Skip to main content

Full text of "Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft"

See other formats


Google 


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  prcscrvod  for  gcncrations  on  library  shclvcs  bcforc  it  was  carcfully  scannod  by  Google  as  pari  of  a  projcct 

to  make  the  world's  books  discoverablc  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 

to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 

are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  cultuie  and  knowledge  that's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  maiginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  flle  -  a  reminder  of  this  book's  long  journcy  from  the 

publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prcvcnt  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  lechnical  restrictions  on  automated  querying. 
We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  ofthefiles  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  fivm  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machinc 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  laige  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encouragc  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attributionTht  GoogXt  "watermark"  you  see  on  each  flle  is essential  for  informingpcoplcabout  this  projcct  and  hclping  them  lind 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  lesponsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can'l  offer  guidance  on  whether  any  speciflc  use  of 
any  speciflc  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  mcans  it  can  bc  used  in  any  manner 
anywhere  in  the  world.  Copyright  infringement  liabili^  can  be  quite  severe. 

Äbout  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organizc  the  world's  Information  and  to  make  it  univcrsally  accessible  and  uscful.   Google  Book  Search  hclps  rcadcrs 
discover  the  world's  books  while  hclping  authors  and  publishers  rcach  ncw  audicnccs.  You  can  search  through  the  füll  icxi  of  ihis  book  on  the  web 

at|http: //books.  google  .com/l 


Google 


IJber  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Realen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfugbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 
Das  Buch  hat  das  Uiheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nu  tzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  Partnerschaft  lieber  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.     Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.     Nie htsdesto trotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  veihindem.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 
Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  Tür  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  fürdieseZwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google-MarkenelementenDas  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppcn  zu  erreichen. 
Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter|http:  //books  .  google  .coiril  durchsuchen. 


Jenaische  Zeitschrift 


für 


(    *^f 


MEDICIN 


und 


NATURWISSENSCHAFT 

herausgegeben 
von  der 

medioinisch- naturwissenschaftlichen  Gesellschaft 

zu  Jena. 


Vierter  Band. 


Kit  sieben  Tafeln. 


Leipzig, 

Verlag  von  Wilhelm  Engelmann. 

1868. 


\ 


I  .     >  ■     • 


■*  •»«•■  ■ 


1  ^   ' 


#  •    ^ 


Inhalt. 


Genther»  A.,  lieber  Oxamid  und  Harnstoff.  Versuche  von  £.  ScheitK. 

J.  £.  Marsh  «nd  A.  Oeuther 1 

Ueber  die  Zu9ammen Setzung  der  Krystalle  Ton  Aethematron '^ 

Scheits,  Dr.  E.,  Ueber  die  Einwirkung  von  einfach  salzsaurem  Glycoläther 

auf  Mononatriumglycolat 1*^ 

Pfeiffer,  Dr.  L.,  Der  Typhus  in  der  Kaserne  zu  Weimar  von  1836—1867, 

mit  Berücksichtigung  der  anderen  gleichzeitigen  Epidemien 21 

Flemming,  Dr.  H.,  Ueber  einige  Thalliumverbindungen  und  die  Stellung 

dieses  Metalls  im  System 3^ 

G  egenb au r,  C,  Ueber  die  Drehung  des  Huttems.  (Taf.  I.) 60 

Häckel,  E.,  Monographie  der  Moneren.  (Taf.  II.  u.  III) 64 

Müller,  Wilhelm,  Beobachtungen  des  pathologischen  Instituts  zu  Jena  im 

Jahre  1866 145 

Beobachtungen  des  pathologischen  Instituts  zu  Jena  im  Jahre  1 S67  ..170 

Kirch  hoff,    Alfred,  Caspar  Friedrich  Wolff.    Sein  Leben  und  seine  Bct 

deutung  für  die  Lehre  von  der  organischen  Entwickelung 193 

Miklucho-Maclay,  N.,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Spongien  I.  (Taf.  IV. 

u.V.; 221 

Geuther,  A.,   Ueber  die  Einwirkung  des  Aethernatrons  auf  die  Aether 

einiger  KohlenstoffsAuren 241 

Theile,  Dr.  R.,  Ueber  Legumin 264 

Ueber  einen  neuen,  dem  Tyrosin  und  Leucin  ähnlichen  Körper.  (Mit 

3  Figuren  in  Holzschnitt.) 281 

Geuther,  A.,  Untersuchung  über  sauerstoffreiche  Kohlenstoffsäuren  .  .   .  28» 

L  Abhandlung.  Ueber  die  Einwirkung  concentrirter  Chlorwasserstoff- 

säure  auf  Weinsäure  und  Traubensäure  in  höherer  Temperatur.  Von  Dr. 

H.  Riemann 289 

Engelmann,  Dr.  Th.  W.  in  Utrecht,  Ueber  Reizung  der  Muskelfaser  durch 

den  Constanten  Strom.   (Mit  2  Holzschn.) 295 

Zur  Lehre  von  der  Nervendigung  im  Muskel 307 

Ueber  die  Flimmerbewegung.    (Taf.  VI) 321 

Seidel,  Dr.  M.,  Beitrag  zur  Lehre  vom  Ileotyphus.  (Taf.  VII) 480 

Pfeiffer,  Dr.  L.  in  Weimar,  Die  bisherigen  Erfahrungen  über  Trichiniasis 

und  Fleischbeschau  in  Thüringen 504 


IV  Inhalt. 

Seite 

Win  kl  er,  Dr.  N.  F.,  Ueber  Stellungen  des  graviden  und  puerperalen  Uterus  522 

Die  Zotten  des  menschlichen  Amnio« 535 

Schultse,  B.  6.,  Die  Flacentarrespiration  des  Foetus 541 

Mikluoho-Maclay,  Beitrag  zur  vergleichenden  Anatomie  des  Gehirnes. 

(Mit  3  Figuren  in  Holzschnitt] .  ¥orl&llfige  Mittheilung 553 

Geuther,  A.,  lieber  die  Bildung  der  Aethylessigsäure  aus  Aethyldiaoetsäure  570 


Kleinere  Mittheiloiigen. 

Oeuther,  A.,  Ueber  die  Constitution  der  log.  Homologen  der  BUufftttre 188 

Zwei  Notiien ', ' \  .  ,  .  139 

Sehnltie,  B.  S.,  John  Mayow  ftber  Apnoe  nnd  Flaeentarretpiration 141 

—  Zur  foreneisehen  Diegnoee  det  OeeehlechU. 813 

Oe  nthrer,  A.,  Ueber  die Conetitution  einiger  SilidnmTerbüidungeB  ond Einiget,  wu  rieb 

auf  dM  lüichiingtgewiebt  des  Silicium*  bedeht 313 

Schult xe,  B.  8.,  üeber  die  narbenfSnnigen  Streifen  in  der  Haut  dee  Obereebenkela    .  .  677 


Ilebw  Ounid  and  Harastoff. 

Versuche  von  S.  Scheitx,  J.  E.  larsh  und  A.  Cfeuther. 

Mitgetbeilt  von 

A.  Geuther. 


Die  Bildung  der  Amide  aus  Saure  und  Ammoniak  lässt  sich  durch 
folgende  Gleichung  ausdrücken : 

Saure  +  b  NU»  =  2.  b  fiO  -h  Amid, 
wobei  b  die  Zahl  bedeutet,  w^elche  die  Basicität  der  Saure  angiebt. 
Das  heisst:  für  je  1  Mgt.  Ammoniak,  welches  in  Verbindung  geht  treten 

5  Mgte  Wasser  aus.  In  Bezug  auf  den  Ursprung  des  Letzteren  sind 
zwei  Möglichkeiten  denkbar,  entweder  stammt  dasselbe  nämlich  aus 
Wasserstoff  und  Sauerstoff  der  Säure,  oder  aber  ist  es  aus  Wasserstoff 
des  Ammoniaks  und  Sauerstoff  der  Säure  gebildet  worden.  Die  erstere 
Auffassungsweise  ist  nur  möglich  für  Säuren ,  welche  wenigstens  2  b 
Wasserstoff  enthalten,  d.  h.  für  alle  einbasischen  Säuren  mit  wenig- 
stens  2  Mgtn.  Wasserstoff,  für  alle  zwei  basischen  Säuren  mit  wenig- 
stens i  Mgtn.  Wasserstoff,  für  alle  drei  basischen  Säuren  mit  wenigstens 

6  Mgtn.  Wasserstoff  u.  s.  f.,  während  die  andere  für  alle  Säuren  ohne 
Ausnahme  Anwendung  finden  kann ,  da  das  einwirkende  Ammoniak 
immer  mehr  Wasserstoff  enthält,  als  solcher  in  Form  von  Wasser  aus- 
zutreten hat.  Liesse  sich  nun  zeigen,  dass  die  erstere  Auffassungs weise 
für  jene  erwähnten  Säuren  die  am  meisten  berechtigte  sei ,  fände  bei 
ihrer  Verwandlung  in  Amide  nur  die  Auswechslung  gleicher  Volumina 
Wasser  gegen  Ammoniak  statt,  so  würden  diejenigen  Säuren,  welche 
diese  Auffassungsweise  nicht  zuliessen  als  eine  besondere  Glasse  von 
den  andern  zu  trennen  sein.  Für  diese  aber,  deren  Anzahl  bis  jetzt 
eine  sehr  geringe  ist  und  als  deren  Hauptrepräsentanten  bei  den 
Kohlenstoffsäuren ,  auf  die  es  uns  zunächst  hier  ankommt ,  die  Kohlen-> 

B«BdIV.  1.  4 


2  A.  Genther, 

säure  und  Oxalsäure  gelten  können ,  würde  eine  Amidbildung  nur 
durch  einen  gleichzeitigen  Reductionsprocess  möglich  sein 
oder  mit  andern  Worten  diese  Säuren  würden  nicht  direct  Amide  bil- 
den können,  sondern  erst,  nachdem  sie  in  Reductionsproducte  und 
zwar  stickstoffhaltige  übergeführt  worden  sind,  das  Carbamid  und 
das  Oxamid  wären  dann  nicht  die  Amide  der  Kohlensäure  und  Oxal- 
säure, sondern  die  Amide  der  Garbaminsäure  und  Oxamin- 
säure.  Da  nun  aber  das  Carbamid  und  das  Oxamid  von  der  Carbamin- 
säure  und  Oxaminsäure  in  ganz  derselben  Weise  sich  ableiten,  wie  alle 
übrigen  Amide,  nämlich  durch  einfache  Auswechslung  gleicher  Volu^ 
mina  Wasser  gegen  Ammoniak ,  so  würde  sich  als  allgemeines  Resultat 
ergeben ,  dass  eben  alle  Amide  aus  ihren  Säuren  auch  auf  diese  Art 
entstehen  könnten. 

Wir  sind  nun  der  Ansiebt,  dass  die  letztere  Auffassungsweise  der 
Amidbildung  die  am  meisten  berechtigte  sei ,  müssen  aber  den  Beweis 
dafür,  da  sich  derselbe  nicht  mit  einigen  Worten  geben  lässt,  sondern 
im  engsten  Zusammenhang  mit  der  Frage  nach  der  Constitution  der 
chemischen  Verbindungen  überhaupt  steht ,  für  jetzt  zu  liefern  unter- 
lassen und  unsere  Ansicht  vorläufig  als  Postulat  hinstellen. 

Est  ist  uns  nicht  bekannt,  ob  Jemand  schon  das  Oxamid  als  das 
Amid  der  Oxaminsäure,  wofür  seine  Bildung  aus  Oxaminsäureäther 
und  AoQmoniak,  seine  Verwandlung  in  das  Ammoniaksalz  der  Oxamin* 
säure  durch  Kochen  mit  ammoniakalischem  Wasser  oder  wie  wir  ge- 
funden durch  anhaltendes  Kochen  mit  blossem  Wasser  oder  beim  Er- 
hitzen mit  Wasser  im  verschlossenen  Rohr  auf  4  40^,  spricht,  dass  der 
Harnstoff  als  das  Amid  der  Carbaminsäure  betrachtet  werden  kann  ist 
neuerdings  noch  von  Kolbü  gezeigt  worden.  Es  erscheint  uns  aber 
auch  das  zunächst  nicht  von  Wichtigkeit,  wenigstens  nicht,  so  lange 
als  die  Oxaminsäure  und  die  Carbaminsäure  als  die  wirklichen  Amin- 
säuren  der  Oxalsäure  und  Kohlensäure  aufgefasst  werden  —  denn  das 
Amid  einer  mehrbasischen  Säure  ist  ja  nicht  blos  das  Amid  dieser, 
sondern  auch  das  Amid  ihrer  Aminsäure  — ,  von  Wichtigkeit  ist  zu- 
nächst vielmehr  zu  wissen ,  ob  die  Oxaminsäure  und  die  Garbamin- 
säure die  wahren  Aminsäuren  der  Oxalsäure  und  Kohlensäure  sind 
oder  nicht. 

Unsere  aus  dem  oben  Angeführten  sich  ergebende  Ansicht  ist  nun 
die,  dass  sie  das  nicht  sind,  vielmehr  stickstoffhaltige  Abkömmlinge 
von  Verbindungen ,  die  ihrerseits  erst  durch  einen  Reductionsprocess 
aus  der  Oxalsäure  und  Kohlensäure  hervorgingen ,  dass  es  s.  g.  Azo*- 
verbindungen  sind  oder  solche ,  in  welchen  Stickstoff  Wasserstoff  zu 
gleichen  Mischungsgewicbt^i    ersetzt  bat.     Es  erscheint   dann    die 


Deber  Oxamii  und  Rurustoff.  3 

Oxammsfiure  als  Azo-hydroxyessigsäure  (Azoglyoolsäure)  und 
das  Oxamid  als  Azo-hydroxyacetamid  (Azoglycocoll  oder  Azo- 
glycdamid),  die  Garbaminsäure' als  Azo-hydroxymethylalkohol 
und  der  Harnstoff  (Carbamid)  als  Azo-hydroxymethylamin. 


Essigsäure 

Hydroxyessigsäure 

Azohydroxyessigsflure 

(Glycolsäure^ 

(Azoglycolsäure) 

€2J3404 

€2fl406 

€2fl3J«)6 

Aceiamid 

Hydroxyacetamid 

Azohydroxyacetamid 

(GlycocoH) 

(Azoglycocoll) 

(Glycolamid) 

(Azoglycolamid) 

€2flöN02 

£m^o^ 

€2HW04 

Methylalkohol 

Hydroxymethylalkohol 

Azohydroxymethylalkohol 

(unbekannt) 

(Carbaminsdure) 

€flK)2 

€fi*0* 

€89(0« 

Methylamin 

Hydroxymethylamin . 

Azohydroxymethylamin 

(unbekannt) 

(Harnstoff) 

€8SN 

ۀ*N02 

€H^202 

Für  die  Oxaminsäure  und  das  Oxamid,  welche  sich  von  der  Car- 
baminsäure  und  dem  Harnstoff  in  der  Zusammensetzung  nur  durch 
€0^  unterscheiden  ist  aber  noch  eine  andere  Auffassungsweise  möglich, 
die  erstere  nämlich  als  Ameisen-Garbaminsäure  (Formylcarbamin- 
säure),  das  letztere  als  Ameisen-Harnstoff  (Formylhamstoff)  zu  be- 
trachten. 

Carbaminsäure  Oxaminsäure 

€fl3N0*  /GH3N0*\ 

\£0^       ) 

Harnstoff  Oxamid 

€H*N202  /€H*N202\ 

V€02        ) 

Fttr  diese  Auffassungsweise  konnte  geltend  gemacht  werden  die 
Zersetzung,  welche  das  Oxamid  nach  Williamson  i)  erleidet,  wenn  es 
mit  trocknem  Quecksilberoxyd  erhitzt  wird,  in  Harnstoff  und  Kohlen- 
säure nämlich  zu  zerfallen.  —  Die  Versuche,  welche  Herr  Sgebitz,  um 
dies  zu  entscheiden,  angestellt  hat,  haben  indessen  gezeigt,  dass  bei 
der  Einwirkung  von  Ameisensäure  auf  Harnstoff  kein  Oxamid  entsteht, 
wohl  aber  eine  damit  metamere  Verbindung ,  der 

Ameisenharnstoff. 
(Formylhamstoff} 


4)  GuBAiiDT,  Tratte  T.  I.  p.  404. 


4* 


4  A.  Genther,  « 

Es  wurde  i  Mgt.  bei  400^  getrockneten  Harnstoffs  mit  i  Hgt. 
Ameisensäure  (erhalten  aus  trockenem  ameisensauren  Bleioxyd  und 
trocknem  Schwefelwasserstoff]  in  einem  Kochfläschchen  zusammen- 
gebracht und  selbiges ,  da  nach  einiger  Zeit  bei  gewöhnlicher  Tempe- 
ratur keine  Einwirkung  zu  bemerken  war,  mit  einem  umgekehrten 
Kühler  in  Verbindung  gebracht  und  allmählich  im  Wasserbade  auf  1 00^ 
erhitzt.  Der  Harnstoff  ging  hierbei  in  Lösung.  Als  die  Einwirkung 
einige  Zeit  gedauert  hatte,  wurde  der  Inhalt  durch  freies  Feuer  bis 
zum  Sieden  erhitzt.  Da  eine  Gasentwicklung  begann  wurde  nach  kurzer 
Zeit  das  Feuer  entfernt  und  erkalten  gelassen.  Die  dabei  immer  dicker 
werdende  Flüssigkeit  erstarrte  nun  zu  einem  Brei  kleiner  weisser 
Krystalle ,  iljrem  Aussehen  nach  wesentlich  verschieden  von  denen  des 
Harnstoffs  und  des  ameisensauren  Ammoniaks.  Sie  waren  im  absoluten 
Alkohol  sehr  schwer  löslich  und  konnten  damit  von  noch  vorhandenem 
Harnstoff,  etwa  gebildetem  ameisensauren  Ammoniak  und  der  Ameisen- 
säure befreit  werden.  Sie  entwickelten  mit  kalter  Natronlauge  über- 
gössen kein  Ammoniak.  Um  zu  sehen ,  ob  sie  ameisensaurer  Harnstoff 
seien ,  wurde  der  Versuch  wiederholt ,  aber  nachdem  der  Harnstoff  in 
Lösung  gegangen  war  sogleich  verschlossen  und  erkalten  gelassen. 
Nach  Verlauf  von  etwa  12  Stunden  erschienen  aber  grosse  durchsich- 
tige säulenförmige  Krystalle  von  Harnstoff.  Nach  weiterem  Verlauf  von 
24  Stunden  ruhigen  Stehens  fingen  die  Harnstoffkrystalle  an  einzelne 
weisse  Puncte  zu  zeigen ,  deren  Menge  sich  nach  und  nach  bedeutend 
vermehrte  und  deren  Ansehen  ganz  dem  der  zuerst  erhaltenen  glich. 
Sie  sind,  wie  ihre  Untersuchung  gezeigt  hat,  -in  der  That  die  nämliche 
Verbindung. 

