällen wo Schmerzen bestanden nur einen, die Untei»u<chung
zeigte nur eine rothe , trockene , lederartige Epiglottis.
Die ganze Summe der Reizungs- und Dq)ressionszu8Uinde von
Seitendes Hirns und des Nervensystems kann ich ttbengehen,
ich erwähne nur ein paar partielle Lähmungen, die sich oft länger an^
bdtend vorfanden: Ungleichheit der Pupillen durch Wochen binduroh,
leichte Paciallähmung , leichter Strabismus convergens und divengens;
einseitige dauernde Wangenröthe (Sympathiousparese?). —
Symptome von Seiten der Haut. Auch hier eind die ge^
wonnenen Resultate etwas d»weichend. Roseola fehlte nur in 3 Fällen
gänzlich, davon f^Ut ein Fall in die Poliklinik, wo die Releuobtung
nicht immer so ist, dass man sicher ist, keine Roseola llbersehen zu
haben , ein anderer Fall hatte eine auffallend duidiel pigmentirte Haut ;
der 3. Fall ebenfdls von dunklem Cdlorit starb schon am 46. Tage.
Ueber die Zeit des Auftretens der Roseola kann ich nur naA 46
Fällen Angaben machen, die sogleich in der 4 . Woche zur BeobaohUmg
kamen , unter diesen zeigte sich die Roseola bis zum 7. Tage 4 2 Mal ;
die frühesten traten am 4. Tage, dann am ö., 6. und 7. Tage auf, ohnlB
dass das frühe Auftreten in einer Bezi^ung zum späteren Veriaiife
stand, es folgten leichte und tödtUche Fälle. Nur in wenig Fällen er-
ff^te die Eruption jenseits des 40. Tages, sie zog sich oft llber Woohen
hinaus bis in die 4. hinein, oft in der Weise, dass sehuppweise an
einem Tage mehrere, selbst viele hervorbrachen und denn eine Pauae
iwen einigen Tagen entstand. Die Roseolae waren meist leicht papulOa,
seltener makulös, einige Male ging dem Ausbruch der Aode<rfa mie
blasse Marmorifung der Haut, ähnliA einer syphilitischen verwaschenen
1
X
496 ^r. M. Seidel,
Roseola vorher ; ein Mal eihe verbreRete starke ROlhiing der Vorder-
arme. Mehrmals trat so zu sagen (fieselbe Roseola 2 Mal auf, biasste
nach einiger Zeit ab und trat , nadsMlem sie mehrere Tage nidit mehr
sichtbar war, wieder ganz deutlich hervor; diese Beobachtung wurde
an solchen gemacht, die mit dem Stift umschrieben waren , so dass ein
Irrthum nicht leicht möglich ist. In den Recidivei»- kamen die Roseolae
noch früher, einmal vom 3. — 6., ein anderes Mal vom 3.-7. Tag, das
dritte Mal vom 5. Tage ab. Es giebt keinenOrt, wo Roseolae niJsht auf-
treten können, wenn sie auch am Abdomen und in der unteren Brust-
gegend verhältnissmassig häufig sind ; eine blosse Besichtigung dieser
Partien ist indess vollständig ungenügend , um die Häufigkeitsfrage des
Auftretens zu erledigen. Man findet bisweilen welche am Rücken,
Oberschenkel, Unterschenkel, den Armen, wo am Abdomen und Epi—
gastrium keine zu finden sind. Gribsingbr hat dieses Yertiältniss mit
allem Rechte betont. —
Auf Herpes wurde ganz speciell geachtet, und fanden wir den-
selben bei den 36 Erwachsenen 4 Mal ; theils als labialis , theils als
nasalis immer nur in kleinen, nie in sehr ausgedehnten Gruppen im Be-
ginn der Krankheit. Von den 4 Fällen ist einer abzuziehen, der wahr-
scheinlich vor dem Beginn des Typhus kurz nach der Entbindung sich
entwickelt hatte. Nehmen wir noch die 4 4 Kindertyphen dazu, bei
denen Herpes 2 Mal sich fand im Verlauf des Typhus, so haben wir
5 Herpes auf 50 Fälle, » 10%. Die meisten Angaben darüber
sind beträchtlich niederer, selbst 8 7o i manche Autoren thun , als ob
Herpes bei Typhus überhaupt nicht vorkomme, oder als staunenswerthe
Seltenheit. Ich kann nur die Resultate verzeichnen, ohne daraus
Rückschlüsse machen zu wollen auf die Häufigkeit an anderen Orten.
Auch in Bezug auf die Schweisssecretion kann ich den gewöhn-
.liehen Angaben , die man darüber findet , nicht beipflichten. Schweiss
im Beginn der Krankheit gilt überhaupt für selten , und dann für ein
schlechtes Symptom. Es sollen sich häufig schwere Himstörungen zu
solchen Fällen gesellen. , Es war mir schon in früheren Jahren aufge-
fallen, wie häufig Typhuskranke hier von Anfang an, trotz'allen gegen-
fheiligen Angaben der Autoren , schwitzten ; in der Analyse der 36
Fälle findet diese Beobachtung durch Zahlen ihre Bestätigung, 8 Mal
bestanden von Anfang an zum Theil sehr starke Schweisse, aber nur
S Fälle verliefen schwer. Stärkere Miliariaeruption fanden wir dagegen
nur 6 Mal , jedes Mal mit Schweiss vorher , bis auf einen FaU , wo sie
sehr stark war, ohne jede Spur von Schweiss vorher; der Kranke starb
wenige Tage nach der Eruption.
Acneeruption folgte 2 Mal, Furunkeln 8 Mal in der 2. Pe-
Beitrug inr Leue tob Iltotyphas. ^ 497
riode und in der Reconvalescenz. . Siärker|^r Decubitus kam nur 4
Mal bei einem poliklinisch behandelten Falle vor; im Spital selbst 3
Mal ganE •oberflfichlicho Formen am Kneuz. 1 Mal trat in der Recon-
valescenz Ohrenfluss anU Eine Kranke hatte einen Schanker,
der gangränös wurde und beträchtliche Blutungen veranlasste, aber
noch in der \ . Periodo der Krankheit sich begrenzte und heilte , die-
selbe Kranke bekam in der 7. Woche eine Parotitis mit sehr hohen
Pulsfreqvienzen bis 4 40 und 160. — Eine Kranke bekam in der 6.
Woche eine umschriebene schmerzhafte Auftreibung an
der rechten Tibia, zu der sich Röthung der darüber liegenden Haut
gesellte, die Anschwellung bildete sich bald zurück. In einem anderen
Falle traten in der Reconvalescenz Schmerzen im linken Beine auf,
Patient ging schon herum , als sich am 4. December Anschwellung der
ganzen linken unteren Extremität einstellte bis zur Inguinalgegend ;
diese erreichte bis zum 7. December ihre grtfssie Höhe und bildete sich
bis 80. Decbr. so ziemlich zurück. Am 1 4. Decbr. traten Schmerzen in
der rechten Tibia auf, und es zeigte sich auch dort auf der vorderen Flttdie
eine drei quere Finger breite Anschwellung mit Röthung der Haut,
die nach wenigen Tagen abnahm. Es ist sehr wahrscheinlich , dass es
sich auch bei den umschriebenen Anschwellungen um Thrombose
einzelner kleinerer Venen handelt. Ich werde weiter unten
noch einen dritten Fall erwähnen , wo dieselbe Erscheinung bei einem
Kinde sich zeigte. —
Einer unserer Kranken , der 4863 einen leichten Typhus durch-
machte, gab bestimmt an, 4848 bei einer Epidemie in seinem
Heimathsorte in der Nachbarschaft schon einmal den Typhus über*
standen zu haben in seinem 33. Lebensjahre. Die Symptome, die er
angab , und die Dauer seiner damaligen EArankung sprachen für die
Richtigkeit seiner Aussage. —
Recidive traten in 4 Fällen ss 4 4 7o ^^ ^^^ verlief keiner
todtlich. PrOste im Verlauf der Krankheit wurden beobaditet
häufig nach dem Transport in die Anstalt , als Zeichen eines Reddivs,
einer beginnenden Gomplication, aber auch ohne dass sich später
irgend ein Grund dafür nachweisen Hess, einige Male.
Kindertyphen.
Die 4 4 Fälle, von denen mir genaue Krankengeschichten , meist in
der Anstalt geführt , vorliegen , vertheilen sich auf die Jahre so , dass
kommen auf 4 V2 Jahr 4 ; 4 Jahr 4 ; 5 Jahr 4 ; 8 Jahr 2 ; 9 Jahr 4 ;
4 4 Jahr 4 ; 4 S Jahr 3 ; 43 Jahr 2 ; 4 47] Jahr 8. 44 Fälle davon waren
Bd. IV. S. v. 4. 32
498 ^ Dr. M. SeUel,
Haustypben. — Die MehrzJtbi der Fälle bot auch bei leichtem Verlauf
eind^utliob ausgesprocTienes Typbusbild, nur einige waren
wenig afficirt und würden obne Berücksichtigung der ätiologischen
Momente utid ohne Temperaturmessungen vidileicbt für einfacsfae
Magendarmkatarrhe gegolten haben. Siehe die einseinen Symptome.
Nach der Schwere der Symptome und dnr Dauer des Verlaufs
kann man 6 als leichte Fälle bezeichnen : Ende der i . Periode um den
9.-— '45. Tag bei massigen Temperaturhohen und guten RenflfiioiAen ;
5 als voll entwickelt, doch eher leicht als schwer: Ende der 4. Periode
bis ans Ende der 3. Woche fallend ; 2 als schwer an sich beide zudem
recidivirend , i Fall verlief tödtlich. Die Tempemturmaxima , die er-
reicht wurden, differiren von denen bei Erwachsenen nicht wesentlich,
sie betrugen bis 32,8, einmal sogar 33,0, erreichte faäußg 3S,0, und
bewegten sich nur in den leichten Fällen um 34,5, nur der kleinste
Ptftient erreichte UrotE einer zienrfich langen 4. Periode, 3S>0 nicht.
In Betneff des Temperaturganges ergeben sich etwa folgende
B^nerkungen. Die Temperatur steigt manchmal rascher in den ersten
Tageb auf, als bei Erwachsenen dies Regel isU A. K. z. B. hatte am
14. Jali gegen Abend zuerst leichte Kopüschmerzen und etwas
Soiiwindel, am 4 6. Juli erst Prost und schon am Abend des 46» Juli
36^^ 2 (htther stieg auch spH^r die Abendtemperatur nicht); rechnet
man ; vom Frost , so Mt die Steigerung sogleidi auf den 4 . Tag ; vom
Schwindel, was wohl richtiger sein dürfte , auf den 2. Tag. Es fin--
den sieh etwas ihäufigclr als bei Erwachsenen Unregelmäasigkeiten im
Verlauf sohon der 4, Periode, Fehlen der Morgenremissionen bei sonst
deutlich remittirendeiki Typus, oder gar Steigen um etwas hilher als den
Abend vorher. Der Abfall des Fiebers, der Beginn der 8. Periode
wurde mehiiacb SO' eingeleitet, dass die Temperatur vom Abend zum
Morgen und wieder zum Abend gleichmässig abfiel und dann erst steile
Curven sidi ansohlosten , einige Male trat dies gleichmSIssige Sinken
tt)H Sehw^iss'und Pülsvel*langsamung zugleich ein. Oder der Abfall
geschah rasch' mit starkem Sinken von Temperatur und Puls, s. Gurve
i, £. Bertha, wo der Abfall in hdchstaus'S Tagen auf aormal erfolgt,
ohne Anschluss steiler Quryen. Für die Unregelmttssigkeit des Fiebers
daselbst am 8. und 9. Tage, die auch durch einen Frost markirt wurde,
Hess sich ein Grund nicht finden. Häufiger trifft man Unregel-
mässigkeiten in der i. Periode mit sehr beträchtlichen Tempe-
ratsrsteigenaigen für die sich entweder gar ketneUrs^chtoaußinden
lassen, oder die mit leiohien Slönmgen zaisattmenzahängen sefaehaen,
z. B. Stuhl Verstopfung, Erbrechen, Mchte flaulkrankheiten'ete., s.
Gurve 2. E. Sylv>i«, wo die TemperatUPiaiif 34 ,4 anstieg, ndchdetoi 4
f
Beitrag zur Lehre vom lleotyphme 49d
Tage kein Stuhl dajgewesen war. In Gurv^S. K. Anna steigt, als schon
die Entfieberung im Gange war, dte Temperatur unter starkem
Schwindel und Kopfschmerz pliätdH^h auf 31,6; am folgenden Tage
erfolgt ein Ausbruch von \ 4 frischen Roseolaflecken , die innerhalb 2
Tagen erblassen , 8 Tage später zeigt sich ein Herpes labialis , die Milz
bleibt vergrössert, die Temperatur macht noch ein Mal ein Ansteigen
auf 34 ;6, ohne dass ausser wieder stärkerem. Kopfschmerz und
SchwJMleT etwas Bemerkenswerthes auftrat , steigt dann einige Tage
wenig aber gleichmassig Abends an , um dann definitiv abzufallen.
Die Roseolaeiiiption und der Schwindel könnte dafür sprechen , dass
es sich hier um ein gleichsam abortives Recidiv handelte. Bei den
kleinsten Kranken sind die Pulszahlen natürlich ohne irgend welche
prognostische Bedeutung im Yerhilltniss zur Temperatur sehr hoch und
die Curven bekommen dadurch ein ungewöhnliches Aussehen, wie
auch bei anderen fieberhaften Krankheiten in diesem Alter, s. Curve 4.
E. Berthold, auch Curve %. Von 2 recidiven Fällen auf 4 4 = 4 4,3 %
gestaltete sich der eine ganz normal , so dass die Curve das Aussehen
eines frisch sich entwickelnden Typhus bot, der nach kurzem Höhen-
stadium in steilen Curven abfiel. Der zweite, B. Auguste, s. Curve 5,
von Anfang an durch hohe Temperaturen schwer, in der 2. Periode un-
regelmassig mit leichten Collapserscheinungen wurde Ende der 5. Woche
recidiv; die neue Erkrankung wurde durch Frösteln eingeleitet, das sich
3 Tage wiederholte, am 6. Tage Roseola. Die Temperatur, die bereits
am 2. Abends 32,4 erreicht hatte, blieb 1 Woche lang Abends ttber
32,0 mit stets sehr staAen Morgenremissionen bis über 3 Grad und fiel
dann innertialb 3 Tagen definitiv auf normal. — Curve % leigl den
tödilich verlaufenen Fall, wo in der 4. Woche nach mittelschwerem
Verlauf, nach raschem Wiederansteigen der Temperatur, ein fast con-
tinuirlicher Fieberzuatapd eintrat, dem die Kranke erlag (Nachschub?)
Die Curve zeigt auch das prognostisch ominöse Ansteigen des Pinlßea
zum Ende.
Der Puls war seltener und weniger dicrot als bei Erwachsenen,
häufiger dagegen selbst in den kürzer dauernden, leichten Fällen zeigte
sich Unregelmässigkeit desselben^ theils im Rhythmus , theils in
der Grösse der Blutwelle. Pendelfönnige Herztöne sind nicht selten.
Systolische Geräusche , als starkes Blasen an allen Ostien , besonders
Mitral., Pulmonal, und Aorta treten verhältnissmässig früh auf. Einmal
war . Verbr^iAerung des Herzens und Herausrücken der Herzspitze
zu beobachten, sugleicb mit Unregelmässigkeit der Herzbewegung , die
aber in der ReoonvirieMeiii wrückging {Muskelerschlaffung?). -- Ein
Fall war vom Herzen coi»»^*"*"^ -»«-xsh eine Symptomenreihe , die auf
8i»
500 "^ ^r- M. Seidel,
Offensein und Erweiterung des Duct. arteriös. Botalli gedeutet wurde,
er verlief gtinslig.
Die Abdominalsymptome verhielten sich ähnlich, wie bei
den Erwachsenen , Diarrhöen fehlten in 5 Fällen, von denen 4 an-
dauernd mit Clysraen behandelt werden mussten ; Kothtumoren waren
häufig dabei fühlbar. In 9 Fällen waren Diarrhöen vorhanden , zum
Theil nur vorübergehend oder täglich nur einmal, in andern. 3 — 4 Mal;
in 2 Fällen stark, 5 Mal und darüber; einer dieser 2 Fälle ve%^ 4a
der Poliklinik, wo man bekanntlich selten sicher ist, dass die Kranken
nicht ganz schädliche Dinge geniessen,vund so Diarrhoe erhalten oder
hervorrufen, der 2. war der lethale Fall. Auch hier waren die Fälle
ohne Diarrhoe die leichteren.
Meteorismus bestand nur 5 Mal in erheblichen Graden. 2 Mal
erreichte er eine beträchtliche Stärke. Schmerzhaft igkeit entweder
nur in der Ueocoecalgegend meist über das ganze Abdomen verbreitet,
bestand 7 Mal fast nur in den schwereren Fällen, 3 Mal in hohem Grade
und anhaltend.
Milzvergrösserung konnte nur in einem Falle nicht nach-
gewiesen werden (dauernd starker Meteorismus), 6 Mal war die Milz
fühlbar, mehrfach spontan und bei Druck empfindlich. In einem Fall,
der von Anfang an beobachtet werden konnte , stellte sich bereite am
2. Tage Stechen in der Milzgegend mit geringerer Yergrösserung ein,
und schon am 3. Tage war die Spitze fühlbar.
Eiweissgehalt des Urins wurde nur in ein paar Fällen,
darunter auch leichten vorübergehend und nie in grosseren Mengen
beobachtet, mehrfach stärkerer schon durch Salpetersäure nachweis-
barer Harnstoffgehalt während des Fiebers.
Von den Nervensymptomen muss ich hervorheben eine förm-
liche Schlafsucht, die 5 Mal vorhanden war. Der eine Kranke
schlief schon in den letzten Tagen der Incubation überall ein , wo er
war, in der Schule, bei Bekannten etc., obgleich er sonst ein ganz
munterer Junge war ; ein anderer schlief mehrmals ein , während man
mit ihm sprach , eine dritte Kranke vergass vollständig die Nahrungs-
aufnahme und musste geweckt werden zum Trinken, obschon sie offen-
bar starken Durst hatte und jedes Mal begierig und viel trank. Die
übrigen Nervensymptoitie gingen mit dieser Schlafsucht durchaus nicht
immer parallel, die Kranken waren, einmal ermuntert, ganz besinnlich,
antworteten richtig, die Bewegungen waren sicher, nur ein Kranker
taumelte stark beim Versuch zu stehen. Der Schlaf war bei den meisten
dabei ganz ruhig. Muskelzittem , leichte Zuckungen , Zähneknirschen,
Beilrag xar Lehre vom Iteotyphus.^ 501
auch leichte Paresen (Strabisoius) koiDme|if^ltufiger und früher vor als
bei Erwachsenen. /
Bronchialkaiarrh, wenn aueh nur in den leichtesten Graden,
war in allen Fällen vorhanden , stärker in 4 Fällen mit Hypostase-
erscheinungen in den hinieren unteren Parthien ; nur einmal fand sich
eine ausgebreitetere Verdichtung mit consonirendem Rasseln.
Haut. Roseola fehlte 2 Mal [^ Mal bei sehr dunklem Colorit,
4 Matkr einem polikl. behandelten Falle), trat \ Mal schon am 3. Tage
auf, dann zu Ende der ersten , auch erst im Anfang der 2. Woche ; in
ein paar Fällen wurde sie bei sorgfältigem Nachsehen auch erst in der
zweiten Hälfte der 3. Woche bemerkt.
Herpes labialis wurde 2 Mal gefunden, 4 Mal in dem oben
erwähnten Falle in der zweiten Periode, s. Curve 3, wo sich 3 kleinere
Gruppen bildeten. Bei einem anderen Kranken entwickelte sich eine
Gruppe an der rechten Oberlippe am 20. Krankheitstage, nachdem die
höchste Temperatur der Beobachtung (31,8) am Abend vorher sich ge-
funden hatte.
Seh weiss von Anfang an oder doch schon im Verlauf der ersten
Woche fand sich 6 Mal (2 Fälle schwerer , die ttbrigen leicht) , oft von
Miliaria gefolgt. Umschriebene Auftreibung mit Röthung der Haut
an der rechten Tibia 1 Mal. Fall von Curve 5 in der 6. Woche.
Starke Wadenschmerzen in der Reconvalescenz \ Mal. Fall von
Curve 4 , ohne dass sich irgend etwas Abnormes finden liess. In einem
Fall (Curve 2) folgte in der Reconvalescenz circumscripter Pig-
mentschwund. Auf der linken Wange, an der Stirn und Nase
machten sich umschriebene Stellen bemerklich , an denen das Pigment
der Haut beträchtlich geringer wurde , so dass dieselben fast weiss er-
schienen und sich mit scharfen Linien von den dunkleren Parthien der
normal gefärbten Haut abgrenzten. Auch die Cilien des Unken Auges
wurden heller.
Das Körpergewicht sinkt auch in den leichteren Fällen nicht un-
beträchtlich , steigt aber in der Reconvalescenz , rapid oder langsam
wieder auf, z. B. in dem leichten Fall Th., Gewicht am 5. Krankheits-
tage HO Vi Pfund, 19. Tag 403, 27. schon 44572^ ebenso Fr. E.
42. Tag 449V2 Pfd., 32. Tag 408 Pfd., erst nach weiteren 3 Wochen
4i2V2PW- G. am 49. Tage 991/2 PM-, »ach 20 Tagen 4 48V4Md.;
P. am 7. Tage 420 Pfd., nach 8 Wochen 403, in der ersten Woche der
Reconvalescenz 406. Die Kinder verloren im Durchschnitt weniger.
B. E. (Curve 4) Anlang der 2. Woche 20V4 Pfd., dann 3. Woche
502 ^ ^ Dr. M. Seidel,
20 V2 Pfd., 4. Woche 1 91/2 Hl., 5. Woche 2OV4 Pfd. B. E. (Curve 4)
12. Tag32V2PW.i ^9. Tag W/^Ptd., 33. Tag 3574 Pfd. Dagegen
sank bei A. K. (Curve 3) das Gewiabt stark , stieg aber auch i^asch.
65^4 vor dem Beginn des Typhus, nacJt 5 Tagen der Erkrankung
61 Pfd., 12. Tag 57V4, 19. Tag 56V2 PW. ; nach 3 Wochen vrieder
66 Pfd., in weiteren 8 Wochen 72 Pfd.
Die Behandlung war in weitaus den meisten Fällen eine
eispectative und symptomatische. Zunächst bekamen die Kranken,
wo dies nur anging, die bestgelegenen, gerUubigsten Zimmer, die
möglichst dünn belegt wurden , massig geheizt und gut gelüftet. Bei
einigen ausserhalb des Spitals bereits beobachteten Fällen, die in engen ,
schlecht gelüfteten Zimmern gelegen hatten , schien schon daä Deber—
siedeln ins Krankenhaus von günstigem Einflüss zu sein. Bföglichste
Pflege, grOsste Reinlichkeit und strenge Diät kamen da^u, letztere in der
Weise, dass die Kranken von Anfang an, wenn sie AppetH zeigen , mit
Milch , Pläischbrühe und Ei genährt würden , aber gar keine^ainderen
Nahrungsmittel bekamen. Therapeutisch wurden bald Acid. sulf. dll.
ioi Mixtur in schwachen Losungen verabreicht, mehr ut aliquid fiat;
oder gegen die Diarrhoen Salep. decoct. allein öder mit Alaun, Colombo,
Gascarilla ; gegen Brönchialkatarrhe Ipecacuanha in schwachen Dosen,
Senega, Aq. Laurocerasi etc. Bei allen Schwächezeichen Vinum rubrum
iii verschiedenen Mengen, bis 6 Unzen und darüber pro die ; auch Tokayor
und Cognac mit entschiedenem Erfolge. Moschus in den schwersten Fällen
immer ohne Erfolg. — Nur einmal wurde eine Örtliche Blutentziehung
gemacht , bei starkem Gongestivzustande nach dem Kopf. Morphium
und Opium vmrden tiür einige Male bei grösserer Aufregung gegeben.
Ein Fall , wo 2 Tage vor dem Eintritt ins Spital schon in der 3. Woche
des Typhus auswärts ein Aderlass gemacht worden war, starb. —
Beginnende Röthung am Kreuzbein oder den Trochanteren wurde so-
fort mit Waschungen von verdünntem Spiritus oder Bleiwasser-
umschlägen behandelt, dö dass wir nie irgend erheblichen Decubitus
sahen. Gegeh das lästige Gefühl von Trockenheit und Hitze im Mund
und ftäched erwiesen sich Bepinselungen mit Glycerin eihige Male als
ganz vorzüglich erleichternd. Mit Digitalis, Galomel und Ghinin wuf-
dän nur wenige Fällä behandelt. Grm. 0,3 Calomei bekam der
Kranke N., bei Stuhlvefätot)fung am 7. K^ätikheitstage mit folgender
starker Diarrhoe und Erbrechen aber grosser subjectiver Erleichterung,
die Temperatur sattk um 0,5, es folgten grössere Reminsionen und
wurde nie wieder die frühere Höbe erreicht, der Fall veriief leicht.
Beitrag zur Lehre vom lleotyphos. f^ 503
Dann die Kranke B., s. Curvc 5, ohne erhej^hen Einfluss. Digitalis
nahmen 6. Dieselbe Kranke B., 0,9 Grpii., der Puls ging während der
nächsten 3 Tage herab auf 88 , wurde vom 1 8. Krankheitstage ganz
unregelmässig und sank wäbrend des ersten Fieberabfalles bis auf 44,
war meist im Verhältniss zur Temperatur sehr niedrig ; einen erheb-
liehen Einfluss auf difr Temperatur wird man kaum statuiren können.
In 3 weiteren FäHen , wo Digitalis zu Ende der ersten Woche wegen
becfenkliriier Fieberhöhe gegeben wurde, 2 Tage lang im Ganzen
r,f fir«i., feUle jeder erhebKche Einfluss auf dia Temperalur und den
Puls. Bei 2 weiteren Fällen, wo das Mittel 4 und 5 Tage gegeben
wurde, 2,0 — 3,0 Grm., war der Einfluss nicht zu verkennen ; vom
3. Tage des Gebrauchs ab fiel bei dem ersten die Temperatur des
Abends gleichmässig von 32,0 auf 31,1 durch 5 Tage, am 6. Abend
sogar auf 30,0, und stieg dann während der nächsten 3 Abende wie-
der allmählich auf 31,8, um dann in den definitiven Fieberabfall über-
zugehen. Der Puls vorher schon nie sehr hoch, nur 80, sank nur 3
Mal unter 60 am Morgen, hielt sioh sonst Abends um 70. Bei dem 2.
Falle madbtle die Temperatur am 9. '^ge des Gebrauchs (16. Krank-
heiiatag) zusi ersten Male eine starke Remission um 1,7 am Morgen
und erreichte nie wieder 32,0. Der Puls vorher um 110, sank um
etwa 1 0 Schläge und erreichte ebenfalls nicht wieder die frühere Höhe.
Chinin in grösseren Dosen wurde bei bedenklicher Höhe und Dauer
des Fiebers 2 Mal gegeben. In dem einen Falle, Ende der 3. Woche,
blieb die nächste Morjgenremission , die in den Tagen vorher fast regel-
mässig da war , aus , dagegen folgte ein starker Abfall zum Abend und
wieder zum Morgen um 1,6, an diesen sich anschliessend der definitive
Abfall in steilen Curven. Im 2. Falle bei sehr schwerem Fieber IP der
ersten Woche Morgens und Abends 32,8 und 32,0 wurde vom 9. — 11.
Krankheitstag Mixtur von 0,8 auf 150 Grm. gegeben, am nächsten
Morgen trat die erste grössere Remission von 3^,5 auf 31,2 ein, die
Temperatur erreichte Abends nie mehr 3^,0. Dar Fall verlief dabei
sehr schwer aber günstig.
Von {selteneren Gomplicationen will ich noch erwähnen i dass eiqe
Kranke epileptisch war, sie bekam im Typbus keine Abfälle. Ein
Kranker hatte einen Leberechinococous; während des Fiebers
wurde die Umgebung der Blase empfindlich, doch verlor sich das
bald ; die seltene Gomplication von Saiten des Herzens bei einem Kinde
Ofl'ensoin des Ductus Botalli habe ich schon oben erwähnt.
^
>
ie bisherigen Eifahnuigen nber TriehiMiasis mnd FleiMft-
beschau in Thüringen.
Von
Dr. L. PfeiflFer
in Weimar.
Die nachfolgende Zusammenstellung kann keinen Anspruch auf
absolute Vollständigkeit macheg. Es war dem Verfasser fttr die erste
Generalversammlung des allgemeinen ärztlichen Vereines für Thüringen
das Referat über obige Frage übertragen worden und ist es durch die
freundliche Unterstützung von Mitgliedern dieses Vereines nur gelun-
gen, für einzelne Districte eine vollständige Uebersicht zusammen-
zustellen. Die betreffs der Trichiniasis sehr verschiedenartige Ge-
setzgebung in Thüringen, welche bei den mannichfach in einander
verschlungenen Landesgrenzen sehr oft wechselt, macht eine nicht-
officielle Sammlung des zerstreuten Materiales zu einer schwer zu er-
reichenden Aufgabe.
■• Erfahrungen Aber Triehiniasis.
4 ] Thüringen hatte bereits 2 Jahre vor der Katastrophe von He-
dersleben eine ziemlich ausgedehnte, wenn auch leichte Trichinen-
endemie , die zugleich die erste als solche in Thüringen erkannte sein
dürfte. Von Dr. SsmEL in Jena sind 4 zu dieser Endemie gehörige
Fälle in der Jenaischen Zeitschrift für Medicin und Naturwissenschaf-
ten bereits veröffentlicht worden; das andere Material umfasst nach
oflicieller Zählung i) weitere 1 03 Fälle in der Stadt Weimar. TodesMlo
sind im Verlauf dieser Endemie nicht vorgekommen und ist aus diesem
Grunde die Existenz der Endemie kaum im Kreise der Herren Collegen
ausserhalb Weimars bekannt.
4) Gütige Mittbeilnng des Uerrn Mcd.-Rath v. Corta in Weimar.
Di« bisherigen l^rrahrnngen über Triekiiiasis uud Fleiselkscbaa in Thflringeu. 505
Nadi den ofiicieilen Meldungen der JLerzte Weimers kamen von
Ende September bis Ende Ociober f 84S zur Anzeige 403 leichte und
bedenklichere Erkrankungen an Triobiniasis. Die meisten EriLrankun-
gen fallen in die erste Woahe des Monats October und kamen die be-
treffenden Kranken meist erst in ärztliche Behandlung , nachdem be-
reits das erste Stadium der Krankheit, entsprechend der Entwickelung
der jungen Brut im Darmcanal und mit beginnenden gastrischen Stö-
rungen Vorüber war.