Die  mit  absolutem  Alkohol  vollkommen  abgewaschene  und  bei  4  00^ 
getrocknete  Verbindung  gab  bei  der  Analyse  folgende  Zahlen: 

I.  0,2603  grm.  gaben  0,2664  grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,07265 
grm.  =27,9  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1  Hl  grm.  Wasser,  entspr. 
0,01234  grm.  =  4,7  Proc.  Wasserstoff. 

n.  0,2518  grm.  lieferten  0,2579  grm.  Kohlensäure  und  0,1126  grm. 
Wasser,  entspr.  0,07034  grm.  Kohlenstoff  =  27,9  Proc.  und 
0,01251  grm.  Wasserstoff  =  4,9  Proc. 

Zur  Bestimmung  des  Stickstoffs  wurden  verwandt:  0,208  grm. 
und  erhalten  55,7  CG.  Stickstoff  bei  60,5  und  732,5  Mm.  Barometer- 
stand, was  bei  0^  und  760  Mm.  Druck  5f,9  CG.  ausmacht,  die  ent- 
sprechen: 0,06521  grm.  =31,4  Proc.  Stickstoff. 


Deber  Oxamid  onä  HarostolT. 

Daraus  beredinet  sidi  fttr  sie  die  Formel :  C^H^^q«. 

ber. 

€2  =  27,3 
»*=  4,5 
»a  =  31,8 
0*  =  36,4 


400,0 
Die  Bildung  der  Verbindung  findet  nach  der  Gleichung  statt : 

Obwohl  dieselbe  also  die  Zusammensetzung  des  Oxamids  besitzt, 
so  ist  sie  doch  nur  metamer  und  nicht  identisch  mit  demselben ,  wie 
die  folgenden  Eigenschaften  beweisen. 

Sie  löst  sich  leicht  in  Wasser ,  sehr  schwer  in  kaltem ,  leichter  in 
heissem  abs.  Alkohol.  Aus  letzterer  Lösung  kryställisirt  sie  nach  dem 
Verdunsten  des  Alkohols  unverändert,  aus  der  wässrigen.  Losung  er- 
hält man  sie  nicht  wieder,  mag  man  in  der  Wärme  oder  ttber  Schwefel- 
säure  in  der  Kälte  das  Wasser  verdunsten  lassen ,  sie  zerfällt  dabei  in 
Ameisensäure  und  Harnstoff,  welch  letzterer  zurückbleibt,  während 
die  erstere  mit  dem  Wasser  verdunstet  und  bei  genügender  Conoen- 
tration  durch  ihren  Geruch  wahrgenommen  'Werden  kann.  Natronlauge 
entbindet  in  der  Kälte  aus  ihr  kein  Ammoniak ,  was  sofort  geschieht, 
wenn  sie  damit  gekocht  wird.  In  der  zurückbleibenden  Flüssigkeit 
ist  Ameisensäure  enthalten ,  sie  wurde  mit  verdünnter  überschüssiger 
Schwefelsäure  daraus  frei  gemacht,  überdestillirt  und  an  ihren  Re- 
actionen  erkannt.  Wird  die  wässrige  Lösung  des  Ameisenharnstoffs 
mit  gefälltem ,  fein  geschlemmten  QuecksUberoxyd  gekocht  und  heiss 
filtrirt,  so  erhält  man  nach  dem  Erkalten  eine  geringe  Menge  einer 
weissen  dichten  Substanz ,  ganz  vom  Aussehen  des  Harnstoff-Queck- 
silberoxyds Dabei  findet  keine  Metallreduction  statt.  Dieselbe  tritt 
erst  nach  längerem  Erhitzen  ein  oder  wenn  man  das  Filtrat  Über 
Schwefelsäure  eindunsten  lässt  und  zwar  auch  da  erst,  wenn  die  Ver- 
dunstung nahezu  vollendet  ist. 

Zu  den  charakteristischen  Eigenschaften  des  Ameisenhamstoffs  ge- 
hört noch  die  bei  159o  unverändert  zu  einer  farblosen  Flüssigkeit,  die 
beim  Erkalten  wieder  weiss  erstarrt,  zu  schmelzen.  Wird  derselbe 
über  diese  Temperatur  erhitzt  (was  im  Oelbad  geschah},  so  beginnt  et 
bald  sich  zu  zersetzen.  Zuerst  erscheint  reichlich  Ammoniak,  dann 
Cyanwasserstoff,  als  Rückstand  bleibt  Cyanursäure  und  poröse  Kohle. 
Als  die  Temperatur  \  90^  erreicht  hatte  trat  ausserdem  noch  ein  ölför- 
miges  flüchtiges  Product  in  geringer  Menge  auf.    Dasselbe  löste  sich  in 


Wasser  und  gab  nach  dem  Kochen  mit  kobldn^aureai  Nairoa  und  An- 
säuern mit  Schwefelsäure  ein  saures  Destillat,  welches  Silberldsung 
reducirte.  Darnach  könnte  dasselbe  Formamid  gewesen  sein,  das 
sich  auf  analoge  Weise  gebildet  haben  würde ,  wie  das  Acetamid  beim 
Erhitzen  des  Acetyl-Haiiistoffs  oder  das  B^izamid  beim  Erhitzen  des 
Benzoyl-Hamstoffs.  Seine  Menge  ist  nur  sehr  gering,  der  grösste  Theil 
desselben  wurde  wohl  in  Blausäure  und  Wasser  zersetzt.  Bei  200^ 
wird  der  noch  zähflüssig  erscheinende  Rückstand  durch  Aufschäumen 
schwarz  und  zu  poröser  Kohle. 

Herr  Sghbitz  hat  nun  noch  versucht,  ob  sich  der  AmeisenbamsteS* 
aus  Formamid  und  Cyansäure  nach  der  Gleichung: 

£Omm  -h  €NO,HO  «  €2fl4»204 
darstellen  lasse,  und  zu  dem  Ende  auf  völlig  trocknes  Formamid  die 
Dämpfe  von  Cyansäure  geleitet.  Dabei  verwandelte  sich  ein  grosser 
Theil  der  Letzteren  in  Cyamelid ,  während  ein  anderer  zersetzend  auf 
das  Erstere  einwirkte,  indem  er  unter  Wasserentziehung  dessen  Ueber* 
gang  in  Blausäure  veranlasste,  aber  Ameisenharnstoff  konnte  nicht  auf- 
gefunden werden. 

Da  somit  dem  Mitgetheilten  zufolge  das  Oxamid  nicht  Formyl- 
harnstoff  ist,  so  bleibt  für  dasselbe  die  erstere  Deutung  als  Azo-Glyco- 
coli  oder  Azo-Glycolamid  noch  übrig.  Die  im  Folgenden  mitgetheilten 
Versuche  sind  von  diesem  Standpunct  aus  unternommen  worden. 

Oxamid  und  Ameisensäure. 

Die  Einwirkung  stärkerer  Hineralsäuren  auf  das  Oxamid  ist  be- 
kannt. Man  weiss,  dass  es  durdi  die  Hydrate  derselben  oder  bei 
Gegenwart  von  Wasser  leicht  in  Oxalsäure  und  Ammoniak  verwandelt 
wird,  ein  Verhalten,  welches  es  mit  dem  Glycolamid,  das  leicht  in 
Glycolsäure  und  Ammoniak  zerfällt,  theilt,  nicht  aber  mit  dem  GlycocoU, 
das  sich  mit  den  Säuren  verbindet.  Von  der  Wirkung  starker  Kohlen- 
stoflSsäuren  auf  das  Oxamid  ist  nur  bekannt,  dass  Essigsäure  ohne  Wir<- 
kung  ist  (Henry  und  Hisson)  .  Ebenso  verhält  sich ,  wie  Herr  Marsh 
fand ,  reine  Ameisensäure,  selbst  wenn  dieselbe  im  Ueberschuss 
längere  Zeit  im  verschlossenen  Rohr  mit  Oxamid  auf  4  00^  erhitzt  wird. 
Bei  425<>  dagegen  findet  schon  Zersetzung  statt,  es  ist  Drudi  vorhanden 
und  es  strömt  beim  Oeffnen  des  Rohrs  ein  mit  blauer  Flamme  brennen- 
des Gas,  Kohlenoxyd,  aus.  Dje  Temperatur  wurde  unter  mehrmaligem 
Oefifhen  des  Rohrs  schliesslich  bis  250^  gesteigert  und  immer  das  gleiche 
Resultat  erhalten.  In  dem  Maasse  als  die  Temperatur  eine  erhöhte  ge- 
worden war  fand  die  Bildung  grösserer  Krystalle  im  Innern  statt  und 


Deber  Oxund  ind  HArostofT.  7 

schliessiioh  war  cKe  ganze  Menge  Oxamid  in  diese  verwandelt.  Sie  er*- 
wiesen  sich  alsoxalsaures  Ammoniak.  Die  Ameisensäure  zerfeih 
also  hierbei  in  Kohlenoxyd  und  Wasser,  w^h  letzteres  das  Oxamid  in 
oxalsaures  Ammoniak  verwandelt.  Es  entsteht  also  kein  Ameisen- 
Oxamid  (Pormyldtamid) ,  wie  es  der  Fall  hätte  sein  müssen ,  wenn  sich 
das  Oxamid  dem  Harnstoff  analog  verhalten  hätte  oder  wie  es  der  Fall 
hatte  sein  können,  wenn  Oxamid  und  Glycocoll  Analogie  zeigten. 

Oxamid  und  Essigsflureanhydrid. 

Beide  Körper  wurden  im  verschlossenen  Rohr  von  1  iO^  allmählich 
auf  160^  erhitzt,  ohne  dass,  eine  geringe  Bräunung  des  überschüssigen 
Anhydrids  ausgenommen ,  Veränderung  eingetreten  wäre.  Sie  waren 
beide  noch  als  solche  vorhanden ,  wie  die  Trennung  derselben  mittelst 
absol.  Alkohols  zeigte. 

Oxamid  und  Benzoösäureanhydrid. 

Beim  Erhitzen  der  beiden  Substanzen  im  offenen  Rohr  auf  470^ 
findet  nach  den  Versuchen  von  Herrn  Marsh  keine  Einwirkung  statt, 
denn  wenn  die  Masse  mit  Alkohol  behandelt  wird ,  bleibt  Oxamid  un- 
verändert übrig.  Erhitzt  man  aber  bis  iOO^  und  behandelt  die  Masee 
auf  gleiche  Weise,  so  lässt  sich  in  dem  Rückstand ,  welchen  die  alko- 
holische Lösung  liefert ,  durch  überschüssige  Natronlauge  nicht  in  der 
Kälte,  wohl  aber  beim  Kochen  Ammoniak  frei  machen,  ein  Zeichen, 
dass  Benzamid  entstanden  ist.  Oxalsäure  konnte  in  dem  übrig  ge-^ 
bliebenen  Oxamid  nicht  nachgewiesen  werden.  Das  bei  dieser  Tempe-^ 
ratur  gleichzeitig  sich  bildende  Sublimat  enthält  neben  Benzoösäure 
gleidifalls  Benzamid. 

Dieses  Verhalten  des  Oxamids  zu  den  Anhydriden  unterscheidet 
es  gleichfalls  wesentiidi  vom  Harnstoff,  wie  wir  weiter  unten  zeigen 
werden.  Ob  das  Glycolamid  mit  ihm  darin  übereinstimmt  ist  nicht 
untersucht,  ebensowenig  das  Verhalten  der  Anhydride  zu  Glycocoll. 
Von  Letzterem  ist  es  wahrscheinlich,  dass  es  damit  die  zum  Theil  schon 
bekannten  zusammengesetzten  Glycocolle  bilden  wird  (mit  Essigsäure- 
anhydrid z.  B.  das  von  Kraut  und  Harthann  erhaltene  AcetylglycocoUj . 

Oxamid  und  Kupferoxyd. 

Schon  ToüssAiifT  i),  welcher  auf  Veranlassung  des  Einen  von  uns 
das  Verhalten  des  Oxamids  zu  Kupferoxydhydrat  untersuchte,  fand, 

4)  Ueberd.  Oxatalns^lui«.  Uiaug.  Ditaert  Göttingtd  4 SSI. 


g  A.  GeatlMr, 

dass  sich  dasselbe  damit  zu  veri>iiiden  vermag,  aber  nicht  in  der 
Weise,  wie  das  GlycocoU,  weiches  bekanntlich  unter  Austritt  von 
Wasser  das  Metalloxyd  aufnimmt,  sondern  so,  dass  es  direct  Kupfer- 
oxyd aufnimmt,  in  tthnlicher  Weise,  wie  es  Dbssaignbs  ^)  schon  früher 
mit  Quecksilberoxyd  beobachtet  hat.  Die  entstehendtf^erbindung  be- 
sitzt nach  ToossAiNT  die  ungewöhnliche  Zusammensetzung:  S^^^N^CH, 
5CuO.  Herr  Marsh  hat  diese  Verbindung  von  Neuem  auf  die  von 
TovssAiNT  angegebene  Weise  durch  Kochen  von  überschüssigem  Oxa- 
mid  mit  Kupferoxydhydrat  dargestellt  und  durch  die  Analyse  die  von 
Letzterem  dafür  angegebene  Zusammensetzung  bestätigt  gefunden. 

Dieselbe  Verbindung  entsteht  ferner  auch  sofort,  wenn  man  zu 
einer  heissen  Oxamidlösung  neutr.  essigsaures  Kupferoxyd  giesst,  oder 
beim  Erwärmen,  wenn  man  die  Lösungen  kalt  zusammenbringt,  jedes- 
mal unter  Freiwerden  von  Essigsäure.  Zur  Darstellung  wurde  nach 
der  ersteren  Art  verfahren  und  von  der  Lösung  des  Kupfersalzes  so 
lange  zugefügt,  bis  die  Flüssigkeit  die  Farbe  derselben  zeigte.  Nach 
dem  Absetzen  des  Niederschlages  wurde  noch  warm  abgegossen  und 
ersterer  wiederholt  mit  siedendem  Wasser  behandelt,  so  lange  als  .beim 
Erkalten  desselben  noch  eine  Oxamidabscheidung  stattfand.  Die  auf 
diese  Weise  erhaltene  Verbindung  besitzt  alle  Eigenschaften  der  auf 
andere  Art  erhaltenen ,  nur  ist  die  Farbe  derselben  etwas  lebhafter 
grün.  Herr  Mahsh  fand  bei  der  Analyse  derselben  folgende  Zahlen: 
0,7742  grm.  über  Schwefelsäure  getrockneter  Substanz  gaben  mit 
Natronlauge  zersetzt  0,4465  Kupferoxyd  »54,0  Proc.  und  oxalsauren 
Kalk,  dessen  Kalkgehalt  nach  dem  Glühen  0,2279  grm.  betrug;  daraus 
berechnen  sich  0,0976  grm.  a=  42,6  Proc.  Kohlenstoff.  Das  über- 
destillirte  Ammoniak  lieferte  Platinsalmiak,  der  nach  dem  Glühen 
0,7877  grm.  Platin  hinterliess,  was  0,4  4  47  grm.  =  44,5  Proc.  Stick- 
stoff entspricht. 

ToUSSAUfT. 

her.  gef.       gef. 

€*  «  42,8|  42,6^ 

08=:47,4i  — 

5CuO  =  53,0  54,0    53,5        53,7 

400,0 

Das  Oxamid- Kupferoxyd  stellt  ein  leichtes ,  lockeres ,  sehr  hygro- 
skopisches Pulver  dar  und  wird ,  wie  schon  Toussaint  gefunden  hat, 


4)  Annal.  de  chim.  et  de  pbys.  8*  Ser.  T.  XXXI V.  p.  444. 


Deber  Oxaind  nnd  Harnstoff.  9 

durch  stiirkere  Mineralstturen  zerlegt  Wirken  dieselben  in  der  Kalte 
darauf  ein ,  so  tost  sich  das  Kupferoxyd  allein  und  das  Oxamid  bleibt 
zurück.  Ebenso  wirkt  conc.  Essigsäure  und  conc.  Ammoniak ,  ver- 
dttnnte  Essigsäure  und  verdünntes  Ammoniak  dagegen  sind  fast  ohne 
Wirkung.  Wird^die  Verbindung  in  Wasser  vertheilt  der  Einwirkung 
von  Schwefelwasserstoff  ausgesetzt ,  so  wird  sie  gleichfalls  leicht  zer- 
setzt. Aus  dem  abgeschiedenen  Schwefelkupfer  kann  durch  Kochen 
mit  Wasser  leicht  das  Oxamid  ausgezogen  werden.  Das  Oxamid- 
Kupferoxyd  ist  ungemein  beständig  in  der  Warme.  Toussaint  ver- 
wandln zu  seinen  Analysen  bei  4  40^  getrocknete  Substanz;  aber  es 
kann  ohne  wesentlichen  Gewichtsverlust  zu  erleiden,  noch  »höher  er- 
hitzt werden :  ein  Beweis ,  dass  dasselbe  eine  völlig  wasserfreie  Sub- 
stanz ist. 

Herr  Marsh  fand ,  als  er  die  über  Schwefelsaure  getrocknete  Ver- 
bindung einer  allmählich  steigenden  Temperatur  wahrend  8  Tagen 
aussetzte,  dass  dieselbe  bei  U0<^  4,6  Proc,  bei  4G0<)S,1  Proc.,  bei 
180^  3  Proc.  und  bei  490<^  3,6  Proc.  verloren  hatte  und  von  unver- 
ändertem Aussehen  war.  Erst  bei  4  94^  beginnt  die  Zersetzung  unter 
Schwärzung  und  nun  ist  der  Verlust  bedeutend ,  bei  800^  betrug  ,er 
schon  39,0  Proc.  und  nach  dem  Erhitzen  auf  220^  ist  das  Gewicht  des 
schwarzen  Rttckstands  nur  noch  56,7  Proc.  Er  besteht  aus  fast  reinem 
Kupferoxyd,  von  dem  die  Verbindung  53,0  Proc.  enthalt. 