Im Beginne der Krankheit bestand in der Mehrzahl der Fälle Ap-
petitlosigkeit, Cebelkeit und Drudi im Epigastrium; Erbrechen und
Diarrhoe wurde nur in einzelnen Fallen angegeben. Zwei Kranke wur-
den so plötzlich befallen, dass sie den Verdacht einer Vergiftung hegten.
Bei fortdauernden gastrischen Erscheinungen — Appetitlosigkeit,
schwach weissbelegter Zunge, bei meist regelmässigem Stuhl (eher
Obstipation) traten 6—8 Tage nach dem Genuss des verdachtigen Flei-
sches leichte Oedeme an den Augenlidern auf. Diese waren schmerzlos,
nur spannend. In einzelnen Fallen schien auch die Gonjunctiva auf-
gelockert und mehrmals wurden Ecchymosen gefunden. Das Oedem
dauerte 6 — 8 Tage, später gesellten sich hinzu Schmerzen in den Mus-
keln (nicht in den Gelenken) , vorzüglich bei oder nach der Bewegung
und auf Drudi , bei vollständiger Ruhe und schlaffer Haltung wieder
verschwindend. Am meisten schmerzhaft waren die Extremitatenmus^
kein , demnächst die Nackenmuskeln , am seltensten die Brustmuskeln
und die des Zwerchfells. Im letzteren Falle wurden dann auch ganz
constant Dyspnoeanfillle beobachtet. Die Muskelschmerzen haben durch-
schnittlich mehrere Wochen angedauert und Hessen noch nach dem
Verschwinden für längere Zeit ein Gefühl von Muskelschwache zurück.
Mydriasis wurde nur vereinzelt beobachtet.
In den heftigeren Fällen fühlten sich die Muskeln härter und pral-
ler an , zu dem Gesichtsödem gesellte sich Oedem in der Gegend der
Parotis , seltener an den Füssen und an den Händen , welches jedoch
ebenfalls nur ein Spannen in der Haut, keinen Schmerz verursachte.
In einzelnen Fällen ist deutlich ausgesprochener Laryngealhusten mit
Heiserkeit und selbst mit blutigen Sputis beobachtet worden. Schluck-
besohwerden sind fast constant angegeben. Bei niederer Hauttempera-
tur war der Puls bis zur vierten Woche immer ca. 130.
Gegen dien 9 — 48. Tag traten profuse und übelriechende Schweissc
auf, besonders des Nachts, mit Ausbruch von Miliaria, Urticaria (< Fall)
und Furunkeln. Gleidizeitig stellten sich stärkerer Kopfschmerz, selten
Delirien in der Nacht ein. — Der Harn war anhaltend dunkel und se-
dimentirend, zuweilen heftiges Brennen bcimUrinlosscn. Das Nachla9sen
506 ■ I>r« L. PMtor,
aller Erscbeinuiigeo begann ia der i — I. Woohe. Die MmlLdschiiier-
zetk verwandellen sich in Musl^lschwäohe und diese nahm langsan» ab.
Die Oedenre verschwanden anfangs des Morgens und waren nur des
Abends noch leicht vjorhandcn, während ^e leichte PulsfceqnanS und
nächtliche Sehweisse bei ausg^eichnetem Appetit nooh längere Zeü
zurttckbUeben.
Eine Frau abortirte im 2 — 3. Itaiat.
Die Mehrzahl der Kranken wurde' nach 40—12 Tagen b<$leits aus
der Behandlung entlassen.
Die Quelle der Infectioa hat mit Bestimmtheit nicht nachgewiesen
werden können, doeh giebt die Mehrzahl der Kranken an, von einem
Fleischer, der mit mehreren Hausgenossen ebenfalls krank gewesen ist,
sogenanole schnell- oder halbgeräucherte Fleischwaaren 7 — 42 Tage
vor Eintritt der Oedeme gegessen zu haben. Die Diagnose der Trichi—
niasis wurde zuerst in Jena durch die Herren Hofrath GaiHAM) und Ik".
SslDBL durch den Nachweis von jünger Brut in einem Muskelslück-
chen eines der dortigen Kranken bestötigt.
Derselbe mikroskopische Nachweis gelang kurz darauf auch in
Weimar. Eine au£Eailende Starre der Muskeln beim Excitiren wufde
beidemale nicht beobachtet.
In den letzten Jahren sind in den Muskeln von zwei mittlerweile
verstorbenen Personen , bei denen 1 863 die Diagnose auf Trichinose
gestellt war, vom Herrn GoUegen Götzs in Weimar dngekapsdie Tri-
chinen gefunden worden. Die betreffend^i Präparate des Herrn Dr.
G((Tzi zeigen interessante Verhältnisse in Bezug auf den Grad der Ver-
kalkung bei verschiedenem Alter der eingekapselten Trichinen. Bei
einer Frau, die im 80. Lebensjahre inficirt wurde und die im Besten an
einem Schenkelhalsbruche starb , fand sich in den Kapseln nur selten
ein Kalkkrystall, von ganz vereinzelten, sehr kleinen Kalkpunctcn um-
geben. Die Präparate aus den Muskeln eines 30jährigen Mannes , der
ein Jahr nach der Trichtniasis an Cholera starb, fanden sich die Kap-
seln genau in demselben Stadium der Verkalkung, wie bei der eben-
erwähnten 80jährigen Frau.
Ein 1 0 W^ochen nach der Infection bei einem der Jenaer Kranken
excidirtes Stückchen des Biceps von Erbsengrösse enthielt 7 im Beginn
der Einkapselung begriffene Trichinen.
Die Behandlung der Kranken ist durchgängig eine symptomatische
gev^esen. Es wurden leichte Abführmittel gereicht und haben bei sehr
heftigen Muskeh^ehmerzen die subcutanen MorphiuminjeetionenErieieb«
terung geschafft.
tibcb
Die bisherigen CrfüliruDgeu Aber Trieliniasis uiid Fleischtncbau in TkdriiigeD. 507
Die Menge der Triehineti in den Schwefnefleisch, welches hier die
AttSteekttOg vermitlell bat, iidnn keine. sirtr grosse gewesen sein, in*-
sofern bei allen zdr Beobacbtimf geiieBiincnen Fällen im VerhMtniss tn
Heltoledl und B^ersieben nur leichtere Grade der Krankheil vorhan-
den waren. Viele mögen darvon gegessen haben, ohne mehr als emeA
lieicblen Gastricismus davon getragen asu haben. Eine weitere AnsaU
hat sich ohne Damierscheinungen und mit leichtem Lidtfdem nur ein-^
mal der BEhandlung gestellt.
Das gerade in Betreff der Aetiologie unvoUkemmene Material giebt
aber doch Anhaltepnncte, dass neben der Menge der genossenen Tri-
chinen auch eine individuelle Disposition des resp. Darmeanales auf
das Zustandekommen einer relativ leichteren oder schwereren Trichi-
niasis den grossten Einfluss hat. Es Hegen verschiedene Beobachtungen
vor, dass bei einem Familienmitglied der Genuas von einer kleinen
Menge Wurat viel schwerere Symptome verursacht hat , ab die dop-
pelte und dreifache Wurstmenge b^ einem anderen Mitglied derselben
Familie.
Das Schwein, von dem aus diese Epidemie ihren Ursprung wahr-
scheinlich genommen hat, soll aus einer Mühle in Gross -Kromsdorf
stammen, in der später noch mehrfach Trichinen vorkamen. Durdi die
swei Jahre nach dieser Endemie eingeführte Fleischbeschau ist diesem
Trichinenhord seitdem die Ausbreitung auf Menschen erfolgreich ab»
geschnitten worden.
i) Eine zweite kleinere Endemie kam nach Mittheilung des Herrn
Gollegen Dv. KöLLim im April 4 867 in einet* armen Familie xu Walters-
hausen vor.
Es erkrankten leicht der Sehlächter, der 46jahrige Vater und die
gleichaltrige Mutter; etwas schwerer twei Knaben von ly^ ^^^ ^^^
4 Jahren, sehr schwer eine 4 4jährige Tochter, \Wei Söhne von 80 und
2% Jahren und die 2dj8hrige Zuhälterin des letsteren.
Die Zuhälterin des Sohnes war Im 4. Monat der Schwangerschaft
und gebar später rechtseitig, wie denn überhaupt die Gravidität durch
die Trichiniasis nicht| tangirt wurde. Die beiden erwachsenen Söhtie
starben und boten die Krankheitserscheinungen nichts, was nicht schoti
anderwärts beobaehtet worden wäre.
Die Zahl der eingewanderten Trichinen war bei den Verstorbenen
eine gant immen5;e ; in einem einzigen Präparate des Zwerchfells wur-
den 4 09 Trichinen gexählt. Ebenso fanden sich 4 Wochen nach dem
Oenuss des Fleisches im lleum zahlreiche Darmtrichinen , gewöhnlich
drei in jedem Präparat. Während des Lebens war es nie gelungen,
auch nach den stärksten Abftihrmitleln in den Pätcs Trichinen aufzu*«
508 ^ I>r. L. Pfeiibr,
finden , obsohon sehr häufige und seiiraubende DniersachuilgeB statt-
fanden. -- Die massenhafte Anhäufung von Trichinen erklärt sieh dar-
aus, dass die Infection eine fortlaufende war, da bis zum Verlangen
der ärztlichen Httlfa fast täglich das mit Trichinen zahhreioh durohsettte
Fleisch genossen worden war. Der Tod der beiden Sdhne gab Veran-
lassung zur gerichtlichen Verfolgung. Vater und Schlächter wurden
der fahrlässigen Tödtung angeklagt und ersterer zu '2 Monaten, letz-
terer zu 4 Monaten Gefängniss verurtheilt.
Die beiden Trichinenschweine gehörten der sogenannten Landrace
an, waren in einem benadibarten Dorfe geboren und in Waltershausen
gemästet worden.
Bereits ein Jahr vor diesem Falle sind von Dr. Kollbut in verschie-
denen, in Waltershausen gefangenen Ratten zahlreiche Muskeltrichinen
aufgefunden worden.
3) Eine dritte Reihe von Erkrankungen wurde im December 4867
in Hildburghausen von Herrn Dr. Kkopf beobachtet. Es kamen 3 Tri-
chinenfälle in einer Familie vor, die ein Schwein zum Hausgebrauch
geschlachtet hatten. Die Erkrankungen waren leichter und gingen mit
gastrischen Erscheinungen im Beginn , mit starken Muskelschmerzen,
heftigem Fieber und Schweissen einher. Gesichtsödem wurde nur bei
der Hausfrau. beobachtet, mit Brennen und Schmerz bei Bewegungen
der Augen. Das nachträglich untersuchte Schwein zeigte sich massig
mit bereits eingekapselten Trichinen durchsetzt. Der Mann zeigte in
der dritten Woche ziemlich bedeutendes Oedem der FussknOchel; der
\ 4 jährige Sohn der beiden Eheleute war nur sehr leicht erkrankt.
Ueber angebliche Erkrankungen in Grosskromsdorf , in welchem
Dorfe später verschiedene mit Trichinen behaftete Schweine gezüchtet
worden sind, fehlen nähere Nachrichten.
4) Eine vierte Infection ohne nachtheilige Folgen fand in Weimar
statt. Im Jahre i 867 ist von einem Fleischer in Weimar Fleisch vor-
kauft worden , das später als trichinenhaltig sich erwiesen hat. Ein
Theil des Fleisches war der mikroskopischen Untersuchung entzogen
und bereits verspeist worden, doch hat sich tlber einen etwaigen Nach-
theil für die Gesundheit der Betroffenden nichts feststellen lassen.
Das Fleisch des betreffenden Schweines war nur späiiich mit Tri-
chinen durchsetzt.
5) Im Januar 4 868 wurde von Dermbach im Eisenacher Oberlande
über einen ganz isolirten, tödtlich verlaufenen Fall von Triohiniasis
berichtet. Da sow<rfil die Krankengeschichte dieses Falles viel Abwei-
chendes von dem gewöhnlichen Krankhoitsbild »Trichiniasis« bietet
und da ferner der Grad der Verkalkung der nach dem Tode wirklich
Die bisherigen Crfahrang^n über Tricbiniasis and Fleischbiicban in Thilringen. 509
/'
gefundenen Trichinen verscbiedenen ZweiMn Raum giebt, ob der
Tod hier wirklMi durch Trichinen erfolgt %ei, so ist eine ausführlidiere
Beleuchtung dieses Falles wohl gerechtfertigt, zumal dieselbe durch das
Susammentrefifen verschiedener Umstände bezeugt, welche Schwierig-
keiten im concreten und isolirten Fall der Diagnose der Trichiniasis
entgegenst^en können«
Gegen den i 0. December 1 867 erkrankte in Dermbach die Frau
des Fleis^ermeisters E. mit überaus heftigem Kopfschmerz, Obren-
brausen, Schwindel, unstillbarem Erbrechen, Abgeschlagenheit, rheu-
matischen Schmerzen in allen Gliedern , dickbelegter Zunge und voll-
ständiger Appetitlosigkeit.
Nach einigen Tagen entwickelte sich eine so unförmliche Ge-
schwulst der Parotis, dass das Gesicht vollständig schief erschien. Unter
heftigen Fiebererscheinungen ging diese Geschwulst in Vereiterung
über und wurde dieselbe an mehreren Stellen incidirt. Hiermit trat
eine bedeutende Besserung ein und endigte die Eiterung fast mit voll-
ständiger Erhaltung der Drflse.
Gegen Neujahr soll die im 7. Monat schwangere Frau zwei Sdiweins-
coteletts gegessen haben (?) . Unmittelbar darauf erfolgte wiederum hef-
tiges Erbrechen , starker Kopfschmerz und unter heftigen Wehen Tags
darauf, bei sonst günstigem normalem Verlaufe, der Abortus eines
Kindes von sieben Monaten. \
Die Kopferscheinungen gingen vorüber, doch stellte sich eine mo-
torische Lähmung des rechten Armes ein , die sich indess nach einigen
Tagen wieder verlor. In der vierten Woche (40/4. 68) entwickelte sich
auf dem rechten Gesäss ein Abscess, der längere Zeit eine harte Um-
gebung hatte und bei der ErOfihung eine Tasse rahmähnlichen Eiters
entleerte. Am Kreuzbein hatte sich gleichzeitig eine Decubitusstelle ge-
bildet. Das Sensorium war hierbei meistens frei ; das Auge war klar
und freundlich, zuweilen kamen Anfidle von Dyspnoe, in welchen die
Kranke mit dem Ausdruck grösster Angst aufgerichtet werden musste.
Eine an der rechten Hand und am rechten Arm sich entwickelnde
Odematöse Anschwellung brachte den behandelnden Arzt auf den Ver-
dacht einer Trichiniasis. — Oedem der Augenlider ist nur in sehr ge-
ringem Grade vorhanden gewesen ; ausser an der rechten Hand fehlte
es an den Extremitäten. Die Kranke , seit 4 0 Jahren nur von demsel-
ben Arzte behandelt, hat nie«eine Krankheit gehabt, die mit Trichinia-
sis hätte verwechselt werden können.
Von 3en anderen Familiengliedem erkrankte unmittelbar nach der
Frau ein Kind derselben unter Leibweh, Magendrüdien und Kopf-
schmerzen, genas jedoch sofort wieder nach einem Laxans.
510
\ Dr. L. Pfeiffer,
Diese Diagnose nodh bei i.ebas«itOD der Frau an elfiem exoilirteii
Muäkelslttckobeo ;ia sicbern, iieas sich bei dem sehr gesunkanen Kräfte—
«astande der Kranken nicht reobifarUgen. Der Tod etfolgie am 90/4 .
M durch LähDQAing der Hespiralion und bei voUstem Bewuaataein. In
den nach dem Tode untersuchten Muskeln der Frau fanden sich sehr
zahlreich eingekapselte Trichinen. Die Kapseln, durchsobnilUicfa
eine in >edem angefertigten Pi^parat, zeigen besonders an den Spitzen
^eratnaute strich- und punotfartnige Verkalkungen , die siAauf Zujsatz
von Saisslüare bedeutend aufhellen. Zwischen diesen Verkalkungen
finden sich viele zerstreute Fettaellen vertheüt.
Anderweitige Falle von Trichiniasis sind in Dermbaoh und Um-
gegend nicht vorgekommen und hat es sich ebenso nicht erweisen las-
sen, daas die Frau sieh auswärts infictrt habe.
Ebensowenig iässt sich diese Erkrankung mit den im Januar 1868
in Lengsfold gefiattdenen Trichioen in Zusammenhang bringen.
Durch die Ueberainsiimmuag, dass die, hier. bei Lebseiten veroEMi-
theten Trichinen nach dem Tode als facUsch. vorhanden in den Muskeln
gefunden wurden, gewinnt der oben als ganz abnorm beseicbnete Ver-
lauf dieses Falles eia erhöhtes Interesse.
Die reiche Gasuistik Über Triohiniasis hat keine derartige Kranken-
geschichte aufzuweisen und Dr. Khaitz giebt in seiner erschöpfenden
Behandlung der Hederslebener Endemie keinen Fidl, der mü sehr ge-
ringem LidOdem, mit Abscedirung der Paroüs und auf den Glutllen
einherging.
Entstehen bei sorgteltiger Betrachtung dieses KrankhaitsirerlauCes
Zweifel darüber, dass eine Triohiniasis ihier Todesursache gewesen sei,
«o werden diese durch den mikrnskopischen Befund gesteigert Setzt
«nan die infection sehn Tage vnr den Erkirankungstag (40. Deeember
48i7), so erhalt man fttrdie Kepseltricbinen bis suiti Tag des ein-
getretenen Todes {W/i . 68) böchst^s ein Alter von 49—51 Tagen und
bei diesem »Alter finden sich bereits Verkalkungen in den Spitzen der
Kapseln i). Ein derartiger frtthseitiger Eintritt der Verkalkung ist bis
--— ' . d
i) Nach dem Druck des Obigen hat Herr Med.-Rath KüCHEivssifiTBR die exicir-
ten Fleischproben ebenfalls untersucht und ist zu einem abweichenden Resultate
gekommen. In acht isolirten Kapseln ist auf Zusatz von Salzsäure sowohl als auch
-von EssigsHure «ine Aufhellung der Kapseln ohne Gasentwidklung entstanden und
schliesst deshalb Herr Med. -Rath KücmiOiKUTBA das Vorhandensein von kohlen-
saurem oder phosphorsaurem Kalk aus. £r schätzt die Mehrzahl der Kapseln auf
ein Alter von höcfistens acht Wochen , wobei er das Vorhandensein einzelner älte-
rer verkalkter Kapseln für möglich hält. Dieses Alter würde dem Termin der mög-
lichen Iirfection entsprechen und gewinnt durch dieses gewichtige Ürtheil KtiCRCK-
SBism's auch die Diagnose auf Trichiniasis an Wahrschetnlichkeif .
^scha
Die bisherigen ErfahrnDgeo Aber Trieiiiuasis uud FleiseJ^schaii in Thilringen. 511
jeUi naeht beobachtet. Nach den auagedehnfen Experimenten Frdlbr's
beginnt die Verkalkung der Trichinen fn Kaninchen nicht vor dem
\%% — 167. Tage, und bei dem Menschen scheint die Verkalkung nach
den Befanden in Leichen UAch viel später einzutreten, aller Wahr-
scheinlichkeil nach nicht vor neun Monaten oder einem Jahr (nach
FUDLlft).
Die Eingangs besdirieben^i Präparate aus den Muskeln eines
Mannes, der ein Jahr nach der Überstanden^) Trichiniasis an Cholera
starb und ebenso die aus den Muskeln einer älteren Frau, die fünf
Jahre darnach an einem Schenkelhalsbruche starb, sind betreffs des
Grades der Verkalkung kaum weiter vorgeschritten, als der hier in
Frage stehende. — GiaLJ^cn nimmt als frtthesten Termin der Verkal-^
kung \ Ys Jahr, KücnsimisTni dagegen nur Y4 Jahr an.
Nach dem mikroskopischen Befund aHein ktfnnte man entsprechend
den bisherigen Beobachtungen die fragliche Trichinose auf mindestens
V4 — ^ V2 Jsl^ro ^<x* die letzte tOdtKche Erkrankung zurUckselsen, eine
Annahme, die in dem ganz absonderlichen Verlauf der letzten UkMichen
Krankheit nur noch eine Sttttae mehr findet. Neben der alteren geheil-
ten Trichinose hat hier eine Parotitis benigne mit Thrombusbihlungen
dra lethalen Ausgang bedingt und mag zur BekrStftigung dieser An-
si^ttung die Thatsaohe beitragen, dass Parotitis benigna in jener
Gegend relativ häufig bei Typhus, Diphtheritis etc. zur Beobachtung
kommt. Bei der Annahme einer reinen Trichinose bleibt das Räihsel-
hclte, das dieser gänzlich isolirte und tödtlich verlaufene Fall bie-
tet) ungeläst,
Gs iat ttbrigens Thatsaohe, dass der Fleischer E. mehr Schweine
geschlachtet hat, als nadi seinem Pleischbuche untersudit worden sind
und dasB er vor der Erkrankung seiner Frau ein paar nicht ganz ge-
sitndfräehweine gekauft und diese auch geschlachtet hat.
Bat er diese Sehweine nun nicht untersuchen lassen und imOeCtthl
ei«er gewissen Schuld nur zu gekochten Waaren verarbeitet, während
aHein die Frau vom Haokefleisoh gekostet hat , * so Uhsen sich allerdings
auch manche der vorhandenen Räthsel.
5) Weitere Trichineneckrankungen sind in Nordhausen 4 &6& vor-
gekommen.
II. Ergebninm der Fleisehbetseliau.
Eine allgemeine Debersicht Über das Ergebniss der Fleischbeschau
in ganz. Thttringen ist bei der grossen Differenz der betreffenden Ein-
richtunfien in den einzelne» Staaten zur Zeit kaum zu «rmäglichen.
512
Dr. L. Pfeifer,
Sanitätspolizeiliche BeiMmniUDgen zum Schulze des Piririioiiiiis exi—
stiren in Thüringen zum Theil schon seit 1863, ausgedehnte Yerord—
nungen al)er erst seit 1 8Gö und 66. Die Entwickelung der betreflen—
den Gesetzgebung ist entschieden in Thttdngen eine wieit vorgeschrit-
tene und bietet viele interessante yergleichq)uncfte. Die obligatorische
Fleischbeschau , welcher wir nach den Erfahrungen in Thüringen das
Wort reden müssen, ist am consequentesten in Sachsen -Weimar und
in Sachsen -Gotha durchgeführt und können die in Sachsen^ Weimar
erlassenen Bestimmungen als mustergültig hingestellt werden. Die fa-
cultative Fleischbeschau besteht in grösserer Ausdehnung nur noch im
Erfurter Regierungsbezirk, welcher nur in seinem nördlichsten Theile,
in der berüchtigten Trichinengegend von Magdeburg , Braunschweig.
Stendal und Halle , öfters Trichinen aufzuweisen hat. In allen nur ei—
nigermassen nennenswerthen Orten dieser nördlichen Grenze besteht
jedoch ebenfalls die obligntorische Fleischbeschau, von den einzelnen
Magistraten für die Gemeinden oder freiwillig eingeführt.
i) Sachsen- Weimar.
Die Regierung fasste zunächst als vorbereitenden Schritt Ende 4865
die Einrichtung von besonderen Fleischsohaudistricten mit mindestens
je einem geprüften Fleischbeschauer ins Auge und war es vorliiufig
noch den einzelnen Gemeindebehörden freigestellt, eine directe zwangs-
weise Fleischbeschau einzuführen oder nicht. Nachdem bis zum Ende
des Jahres 4867 in den meisten Städten die obligatorische Fleisch-
beschau eingeführt und für jeden Fleischschaubezirk auch auf dem
Lande der nöthige Sachverständige gefunden war, wurde vom Ministe-
rium am 28. Januar 4 868 dieselbe für sämmtliche Land- und Städte-
gemeinden eingeführt. Die Grundbestimmungen sind folgende:
Jedes zuni Verkauf gestellte Schweinefleisch muss vor dem Ver-
kauf vom Fleischbeschauer als trichinenfrei bezeichnet sein. Zu diesem
Behuf hat der Schlachtende alsbald nach dem Schlachten jedes Schwein
in ein die nachstehenden sechs Rubriken enthaltendes Fleischbuch mitr-
tels Ausfüllung der ersten vier Rubriken unter fortlaufender Nummer
einzutragen :
4.
2.
3.
4.
5.
6.
No.
Tag des
Schiach-
tens.
Alter und
Geschlecht
des Schwei-
nes.
Name und
Wohnort des
früheren
Besitzers.
Tag der mi-
kroskopi-
schen Unter-
suchung.
Attest des
Fleisch-
beschauers.
Alsdann hat er von jedem Schwein je eine Pleiachprobe aus den
Zwerchfell-, Brust- und Rehlkopfmuskeln zu entnehmen und diese
f
Die bislMrigen Crfuhrungen über Trichiniisis ond Fleisitl^^baD in ThfiringeD. 513
Tbeile in eiMr Scba<Atel , weldie auf der idissenseite mit dem Namen
des betreffenden Seblttcbters und mit de^ in das Pleischbuch eingetra-
genen Nummer zu bezeichnen ist, zugleich mit dem Pleischbuche dem
Fleischbeschauer zu Übergeben. — Jede Schachtel darf nur Theile von
einem Sdiweip enthalten.
Qer Fleisohbeschauer hat Rubrik 5 und 6 auszufüllen und Über-
dies noch ein eigenes Journal zu fuhren.
Bei lyfRtersuchung von einzelnen Fleischstüoken müssen dieselben
im Ganzep dem Fleischbeschauer vorgelegt werden.
Dem Fleischbeschauer steht es jedenfalls frei, sieb die nOthigen
Proben aus den geschlachteten Schweinen selbst zu entnehmen.
Der Verkfiufer von Fleisch und Fleischwaaren aus dritter Hand
haftet ebenso für trichinenfreie Beschaffenheit dersdben.
Der Nachweis, dass Fleisch oder Fleischwaaren nicht von einem
concessionirten Fleischbeachauer untersucht sind, zieht eine Strafe von
5<-50 Jhalern nach mch, vorbehaltlich der noch zur Anwendung kom-
menden Bestimmungen des Strafgesetzbuches. Unordnungen im Fleisch«
buche werden mit 1 — 10 Thalem Strafe belegt.
Die Concessionirung eines Fleischbeschauers hXngt von der Bnt-
schliessung des Ministeriums, resp. von dem Ausfall eines Examens ab.
Das zu verwendende Mikroskop muss ansdrüdilich bei der Prüfung *des
Fleischbeschauers als geeignet anerkannt sein.
Die Fleischscbaudistricte auf dem Lande sollen in der Regel nicht
über 2 — 3 Stunden Durchmesser haben.
Die Fleischschau hat bis jetzt in folgenden Pttllen zu dem Auffinden
von Trichinen geführt:
4 } Am 86. Juli K 866 fand zuerst Herr Dr. Götzi in einem Sehweine
zweier Fleischer von Weimar Trichinen, das sofort von der Polizei mit^
sammt circa K 00 daraus bereiteter Würste confiscirt wurde. Ein zwei-
tes im Stalle der Fleischer «befindliches Schwein musste ebenfalls con--
fiscirt werden, weil es überaus reidi mit eingekapselten Trichinen
durchsetzt war. Beide Schweine wurden dem Gaviller Bzge (conf .Fall 4 1 )
zum Aussieden unter polizeilicher Aufsicht verkauft. Die Schweine
stammten aus der Mühle zu Grosskromsdorf , in welcher eine ausge-
dehnte Schweinezucht betrieben wird. Der Besitzer kauft meist junge
Schweine von auswärts zur Mast an. Die andern daselbst vorbandeneo
36 Schweine wurden unter polizeiliche Aufsicht gestellt, trotzdem
jedoch zum Theil verkauft. Einige derselben stellten sieh später als
trichinenfrei heraus und die anderen waren nicht mehr der Unter*
suohung pBuglinglich zu machen.
% Im Herbst 4 866 hat deraelbe Müller (Ür seinen Hausbedarf ein
Bd. IV. 8. ■. 4. 88
514 ^ ^ Öf« l" Pf«fcp»
S«h.wein getohlachtei) in dektf sich ebenfalls Trichinen fanden. Es sol-
len zu der Zeit verschiedene der Tiiehiniasis X'erdttchtige Erkrankungen
in der Htthle vorgekommen sein bei Personen, die trotz aller -Warnung
von dan Schweine gegessen hatten.
3) Im April 1867 fanden sich in einem Schwein^ au6 Gaberndorf
viel eingekapaelte Tridiinen und wurde das 8«hwein ebenfalls unter
polizeilicher Aufsicht ausgekocht.
, 4) Im .Mai 18^7 fand Herr Dr. Götze zufällig in efflfiln StUck
Schweinefleisch Trichiiien vor. Das betreffende Schwein stammte von
demSdlben GaviUer Bbok, dem die zwei ersten triohinen haltigen Schweine
zum Ausflieden verkauft worden waren und hatte der betreffehde Flei-
scher das'Sohwein der Untersüefaung entzogen. Es war möglich, noch
den grOssten Theil des Schweinefleisches zu cönflsciren, ein Theil aber
war dn unbekannte Personen verkauft worden und ist über nachtheilige
Felgen, von dem Genüsse dieses Fleisches nichts bekannt geworden.
Das Schwein war jung vom Gaviller Beck angekauft worden, hatte sich
nie krank, geneigt und war viel ttn Freien in der Umgebung der Schin-
derei gehalten worden. Das Alter wird auf nur ein halbes Jahr an-
gegeben. Die Untersuchung zeigte Kapseln mit auffallenderweise zwei
s^ verschiedenen Entwickelungsstufen. Die eine Art bildete eine
lünglich ovale Masse von UnregelmSissigen ühd glänzenden Kalkkrystdl-
len mit zwischenliegenden amorphen und undurchsichtigen Kalkcon-
crementen. Die Präparate knirschten unter dem Deckgläschen und nach
vielen Versuchen ist es dem Herrn Dn Götze gelungen, aus einem sol-
chen Gencrement eine noch gut erhaftene Trichine heraus zu präpa-
riren. Bei Zusatz von Salzsäure lösten sich die Kalkconcreitaente und
meiist aueh die veiiLslkteil Trichinen vollständig auf unter deutlicher
EntwritiLelung vV>n Luft (kohlensaurer Kalkl). ^ Ein anderer Theil der
Kapseln wlar ih einem weit weniger vorgerückten Stadium der Verkal-
kung, nur. an den Enden zeigten sich einzelne, in Salzsäure verschwin-
dende diinkle; Punote. Die Annahme einer zweimaligen Trichinen-
infection dürfte, trotzdem dass da& Alter des Schweins zu nur 72 Jahr
angiegeben ist, hier gei^htfertigt sein.