Ausser  der  Verbindung  des  Oxamids  mit  Kupferoxyd  ist  nur  noch 
eine  solche  mit  Quecksilberoxyd  von  der  Formel:  €2fi4f2Q4^HgO  be- 
kannt, welche  Dsssaignbs  erhalten  hat.  Mit  Bleioxyd  und  Silberoxyd 
konnte  Pxloczb^)  das  Oxamid  nicht  vereinigen,  auch  uns  gelaQg  es 
nicht  durch  Kochen  von  Oxamidlösung  mit  Silberoxyd  eine  Verände- 
rung beider  Substanzen  wahrzunehmen.  Eine  Lösung  von  essigsaurem 
Silberoxyd  wird  durch  eine  kochende  Oxamidlösung  gleichfalls  nicht 
verändert.  Ebenso  verhalt  sich  eine  n  utrale  essigsaure  Bleilösung; 
wird  Oxamidlösung  aber  zu  einer  Lösung  von  bas.  essigsaurem  Blei- 
oxyd gefügt,  so  entsteht  sofort  ein  starker  Niederschlags  welcher  indess 
kein  Oxamid  in  Verbindung  enthalt,  sondern  nur  Oxalsäure  und  wahr- 
scheinlich der  nämliche  ist,  den  Pblouzb^j  erhielt,  als  er  die  wassrige 
Lösung  des  Oxamids  mit  wenig  Ammoniak  versetzt  zu  Salpeter-  oder 
essigsaurer  Bleioxydlösung  fügte,  nämlich  bas.  oxalsaures  Bleioxyd: 
6PbO,€20«. 

Eine  heisse  Oxamidlösung  wirkt  ferner  nicht  ein  auf  die  neutralen 


4)  Gmilir,  Handb.  Bd.  V,  p.  46. 

5)  Ghilir,  Haodb.  Bd.  IV,  p.  S59  o.  Bd.  V,  p.  46. 


]  0  A«  ClMthcr, 

essigsauren  Salze  des  Biseiioxyduls ,  Eisenoxyds,  Manganoxyduls, 
Nickeloxyduls,  Zinnoxyduls  und  Queoksilberoxyds.  Die  Lösung  des 
essigsauren  Quecksilberoxyduls  wird  durch  dieselbe  beim  Kodien 
reducirt. 

Das  eben  erwähnte  Verhalten  des  Gxamids  den  Metalloxyden  und 
Salzen  derselben  gegenüber  ist  nicht  allein  merkwürdig  des  unter- 
schiedenen Verhaltens  halber,  sondern  auch  der  Art  der  Verbindungen 
wegen.  Letztere  entstehen  nicht  wie  die  der  meisten  Amide  so ,  dass 
für  Wasser,  welches  austritt,  Metalloxyd  eintritt,  sondern  es  fügt  sich 
das  Metalloxyd  einfach  zu  dem  Oxamid,  denn  das  Verhalten  der  Kupfer^ 
oxydverbiadung  in  der  Wärme  schliesst  die  Annahme,  dass  es  eine 
wasserhaltige  Verbindung  sei ,  aus.  Es  ist  femer  nidit  anzunehmen, 
dass  die  Kupferverbindung  eine  Art  basischer  Verbindung  ist ,  obwohl 
in  ihr  SIY2  Mgte  Kupferoxyd  auf  1  Mgt.  Oxamid  kommen,  da  sie  unter 
Freiwerden  von  Essigsäure  entsteht. 

Von  anderen  Amiden ,  welche  sich  mit  Metalloxyden  direct  ver- 
einigen sind  uns  ausser  dem  Harnstoff  keine  bekannt.  Denn  die  von 
FEBLino  1)  mit  Bisuccinamid  dargestellten  Bleioxydverbindungen  sind 
nach  den  Untersuchungen  Tbughbrt's  ^)  als  Sucdnaminsäure-Salze  zu 
betrachten.  In  gleicher  Weise  ist  offenbar  die  von  Arpfb"^)  mit  dem 
homologen  Bipyrotartramid  erhaltene  Bleiverbindung  (^€%^NO^,5PbO, 
5flOj  aufzufassen,  als  ein  anderthalb  basisches  Bleioxydsalz 
einer  Pyrotartraminsäure. 

2€ßH7NOS  5PbO,  5H0  =  [2  («»flSNO»,  PbO)  4- 3  (PbO,flO)]. 

Ob  eine  Verbindung ,  welche  das  Fumaramid  mit  Quecksilberoxyd 
bildet,  und  von  der  Dbssaignes  ^)  blos  die  Quecksilberbestimmung  aus- 
geführt hat,  ohne  irgend  etwas  anderes  von  ihr  zu  sagen ,  als  dass  sie 
ein  weisses  Pulver  darstelle ,  hierher  gehört,  ist  ganz  zweifelhaft. 

Durch  die  Fähigkeit  des  Oxamids  sich  mit  gewissen  Metalloxyden 
direct  zu  vereinigen,  unterscheidet  sich  dasselbe  wesentlich  von  dem 
Glycocoll.  Ob  das  Glycolamid  nicht  im  Stande  ist  sich  mit  den  Oxyden 
gewisser  schweren  Metalle  in  analoger  Weise  zu  vereinigen  ist  bis  jetzt 
nicht  untersucht  worden.  Die  Angaben  über  das  Verhalten  des  ihm 
homologen  Lactamids  lauten  nur  dahin ,  »dass  sich  in  wässriger  Lacta- 
nüdlösung  kein  unlösliches  Oxyd  lösta  (Brüiong)  ^] .    Käme  aber  auch 


4)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  40,  p.  496. 
1)  Ebend.  Bd.  484,  p.  455. 
8)  Ebend.  Bd.  87,  p.  235. 

4)  Annal.  de  chim.  et  de  phys.  3.  Ser.  T«  XXXIV,  p.  44S. 

5)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  404,  p.  407.. 


Ueber  Oimid  nad  larnstofT.  1 1 

dem-  Glyeolantid  die  Fähigkeil ,  solche  Verbindungen  wie  das  Oxamid 
zu  bilden ,  nicht  zu ,  so  würde  daraus  doch  keineswegs  die  oben  er- 
wähnte Ansidit  als  imzutreffend  gefolgert  werden  können. 

Oxamid  und  Wasserstoff. 

Um  zu  sehen,  ob  im  Oxamid  ein  Tbeil  oder  der  ganze  Stickstoff- 
gehalt gegen  Wasserstoff  ausgewechselt  und  es  in  GlycocoU  oder  Glycol- 
amid  oder  Glycolsäure  übergeführt  werden  könne,  unterwarf  Herr 
ScBBiTz  dasselbe  der  Einwirkung  von  Zink  und  Essigsäure,  welche 
letztere  für  sich  keine  Einwirkung  darauf  äussert,  wie  sehen  Hbhrt 
und  Plisson  fanden  und  wir  bestätigen  können.  In  einem  Kolben 
wurde  das  Oxamid  mit  Zink  und  viel  Wasser  in  Berührung  gebracht 
und  langsam  Essigsäure  in  dem  Maasse,  als  die  Wasserstoffentwicklung 
gering^wurde,  zugefügt.  Der  Kolben  wurde  bis  etwa  60<^  erwärmt  und 
so  lange  stehen  gelassen ,  als  beim  Erkalten  eine  Oxamidabscheidung 
noch  wahrgenommen  werden  konnte ,  was  etwa  8  Tage  lang  währte. 
Darauf  wurde  aus  der  Flüssigkeit  das  Zink  mit  Schwefelwasserstoff 
entfernt  und  dieselbe  schliesslich  im  Wasserbade  zur  Trockne  gebracht. 
Es  hinterblieb  eine  strahlig  krystallinische,  in  Alkohol  lösliche  Masse,  die 
schon  in  der  Kälte  mit  Natronlauge  Ammoniak  entwickelte.  Sie  besass 
saure  Reaction  und  stimmte  in  ihremAussehen  mitdem  sauren  Ammoniak- 
salz der  Glycolsäure ,  wie  esHEiNTz^)  beschrieben  hat,  überein.  Ein 
Theil  derselben  wurde  in  Wasser  gelöst,  mit  Kalkhydrat  gekocht,  wobei 
Ammoniak  entwickelt  wurde ,  aus  dem  Filtrat  der  überschüssige  Kalk 
durch  Kohlensäure  entfernt  und  zur  Krystallisation  eingedampft.  Die 
erhaltenen  Krystalle  hatten  ganz  das  Aussehen  von  glycolsaurem  Kalk. 
Das  bei  100<>  getrocknete  Salz  gab  nach  dem  Glühen  23,2  Proc.  Kalk; 
der  glycolsaure  Kalk  enthält  22,9  Proc.  Es  war  demnach  wirklich 
glycolsaurer  Kalk  und  das  Oxamid  also  in  Glycolsaure  und  Ammo- 
niak verwandelt  worden.  Die  Entstehung  von  GlycocoU  konnte  hier- 
bei nicht  wahrgenommen  werden. 

Harnstoff  und  Essigsäureanhydrid. 

Das  Verhalten  des  Harnstoffs  zu  den  Hineralsäuren  und  einer  Reihe  , 
von  KohlenstoflBsfluren  ist  bekannt.   Er  bildet  damit  Verbindungen ,  in 
welchen  er  die  Rolle  einer  einsäurigen  Basis  spielt.   Er  zeigt  also  das 
Verhalten ,   wie  es  von  einem  Azo-hydroxymethylamin  wohl  erwartet 


4)  PocGBivDOAFP,  Anoal.  Bd.  114«  p.  449. 


12  A.  GeaCher, 

werden  kann.    Das  Verhalten  des  Harnstoffs  zu  Säureanhydriden  ist 
bis  jetzt  nicht  untersucht  gewesen. 

Wird  Harnstoff  mit  Essigs&ureanhydrid  (1  Mgt.  des  ersteren  auf 
2  Mgie  des  letzteren)  einige  Zeit  bis  zum  Siedepunct  des  Anhydrids  er- 
hitzt und  dann  erkalten  gelassen,  so  scheidet  sich  auf  Zusatz  von  Wasser 
Acetylharnstoff  aus,  der  durch  Umkrystallisiren  aus  heissem  Wasser 
leicht  rein  erhalten  werden  kann.  Nur  wenn  die  Erhitzung  längere 
Zeit  fortgesetzt  worden  ist ,  enthalten  die  Krystalle  etwas  Cyanursäure 
beigemengt.  Durch  Kochen  der  wässrigen  Lösung  mit  kohlensaurem 
Silberoxyd  kann  diese  leicht  entfernt  werden.  Er  besitzt  alle  die 
Eigenschaften,  wie  sie  Zinin  ^)  für  denselben  angegeben  hat. 

I.  Unmittelbares  Product  etwas  cyanursäurebaltig. 
0,2161  grm.  gaben  0,276  grm.  Kohlensäure,   entspr.  0,07527  grm. 
Ä  34,8  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1136  grm.  Wasser,  entspr.  0,01262  , 
grm.  =5,9  Proc.  Wasserstoff. 

H.  Mit  kohlensaurem  Silberoxyd  gereinigtes  Product. 
0,2455  grm.  gaben  0,3185  grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,086869  grm. 
=  35,4  Proc.  Kohlenstoff  und  0,136  grm.  Wasser,   entspr.  0,01511 
grm.  =  6,1  Proc.  Wasserstoff. 


ber. 

gef. 

I.      n. 

€3  =  35,3 

34,8     35,4 

Ä«  =    5,9 

5,9       6,1 

N2  »  27,5 

—       — 

0*  =  31,3 

—        — 

100,0 
Der  Acetyl-Harnstoff  entsteht  nach  der  Gleichung : 

€fl*N202  +  2  €2H303  =;  €3fl6N204 + £^^0^. 

Seine  Bildung  geht  so  leicht  von  statten ,  dass  dies  die  bequemste 
Methode  seiner  Darstellung  ist. 

Harnstoff  und  Benzoösäureanhydrid. 

Erhitzt  man  Benzo^säureanhydrid  mit  Harnstoff  zu  gleichen 
Mischungsgewichten,  so  findet  bei  120^  die  Schmelzung  des  Harnstoffs 
unter  dem  geschmolzenen  Anhydrid  statt,  ohne  dass  ein  gleichförmiges 


i)  ADoal.  d.  Cbem.  u.  Pharm.  Dd.  92,  p.  40a. 


Deber  Oxanld  asd  HarnstofT.  1 3 

Gemisch  entstände;  auch  durch  Umschtttteln  kann  ein  solches  nicht 
erhalten  werden.  Lässt  man  erkalten ,  so  krystallisirt  der  HarnstoflT 
wieder  unter  dem  flüssigen  Anhydrid.  Hält  man  die  Temperatur 
aber  einige  Zeit  bei  1 20^ ,  so  tritt  vollständige  Mischung  der  Flüssig- 
keiten ein  und  beim  Erkalten  entsteht  eine  terpenthinartige  Hasse,  die 
selbst  nach  tagelangem  Stehen  nur  wenig  Krystallbildung  zeigt.  Sie 
löst  sich  vollkommen  und  leicht  in  absolut.  Alkohol ,  enthält  demnach 
keinen  Benzoyl-Hamstoff.  Wird  dieselbe  einer  Temperatur  von  4  40  — 
1 50^  längere  Zeit  ausgesetzt,  so  beginnt  die  Abscheidung  kleiner  säulen- 
förmiger Krystalle.  Hat  die  Erhitzung  lange  genug  gedauert,  so 
krystallisirt  beim  Erkalten  die  ganze  Masse  wieder  leicht.  Wird  die- 
selbe nun  mit  kaltem  absol.  Alkohol  behandelt,  so  bleibt  ein  Rückstand 
von  Cyanursäure  und  Benzoyl-Harnstoff,  während  neben  über- 
schüssigem Anhydrid  Benzamid  in  Lösung  geht.  Durch  wiederholtes 
•  Umkrystallisiren  aus  ammoniakalischem  Wasser  entfernt  man  die 
Cyanursäure,  welche  in  Lösung  bleibt  und  erhäU  man  den  Benzoyl- 
HarnstoflT  in  farblosen  nadeiförmigen  Krystallen ,  die  in  kaltem  Wasser 
sehr  schwer  löslich  sind.  Sie  besitzen  die  von  Zinin  dafür  angegebenen 
Eigenschaften ,  sie  krystalJisiren  aus  Alkohol  in  Blättclien ,  schmelzen 
gegen  200^  (208^),  geben  auf  dem  Platinblecb  vorsichtig  erhitzt  zuerst 
den  Geruch  von  Benzonitril  und  hinterlassen  einen  Rückstand  von 
Cyanursäure ,  im  Röhrchen  über  ihren  Schmelzpunct  erhitzt  beginnt 
die  Masse  zu  schäumen  und  erfüllt  sich  mit  Nadeln  von  Cyanursäure, 
indem  Benzamid  sublimirt. 

Die  Ausbeute  an  der  Verbindung  ist  immer  nur  gering ,  da  das 
Wasser,  welches  vom  Benzoösäureanhydrid  fortzugehen  hat,  sich,  wie 
mir  scheint,  nicht  zu  letzterem  begiebt  und  damit  Benzoesäure  bildet, 
sondern  zersetzend  auf  Harnstoff  einwirkt.  Man  bemerkt  in  der  That 
auch  während  der  Operation  immer  eine  Gasentwicklung. 

Die  Analyse  mit  wenig  Substanz  (0,1097  grm.)  ausgeführt,  hat 
kein  ganz  genaues  Resultat  ergeben,  es  wurden  nämlich  gefunden; 
55,6Proc.  Kohlenstoff  und  5,4Proc.  Wasserstoff,  während  derBenzoyl- 
Harnstoff:  58,5  Proc.  Kohlenstoff  und  4,9  Proc.  Wasserstoff  verlangt. 
Das  oben  angeführte  Verhalten  der  Substanz  lässt  indess  keinen 
Zweifel,  dass  sie  der  Hauptsache  nach  diese  Verbindung  war. 

Als  einmal  gleiche  Mischungsgewichtc  Harnstoff  und  Benzoesäure- 
anhydrid  im  Luftbad  rasch  auf  \S0^  erhitzt  wurden,  fand  lebhafte 
Gasentwicklung  statt,  es  entwich  viel  Ammoniak  und  es  bildeten  sich 
in  der  geschmolzenen  Masse  vollkommen  farblose  grosse  nadeiförmige 
Krystalle  von  Cyanursäure.  Sie  blieben  nach  dem  Behandeln  mit  ab- 
solut. Alkohol  allein  zurück,  ohne  Benzoyl-Harnstoff. 


14  A.  C^iiiiwr, 


Harnstoff  und  Metalloxyde. 

Von  Harnstoff  sind  nur  Verbindungen  mit  Silberoxyd  und  Queck- 
silberoxyd bekannt.  Sie  stimmen  mit  den  Oxamid-Metalloxyden  darin 
ttberein ,  dass  sie  einfache  Verbindung  von  Harnstoff  mit  den  Oxyden 
sind  und  ohne  Austritt  von  Wasser  entstehen.  Liebig  fand  für  die 
Silberoxyd  Verbindung  die  Formel:  «H^^o^^aAgO  und  für  die  drei 
Quecksilberoxydverbindungen  die  Zusammensetzung  €8^^^,2HgO  ^j, 
€H4N302,3HgO  und  €H«N202,4HgO. 

Die  essigsauren  Salze  des  Kupferoxyds  und  Quecksilberoxyds 
werden  durch  eine  HamstofflOsung  nicht  gefällt. 


Harnstoff  unJ^^asserstoff. 

In  gleicher  Welse  wie  das  Oxamid  hat  Herr  Marsh  Harnstoff  mit 
Zink  und  Essigsaure  behandelt.  Auf  42  grm.  des  ersteren  wurden  60 
grm.  der  letzteren  angewandt.  Als  die  Reaction  zu  Ende  war,  wurde 
die  Flüssigkeit,  in  welcher  noch  viel  Harnstoff  durch  Salpetersäure 
nachgewiesen  werden  konnte  mit  Natronlauge  im  Ueberschuss  versetzt 
und  deslillirt.  Das  Uebergehende  wurde  in  Salzsäure  aufgefangen,  zur 
Trodine  gebracht,  mit  abs.  Alkohol  ausgezogen  und  der  nach  dem 
Verdampfen  des  letzteren  bleibende  Rückstand  mit  Aether-Alkohol 
abermals  behandelt.  Nachdem  das  Lösungsmittel  wieder  verdunstet 
war ,  blieb  so  gut  wie  kein  Rückstand.  Das  Ungelöste  war  nichts  als 
Salmiak. 