Die Balten ddr Schinderei , von wo dieses Schwein gekauft war,
mttasen in bedenfendeni Grade triehinenhaltig sein. Vier solche von
mir untersuchte en^idlteü Kap^eltrichtnen mit beginnender Verkal-
kung. Diese . waren in den Bxtremiftäten nur dünn gesäet , in dem
ZweroUMl jedoch. so dicht, dass in einem Geslditsfeld sich deren 4 ^-^7
fanden. (Fünf Balten aus der Stadt Weimar waren tri(^hfnenfret.}
5) Im Januar \ 868 sind in einem Sdiweiüe in Lengsftfid iMi fii-
senaöh eingeka{)se)te Trichinen g^futläen worden.
T
Die bisherigen Erfahrungen Aber TriehiniASls und FleisflAeschau in ThAringen. 515
Niach dem für Sachsen- Weimar AnselUirten ist die Annahme von
Trichinenherden in der Mtlhle zu Grossiromsdorf und in der Schinde-
rei von Weimar gerechtfertigt. Aarftlfe MUhle kommen ausser den drei
trichinig befundenen SchWeShen wahrscheinlich auch noch die Trichi-
niasiserkrankungen von Weimar [h 863) . Trotz eifriger Nachforsohung
von Seiten der Behörden hat sich über die Ursachen und Weiterent-
wicklung der Parasiten auf jenem Hofe nichts auffinden lassen, es iat
jedoch eine ausgedehnte Untersuchung der Ratten, Wasserratten, Mttuse
etc. bis jetzt audi noch nicht vorgenommen worden.
Einige Aufklärung ttber die Art der Uebertragung der Trichinen
giebt der in Weimar zur Anzeige gekommene letste Fall, indem ein tri-
chiniges Schwein bei demselben Gaviller Bbgk gefunden wurde , dem
früher zwei trichinige Schwf«ne zum Aussieden verkauft worden waren.
Es hai dieses Aussieden unter polizeilicher Aufsicht statt haben sollen,
doch sind wahrscheinlich eiiaelne Abteile von den Ratten daselbst oder
auch direct von jenem Schweine verzehrt worden. Der Grad der Ein-
kapselung der Trichinen in den untersuchten Ratten würde mit der
verCkxssenen Zeit übereinstimmen. Eine gänzliche Vernichtung trichi-
nenhaltigen Fleisches dürfte deshalb immer anzuordnen sein.
2) Sachsen-Gotha.
Nach Mittheilung des Herrn Collegen KOllkiii bestehen daselbst
sanitütspolizeiliche Vorschriften seit November 1863, kurze Zeit nach
dem Bekanntwerden der Hettstedter Epidemie. Es wird vorerst durch
dieselbe eine geordnete mikroskopische Fleischbeschau nicht eingeführt,
sondern vornehmlich bestimmt, was geschehen soll, wenn trichinöses
Fleisch gefunden wird. Indess verpflichteten sich schon damals die
Fleischer in Waltershausen freiwillig, ihre geschlachteten Schweine mi-
kroskopisch untersuchen zulassen, um das sehr benachtheiligte Export-
geschäft in Schinken und Cervelatwurst zu schützen und dem consu-
mirenden Publicum durch entsprechende behördliche Zeugnisse Sicher-
heit zu bieten (26. November 4863). Schon 4 4 Tage darauf nahmen
die Fleischer ihre Verpflichtung zurück, »da die Trichinensache über-
haupt gar nicht so viel auf sich habe und es nicht lange dauern werde,
so sei die Sache wieder im alten Geleise und Alles vorbei«.
Als das Unheil in Bedersleben Ende 4 865 alle Gemüther in Auf-
regung versetzte, erliessen in einer Anzahl von Städten (Gotha, Wal«
tershausen, Ohrdruf etc.) die stadtischen Behörden ein «Ortsstatut«,
welches die Untersuchung aller geschlachteten Schweine oder impor-
tirten Schinken, Würste etc. anordnete. Die obligatoriscbe Fleisch-
beschau wurde dann ebenso in sttmmtlichen Orten der Landrathsamts-
88»
516 H Dr. Ii. Preifler,
bezirke von Gotha und Ohrdflif eingeführt. Nur im Landraihsamt Wal~
tershausen hatte man bisher iron der obligatorischen Fleischbeschau
(die Stadt Waltershausen hatte ein Octsstatut) abgesehen, hatte jedoch
in fast allen Ortschaften geprüfte Sachverstllpidige angestellt, um dem
Publicum wenigstens hinreichende Gelegenheijt zu bieten, sich zu schü-
tzen. Durch Beschluss des herzoglichen Staatsmiaisterium ist in jttng—
ster Zeit die obligatorische Fleischbeschau für Sachsen -Gotha ausge-
sprochen worden.
Durch die Ausdehnung der obligatorischen Fleisdischau auf alle
geschlachteten Schweine , selbst wenn das Fleisch derselben nicht zum
Verkauf gestellt wird, unterscheiden sich die im Herzogthum Gotha gül-
tigen Bestimmungen wesentlich von den sonst bekannt gewordenen.
Auf Grund dieser Bestimmung war es möglich , dass in Waltershausen
die beiden Todesfälle an Trichiniasis Veranlassung gaben zur Venir—
theilung des ebenfalls an Trichinen erkrankten Vaters jener beiden Ge-
storbenen.
Als Fleischbeschauer in Sachsen -Gotha sind neben den Aerzten,
thierärzten und Apothekern auch Personen aus dem gebildeten Hand-
werkerstande, Z.B.Uhrmacher, angestellt, die ihre Concession nach
dem Ergebniss einer Prüfung erhalten. —
In dem anderen Landestheile von Sachsen-Gotha, in Coburg, sind
nach Mittheilung des Herrn Medicinal-Rathes Dr. Mbusbl daselbst Tri-
chinen noch nicht gefunden worden.
Die Resultate der Fleischbeschau liegen für den Landestheil Gotha
fast vollständig vor und sind nach den Mittheilungen des Herrn Medi-
cinal-Rath Dr. Schüchardt yon Gotha in der Schlusstabelle zusammen-
gestellt.
Trotz obligatorischer Fleischbeschau soll aber z. B. in Waltershau-
sen immer noch fast die Hälfte aUer geschlachteteil Schweine der Unter-
suchung entzogen werden.
3) Sachsen-Meiningen.
Die obligatorische Fleischbeschau besteht daselbst seit ungefähr
zwei Jahren. Ausser den oben beschriebenen, in Hildburghausen vor-
gekommenen Trichiniasisfällen sind nach Mittheilung des Herrn Dr. Giap
noch Trichinen gefunden worden, am :
9/3. 66 in POssneck, geschlechtslose, unausgewachsene Trichinen im
Darmschleim eines Schweines. (Weiterer Befund nicht zu
erlangen.)
1 6/8. 67 in Meiningen ein Schwein mit viden Trichinen.
r
Die bisherigen Crfahraiigen Aber TrichiniMiis nod FleiscJ^chan in Thüringen. 517
1/1 . 68 in Lehesten ein Schwein mil any^einend wenig Trichinen.
Eine StatisiilL der Fleischbeschau zur Züft noch unmöglich.
4) Sachsen-Altenburg.
Ein Landesgeseiz, 4*s die Fleischer zwingt, das zum Verkauf ge*
stellte Fleisch untersuchen zu lassen, besteht in Altenburg nicht. In
den meisten StMRen jedoch ist eine obligatorische Fleischbeschau ein-
geführt.
Der Nachweis von Trichinen ist im Westkreise des Herzogthuros
einmal in Roda gelungen nach Mittheilung des Herrn Dr. BxiiiBOiJD in
Eisenberg.
Für den Ostkreis nimmt Herr Medicinal-Rath Dr. Geuvitz in Alten-
burg nach seiner Veröffentlichung in Wagnsr's Archiv 4868. 4. eben-
falls einen Trichinenherd an. Es wurden Trichinen gefunden :
2. Januar 66 in einem Schwein in Altenburg, aus Berlin. .
5. August 66 in einem Schwein in Gera, aus Gimmel.
27. Octob. 66 IQ einem Schwein in Altenburg, aus Remsa.
1 6. Mai 67 in einem Schwein in Altenburg, aus GöUnitz.
Von dem dritten Schwein, das der Schlächter bereits selbst unter-
sucht und fOr trichinenfrei befunden hatte, haben 56 verschiedene
Personen ohne Nachtheil gegessen, was zum Theil auf die landes-
übliche Bereitung des Fleisches zu beziehen ist, durch die »kaum
eine Trichine mit dem Leben davon kommen kann«.
Fütterungsversuche mit dem Fleische bei Kaninchen von Dr. Gbinitz
hatten positiven Erfolg.
5) Regierungsbezirk Erfurt.
Im Regierungsbezirk Erfurt kommen nach Mittheilung des Herrn
Sanitätsrathes Wittes nur selten Trichinen vor, so dass die königliche
Regierung sich noch nicht zu eitler zwangsweisen Einführung der
Fleischbeschau für den ganzen Regierungsbezirk hat entschliessen kön-
nen. Nur an der nördlichen Grenze des Bezirks reicht der Haupttrichi-
nenherd von Deutschland noch nach Thüringen herein und besteht da-
selbst eine obligatorische Fleischbeschau. Die Gegend zwischen Mag-
deburg, Braunschweig, Stendal und Halle hat wohl bis jetzt am häufig-
sten in Deutschland Trichinen aufzuweisen gehabt und ist zumal im
Semester 4 867/68 daselbst die Trichiniasis noch viel häufiger aufgetre-
ten als früher. Die strenge Handhabung der obligatorisdien Fleisch-
beschau in jenen Districten lässt jetzt wahrscheinlich kein trichiniges
Schwein mehr passiren und sind die früheren Erfahrungen über Tri-
A
518
Dr. L. Pibiffer,
chiniasis und die Resultate iler Fleischbeschau io regelmässigen Berich-
ten im YiRGHOw'schen Archiv S^röffentlicht.
Nach dem Berichte des Kreisthlerarztes HEiNaicH kamen allein im
Semester 4 867/68 in diesem nördlichsten Theil von Thüringen Mgende
Ergebnisse der mikroskopisdien Untersuchung vor :
10/12. 67 in Braunschweig
i 8/4 S. 67 in Nordhausen .
21/12. 67 Domäne Frose .
49/12, 67 in Wanzleben .
7/4. 68 - -
8/1 . 68 - Aschersleben .
9/1. 68 - Wegeleben .
Bis Anfang Januar hat die Braun-
schweiger Viehversicherungsgesell-
schaft bezahlt
Bis ebendahin die Yiehversicherung
in Aschersleben ....
24/1. 68 in Schmeidlingen
- Frose . . .
- Halberstadl .
- Domersleben.
- Schönebeck .
- Halberstadt .
3/2. 68 - Schmeidlingen
3/2. 66 - Sudenburg .
12/3. 68 - Calbea/S. .
1 Schwein ] beim Gentralvieh-
1
2
1
1
1
2
i T^rsicherungsver-
J ein versichert.
. 14
26/4. 68
26/4. 68
1/2. 68
3/2. 68
5
1
3
2
40 Schweine.
Davon sind auf der Domäne Frose
gefunden allein g
Im Kreise Worbis sind im letzten Semester allein dreimal Trichinen
in SohweineOeisdi gefunden worden. Von dem rohen Fleisch ist ein-
mal gegessen worden, ohne dass nachtheilige Folgen berichtet sind.
Ebenso wurde im Jahre 4866 zu Worbfe auf der Scbarfrichterei ein
Schwein mit Trichinen gefunden. Die Menschen, welche von dem rohen
Fleisch genossen hatten, weigerten sich, ein Brechmittel zu nehmen
und blieben gesund. In den Batten der Scbarfrichterei wurden keine
Tridiinen gefunden. — Zur Zeit der Hederslebener Epidemie kamen
eine Anzahl von Arbeitern trichinenkrank nach Worbis zurück und
starben meist.
(Nordhauaen Mte 4865 im Ganzen 1 5 Erkrankungs- und 4 To-
desfall.)
Die bisherigen Erfuhningen Aber Thohiuiasis oiid Fleisohbefeh&a in TbQringen. 5)9
Dhbeseha
Ergebniss der mikroBkopüohegrtlntersachQngen :
1 •
An^hl der
Ort.
Zeitraum
der
Untersuchung.
untersuchten
gaasen
Schweine
und der ein-
MtnanTheüe
Davon mit
Trichinen
bebaftet ge-
funden :
solcher.
\
Stadt Altenturg . . .
April 486S— «7
5i80
8
2
Stadt Weimar . . .
1866
i840
8
^ ^ • • • •
4867
3040
8
•• "•....
4868, I. Quartal.
4 Ott)
—
8
Stadt Gotha ....
4866
9000
8
• • • •
4867
6064
4
4
9tadt Waltersbausen .
Nov. 15 bis Ende 65
861
-»•
- . .
4866
4580
4
• • •
4867
3470
4
5
Amt WaltershaoMn . .
. 4867
480
.«
6
Ebenhausen in S.-Gotha
4867
9
4
7
Kassa und fjiuterbach.
4866
8
—
t" - ^
4867
49
4
8
Stadt Ohrdruff . . .
4866
454
—
** ^ • • • •
4 867
498
1
** • • • •
4868, I.Quartal.
88
*4-i '
9
Amt Ohrdruff . . .
?
?
?
40
Amt Gotha ....
. 4867
48874
_
hK
Kreis Nordhausen . .
Wiotarsemester ^es
7
40
In Sachsen-Gotha (ohne Coburg), von welchem Lande allein eine fast
vollständige Uehersicht der Fleischbeschau v^^rliegt (Mittheilung
des Herrn Med. - Rathes Dr. Schughabi^t ia Gotha)^ komoien' auf
88264 unt6r9uchte Sobweine neun ^Icbe mk Trichweny d.h.
\\ 3U0.
In der Stadt Weimar kommen auf 6370 Schweine bereilis vier aalobe,
cj.h. 1H590.
JSacb dem bisher Mitgetheilteo mUssen wir eioer allgevieinen obli-
g3U>rischen Fleischbeschau entschiedep das Wort reden* Thttringen hat,
abgesehen von seiner nördlichen , stark von Trichinen h0iiDgo8Uoblen
Gren^p, noch verschiedene Trichinanherde (Waltershausen, Gross-
l^rQmsdorfy Gegend von Alteuburg und Weimar), durch die alUabitUoh
eine verhaltnis/smässig grosse Anzahl von Schweinen inficirt wird« Von
den meisten Qegnern der obligatorischen Fleisehbescbau wird latolere
doch für sqlf^be Distrietfi.fUr nOtbig g^altan, in dcwn öfter TrichiMn
vorkommen i|nd steht die Mehrzahl der Sanitfitabehdrden in TburJoeGBi
auf diesem ^l,^ndpuncte. Die Fleischbesohau muas aber Obigeü sü
Folge auPb'QWe allgemeine, itber die Lanflgeineinden sich gleiobervv«ise
520 N^ Dr- L. Pfeifer,
erstreckende sein und lasil^ sich die angeblich unüberwindlichen
dernisse, wie die Beispiele von Sachsen -Weimar und Sachsen -Gotha
lehren, bei gutem Willen beseitigen. Der bequeme Grundsatz, dass
durch vernünftiges Zubereiten der Speisen und durch passende Beleh—
rung nach dieser Richtung bin jeder Einzehi^ die Gefahr von sich wen-
den könne, passt schon in sofern nicht für Thüringen, als bei dem
grossen Consum von Schinken und Cervelatwurst, die nur leidit ge~
räuchert werden, um sie » saftig a zu erhalten, von dieser Seite immer
wieder eine Epidemie wie die von Weimar verursacht werden kani».
An eine Verminderung des Consums derartiger Fleischpräparate oder
an eine Aenderung der Zubereitungsweise dieses grossen bidustrie—
artikels aber ist in Thüringen nicht zu denken.
Am Schlüsse sei hier noch eine Beobachtung angeführt, die von
einem erheblichen Einfluss auf die zukünftige Gesetzgebung sein
könnte. Die tägliche Erfahrung lehrt, dass trotz obligatorischer Fleisch-
beschau immer noch ein grosser Theil der geschlachteten Schweine
der Untersuchung entzogen wird. (In Waltershausen nach Dr. Köl-
LBiN z. B. die Hälfte.) In der Stadt Weimar betrug die Zahl der Unter-
suchungen:
1866 sc. 2360
1 867 = c. 3090
im I. Quartal von 1 868 = 4 060.
Diese rapide Steigerung der zur Untersuchung gekommenen
Schweine hängt nicht mit einer Vermehrung des Consums zusammen.
Sie erklärt sich einfach daraus, dass seit Mitte des Jahres 1 867 von den
meisten Fleischern mit ihrem Fleischbeschauer eine jährliche Pauschal-
summe vereinbari wurde, für welche letzterer alle von dem betreffen-
den Fleischer geschlachteteuv Schweine untersuchen muss. Dadurch
hat der Fleischer kein Interesse mehr, wöchentlich ein oder mehrere
Schweine der Untersuchung zu entziehen und liegt hierin nach dem
einstimmigen UrtheO aller Fleischbeschauer der Grund der obigen
raschen Steigerung.
Derartige Accordirungen dürften zum wirksameren Schutze des
Fnblicums überall von den betreffenden Behörden anzuordnen sein.
Ein weiterer Punct, den die Gesetzgebung noch nicht genügend berück-
sichtigt hat, ist die Verstopfung der Quellen, aus denen (fie Schweine
die Trichinen beziehen. Für den Waltershäuser Trichinenherd sind die
Trichinen in den Ratten von Dr. Kölleiiv nachgewiesen, der Trichinen-
herd der Schinderei zu Weimar enthält ebenfalls zahlreiche trichinige
Ratten und dürfte es ati der Zeit sein, diese Infectionsqüellen zu vcr-
Die bisherigen CrfahroRgen Aber TrichiuiMis and Flet8(|kiie8chio in Tbflringen. 521
stopfen. Ausgedehntere Untersuchungen d^r Ratten und Vernichtung
derselben , Beiehrung in landwirthschafrilchen Vereinen über Einrich-
tung der StSUe etc., würden bei den betreffenden Regierungen noch
in Anregung zu bringen sei». — Eine gänzliche Vernichtung (nicht
Zurttckstellung an den früheren Eigenthttmer) von trichinenhaltigem
Fleisch ist ebenso fttr eine vorsichtige Sanitätspolizei geboten. — Die
Goncessionirung von Fleischbeschauem über den wirklichen Bedarf
hinaus kann durch Herabdrücken der Untersuchungsgebühren nur
nachtheilig auf die Genauigkeit der einzelnen Untersuchung hinwiilLen.
Wenn, durch neu ooncessionirte Fleischbeschauer die Gebühr für die
einzelne Untersuchung nach und nach bis fast auf t Silbergroschen
herabgedrückt wird, so rauss das Zutrauen auf die Zuverlässigkeit der
Untersuchung schwinden.
Mai 4868.
\
* *
lieber Stelliuigeii des graviden ud puerperalen lllemuu
Von
Dr. JS. F. Winkler,
Assistenzarzt im Entbindungshause zu Jena.
In den meisten geburtshttiflichen Werken findet man die Angabe,
der schwangere Uterus zeige gewisse Stellungsänderungen , und zwar
namentlich Lateroversionen sowie Drehungen um seine Langsame. Unter
letzteren wird stets die Rechtsdrehung , d. h. das Vorstehen der linken
Kante ganz besonders betont, eine Behauptung, die nicht vorwurfsfrei
dasteht deshalb , weil die Uterusstellung anscheinend immer nur nach
dem Augenschein taxirt und überhaupt nie eine grössere Beobachtungs-
reihe zusammengestellt worden war. — Diese Uterusstellungen gewan-
nen grössere Bedeutung , als man nach Kiwisgh's Vorgänge das angeb-
lich häufigere Vorstehen der linken Kante mit gewissen häufigeren Po-
sitionen der Kindeslagen in Beziehung zu setzen anfing. So plausibel
auch letztere Behauptung zu sein scheint, so nothwendig ist es, die ihr
zu Grunde gelegten Prämissen zu prüfen. Wie gesagt, bewiesen waren
diese Prämissen noch nicht: gestützt wurden sie aber durch die Schä-
tzung nach dem Augenmaass und durch die Betrachtung der Lage der
Uteruswunde nach vorgenommenem Kaiserschnitt. — Das Augenniaass
ist bei geringeren Axendrehungen äusserst trügerisch, wie ich mich
selbst durch Controlversuche mit dem Messband überzeugt habe. Die
Zahl der Kaiserschnitte aber, bei welchen die Lage der Uteruswunde
näher bestimmt wurde, ist viel zu klein, als dass sich hieraus irgend-
welche Schlüsse ziehen Hessen. — Auf den Sectionstisch kommen Spät-
schwangere nur sehr selten: wo aber derartige Untersuchungen ge-
macht wurden, findet man gerade die Axendrehungen des Uterus nicht
berücksichtigt. So geben weder Rödbrer <) noch Huntbr ^) hierüber
4) RöDERER, Icones uteri humani
%) HüNTER, Anatomia uteri bomani gravidi.
lieber Stellongeu des graTidea und ^erpenlenjMerae. 523
Aufscbluss. Es fiUlt aber sehr wohl auf, da^ aus Huvtkr's Abbildun-
gen, wo doch sonst in Bezug auf Situs ke^ae Künstelei herrscht, in der
Mehrsahi der Falle bei evidenten Frontalansiohten nicht eine RediUH,
sondern gegentbeilig eine Linksdrehung ersichtlich wird.
Unter diesen Umständen ist der einsige Weg, zu genauen Resid-r-
taten zu gelangen, die direete Messung und in Nachfolgendem sind die
Resultate so angesteHter Beobachtungen enthalten. -^ Gleichseitig wurde
stets die Kindeslage bestimmt, um einem etwaigen Gausalnexus swi-
eeiMn Uterus- und Kindessteilung auf eine sichere Spur zu kommen.
Die Messung selbst wurde stets in der Weise ausgetlbt , dass der
in der horizontalen Rückenlage befindlichen Frau, weil nur so die Bauch-
decken hinlänglich erschlafft sind, das Messband quer ttber den Leib
von einer seitlichen Grenze des Uterus bis zur andern geiegft und nun-
mehr die Maasse für die gesammte Breite, die Linea alba, sowie die
Ansatzpuncte der runden Mutterbäiider bestimmt wurden. Aus den
sich von selbst ergebenden betreffenden Differenzen wurden alsdann
sowohl die Lateroversionen wie die sugehtfrigen Ltfngswendrehungen
berechnet. Eine Differenz bis zu zwei Ctms. wurde der etwaigen Feh-
lerquellen wegen stets gleich Null gezählt. — Es wurde aus nahe lie-
genden Gründen stets bloss am contrahirten Uterus gemes^n, ein Zu-
stand, den man in den letzten 8— 12 Wochen mit Leichtigkeit' und ohne
Schaden durch Reiben etc hervorrufen kann. Gleichzeitig mit dem
Uterus contrahiren sich auch die Lig. rot., so dass so\>ohl sie selbst Wie
auch ihre als kegelförmige spitze Fortsätze der UliTinsubstanz sieh dar-
stellende Ansatzpuncte leicht zu palpiren sind. Auf diese Weise gelang
es in allen Fällen, selbst bei äusserst gespannten Bauchdecken, die
Lig. rol. zu palpiren und sie bis zu ihren beiden Bndpuncten zu ver-
folgen <j.
Die Palpation der Tuben dagegen ist am schwangeren Uterus viel
unsicherer, da sie ein viel tieferes Eindrücken der Finger erheischt,
was bei Straffheit oder lebhafter reflectoriseher Action der Bauchmns-
kein schwer und selbst unmöglich werden kann. Deshalb haben dfe
1} BeUäuflg sei noch erwähnt, dass es mir bis jetzt in allen klinischen Fällen,
die bis abwärts zur SOsten SchwangerschafUwoc)ie reichten , ohne Ausnahme ge-
lang, die Lig. rotunda einfach von aussen zu palpiren, so dass ich glaube, die Pal-
paUon der Vterinadneia dürfe bei der DiffsreatlaldlagiioM twMktn latrt* und
extravteriner EatwickelMig der Frucht keine «niargeordaete Rolk spieton. Asaser-
dem bemerke ich noch kurz, dass auch bei Früh-, wie bei Nichtschwangeren unter
günstigen Bedingungen vermiNelst combinirter Untersuchung dia Palpalion dar Lig.
rot. and Tuben abenaowanig wie die der Ovarian asU uottbarwindUchan Schwierig-
keiten zu kämpfen hat.
524
Dr. N. F. Wfnkler,
Tubenecken der Messung. nicht ssu Grunde gelegt werden können. —
Unter günstigen Umständen gelingt es übrigens leicht, die Tube an ih-
rer Beweglichkeit zu erkennen , sie bis zu ihrem freien Ende hin zu
verfolgen und oberhalb desselben bisweilen auch das Ovarium als sol-
ches zu palpiren. Die Tubenecke selbst fühlt sich ebenso, wie die Bän-
derecke, als keilförmiger Fortsatz an, nur breiter und langer als letctere.
Das den Messungen zu Grunde gelegte Material ^aren Schwangere
ohne Auswahl, wie sie gerade in der Anstalt zur Aufnabae -gelangten
und mir von Herrn Hofrath Schultze mit grösster Liberalität zur IMs-
Position gestellt wurden. Etwa die Hälfte des Materials, an dem Beob-
achtungen meinerseits gemacht wurden, ist mit dem von B. Scbultzr ^)
VerWertheten identisch.
Zur Benutzung gelangten 44 Schwangere, an denen überhaupt
800 Messungen, also pro Person 4 8 Messungen im Durchschnitt gemacht
wurden , und zwar täglich einmal im Laufe des Vormittags , in einigen
wenigen Fällen auch noch zum zweiten Mal gegen Abend.
Das Ergebniss ist zunächst folgendes :
Tabelle L
Cterasdrehnng
Zahl der
Beobach-
tungen.
Ob laterovertirt?
um Lttngsaxe.
dextro.
sinistro.
median.
R. Kante vor . .
L. Kante vor . .
Symmetrisch . .
808
(88O/0)
44$
(♦8O/0)
856
(44%)
SOO
(6«o/o)
54
(86O/0)
447
(44%)
40
(8%)
48
(4«%)
26
(7%)
98
(840/ol
78
(5««/o)
482
Summe
800
898
(500/0)
54
848
(480/o)
Somit bestand eine Rechtsdrehung nur in 4 8% der Beobachtun-
gen, dagegen Linksdrehung in 88^/0 und die höchsten Procente zeigte
die symmetrische Stellung. Längsaxendrehungen überhaupt wurden
demnach in 56% gefunden, und unter diesen war Linksdrehung
die überwiegend häufigste.
Die Stellung des Uterus bezüglich der Längsaxe ist, ganz abge-
sehen vom Grade der Drehung, eine überaus wechselnde. Die längste
Dauer einer und derselben Stellung erstreckte sich auf den Zeitraum
von neun Tagen, und zwar fand sich dieses Verhalten nur einmal vor,
ebenso nur einmal eine sechstägige Dauer, etwas häufiger, nämlich
. 4 y B. SetmvtiK, Unterauchnngen über den Wechsel der Lage und SteUung des
Kindea. 4868. '— Biehter angewendete Nomenciator besonders der Lagen ist auch
▼OD mir benutzt worden.
/
Ueber StelloDgen des graviden und piierpertlei^terns. 525
achtmal, eine Dauer von 3 — 4 Tagen. Bei »esen 10 Frauen mit zeit-
weise constanter Uterusstellung fand sich als constante Stellung nie die
Rechtsdrehung, bei zweien Symmetrie, bei den übrigen aber die Links-
drehung. In allen übrigen Fallen bestand ein Wechsel von Tage zu
Tage und selbst vom Morgen zum Abend.
Meistens bestand bei allen Frauen , die mindestens sechs Tage in
Beobachtung waren , ein lebhafter Wechsel zwischen allen drei Arten
von Stellungen : nur bei zwölf Frauen wurde ein Wechsel zwischen
2wei Arten beobachtet. Darunter bei neun Frauen ein Schwänken
zwischen Symmetrie und Linksdrehung, bei einer Frau zwischen Sym-
metrie und Rechtsdrehung, bei zwei Frauen zwischen Links- und
Rechtsdrehung. In allen diesen Fällen kamen alle Stellungen der Schä-
del-^, Steiss- und Queriagen durcheinander vor.
Auch die Lateroversionen schwanken ziemlich bedeutend,
obwohl weniger als die Langsaxendrehungen. Bei K Frau mit 4 7 Beob-
achtungstagen fand sich constant Dextro Version. Wieder bei einer mit
\ 5 Beobachtungen ein Schwanken zwischen Sinistroversion und Me-
dianstellung, und zwar \K Sin. 4- 4 Med. : dagegen bei 46 Frauen mit
zusammen 379 Beobachtungen ein Wechsel zwischen Dextroversion und
Medianstellung, und zwar 226 Dextr. -i- 4 53 Med. — Nie war Sinistro-
version constant, selbst nicht einmal auf wenige Tage.
Behufs Erforschung des etwaigen Causalnexus zwischen Ctenis-
und Rindesstellung mussten zunächst alle die. Einzelmessungen, 50 an
Zahl, ausgeschieden werden, bei welchen die Stellung des Kindes
nicht mit völliger Sicherheit hatte ermittelt werden können , und die
nun folgende Zusammenstellung ergab nach allen Bichtungen fast ab-
solut dieselben Prooente :
Tabelle IL
Ctemsdrehung
Zahl der
Beobach-
tungen.
Ob laterovertirt?
um Lüngsaxe.
dextro.
sinistro.
median.
R. Kante vor . .
L. läinte vor . .
Symmetrisch . .
iSO
(88O/0)
4S9
844
484
(«50/0)
49
(88O/0) ^
440
(oo/o)
46
S8
(70/0)
•4
(»«»/o)
65
(MO/e)
478
Summe
750
870
(4««/o)
46
884
(450/0)
Ferner durften , um für die Berechnung einen möglichst sicheren
Boden zu gewinnen, nur die Schädelstellungen verwerthet werden,
und somit belHuft sich die Zahl der für unsere Zwecke verwerthbaren
Beobachtungen bloss auf 670.
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|...|s|:|5j.2-g.
|2JI
|i
1
Ueber Stellnogen des gTAvideii und piierperakni UUriis. 527
I. LängsaxendreboDgen.
Für die Längsaxeildrehungen finden wir, gleichviel ob wir die ge-
sammien Schädelstellungen berücksichtigen , gleichviel ob der T. oder
If. Deventersche Durchmesser vom Kopfe besetzt ist, ebenso aber auch
bei I. Schäd. [ 1 ) , wefche relativ die höchste absolute Zahl erreicht,
genau dieselben Procente wie in Tabelle I. und II. — Diese fünf-
fache Cebereinstimmung und — ich greife vor — das gleiche Ergeb-
niss bei allen, und zwar zu sehr verschiedenartigen Zwecken gemach-
ten Zusammenstellungen, erweist die Procentzahlen in Tabelle I. als
maassgebende.
In runden Zahlen und möglichst einfach ausgedrückt ist also das
Verhaltniss der Rechts- zur Linksdrehung und zur symmetrischen Stel-
lung etwa wie 1:2:3. — Dieses Verhältniss sehen wir ohne wesent-
liche Beeinträchtigung überall wiederkehren, gleichviel ob wir bloss
die Schadellagen allein oder sammt den übrigen Lagen betrachten,
gleichviel ob wir unter den Schädellagen die Haupte oder andere Sum-
men oder die einzelnen Stellungen prüfen, gleichviel endlich ob wir
verschiedenartige Zusammenstellungen wie z. B. in Tabelle T. berück-
sichtigen. — Schon hieraus dürfte man berechtigt sein, einen näheren
Connex zwischen Uterus- und Kindesstellung anzuzweifeln. Bedenkt
man femer noch, dass die Uterusstellung bei weitem labiler ist als die
Kindesstellung überhaupt , bedenkt man endlich , dass die Uterusstel-
lung bei einzelnen Frauen trotz völliger Stabilität der Kindesstellung
dennoch nicht unbedeutende Schwankungen zeigt, dann sieht man sich
allerdings genöthigt , der Uterusstellung jeden entscheidenden Einfluss
auf Kindedstetlung abzusprechen. Bei dieser Gelegenheit sei auch no<ih
erwähnt, dass das obige Verhältniss der Uterusstellungen im Wesent-
lichen Völlig dasselbe blieb auch bei einer Zusammenstellung der Beob-
achtungen nach den einzelnen Schwangerschaftswochen. Leider konn-
ten des Materials wegen bloss die 36 — 40. Woche berücksichtigt Ver-
den, und obschon sich keine anderen Resultate aus dieser Zusammen-
stellung ergaben, so wurde doch wenigstens auch auf diese Weise die
Beständigkeit des Verhältnisses der Uterusstellungen bewiesen. — Genau '
dasselbe Resultat erhellt auch aus Tabelle IH. B , woselbst alle ersten
Schädelpositionen den zweiten gegenübergestellt sind. — Halten wir an'
dieser Thatsache, dass da^Verhältniss der Uterustorsionen durchschnitt-
lich ein conslantes ist, fest, so werden wir sicherlich diejenigen Schwan-
kungen, welche Tab. Ilt. A für die einzelnen Kindespositionen vorführt,
in eine ursächliche Beziehung zu eben jenen Positionen in keiner Weise
bringen können. Suchen wir aber nach einer Ursache für jene
\
528 ^ Dr. N. F. Wlakler,
Schwankungen, so liegt wohl der Verdacht am nächsten, dass die ab-
soluten Zahlen, weil viel zu klein, keine riditigen Verhältnisse ergeben
können. Möglich aber, dass hier noch andere Ursachen concurrireD)
möglich , dass hier vielleicht ein Connex in einer der bisher vermuthe-
ten entgegengesetzten Richtung besteht, mit anderen Worten, dass die
Kindesposition nicht Folge , sondern Ursache mancher Stellungsverän-
derung des Uterus -sein mag. Obschon sich hierfür manche Anhalts-
puncte in den Zahlen finden Hessen, so sind doch im Ganten die Zah-
len zu klein, um diese Frage hier zu ventiliren.
II. Lateroversionen.
Drehungen um die Antero- posterior -^Axe bestehen nach Tab. I
in folgender Weise :
Dextroversion . 50%
Sinistroversion . . 7 %
Medianstellung . 43 %
Dieselben Verhaltnisse zeigt Tabelle II und Tabelle III. A, letztere in den
Hauptsummen. — Wir sehen auch hier im Grossen und Ganzen ein ge-
wisses constantes Verhältniss, welches einen unmittelbaren Zusammen-
hang zwischen Lateroversion und Kindesstellung durchaus nicht für
wahrscheinlich ansehen lässt. Wir finden steta einen überwiegenden
Procentsatz für die Medianstellungen , und unter den Laterovera/onen
wieder die Dextroversion ganz besonders bevorzugt^ also ein ähnliches
Verhältniss wie bei den Uterustorsionen. Auch hier sind, wie oben,
die nämlichen Erwägungen maassgebend , es fragt sich nur noch , ob
den hier allerdings bedeutenderen procentaren Schwankungen ein gros-
seres Gewicht beizulegen ist, wie bei den Torsionen. Fttr die einsei-
nen Stellungen in Tabelle III. A ergeben die Schwankungen durchaus
kein durchsichtiges Verhalten : aus Tabelle III. B ersehen wir aber in
der That nicht unbeträchtliche Unterschiede , je nachdem der Rücken
des Kindes links oder rechts liegt: nur sind die Unterschiede nicht
derart, dass sie einen zwingenden Einfluss auf die Kindesstellung er-
kennen Hessen , eher lässt sich vermuthen , dass unter Umständen der
entgegengesetzte Einfluss als ein diese Unterschiede bedingender Factor
anzusehen ist. Fttr diese Vermuthung kann ich als Stutze zwei directe
Beobachtungen anfahren. Bei einem unter der Hand entstandenen Po-
sitionswechsel aus I. 1 in II. 4 sah ich eine massige Dextroversion in
die Medianstellung, und bei einer anderen Frau , wo der umgekehrte
Wechsel statt hatte, eine leichte Dextroversion in eine ganz bedeutende
übergehen. Beidemal war der Positionswechsel das Primäre , und erst
nachträglich entstand die veränderte Uterusstellung dadurch, dass der
Ueber Stelluni^en des gra? ideo und pnerperaM Uterus.
a|pf Dt(
529
Fötus mit seinen Füssen den schlaffen Sapk vor sich her trieb , und
zwar so weit, bis der Uterus auf der ^sntgegengesetzten Seite dem
Rücken des Kindes anlag. ^
III. Ursachen der Axendrehungen.
Das ziemlich coivrtante Yerhültniss für die Torsionen ebenso wie
für die La tero Versionen macht es wahrscheinlich, dass auch ihre Ur-
sachen ip ^gewissem Sinne constant sein müssen. Weiterhin ist es so-
fi;ar wahrscheinlich, dass beide Drehungen eine gemeinsame Ursache
haben müssen. In wieweit letztere Vermuthung begründet ist, ergiebt
folgende Tabelle IV, die aus Tabelle III und Tabelle V. A extrahirt ist.
^Tabelle IV.
Art
der
Laterover-
sion.
Wie vielte
Schwan-
gerschaft.
Zahl
der
Latero-
version.
Welche Drehung?
nach
rechts.
nach
links.
Symme-
trisch.
Dextro
P.p.
M.p.
Summe :
Sinistro
Median .
88
7
(80/o)
54
244
88
408
(440/0)
3S7
45
459
(UO/o)
(480/o)
4
5
i7
(^5%)
«8O/0)
8
8
46
(500/,)
«90/0)
43
42
8
(MO/o)
(480/,)
76
47
25
(88O/0)
224
38
(^70/o)
58
(a«o/o)
300
65
88
(^80/o)
(Ä8O/0)
Unter den constant wirkenden Momenten könnte die verschiedene
Länge der Lig. rotunda zunächst wohl in Anspruch genommen werden,
wenn nur überhaupt darüber EinversUtndniss würe, welches von beiden
das meist längere sei. Man begegnet aber hierüber ganz verschiedenen
Angaben.
Von den anderen Ursachen, wie sie z. B. Schatz >} für die von ihm
gleichfalls noch als Norm angesehene Rechtsdrehung statuirt, erleichtem
die durch die Mm. psoae bewirkte Trapezgestalt des Beckeneinganges
sowie die labile Unterstützung des Uterus seitens der vorderen Kante
4) r. ScHATi, der GeburUmechanisrous der Kopfendlagen. Leipzig 4868.
Bd. IV. 3. u. 4. 34
530 ^ V, Dr. N. F. Winkler,
der Wirbelsäule einfach Stbljungsänderungen überhaupt, ohne aber die
Art der Stellungsänderung zu. beeinflussen.
Dass die links gelegene Flexui^ß sigm. unter Umständen zur Dex-
troversion beitragen und vielleicht audi-^ne Rechlsdrehung veranlas-
sen könne, ist nicht undenkbar. Man darf Übrigens nur die Druckkraft
der Flexur mit der bedeutenden Schwere des Uterus vergleichen und
darf nur daran denken, dass diese relativ geringe Kraft in der nächsten
Nähe des Hypomoehleon ihren Angriffspunct hat, um sofort diSis Unstatt-
hafte einzusehen , dieser Kraftquelle eine allgemeine Bedeutung' b@f^
legen zu wollen.
£s giebt indessen ein Moment, welches a priori die frühere Ansicht
über das normale Vorstehen der linken Heute zweifelhaft erscheinen
lässt, dagegen die Ergebnisse vorliegender Arbeit durchaus ungezwun-
gen erklärt. Ich meine die Lage der übrigen Därme. Der sich ent-
wickelnde Uterus drängt die Därme nach oben und letztere finden , da
das rechte Hypochdndrium von der Leber besetzt ist, für gewöhnlich,
so lange seitens der Bauchdecken die normale Uterusaxe nicht wesent-
lich verändert wird , nur im linken Hypochondrium Platz. — Von hier
aus wirkend sind sie als Kraft aufzufassen , die den Uterus nach vorn
und fechts drängt. Die Kraftrichtung nach vorn wird durch die Bauch-
decken ziemlich paralysirt, es bleibt somit nur die Tendenz der Dextro-
version übrig. Indem aber der Uterus gegen das, bei Schwangeren
ja meist stark gespannte Coecum und Colon ascendens gedrängt wird,
begegnet er einem Widerstände , der seinerseits wieder auf die rechlo
Uteruskante als eine Kraft in der Richtung nach vorn und links wirken
muss. Auf diese Weise wäre Linksdrehung des Uterus nur als eine
höhere Potenz der Dextroversion aufzufassen.
Ferner haben wir noch die Lig. rotunda zu berücksichtigen. Die-
selben dürften, ohne gezerrt zu werden, nur einen gewissen Grad von
Dextroversion zulassen : jedes Plus von Kraft wird alsdann in die eine
oder die andere Längsaxendrehung umgesetzt.
Obige Betrachtung giebt eine ziemlich befriedigende Erklärung f^r
das Gros der Beobachtungen: man darf aber nicht vergessen, dass bei
diesen Vorgängen eine grosse Zahl der Momente , vielleicht alle , nicht
unwesentliche Schwankungen zeigen. Zunächst zeigen die Därme selbst,
sowohl die Jejuna im linken Hypochondrium, wie auch das Coecum und
Col. ascendens einen sehr schwankenden Füllungsgrad. — Ferner wird
der von ihnen ausgeübte Druck je nach der Straflfheit der Bauchdecken
ein sehr verschiedener sein, und sind die Bauchdecken durchaus schlaff,
so w^erden die Därme eine durchaus abnorme Lafi;e annehmen, sie wer-
Ueber Stettungen des graviden and pnerperalefTTteros. 531
den mehr hinter dem UteruS, vor ihm, ja s4|ar im rechten Hypochon-
drtum lagern können.
Die Länge der Lig. rotunda ist bei den einzelnen Individuen viel-
leicht verschieden, vielleicht ist bafd das eine, bald das andere kürzer.
Aber, wie dem auch sei, es ist nicht abzusehen, warum nicht, unab-
hängig von der ursprünglichen Länge, auch eine Verschiedenheit in
ihrer Kntwickeluflg während der Schwangerschaft^ statt haben sollte.
Erwähnt sei noch ein Moment, nämlich die Möglichkeit, besonders
hex »efafalTem Uterus, dass die Kindesposition auf die Uterusstellung von
Einfluss sein könnte.
Schliesslich muss noch hervorgehoben werden , dass bei Betracfaü-
tung obiger Erklärung sowohl der Grad der Strafilieit des Uterus, wie
auch dessen- Grösse völlige Berücksichtigung verdienen.
Um beide letzteren Momente zu eruiren, dienen die Tabellen V. A
und B auf S. 532, in deren erster die Straffheit des Uterus durch Gegen-
überstellung der Erst- (P.p.) und Mehrschwangeren (M. p.), in der
zweiten dagegen die Grösse des Uterus berücksichtigt wurden.
Bei straffem Uterus ist keine starke Dextroversion zu erwarten,
eher eine vermehrte Torsion , und zwar hier direct durch den Zug der
Lig. rot. bedingt. — Der schlaffe Uterus erleidet unter dem Einfluss
entsprechender Kräfte eher eine Dextroversion denn eine Torsion.
Die Zunahme der Uterusgrösse bewirkt eine Vergrösserung des
Angriffspunctes, also Zunahme der Dextroversion. Dagegen ist nicht
sofort eine bedeutende Zunahme der Linksdrehung zu erwarten, da
durch grössere Füllung immer der Umfang des Uterus vermehrt wird,
so dass dieselben ursächlichen Momente nunmehr eine relativ geringere
Excursion bewirken können.
Während bisher dem Uterus immerhin nur eine mehr passive
Rolle bei seinen Stellungsveränderungen eingeräumt werden konnte,
lag die Frage auf der Hand, sein Verhalten während seiner Activität,
also unter der Geburt, zu studiren. Diese Frage zu behandeln, mussie
ich mir wegen Mangel an entsprechend grossem Material versagen.
Aufgefallen war mir allerdings die anscheinend grosse Neigung des
Uterus mit dem Eintritt kräftigerer Wehen , und auch schon bisweilen
in den letzten 2 — 3 Tagen der Schwangerschaft, eine symmetrische
Stellung anzunehmen oder sich dieser wenigstens mehr als bisher zu
nähern. — Dies würde mit den Beobachtungen Spibgblberg^s ^) über-
einstimmen, welcher unter 900 Geburten symmetrische Stellung in
82% (737) beobachtet haben will Aiiffiilltnd bleibt mir nur seine
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4; Mon. f. (leb. 1867. Febr. pag. 92.
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532
Dr. N. t. WinUer,
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Ueber Stellungen des graviden und puerperalen Uterus. 533
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Angabe, dass in den übrigen \ 8 % (1 63) ii^mer nur Rechts-, nie aber
Linksdrehung vorhanden gewesen sein sollte. Ich hatte gleichfalls in
einigen, freilich nur 42 Fällen unter der Geburt die Messung angestellt,
fand aber zufälligerweise nur zwei Rechtsdrehungen, dagegen vier
symmetrische Stellungen und sechs Linksdrehungen. Letztere kommen
also jedenfalls auch unter der Geburt vor. Uebrigens die Spisgblbbeg*-
schen Angaben ohne Weiteres zu acceptiren, trage ich gewisse Beden-
ken, jumI zwar deshalb, weil die Uterusstellungen anscheinend immer
nur nach dem Augenmaass taxirt wurden und somit diese Angaben,
wie ich glaube, nicht über allcQ Zweifel erhaben sind.
IV. UterussWellungen nach der Geburt.
So lange noch die Ueberzeugung von der Wichtigkeit des Connexes
zwischen Uterusstellung und Kindesposition Geltung hatte, musste man
daran denken, dass eine Uterusstellung von so entscheidendem Einfluss
jedenfalls auch noch gleich nach der Geburt fortbestehen , ja vielleicht
auch noch im Wochenbett vorwiegend würde. Wie wenig diese Ver-
muthung Bestätigung fand, zeigt Tabelle VI. auf S. 532.
Gleich nach der Geburt wurde die Stellung an 43 Frauen bestimmt
und in Tabelle VI. A sind die Stellungen K) je nach den vom Kopfe be-
setzten Durchmessern, 2) je nach den Lagen, 3) je nach ihren Summen
geordnet.
Für Längsaxendrehungen ist jetzt auffallend die Seltenheit der
symmetrischen Stellung und das nahezu gleich häufige Vorkommen bei-
der Drehungen. Unter den Latero Versionen ist Dextroversion bei Wei-
tem die häufigste und ist auch am häufigsten mit Linksdrehung com-
binirt.
Also auch gleich nach Beendigung der Geburt sehen wir am Uterus
nicht die geringste Tendenz, eine bestimmte Stellung anzunehmen: es
geschieht dies ganz regellos, gleichviel welche Kindesstellung statt-
gefunden, abhängig offenbar von anderen nur zufälligen Momenten.
Hauptsächlich wird es hierbei auf die Contractionen der Lig. rot. an-
kommen, die überhaupt ungleichmässig sein können: ferner auf die
Enlwickülung dieser Bänder während der Schwangerschaft, die insofern
ungleichmässig sein muss, da ja bei der so häufigen Dextroversion
und namentlich bei der Verbindung derselben mit Linksdrehung das
linke runde Mutterband sUirker gedehnt, also auch vorwiegend ver-
längert werden muss. Weiterhin wäre die Möglichkeit nicht auszu-
schliessen, dass auch die Wirkung der in den seillich zur Beckenwand
laufenden Bändern befindlichen Muskelfasern zur Geltung kommt:
endlich dürfen wir die Lage des S romanum nicht vergessen, welches
^
534 . Dr. N. F. Winkler,
seinen Einfluss jetzt bei entleertem Uterus, also bei geringerer Grosse
des Angriffspunctes, jedeiitalls mehr wird hervortreten lassen können,
wie während der Gravidität.
Während des Wochenbettes wuitlen an 5^ gesunden Frauen
248 Beobachtungen gesammelt, und zwar meist während der ersten
0—8 Tage. — Auch hier war sehr häufiger Wechsel der Stellung vor-
handen, selbst im Laufe eines Tages. Constanle Stellung land sich nur
bei neun Frauen, und zwar Linksdrehung bei fünf, Bechtsdrethmg bei
vier, symmetrische Stellung nie. — Der beobachtete Stellungswechsel
fand meistens zwischen Rechls- und Linksdrehung statt: die Durch-
gangsstellungen entzogen sich somit sehr häufig der Beobachtung. —
Tabelle VI. B ergiebt die Slellungsvcrhältnisse sowohl nach den Schä-
dellagcn , wie nach den vom Kopfe besetzten Durchmessern geordnet.
— Man ersieht, dass keinerlei Beziehung zu den unter der Geburt be-
standenen Kindeslagen besteht. — Dass auch hier die Action der Lig.
rot. von wesentlichem Belang ist, erhellt einfach aus dem häufigen Zu-
sammenfallen einerseits der Dextrovcrsion mit Linkswendung in 60%
und anderseits der entgegengesetzten Stellungen in 63%. Weiterhin
ist nur daran zu erinnern , dass es bisweilen gelingt, durch Anregung
kräftiger Contractionen die gleichzeitige Zugwirkung beider Lig. rot.
zu veranlassen und darin zu finden, dass der so eben noch gerade
Uterus nun plötzlich slark antevertirt oder -fleclirt erscheint.
Resultate.
i) Weder Torsionen noch Versionen des Uterus ha))en während
der Schwangerschaft einen entscheidenden Einfluss auf die Kindes-
slellung.
2) Torsionen und Versionen zeigen jede fttr sich in Bezug auf ihre
Frequenz ein ziemlich constantes Verhältniss, das seine Ursache haupt-
sächlich in der Lage der Därme findet.
3) Weder gleich nach der Geburt, noch auch während des Wochen-
bettes zeigt die Uterusstellung irgend eine Beziehung zu derjenigen
Kindesstellung, aus welcher die Geburt stattgehabt.
/
Die Zotten des mensehlichen Annios«
Von
Dr. N. F. Winkler,
Assistenzarzt im Gebttrhauso zu Jena.
Die AmnioszottcQ (Carunkeln, Placques) der Wiederkäuer werden
schon von alleren Autoren erwähnt. Nähere, namentlich histologische
Beschreibungen besitzen wir erst durch Cl. Bbrnard^], und besonders
durch Dreier 2), Spiegelberg ^j und F. Birnbaum ^J. — Am menschlichen
Amnios wurden diese Zotten überhaupt zuerst von H. Müller^] gese-
hen, dann auch von Kebrer^] in zwei Fällen, vonDoHRN^) angeblich
bisweilen gefunden. Doch fehlt jede nähere Untersuchung dieser Zot-
ten. Ich habe diese Epithelwucherungen in den letzten 200 mir zu
Gesicht gekommenen Nachgeburten niemals vermisst und glaube so-
mit dieselben für durchaus constante Gebilde ansprechen zu dürfen.
— Ihr Fundort ist die Amniosfalte, auf welcher sie einen meist zungen-
förmigenRaum bedecken, hart an der Nabelschnurinserlion einsetzend,
(ileichviel wie die Insertion stattfindet, ob centrisch, excentrisch, mar-
ginal oder velamentär , stets finden sich die Wucherungen vor: auch
Hess sich weder die Länge des Ductus omphalo-mesaraicus, noch des-
sen Anheftung , noch die verschiedene Entwickelung der Amniosfalte
selbst in irgend eine zweifellose und constante Beziehung zur Entwicke-
limg dieser Gebilde setzen. — Indessen fand ich sie fast immer sehr
1) Sar une nouv. fönet, de plac. Joum. d. 1. Physich p. Brown - Seqüard. II.
1859.
%) Deber das Amnios der Kuh. Diss. Würzburg 1857.
3) Mon. f. «Geb. Bd. 23. pg.226.'
k) Bau der Eihäute. Berlin 1863.
5) Bau der Molen. Habilitationsschrift. Würzburg 1847.
6) Mon. f. Geb. 24. pg. 451.
7} Mon. f. Geb. 26. pg. 120.
536 ^ ^ Dr. N. F. Winkler,
zahlreich bei stark entwiökelter Amniosfalte. Auffallend ist auch der
Umstand, dass die Granula meist am grösslen in der unmittelbaren
Nähe des Ductus selbst sind und desto kleiner werden , je mehr sie
seitlich von letzterem sich entfernen. — Ist ferner, wie es zuweileo
geschieht, der von den Granulis bedeckte Raum länger als die Amnios-
falte selbst, se folgt das Ende stets genau dem Verlauf des Ductus, die-
sen unmittc^lbar einschliessend. — Die eben erwähnten Momente schei-
nen auf eine gewisse Beziehung zwischen Ductus , Palte xmA. diesen
Epithel Wucherungen hinzuweisen.
In Bezug auf das makroskopische Verhalten habe ich zu den aus-
führlichen Angaben von Birnbaum, Kebrbr u. A. in der That nichts hin-
zuzufügen. Ich habe diese Wucherungen zumeist in Form von Granu-
lis, häufig fleckförmig, bisweilen auch den Papulae circumvallatae glei-
chend, gesehen : immer war die Oberfläche matt, glanzlos und erschien
bei grösseren Garunkeln stark gerillt. Ein so vorwiegend entwickelter
Längendurchmesser, dass die Garunkeln schon makroskopisch Papillen-
gcstalt gehabt hätten , ist mir nicht vorgekommen. -7 Die Grösse der
Wucherungen anlangend, fand ich sie meist stecknadelknopfgross und
darunter: die grössten — bis Linsengrösse — fand ich in einem Prä-
parat der hiesigen Sammlung im Entbindungshause.
Die grösseren Garunkeln sind hei jeder Beleuchtung sofort kennt-
lich: die kleineren stechen durch ihr mattes Aussehen gegen das hell-
glänzende Amniosepilhel namentlich dann gut ab, wenn man z. B. mit
trockener Hand die wenn auch dünne Schicht von Flüssigkeit möglichst
hinwegstreift und die Fläche alsdann j3oi schief auffallendem, wo mög-
lich bei Tageslicht prüft.
Die Entwickelung der Excrescenzen lässt sich an Querschnitten,
besonders der kleineren Garunkeln, gut studiren.
In Bezug auf Entwickelung, Wachsthum und spätere Regeneration
gleichen sie durchaus der ausgebildeten Epidermis und namentlich den
in ihr so häufigen Schwielen (Gallosi täten).
Unter dem normalen und zunächst noch völlig normal bleibenden
Amnioscpithel entsteht eine punctförmige Ansammlung von Gambium,
d.i. einem Plasma, in welches reichliche, äusserst kleine Zellen ein-
gelagert sind. In ihnen sieht man einen grossen Kern mit Körperchen:
ersterem liegt die Zellenhülle dicht an. Gelingt es, durch Druck auf
das Präparat solche Zellen zu isoliren , so bleiben an letzteren stets
mehr oder minder grosso, unrcgelmässige Fetzen des sie umgebenden
Plasma's haften. — Allmählich werden die Zellen grösser, die Hülle
entfernt sich von dem sich nur wenig mitvergrössernden Kern mehr
und mehr, gleichzeitig aber schwindet das interccllularc Plasma und
r
Die Zotteo des mensehlichen AmDiot. 537
die Zellen selbst rücken näher aneinander. Indem von unten immer
neue Zellen nachrücken , werden die älteren erhoben , aneinander ge-
drängt und schiühtweis aneinander gelagert. — Die Neubildung der
Zellen kann man selbst an doa grösslen Carunkeln noch nachweisen,
da sich in der Tiefe des Cambiunis unter den kleinsten der Zellen stets
mehrere in Theilung begriffene, d. h. zwei Kerne, oder seiRst schon bis-
cuitförmige Einschnürung der ganzen Zelle aufweisende Zellen auf-
finden lassen. — Sehr frühzeitig zeigen die Zellen die Tendenz, sich
abzuplatten und parallel zur Fläche in die Länge zu wachsen.
Die ausgebildeten und alsdann sehr grossen Zellen gehen den Pro-
cess der Verhornung ein und stets lagert auf dem Cambium eine mehr
oder minder dicke Lage solcher verhornten Schuppen, die exquisit ge-
schichtet, sehr leicht in der Richtung der Schichten dehisciren und
dann leicht in Querschnitten die Lage als aus Fasern zusammengesetzt
vortäuschen können.
Der Kern dieser Epithelien wird mehr und mehr verwischt, in den
obersten Lagen grösserer Carunkeln ist er ohne Reagontien meist gar
nicht zu sehen. — Der Inhalt zeigt meist nur Spuren von Körnchen.
Essigsäure hellt diese Schuppen etwas auf und lässt die Kerne
mehr hervortreten.
lod färbt das Cambium intensiver als das übrige normale Amnios-
epithel : die verhornten Lagen färben sich etwas langsamer. Nach län-
(^erem Liegen in lod-Essigsäure-Glycerin zeigt sich der sonst hellglän-
zende Kern schwach contourirt und mattblau gefärbt.
Kali (157o) bringt diese verhornten Zellen zum Aufquellen ; der
Kern wird sehr bald unsichtbar, während die Zellen selbst allmählig
zu grossen kugelrunden Blasen anschwellen und sich nach längerer
Einwirkung schliesslich auflösen.
Schwefelsäure wirkt auf die anscheinend nicht hochgradig
verhornten Schuppen sehr schnell: auch hier blähen sich die Zellen
auf, werden aber sehr zeitig zerstört.
Blaue Anilintinc tu r fhrbt das Cambium energisch, langsamer
und schwächer die verhornten Theile, ist aber wenig haltbar in Gly-
cerinpräparaten. •
C arm in färbt vorzüglich: doch werden die Cambiumzellen, —
will man warten bis auch die verhornten Schuppen gut tingirt sind —
meist zu dunkel, als dass sie noch deutliche Bilder gäben.
Durch die allmählig nun mehr und mehr sich erhebenden Schwie-
len wird das normale Amniosepithel von seiner Basis abgehoben und
natürlich in seiner Ernährung und Regeneration gestört. Diese Decke
538 Dr. N. F. Winkicr,
unterliegt nunmehr dein m<icerirenden Einflüsse des Ämnionwassers,
fällt schliesslich ab, und zwar zuerst gewöhnlich am Gipfel der Neu—
bildung. Die nunmehr blossliegcndcn IlornschUppchen werden gleich-
falls macorirt, quellen wieder etwas auf Aind fallen gleichfalls aus. —
Hierdurch werden die Rillen auf der Obei^fläche, die verschiedenen
krat6rftH*migcn Aushöhlungen bedingt.
Indem das durch diese Excresccnzcn abgehobene Amniosepllhol
auf eine grössere Oberflache vertheilt wird, lässt sich donk'tey dass
auch die Epithclzellen in der Umgebung solcher Schwielen eine Zer-
rung erfahren , und vielleicht ist dies die Ursache der so häuflg beob-
achteten radiären Anordnung dieser Zellen. Indessen findet man selten
die Zellen im ganzen Umfange solcher Schwielen radiär zu den letz-
teren gestellt, meistens nur stellenweis ; häufig genug aber findet man
die durchaus normalen Zelldn bis hart an die Basis der Neubildung sieb
erstrecken.
Die weiteren Wachsthumsverhältnisse der Schwielen bedingen die
morphologischen Unterschiede , wie sie sich unter dem Mikroskop er-
geben. — Ein vorwiegendes Längswachsthum bedingt die sogenannte
Papillengoslalt, aber gleichfalls mit dcutlich*er Schichtung. Am häufig-
sten beobachtet man eine concentrische Verbreiterung der Basis, die
zur Kegelgestalt führt, oder die Basis dehnt sich radiär aus, so dass die
Schwiele gleichsam kriechende Wurzeln treibt, oder sie breitet sich
mehr unregelmässig aus, was dann zur Bildung von Placques führt. —
Seitliche Wurzeln treibende ' Excrescenzen weisen übrigens verschie-
dene Bilder auf. Meistens findet man die gewöhnlichen Amniosepithc-
lien in der Richtung dieser Wurzeln, deren Zahl beiläufig zwischen 2 — 7
schwanken kann, weithin längsgestreckt und diesen Wurzeln zueilend.
Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Wurzeln sind von Epithel
meist entblösst, wahrscheinlich auch wieder durch Maceration, so dass
das Bindegewebe des Amnios ziemlich bloss liegt, sehr häufig aber fin-
* det man sie ausgekleidet von durchaus normalem Amniosepithel , das
alsdann bis hart an die eigentliche Basis der Schwiele reicht.
Diese Anhäufungen verhornender Epithelzellen sind am besten als
Schwielen zu bezeichnen, da sie morphologisch den entsprechenden
Wucherungen der Cutis durchaus analog sind : vielleicht stehen sie in
der That in einer Beziehung zur Bildung des llautnabels.