Einen  zweiten  Versuch  stellte  Herr  Marsh  in  der  Weise  an ,  dass 
er  8  grm.  Harnstoff  in  40  grm.  Eisessig  löste  und  diese  Lösung  in  einem 
Retörtchen  mit  aufgerichtetem  Hals,  das  mit  einem  umgekehrten  Kühler 
verbunden  war,  auf  überschüssige  Eisenfeile  goss.  Es  fand  unter  ge- 
ringer Erwärmung  nur  geringe  Gasentwicklung  statt,  dieselbe  wurde 
reichlicher,  als  die  Reaction  durch  Feuer  unterstützt  wurde.  Nachdem 
eine  Stunde  lang  bis  zum  Siedepuncte  der  Essigsäure  erhitzt  worden 
war,  wurde  die  Masse  noch  einige  Tage  sich  selbst  überlassen.  Sie 
war  fest  geworden.  Sie  wurde  nun  in  viel  Wasser  gelöst,  die  Lösung 
zum  Sieden  erhitzt,  abfiltrirt,  mit  Natronlauge  im  Ueberschuss  destillirt 
und  das  Uebergehende  in  Salzsäure  aufgefangen.    Als  dasselbe   zur 


i)  Dkssaignbs  giebt  für  diese  die  Formel :  €H^HgN^^HgO,  indess  seine  analy- 
tischen Resultate ,  welche  untereinander  selbst  sehr  abweichen ,  zeigen ,  dass  die 
von  ihm  untersuchte  Substanz  nicht  rein  war  [a.  a.  0.). 


Deber  Oxamid  oud  Harnstoff.  1 5 

Trockne  gebracht  und  mit  Aether-Alkohol  behandelt  wurde,  ging  nur 
sehr  wenig  in  Lösung.  Dieses  bestand  zum  Theil  aus  Salmiak,  zum  Theil 
aber  aus  einem  an  der  Luft  feucht  werdenden  Salz ,  das  mit  Natron- 
lauge  ausser  Ammoniak  den  Geruch  von  Aminbasen  zeigte.  Die  Menge 
war  indess  so  gering,  dass  ein  wesentlicher  Theil  des  Harnstoffs  in 
diese  Substanz  nicht  verwandelt  sein  konnte.  Das  in  Aether-Alkohol 
Ungelöst  gebliebene  war  reiner  Salmiak.  Es  wurde  also  der  Harnstoff 
auch  durch  dieses  Reductionsverfahren  nicht  verändert ,  seine  Bestän- 
digkeit reducirenden  Einflttssen  gegenüber  ist  also  viel  grösser  als  die 
des  Oxamids. 


s. 


lieber  die  ZusanimeiisetaiDg  der  Krystalle  von  Aethematron« 

Von 

A.  Geather. 


Es  ist  bekannt ,  dass  wenn  man  Natrium  auf  abs.  Alkohol  ein- 
wirken lässt,  nach  dem  Erkalten  aus  der  warmen  dicken  Flüssigkeit 
völlig  durchsichtige  farblose  nadeiförmige  Krystalle  abgeschieden  wer- 
den. Wendet  man  auf  t  Th.  Natrium  10  Th.  Alkohol  an,  so  befindet 
sich  nach  Beendigung  der  Reaction  Alles  in  Lösung  oder  ist  wenigstens 
durch  Erwärmen  leicht  in  diese  zu  bringen ;  wendet  man  nur  8  Th. 
Alkohol  an ,  so  ist  schon  eine  anhaltende  Erwärmung  nöthig,  um  dies 
zu  erreichen  und  bei  noch  weniger  Alkohol,  etwa  6  Th.,  gelingt  es  gar 
nicht  mehr  eine  völlige  Lösung  zu  erhalten,  auch  wenn  man  noch  wäh- 
rend der  Einwirkung  für  genügende  Erwärmung  Sorge  trägt:  es  über- 
zieht sich  das  Natrium  mit  weissen,  undurchsichtigen,  unkrystalli- 
nischen  Krusten,  welche  die  weitere  Einwirkung  sehr  verlangsamen. 
Dieselben  lösen  sich  leicht,  wenn  man  mehr  abs.  Alkohol  zufügt  und 
es  erscheinen  dann  beim  Erkalten,  wie  in  den  übrigen  Fällen  blos  jene 
langen  klaren  Krystallnadeln.  Es  hat  nicht  den  Anschein ,  als  ob  die 
weissen  Krusten  und  die  durchsichtigen  Krystalle  einerlei  Zusammen- 
setzung hätten. 

Um  die  Verbindung  C^fl^^NaO'^  aus  diesem  Product  der  Einwirkung 
von  Natrium  auf  abs.  Alkohol  zu  erhalten ,  genügt  es  nicht  es  einer 
Temperatur  von  400^  auszusetzen  um  sämmtlichen  überschüssigen 
Alkohol  zu  entfernet!,  man  muss  dieselbe  vielmehr  bis  auf  1 80®  steigern. 
Die  zurückbleibende  Verbindung  erscheint  vollkommen  unkrystallinisch 
und  zeigt  an  vielen  Stellen  noch  die  Gestalt  der  ursprünglich  vorhan- 
denen Krystalle ,  die  aber  nun  das  Aussehen  einer  stark  verwitterten 
Substanz  besitzen. 


Oeber  die  toMuntteiiseiliiiig  rfer  Krystalie  ton  Aethernatrön.  Ü 

Diese  Erschefnunjg,  zusammen  mit  der  schwierigen  Yerflttchtigung 
des  Alkohols  liess  vermuthen ,  dass  die  zuerst  entstehenden  farblosen 
durchsichtigen  Rrystalle  nicht  blosses  Aethematron,  sondern  vielmehr 
eine  Verbindung  desselben  mit  Alkohol  seien. 

Die  analytische  Untersuchung ,  welche  Herr  Dr.  Sgheitz  mit  den- 
selben vorgenommen,  hat  diese  Yermuthung  bestätigt  und  für  sie  die 
ZusammensetsuDg  €285^3024- 9  €^«0^  ergeben. 

Zu  ihrer  Darstellung  verwandte  Herr  Dr.  Scbeitz  ein ,  am  einen 
Ende  zugeschmolzenes,  am  andern  ausgezogenes  längeres  Glasrohr,  in 
dem  auf  8.Th.  absoluten  Alkohol  i  Th.  Natrium  wirken  gelassen  wurde. 
Nachdem  Alles  durch  Erwärmen  in  Lösung  gegangen  war,  wurde  das 
Rohr  zugeschmolzen ,  nach  dem  Erkalten  durch  Umdrehen  desselben 
die  Mutterlauge  von  den  Krystallen  so  viel  wie  möglich  ablaufen  ge- 
lassen und  in  dieser  Stellung  die  Spitze  abgebrochen  und  die  Mutter- 
lauge entfernt.  Die  Krystalle  wurden  dann  entweder  sogleich  oder  erst 
nach  raschem  Abwaschen  mit  wasserfreiem  Aether,  wobei  sich  freilich 
ein  grosser  Theil  löste,  aus  dem  unmittelbar  über  ihnen  abgeschnittenen 
Rohr  auf  Fliesspapier  gebracht,  damit  möglichst  rasch  und  vollkommen 
abgepresst  und  gewogen.  Abs.  Alkohol  löst  sie  noch  leichter  als  Aether. 

7,3297  grm.  lieferten  nach  dem  Lösen  in  Wasser  und  Neutrali- 
siren  mit  Schwefelsäure  3,1872  grm.  neutr.  schwefelsaures  Natron, 
entspr.  4,3946  grm.  Natron  ss  49,0  Proc. 

0,6422  grm.  der  mit  Aether  gewaschenen  Krystalle  gaben  desgl. 

behandelt  0,2657  grm.  schwefelsaures  Natron  entspr.  0,4  46  grm.  oder 

49,0  Proc.  Natron. 

her.  gef. 

€2|iH)|  =  23,4  —     ^    -   ' 

NaOJ  =  49,4  49,0     49,0 

2€2fl602    s  57,5  —        — 

Da  die  Krystalle  im  leeren  Raum  über  Schwefelsäure  unter  Ver- 
witterungserscheinungen  ihren  Alkohol  verlieren  und  zu  der  Verbindung 
€%^NaO^  werden,  so  wurden  zur  Bestimmung  des  ersteren  6,546  grm. 
wohlabgepresster  Krystalle  über  Schwefelsäure  unter  die  Luftpumpe 
gebracht  und  während  8  Tagen  unter  wiederholtem  Auspumpen  da 
belassen.  Das  Gewicht  derselben  betrug  nach  rasch  vorgenommener 
Wägung  noch  3,583  grm.,  also  fand  ein  Verlust  von  2,933  grm.  d.  h. 
45,0  Proc.  statt.  Sie  wurden  sofort  wieder  unter  die  Luftpumpe  ge- 
bracht und  weitere  8  Tage  da  gelassen.  Ihr  Gewicht  betrug  jetzt: 
2,570  grm.,  der  Gesammtverlust  demnach  3,946  grm.  oder  60,6  Proc. 
Nach  weiteren  8  Tagen  betrug  der  Gesammtverlust:  4,046  grm. 
oder  62,4   Proc.  und  nach  noch  weiteren  8  Tagen  4,4685  grm.  oder 

Band  IV.  1.  S 


1 9         A.  Gentter ,  O^er  die  {amwHisetHW  i»  Kn^Mik  f oo  AfOrnatron. 

6i,0  Proo.  M^n  siebt,  class  der  bei  den  beiden  leUleo  Wligungtn  er- 
haltene pabessu  constante  Verlust  gleicb  iei  4,&resp.  1,9  Free,  und 
offenbar  uicht  einend  W^gang  von  Alkohol,  der  mit  deo  Krystall» 
noch  in  Verbindung  gewesen  wttre  xwuscbreiben  ist,  sondem  durdi 
den  Einfluss  der  Feuchtigkeit  der  Luft  auf  die  Substanz,  wtthread  ihres 
Berausnehn^eus  aus  der  Luftpumpenglocke  und  Wagens  beding  ist 
Die  Substanz  hatte  nach  der  zweiten  Wägung ,  b^  welcher  der  Ge- 
sammtyerlust  60,  Q  Proo.  betrug,  bereiti;  allen  Alkohol  verloren  und  da 
sie  sphon  aweimal  gewogen  worden  war ,  noch  einen  weiteren  durch- 
schnittlichen Verlust  von  i  mal  4,7  Pnoc.  erlitten,  also  in  Wirklichkeit 
einen  Verlust  an  verbundenem  Alkohol  von  60,6  Proo.  minus  3,4  Proc. 
d.  b*  57,9  Proc.  ergaben.  Es  stimmt  dies  Resultat  fast  genau  mit  dem 
von  dpr  obigen  Formel  verlangten,  nämlich  57,5  Proc,  tiberein. 


•">  %  II 


rTdU 


Ddker  die  Biawirkng  to«  eisfaeh  sahsanresi  Clyrolätker  aif 

IHoneBatriHmglyMlat. 


Vott 

Dr.  K  SoheiüL 


Bei  derEiiiwirkung  von  einfecb  essigsaurem  GlycoUtber  auf  Mono- 
natriumgiycolat  erbiete  Mobs ^)  hanptsacblich  Diglj'colalkobol.  Da 
die  Sauerstoffs^fureätber  des  Glycols  sieb  in  mancber  Weise  aber  ab- 
weichend  TerhaitoB  vod  deo  Ikiloidatbern ,  so  war  es  von  Interesse 
zu  erfahren  y  ob  aueh  bei  dieser  Einwirkung  dies  der  FaH  sein  wttrde. 

Es  wurde  nach  der  Methode  von  Wdrtz  dargestellter  efnfacb  chlor- 
wasserstoffsaurer  Glycolather  auf  in  einem  Retörtchen  bereitetes  Mono- 
natriumg]ycola&  gegossen,  und  der  in  die  Hftfae  gerichtete  Haks  des 
Gef^sses  mit  einem  umgekehrten  Kühler  verbanden.  Da  bei  gewöhn- 
licher Temperatur  keine  Einwirkung  erfolgte ,  wurde  das  B^törteben 
im  Oelbad  allmählich  auf  180<^  erhitzt.  Es  entwich  Biemtioh  viel  eines 
mit  blauer  Flamme  brennenden  Gases,  dessen  Menge  bei  einer  Steige- 
rung der  Temperatur  auf  450<^  sich  noch  vermehrte.  Nach  Verlauf 
einiger  Stunden,  als  kaum  noch  eine  Gasentwicklung  im  Innern  zu 
bemerken  war,  wurde  der  Retortenbals  sammt  Ktthler  geneigt  gestellt 
und  die  Temperatur  bis  %bO^  gesteigert.  Dabei  destillirte  eine  gelb- 
liche ölige  Flüssigkeit.  Der  Retortenrückstand  bestand  neben  Spuren 
einer  organischen  Substanz  und  etwas  Natron  aus  Ghlomatrium.  Das 
Destillat  bestand  aus  wenig  finter  i  80^  Siedendem ,  aus  viel  zwischen 
I  94  und  496<>  Uebergehendem  und  aus  wenig  zwischen  835  und  245<^ 
Destillirendem.  Nach  mehrmaliger  Rectification  wurde  das  zwischen 
4  94  und  196<>  und  das  zwischen  835  und  84  5<^  Uebergehende  für  sich 
gesammelt  und  analysirt. 


I)  Diese  Zeitscbiifl.  Bd.  III.  p.  45. 


20       I^r-  £•  SebeiU,  Ueber  die  Eiowirkaiig  tob  einfaeh  sibsiareB  GlycolIUier  ete. 

0,4946  gnn.  des  ersteren  lieferten  0,9674  gnn.  Kohlensifurey 
entspr.  0,07292  grm.  Kohlenstoff  =  37,3  Proc.  und  0,1726  grm.  Wasser 
entspr.  0,04947  grm.  Wasserstoff  =  9,9  Proc. 

Der  bei  gleicher  Temperatur  siedende  Glycolalkohol  verlangt: 
38,7  Proc.  Kohlenstoff  und  9,7  Proc.  Wasserstoff;  es  war  also  dem- 
nach fast  reiner  Glycolalkohol. 

0,3035  grm.  des  zweiten  lieferten  0,54  4  4  grm.  Kohlensäure  entspr. 
0,4394  grm.  Kohlenstoff  =  45, 9  Proc.  und  0,2365  grm.  Wasser,  entspr. 
0,0263  grm.  Wasserstoff  =8,7  Proc. 

Der  Diathylenalkohol,  mit  dem  dieses  Product  den  Siedepunct  ge- 
mein hat  verlangt:   45,3  Proc.  Kohlenstoff  und  9,4  Proc.  Wasserstoff. 

Eine  grosse  Menge  der  angewandten  Glycol Verbindungen  war  in 
jenes  mit  blauer  Flamme  brennende  Gas ,  das  offenbar  nichts  anderes 
als  Aethylenoxyd  war,  übergeführt  worden. 

Die  Producte  der  Einwirkung  sind  hauptsächlich  also:  Aethylen- 
oxyd, und  Glycolalkohol  und  nur  sehr  wenig  Diglycolalkohol.  Die  Ein- 
wirkung verläuft  demnach  anders  als  bei  der  Anwendung  von  einfach 
essigsaurem  Glycoläther,  wobei  als  Hauptproduct  Diglycolalkohol  ent- 
steht. 

Das  Verhalten  des  einfach  essigsauren  und  einfach  chlorwasser- 
stoffsauren Glycdläthers  zu  Hononatriumglycolat  ist  also  analog  dem 
verschiedenen  Verhalten  jener  Aether  zu  Kalihydrat. 

Die  Reaction  verläuft  nach  der  Gleidiung :     ' 

€2fi2|  flo  „^,  ^  €2g2(  »OHO    _  €««2  j  go«0      €«2|  Ä^^  _^  ^^^i 
jgQ«fci+         iMONaO""         (äOäO"*"         }  -l-«afei 

Der  Diglycolalkohol  verdankt  seine  Entstehung  der  Einwirkung 
von  Aethylenoxyd  auf  Glycol. 


Der  TyphK  in  4er  Kaserne  n  Wenar  vra  1831  —  IM?,  mü 
BerieksichtigMg  der  asderea  gleitAieitigea  RjpideBien. 


Von 

Dr.  L.  Pfeiffer  in  Weimar. 


Angeregt  durch  die  Untersuchungen  Buhl's  ttber  den  Zusammen- 
hang von  Typhus  mit  den  Schwnnkungen  des  Grundwassers  in  Httn- 
eben ,  die  im  Verein  mit  den  jetzt  anerkannten  Entdeckungen  Psttbn- 
kopbr's  über  die  Uilfsursaehen  für  Gboleraepidemien  d^r  Öffeütlichen 
Gesundheitspflege  gans  neue  und  praktisch  verwerthbareGesichtspuncte 
liefern ,  versucht  Verfasser  in  Nachfolgendem  die  auffaltende  Typhus- 
morbilitüi  su  beleuchten,  wie  diese  in  den  Journalen  des  Weimariseben 
Militärspitales  seit  4836  niedergelegt  und  ihm  durch  die  Güte  des  Herrn 
Oberstabs-  und  Regimentsarttes  Dr.  Homf  in  Weimar  zugänglich  ge- 
macht ist.  An  Stelle  der  jahrelang  fortgeführten  Grundwassermessüngen 
in  München ,  deren  sehwankender  Werth  so  genauen  Schritt  haH  mit 
den  Schwankungen  der  Typhustodesiblle  y  kann  Verfasser  nur  einige 
Aohaltepuncte  bieten,  die  indessen  beweisen ,  dass  in  der  anscheindnd 
so  gesund  und  hochgelegenen  Kaserne  zu  Weimar  eine  fOrttrafende 
Kette  von  Typhnaerkraiiküngen  in  ungünstigen  UntergrüDdsverhait^ 
nisaen  ihre  Uraach«  hat  und  dasa  das  zeitweilige  epidemische  Auftreten 
des  Typbus  daselbst  mit  Peuehtigkeits Verhältnissen  traterbalb  der  Bauselr 
in  Verbindung  stehen  muss. 

Es  findet  sich  der  Typhus  (Abdominaltyphus)  in  Thüringen  in  sehr 
grosser  Verbreitung.  Ebensowohl  die  volkreichen  Städte  an  der  nörd- 
liobea  Abdachimg  des  Thüringer  Waldes ,  als  Orte  im  Gebirge  selbst 
liefern  jedes  Jahr  eine  grössere  oder  kleinere  Anzahl  von  Erkrankungen 
und  auch  der  im  Westen  an  den  Thüringer  Wald  sich  anschliessende 
Gebirgsstock  der  Rhön  hat  auf  seinem  Basaltboden  einzelne  ganz  ver- 
beerende Epidemien  gehabt. 


22  Dr.  L.  Pfeiffer, 


Fortlaufende  Ketten  von  Typhuserkrankungen  i)  finden  sich  in 
Eisenach  (Ackerhof,  Untergasse,  Fischerstadt),  in  Gotha  (Gegend  am 
Brühl),  in  Weimar  (Graben,  Brühl,  Bahnhofstrasse  etc.) ,  in  Apolda 
(Heidenberg),  in  Wiche  etc.  und  giebt  die  auffallende  Localisation  der 
Cholera  von  1866  in  denselben  Districten  fast  Gewissheit,  dass  die 
Aetiologie  dieser  beiden  Krankheiten  sehr  viel  Gemeinschaftliches  haben 


muss. 


Es  ist  zur  Zeit  uoch  nicht  genügendes  Material  vorhanden ,  um  in 
Thüringen  die  Beziehungen  von  Typhuslocalitöten  zu  Cholera  einer- 
fteilSy  ttttd  Wetter  zu  Malaria,  für  welch  Letztere  ein  räumlicher  Anta- 
gonismia  «be&]bU6  niobi  tu  bealohea  scheint,  ins  Klare  bringen  zu 
können.  Bei  der  umschriebenen  Verbreitung  der  Cholera  und  bei  der 
kleinen  raumlichen  Ausdehnung  der  Malaria  in  Thüringen  ist  die  hier 
angeregte  Frage  eine  mit  verhältnissmässig  weniger  Schwierigkeiten 
verknüpfte  und  findet  der  neu  gegründete  arztliche  Verein  von  Thürin- 
gen hier  jedenfalls  ein  dankbares  Feld. 

Nach  beifolgender  üebersicht  der  Typhuserkrankungen  ist  die 
Verlheilung  derselben  über  die  einzelnen  Monate  des  Jahres  im  Ganzen 
eine  uemlicb  g^eichmUssige,  zumal  wenn  man  die  beiden  grösseren 
Epidemien  von  h  Sa?  und  <  867  in  Abrechnung  bringt.  Von  den  beiden 
grösfieren  Epidemien  fällt  eine  in  den  Herbst  (mit  64  Erkrankungen) , 
die  anderq  auf  den  Winter  (44).  Die  Typhuserkrankungen  der  Kaserne 
stehen  in  keinem  nachweisbaren  Zusammenhang  mit  gleichen  Jtrkran* 
kungen  in  der  auf  dem  andern  Ufer  der  Um  gelegenen  Stadt.  In  den 
Jahrein  4859  —  66  sind  in  der  Stadt  mehrfach  gehäufte  Erkrankungen 
von  den  Aerzten  beobachtet  worden  und  zum  Theil  von  dem  ärztlichen 
Verein  zu  Weimar  zur  Feststellung  einer  Typhuskarte  benutzt  worden, 
während  unter  dem  Militär  dieselben  sich  nicht  über  das  Durchschnitts* 
ttittel  erheben.  Im  leUten  Jahre  (4  867)  war  im  Frühjahr  die  Stadt  fast 
frei  mtA  nur  in  den ,  im  Rücken  der  Kaserne  liegenden  Ortschaften 
Oberweimar  und  Ehringsdorf,  kamen  vereinzelte  Erkrankungen  vor. 

Die  Dttrcbschnittsanzehl  von  Typhuserkrankungen  beträgt  nach 
beifolgender  Zusammenstellung  fast  7,  und  ist  dieses  Mittel  in  dem  vor- 
liegenden Beobachtungsmaterial  von  34  Jahren  nur  6  mal  überschritten 
(Worden,  in  den  Jahren  1839,  4840,  4844,  4856,  1857  und  4867. 

Die  Epidemie  von  4839  (gewöhnlicher  Dienstbestand  in  der  Ka- 
serne 5  GompagnieQ  ä  50  Mann,  mit  den  Eingezogenen  c.  500  Mann), 
die  stärkste  aller  beobachteten ,  fällt  zusammen  mit  der  Berbstein- 
giehung.   Es  erkrankten  viele  der  Weueingaiogenen  und  bestätigt  sich 

4)  AttsfUhrlieberes  in:  CholeraTerftällniss«  Thüringens  vom  Verfasser.   Mün- 
chen, Oldenhourg  4867. 


Der  Typhus  in  der  Kasan»  w  Wlumff  von  t83t— 1867  eto. 


28 


Tab.  I. 


Uebersicht  der  Typbuserkrankungen  im  Militärlazareth  zu  Weimar 

4836  —  1867. 


Jahr 


48ae 

1837 
4888 
1839 
1840 
f841 
484S 
1848 
1844 
1845 
1846 
1847 
I84S 
1849 
1850 
1851 

185a 

1858 

4m4 

18M 
1856 
1857 
1858 
1859 
IM» 
4«M 
1$6S 
1863 
1864 
1865 
186« 
♦M7 


u 

CS 

9 
tt 
AB 


I 


2 

2 

i 


5 
1 


•  > 


2 
f 


II 


1 

46 


a 
< 


a 
si 


I  1 

8 


42 


4 
4 


2 


48    12 


2 


OS 

9 


B 

9 


0) 

CO 


a 

o 


« 
Xi 

B 

> 
o 

2 


I 

S 


Sa. 


s-s 
II 


S  SS 


2 
2 


14 


4 
1 
% 

1 

• 
4 

1 


4   f   . 


2 

1 


46ll4 


2 

1 
4 


7 
2 

2 

• 

2 


25 


24 


1 
2 

[  1 


18 
1 

• 

1 


1 
1 


2 
1 
4 
4 


1 
2 


40 


28 


18 

1 

1 


1 
4 
1 
1 
1 


22 


2 


4 

4 
64 
8 
16 
7 
4 
4 
4 
8 
2 
6 
t 
1 

1 
8 
7 
7 

12 

11 
5 
2 
8 
8 
1 
2 
8 
6 
9 

•4 

248 


Mli  ▲«snahiiw  der  beMoD  grOasDr^n  fipidoiaMea  von 
1889  und  4867  verlbetiea  sich  die  Übrigen  128  Er- 
krank angen  von  28  Jahren  folgendermaassen  : 


^ 


9 
1 
1 
4 


1 
4 


i 

t 

1 

2 


1 

7M 

646 

598 

687 

— 

842 

\     ^ 

901 

4 

91% 

j 

888 

1048 

744 

— 

4048 

— 

f74 

4448 

" 

748 

— 

1042 

1457 

1699 

4441 

f 

— 

t 

4 
I 
4 

80        ^ 


1  I  9  I  6  |40^40|44|  9  |28ll6|40 


ft     8      128 


24  'Bu  L.  PMf^ 

die  Thatsache,  dass  Umzug  vom  Land  in  die  Stadt  (d.  h.  engere  Wohn- 
räume, mehr  Aufenthalt  in  schlechter  Luft  etc.)  die  Disposition  steigert. 
Specielle  Ursachen  ausser  den  in  früherer  Zeit  sehr  beschränkten 
Wohnungsverhältnissen  können  nicht  angegeben  werden. 

Für  die  zweitstärkste  Epidemie  (gewöhnlicher  Dienstbesland  700 
Mann)  des  Jahres  4  867  lässt  sich  eine  derartige  Schädlichkeit  nicht  an- 
führen und  muss,  da  in  den  letzten  1 0  Jahren  sowohl  die  Wohnungs- 
ais auch  die  Nahrungs Verhältnisse  der  Soldaten  bedeutend  verbessert 
wurden ,  eine  Ursache  dieser  plötzlichen  Zunahme  nur  in  Einflüssen 
gesucht  wenien,  die  ausserhalb  der  socialen  Beziehungen  stehen  müssen. 

Die  schlossähnliche  Kaserne  liegt  weit  hin  sichtbar  an  dem  Rande 
eines  Plateaus,  c.  1 50  Fuss  über  dem  Spiegel  der  nahe  vorüberfliessen- 
den  Um  und  c.  800  Fuss  über  dem  Heere.  Nach  der  Um  und  nach  der 
jenseits  derselben  liegenden  Stadt  zu  fällt  das  Terrain  ziemlich  steil 
ab,  weniger  steil  nach  SO,  nach  Oberweimar  zu.  Nach  0.  dehnt  sich 
das  Plateau ,  einzelne  Terrainfalten  abgerechnet ,  weit  aus ,  mit  zahl- 
reichen und  starken  Quellen  in  den  Terrainfalten  (Papierbach  von  Ober- 
weimar, Quelle  im  Park,  Quelle  im  Rebhühnerpark  auf  den  sogenannten 
90  Aeckern  und  nach  starkem  Regen  auf  den  Aeckem  nach  N.  von  der 
Kaserne,  auf  der  »Grossmutter«  und  im  Webicht). 

Den  geologischen  Untergrund  dieses  Plateaus  bilden  theilweis 
dünne  Muschelkalkbänke,  die  in  bröcklichen  unregelmässigen  Schichten 
n^it  Letten  abwechseln.  Der  grösste  Theil  aber  besteht  aus  Alluvionen, 
wie  sie  sich  jenseits  der  Um  nach  dem  Gottesacker  zu  (Vorwerksgasse) 
finden  (Lehm)  und  aus  KiesgeröUen ,  wie  sie  bei  Süssenborn  über  80 
Fuss  hoch  zu  Tage  liegen. 

Die  Kaserne  mit  den  Nebengebäuden  liegt  in  einer  der  oben  ge- 
schilderten wasserreichen  Terrainfalten  des  Plateaus  und  finden  sich  zu 
beiden  Seiten  der  ganzen  Wilhelmsallee  zahlreiche  Brunnen.  Die  jetzige, 
im  Jahrä  i  855  neu  erbaute  Kaserne  ist  zum  Theil  aus  den  dünnen 
Muschelkalkplatten  gebaut,  die  unter  dem  östlichen  Flügel  des  Ge- 
bäudes selbst  gebrochen  wurden.  Der  westliche  Flügel  steht  auf  Geröll 
und  »Knatz«  (Keuperletten  ?)  und  hat  sich  nach  der  Vollendung  des  Baues 
so  gesenkt,  dass  das  Gebäude  in  der  Mitte  starke  Risse  bekomtnen  bat. 
Die  Abtrittsgrube  befindet  sich  am  östlichen  Flügel  in  dem  früheren 
Steinbruche  angelegt.  Die  frühere  Kaserne  mit  sehr  ungünstigen  Räuin- 
lichkeiten  befand  sich  in  dem  jetzt  zum  Lazareth  eingerichteten  Ge- 
bäude und  steht  dasselbe  wahrscheinlich  ganz  auf  Alluvium.  Die 
Brunnen  am  Kasernenberge  haben  eine  wechselnde  Tiefe  von  18 — 26—- 
30  Fuss  und  variiren  im  Wasserstand  bedeutend. 

Der  Einfluss  socialer  Miss^tände  lässt  äich  in  Bezug  auf  den  Aus- 


j 


Der  Typhos  in  der  Kasene  n  Weimar  von  t83(l— 1867  ete.  S> 

bnieb  von  Typhusepidomien  beim  Militttr  leichter  übersehen,  als  bei 
der  CivilbevOlkefung.  Es  giebt  die  Kaserne  zu  Weimar  den  Beleg,  dass 
ohne  sociales  Elend  (Simon)  doch  Epidemien  entstehen  können  und  ist 
das  sociale  Elend  als  ätiologisches  Moment  tlberhaupt  ein  Factor,  der 
sich  zu  allen  Zeiten  auch  unter  einer  relativ  gesunden  Bevölkerung  in 
grösseren  und  kleineren  Orlen  jederzeit  nachweisen  tösst.  Wenn  man 
auch  der  früheren  Kaserne  zu  Weimar  den  Vorwurf  machen  konnte, 
dass  sie  übervölkert  war,  so  trifft  dies  doch  kaum  die  jetzige  Kaserne, 
dis  luftig  gelegen,  nicht  durch  Mauern  eingeengt  ist,  in  welcher  den 
Bewohnern  eine  ausreichende  Kost  verabreicht  und  in  welcher  dienst^ 
lieh  auf  Reinlichkeit  der  Räume  und  der  Bewohner  gesehen  wird.  Un- 
günstige Einflüsse  von  Seiten  der  Beschäftigung  der  Soldaten  können 
nidit  stark  prädisponirend  eingewirkt  haben ,  da  bei  ziemlich  gleich^ 
massiger  Beschäftigung  in  30  Jahren  nur  6  mal  eine  stärkere  Typhus- 
morbilität  vorkam. 

Zur  Erklärung  der  Exacerbationen  des  Typhus  bedarf  es,  wie 
Buhl  sagt,  einer  Ursache  im  grossen  Styl,  die ,  wie  sie  für  München  in 
den  Schwankungen  des  Grundwassers  sicher  nachgewiesen  und  be- 
rechnet >),  auch  für  die  frühere  und  jetzige  Kaserne  zu  Weimar  vor- 
handen ist. 

Die  dem  Militär  zugehörigen  Baulichkeiten  stehen  (mit  Einschluss 
des  östlichen  Hügels  der  neuen  Kaserne)  auf  einem  porigen ,  für  Luft 
und  Wasser  durchgängigen  Untergrund ,  der  bei  c.  %b  Fnss  Grund- 
wasser führt. 

Das  Grundwasser  unterliegt  bedeutenden  Schwankungen,  wie 
der  schwankende  Wasserstand  der  Pumpbrunnen  daselbst  beweist. 
Der  Wasserstand  war  im  Herbst  i  866  so  hoch ,  dass  nach  N  von  der 
Kaserne  auf  den  e.  900  Puss  entfernten  Aeckem  eine  Quelle  zu  Tage 
trat.  Im  Februar  i  867  halte  der  Brunnen  vor  dem  Lazareth  auffallend 
wenig  Wasser,  war  am  ganzen  Kasemenberg  Wassermangel ,  der  erst 
im  März  und  April  sich  wieder  ausgeglichen  hatte.  Es  triflPl  somit  die 
Typhusepidemie  vom  Winter  i  867  mit  einem  tiefen  Stand  des  Grund- 
wassers zusammen  und  scheint  auch  das  Erlöschen  mit  dem  Steigen 
desselben  in  Beiiehong  zu  stehen. 

Aehnliche  Verhältnisse  constatirte  der  ärzUiohe  Verein  für  die  im 
Frohjahr  4866  in  dem  Typhusbezirk  von  Weimar  (Brühl,  Wagnergasse, 
Töpfergasse ,  Kirchgaasen  etc.]  auffallend  spät  eingetretenen  Erkran- 
kvngen.  Es  ging  dieser  Epidemie  ein  starkes  Fallen  des  Grundwassers 
in  jenen  Stadttheikn  voraus. 


4)  SiioKL,  Zeitschrift  für  Biologie,  Bd.  I. 


96  I^- 1'«  i'feMer» 

Verschiedene  kleinere  Epideafiien ,  die  Verissser  im  Sommer  und 
Herbsi  4865  in  der  Umgebung  von  Eisenadi  im  AnsoUudft  an  die 
Epidemie  von  Meningitis  des  Winters  64/65  ^)  zu  beobaebten  Gelegen- 
heit hatte,  treffen  ebenfalls  mit  einem  Eingeben  der  dort  allein  vorium- 
denen  Pumpbrunnen  zusammen.  Zumal  in  dem  Dorfe  Uelterode  war 
ein  solch  unerhörter  Wassermangel  und  eine  so  starke  Typhasepidemie, 
wie  sich  kein  Einwohner  eines  Gleichen  erinnern  konnte. 

Die  Hauptpuncte  des  von  Buhl  aufgefundenen  Zusammengehens 
von  Grundwasserschwankungen  und  Typhusmorbilität  finden  sich 
dempach  im  Untergrund  der  Kaserne.  —  Die  von  dem  arztlichen  Verein 
zu  Weimar  schon  längst  angeregten  ständigen  Grundwassermessungen 
werden  voraussichtlich  eine  Bestätigung  der  anderweitigen  interessanten 
directen  beiderseitigen  Abhängigkeit,  eine  Bestätigung  des  Gesetzes, 
ergeben: 

dass  die  Dauer  und  Raschheit  der  auf-  oder  abwärtsgehenden 
Bewegung  des  Grundwassers  das  Haass  enthält  fUr  die  In-  und 
Extensität  des  Typhus,  d.  h. 

dass  plötzliches  tiefes  Zurückgehendes  Grundwassers  z.  B.  eine 
starke  Epidemie  mit  stärkster  Mortalität  im  Beginn  derselben 
vorhersagen  lässt. 

Es  finden  wahrscheinäch  die  für  das  Auftreten  und  die  Verbreitung 
der  Cholera  jetzt  anerkannten  Grundsätze  auch  hier  ihre  Anwendung, 
muss  für  epidemische  Verbreitung  des  Typhus  eine  Regeneration  des 
Gontagiuma,  das  audi  hier  in  d^i  Entleerungen  zu  suchen  ist,  im  Bo- 
den statt  haben  und  ist  der  dazu  günstige  Zustand  des  Bodens  vorhan- 
den, wenn  beim  Zurückgehen  des  Grundwassers  durch  die  nachfolgende 
Luft  die  im  Boden  deponirten  Abtrittsstoffe  in  Fttnlniss  ttbergehen. 

Durch  die  sehen  jahrelange  Anhttufirag  von  Soldaten  auf  dem 
oben  als  porös  geschilderten  Boden  ist  die  Imprägnation  desselben  mit 
durch  das  Grundwasser  gelösten  excrementieUen  Stoffen  auf  jeden  Fall 
eine  sehr  bedeutende. 

Die  Lage  der  Senkgrube^  an  einer  hohem  Stelle  des  Terrains  nach 
O.  von  der  Kaserne,  muss  ein  Sickern  derselben  unter  der  Kaserne 
hinweg  nach  dem  Abhänge  des  Plateaus  zu  veranSasseu. 

Eine  verhältnissmässig  starke  Fäulnissentwickelung  beim  Zurück- 
gehen  des  Grundwassers  wird  die  natürliche  Folge  sein  und  findet  dies 
eine  Bestätigung  daria,  da«  mehrere  Brunnen  jedesmel  beim  Beginn 
von  Typhusepidemien  mussten  geschlossen  werden  wegen  jauchiger 


4)  Diese  Zeitschria.   Bd.  II.  4869. 