Vom Stratum des Amnios lassen sich die Schwielen leicht abstrei-
fen und dies wird erklärlich, wenn man bedenkt, erstens, dass sich an
ihrer Basis stets junge, noch saftige Zellen befinden und dass zweitens
sich das Stratum an diesen Wucherungen so gut wie gar nicht bethei-
Die Zotten des menschlichen Amnios« 539
ligt. Selbst die von Birnbaum <j bei seinen Untersuchungen beobachtete
Verdickung des Stratum unterhalb der Schwielen trifll hier nicht zu :
findet sich eine solche Verdickung vor, so ist sie nur eine scheinbare,
weil sie nur an den Stellen vorkommt, wo das Stratum überhaupt
dicker ist, nämlich in der Amniosfaite selbst und besonders in der
nächsten UmgebuBg 46s Nabelstranges, uud auch hier ist das Stratum
unter den Schwielen gegenüber dem ihrer nächsten Nachbarschaft nicht
verdickt. Auch die obere Grenze des Stratum unterhalb der Schwielen
verläuft genau in einer Flucht mit der benachbarten Grenze. — Dage-
!^en fand ich auch hier, ebenso wie Birnbaum 2), eine eigenüiümliche
kreisföl-mige Anordnung der Bindegewebskörperchen am Stratum um
die Schwielen, ja sogar mit radiärer Aussendung von wohlgeordneten
Zügen eben solcher Körperchen zu anderen Schwielen , falls solche in
der nächsten Nähe sich vorfanden. Doch erhielt ich diese Bilder nicht
immer: vielleicht ebenso häufig sah ich die Rörperchen unterhalb der
Schwielen mit ihrer gewöhnlichen Regellosigkeit oder wenigstens mit
unveränderter Richtung hinweg- und vorbeiziehen.
Dass diese Schwielen etwa zu einer Glycogenbildung im Sinne von
Cl. Bernard in keiner Beziehung stehen können, dürfte aus dem Nach-
weis ihrer Verhornung zur Genüge hervorgehen. — Wenn aber Dreier
und Spibgblbsrq zur Deutung der späteren Schicksale solcher Schwie-
len hervorheben, dass letztere abgestossen und vom Fötus verschluckt
werden , so kann ich detn gegenüber nur versichern , dass das völlige
Abfallen der Schwielen durchaus nicht die Norm ist : nur in wenigen
Fällen fand ich die Stellen, wo Schwielen gesessen hatten, bis auf das
bindegewebige Stratum entblösst.
Eine goldgelbe Tinction mit Gallenpigment fand ich selten , selbst
nicht constant in den Fällen, wo die normalen Amniosepithelien Gallen-
pigment in Körnchen oder diffus enthielten.
Wie SPIB6BLBBR6 mit Recht hervorhebt, finden sich bei Dreiba die
eingehendsten und, wie mir scheint, die richtigsten Angaben über die^
Zotten am Amnios der Kuh. Da mir seine Arbeit erst ganz neuerdings
zu Augen kam, so war ich überrascht durch die auffallende Ueberein-
stimmung in unseren beiderseitigen Befunden. Auch er hebt die
Schichtung, die Verhornung und somit die Aehnlichkeit mit der Cutis-
bildung hervor. — Femer sind seine Angaben über die erste Entwicke-
lung leichter mit den meinigen in Einklang zu bringen , als die Birn-
baumes. Letzterer lässt die Epithelhaufen durch Kemwucherung des
\) 1. c. Taf.II. Fig. 9.
S) I. c. Taf.II. Fig. n und 12.
540 Dr. X F. WiaUer.
normalen Epithels entstehen: dass aber diese Angabe falsch ist, geht
aus dem Nachweis der xeitwciligen Persistenz des durch die Schwielen
abgehobenen und letztere als Decke überziehenden normalen Amnios—
epithels zur Genflge befvor.
Um zu bestimmen, in welche Periode der Gestation die erste Eni—
Wickelung dieser S<äiwielen fällt , habe ich das in dar Sammlung hie-
sigen Gebärhauses vorhandene Material durchgesehen und gefunden,
dass sich Schwielen rttdLwärts bis etwa zur zwölften Woche überall
ohne Ausnahme schon mit blossem Auge erkennen Hessen, und zwar
erschienen sie, je weiier die Schwangerschaft vorgerückt war, desto
grösser. Von noch jüngeren als 4 2 wöchentlichen Embryonen besitzt
hiesige Sammlung nur ein Präparat, und zwar eines etwa 6 — 7wödient—
liehen Embryo. Mit blossem Auge konnte ich hier allerdings keine
Schwielen erkennen : eine mikroskopische Untersudiung wurde unter-
lassen, weil sie zu einer theilweisen Zerstörung des Pi^parates geführt
hätte und weil es ausserdem fraglich war, ob hier überhaupt ein ent-
scheidendes Resultat erzielt worden wäre, da die Cutis, für deren Ru-
dimente ich die Schwielen anzusehen geneigt bin , um diese Zeit sich
noch in einem wenig entwickelten Zustande befindet.
Dass die vorhin behauptete Grössenzunahme der Schwielen mit
vorrückender Gravidität nicht nur eine scheinbare ist, dürfte auch dar-
aus hervorgehen , dass man selbst am reifen Ei mit Leichtigkeit in der
Tiefe desCarobium sich noch lebhaft theilende Zellen nachweisen kann.
— Ja es dürfte nicht unwahrscheinlich sein , dass in späteren Zeiten
der Schwangerschaft sich sogar noch ganz neue Schwielen bilden, wenn
man bedenkt, dass sich mit seltenen Ausnahmen neben grösseren, of-
fenbar älteren Schwielen noch ganz kleine, wie jüngst erst entstandene
nachweisen lassen. Letztere finden sich zumeist an der Peripherie der
Schwieienhaufen, ersterc mehr in der Mitte.
Diese Schwielen sind also als constante Gebilde nachgewiesen bis
jetzt hei Wiederkäuern und beim Menschen. Ihr constantes Vorkom-
men nimmt ihnen jeden pathologischen Charakter. Ihre physiologische
Bedeutung dürfte mit der Entwicklung des Hautnabcis zusammen-
hängen. Die ihnen früher von Cl. Bbrnard beigelegte Vertretung der
Lcberfiinction während der ersten Hälfte der Schwangerschaft ist schon
im morphologischen Sinne als abgethan anzusehen. Dagegen spricht
die Verhomung der Zollen , dagegen auch das fortschreitende Wachs-
thum der Schwielen bis zum Ende der Schwangerschaft. — Beruht
aber, wie ich vcrmulhe, die Scliwielenbildung einfach auf Entwicke-
lungs Vorgängen, so lüssl sich ihre Anwescnhoil auch bei anderen Thie-
ren erwarten.
Die PlacentarrespiratiM des Poetas.
Von
B. S. Schnitze.
Für die möglichst allgemeine Anerkennung irgend einer Wahrheit
ist es ein grosser Gewinn, wenn der Beweis derselben auf verschiedene
Methoden gleichzeitig und aus verschiedenem Material geführt werden
kann. Denn nicht jede Beweismethode hat gleich zwingende Kraft und
nicht jede Organisation ist gleichen Beweisen gleich zugänglich.
Neuerhobene Zweifel an der Beweiskraft der früher beigebrachten
Gründe waren meistens das Hauptmotiv , welches die Forscher veran-
lasste, für das bereits Bewiesene neue Beweismitlel ausfindig zu machen.
Die Geschichte unserer Kenntniss von der Placentarrespiration des Foe-
tus giebt das interessante Bild eines bei wechselnd erfolgreicher Oppo-
siiion durch mehrere Jahrhunderte geführten Streites , dessen Resultat
es war , dass die Beweise für die Placentarrespiration des Foetus sich
erfreulich gehäuft haben.
Wir können wohl staunen , aber wir haben es nicht zu beklagen,
dass es noch heute Zweifler an der Placentarrespiration giebt, denn wir
sehen auch heute noch die Beweise für dieselbe eben dadurch sich
mehren. Zuerst wieder seit mehreren Decennien tritt ein Physiolog von
Fach für die Placentarrespiration in die Schranken. PflOger führt uns
in seinem Aufsatz »lieber die Ursache der Athembewegungen , sowie
der Dyspnoe und Apnoe« <) ein neues Motiv für die Placentarathmung
des Foetus vor, oder vielmehr er beweist, dass eine früher schon , na-
mentlich von ScHWAHTz ^) als Beleg für die Placentarathmung des Foetus
angeführte Thatsache wirklich als Beweis derselben zu gelten im Stande
1) Archiv f. d. gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere. Heraus-
gegoben von Dr. B. F. W. PflCgbr. I. I. Bonn 1868. Seite 61.
t) Die vorzeitigen Athembewegungen von Dr. HEMiAifif Schwartz.« Leipzig 1858.
542 '^' B« S. Schnltie,
sei. Freilich giebt er nichi^ ohne zuvor viel zu nehmen , er erklärt alle
bisher von anderen Autoren beigebrachten Beweise der Respiration des
Foetus für nichtig.
Dem Geburtshelfer wird man es zu gute halten , dass er die Be-
weismittel für eine Sache von so wichtigela praktischen Consequenzen
ungern schraiUern sieht ; und da ich fürchte, dass der PFLüGKR'sche Be-
weis, auf den ich unten zurückkomme, wenn er der erste und bis dahin
einzige sein sollte, unter den Collegen sehr viele Zweifler übrig lassen
würde, so will ich im Interesse der allgemeinen Anerkennung der Pia-
centarrespiration versuchen, aus den bereits früher für dieselbe vorge-
brachten Beweisen diejenigen hervorzuheben, welche auf Geltung auch
heute noch Anspruch haben.
Es ist natürlich, dass für eine Sache, welche seit Ho^pokrates Vie-
len sehr wahrscheinlich vorkommen musste. eine Menge Motive ins Feld
geführt worden sind, welche vorübergehend gültigen Standpunclen
entnommen, dauernd als Beweise nicht gelten konnten. Namenilich
w^as von teleologischer Anschauung aus für die Existenz einer Placen-
tarathmung des Foetus plaidirt wurde, konnte die Erkenntniss des
wirklichen Sachverhaltes überall nur verzögern und ich brauche mir
nicht Dispens zu erbitten , wenn ich diese Beweis versuche unerwähnt
lasse. Manche andern Beweisversuche, von logisch richtiger Voraus-
setzung ausgehend, blieben thatsächlichen Schwierigkeiten gegenüber
insufficient. Als einen für sich genügenden Beweis der Placentarrespi—
ration will ich auch die pathologisch und therapeutisch höchst wichtige
That«ache nicht anführen, dass derjenige Foetus, welcher in der Geburl
eine plötzlich einsetzende dauernde Unterbrechung der Placentarcircu-
lation erleidet, schnell stirbt, dass seine Seclion ganz ähnliche Befunde
ergiebt, wie die des nach der Geburt durch Verschluss der Luftwege
Getödteten, dass, wenn der Process vor volIendetcm^Sterben durch die
Geburt unterbrochen wird, wir am Gcbornen Symplome beobachten,
welche frappante Aehnlichkeit haben mit denen, die der Geborne zeigt,
wenn ihm die Sauerstoffzufuhr durch die Lungen abgeschnitten wurde,
die gleichen Mittel, welche den durch Untertauchen im Wasser oder durch
Verschluss der Luftwege asphyctisch gewordenen w ieder beleben, auch
den mit unterbrochnerPlacentarfunction asphyctisch Gehörnen wieder zu
beleben im Stande sind ; ich will diese Thatsachen hier als Beweise
der Placenlarathmung desshalb nicht anführen, weil ich weiss, dass die
gleichen Symptomencomplexe und die gleichen Seclionsbefunde nicht
jedes Mal und nicht mit Nothwendigkeit auf gleiche Ursachen und
gleiche Processe bezogen werden müssen und weil am wenigsten ich
dem Physiologen zumulhc, aus einer für uns Praktiker noch so wich-
Die Placeiitarrespirotion des Foetus./" 543
Ligen Analogie der Krankheitssyniptome, d^' Seclionsbefunde und der
therapeutischen Erfolge bindende SchlUssp da zu ziehen, wo etwa nach
den Resultaten seiner Forschunij; l^tegrUlidete Zweifel bestehen. Aber
ich glaube es lagen für die Piaeehtarrespiratio^ des Foetus auch solche
Beweise bereits vor, die der Physiolog anerkennen darf.
Bei allen Thiercu, welche man darauf beobachtet hat, hat man
wahrgenommen I dass dieselben den atmosphärischen Sauerstoff aus
dem sie, .umgebenden Medium sich aneignen, ihn in ihrem Körper vcr-
brachen , und dass dieser Sauerstoffverbrauch für sie so unerldsslich
ist, dass sie ohne Sauerstoff ihr Leben fortzusetzen nicht im Stande
sind. Man schloss daraus, dass auch die Embryonen , deren Lebens-
erscheinungen in vielen Beziehungen gleichartig denen der gebornen
Thiere sind, ohne Sauerstoffzufuhr nicht leben könnten. Für diejenigen
Embryonen, welche unterBedingungen sich entwickeln, welche sie dem
Experiment zugänglicher machen, für die Embryonen der Eier legenden
Thiere führte man, direct den Nachweis , dass sie unter stetem Yer-
hraucÜ des atmosphärischen Sauerstoffs sich entwickeln , dass sie bei
Abschluss der Sauerstoffzufuhr zu Grunde gehen. Man schloss daraus,
dass auch der Säugethierfoetus, dessen Lebensvorgänge jedenfalls nicht
^einfacher und dessen Entwicklungsbedingungen also auch wohl nicht
einfacher als die der Yogelembryonen oder der Insectenembryonen sein
können , ebenfalls nur unter fortwährender Sauerstoffzufuhr sieh ent-
wickele; man glaubte das um so sicherer schliessen zu dürfen, weil
dasjenige Organ, welches nach seinem Bau allein geeignet ist, eine
dauernde Sauerstoffzufuhr zum Säugethierfoetus zu unterhalten, die
Placenta nebst Nabelschnur, morphologisch identisch ist mit dem-
jenigen Organ, durch welches die Vogelembryonen ihren Sauerstoff
factisch beziehen, mit der AUantois.
Das ist der eine Beweis dafür, dass der Foetus Sauerstoff ver-
braucht und ihn zuvor aufnimmt, dass also das, was wir im gesammten
Thierreich Athmung nennen, in ihm stattfindet.
Einen zweiten Beweis für den Verbrauch freien Sauerstoffs im
Foctalkörper fand man darin , dass eine Anzahl Functionen , welche im
lebenden Körper des Gebornen nie anders als mit messbarem Ver-
brauch des frei im Blute vorhandenen Sauerstoffs vor sich gehen, in
gleicher Weise , wenn auch nicht in gleichem Umfang im Körper des
Foetus stattfinden. Namentlich die Muskelaction war es , von der man
diesen Beweis entnahm. Ich zeigte in einem der früheren Hefte dieser
Zeitschrift, dass schon Mayow diesen Beweis für die Aihmung des Foe-
tus angezogen hat. Ich will diesem Beweis an dieser Stelle ein beson-
deres Gewicht desshalb nicht beilegen, weil gerade ihm ausdrücklich
544 \ B. S. ScbuUie,
in der angefahrten Arbeit Ff lücbr^s die Beweiskraft abgesprochen i?%'ird,
und weil ich nicht mich, sondern nur die Physiologen von Fach für be-
rufen halten kann , nachzuweken , oh eine andauernde Muskelleistung,
wie sie z. B. das llerz 4es Foetus zeigt, -ohne andauernden Sauersiofl-
verbrauch möglich sei oder nicht.
Der dritte Beweis der Placentarathmung äbs Foetus ist ein expe—
rimenteller, eng zusammenhängend mit jenen oben angeführten patho-
logischen Thatsachen. Die Experimente sind die, dass erstens der
Foetus, welcher normal wührend seiner ganzen Foetalexistenz Atbcm-
bewegungen nicht macht, sofort eine Inspiration macht, sobald seine
Placentarcirculation unterbrochen wird , zweitens dass der im Foetus
normale Zustand der Apnoe beim Gebornen dadurch hergestellt wird,
dass wir sein Athembedürfniss auf anderem Wege als dem der Athem—
bewegung befriedigen.
Das letztere Experiment ist von Matow angestellt, und, da er den
Sauerstoff und seine Bedeutung für den thierischen Organismus kannte,
für die Placentarathmung des Foetus richtig verwerthet worden. leb
verweise in Betreff dessen auf die Seite 4 42 ff. dieses Jahrganges ent-
haltenen Citate aus Hayow. Die ersteren Experimente wurden bereits
angestellt, bevor ihre Deutung möglich war und sind später oft wieder-
holt worden. Vssal^ der das Experiment zuerst und vorzüglich be-
schrieben hat , verdient seine bleibende Stelle angewiesen zu erhalten
unter denjenigen , welche die Beweismittel für die Placenlarrespiraiion
des Foetus beigebracht haben. Im letzten Capitel seiner De humani
corporis fabrica libri Septem ^] sagt er: Verum in Foetuum viva admi-
nistratione jucundum est spectare, qualiter, simulatque foetus aörem
ambientem contingit , respirare nititur. Atque haec Sectio opportune
in cane aut sue obitur, quum non multo post sus est paritura. Si enim
ipsius abdomen ad peritonaei usque cavitatcm diviseris atque dein ute-
rum quoque in unius foetus sede aperueris, ac secundina ab utero libe-
rata foetum mensae imposueris, cernes per pcUucidas membraneasquo
ipsius tunicas , qualiter frustra respirare conatur, et veluti suffocatus
moritur, si vero ipsius involucra pertuderis, foolusque caput illis libe-
raveris, mox illum veluti reviviscere, et eleganter respirare cernes. At-
que quum id in uno foetu indagaveris, alium aggredieris : quem ab
utero non liberabis , verum apertum uterum ita inflectes : et inferius
illic aperies, ubi foetus secundinum desinere, aut secundinae inferiorem
partem haberi arbitraberis , quo scilicet ea uteri pars integra servetur,
quae secundina^ obnascitur per reliquam vero sedem foetus deteetus
4} Andreae Vesalii de humani corporis fabrica libri itepleni Bnsileae 154i. p 660
Die Plicenttrrespiration des Foetus^- 545
t
Sit. ita enim spectabis arteriarum uteri et (tfin secundinae pulsum : et
foetu adhuG in suis membranis veluti sursüm protruso, ccrnes umbili-
cum petentium arteriarum motum ^ «i focAum nondum respirare, neque
etiam ad respirationem conari. mos. vero atque membranas pertundes,
foetus respirabit, etumbilici arteriarum pulsus intereidet, pulsantibus
interim adhuc uteri arteriis.
Bald mit grdsserer bald mit geringerer experimenteller SchHrfe
wurde dM Beobachtung Vksal's wiederholt von Platbr, *) Haller, 2)
WiNSLOw, *) Scheel, *) Bbglard, *) Mater, «) Yolkhanx, ^) namentlich von
ScHWARTz, 8) und jetzt von Pflüger. •)
Die genannten Experimente beweisen, und dafür fallen gleich-
zeitig jene oben genannten pathologischen Thatsachen schwer ins Ge-
wicht, dass ^der normale Placentarverkehr denjenigen
Reiz vom Foetus fern halt, welcher, sobald er durch Un-
terbrechung des PI acentar Verkehrs zur Wirkung kommt,
Inspirationsbewegung veranlasst. Das MATOw'sche Experi-
ment und die Apnoe des Gebomen überhaupt blieben durch mehr als
anderthalb Jahrhunderte wieder unbekannt. Aber trotz dieser Unbe-
kanntschaft war der experimentelle Beweis der Placentarrespiration des
Foetus in seiner Vollständigkeit wieder hergestellt, nachdem Lbgallois ^^]
das Athemcentrum im verlängerten Mark und Volkmann^^) den Athem-
reiz in der Venositat des Blutes aufgefunden hatten. Es konnte fortan
kein Zweifel daran mehr begründet werden, dass lediglich ein in
der Placenta stattfindender Gasaustausch, analog dem
in der Lunge des Gebor nen vermittelten, es sei, welcher
vom Foetus denReiz zur Jnspiration fern hält; dass mit
anderen Worten der Foetus normal des s halb nichtAthem-
\) Felix Plateius, De origioe partium earumque in utero conformatione Leidae
1641. In der Ausgabe von 1690 Francofurti et Lipsiae pag. 801.
2) Haller, Memoire sur la respiration. Lausanne 1758. Opera minora 1763.
Tom. \. pars 1. pag. 820.
8 u. 4) Paul Scheel , Diss. inaug. physiol. de Itquore amnii asperae arteriae
foetuum humanorum. Hafniae 1798.
6) Bulletins de la Facalt^ de medectne de Paris. Tome Ul. Paris 1814.
6) Salzburgor mediz. Zeitung 1817 und Uufelard's und Osahn's Journal der
i)ract. Heilkunde 1824. HI. Stück Seite 97.
7) A. W. VoLKMARif , lieber die Bewegungen des Athroens und Schluckens etc.
in MülleWs Archiv 1841, Seite 882.
8) ScBWAETi a. a. 0. Seite 80.
9) W. PvLüGEE a. a. O. Seite 81.
10) Legallois, Experiences sur la principe de la vie. Paris 1812 und BoUeUns
de la Facultö de medecine de Paris bis 1814.
1 1 ) In dem citirten Artikel.
Bd. IV. 3. «. 4. 35
546 B. S. Schultw,
bewegungen macht, weil sein Slut verioöge ungestörter
Placentarf unction nie in dem Grade venös wird, um das
Athemeentrum in der MeduiJa zu erregen.
Diese angeführten Beweise für die Existenz^^er Placentarrespira—
tion des Foeius liegen seit geraumer Zeit vor. Es wurde oben gesagt,
dass manche auf logisch richtiger Voraussetzung unternommeD»f eweise
an thatsächlichen Schwierigkeiten scheiterten. Zu diesen Beweisv^r-
suchen gehört der, Mischungsdifferenzen , spcciell Farbendifferenzen,
welche auf verschiedene Mischung würden schliessen lassen , zwischen
dem Blut der Nabelvcne und dem der Nabelartericu nachzuweisen.
ScHWARTZ hat neben vielen anderen Verdiensten um die Kenniniss der
Placentarrespiralion sich auch das erworben, dass er nachwies, wes-
halb die Bemühungen, Farbendifierenzen zwischen dem Blut der Nabel-
venen und dem der Nabelarterien des Säugethierfoetus nachzuweisen,
zu einem Resultate nicht führen konnten. Der Grund ist der, dass
sowohl nach vollendeter Geburt als auch bei Vivisectionen uns das Fot>-
talblut nicht zu Gesicht kommt vor ganz oder fast erloschener Ptaceniai—
fünction, dass wir es in beiden Fällen nur noch mit wenig diflerenien
Nuancen von Erstickungsblut zu tbun haben. Durch diese Erkenntniss
der Ursache, wesshalb der Farbenunterschied zwischen Nabel veneo-
und Arterienblut uns, wenn er exislirt, nicht zu Gesicht gebracht wer-
den konnte, verliert natürlich eben diese Thatsache allen \Verth als
Gegenbeweis der Placentarrespiration.
Pflüger stellt nun den Satz auf (Seite 6S), dass fUr die Beurthei-
lung der Frage, ob dem Foetus überhaupt eine Respiration zukomme,
obenan die von einer grossen Zahl ausgezeichneter Beobachter bezeugte
Thatsache stehe, dass bei der Betrachtung des Nabelstrangcs eines Foe-
tus im Fruchtwasser, der noch in vollkonimcnslor Placentarvcrbindung
mit dem lebendigen mütterlichen Organismus steht, das Blut der
Nabelarterien dieselbe Farbe besitze, wie das der Na-
belvene.
Pflüger widerlegt dann einige Gründe , welche Schwartz als Be-
lege für die Annahme, dass Oxydationsprocesse im Foetus slatlfindcn,
angeführt hat, Belege, welche in die oben angeführte zweite Gruppe
derBeweise fallen würden, und sagt aufSeite64: »Da andere Gründe
»nicht bekannt sind, so giebt es eben keinen Beweis für
»die allgemein behauptete Respiration des Foetus.«
Weiter unten citirt dann Pflüger die Stelle von Schwartz, wo der-
selbe sagt, dass und warum wir normales Fötalblut nie zu Gesicht be-
Dife Plaoenhurrespiratioii des Foetij^ 547
kommen , dass das Blai der Arterien vfi^ev Vene des Nabelsiranges
am Gehörnen vor eingetretener Luftathqsung immer eine gleichtnässige
dem Venenblute Erwachsener ähnliche Farbe habe, dass dagegen das
Blut aus dem Nabelstrang SQbeiatodt oder sterbend gehorner oder wäh-
rend der Geburt bereits abgestorbener Früchte stets entsprechend dem
Grade der eriitteneoHteeinträchtigung des Aihemprocesses dunkler sei.
lieber das Blut des Nabelstranges , überhaupt über das Blut des
Foetu$f-4riAPFLüGBa Untersuchungen nicht gcn^acht, aber er demonstrirt
^lis'den von Schwartz beobachteten Farbendifferenzen, dass das Blut
des normal gebornen Kindes Sauerstoff enthalte und dass dieser Sauer-
Stoffgehalt unter den angeführten pathologischen Verhältnissen vermin-
dert sei. Er demonstrirt das auf Grund zahlreicher Gasanalysen ver-
schieden behandelten Blutes geborner Thiere, deren gewiss in vielen
Beziehungen weittragende Resultate kurz folgende sind.
Bei normaler Respiration ist das Arterienblut mit Sauerstoff fast
gesättigt. Die Absorptionsfähigkeit für Sauerstoff steigt und fällt mit
dem specifischen Gewicht. Die Schwankungen des specißschen Gewichts
sind wesentlich abhängig von dem Gehalt an Blutkörperchen und gehen
parallel mit dem Hämoglobingehalt des Blutes. In Retreff der Farbe
stellte Pflügbr fest, dass während arterielles Blut von hohem specifi-
schem Gewicht und hohem Sauerstoffgehalt dunkel aussieht , Blut von
geringem spccüischem Gewicht ganz hellkirschroth erscheint und doch
arm an Sauerstoff ist ; ferner dass die grössere oder geringere Hellig-
keit der Blutröthe im lebenden Körper niemals durch die Kohlensäure
sondern aussdüiesslicfa durch den Sauerstoffgehalt bedingt; ist und
der bekannten Thatsache, dass in einem gegebenen arteriellen Blute
die Helligkeit der rothen Farbe wesentlich von der Menge des Sauer-
stoffs abhängig ist, fügte er die hinzu, dass solches Blut, welches bei
auffallendem Lichte und in dicker Schicht betrachtet noch einen deut-
liehen Stich ins Rothe oder Braunrothe zeigt, sauerstoffhaltig ist.
Nach diesen Mittheilungen, die ich natürlich nur ganz auszugsweise
wiedergegeben habe, fährt PrLüQSR fort (Seite 80} : »Wir sind jetzt vor-
» bereitet zur Beurtheilung der Frage, ob dem Embryo eine Respiration
»zukommt. Aus den von Scbwartz oben angeführten Versuchen ergiebt
»sich, dass das Blut in den Gefässen des Nabelstranges braunroth, wiedas
»der Venen des Erwachsenen aussieht. Dieses Blut muss folglich Sauer-
vstoff enthalten, wenn seine Menge auch gering ist. Ein hoher Sauer-
wstoffgehalt und sehr dunkles Blut ist bei erhaltenen Biutkörpem nur
»dann zu beobachten, wenn man das Serum durch Absetzenlassen
»möglichst entfernt hat. Da nun das Blut von Embryonen ein niederes
»spooißsches Gewicht hat, also wohl arm an Biutkörpem ist, so deutet
»5*
548 \ B* S* SohulUe,
)>die Dunkelheit des Blutes a^uf Sauerstoffarmulh. Da ferner bei der
»Unterbrechung des Placentarverkebrs zwischen kindlichem und mUlter—
»lichem Organismus das Fötalbkit schwarz wie Erstickungsblut wird,
»so hat das letztere seinen Sauerstoff verloren und die schwarze Farbe
»ist also nicht, wie Sguwartz glaubt, durch die Kohlensäure bedingt.
»Es ist ferner hierdurch dargethan, dass der Embryo bei seinem Stoff-
»Wechsel Sauerstoff verbraucht, und dass ihm also in der That eine
»Respiration zukommt. Der strenge Beweis war aber bis äibki nicht
»geliefert worden, und obige Thatsachen bieten den alleinigen bis jeüCI
»bekannten sichern Anhalt. Wenn demgemäss das Blut der Nabel-
»arterien und Nabel veno keinen bemerkbaren Farbenunterschied dar-
»bietet, worin die besten Beobachter übereinstimmen, so wird dies
»darum vollkommen erklärlich sein, weil ich bewiesen habe, dass der
»Sauerstoffverbrauch des Embryo verschwindend klein sein muss gegen
» den des Erwachsenen, a
Wollen und können wir einmal absehen von den oben unter 1 . ,
2., 3. registrirlen Beweisen der Placentarrespiration, so sind wir in
Betreff der letzleren folgendermasson zu schliessen berechtigt: Das Blut
des Gehörnen wird in den Lungen durch die Atbmung arteriell. Das
Arteriellwerden des Blutes besteht wesentlich darin , dass es Kohlen-
säure abgiebt, Sauerstoff aufnimmt und seine dunkle Farbe in hellrolhe
umwandelt. Wenn wir den Gaswechsel in den Lungen beschränken
oder aufbeben, wird das Blut reich an Kohlensäure, arm an Sauerstoff,
es wird in den Lungen nicht mehr hell, sondern im ganzen Körper
immer dunkler bis schwarz. Steigend mit diesen Veränderungen des
Blutes verfällt das Thier in Symptome , welche wir Erstickungssymp-
tome nennen und stirbt einen Tod , dessen Charaktere wir als die des
Erstickungstodes bezeichnen. Es ist experimentell (gerade jetzt wieder
durch Pfloger) ausser allen Zweifel gesetzt , dass der behinderte Gas-
austausch in den Lungen und die dadurch bedingte Verarmung des
Blutes an Sauerstoff* die alleinige Ursache sowohl der zunehmend
dunkleren Färbung des Blutes als auch der gleichzeitig auftretenden und
zum Tode führenden Erstickungssymptome des Gehörnen sind. Ferner:
Wenn dem Foetus der Placentarverkehr zuvor abgeschnitten wurde,
so ist sein Blut ebenfalls dunkler und dunkler je nach der Vollständig-
keit und Dauer dieser vorausgegangenen Unterbrechung; nach Massgabe
der gleichen Bedingung zeigt der Foetus schwerere und schwerere
Symptome gleich den Symptomen fortschreitender Erstickung des Ge-
bomen und sein Tod zeigt die Charaktere des Erstickungstodes. Dass
das Blut des normalen Foetus etwa in der Nabel vene schön hellroth
sei wie das der Lungenvenen des Gebomen, bat Niemand gesehen,
Die PIneentamspIratioB des Foetp. 549
m
dass es Sauerstoff enthalte, hat Niem^m chemisch nachgewiesen,
audi dass das ^dunkle Blut des unten Erstickungserscheinungen zu
Grunde gehenden Foetus wenig Sauerstoff und viel Kohlensäure enthält,
ganz wie das der erstickenden Thieres, hat, so nahe es läge, Niemand
nachzuweisen untemomoden. Aber wenn Symptome, wie sie der durch
untorbrochne PlaceiHarcirculation beschädigte Foelus und Neugeborne
zeigt, nur durch Yenöswerden des Blutes, wie beim erstickten Gehör-
nen hervorgerufen werden, wenn Sectionsbefunde, wie sie die meisten
Tod tgebornen .zeigen , nur durch behinderten Athemprocess bewirkt
werden können, wenn die Farbe, welche das Blut der normal gebomen
Frucht in der Nabelschnur zeigt, nur durch Sauerstoff, wenn das
Dunklersein dieses Blutes entsprechend den Graden derjenigen Symptome,
welche mit Erstickung so viel Aehnlichkeit haben, nur durch Schwin-
den dieses Sauerstoffgehaltes zu Stende kommen kann: wenn eine
dieser Erklärungen in der That die einzig mögliche ist, so ist ein neuer
Beweis für die Placentarrespiration des Foetus, der vierte, dadurch ge-
liefert. Der stricte Beweis, dass eine dieser Erklärungen die einzig
mögliche sei, ist von dem Stendpunct, der die Beweise 1., S., 3. igno-
rirt , nicht geführt und aus den bis dahin vorliegenden Thatsachen für
diesen Stendpunct nicht zu führen. Hohe Wahrscheinlichkeit für die
Richtigkeit jener Erklärungen giebt allerdings auch für diesen Stend-
punct die Uebereinstimmung eben dieser Erklärungen unter einander
sowohl als mit der einzig richtigen Erklärung der offenbar sehr analogen
Erscheinungen beim Gebomen. Wer die sub 1., 8., 3. oben ange-
führten Beweise nicht gelten lässt und wer wie Pplügbr (S. 64 seines
Aufsatzes) den Satz obenan stellt, dass der Nichtgebome sich unter totel
anderen Lebensbedingungen als der Gebome befinde , der wird für den
ganzen Complex der Erstickungsphänomene an demjenigen Foetus, dem
die Piacenterverbindung behindert ist, andere als in Behinderung des
Gasausteusches begründete (aber allerdings gänzlich unbekannte) Be-
dingungen als mögliche Ursachen denken, der wird consequenter Weise
auch für Farbendifferenzen des Piacenterblutes die Möglichkeit offen
lassen müssen , dass andere Mischungsdifferenzen als solche , die den
Gasgehalt betreffen , ihnen zum Grunde liegen , namentlich , da es kei-
nem Zweifel unterliegt, dass anderweite Mischungsänderungen des
Blutes in der normal fungirenden Placente stettfinden.