Der  Typliii8  io  der  Kaame  n  Weimr  von  1836—1867  ete.  S7 

Beschaffenheit  des  Wassers.     Auch  nach  Gebrauch  anderen,   guten 
Wassers  sind  dann  noch  fortgesfdlste  Erkrankungen  vorgekommen. 

Die  immer  noch  in  Frage  geateUte  GontagiosiUtt  des  Abdominal- 
typbus können  wir  durch  Beispiele  siebt  erhärten.  Der  persönliche 
Verkehr  ist  in  einer  Kaserne  viel  zu  verwickelt!,  als  dass  sich  für  der- 
artige Untersuchungen  Anhallspuncte  Onden  Hessen.  Die  in  der  Poli- 
klinik zu  Jena  durch  Lotholz  (Inauguraldissertation)  zusammengestellten 
Beobachtungen  Über  das  Incubationsstadium  des  Abdominaltyphus 
(18 — 28  Tage!)  bestätigen  den  von  GansmcsR  aufgestellten  Satz,  dass 
eine  Ansteckung  von  Seiten  Typhuskranker  erfolgt.  Die  sehr  einCachen 
Verhältnisse  der  verschiedenen  kleinen,  jenen  Beobachtungen  zu  Grunde 
liegenden  Epidemien  in  wenig  bevölkerten  Orten  finden  sich  so  selten, 
dass  diesen  Beobachtungen  ein  doppdter  Werth  beigelegt  werden  muss. 

Fttr  die  Erklärung  der  auffallenden  Thatsache ,  dass  seit  34  Jahren 
der  Typhus  eigentlich  nie  in  def  Kaserne  erloschen  ist,  braucht  aber 
nicht  einmal  eine  öfter  erneuerte  Ansteckung  von  Einwohnern  der 
Kaserne,  oder  eine  öftere  Importe tion  von  Typhusoootagium  angeoom- 
men  zu  werden. 

Die  Tenacität  des  Typhusoontagiums  ist  eine  ungeheure.  In  der 
Erlanger  Klinik  erkrankten  3  Jahre  lang  alle  Kranken  am  Typhus,  die 
in  ein  Zimmer  gelegt  wurden ,  in  dem  vor  Jahren  Typhuskranke  ge^ 
legen  hatten  und  kann  die  hier  30  Jahre  lang  zu  verfolgende  Reihe 
von  Typbusfällen  auf  die  Tenacität  des  Gentagiuras  bezogen  werden, 
welches  event.  jedes  Zurückgehen  des  Grund weassers  zu  neuer,  aua^ 
gedehnterer  Regeneration  benutzt. 

In  directem  Anachluss  an  die  Typhoserkrankungen  im  Febnuir 
und  März  1867  kamen  im  Militärlazareth  zahlreiche  Weehseifielier- 
erkraokuDgen  zur  Beobachtung,  von  denen  es  anfangs  zweifelhaft  war, 
ob  dieselben  nicht  gleichen  ätiologisohen  Ursprunges  mit  der  voraus- 
gegangenen Epidemie  seien.  Vereinzelte  oder  auch  mehrfaehe  Weebsel- 
fiebererkrankungen  kommen  aHjährlieh  vor, 
48iQ.     4842.     48U.     1846.     4847.     4»48.     4849.      4851.      4853. 

4.  4.  *.  4.  8.  7.  7«.  3.  &. 

4854.     4  855. '  4  856,  ,  4  858.     4859.     4860.     4862.     4863.      4865. 

8,  7.  5.  3.  2.  4.  6.  5.  4. 

4866.     4867. 
3.  42. 

Doch  sind  die  Erkrankten  meist  Recruten  aus  den  Ddrfem  kn 
Aieth  der  Gera  und  der  Unstnit,  oder  solohe,  die  auf  der  Wanderschaft 
Fieberorle  besuchten.  8o  kommen  s.  B.  von  den  7  Wechseifieber^ 
kmnkea  de»  Jahres  4855 


26  Dl.  L.  Pfeiler» 

2  auf  Allstedt. 
2  -  Kalbsrieth. 
4    -  Wolferstedt. 
4    -  Niederpälmtz. 
4    -  Heigendorf. 

Nur  die  gehäuften  Erkrankungen  im  Jahre  1849  und  4867  liessen 
sieh  nicht  auf  so  einfache  Weise  erklären ,  zumal  1 867  ein  so  directer 
Anschluss  an  die  eben  so  unerwartete  Typhusepidemie  statt  hatte: 

fFebruar  40.  24.  22.  23.  27.  27.  27. 
Typhus  4867  ^März       2.  3.  3.  4.  5.  5.  5.  8.  8.  42.  45.  25. 

(April       3.  43. 

[April      8.  42.  48.  24. 
Wechselfieber  4867  ^Mai  44.  48.  48.  20.  23.  29. 


[j 


[Juni         42.  20. 

Auffallend  war,  dass  unter  den  Wechselfieberkranken  sich  nur 
Soldaten  des  I.  Bataillons  befanden ,  welche  im  August  4  866  in  Rastatt 
in  Kasematten  (Friedrichsfeste)  gelegen  hatten  und  dass  vom  11.  und 
IIL  Weimarischen  Bataillon  mit  Quartieren  in  Ulm  kein  Einziger  er- 
krankte. An  eine  Infection  in  Weimar  war,  da  die  Soldaten  des  111. 
Bataillons  in  derselben  Kaserne  und  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen 
sich  befinden ,  nicht  zu  denken  und  niuss  demnach  trotz  des  langen 
Imnibationsstadiums  von  6  Monaten  die  Infection  auf  die  Friedrichsfeste 
in  Rastatt  bezogen  werden. 

Räthselhaft  würde  diese  Epidemie  geblieben  sein,  wenn  nicht  be- 
reits fttr  die  massenhaften  Wechselfiebererkrankungen  des  Jahres  4849 
sich  ähnliche  ätiologische  Beziehungen  hätten  finden  lassen.  Im  August 
und  September  4848  war  das  Weimarische  Militär  in  der  Stärke  von 
4  000  Mann  nach  Schleswig  ausgerttckt  mit  Quartieren  in  und  in  der 
Nähe  von  Flensburg.  Bereits  auf  dem  Heimwege  erkrankten  einzelne 
am  Wechselfieber,  aber  erst  im  Frühjahr  4849,  also  ebenfalls  wieder 
nach  einer  fast  6monatlichen  Latenz ,  kam  es  zu  den  massenhaften  Er- 
krankungen unter  dem  damals  geringen  Dienstbestand  und  viele 
mittlerweile  Entlassene  überstanden  ihre  Krankheit  in  der  Heimath. 
Zahlreichere  Typhuserkrankungen  kamen  damals  nach  Tab.  I  nicht 
vor.  Man  kann  die  Salubritätsverhältnisse  der  Kaserne  nicht  beschul^ 
digen,  dass  gerade  durch  sie  eine  frühere  Infection  zur  Perfection  ge- 
kommen sei. 

Die  anderweiten  im  Militärlazareth  beobachteten  epidemiacben 
Krankheitsformen  haben  wegen  der  geringen  Zahl  der  vorgekommenen 
Fälle  nur  untergeordnetes  Interesse.   Die  beigegebene  Tabelle  U.  giebt 


Der  Typhös  in  der  Rasen«  n  Wehisr  voa  189^1867  ete. 


29 


Tab.  U. 


Im  Jahre 

Januar  bis 
Mfirz 

April  bis 
Juni 

Juli  bis 
September 

October  bis 
Dccember 

Summa 

4886 

Yarioloiden  S 

Yarioloiden  2 

Yarioloid.  44 

Varioloiden  4 

Yarioloiden  49 

4840 

Parotidis  8 

Parotidis  8 

4842 

Yarioloiden  4 

Yarioloiden  4 

Varioloiden  5 

4844 

Yarioloiden  2 

Yarioloiden  2 

4845 

Parotidis  4 

Erysipelas  2 

Erysipelas  4 

Parotidis  4 
Erysipelas  3 

4847 

Morbillen  8 

Morbillen  2 

4848 

Morbillen  8 

Yarioloiden  4 

Yarioloiden  4 
Morbillen  3 

4849 

Parotidis  4 
Morbillen  3 

Yarioloiden  7 
Erysipelas  2 

Yarioloiden  8 

Yarioloiden  9 

Yarioloiden  4  9 
Parotidis  4 
Erysipelas  2 
Morbillen  3 

4850 

Erysipelas  8 

Yarioloiden  4 
Parotidis  4 
Erysipelas  2 

Erysipelas  4 

Yarioloiden  4 
Erysipelas  2 

Influenza  4 

Yarioloiden  2 
Parotidis  4 
Erysipelas  44 

1 

4854 

1 
Influenza  8 

Erysipelas  4 

Parotidis  4 
Erysipelas  3 

Parotidis  4 
Erysipelas  4 
Influenza  4 

4859 

Erysipelas  8 

Erysipelas  4 

Erysipelas  4 

4858 

Erysipelas  4 

Erysipelas  7 

Parotidis  44 
Erysipelas  7 

Parotidis  44 
Erysipelas  48 

4854 

Yarioloiden  S 

Yarioloiden  2 
Erysipelas  5 

Erysipelas  4  2 

Erysipelas  4 

Yarioloiden  4 
Erysipelas  48 

t 
4855       ■ 

1 

Yarioloiden  4 
Parotidis  4 
1  Erysipelas  S 

1 
i 

Yarioloiden  4 

• 

Erysipelas  40 
Influenza  8 

Erysipelas  8 
Influenza  8 

Influenza  2 

Yarioloiden  2 
Parotidis  4 
Erysipelas  45 
Influenza  8 

1 
4866       1 

1 
1 

Erysipelas  8 

Yarioloiden  8 
Erysipelas  5 

Erysipelas  8 
Morbillen  8 

Erysipelas  4 

Erysipelas  4 

Yarioloiden  8 
Erysipelas  48 

4857 

Erysipelas  8 

Vari«  »leiden  3 
Erysipelas  4 
Morbillen  4 

Erysipelas  2 

Varioloiden  8 
Erysipelas  47 
Morbillen  4 

30 


dr^UPfeMMT, 


Fortsetzung  Ton  Tab.  IL 


Im  Jahre 

Januar  bis 
MHrz 

April  bis 
Juni 

Juli  bis 
September 

October  bis 
Deoember 

Summa 

1 
4858 

Scarlatioa  4 

Erysipelas  4 
ScarlatinaJ 

Erysipelas  5 
Morbillen  4 

Varioloiden  2 

Varioloiden  2 
Erysipelas  9 
Scarlatina  und 
Morbillen  3 

1 

4859       1 

Varioloiden  2 
Parotidis  4 

Varioloiden  2 
Parotidis  4 
Erysipelas  8 

Parotidis  2 
Erysipelas  4 

Erysipelas  4 

Varioloiden  4 
Parotidis  7 
Erysipelas  46 

4860 

Erysipelas  2 

Erysipelas  5 

Erysipelas  8 

Erysipelas  40 

4864 

Morbillen  3 

Erysipelas  5 

Erysipelas  4 

Erysipelas  6 
Morbillen  8 

4862 

Erysipelas  7 

Erysipelas  3 

Erysipelas  40 

1 
1 
4863 

Brysipelas  2 

Erysipelas  5 

Varioloiden  2 
Erysipelas  5 

1 

Varioloiden  6 
Erysipelas  2 
Influenza  42 

Varioloiden  8 
Erysipelas  4  4 
Influenza  42 

4664 

Varioloiden  2 
Erysipelas  4 

Erysipelas  8 

Erysipelas  3 

Erysipelas  2 

Varioloiden  2 
Erysipelas  9 

4865 

Parotidis  8 
Erysipelas  2 

Erysipelas  3 

Erysipelas  5 

Erysipelas  2 

Parotidis  8 
Erysipelas  42 

4866 

Parotidis  8 
Erysipelas  8 
Morbillen  40 
Scarlatina  4 

Erysipelas  8 

Erysipelas  3 

Erysipelas  4 

Cholera  2 
Cholerine  4 

Parotidis  8 
Erysipelas  40 
Morbillen  40 
Scarlatina  4 
Cholera    1  ^ 
Cholerine^ 

4867 

Erysipelas  2 
Diphtherl- 
tis44 

Erysipelas  2 

Summa 
olme 
4867 

Varioloid.  40 
Parotidis   4  3 
Erysipelas  23 
Morbillen  24 
Scarlatina  2 
Inlhienza     3 

72 

Varioloid.  22 
Parotidis     5 
Erysipelas  85 
Üorbillen    3 
Scarlatina  4 
Influenza     3 

449 

Varioloid.  25 
Parotidis  47 
Erysipelas  72 
Morbillen    2 
Scarlatina  — 
Influenza    3 

449 

Varioloid.  49 
Parotidis     8 
Erysipelas  24 
Morbillen  -- 
Scarlatina  — 
Influenza  45 

63 

Varioloiden  76 
Parotidis      43 
Erysipelas  201 
Morbillen     26 
1  Scarlatma      8 
I  Influenza  24  (?) 

373. 

Dtr  tjfku  i«  in  KMtriM  m  Weimr  fm  Vm^mi  ele.  31 

eint  Ueberaicht  der  io  dm  30  Jabren  noiirlen  Fälle  von  Erysipelas, 
Yarioloiden ,  Morbillen ,  Scarlatina ,  Parotidis  und  Influenza.  Leider  ist 
die  Uphtherilis  in  den  Krankenrapports  nioht  berttoksiohiigt. 

Die  Uebersicht  xeigi  eise  forUauCende  Anzahl  ^on  ErysipelaslälleD 
(mit  Ausschluss  von  Lyinphangitis  und  Phlegmone)  durch  eine  lange 
Reihe  von  Jahren ,  die  im  Durchschnitt  mehr  auf  die  wärmere  Jahres- 
zeit fallen  und  die  häufig  sporadisch ,  in  manchen  Jahren  aber  auch  in 
grösserer  Anzahl  mit  acuten  Exanthemen  zusammen  vorkommen.  Bös- 
artige Formen  sind  kaum  zur  Beobachtung  gekommen.  So  nach  der 
Typhusepidemie  von  i  867  ein  Fall ,  in  dem  fast  1  Quadratfuss  Baueb- 
wand  mit  einem  grossen  Theil  des  Zellgewebes  am  Scrptum  und  Peoia 
brandig  ausgestossen  wurde ,  und  der  in  Heilung  ausging. 

Kleinere  Epidemien  von  Parotidis  sind  verhältnissmässig  häufig 
zur  Beobachtung  gekommen,  doch  lässt  sich  hier  ebenso  wenig  wie  für 
die  Fälle  von  Rothlauf  irgend  ^in  äusseres  ätiologisches  Moment  geltend 
machen.  Meist  findet  sich  die  Parotidis  vor  oder  nach  oder  auch  gleich- 
zeitig mit  acuten  Exanthemen ,  und  im  Ganzen  ziemlich  gleichmässig 
Über  das  ganze  Jahr  vertheilt. 

Parotidis  wurde  beofiachtet 

Blattern  1850,  1855,  4859. 
Erysipelas  4853,  4859,  1866. 
Influenza  4  854., 
Masern  4866. 
Scharlach  4866. 


Gleichzeitig  mit  < 


,       .         (Rothlauf  4853. 
Vorausgehend  vor  j^j^^^^^^g^^ 

^T    1^* ,       j      t  (Blattern  4849. 
Nachfolgend  auf  jp^^^l^^j^ggg 

*"•''*  '«840  (Typhus). 


Halsentzündungen  kamen  durchschnittlich  30 — 40  in  jedem  Jahre 
in  Behandlung;  Ausnahmsweise  stark  vertreten  in  den  letzten  Jahren 

4860.  4861.  4 862.  4863.  4864.  4865.  4866. 
"  30.      39.      22.      40.     4  45.     446.     89. 

jedoch  ist  nicht  mehr  nachzukommen,  wie  sehr  diphtheritische  Processe 
hierbei  betheiligt  sind  (die  in  neuerer  Zeit  entschieden  häufig  vor- 
kommen). 

Lediglich  der  Vollständigkeit  wegen  sei  noch  angeführt,  dass  jähr- 
lich 2—5  bis  höchstens  4  4  Lungenentzündungen  vorkamen. 


32         Dr.  L.  Pfeiffer,  Der  Typhm  in  der  KaseiBe  t«  Weimiir  voa  t8d6— 1867  ete. 

Acute  Gelenkrheumatismen  durchschnittlich  4 — 2  —  3  in  jedem 
Jahr. 

Nagelgeschwttre  durchschnittlich  33,  Minimum  42,  Maximum  63. 
Muskelrheumatismen  in  folgender  Vertheilung : 

4849.     4850.     4851.     4852.     4853.      4  854.     1855.      <856.      4857. 
40.         55.         60.         85.         64.         64.         78.  46.  54. 

4  858.     4859.     4860.     4864.     4862.     4  863.     4864.      4865.      4866. 
36.        4  00.        4  04.        93.         63.         4  20.       464.       480.        134. 

wobei  zu  berücksichtigen  ist,  dass  der  Dienstbestand  der  letzten  Jahre 
fast  das  Doppelte  ist  von  z.  B.  dem  des  Jahres  4  839. 


r 


» 


tJeW  ewige  ThiHiuiTerbhiliagea  u4  die  Stelliig  A«s«f 

Hetells  ia  Systevi 

von  Dr.  H.  Kemming, 


Die  im  Folgenden  mitgetheilten  Unfenncbiuigen  über  das  Thallium 
wurden  von  mir  auf  Veranlassung  des  Herrn  Dr.  Somm ifsaanr  in  BerUa 
in  dessiü  Laboratorium  begonnen  und  im  Laboratorium  des  Herrn  Pnn- 
feasor  Dr.  GaoTaia  in  Jena  su  Ende  geführt. 

Dieselben  sollten  sich  nur  auf  die  Dai*stellung  und  Untersilohiuig 
etwaiger  Verbindungen  des  Thalliumoxyduls  mit  Molybdänsünre,  Wolf- 
rarostture  und  Arsensüure,  sowie  auf  das  Studium  der  Einwii^ong  ▼•» 
trooknem  Ammoniakgas  auf  metallisches  Thallium  beschrttiiken.  Nach- 
dem ich  schon  lungere  Zeit  mit  den  einleitenden  Arbeitan  besohaftigt 
war,  kam  mir  erst  eine  Abhandlung  »On  the  combinations  of  ThaDium, 
Inaugural-Dissertation  at  the  Georgia-Augusla  University  by  Pkl.  Jos. 
OiTTu«aa«  zu  Gesicht ,  in  welcher  ein  Theil  der  von  mir  beabsichtigten 
Untersuchungen  schon  enthalten  war.  Da  Obttingbe  indesa  die  von  ihn 
erhaltenen  Salze  auf  ihren  Wassergehalt  zu  untersuchen  versäumt  hatte, 
so  habe  ich  geglaubt,  die  beabsichtigte  Untersuchung  nicht  unterlassen 
zu  dürfen. 