Theils in den Erstickungssymptomen des in seinem Placenterver-
kehr behinderten Foetus, theils in den Sectionsbefunden unter gleichen
Bedingungen abgestorbener Neugeborner sahen den Beweis für die Pla-
centerrespiration von neueren Autoren Volkmann, Cazbadx, Krahmek,
Hbcker, Schwamtz und viele nach ihnen; in der Farbe des Blutes nächst
&50 ^ B.iS. ^oUie,
Sghwartz namentlich Pelügsr,, Dafts nur Sauerstoff das Blut desFoetus
roth, nur Schwinden desselben das Blut des asphyctischen Foetus
dunkel färbe , nahmen Viele nach Analogie mit dem Gehörnen bisher
an. sAuch Pflügbr — spricht es zwar nichi^direct aus , nimmt es aber
offenbar an — und er wird wohl so gut wie die Anderen Recht haben,
darum Recht haben, weil eben die Lebensbedingungen des FoeUis von
denen des Gebomen nicht total verschieden sind, weil speciell seine
Placentarrespiration anderweit erwiesen ist.
Der immer von Neuem da und dort auftauchende Zweifel und Wi-
derspruch gegen die Giltigkeit der von frtiher her vorliegenden Beweise
der Placentarrespiration des Foetus , der mich veranlasste , dieselben
kurz zusammenzustellen , lässt es auch nicht ganz überflüssig erschei-
nen, wenn ich es unternehme, den bereits vorhandenen noch einen
Beweis für die Placentarathmung des Foetus hinzuzufügen , einen Be-
weis, den ich in der Literatur nicht genannt finde und der mir so nahe-
liegend scheint, dass ich glaube, er sei nur desshalb noch nicht genannt
worden , weil er denen , die ihn empfunden haben , zu selbstverständ-
lich vorgekommen ist
Das Blut des menschlichen Foetus ist durch mehr als 30 Wochen
mit einem Theil seiner Oberfläche , der wohl zu keiner Zeit weniger als
den vierten Theil der gesammlen Gapillaroberfläche beträgt, der in den
letzten Monaten der Schwangerschaft 10,000 Quadratcentimeter gewiss
übersteigt, in Goniact mit dem arteriellen mütterlichen Blute, welches
in den Placentarsiaus die freien kindlichen Gapillaren umspült; es ist
getrennt von dem mütterlichen Blute durch eine einfache Epithelschicht
und ein dahinterliegendes Gewebe (die kindliche Capillarwand), welche
der Epilhelschicht an Dicke und Permeabilität etwa gleichkommt. Auf
der mütterlichen und auf der foetalen Seite ist das Blut in ununter-
brochener Strömung, auf der mütterlichen Seite findet ununterbrochene
Zufuhr arteriellen Blutes ku der ausgedehnten von den Gapillarschlingen
des Foetus gebotenen Fläche statt. Dieses mütterliche Blut ist mit Sauer-
stoff beinahe gesättigt, enthält dessen circa 48 VoL%. Ich frage, ob es
unter diesen Bedingung^ physikalisch denkbar ist, dass das foetale
Blut, und wenn Wasser statt Blut in den Adern des Kindes kreiste,
dass dasselbe arm am Sauerstoff oder gar frei von Sauerstoff sei ; ob es
nicht nothwendig ist, anzunehmen, dass das foetale Blut mit dem müt-
terlichen in Bezug auf den beiderseitigen Gasgehalt sich ins Gleich-
gewicht setze. Selbstverständlich braucht dieses Gleichgewicht nicht
in gleichen Volumprocenten zu liegen, die etwas abweichende Be~
Die PiMeDtamspirfttion des Foetns. g^ 551
scbaffenhett in Bezug auf die ttbrige chetoifeche, in Bezug auf die
morphologische BeschaSenbeit des Poetalbl^les wird einen etwas diffe-
renten AbsorptionscoeflRcienleii , die elt^as höhere Temperatur des
Foelalblutes , der vielleicht difTei^eiite Druck, unter dem es sich in
den Gapillarschlingen befiffSM, werden eine differente Gapacität für
Gase bedingen. Exp^kaient und Analyse wird auch ans dem foetalen
Erstickungsblut y wie wir es bei Geburten leicht auffangen können,
seine SauemWffTcapacität zu ermitteln im Stande sein. Diese Zahl mag
niuTfitisfallen wie sie will, die SauerstoQcapaciUit des Foetalblutes mag
der des Gebomen nahe kommen , oder weit unter ihr liegen , so viel
steht fest, dass bei dem bedeutenden Sauerstoffgehalt des mütterlichen
Placentarblutes , bei der freien Möglichkeit diosmotischen Austausches
mit demselben der wirkliche Sauerstoffgehalt des foetalen Blutes zu
dessen Capacitat für Sauerstoff ganz ähnlich sich verhalten muss, wie
der Sauerstoffgehalt des Blutes der Mutter zu eben dessen Capacität,
dass also das aus der Placenta zurückkehrende Foetalblut, wie das der
Lungenvenen des Gehörnen, mit Sauerstoff fast gesättigt ist.
Wenn in den Geweben des Foetuskörpers ein starker Sauerstoff-
verbrauch stattfindet, so wird das Gleichgewicht zwischen foetalem
und mütterlichem Blute nie vollkommen bestehen, es wird nur ein dem
Gleichgewicht nahekommender Zustand im Blut der Nabelvene immer
von Neuem hergestellt werden. Setzen wir dagegen den Sauerstoff-
consum im Foetus, in der Voraussetzung, dass er nicht nachgewiesen
oder dass er verschwindend klein sei, einstweilen gleich Null, seist
ersichtlich, dass das gesammte Foetalblut in Bezug auf seinen Sauer-
stoffgehalt sich dauernd im Gleichgewicht mit dem mütterlichen Foetal-
blut befinden muss.
Die gleiche Voraussetzung festgehalten , werden nur Alterationen
im Sauerstoffgehalt des mütterlichen Blutes solche im Blut des Foe-
tus herbeiführen können.
Nun wird von einer ganz gesunden Mutter, welche speciell keine
Spur von Asphyxie zeigt, ein Kind, dem wenige Minuten zuvor die
Nabelschnur gedrückt wurde, im Zustande tiefer Asphyxie, unter allen
Erscheinungen der Suffocation geboren , wir konnten auch durch Be-
obachtung vor vollendeter Geburt constatiren , dass die Symptome , die
das geborne Kind zeigt, im Mutterleib genau von der Zeit an sich ent-
wickelten, wo die Compression der Nabelschnur begann. Je länger das
Kind unter den Bedingungen existirt hat, die den Austausch seines
Blutes mit der Mutter behinderten , desto schwerer sind die Symptome
der Erstickung am gebomen Kinde, je früher es gelingt, durch künst-
liche Athmung Sauerstoff dem Blute zuzuführen , desto sicherer gelingt
552 ^ N 6- S. ScbulUe,
es , Sydie mptome der 'Erstickung zu beben. Wober bekommt das
Kind im Mutterleibe Erstickungsblut in seine Adern bei kurzer Unter-
brechung seiner PlacentarcirCMlation , da sein Blut vorher in Bezug auf
Sauerstoffgehalt im Gleichgewicht war mit dem arteriellen der Mutter,
und da das Blut der Mutter keine Acndenni^ seines Gasgehaltes erfah-
ren hat? Das ist lediglich dadurch möglich, dass der im
Blut des Kindes vorhandene Sauerstoff rrB^Hch schnell
verbraucht wird, wenn die Zufuhr neuen Sauerstoffs ab —
geschnitten ist.
Somit wären also die vorhandenen Beweise für die Placentarrespi—
ration des Foetus um noch einen vermehrt, und gleichzeitig der Beweis
gefuhrt, dass entgegengesetzt der Ansicht Pflügbr^s der Sauerstoffver—
brauch im Foetus nicht verschwindend klein gegen den des Erwach-
senen, sondern recht gross ist und dem des Gebomen vielleicht wenig
nachsteht.
r
Beitrag nr vei^leichenden AMatonie des Cekines.
(Vorl&ufige Mittheilung)
von
Miklucho - Maclay.
Mit 8 Figuren in Holzschnitt.
Indem ich in Folgendem die Hauptergebnisse einer vergleichenden
Hirnuntersuchung als vorläufige Mittheilung der Oeffentlichkeit Über-
gebe, behalte ich mir eine eingehende Begründung und detaillirtere
Ausführung derselben vor.
Der besseren Uebersicht wegen will ich diese Mitlheilung in fol-
gende drei Abschnitte theilen:
1. Neue Deutung des Fischgehimes.
n. lieber die glandula pituitaria bei Selachiem.
ni. Yergleichung der Hirnbildungen bei Vertebraten.
I. Neue Deutung des Fischgehirnes.
Das Fischgehirn besteht, wie bekannt, aus mehreren auf einander-
folgenden Abschnitten. Trotz der grossen Mannichfaltigkeit, welche
diese Abschnitte in den verschiedenen Abtheilungen der Fische zeigen,
lässt sich in ihnen eine constante Reihenfolge beobachten. Es liegen
beim erwachsenen Fisch zwei paarige Anschwellungen vor einer un-
paaren. Ausser diesen Hauptabschnitten finden sich aber noch andere
vor , die theils hinter , theils vor denselben gelagert sind. Dieses von
vielen Forschern untersuchte Organ hat in seinen einzelnen Theilen
viele Deutungen erfahren.
Die Verschiedenheit der einzelnen Auffassungen und die Wichtig-
keit einer richtigen Beurtheilung des Fischgehirnes für die gesammle
Neurologie beweg mich, diese Ansichten zu prüfen, um mich entweder
einer bestehenden anzuschliessen , oder eine richtigere aufzustellen.
Bevor ich zu den Besultaten meiner Untersuchungen komme, will ich
in folgender schematischen Tabelle die Deutungen verschiedener Au-
toren darstellen :
554
MiUMlio-liaelai,
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Beitfag inr Tergliiehadtit AMtoato de» GebivBs. 559
Inwiefern diese Deutungen durch eine »wT eine neue Hetboile der
VerglelchuDg gcslUtzle Kritik porechtrerligl sind, wird dns Nachfolgende
ergeben.
Der Hauplunterscbied meineV Deutung von der der Übrigen Auto-
ren besteht darin, dass ich den dritten unpaaren Abschnitt, der von
nllen Forschern als Ccrebdium gedeutet ist, fUr das HUtelhirn der
flbrigen Wirhellhiore ansehe, die vor demselben liegenden paarigen
Anscbwellungen als Zwischenhirn betrachte und die vom unpaarigen
Abschnitte bedeckte Coromissur als Homologon des Hinterhirnes hin-
stelle.
Zu dieser Ansicht hat mich UHmenllich das Studium der Enlwi(^6-
tung des Selachiergehirnes geführt. Die Selachicr wurden bei dieser
Untersuchung vorwiegend berücksichtigt, aus Gründen, die ich bei einer
andern Gelegenheit erwfthnt habe^). Die Vergleicbung des Gehirnes
eines jungen Selachier - Embryo (z. B. eines Notidanus oder Scymnus
bis etwa von 1 3 cm. Lange) mit dem eines anderen Wirbelthieres lüsst
keinen Zweifel in der Deutung der einzelnen Theile.
Die Anbge des Hitlelhimes ist bei allen Wirbeltbieren eine blasen-
artige Ausbuchtung, jene des Hinterhimea dagegen erscheint in der
frühesten Anlage niemals in Gestalt einer solchen blasenartigen Aus-
buchtung, .sondern stellt vielmehr eine hinter dem Hillelhim liegende
Quercommissur vor, welche den vorderen Abschnitt des Sinus rhom-
boidalis bedeckt. Es wUrde also für die erste Anlage des Gehirnes der
Fische ein ganz anderes Verhalten besteben, wenn die Deutung der
frflheren Autoren die riditigere wllre. — SUmmtliche vergleichend-
1. Gehirn (mcdioner DurchfichniU) von Heptanchus griaeua, Embryo von
IScm. Ungo. II. Gohim (ilcsselbcn DurclischniltB) von Capro hircns, Em-
bryo von i cm. Länge. Die lieiiicn Gehirne sind vergrtjsscrl und ungcfflhr auf dic-
iwlhc Crosse rcdacirt. Dia Zeichnungen sind noch Pholographicn ontworfcn. —
V Vorilcrhirn, Z ZwiNChenhlrn, M Mittelhirn, ff Hinterhirn, N Nnchhim, / Infun-
dibnlam, f primilivo Verbindung des Vorderhirnei, pt Plexus choroldeus, e Glan-
dula pituitarin, 0 Nervus opticus,
t) Ueberein Schwimmblasen nid iment bei Selacbiem, Jen, ZeiUchr, für Med.
556 MiÜMfco-Maday,
anatomischen Tbatsacbeirspredien für die Deatnng des dritten onpaa-
ren Abschnittes des Selachiergehirnes als Mittelhim. Eine einzige
Thatsacbe, welche gegen die Annahme dieser DeuUmg scheinbar spre—
eben könnte, ist das Verhalten des Nervus irochlearis, auf weldies aach
JoH. MCtLBft hinweist ^) und auf welche Thatsadie er grosses Gewicht
zu legen scheint.
Der N. trochlearis entspringt nämlich bei höheren Wirbelibieren
constant zwiscben dem Mittel- und Hinterbim. Bei den Selacbiom iJa-
gegen entspringt er vor dem Mittelhim.
Beachtet man jedoch, dass der Trochlearis bei Fischen und Am-
phibien blos als eine Wurzel des Trigeminus erscheint, dass er femer
bei vielen Amphibien und Fischen vollständig fehlt 2) oder ein sehr
wechselndes Verhalten zeigt, so wird auf die Eigenthilmlichkeit des
Trochlearis -Ursprungs bei Selachiem nicht jenes bedeutende Gewicht
gelegt werden dürfen. Der wichtigste Umstand liegt aber darin , dass
die Faserung der Himtheile viel später entsteht ^j als die Differen-
zirung der Hauptabschnitte^).
Diese vom Selacbiergebim genommene Auffassung bestätigt sieh
fttr Ganoiden und Cyclostomen; die ersten Diflerenzirungen des Tele-
ostiergehirnes entsprechen vollständig den gleichen Stadien des Gehirnes
der Selachier. Auch die Einrichtungen des Gehirnes ausgewachsener
Teleostier, vorzüglich aus der Abiheilung der Physostomen, die be-
kanntlich auch in anderen anatomischen Verhältnissen sich den Ga-
noiden am nächsten anschliessen , stimmen vollständig mit der eben
besprochenen Deutung der Hirntheile überein.
4) Jon. Müller, Vergleich. Nearologie der Myxinoiden p.845.
2} Bei den MyxiDOiden fehlt der Trochlearis, bei den anderen Cyclostomen
geht er Verbindungen mit andern Nerven ein (Jon. Müller, Vergleich. Neurologie
p. 24 7). — Der Trochlearis bei Selachiern zeigt ebenfalls Verbindungen mildem
Trigeminus [z. B. bei Scymnus, Scyllium). Bei Salamandrinen fehlt der IV. voll-
ständig ; der Muse. obl. sup. wird durc{i einen Ast des Ramus nasalis des V. ver^
sorgt, ebenso existirt bei Menobrnnchus kein discreter IV. (Fischer, Anatomische
Abhandlungen I. Hamburg 4864. Der IV. fehlt auch bei Rana pipiens (WniAR), bei
Rana esculenta verbindet er sich mit dem V. [Schlemii, d'Altou) etc.
8) V. Baer, Rntwickelnngsgeschichte II. p. H2.
4) Dass man in einem Nervcnursprung oder vielmehr in dessen Austrittsstelle
keinen absolut sichern Anhaltspunct für die Deutung eines Hirnabschnitts suchen
darf, beweist z. B. das Vorhalten der Opticuswurzeln bei Beutelthieren. Nach den
Untersuchungen von Gratiolet (Anat. comp, du Syst. nerv. Paris 4857. p. 482.483)
hat der N. opticus 3 Wurzeln, indem er vom Vorder-, Zwischen- und Mittelhirn
entspringt. Die Wurzel vom Vorderhirn, die bei affenartigen Säugethieren sehr
gross ist und den Übrigen Sttugethieren nicht fehlt, findet sich nicht bei Halmaturus
Benncttii, Hypsiprymnus murinus, Didelphis yirginiana.
Beitrag siir 7efglei€iieii4eB Anatonie ies Gebildes. 557
II. lieber die Glandula pituitar^a bei Selacbiern.
SchoD 1839 ibeilte Batbkb in seiner Entwickelungsgeschicbte der
Natter mit, dass in einem frttberea Embryonalstadium eine kleine Aus-
stülpung der nMundbauta emporwächst, sich dicht an's Infündibulum
anlegt und sich allmählig von der »Mundhauta abschnürt. Nach voll-
endeter Abschnünmg stellt der neugebildete Theil — die Glandula pi-
tuitaria — ein vollständig geschlossenes »Bläschen« dar^).
'Bathke hat diese Art der Bildung nicht blos bei Beptilien, sondern
auch bei Vögeln und Säugethieren beobachtet^). Dieser Ursprung des
Ilirnanhanges ist von Manchen, so z. B. von Beichbrt, in Zweifel gezo-
gen worden.
Was meine Untersuchungen über die Glandula pituitaria betrifft,
so kann ich nur die schöne Beobachtung von Batbkb bestätigen und,
wie mir scheint, ausser Zweifel setzen. Das Verhalten der Hypophysis
bei Selachiern bietet nämlich das Interessante , dass bei vielen Haien
(Scymnus, Acanthias, Notidanus und anderen) der Zusammenhang der
Glandula pituitaria mit der Mundhöhle noch deutlich persistirt. Es fin-
det sich nämlich in der Schädelbasis , dicht vor dem Sattel , efne bei
Embryonen einfache OeS'nung vor, durch welche ausser den Blutgefäs-
sen (Carotides internae) noch ein bindegewebiger Strang bindurchtritt,
der, von der Hypophysis abgehend, einen Nachweis des früheren Zu-
sammenhanges darbietet.
Die Glandula pituitaria ist auch hier, wie Batbkb für die früheren
Stadien der höheren Wirbelthiere beschreibt, ein abgeschlossenes sack-
förmiges Gebilde. — Diese Bildung ist bei erwachsenen Selachiern et-
was modificirt. Nach vollständiger Abschnürung der Hypophysis von
der Mundhöhle wird die Oeffnung überbrückt, diese Brücke verknor-
pelt und so entstehen zwei Canäle, die in einen einzigen unpaaren ein-
münden.
Diese von hinten und aussen nach vorn und innen verlaufenden
Canäle sind die Garotiden- Canäle, die bei sämmüichen Vertebraten
eine analoge Lagerung besitzen und wahrscheinlich auf dieselbe Weise
entstehen. Der unpnare , die zwei Canäle aufnehmende Canal besitzt
bei den verschiedenen Wirbelthiergruppen eine verschiedene Länge,
so ist er verhältnissmässig beträchtlich bei Vögeln , dagegen ist er bei
den Säuj^ethieren vorübergehender Natur , indem er bei erwachsenen
fast gänzlich verschwindet.
\) H. Ratuke, Eniwickelungflgeschichte der Natter, Königsberg 4S89. p. 492.
2) Desgleichen p. 81.
558 • Ifiktacho - MaeUy,
Bei Selachiern sindNdie Garotiden-Ganäle zwar beschrieben und
abgebildet^), ohne dass jt?doch ihr morphologischer Werth , als se-
cundäre, mit der Entstehung derGlandula piiuitaria in
Zusammenhang stehende Bildung, erkannt worden wäre.
Aus dem Vorhergehenden folgt als<^ mit Bestimmtheit, dass mor-
phologisch die Gland. pituitaria eine dem O^hirn ganz fremde
Bildung ist und, wie B^thkb behauptete, eine Abschntt-
rung der Mundschleimhaut darstellt^).
111. Verglcichung der Hirnbildungen bei Vertebraten **).
Die mannichfaltigen Formen des centralen Nervensystems in den
verschiedaien Wirbellhierabtheilungen gehen aus Einer Anlage
hervor *) .
Die spätere Verschiedenheit ist bedingt durch verschiedenes Wadis-
thum und Diflerenzirung der anfangs gleichartigen Theile.
Diese im Wachsthum entstandenen Eigenthttmlichkeiten zu unter-
scheiden und die morphologisch gleichartigen homologen Theile heraus-
zufinden, ist die Aufgabe der vergleichenden Anatomie des Gehirnes.
Ulli diese Hpmologa ausfindig zu machen , können wir von einer,
allen Wirbelthieren gemeinsamen Grundform ausgehen und dann die
verschiedenen Gehirne in ihrer späteren Entwickelung verfolgen , um
die Modificationen und Eigenthümlichkeiten , welche die Grundform
eingeht, kennen zu lernen und richtig zu würdigen.
Als eine solche Ausgangsform können wir an einer jeden Wirbel-
thierdasse das Gehirn annehmen , welches in die fünf Primitivblascn
YOif Babr's differenzirt ist.
Bevor wir aber die Differanzirung des Gehirnes der einzelnen
Wirbelthiergruppen besprechen, wollen wir die allgemeineren Veräo-
4) BuscB, De Selachionim et Ganoideorum Encephalo. Berlin 1848. Taf. II.
Fig. *.
a) Die Resultate der histologischen , auch der neueren üntersuchungea stim-
men damit Uberein, indem sie ebenfalls die Gl^nd. pituitaria als eine dem Nerven-
system fremde Bildung ansehen.
3) Obgleich ich keineswegs der Meinung bin, hiermit eine abgeschlossene Un-
tersuchung zu geben, schien es mir doch zweckmässig, diese Form der DarsteUun^
zu wählen, statt einzelne Resultate meiner Untersuchungen in eine Reihe von Ein-
zelmittheiluQgen aufzulösen , wobei man gar zu leicht das Gesanuntbild der mor-
phologischen DifTerenzirung verlieren könnte. So mangelhaft das Bild auch ist, so
kann es doch eine primitive Grundlage für spätere Untersuchungen bilden.
4} E. V. Baer, Entwickelungsgeschichte der Thierc. Köoigsberg 4837. 2. Tbl.
p. 245. 287. 292 und viele andere Stellen. — Gbgbnbaur, Grundzüge der verglei-
chenden Anatomie. Leipzig 1859. p. 484 und viole-andere Autoren.
Beitrag lur vergleiebeodeii Aantoane des GiWrues. d59
derungen des ceatralen Nervensysiems , dib bei der Eniwiokelung
sämmUicher Vertebraten^-Gehirne vor sich Igehen, in's Auge fassen, um
dieselben nicht im Einseinen wiedechoJea zu müssen.
Zu diesen allen Gehirnen zukommenden allgemeinen Veränderun-
gen geht^ri die Verdickung^der Wandungen durch Ablagerung von
Nervensubsianz. Die ursprünglich weiten Hohlräume des Gefaimes
und Rückenmarks werden dadurch immer enger, und diese Verengung
kann so weil gehen, dass der Hohlraum fast vollständig schwindet, was
wir z. B. am Rückenmark höherer Vertebrateh sehen, wo der Raum
des MeduUarrohres auf ein Minimum reducirt wird. Auch einzelne oder
mehrere Abschnitte des Gehirnes k()nnen ihre Ventrikel verlieren, z. B.
das Vorderhirn und Mitteihirn mancher Fische.
Bei Cyclostomen verschwinden fast sämmtliche Ventrikel, es bleibt
ein grosser Sinus rhomboidalis, der sich etwas unter da$ Mittelhirn
erstreckt.
Da man eine vollkommene Homotypie des Gehirnes und Rücken-
marks annehmen kann , so ündet man durdigehend bei allen Verte-
braten, dass e^ Vlie den hinteren Strängen des Rückenmarks ent-
sprechenden Uirntheiie sind , die sich besonders differenziren und die
grössten Verschiedenheiten der Gehirnbildungen bedingen.
Eine andere allgemeine Differenzirung betrifll die Bildung der Hirn-
häute, die sich von der Hirnoberfläche abscheiden ^) . Bei Embryonen
höherer Vertebraten , sowie bei Selachiern und anderen Fischen findet
man keine scharfe Sonderung der einzelnen Schichten , sie gehen all-
mählig in einander über und können nur durch künstliche Präparaiion
getrennt werden.
Bei Fischen und Amphibien, wo das Gehirn im embryonalen Zu-
stand die Schädelkapsel vollständig und beim späteren Wachsihum nur
einen Theil derselben ausfüllt, wird der Zwischenraum zwischen Schä-
del und Gehirn durch ein bindegewebiges Netzwerk ausgefüllt. In die-
sem Bindegewebe kann Fett, Kalk, Pigment abgelagert werden. Dieses
Netzwerk kann man als Homologen der Aracbnoiaea der höheren Ver-
tebraten ansehen.
An zwei verdünnten Stellen des Himdachos bilden sich Einstül-
pungen eines Theiles der Hirn wände, die mit einem reichen Netz von
Blutgefässen versorgt sind. Von diesen Einsenkungen entsteht die eine
consiant. zwischen dem Vorder- und Zwischenhirn, die andere hinter
dem Mittelhirn, weil zu dieser Zeit noch kein Hinterhirn differenzirt ist.
Daraus bilden sich die Adergeifechte.
4} V. Baer, Entwickelungsgcscliichte Bd.U. p. 104 und andere Autoren.
560 lOdMko-Slacfayi
Dass es keine Durchbi^chiuigeii, sondern Einsllllpongen sind, gebt
daraas hervor, dass 1) die Bimhante und folglich auch die sog. Plexus
keine dem Gehirn fremde Theile sind, da sie anfangs die oberste Schidil
des centralen Nervensystems ausmachen und %) kann man sogar hei
einigen erwachsenen Selachiem einen uflmittelbaren Zosammenhaog
des Zwischenhimdaches mit dem Plexus nadiweisen. Audi die sog.
Decke des Sinus rhomboidalis oder des Nadihimventrikcis, gegen wel-
chen gleidifoils ein Plexus sidi auflegt, ist bekanntlich zum Theil aus
der ursprünglichen obem Wandung des Nachhimes gebildet.
Nach diesen allgemeinen Differenzirungsvorgängen wollen wir zu
den Pormveränderungen der primitiven Himabschnittc in den verschie-
denen Veriebratenstämmen flbergehen.
Fischei).
Die embryonale Anlage des Vorderhirnes ist eine unpaare Blase,
die sich aber recht bald in zwei seitliche Hälften theilt; unpaar bleibt
das Vorderhim bei einigen Selachiem (Garcharias, Galeus und vielen
Bochen) . Die laterale Theilung ist bei allen aber durch eine unbedeu—
tende Einsenkung angedeutet; bei anderen Haien, Scymnus, Acanlhias
etc., geht die mediane Einsenkung tiefer. Es bilden sieb zwei seitliche
Hälften und dadurch wird die anfangs einfache Höhle des Yorderhirncs
in zwei seitliche Yenirikel getheilt.
Da die Spaltung der beiden Vorderhirnhälften keine vollständige
ist, so persistirt eine Verbindung, die der primitiven Verbindung der
Hemisphären der Hbrigen Vertebraten homolog ist.
Diese primitive Verbindung ist die indifferente Anlage des Com—
missurensystems (Gommissura anterior, Fomix, Balken, Seplnm pelu-
cidum) der höheren Wirbelthiere. Dieser Umstand sqheint mir von
Wichtigkeit zu sein fttr das Verständniss von Einrichtungen , die erst
bei Säugethieren zur Entfaltung kommen und die als indifferente An-
lage schon bei Fischen (Selachiem) bestehen.
Die Trennung der Hemisphären ist eine vollständigere bei Ganoi-
den und Teleostiem.
Die Vorderhirn Ventrikel werden durch Ablagerung von Nerven-
substanz auf einen sehr unbedeutenden Hohlraum reducirt. (Viele
Bochen, Teleostier, Cyclostomen.) Das Vorderhim bildet bei Seladiiern
eine sehr ansehnliche Hasse, ist aber bei einigen Teleostiem fast mdi-
mentär.
i) Die Hohlräume des Gehirnes benenne ich nach den sie umsch liessenden
Vbschnitten.
Beitrag tor vergleMlieikteD Anatdale des^inies. 561
Was die Lobi oifactorii betrifft , so sin(f diese entweder dem Vor-
derhira anliegend, oder durch lange TraclAs mit denselben verbunden.
Diese Tractusbildungen sind secundäre Erscheinungen ; als soldie sind
auch die Himstiele, die ebenfalls sehr lang werden können, anzusehen.
Sie sind durch Wachsthum fles Schadeis bedingt und fehlen beim em-
bryonalen Gehirn , wo die Himtheile enger zusammenliegen und die
Schttdelkapsel voUstfindig ausfüllen. Die Tractus oifactorii sind hohl
und in sie selat sich der Vorderhimventrikel fort.
Zwischen dem Vorder- und Zwischenhim senkt sich der Plexus
choroideus ein , in welchem eine vom Zwischenhim ausgehende dttnne
Lamelle sich verliert.
Das Zwischenhirn bildet bei Selachier- Embryonen anfangs
eine grosse, mit einer medianen Einsenkung versehene Blase, differen-
zirt sich aber bald in zwei seitliche Blasen , die eine Zeit lang mit dem
unter ihnen liegenden Infundibulum (Lobi inferiores) ^) den grOssten
Abschnitt des Gehirnes ausmachen, entsprechend dem Stadium sämmt-
lidier Wirbelthierembryonen, wo das Zwischenhirn mit dem Infundi-
bulum alle ttbrigen Gehirntheile an Grösse Qbertriflft, welches Stadium
der Entfaltung des Mittelhirnes vorangeht , wie es schon Rathkb er--
wlihnt^). Die Selachier behalten eine fast vollständige Decke des Zwi-
scbenhirnes, wahrend andere Fische (Gyclostomen, Ganoiden) sich darin
den Amphibien ntthern, dass sie, einen Spalt in der Zwischenhimdecke
zeigen. Bei erwachsenen Selacfaiern wird das Zwischenhim zum Theil
oder ganz vom Mittelhim bedeckt, welches gerade in dieser Abtheilung
eine bedeutende Hannichfaltigkeit und Grösse zeigt.
Die Anlage des Mittelhirnes bei Selachiera ist, wie bei allen
Wirbelthieren, eine einfache Blase, die bei höheren Wiilielthieren vor-
übergehend und bei Selachiem und anderen Fischen bleibend eine
■%/
4) Bei dieser Gelegenheit will ich noch einen Theil des Fischgehirnes bespre-
chen , der sehr verschieden gedeutet worden ist. — Bs sind die Lobi inferiores,
welche von vielen ForBohem als blos den Fischen zukommende Bildaogen ange-
sehen wurden. Die Lobi inferiores entsprachen aber dem Infandi-
bulum , das bei Wirbelthierembryonen sehr gross ist und bei vielen eine paarige
Ausbuchtung zeigt (z. B. Natter). Die Lobi inferiores können hohl sein oder solid,
wenn die Nervenmasse ihrer Wandung sich verdickt. Am richtigsten hat ihre mor-
phologische Bedeutung C. G. Camds beurtheilt, indem er sie als Ganglien des Trich-
ters ansieht. Von andern wurden sie vollständig misskannt, wie z. B. von Tisdk-
MAim, der in ihnen die Corpora candicantia sehen wollte, von Cwiza wurden sie als
Couches optiques (SehhUgel) betrachtet; auch JoHAimBs MOllbi deutet als Lobi in-
feriores bei Petromyzon marinus ein Paar Erhabenheiten an derMedulla, die durch-
aus nichts mit den Lobi inferiores der ttbrigen Ffsche zu thun haben.
%) Rathu, Entwickelungsgeschichte der Natter p. 46.
Bd. IV. S. 1. 4. 86
562 Miklaelio-llMlay,
beträchtliche Grösse behält. Auf der anfangs glaiteo Oberflttcbe des
Mittelhirnes der Selachier entsteht eine niediane Einsenkau^, di« das
Mittelhirn, von oben gesehen, in zwei laterale Hälften theilU (Soymnus«
viele Rochen etc.)
Bei einigen, z. B. Acanthias, tritt zu diesem medianen Einschnilt
noch eine Querfurche, die senkrecht zu der ersten gelagert ist.
Eine andere Art der DiSerenzirung zeigt das Mittelhim bei ande-
ren Haien (Carcharias, Galeus und andere). Es finde» sich an der
Oberfläche mehrere Querfurchen,, die dadurch entstehen, dass die <rtiere
Wandung des Mittelhimes sich in Falten legt, v^as man besonders schön
auf einem medianen Längsschnitt sehen kann.
Diese Faltenbildung des Mittelhirnes zeigt bei verschiedenen Gat-
tungen der Selachier einen übereinstimmenden Typus. Durch sie wird
die bei vielen Selachiern einCache Höhle des Mittelhimes in mehrere
Abschnitte getheilt.
Die mannichfaltigen Bildungen des Mittelhimes verdienen ein be-
sonderes Interesse, weil sich von ihnen die Einrichtungen des Mittel-
hirnes bei anderen Vertebraten ableiten lassen. Die bei SeLaohiern an-
gedeutete laterale Theilung entwickelt sich weiter bei den übrigen
hjdier stehenden Wirbelthieren. Auch die Paltenbildung dieses Hirn-
abschnitts ist nicht Mos bei Selachiern vertreten ; ich habe sie vorüber-
gehend beim Vogel (Hühnchen von 3 — 4 Tagen) und Säugetfaieren
(Ziege, Schwein, bei Embryonen von 8 cm. Länge) beobachtet. Diese
Falten finde ich auch von y. Baer beschrieben und abgebildet^).
Bei Ganoiden und Cyclostomen ist das Mittelhirn durch zwei neben-
einanderliegende Anschwellungen repräsentirt; eine Form, die sich
später bei Ampi^ibien findet. Bei Teleostiern scheint die Höhlung des
Mittelhirnes sehr früh zu verschwinden, wenigstens fehlt sie vielen er-
wachsenen Knochenfischen.
Was das Hinterhirn der Selachier betrifit, so schliesst sich diese
Bildung an die der Cyclostomen , Ganoiden , Amphibien und embryo-
nalen Zustände des Hinteriiirnes der hidieren Wirbelthiere an. Es ent-
steht als eine zusammenwachsende Gommissur hinter dem Mittelhim
mit einer mehr oder weniger ausgesprochenen Längsfurche. Das Hin-
terhirn der Selachier wurde von einigen Autoren ^) als Corpus resti-
forme gedeutet.
Die Hauptzttge der Differenzirang des Gehirnes bei Fischen in we-
nigen Worten zusammenzufassen, ist keine leichte Aufgabe ^ da die
4) V. Basb, Entwickeiongsgeschichte Th. I. p. 40S. 484, Tb. IL p. 44S.
i) BüscH, De Selachioniin et Ganoideorum Bncephalo p. iS.
Beitrag sor vergletdWMlett hMtlAe des.<ebirne8. 563
ClebimlHidilAg 10 de» veraditedenen Pisdiibiheilungen sehr verschie-
demriige. Differentiruiig^a eing^ebi uiul weiL die Enlwickelung des
Pischgehirnes noch wenig bekannt ist. Von sümmtiiohen Fischen sind
es die Selachier^ die uns am rtieisien inleressiren wegen ihrer schon
öfters erwähnten Besiehungen zu den übrigen Veriebraten. Diese ver-
wandlachaCUichen Beziehungen werden auch durch das Verhallen des
oe&iraleB Nervensystems gestutzt.
Man kann die SeJachiergehime als eine Grundforn^furdie ttl>ri-«
Kau Gebimbildungen der Vertebraten auffassen, weil sie sich viel mehr
als alle anderen, der von uns angenommenen embryonalen Grundform
nähern.
Fast alle Hirnabschnitte sind en'twickelt, keiner
zeigt eine auffallende Reduction. Das indiflerente Verhalten
des Seladbiergehimes äussert sich noch in der bedeutenden Weite der
Ventrikel und in den Sdiwankungen im Grade der Ausbildung einzel«-
ner Hirnabschnittey welche in dem Maasse nur bei Selaehiera vorkom^
men (so z. B» die Verschiedenheit der Formen des Vorder- und Mittel^*
himes bei den einzelnen Selachiergattungen). Aus diesem indifferen-
teren Verhalten ergeben sich auch zahlreiche Anschltlsse an die Hirn-
bildungen hiiberer Wirbelthiere,
Die Aehnlichkeit derselben mit der embryonalen Grundform ist
keineswegs durch ein Stehenbleiben auf einer embryonalen Stufe be-
dingt (wie es z. B. TiBiAiuif?! ^) glauben konnte) ; ganz im Gegentheil,
einzelne HirnUKeile (Zwischen- und Mittelhim z. B.) erhingen gerade
bei Selachiern eine Entfaltung , die sich bei keiner anderen Vertebra-
tengruppe vorfindet. Durch die Entwickelung gewisser Theile (Lobi
inferiores, Anschwellungen *am Ursprung verschiedener Nerven), die
bei anderen Vertebraten fast rudimentUr bleiben, kommen dem Selaohier^
gehime neue Himtheile zu, die sie nur mit einigen Fischen gemein
haben. Wir sehen im Gehirn erwachsener Selachier eine beträcht-
liche Entwickelung des Vorder- und Zwischenhirnes.
Die Wandungen des Infundibulum sind zu den Lobi in-
feriores angesehwollen; besonders entfaltet erscheint
aber das Hittelhirn, welches das schmale Hinter hirn fast
vollständig bedeckt.
, Amphibien.
An die Hirnbildungen der Fische reihen sich die der Amphibien
an, dieselben zeigen noch ziemlich indifferente Himformen, die manche
4) TiEDBiuvN, Aoatomie und BÜdungsgescbioKte des Gehimefl, Nttmberg 4S49.
p. VI
86*
564 ' Mttliielio-MMlfty,
Anschlüsse an die der Sttugethi^re darstellen und vide UehergOInge zu
den in einer anderen Richtung differenzirten Himbildungeri der Bepti^
lien und Vögel bieten.
Das Vorderhirn diflEmrenzirt sich frtth in zwei Hälften. Aus der
primitiven Verbindung entwickelt sich vorzugsweise die Gonmissura
anterior, die, obwohl schon bei Amphibien deutlich vorhanden,* erst bei
Reptilien und Vögeln ihre höchste Entfaltung erreiebt. Die Ventrikel
des Vorderhirnes sind wie bei den Fischen vor dem Ventrikel des Zwi—
schenhirnes gelagert, Zwischen- und Mittelhim sind eng verbundso
und gehen ohne Grenze ineinander ttber ^) (bei Froschlarven, geschwänz-
ten Amphibien) .
Das Zwischenhi4'n ist im jungen Zustande grösser, nimmt mit
Bunehmendem Alter ab und verliert theilweis seine Dedie, so dass man
nach Entfernung des Plexus, der zwischen dem Vorder- und Zwisdien-
hirn eingeschaltet ist, in den Ventrikel des Zwischenhirnes und in das
Infundibulum hineinsehen kann. Es 6nden sich bei Amphibien zw^i
Formen des Mittelhirnes, die eine derselben treffen wir bei einigen
geschwänzten und den Jugendformen der ungeschwftnzten Amphibien
an. Bei diesen hat das Mittelhim eine längliche Gestalt mit einer kaum
unterscheidbaren Längsfurche. Diese Form ist die indifferentere, den
Selachiem am nächsten stehende. Die andere Form findet sieh bei den
erwachsenen ungeschwänzten Amphibien vor. Diese Form kann als
eine aus der vorhergehenden sich entwickelnde angesehen werden.
Es entfalten sich die seitlichen Theile des Mittelhimes, die Furche zwi-
schen ihnen wird tiefer und so stellt das Mittelhim zwei nebeneinander^
liegende Halbkugeln vor.
Der Ventrikel des Mittelhimes zeigt gleichfalls zwei Ausbuchtun-
gen, die sich in die Halbkugehi erstrecken.
i) Diese Beziehung des Zwisclienhims zum Mittelliirn ist nicht blos bei Am-
phibien vorhanden , sondern findet sich bei sämmtlichen Vertebraten , im frühen
embryonaiea Stadium, besonders deutlich vor. Bei sehr vielen Gehirnen erwach-
sener Wirbelthiere Irifil man dasselbe Verhiiltnissi bei Salamaodrinen ist z. B. keine
Spur von Trennung da, bei anderen geschwänzten Amphibien tritt diese erat später auf,
wenn sich das Mittelhirn weiter difTerenzirt. Den Grund dieser engen Beziehungen
wäre man sehr geneigt in der Entstehungsweise zu suchen , indem man sich na-
menUich das Zwischen- und Mittelhirn aus einer Blase (der mittlem der drei pri-
miUven Blasen von v. Babb], entstanden dächte. Dieser Aulfassung jedoch wider-
sprechen sämmtliche Beobachter, nach welchen das Zwischenhirn mit dem Vorder-
hirn aus der ersten primitiven Blase entstehen soll. loh habe aber bei sehr jungen
Embryonen das Zwischenhirn immer in näherer Beziehung zum Mittel-, als zum
Vorderhirn gesehen, ohne jedoch definitiv entscheiden zu können, ob das Zwischen-
him aus der ersten oder zweiten primitiven Blase entsteht.
Beitrag ivr Teigleiehtsieu AMlonie devMirnes. 566
Daa Hinierhirn ist auch hier wie Dei den Fischen eine, vorn
Millelhirn «um Theil bedeckte Gommissup. Es ist sehr klein bei Sala-
BMüdrinen.
Das Amphibiengehim bietet die einfachsten Formen, io
welche sich das centrale Nervensystem bei Yertebraten diOerenzirt.
Das Vorder* und Mittelhirn entwickelt sich bei Am-
phibien vorzugsweise, das Zwischenhirn erleidet eine
Reduction und das Hinterhirn ist noch wenig entwickelt.
Reptilien und Vögel.
Das Gehirn der Schildkröten bildet «inen schönen Uebergang zu
den Einrichtungen der übrigen Reptilien und Vögel, schliesst sich
jedoch mehr an die Verhältnisse der Amphibien an. Die Spitze dieser
auslaufenden Differenzirungsreihe bilden die Gehirnverhältnisse der
Vögel.
Das Vorderhirn ist beträchtlich und Überlagert das Zwischen-
und Mitteihirn. Aus der primitiven Verbindung differenzirt sich die
Commiasura anterior , deren Strahlung sich unterhalb des Streifenhü—
gels verbreitet.
Der Streifenhügel , der schon bei Reptilien sehr ansehnlich ist,
bildet bei den Vögeln dep grössten Theil des Vorderhirnes.
Durch das Auswachsen der Hemisphären lagern sich auch die Ven-
trikel des Vorderhimes zum Theil über und neben den Ventrikel des
Zwischonhimes. Das Zwischenhirn ist verhältnissmässig klein, be-
hält einen unbedeutenden Rest seiner Decke. Die bei Amphibien, Schild-
kröten sehr ausgesprochene laterale Theilung der beiden M itlelhirn-
hälften ist weiter gediehen, so dass sie. in der medianen Linie blos durch
eine sehr dünne Decke verbunden bleiben.
Der Mitteihirn Ventrikel wächst, dem Mittelhirn entsprechend, in
zwei. laterale Homer aus.
Das Hinterhirn ist auch schon sehr differenzirt, der mediane
Abschnitt (Wurm) ist sehr entfaltet und mit Querfurchen versehen. Die
seitlichen Theile (Hemisphären) bleiben dagegen unbedeutend.
Fasst man das Gesagte kurz zusammen , so sieht man , dass bei
Amphibien und Reptilien nur angedeutete Einriciitungon im Gehirne
der Vögel ihren Höhepunct erreichen und auslaufen. Wir treffen bei
den Vögeln eine bedeutende Entwickelung des Vorder*-,
Mittel- und Hinterhirnes.
Ich sagte vorhin, dass die Hirnbildung der Vögel eine auslau-
fende sei; sie bietet in der That keine directen Anschlüsse an Ein-
richtungen des Säugethicrgehirnes. Alle Hirntheile sind sehr entwickelt,
566 MlkiMho-MMliy,
aber anders differenzirt. Wenn wir z. B. die homdogen Theile der
Vögel- und S^ugethiergehirne vergleichen woHlen, so ftinden wir, dass
dem Yorderhirn der ersteren mit seinen grossen Corp. striai., seinevi
dünnen Wandungen und seiner grossen Gommissura anterior Mos ein
kleiner vorderer Theil des Vorderhirnes der Stfugethiere entsprechen
würde. Das Zwischenhim bei Vögeln ist wenig, das Mittelhim sehr
entwickelt. Aber die Differenzirung des Mittelhimes in die zwei seit-
lichen Anschwellungen mit ihren Ventrikeln i^ offenbar eine ganz an-
dere, als die des Säugethiermittelhirnes, bei welchen das Mittelhhm mit
dem engen Aquaeductus Sylvii fast rudimentär wird, wogegen das
Zwischenhirn sehr gross erscheint. Bei Vögeln ist der mediane , bei
Säugethieren sind die seitlichen Theile des Hinterhimes besonders ent-
wickelt.
Das sind alles Verhältnisse, die dem Beobachter beim ersten Blick
in's Auge fallen , aber auch eingehendere Untersuchungen der beiden
Gehimreihen führen zu analogen Bosultaten. Und so müssen wir die
Himbildungen der Säugethiere nicht von denen der Vögel ableiten wol-
len, sondern viel weiter zurückgreifen und uns an indifferentere Ein-
richtungen der Selachicr und Amphibien erinnern , die wirkliche An-
schlüsse bieten.
Säugethiere.
Nachdem das Vorderhirn sich in die zwei seitlichen Hälften
(Hemisphären) differenzirt hat, bleibt ein Rest der ursprünglichen Ver-
bindung bestehen und bildet die Anlage des Gommissurensystems
(Corpus callosum, Fornix, Gommissura anterior); so sehen wir, wie
schon früher erwähnt, dass diese Einrichtungen blos Differenzirun-
gen einer allen Vertebraten zukommenden Anlage sind. Durch das
Auswachsen des Vorderhimes nach hinten (womit auch die grössere
Entwickelung des Gommissurensystems zusammenhängt) überlagert,
dasselbe das Zwischen-, Mittel- und bei manchen Säugethieren das
Hinterhim. — Man kann an jeder Vorderhirnhälfte drei grössere Ab-
theilungen, Lappen, unterscheiden. Es sind der vordere (fronto-paric-
tale), seitliche (sphenoidale) und hintere (occipitale) Lappen, welche
bei verschiedenen Säugethieren verschieden gross werden. Dieser Aus-
dehnung der Vorderhirnhälften folgen auch ihre Ventrikel. So kommt
es zur Bildung des vorderen, unteren und hinteren Homcs.
Am oberen Rande der sog. Sylvischen Furche findet sich ein Ab-
schnitt, der, wenn das Gehirn reich an Falten ist, ganz zwischen den-
selben verborgen liegt.
Beitrag siir veigleleheiKlen Aiatooiie des Gjsbimes. 567
Er wurde von GmiTiouT Lobe central genannt, da er von den^drei
erstgenannten Lappen umlagert wird.
Dieser Lobe central soll nach Gratiolbt« etwas Charakteristisches,
Mos den affenartigen Säugethieren Zukommendes darstellen >).
Der Lobe central oder die Insula 6ndet sich jedoch auch bei den
übrigen Säugethieren (sowohl bei Carnivoren wie bei Wiederkäuern] ,
ist am deutlichsten bei Embryonen dieser Thiere, bei welchen nur die
Hauptwindungen entwickelt sind. Bei den Erwacjisenen bekommt der
Lobe central eine oberflächlichere Lage und ist wahrscheinlich deshalb
von den anderen Foraobem nicht erkannt worden.
Die weitere Differenzirung des Vorderhirnes besteht in der Falten-*
bildung.
Was die Entwickelung der Windungen betrifft, so bin ich durdi
meine auf embryologischem Wege gewonnenen Resultate zu anderen
Ansichten gekommen als Lburet'') und Gratiolbt ^j, die sich mit diesen
Bildungen beschäftigt haben. Sie nehmen mehrere selbständige Typen
von Hirnwindungen an.
Man kann aber nachweisen, dass sämmtliche, wenn auch noch so
complicirte Windungsbildungen auf einen gemeinschaftlichen
Grundtypus reducirt werden können, weil die embryonale
Anlage der Hauptwindungen bei sämm tliohen dieselbe ist^).
Zwischen- und Hittelhim zeigen auch bei Säugethieren eine enge
Verbindung; das Zwischenhirn behält im erwachsenen Säuge-
1) PiERU Gratiolit, Anatomie ct>mpar^e dusystdmc ncrveux 1857. T. II. p.H2.
Z) Anat. comp« da syst, nerveux 4889. T. I.
8) Memoire sur les plis c^r^braux de I'homme et des primates. p. 111.
4} Der Forscher , der sich am meisten mit den Hirnwindungen bei StfugeUiie-
ren beschäftigte, war Leurkt; er wie auch die übrigen Forscher benutzten bei
ihren Untersuchungen blos Gehirne erwachsener Sttugethiere, und indem sie die
Entwickelung der Windungen vemachlfissigten , gelangten sie nicht tum Auffinden
einer Grundform, die fUr alle Windungstypen gelten könnte. Sie musslen sich des-
halb begnügen mit dorn Feststellen von homologen Windungen blos für elnielae
S&ugetbiorgruppen und kamen dadurch zur Annahme mehrerer Windungstypen.
— Bei meinen Untersuchungen bemühte ich mich, die Entwickelung der Windun-
gen zu studiren. So fand ich auch , dass bei allen Säugethieren die primHren Fur-
chen dieselben sind oder dieselben Beziehungen zu einander zeigen. Dieser em-
bryologische Weg ist auch der einzige zum Auffinden wirklich homologer Furchen,
weil aus einer gemeinschaftlichen Anlage durch verschiedenes Wachsthum die eln-
zeliien Furchen sich in einem Falle besonders ausbilden, im andern fast voll8tän<tig
in den Hintergrund treten und so verschiedenartige Differenzimngsreihen darstel-
len, die mehr oder weniger den Windungstypen Lbytret's entsprechen, aber durch
die gemeinschaftliche Anlage im Zusammenhang stehen.
56S ^ HiUuebo-Maetoy,
thiergehirn eine bedeutende Grösse, dagegen triUr das MiUelhira sehr
zurttck und wird bei höheren Säugethieren fast rudimentSir.
Der Riss der Deckendes Zwischenbiroes tritt sehr zeitig aaf» als
Rest derselben kann man mit Bestimmtheit die Habenulae und die sog.
Commissura posterior ansehen.
Ob auch die Epiphysis als Rest der Zwischenhimdecke gedeulei
werden kann, konnte ich nicht entscheiden.'
Die Commissura moUis ist wahrscheinlich eine seoundäre Bildung,
sie tritt erst bei Säugethieren auf und fehlt dem embryonalen Zwischen-
hirn, wo die sog. Zwischenhirn -Ganglien (Thalami optici) noch niobt
verbunden sind ^) .
Das Mittelhirn ist bei den Säugethieren verhältnissmässig klein,
besonders aber bei affenartigen Sftugethieren ; grösser findet es sich
bei Beutelthieren , bei welchen auch die grosse Höhlung des embryo-
nalen Mittelhirns nicht auf den unansehnlichen Aquaeductus Sylvii, wie
bei höheren Säugethieren reducirt wird. Die cbarakterisüschen Aus-
buchtungen des hinteren TheUs des Mittelhirnventrikels (die bei Sela-
chiern, Amphibien, Vögeln sich finden] fehlen bei Säugethieren, wenig-
stens im Jugendalter, nicht.
Das Hinterhirn erlangt bei den Säugethieren eine bedeutende
Entfaltung, geht aber eine andere Differenzirung ein, als das der Repti-
lien und Vögel. Während dort der mittlere Abschnitt (Wurm) beson-
ders entwickelt ist, sind es die seitlichen Theile (sog. Hemisphären]
des Hinterhirnes, die hier zur Entfaltung gelangen.
Wenn wir die Hirnbildungen der Säugethiere kurz überblicken,
so finden wir, dass bei diesen das Vorder- und Hinterhirn sich
besonders entfalten, während das Zwischenhirn und vor
allem das Hittelhirn sehr reducirt wird.
Aus dem vorher Besprochenen kommen wir zum Schluss, dass aus
einer gemeinschaftlichen Anlage die Gehirne der verschiedenen Wirbel-
tfaierclassen verschiedenartige Differenzirung eingehen,
1) Trotz der oben ausgesprochenen Ansicht über die Bildung der Gomm. mol-
lis bei Säugethieren betrachte ich diese Frage als eine offene. — Es könnte dennoch
sein , dass die Corom. moll. ein Rest einer primären Verbindung wäre (der Decke
des Zwischenhirnes z. B.). Dafür hatte eine Beobachtung gesprochen : bei einem
Handsembryo schien mir die Gomm. moll. mit der sog. Gomm. post. verbunden lu
sein und so eine Decke des Zwischenhirnes zu bilden ; die Zahl der mir bekaonieo
Facta sprechea jedoch für die oben mitgetheilte Ansteht, an welche ich mich noch
jetzt anschliessen rouss.
Beitrag tor rergleicIieiideB ADatonie des GeJMiles. 569
t'
indem in einer Abtheilung gewisse BirnabschniHe zur Entfaltung kom-
men, die in einer anderen Thiei^ruppe nursehr wenig oder ganz an-
ders differenzirt sind. Oder kurz ausgedrückt, die Gehirne verschie-
dener Wirbelthierabtheilungen sind einseitige Differenzirungen
einer gemeinschaftlichen, allen Vertebraten zukom-
menden Anlage.
Da aber diese Differenzirungen verschiedenartige sind , so können
wir keinen gemeinschaftlichen Maassstab fttr die Gehirn-
entwickelang der verschiedenen Wirbelthiergruppen aufstellen und
deshalb scheint es mir vollkommen unberechtigt, in der Entfaltung
Eines Himabschnittes (z. B. des Vorderhirncs) oder in der Näherung
zum Säugethiertypus einen solchen zu suchen.
Diese auf morphologischem Boden gewonnenen Resultate dürf-
ten auch der Physiologie von Interesse sein , sie könnte daraus Urnen,
dass auch im Gehirne die homologen Theile keine Analoga sind und
dass auch in einer Differenzirungsreihe die Homologa selbst in einem
Falle indifferenter, /im andern differenzirter sein können,
(Mittelhirn bei Amphibien und Vögeln z.B.); dass «lusserdem die homo-
logen Theile verschiedenartige Differenzirung eingehen können
)Mittelhim der Vögel und Säugethiere z. B.).
Auch die Psychologen könnten daraus erfahren, dass die DiffTcren-
zirung des centralen Nervensystemes bei den Vertebraten keine Stu-
fenleiter darstellt, auf der das menschliche Gehirn den allseitig voll-
kommensten Zustand bildet, indess die übrigen Thiere mehr oder we-
niger Ausbildungsgrade ^] vorstellten; dass also der Unterschied
der Gehirnbildungen kein blos quantitativer, sondern
auch ein qualitativer ist und dass die verschiedenartigen Gehim-
formen selbständige Differenzirungen einer allerdings gemein-
schafUichen Grundlage bilden.
Jena, den U.Juli 4868.'
1) Dieser Ansicht passien die Resoliate, zu denen der verdienstvolle TiEDiUAvif
durch die Vergieichung der Hirnbildttogen der Vertebraten gekommen ist ; er resu-
mirt sie folgeudermassen : dass das Hirn im Embryo und Fötus (beim Men-
schen] die Hauptbildungsstttfen durchlfiuft, worauf das Hirn der Thiere das ganze
Leben hindurch gehemmt erscheint (Tiedinavii , Anatomie und Bildungsgeschichte
des Gehirnes im Fötus des Menschen nebst vergleichender Darstellnng des Hirn-
baues bei den Thieren. Nürnberg 4849. p. VI).
Ich brauche diese Ansicht nicht zu widerlegen und erwtthne sie blos deshalb,
weil sie meines Wissens die einzige allgemeine Betrachtung der HirnbiMungen bei
Vertebraten» die von competenter Seite ausgesprochen, ist und die noch scheinbar
viele Anhänger besitzt.
IJebw die BiMug der AetJiylessigsäve us Aethyldiaeetoäwre
von
A. Oeufher.
Bereits im Jahre 1865 habe ich, gestützt auf meine Untersuchungen
über die Einwirkung des Natriums auf Essigäther die von FRAifKLANo
und DuppA durch Wechselwirkung von lodaethyl und dem unmittel-
baren Product jener Reaction (ein Gemenge von aethyldiacetsaureni
Natron und Natriumalkoholat] erhaltenen Äether der Aethylcssigsäure,
der Diaethylessigsäure und der Diaethyldiacetsüure für secundäre
Producte erklärt^). Ich habe damals gezeigt, wie sie aus dem Natron-
salz der Aethyldiacetsäure und Natriumalkoholat und später iSdö^)^
wie sie aus letzterem und dem Aether der Aethyldiacetsäure hervor-
gehen können. Darauf habe ich \ 868 durch neue Gründe diese Ansicht
zu stützen versucht und dabei erwähnt, dass bei der Bildung der
Aethylessigsäure aus Natriumalkoholat und Aethyldiacetsäure Aether
der bei den Versuchen von Fr. und D. gleichzeitig anwesende Essig-
äther mit betheiligt sein kann ^) .
Es lassen sich dann bei zwei verschiedenen Mengenverhältnissen
drei Arten der Einwirkung denken :
I. C6H»(C2II5)03 + 2C2H5NaO -h 2G^Ü^CnV]0^ =
= C4H7(C2H5)02 4- C6Hii(C2Hs)02 -h 2C2H^Na02 -§- C^H'^O.
IL C«H«(C2H5)0« -f- C2mNaO + C2H3(C2H5)02 =
= C^H«'(G2Il"i)03 -f- C2H60 + C2IPNa02.
III. CölP(C2Ii5)03 4- C2H5NaO + C2H3(C2H5)02 s=
« 2C^H7(C2U5)02+ C2H^Na02.4)
Ich habe Versuche mit beiden Mengenverhältnissen angestellt.
i) Diese Zeitschria Bd. II p. 449.
2) Ebend. Bd. III p. 298 u. Zcilschria f. Chemie N. F. Bd. II p. 444
3) Zeitschrift f. Chemie N. F. Bd. IV. p. 60.
4) O s 46.
Deber die BiMaiig der AetbytesstgsJltire ans AethyMiaAtsiliire. 571-
1. Versuch: Angewandt wurden 43 grm. ganz reiner Aethyl-
diacelsttum-Aeiher (4 Mgt.), 45V2 grm. Essigttiher (% Mgt.) und 441/2
grm. Nairiumalkohoiai [t Mgl.).
Auf das in einem Wasserstoflblroni bereitete und darin durch
schlieaslidies Eriutcen bis 4 40^ völlig vom Alkohol befreite Natriumalko-
holat wurden die beiden Aether gegossen, zuerst der Aethyldiacetsäure-
Aetber und dann der Essigsäure-Aether und das Rohr zugeschmolzen.