Verbindungen  des  Thalliumoiyduls  mit  Wolframaäure. 

OBTTiNGsa  erhielt,  als  er  wolframsaures  Nation  zu  salpetersaurem 
Thalliumoxydul  goss,  einen  weissen  in  Wasser  qnittslichen  Niederschlag, 
für  den  er  nur  auf  Grund  einer  Wolframsfiurebestimmung  die  Formel: 
Tl O  2  WoO*.  HO  aufstellte.  — 

Fügt  man  wolframsaure  Alkalien  zu  nicht  zu  verdünnten  Lösungen 
der  Thalltumoxydul-Salze,  so  erhält  man  weisse  amorphe  Niederschläge. 
Dagegen  entstehen,  wenn  beide  Li^aungen  kochend  und  stark  verottnnt 
zusammengebracht  werden,  in  der  erkaltenden  Flfissigkeit  ataiii  lidlit* 
brechende  RryaUllblattohen,  welche  unter  dem  Mikroskop  die  Form  sechs- 
seitiger Tafeln  zeigen,  ohne  jede  Abscheidung  amorphen  Salzes.    Ob 

I.  IV.  1.  I 


^ 


34  H.  Fleraming, 

die  Krystalle  dem  rhombischen  oder  hexagonalen  System  angeboren, 
wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Man  erhält  die  nämlichen  Krystalle ,  wenn  man  Wolframsäure  län- 
gere Zeit  mit  kohlensaurem  Thalliumoxydul  kocht  und  heiss  filtrirt. 

Ich  habe  den  weissen  amorphen  Niederschlag  durch  Zusammen- 
giessen  kalter  nicht  zu  verdünnter  Lösungen  von  kohlensaurem  Thal- 
liumoxydul und  NaO.  WoO'.  2 HO  dargestellt  und  analysirt.  Derselbe 
erleidet^  wenn  lufttrocken  angewandt,  weder  nach  3tägigem  Trocknen 
über  Schwefelsäure,  noch  nach  12slündigem  desgleichen  bei  100"  C, 
noch  nach  6  stündigem  bei  f  50^  C  irgend  welchen  Gewichtsverlust. 
Er  ist  also  wirklich  wasserfrei.  In  kohlensaurem  Natron  löst  er  sich 
beim  Kochen;  beim  Erkalten  der  Lösung  entstanden  die  erwähnten 
Krystalle.  Zur  Analyse  wurde  die  Substanz  durch  kohlensaures  Natron 
in  Lttfivng  gebracht,  das  Thailhim  durch  lodkaliom  gefüllt ^),  abfiltrirt 
und  nadh  dem- Trocknen  bei  400^  G.  gewogen.  Das  Filtrat  wurde  mit 
fialpeteraanrem  Quaeksüberoxydul  yollkommen  ausgeftlllt  undVer  Nie- 
derschlag von  wolframsaurem  Qoecksilberoxydul  und  lodquecksilber 
voraichtig  geglüht. 

4,125  grm.  Substanz  gaben  4,034  grm.  TU,  entsprechend  0,669t 
%m.  TIO  as  58,8  Procent  und  0,4645  grm.   WoO^  ^  41,2  Procent. 

£s  entsprechen  diese  Zahlen  allerdings  nicht  einem  neutralen  Salz, 
Bbei*  attoh  nicht  einem  sauren ;  sie  kommen  am  Nächsten  der  Formel : 
4T10,  ö  WoO».*) 

lob  halle  es  für  das  Wahrscheinlichste,  dass  das  Mehr  an  Wolfram- 
Säure  bloss  neutralem,  rasch  und  deshalb  amorph  ausgeschiedenem  Salz 
beigemengt  sei. 


4)  Dies  geschah  immer  nach  der  von  Willm*)  gegebenen  Vorschrift.  Der- 
selbe räthdas  Thallium  in  einem  vorher  gut  gereinigten  offnen  GefUss  in  der  Kttite  zu 
flilleii,  da  ^siob  öesselbe  leicht  an  die  Wanänngen  des  Glases  ansetze,  4 •—42  Stun- 
den absetzen  zu  lassen,  einmal  zu  decantiren  und  den  Niederschlag  mit  einer  klei- 
nen Quantitöt  Wasser,  ^"^Iches  man  vorher  mit  ein  paar  Tropfen  lodkaliumlösung 
versetzt  hat,  aufs  Filter  zu  bringen  und  abtropfen  zu  lassen.  Dann  wird  mit  reinem 
Wasser  ausgewaschen,  so  lange,  bis  die  obe«  ste  Schiebt  des  Filtrats  anfangt,  sich 
zu  trüben.  Das  Filter  muss  bei  4  00®C.  getrocknet  und  gewogen  sein  und  man 
wiederholt  diese  Operation,  nachdem  man  das  lodthallium  darauf  gesammelt  hat. 
—  Die  Resultate  sind,  wie  ich  bestätigen  kann,  sehr  genau. 

*)  Recherches  surle Thallium,  Th^se  pr^sent^e  äla  Facult^  desSciencesde  Paris, 
par  M.  J.  Edhond  Willm,  Paris,  4  865  vollst,  abgedr  Annales  de  Chim.  et  de  Phys. 
4,  V,  p.  5— -401. 

i)  Das  Aequivalent  des  Thalliums  habe  ich  hier,  wie  bei  allen  meinen  Analysen 
mit  Lantiu  SOi  aogenommeo. 


Geber  einige  TbAUiom?erbiDdttngM  md  Ae  Siellong  die^  MelftUs  im  System.       $5 

ber.         gef. 

4T10      59,4...  58,8 

6WoO« 40,6.  ..  44,2 


400 

Krystallisirtes  wiriframsaures  TbaUiumoxydul  erhielt  ich  durdiVer* 
mischen  kochend  heisser,  stark  verdünnter  Lösungen  von  kohlensaurem 
Thalliumoxydttl  mit  NaO.  WoO'.  2  HO  und  Abfiltriren  der,  in  der  er- 
kaltenden Flüssigkeit  schnell  entstehenden  Krystalle.  Es  verliert  beim 
Trocknen  etwas  an  Glanz  und  Lichtbrechungsvermögen ,  erleidet  aber, 
nachdem  es  lufttrocken  geworden  ist,  weder  beim  Trocknen  Ober  Schwe- 
felsäure, noch  bei  100,  noch  bei  150®  G.  irgend  welchen  Gewichtsver- 
lust. Es  ist  also  auch  wasserfrei. 

Zur  Analyse  wurde  das  Salz  gleichfalls  in  kohlensaurem  Natron  ge- 
löst, das  Thallium  als  lodtballium  gefüllt  und  gewogen ,  das  Filtrat  hie- 
rauf unter  Zusatz  von  Salzsäure  eingetrocknet,  die  dabei  theilweise 
reducirte  Wolframsäure  durch  einige  Tropfen  Salpetersäure  wieder  oxy- 
dirt,  Wasser  zugefügt,  die  zurückbleibende  Wolframsänreabfiltrirtund 
mit  Salmiak  haltigem  Wasser  ausgewaschen ,  getrocknet ,  geghlht  und 
gewogen. 

Ein  anderes  Mal  habe  ich  krystallisirtes  wolframsaures  Tballium- 
oxydul ,  durch  Kochen  von  Wolframsäure  mit  kohlensaurem  Thallium- 
oxydttl dargestellt;  in  der  heiss  abfiltrirten  Lösung  scheiden  sich  die 
Krystalle  rasch  aus.  Das  Salz  wurde  ganz  wie  das  vorhergehende  ana- 
lysirt. 

L     Salz  durch  Umsetzung  mit  NaO.  WoO'.  2  HO  erhalten: 

4,9325  grm.  gaben:  0,634  grm.  WoO*  *)  :m  32,6  Prooent  und: 
4,945  grm.  TU,  entsprechend  4,^46  grm.  TIO  »  64,5  Proceni. 

U.     Salz  beim  Kochen  mit  WoO'  erhalten: 

0,8t 35  grm.  Substanz  lieferten :  0,8205  grm.  TU,  entsprechend 
0,5255  grm.  TIO  »  64,5  Procent^  femer  0,290  grm.  WoO'  wt  35,6 
Procent. 

Demnach  ist  das  Salz  neutrales  wolframsaures  Thattiumoiydul. 

ber.  gef. 

TIO 64,5  .  64,5  .  64,5 

WoO« 35,5  .  (32,6) .  35,6 

400 


4)  M  dieser  Wotframtiare-Bestimmung  ging  Etwas  verloren. 

•  ♦ 


36  H.  PtonDlngv 

Ich  habe  auch  versucbt  ein  saures  wolframsaures  Salz  des  Thallium- 
oxydul's  zu  erhalten  dadurch ,  dass  ich  eine  verdünnte  heisse  Lösung 
von  kohlensaurem  Tballiumoxydul  mit  einer  desgleichen  von  saurem 
wolframsaurem  Natron  versetzte.  Bei  geringem  Zusatz  bilden  sich  wah- 
rend desEricältens  die  mehrfach  beschriebenen  Krystalle,  bei  grösse- 
rem Zusatz  entst^t  eine  Trttbung  der  Flüssigkeit,  und,  wenn  man  noeh 
einige  Zeil  kocht^  scheidet  sich  am  Boden  gelblich  grüne  WolframsSure, 
imlerEiistht  mit  amorphem  Salz  aus.  Die  hierbei  entstehenden  Kry«*- 
stalle  waren  anfangs  klar  und  durchsichtig ,  aber  nach  Verlauf  Ven  2( 
Stunden  waren  sie  trüb  und  undurchsichtig  geworden.  Da  sie  si<^ 
durch  Abschlämmen  von  dem  amorphen  Niederschlag  gut  trennen 
lassen ,  habe  ich  auch  von  ihnen  eine  Thallium-Bestimmung  gemacht. 
Sie  Hod  damach  gleichfalls  neutrales  Salz. 

4,7S45grm.  des  krystallisirten  Salzes  gaben :  4,7645  grm.  TU, 
•Dtsptieofaeiid  i^iUi  gpm.  T10s64,5  Proeent. 


y^r  bin  düngen  des  Thalliumoxyduls  mit  Molybdän  säure. 

Giesst  voan  eine  heisse  st^rk  vendttnnte  Losung  von  NaO.  MoO'. 
SfllO  mit  eiper  gleichfalls  beissen  und  slaric  verdünnten  Lösung  von 
kjoblensaurem  ThaUiumoxydul  za3ainmen ,  so  scheiden  sich  beim  Er-* 
kalten  4^  Flüssigkeit  Kry$UilUlitter  au^,  die  unter  dem  Mikroskop  ganz 
dieselbe  Form  und  ein  gleich  ausgezeichnetes  Lichtbrechungsvermögen 
zeigen ,  als  die  schon  beschriebenen  Krystalle  des  neutralen  wolfram- 
säuren Salzes.  Sie  scheinen  im  \Vasser  noch  schwerer  löslich  zu  sein, 
alj^-jfiia;  durch  kohlensaure  Alkalien  werden  aie  gleichfalls  gelöst  und 
bei  genügender  ConcentcBtlon  beim  Erkalten  wieder  erbalten. 

Zur  Analyse  wurde  die  lufttrockne  Substanz  verwandt;  sie  erlitt 
sowohl  über  Schwefete^urje ,  «Is  bei  100,  als  bqi  i50^G.  keinen  Ge- 
wichtsverlust. Das  Salz  war  also  ebenfalls  wasserfrei.  —  Nach  dem 
Lös^  in  kofalebBaurem  Natron  wurde  das  Thallium  durch  iodkalium 
ausgeftUtv 

1,0593  grm.  des  getrockneten  Salzes  gaben:  4,S30  grm.  TU, 
ents^^end  6,7898  grm.  T10s=74,4  Precent. 

Demnach  ist  das  Salz  neutrales  molybdänsaures  ThaUiumoxydul. 

ber.  gef. 

TIO    ,...,.  74,6  .  .  74,4 

MoO» 25,4  .  .     — 

100 

Diese  Krystalle  kann  mm  auch  durch  Kochen  von  Molybdänsäure 


Deber  einige  ThaUiomrerbiudongeD  uid  äe  Stellung  dieses  Metalls  im  System.      }T 

mit  einer  Lösung  von  kohlensaurem  ThaUiumoxydul  erhalten ;  filtrirt 
man  letztere  noch  helss  von  der  ungelöst  gebliebenen  Molybdansaure 
ab,  80  ersoheinen  dieselben  beim  Erkalten  im  Filtrat. 

FOgt  man  eine  Iltisse  und  stark  verdünnte  Losung  von  i^eiüadi 
molybdänsaurem  Natron  —  erhalten  durch  Zusammenschmelzen  von 
4  Miscbungsgßwicht  NaO.  CO^  mit  3  desgleichen  MoO^  —  zu  einer 
heiasen ,  stark  verdünnten  Lösung  von  kohlensaurem  Thalliumoxyduli 
so  entsteht  anfilnglicb  kein  Niederschlag,  aber  bei  weiterem  Zusatz  des 
molybdänsaur^d  Natron  entsteht  ein,  durch  die  ganze  Flüssigkeit  ver^ 
breitetes ,  voluminöses ,  weisses  Präcipitat,  welches  mit  wenigen  cou^t* 
pacteren  Krystallen  vermengt  ist.  Es  setzt  sieh  sehr  langsam  ab ;  die 
unterste  und  schwerste  Schichte  zeigt  eine  gelbliche  Farbe.  In  einer 
hinreichenden  Menge  siedendcoi  Wassers  löst  es  sich  wieder  auf ;  fügt 
man  daiu  von  Neuem  molybdäosaures  Natron,  so  entsteht  mich  einigem 
Kovhen  ein  gelber,  schnell  zu  Boden  sinkender  Niederschlag.  Wird 
dieser,  nach  dem  Auswaschen  mit  Ammoniak  behandelt ,  so  verliert  er 
seine  gelbe  Farbe,  es  bleibt  eine  weisse  Masse  zurück  und  in  der 
Flüssigkeit  findet  sich  Thallium  und  Molybdän^Aure.  Eine  qualitotive 
Analyse  dieses  gelben  Salzes,  welche  angestellt  wurde,  um  zu  entscheiden , 
ob  dasselbe  vielleicht  ein  Doppelsalz  von  TIO.  MoO»  und  NaO.  MoO^ 
sei,  ergab  die  Abwesenheit  von  Natrium. 

Das  sich  zuerst  abscheidende  und  schwer  abseUienda  I^rlbeipitaAi 
welches  sowohl  von  gelbem ,  als  auch  von  krystallisirtem  Si^ze  Jeicht 
durch  Schlamme^ getrennt  werden  kann,  wurd^über  Sohw^fel^ltuirf 
getrocknet  und  analyvrt.  Es  konnte  ohne  Gewichtsverlust  bis  4^0^  G. 
erhitzt  werden  und  ist  also  wasserfrei. 

4,04285  grm.  lieferten  4,1075  TU,  entspiechend  0,7093  TVO  » 
68,5  Procent. 

Das  Verhaltniss  des  ThaUiumoxydul's  zur  Molybddnsdure  bere^i^p^t 
sich  danach  wie  8:44  oder  4 :  57..  Es  ist  wohl  möglich ,  dsAs  dasMt^ 
ein  Gemenge  amorphen  neuiralen  Salzes  mit  freier Molyb4^n,s)lure ist.  — 

Das  vorher  erwähnte  gelbe  Sab  verii^l,  wenn  es  {ufttrooken  if^ 
weder  über  Sehwefeisflure,  noch  Im  tOO  resp.  450<^G.  ßu  Gewicht    . 

0,74475  desselben  gaben:  0,6835  gnp.  TU,  eptsprechend  0,3999 
grm.  TIO  iB  53,6  Prooeot. 

Damach  enthttlt  es  also  46,4  Proeent  MolybdttnsHiure,  welche  Zablfp 
anntthamd  einem  Sab  von  der  ZusummeiMtzung  BTIO,  8;  M^Q^  ent- 
sprechen. 

0BTT4i«4ia  erhielt  durch  WeohseUerselzung  von  s^^eterfaur^ffi 
ThaUiumoxydul  upd  molybdänsaorem  Natron  gle^hfalls  das  nfuZualf 
Salz,  blr  das  er  die  richtige  ZnaavmenseUwg  apgegeb^n  b^t.'  ^  - 


$g  H.  Flemming, 

Verhalten  des  Thalliumoxyduls  gegen  Kieselsäure. 

Dass  das  Thalllumoxydul  das  Vermögen  besitzt,  Kieselsäure  aufzu- 
lösen ,  ist  schon  von  den  Entdeckern  dieses  Metalls  bemerkt  worden ; 
es  ist  jedoch,  so  weit  ich  habe  in  Erfahrung  bringen  können,  nie 
das  Verhältniss  untersucht,  in  welchem  beide  sich  mit  einander  zu 
vereinigen  im  Stande  sind.  —  Die  von  mir  zu  den  Versuchen  ver- 
wandte Kieselsäure  war  bei  der  Darstellung  der  Kieselflusssäure  als 
Nebenproduct  gewonnen,  sie  wurde  vollkommen  ausgewaschen  und 
ungeglttht  angewandt.  Das  Thalliumoxydulhydrat  war  durch  Wechsel- 
zersetzung von  schwefelsaurem  Thalliumoxydul  mit  Barythydrat  in 
verschlossenem  Cylinder  und  Eindampfen  der  verdünnten  Lösung  in 
einer  Retorte  erhalten  worden.  Diese  Lösung  wurde  mit  viel  über- 
schüssiger Kieselsäure  etwa  24  Stunden  lang  im  Kochen  erhalten  und 
dann  abfiltnrt.  Das  Filtrat  wurde  getheilt,  ein  Theil  diente  dazu,  das 
relative  Lösitchkeitsverhältniss  der  Kieselsäure  im  Thalliumoxydul  fest- 
zustellen, der  andere,  um  zu  sehen,  ob  bei  weiterem  Eindampfen  etwa 
eine  krystaUisirte  Verbindung  erhalten  würde. 