Unter Wärmeentwicklung, die schon begann, als der erstere Aetber noch
allein mit dem Natriumalkoholat zusammen war, löst sich beim Um-
schtttteln allmählich der grössteTheil des Natriumalkoholats, dabei tritt
eine schwache Gelbfärbung und geringe Absdieidung von essigsaurem
Natron ein. Als die völlige Lösung des Natriumalkoholats durch gelinde
Wärme bewirkt worden war, wobei die Abscheidung von essigsaurem
Natron zunahm, blieb nach dem Kaltwerden Alles in Lösung. Das Rohr
wurde nun 4 Y2 Stunde auf 4 40® erhitzt. Dabei fand reichliche Bildung
von essigsaurem Natron statt, die sich beim weiteren Ssttindigen Er-
hitzen auf 420<> noch vermehrte. Der flüssige Inhalt hatte eine röthlich-
gelbe Farbe angenommen. Beim Oefihen des Rohrs war kein Druck
zu bemerken. Der Inhalt wurde mit wasserfreiem Aether in einen
Cylinder gespült und , da die Hasse sehr voluminös breiig geworden
war und ein Filtriren nicht gestattete, zudem auch alkalische Reaction
besass mit der für das angewandte Natrium sich berechneten Menge
reiner Essigsäure (verdünnt mit dem doppelten Volumen Wasser] ver-
setzt und durchgeschüttelt. Dabei löste sich Alles und das Ganze trennte
sich in eine wässrige und eine ätherische Lösung. Die letztere hinter-
Hess nach dem Abdestilliren des Aethers und noch vorhandenen Essig-
äthors im Wasserbade eine gelbgefärbte Flüssigkeit, welche der fractio-
nirten Destillation unterworfen wurde. Es wurde gesammelt der zwi-
schen 445 und 435<), der zwischen 435 und 475^ und der zwischen 475
und 495<^destiUirendeTheil. lieber 495<> ging fast nichts mehr über
und in der Retorte blieb eine dunkle harzartige Masse. Die beiden
ersten Portionen wurden zur Entfernung von überschüssiger Essigsäure
wiederholt mit Wasser und später mit kohlensaurem Natron gewaschen.
Da vorzüglich das erstere Product einen dem Buttersäureäther
ähnlichen Geruch besass , es aber noch unveränderte Aethyldiacet-
säure beigemengt enthalten konnte, so wurde mit dieser, sowie mit der
2. Portion so verfahren , wie FaAifKLAin> und Dippa i) es angeben , sie
wurde nämlich einige Zeit mit Barytwasser gekocht. Freilich wurde
vermuthet, dass dabei auch ein mehr oder weniger grosser Theil von
4) Annal. d. Chem. a. Pharm. Bd. 188. p.ssi.
572 L Geftttoi
Aethylessigsäure-Äether, wenn solcher entsland^n war , mit zersetzt
werden würde, was die nachfaerige Untersuchung der wässrigen Flüs-
sigkeit völlig bestätigte. Das nach dieser Behandlung übrig gebliebene
und mit den Wasserdämpfeh überdestiHirte, auf Wasser sdiwimmende
ölförmige Product der 1 . Portion wurde nach dem Trocknen ttberClilor-
calcium abermals fractionirt. Der grösste Theil ging zwischen 14 9 und
130^ über, ein kleinerer zwischen 140 und 450^ Das zwischen 4 49
und 4 22<^ Destillirende, welches einen ganz ähnlichen nur angenehme-
ren Geruch , wie der Buttersäure- Aether besass, gab bei der Analyse
folgende Zahlen :
0,4738 grm. lieferten 0,3744 grm. Kohlensäure und 0,4649 grm.
Wasser, entsprechend 0,402027 grm. s 58,7 Proc. Kohlenstoff und
0,048322 grm. == 40,5 Proc. Wasserstoff.
Der Aethylessigsäure-Aether verlangt: 62,4 Proc. Kohlenstofl* und
40,3 Proc. Wasserstoff.
Um die Verbindung im reineren Zustande zu erhalten, wurde die
geringe übrig gebliebene Menge nochmals rcctificirt und das zwischen
4 49 und 422^ DestiUirende abermals analysirt.
0,2039 grm. gaben 0,4272 grm. Kohlensäure und 0,4955 grm.
Wasser, entsprechend 0,4 4 651 grm. =5 57,4 Proc. Kohlenstoff und
0,024722 grm. » 40,6 Proc. Wasserstoff.
Das zwischen 4 40 und 150® Destillirende wurde gleichfalls ana>
lysirt :
0,4749 grm. davon gaben 0,3852 grm. Kohlensäure und 0,4702
grm. Wasser, was 0,4 0506 grm. s= 61 ,4 Proc. Kohlenstoff und 0,04894 4
grm. as 44,0 Proc. Wasserstoff entspricht.
Der bei 4 54 0 siedende Diaethylessigsäureaether verlangt: 66,7 Proc.
Kohlenstoff und 4 4,4 Proc. Wasserstoff.
Da also seine Producte durch fractionirle Destillation der geringen
Substanzmenge wegen nicht zu erhalten waren und die Untersuchung
der, nach dem Kochen mit Barytwasser übrig bleibenden wässrigen
Flüssigkeil, als sie mittelst Kohlensäure vom überschüssigen Baryt be-
freit worden war , ergab , dass sie ein nach dem Eindampfen (zuletzt
über Schwefelsäure) in breiten Nadeln wasserfrei kryslallisirendes, in
Wasser loicht lösliches Barytsalz (1.) enthielt, welches nicht essigsaurer,
sondern fast reiner aethylessigsaurer Baryt war — es enthielt 28, 6 Proc.
Kohlenstoff, 4,7 Proc. Wasserstoff und 43,0 Proc. Baryu^i — , so wurde
der übrig gebliebene Theil des zwischen 4 49 und 425^ sowohl, als des
zwischen 425 und 4 50 ^ Ueberdestillirlen mit Barythydrat im lieber-
schuss in Röhren eingeschlossen und im Wasserbade bis zur völligen
Zersetzung des Aethers erhitzt. Bei der zweiten Portion vornehmlich
Ueber die Bildnng der Aelhylessigslnre aos Aetlyldia^tsftare. 573
blieb ein Theil eines öKgen Körpers unzersetzt , welcher mit Wasser-
dttinpfen ttberdestillirt und nach dem Entwässern über Chlorcaicium
analysirt wurde. Seine Bfenge war nur sehr gering , sie wurde ganz
zur Analyse verbraucht, sein Siedepunct lag bei etwa 1 50 ^
0,0884 grm. gaben 0,2004 grm. Kohlensäure und 0,0889 grm.
Wasser, entsprechend 0,054655 grm. as 66,3 Proc. Kohlenstoff und
0,009878 grm. = 42,0 Proc. Wasser.
Damach könnte es noch etwas wasserhaltiger, durch Barytwasser
schwerer zersetzt werdender Diaethylessigsäure-Aether, dessen Siede-
punct bei 4 51 <^ liegt, gewesen sein. Derselbe verlangt nämlich 66,7
Proc. Kohlenstoff und 41,4 Proc. Wasserstoff. Aus den erhaltenen wüs~
serigen Lösungen wurde der ttberschtlssige Baryt mittelst Kohlensäure
entfernt und nach dem Eindampfen , zuletzt über Schwefelsäure , die
Salze in breiten Nadeln krystallisirt erhalten.
Das aus der von 4 49 und 425® destillirten Portion erhaltene Baryt-
salz (11.) ergab bei der Analyse die folgenden Zahlen :
0,2422 grm. lieferten 0,4563 grm. Barytsulfht, entsprechend 0,949
grm. as 43,3 Proc. Baryum.
0,3433 grm. lieferten 0,3324 grm. Kohlensäure und 0,4407 grm.
Wasser, entsprechend 0,090656 grm. » 26,4 Proc. Kohlenstoff und
0,045633 grm. oa 4,6 Proc. Wasserstoff. Dazu noch der an Baryt ge-
bunden bleibende Kohlenstoff: 3,8 Proc, macht in Summa 30,2 Proc.
Kohlenstoff.
Das aus der zwischen 425 und 450<^ destillirenden Portion erhal-
tene Barytsalz (111.) ergab einen Baryumgehalt von 44,9 Proc.
«rii ain Aaftk vIaaa ltt#
gefanden
Baryamdiaetliylacetal
ber.
y uuiaoiu j WHX? Hl »
ber.
I. II.
III.
C* - 30,8
28,6 30,8
—
39,2 SS C«
H'- 4,5
4,7 4,6
—
6,0 = U»
Ba s 44,1
43,0 43,3
41,9
. 37,3 « Ba
02 » 20,6
— —
—
47,5 a 02
400,0 400,0
Aus dieser Zusammenstellung ergiebt sich also mit Sicherheit, dass
das Barytsalz 11. wirklich aethyldiacetsaurer Baryt war und
demzufolge die ursprünglich erhaltene zwischen 449 und 422^ destil-
lirende Flüssigkeit zum grOssten Theil aus Aethyldiacetsaure-
Aether bestand, dass also Aethyldiacetsäure-Aether durch
Natriumalkoholat unter Mitwirkung von Essigsäure-
Aether wirklich in Aethyldiacetsäure-Aether überge-
führt werden kann.
574 A* (tMOlwr,
Nicht ganz sicher ist, ob audi 0iaelhylessig8äure-*Aeiher
mit entstanden ist, obwohl die Analyse der beim Behandeln mit B«r> l-
hydrat übrig bleibenden Flüssigkeit, sowie der geringere fiaryumgefaali
des Salzes 111., welcher einem Gemisch von aethyl- und diaelhylessig-
sauren Barvt zukommen wttrde, auf seine Anwesienheit Biemlieli sieber
hinweist. Seine Menge würde indess im Verhältnias au der des ent-
standenen Aethylessigsäure-Aethers immerhin nur unbedeuland zu
nennen sein.
Diaethyldiacetsäure-Aether ist wahrscheinlich gar nicht
vorhanden gewesen, denn dieaer destillirt zwischen 240 und ^4*2^:
es war aber schon bei 1 95 <^ alles DestilUrbare übergegangen und bei
wiederholter Rectification der Portion 4 50 — 1 95 ^ ging fast alles zwi-
schen 175 und 180® über, indem ein geringer, beim Erkalten krystal-
lisirender Rückstand von Dehydracetsäure (der Schmelzpunci und
das übrige Verhalten der Säure stimmte genau) blieb. Das zwischen
175 und 1 80 0 Destillirle war nur Aethyldiaoetsäure, ohne den angc^
wandten Aether derselben, denn beim Behandeln derselben mit Bary t-
hydrat in der Wärme wurde nur Aceton, kein Aetiiylaceton erhalten.
2. Versuch: Es wurden angewandt : 20 grm. Aeihyldiaoetsaure-
Aether (1 Mgt.)» 12 gi*m. Essigaether (1 Mgt.) und 8V2 grm* Natrium-
alkobolat (1 Mgt.}, und im üebrig^n wie im 1. Versuch verfahren. Das
Verhallen war entsprechend. Die Menge essigsauren Natroos» weJefae
sich nach dem Erhitzen des Rohrs auf 120 ^ gebildet hatte, schien eiwas
geringer und die Färbung des Inhalts war etwas i*tfthIioher ab im
1. Versuch. Nachdem der Röhreninhalt mit Aether in einen GyUnder
gespült und mit der für das angewandte Natrium berechneten Menge
reiner Essigsäure (mit dem doppelten Volum Wasser verdünnt) versetzt
war, wurde die Htherische L6sung im Wasserbade vom Aether befreit.
Der dabei bleibende flüssige Rückstand, Welcher bedeutender war, als
im 1 . Versuch , wurde sofort wiederholt mit Wasser und nachlier mit
reiner Sodalösung gewaschen, darauf entwässert, wiederholt fractionirt
und zunächst das zwischen 118 und 130<^, das zwischen 130 und 160<^,
das zwischen 160 und 175^ und das zwischen 175 und 200^ Destilii-
rende je für sich gesammelt.
Die Menge des aus der I. Portion erhaltenen zwischen 119 und
123^ Destillirenden war etwa noch einmal so gross , als im 4 . Versuch
und betrug circa 8 grm. Das zwischen 118 und 1 19<>,6 und das zwi-
schen 119<^,5 — 121 <> daraus durch Destillation erhaltene wurde je für
sich gesammelt und analysirt.
Sdp. 118—1190,5.
0,223 grm. gaben 0,4931 grm. Kohlensäure und 0,2a82.grra. Was-
Ueber die BiUa^g to Mii]flM8igiliie wb AelkyMiileetsllare. 575
ser, entsprechend 0,13448 grm. » 60,3% Kohlenstoff und 0,023133
grm* SS 40,4 Proc. Wasserstoff.
Sdp. 4 49,5—4210.
0,4834 grm. gaben 0,4085 gnn. Kohlensäure und 0,4795 grm.
Wasser, entsprechend 0,44444 grm. == 60,8 Proc. Kohlenstoff und
0,04946? grm. =s 40,5 Proc. Wasserstoff.
«
Dieses Product, welches in seinen sonstigen Eigenschaften voll-
kommen mit den betreffenden des 4 . Versuchs übereinstimmte, ist also
fast reiner Aethylessigsäure-Aether. Es konnte hier, da seine
Menge bedeutender als im 4 . Versuch war, durch fractionirte Destilla-
tion in reinerem Zustande als dort erhalten werden.
Aethylessigsättre-
Aether
ber.
4. Versuch
%. Vereuch
C«s= 62,4
58,7 57,4
60,3 60,8
H«= 40,3
40,5 40,6
40,4 40,5
02= 27,6
— —
— —
400,0.
Ich habe es nicht fdr nOthig gehalten , auch hier wieder, wie es
beim 4. Versuch geschehen ist, aus dem Aether das Barytsalz der Aethyl-
essigsaure darzustellen, da dieses dort schon bei einem nicht so reinen
Product wie hier rein erhalten worden war.
Aus der zwischen 4 30 und 4 60 0 destillirenden Portion wurde das
von 4 50 — 4 OO^' übergehende gesammelt und mit überschüssigem Bar>tr-
hydrat und Wasser im verschlossenen Rohr bei 4 00 ^^ zersetzt. Es bil-
dete sieh viel kohlensaurer Baryt. Die nach dem Entfernen dos über-
schüssigen Baryts durch Kohlensäure erhaltene Flüssigkeit lieferte nach
dem Eindampfen , zuletzt über Schwefelsäure ein amorphes , durch-
sichtiges, inJWasser sehr leicht losliohes Salz, dessen Analyse folgendes
Resultat ergab.
0,3424 grm. gaben 0,2362 grm. Baryumsnlfat, entspr. 0,43888
grm. aa 44,5 Proc. Baryum. Ferner lieferten 0,4899 grm. desselben
0,4404 grm. Kohlensäure und 0,482 grm. Wasser, entspr. 0,420409
grm. »'24,5 Proc. Kohlenstoff und 0,020222 grm. ss 4,4 Proc. Was-
. serstoff. Dazir kommen noch 3, 9 Proc. Kohlenstoff, der an Baryum ge-
bunden zurüdiblieb, also in Summa 28, 4 Proc. Kohlenstoff.
Darnach scheint diess Salz der Hauptsache nach aethylessigsaurer
Baryt gewesen zu sein, gemengt wahrscheinlich mit etwas essigsaurem
Baryt; diaethylessigsauren Baryt kann es nicht wohi enthalten haben.
576 ' A* CSMtker, MMmg der Aethytetslgtlm.
Baryomaethylacetat
ber.
gef.
Barynaiaeetat
ber.
C* = 30,8
28,4
18,8
W = 4,5
i.1
8,»
Ba » 44,1
44,5
53,8
0« = 20,6
25,0
100,0 , 100,0
Wfliiim das Salz nicht krystallisirt erhallen werden konnte, selbst
nach wiederholtem langsamen Eindunsten seiner Lösung ttber Scfai^e—
felsfture, und auch, nachdem es aus der Portion , welche zur Baryt-
bestimmung verwandt (durch Neutralisation des vom schwefelsauren
Baryt abgelaufenen Filtrats mit kohlensaurem Baryt), wiedergewonnen
worden war, vermag ich nicht anzugeben.
Eine Bildung von Diaethylacetsäure-Aether konnte in diesem Ver-
such also auch nicht in geringer Menge stattgehabt haben. Ebensowenig
scheint Diaethyldiacetsäure-Aether entstanden zu sein, denn die über
1 80 <> siedende Portion verringerte sich nach wiederholtem Rectificiren
immer mehr, indem sie dabei in niedriger siedende Aethyldiacetsäure
und zurückbleibende , beim Erkalten krystallisirende Dehydracetsäure
zerlegt wurde. Als der letzte Rest dann mit Barythydrat und Wasser
bei 100® im verschlossenen Rohr zersetzt wurde, entstand viel gewöhn-
liches Aceton , aber nur eine Spur durch gesättigte Chlorcaiciumlösung
Abscheidbares, das, dem Geruch nach zu urtheilen, wohl Aethylaoeton
gewesen sein wird.
Die Umsetzung der Educte im 2. Versuch entspricht der eingangs
unter 111. aufgeführten möglichen Gleichung vollkommen, die Umsetzung
im I.Versuch dagegen scheint, zum Theil wenigstens, nach der unter
I., hauptsachlich aber auch nach der unter III. aufgeführten Gleichung
veriaufen zu sein. Da es mir hauptsächlich bei diesen Versuchen auf
den Nachweis der Bildung von Aethyl- oder Diaethyl-Essigsäure
aus Aethyldiaoetsäure ankam , so habe ich weitere Versuche , um die
günstigsten Bedingungen ihrer Bildung zu erfahren, nicht angestellt.
Nachdem ich also früher die Verwandlung des Essigäthers mit
Hülfe des Natriumalkoholats in aethyldiacetsaures^Natron kennen
gelehrt >) und eben die Umwandlung des Aethyldiacetsäure-Aethers mit
Hülfe des Natriumalkoholats und des Essigäthers in AethyTessig-
säure-Aether gezeigt habe, ist in e'xacter Weise dargethan, wie
man durch zwei einfache Reactionen von einer fetten Säure zu ihrer
Aethyl .... etc. Säure gelangen kann und es bedarf, glaube ich, nun-
mehr keiner weiteren Argumentation für meine Behauptung, sowohl
4 ) Diese 2eil8ohrift Bd. IV p. i4r.
* R. S. Sehultse, Ueber die n«rbenf5mil(^o Streifen in der HaiiNes Oberschenkels. 577
was die Constitution der Aetfayldiacetsäure boCrifft, als dafür, dass die
Aethyl- und Diaelhylessigsäure , sowie die Diaetbyldiacetsäure Zer-
setzungsproducte jener sind. Man wicd gleichzeitig auch darüber klar
werden, welcher Werth solchen Untersuchungen beizulegen ist, aus
welchen die Bildung des Natriumessigaethers herrorgehen soll ^).
Kleine Mittheilungen.
lieber die juurlieiftniigeM Streifei in der last des Ober*
B^ettkelfl.
Von
B. S. Sohnltse.
Bekanntlich enUteben wttbrend des letzten Drittels der Schwangerschaft , na-
mentlich der ertteo Schwangerschaft des Weibes, in der Hant des Bauches, meist
ungefähr parallel der Ingninalfalte verlaufend, röthlich durchscheinende, selten pig-
mentirte, kurze Stueifen, welche bald nach der Geburt ihr röthliches Ansehen verlie-
ren, als weissglfinzende Streifen permanent bleiben , und als solche namentlich bei
erneuter Ausdehnung des Unterleibes wieder in die Augen fallen. Dieselben rühren
von einem Auseinanderweichen der Faserzüge in den oberen Schichten der Cutis her
und ihre Entstehung wird der Spannung» welche die Haut des Unterleibes durch
die Schwangerschaft erleidet, zugeschrieben. Ganz gleiche Streifen entstehen be-
kanntlich auch bei Ausdehnung des Leibes durch anderweite Tumoren und auch
an der Haut anderer Theile wahrend subacut stattfindender bedeutender Schwellung
der von ihr umschlossenen Gebilde , so bei bedeutenden Oedemen, bei schneller
Entwicklung eines bedeutenden Pannioulus, bei bedeutender Volumszunahme der
Mammae.
Die Geburtshelfer wissen, dass die Entwicklung der genannten Streifen bei
manchen schwangeren Frauen früher, bei anderen spater, bei manchen spHrlich,
bei anderen sehr reichlich stattfindet, ohne dass die Bedingungen dieser Differenzen
in den einzelneo Fallen jedesmal nachweisbar waren , dass ferner in manchen FZI-
len erster Schwangerschaft auch bei bedeutender Ausdehnung und Spanirang des
Leibes keine Streifen sich entwickeln, dass in anderen Fällen dieselben fast den
ganzen Unterleib bedecken und sich bis auf die hintere Hautbekleidung des Unter-
leibes und des Beckens erstrecken.
Häufig finden sich die genannten Streifen auch an der Vorderfläche der
Oberschenkel. Diese Streifen am Oberschenkel sind auch in einigen Hand-
büchern der Geburtshilfe erwähnt, so bei SrÄra und bei Sgahzoni, welche beide sich
dahin aussprechen, dass die während der Schwangerschaft am Bauche entstehenden
Streifen sich In manchen Fällen bis auf die Oberschenkel erstrecken. In anderem
4) Siehe Wislickhus in »Tageblatt d. 4S. Versamml. d. Naturf. u. Aorzt« in
Dresden 4868« p. 185.
Bd. IV. 3. ■. 4. 87
578 '' B. S. SehalUe,
Sioae finde ich die Streifen am Oberschenkel nirgend , und nantentlicfa niiigeafl in
anderer Beziehung als zur Schwangerschaft erwähnt. Ich hielt danach \on vom
herein , und so wird es vielen Coikgen ergangen sein , die Streifen an den Ober-
schenkeln für Effect der Schwangerschaft, gerade so wie die Streifen am Bauche.
Es war mir nun auffallend, die Streifen am Schenke! weissglSnzend wie alte
Streifen zu finden bei Frauen, die offenbar zum erstenmal schwanger und am Bauch
nur mit neuen rothen Streifen versehen waren, ferner dfe Streifen am Schenkel bei
Schwangeren zu finden, bevor solche am Bauche entwickelt waren und endlich
auch bei weiblichen Individuen, die nach Anamnese und Befund offenbar nie gebo-
ren hatten , die Streifen s^n der Vorderfläche der Oberschenkel deutlich' a&twickell
zu seilen.
Es war danach offenbar, dass die Streifen am Oberschenkel wenigstens in einer
Anzahl von Fällen andere Entstehungsursachen als die während der Schwanger-
schaft -am Baüch entstehenden haben. Um diesen anderen Ursachen auf die Spar
zu kommen, suchte ich zunächst die Gelegenheit, eine grössere Anzahl nicht-
schwangerer Frauenzimmer, bei denen auch durch genaue Untersuchung constatirt
werden durfte, dass sie nie geboren hätten, auf die Streifen am Schenkel zu unter-
suchen und fand dieselbe auf den Abtheilongen für Syphilis an grösseren Kranken-
häusern. Ich sage bei der Gelegenheit den Vorständen und dermaligen Assistenz-
ärzten auf den syphilitischen Abtheilungen der Prager, Wiener und Berliner Kran-
kenhäuser meinen verbindlichsten Dank für ihre geneigte Unterstützung , ebenso
auch den Herren Militärärzten, die mir das später zu erwähnende Untersuchung»-
material zugänglich machten.
Meine betreffenden Untersuchungen liegen mehrere Jahre zufück. Ich hatte
gehofft , dieselben zu einem mehr befriedigenden Abschlüsse fördern zu können,
finde es nun aber angemessener, die einstweilen gewonnenen Resultate zu ver-
öffentlichen.
Ich untersuchte in Berlin, Prag and Wien auf den genannten Abtheilunget; lis
Frauenzimmer im Alter von 45 bis 35 Jahren auf die Streifen am Schenkel. Aus-
geschlossen wurden von vom herein ältere Frauenzimmer, ferner selbstverständ-
lich schwangere und alle diejenigen , welche nach ihrer Angebe früher schwanger
gewesen oder nach dem Befund der Bauchhaut darauf verdächtig waren. Alle die-
jenigen , bei welchen sich Streifen an den Schenkeln vorfanden , wurden einer ge-
nauen Digitaluntersuchung unterzogen und auf Grund derselben wurde e i n Frauen-
zimmer, dessen Vaginalportion nicht ganz intact erschien , noch nachträgUch ge-
strichen. •
Somit umfasst meine Liste S22 Frauenzimmer im zeugungskräftigen Alter,
sämmtlich mit straffer, glatter, völlig narbenloser Bauchhaut. Es kamen
deren zur Untersuchung in Berlin 68 . • -
in Prag 47
in Wien 60
(2 Jahre später) in Wien 47
Summa 222
VoD diesen 222 zeigten die bekannten Streifen an der Yorderfläche des Ober-
schenkels in Berlin 23
in Prag 49
In Wien 4 5
in Wien 23
Summa SO
Ueber die narbenf5rmigen Streiffo in der Hunt des OtJ^schenkels. 579
Diese 80 zeigten auch bei genauer Digifcaluntersucjlting nicht den leisesten Ver-
dacht auf früher stattgehabte Schwangerschaft.
Also von Frauenzimmern, die sicher ni^Tlil vorgerückterem Stadium der
Schwangerschaft sich befunden hatten, 2ef|tMl 36 % die narbenartigen Streifen an
der Vorderfläche der Oberschenke).
Wie oft bei den zu meiner Beobachtung gekommenen Schwangeren Schenkel-
streifen bestanden, habe ich zu notiren leider versäumt. An einer grossen Anstatt,
wie z. B. in Wien, k^n übrigens in einem Monat die nöthige Beobachtungszahl
beigebracht werden / die ich erst in Jahren beizubringen im Stande sein würdei
und ich4)iUe die CoHegen Braun und SpXtb , zu constatiren , wie oft die Schenkei-
streifen bei Hochschwangeren vorkommen. Es wird sich daraus in Vergleichung
BMt meinen Zahlen ergeben , ob Schwangerschaft überhaupt ein bedeutendes Con-
tingent zu den Füllen, in welchen Schenkelstreifen bestehen, stellt.
Der Umstand, dass jedenfalls über Vd der nie hochschwanger gewesenen Wei-
ber die Schenkelstreifen zeigten , legte die Frage nahe , ob denn e^wa andere dem
Weibe eigenthümliche Vorgänge in ursächlicher Beziehung zu deren Entstehung
ständen, oder ob bei Männern etwa gleich oft die Streifen am Schenkel vorkämen.
Gruppirung der %%% beobachteten und der 80 mit Schenkelstreifen behafteten '
Frauenzimmer nach Wohlbeleibtheit, AHer, Menstmationsdaoer und anderen ana-
mnestisch zu ermittelnden Umständen ergab so wenig Anhalt für Vermuthung ü'ber
die Ursachen der Schenkelstreifen, wie a priori zu erwarten war, und es wäre völ-
lig ohne Belang, die so gewonnenen Listen hieherzusetzen.
Männer im kräftigen Alter untersuchte ich 445 :
4 30 syphilitische im altgemeinen Krankenhaus,
88 kranke im Josephinum,
498 gesunde, meist sehr wohlgenährte Steircr in einer Kaserne,
29 Mann von einer Flügelcompognie.
Die Streifen am Oberschenkel fand ich bei den genannten Gruppen von Männern
hei den 4 30 6mal
- - 88 5nial
- - 498 8mal
- - 29 8mal
in Summa bei 445 27mäl.
Die narbenartigen Streifen am Oberschenkel finden sich also viel seltener bei
Männern (O^/o) als bei Weibern, die nie hochschwanger waren (SSO/g). Es ist auch
zu bemerken , dass , während die Streifen bei den Weibern ziemlich ausnahmslos
senkrechte Richtung , von der Spina ant. sup. oss. Hei fast gerade abwärts, haben,
dieselben bei den Männern weit weniger constante Richtung hatten, auch spärlicher
waren und dass namentlich bei den 8 von den 29 Flügelmännern die Streifen wei-
ter rückwärts am Schenkel gelegen waren und fast quere Richtung hatten.
Wenn wir bedenken , dass wit die narbenartigen Streifen in der Haut da , wo
wir sie auf ihre Ursachen zurückführen können , entstehen sehen durch Dehnung
der Haut in Folge schnellen bedeutenden Wachsthums der von der Haut umschlos-
senen Gebilde und dass wir sie meist entstehen sehen in senkrechter Riditnng auf
diejenige, in welcher die Dehnung vorwiegend stattfand, so z. B. während der
Schwangerschaft parallel der unteren Grenze des Bauches^, wenn wir dieThatsachen
zusammenhalten, dass bei mannbaren Weibern, deren Bauch keinerlei Spuren frlk-
her stattgehabter Ausdehnung zeigte, in 16 o/^ längsverlaufende Streifen an der Vor-
derfläche der Oberschenkel sich fanden, während von Männern nur oo/^ ähnliche
87«
580 B. S. Sehultze, Ue&er die narbeüföroiij^n Strfit'co iu der Haut des Oberschenkels.
Streifen und von minder conslanter Richtung, auffnliend lange Münner aber in mehr
als 25 o/o solche in querer Richtung zeigten, ferner dass bei Weibern sur Zeit der
.Paberttttsentwickelung ein anffaHemles Breitenwachsthom des K6rpen in der Hüft-
gegend stattfindet, welches in gleicherweise jedenfeils m<^t bei Münnem beob-
achtet wird: so liegt es sehr nahe, das auffallende Brei tenwacbsthum des Weibes
in der Hüflgegend in Beziehung zu setzen mit dem auffallend hfiufigen Vorkommen
Iflngsverlaufender Schenkelstreifen beim Weibe.
Das Breitenwachsthnm des Weibes in der Hüftgegend »^r Zeit der Pubertäts-
entwickelung ist zum grossen Theil bedingt durch Entwickeloog. eines sehr reich-
lichen Panniculus, zum gpossen Theil aber auch durch BreitenentwickeloDg des
Skelets dieser Gegend.
Die vorstehend mitgetheilten Beobachtungen geben mir nicht das Material, eia
festes Urtheil über die Bedingungen der Entwickelung der Schenkelstreifen zu ge-
winnen ; möglich , dass deren mehrere ziemlich gleich häufig ooncurriren. Wenn
ich aber erwäge, dass unter den von mir untersuchten liännem em starker Penni-
culus an den Schenkeln wohl mindestens ebenso häufig vertreten war als bei den
untersuchten Weibern, dass ich aber die längsverfaufenden Schenkelstreifen bei
Männern überhaupt nie so ausgeprägt wie bei den Weibern, und dass-ich Schenkel-
streifen bei Männern in SO/q, bei nie schwanger gewesenen Weibern in SS o/o fand,
dass femer die auflallend langen Männer auffoUend häufig Scheokelstreifen , aber
querlaufende zeigten , so muss ich weit mehr geneigt sein , die Entwickelung der
Scbenkelstreifen mit dem Skeletwachsthum als mit einem Wachsthum des Panni-
culus in Verbindung zu bringen.
Drnek to« Brtitkopf iia4 Htrt«l ia Ldpsifr.
Jcnmdie Xti/Hdirift Jf^ Bd.
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