Die  ersterwähnte  mit  Salpetersäure  angesäuerte  Flüssigkeit  wurde 
zur  Trockne  gebracht,  wieder  mit  Wasser  aufgenommen  und  von  der 
ausgeschiedenen  Kieselsäure  abfiitrirt ;  im  Filtrat  wurde  das  Thallium 
als  lodthallium  bestimmt. 

Es  wurden  erhalten: '4,629  grm.  TU,  entsprechend  1,0433  grm. 
TIO  und  0,04355  grms.  SiO». 

Demnach  waren  gelöst  in  100  Theilen  Thalliumoxydul  4,17  Theile 
Kieselsäure. 

Die  nach  einiger  Conoentration  aus  dem  zweiten  Theil  nach  dem 
Erkalten  sich  abscheidende  Substanz  war  weiss  und  krystatlinisch ;  sie 
verlor,  lufttrocken  angewandt,  über  Schwefelsäure  5, 3  8  Procent  Wasser, 
nichts  weiter  indessen  beim  Erhitzen  auf  150^G. 

Zur  Analyse  wurde  dieselbe  mit  Salpetersäure  einige  Zeit  gekcfdit, 
im  Wasserbade  zur  Trockne  gebracht ,  mit  Wasser  wieder  aufgenom- 
men ,  von  der  ausgeschiedenen  Kieselsäure  abfiitrirt  und  im  Filtrat  das 
Thallium  als  lodüiallium  gefällt. 

0,2345  grm.  gaben:  0,073  SiO*  =  31,1  Proc.  und  0,23875  grm. 
TIJ,  entsprechend  0,1529  grm.  TIO  =  65,2  Proc. 

Man  sieht,  dass  die  Analyse  einen  Vertust  von  3,7  Procent  ergiebt, 
über  den  ich  mir  Rechenschaft  nicht  zu  geben  vermag.  Es  wäre  denk- 
bar, dass  die  Substanz  Wasser,  welches  bei  150^C.  noch  nicht  aus- 
getrieben wurde ,  enthalten  hätte.  Das  gefundene  Gewichtsverhältniss 
von  TIO  und  Si 0*  entspricht  dem  Hischungsgewicbtsverhältniss  4:9; 


Deber  eiuigo  TbalUamyerbiDdongMi  md  dh  Slellaug  dieses  Metalls  ira  System.      S9 

We  Lttsung  voo  Kiesdsttiire  und  ThaUhiinoxydul  wird  durch  Kohlen-* 
aKore  unter  Abseheidong  von  Kieselsäure  «ersetzt,  aber  die  leteiere  ist 
doch  auoh  im  Stande,  die  Kohlensflnre  auszutreiben ,  da  eine  kochend«! 
Lösung  von  TIO.  CO^  Kieselsäure  zu  lösen  vermag.  Beim  Erkalteff 
trübt  sich  die  Flttssigkeit,  wird  aber  durch  erneutes  Rochen  wieder 
klar.  Beim  abermaligen  Erkalten  tritt  die  Trübung  von  Neuem  etn 
und  nach  einigem  Stehen  scheidet  sich  eine ,  in  ihren  äussern  Eigen-" 
schaden  der  vorher  ailalysirten  ganz  ähnliche  Substanz  aus. 

*  ■ 

Verhalten   des  Thallium   gegen   Stickstoff. 

Für  diesen  Versuch,  wie  fVif  die  folgenden,  habe,  ich  wv  TMUifm 
nach  Willh's  Vorschrift  aus  oxalsaurem  Thalliumoxydul  dargestellt. 
Wenn  man  dieses  Salz  erhitzt,  so  schmilzt  es  unter  starkem  Aufschäu- 
men zu  einer  anfangs  sohwarzeo,  dann  rothbraun^  Masse ,  au^  wel- 
cher sich  plötzlich  der  Begulus  hervordrang.  Fast  imiper  ist  derselbe 
an  seinen  Rändern  nodi  v<m  Qioem  scbraaleD  Bingß  braunen  odeit 
schwaraen  Oxydes  umgeben,  von  welchem  man  das  Aussige  Metall 
leicht  durch  Drel\en  des  Glasrohrs  (Kugelröbren).  ablaufen  lassen  kitftn^) 

lieber  das  dergestalt  reducirle  glänzende  Metallkorn  wurde  Stiok-:' 
^s  aus  einem  Gasometer,  über  Sohwefel^säure  und  CUorcalciumgeti^ook-f 
net  und  über  gllthende  Kupferspähne  geleitet,  treten  gelassen.  Eswurda 
allmählich  die  Hitze  gesteigert«  Die  Metallkugel  blieb  völlig  blank  und 
unverändert,  selbst  als  die  Temperatur  die  Sohmelzbitse  des  büluiiiiicbfia 
Glases  erreicht  hatte.  .       .  -^ 

Die  gleiche  Un Veränderlichkeit  des  Metalls  beobachtete  OBTTiifOBa«( 
als  er  trocknes  Ammoniakgaa  2  Stunden  lang  Über  in  einer  Glaisretortci 
geschmolzenes  Thallium  leitete.  i 

Verhalten  des  Thallium  gegen^  K'ohlensäu-re.      •  «/ 

Reipe  trockne  Kohlensäure  Ubtayf  blankes  Tballiuiu»  selbst  bei 
einer  Hitze,  welche  das  böhmische  Glas  erweiphen  maeht,  nicht,  die  {je** 
ringste  Wirkung  aus.  Es  entsteht  keine  Spur  Kohlenoxyidgas  oder 
Thalliumoxydul. 

Einwirkung  von  Kohlenoxydgas  auf  die  Oxyde 

des  Thallium. 

Obgleich  nach  der  von  Wu.lk  gemachten  Entdeckung ,  daas  beim 
Erhitzen  von  oxalsaurim  Thalliumttxydül  metalÜBohes  Thallium  env- 


40  H.  PlMuiiDi» 

Stabe  7  und  nadi  dem  Resultat  des  vorfaerigen  Versaohs  es  beinahe  als 
selbstverständlich  anzusehen  war,  dass  die  Oxyde  des  Thallimn  dur^ 
Koblenos.Ydgas  reducirt  werden,  so  .stdlte  ich  doch,  da  der  direole 
Versuch  noch  nicht  gemacht  war,  denselben  an. 

Idi  leitete  über  das  beim  Glühen  des  salpetersauren  Thalliumoxy- 
duls erhaltene  Product  -^  nach  Laht  ein  Gemenge  von  Thalliurnoxydid 
und  Tballiurotrioxyd  —  das  sich  in  einem  Porzellanschiffchen  und  dieses 
wieder  in  einem  böhmischen  Glasrohr  befand ,  Kohlenoxyd.  —  Sohon 
nach  kurzer  Zeit  zeigten  sichMetallkttgelchen  und  es  gelang  nach  länge- 
rem Gltihen,  das  Gemenge  der  beiden  Oxyde  vollständig  zu  reduciren. 

Verhalten  des  elektrischen   Stroms  gegen  salpeter- 
saures Thallinmoxydur. 

Es  ist  mehrfach  von  den  Chemikern,  welche  sich  mit  Unter- 
suchungen Ober  das  Thallium  beschäftigten,  bemerkt  worden,  dass  bei 
Reduction  desselben  mittelst  des  elektrischen  Stromes  aus  einer  Sulfat^ 
LMung  sich  am  positiven  Pol  eine  schwarze  Masse  ausschied.  Dieselbe 
trat  stets  in  zu  geringen  Mengen  auf,  um  damit  Reactionen  anstellen  zu 
können;  man  vermuthete  nur,  dass  es  Thalliumtrioxyd  sei.  Auch  ich 
beobachtete  diese  Substanz  bei  der  Reduction  des  Metalb  durch  den 
dektrischen  Strom ,  welche  ich  derjenigen  durch  Zink  weitaus  vorzu- 
siehen  gelernt  hatte.  Wenn  dieselbe  wirklich  Superoxyd  war,  so  konnte 
ihre  RHdung  in  grösserer  Menge  bei  der  Zersetzung  des  salpetersauren 
Salzes  erwartet  werden.  In  der  That  geschieht  diess.  Es  scheidet  sich 
am  negativen  Pol  Metall,  am  positiven  Thalliumtrioxyd  In  be.ti^cht- 
Heher  Menge  als  dichte,  schwarzbraune  Masse  aus,  welche  dieselben 
Reactionen,  wie  das  auf  anderem  Wege  dargestellte  Trioxyd  liefert.  *) 

Verhalten  des  Thaüiumoxydulhydrats  gegen  Phosphor. 

In  schmale  Streifen  geschnittener ,  weisser  Phosphor  in  eine  Lo- 
sung von  schwefelsaurem  Thalliumoxydul  gebracht,  erzeugt  in  der- 
selben nach  wochenlangem  Stehen  am  dunkeln  Orte  keine  Veränderung. 

Phosphor-Stttcke  in  eine  concentrirte  Losung  von  Thalliumoxydul- 
hydrat,  welches  durch  Zersetzen  von  TIO.  SO'  mit  Barythydrat  unier 
mOglichstemLuftabaohluss  dargestellt  war,  gebracht,  bedeoken  sich  fast 
augenblicklich  mit  einer  schwarzen  Haut ,  die  beim  Kochen  zu  einem 


4)  Usk  ersehe  eben  aus  dem  9.  Hefts  des  Jahrgangs  4SSS  p.  67  der  »Seitocbrift 
für  Gfaemie«,  dass  BdiTSia  bereits  dasaeUM  beobscbtat  hak 


Ueber  einige  TlMülina?erbiD(loogei  ui  Ae  Slelloiig  dieses  MettUs  im  System.     41 

melallgblnseiideii  Debenug  wird.  Id  verdünnter  SO'  lOsle  sieh  derselbe 
sehr  langsam. 

Pbosj^ber^Sttloke  mit  ThalUnrnoxydidhydrat  in  eine  hiShre  einge- 
schlossen und  24  Stunden  im  Wasserbade  erhitit,  werden  ebenfiaUs  sa 
einer  schwarten  aotBoden  bleibenden  Masse,  wfihrend  weissliche  kleine 
Krystalle  sieh  an  den  Gefosswttnden  ansetaen.  Beim  Oeffnen  der  Röhre, 
welche  nur  wenig  Druck  zeigt,  ist  der  Geruch  nach  Phosphorwasser*< 
Stoff  wahmdimbar;  die  in  der  Röhre  befindliche  Flttssigkeit  enthält 
viel  Thallium  und  etwas  phosphorige  Säure. 

Die  schwarze  Masse  wurde  zur  Entfernung  Überschüssigen  Phos- 
phors mehrmals  mit  Schwefelkohlenstoff  behandelt,  aus  welchem  sich 
nach  dem  Abgiessen  alsbald  rother  amorpher  Phosphor  ausschied.  Die 
surttckbleibende  Masse  wurde  über  Schwefelsäure  getrocknet,  gewogen 
und  hierauf  mehrere  Standen  mit  verdünnter  Sehwefelsäure  gekocht; 
es  entwickelte  sich  dabei  ein  starker  äusserst  unangenehmer  Geruch, 
dem  des  Schwefelaethyrs  vergleichbar.  Ein  geringer  Theil,  welcher 
ungelöst  blieb,  wurde  abfiltrirt  und  in  der  mit  NaO.  CO'  neutraUsirteft 
Lösung  das  Thallium  als  lodthallium  niedergesdilagen.  Phosphersäwe 
war  im  Filtrat  nicht  nachweisbar. 

0,4565  grm.  Substanz  lieferten:  0,664  grm.  TU,  enteprechend 
0,409  gnn.  Thallium  »89,6  Proeent. 

Der  in  Schwefelsäure  ungelöst  gebliebene  nicht  w^ler  gewogene 
Rückstand  löste  sich  in  Salpetersäure  nnter  Freiwerden  von  salpetriger 
Säure ;  derselbe  enthielt  nur  noch  geringe  Mengen  Thallium ,  dagegen 
verbältnissmässig  viel  Phosphor.  Es  mag  diess  wohl  ein  Phosphorlhal- 
lium  gewesen  sein,  aber  die  geringe  Menge  der  vorhandenen  Siriistaai 
erlaubte  keine  genaue  quantitative  Analyse. 

Im  Anschluss  hieran  habe  ich  einen  Versuch  angestellt  über  daa 


Verhalten  des  Thallium  gegen  Phosphordämpfe  bei 

höherer  Temperatur. 

Es  wurden  Phosphordämpfe  über  in  der  Gltthhitse  gcechmebeaee 
Thallium  in  einem  Kohlensäurestrem  geleitet.  Die  Metallkogel  bleibt 
blank  und  zeigt  nach  dem  Erkalten  auf  der  Qberfliiohe  nur  eine  dünne 
Schicht  einer  blasigen  schwärzlichen  Masse ;  die  Kugel  lässt  sieh  leidü 
zerschneiden,  die  Schnittflächen  sind  völlig  melaUgiänzend,  ganz  wie 
bei  reinem  ThaUium.  Nachdem  sie  längere  Zeit  in  Wasser  gelegen 
hatu* ,  wurde  die  äussere  schwarze  Schicht  durch  Salpetersäure  weg- 
gelöst ;  die  Lösung  enthielt  Phoq>horsäure,  das  Uebrige  der  Metallkugel 
war  reines  Thallium,  denn: 


4f  R>  Ptemniing, 

l,04S5  griD.  trockner  Substanz  lieferten:  4,04495  grm.  TU,  entspre- 
chend 4,04  45  grm.  oder  99,9  Proc.  Thallium. 

Dass  die  äusseren  schwarzen  Schichten  der  grösstentheüs  unver- 
änderten Thaltiumkugel  ein  Phosphorthallium  gewesen  sind,  glaube  ich 
nach  dem  Angeführten  annehmen  zu  dürfen ;  aber  es  ist  dadurch  auch 
Gonstatirt ,  dass  die  Verwandtschaft  dieses  Metalls  zu  Phosphor  in  der 
Glühhitze  nur  sehr  gering  ist. 

Ich  war  leider  verhindert,  diese  Versuche  zum  völligen  Abschluss 
bringen  zu  können. 


lieber  dte  Stellug  iles  ntllira  Im  Sjrsten. 

Das  Thallium  hat  das  wunderbare  Schicksal  gehabt ,  zuerst  unter 
die  MetalloYde,  dann  unter  die  Metalle  und  da  wieder  zu  den  leichten 
und  schweren  gerechnet  worden  zu  sein. 

Grookbs  glaubte  anfangs ,  als  er  wohl  nur  Schwefelthallium  und 
nicht  das  Metall  unter  den  Händen  hatte,  es  gehöre  zur  Schwefel-Selen 
Gruppe,  später  jedoch,  als  er  die  Eigenschaften  des  reinen  Metalls  stu- 
dirte,  stellte  er  es  zwischen  Blei  und  Silber. 

Laht  ,  der  zuerst  das  Thallium  in  reinem  Zustande  erhielt ,  sprach 
die  Ansicht  aus,  es  sei  in  die  Gruppe  der  Alkalimetalle  zu  stellen.  Nach 
ihm  hat  Dumas  in  einem  Bericht  an  die  Akademie  ^)  das  bis  dahin  über 
Thallium  Bekanntgewordene  zusammenfassend,  sich  ebenfalls  für  die 
LAMv'sche  Ansicht  ausgesprochen.  Auch  Willm  bekennt  sich  am  Schlüsse 
setner  vortrefflichen  »Recherches  sur  le  Thallium«  zu  der  Ansicht 
LamVs,  was  eigentlich  zu  verwundern  ist,  d)a  fast  alle  von  Willm  neu- 
gefundenen Thatsachen  darauf  hinweisen  ^  dass  das  ThaUium  den 
schweren  Metallen  beizuzählen  sei. 

Von  deutschen  Gelehrten  hat  sich  mit  Bestimmtheit  eigentlich  nur 
WnrfHEii  bei  Gelegenheit  seiner  Arbeiten  über  das  Thallium  fttr  dessen 
Stellung  in  die  Alkaligruppe  ausgesprochen.  —  In  den  Eiu>MAiiN*schen 
sowohl,  wie  in  den  ScadKBBiN^schen  Arbeiten  habe  ich  entschiedene 
Erklärungen  hierüber  nicht  gefunden. 

SrRBGusR ,  der  über  die  Verbindungen  des  Thalliumtrioxyds  ge^- 
arbeitet  hat,  stellt  das  Element  in  seinem  Lehrbuch  unter  die  schweren 


1)   Comptes  rendus  des  s^ances  de    rAcadömie   de-i  Sciences,   s^ance  du 
45.  Decembre  4862. 


Ueber  einige  ThallinrnverbinduDgeii  mid  die  Stelluag  dieses  Metalls  im  System.      43 

Metalle  und  beschreibt  es  unmittelbar  hinter  dem  Blei ;  allerdings  fügt 
er  am  Schlüsse  die  Bemerkung  hinzu ;  «Der  chemische  Charakter  des 
Thallium  ist  so  eigenthümlich ,  dass  es  mit  keinem  andern  Metall 
verglichen  werden  kann.  Während  es  in  mehreren  Beziehungen  den 
Alkalimetallen  ähnlich  ist,  zeigt  es  besonders  wegen  seiner  Fäll- 
backeit  durch  Schwefelanimonium  und  der  leichten  Reduction  durch 
Zink  ane  seinen  Salzlösungen  mehr  Beziehungen  zu  den  schweren 
Metallen  <l. 

In  dem  Lehrbuch  von  Grahah-Otto  wird  es  in  der  Einleitung  der 
zweiten  Abtheilung  des  zweiten  Bandes ,  welche  über  die  allgemeio^n 
Eigenschaften  der  Metalle  handelt,  zu  wiederholten  Malen  unter  den 
schweren  Metallen  genannt  und  in  unmittelbarer  Nähe  des  Bleies  auf- 
geführt. —  WöHLER  stellt  es  in  seinem  Grundriss  gleichfalls  neben  da^ 
Blei.  —  Man  sieht  also,  dass  über  den,  dem  Thallium  anzuweisenden 
Platz  unter  den  Chemikern  noch  keineswegs  Einigkeit  herrscht. 

Diejenigen  y  welche  das  Thallium  zu  den  Alkalimetallen  rechnen^ 
führen  für  diese  Ansicht  an :  l  j  die  Löslichkeit  des  Thaliumoxyduls  ki 
Wasser  und  die  stark  alkalische  Reaction  dieser  Lösung,  ä)  die  Fäll- 
barkeit mancher  Metallsalze ,  z.  B.  Zinkoxydsalze  durch  das  Thallium*^ 
oxydul,  3)  die  Existenz  eines  Thalliumalkoholat's ,  4)  die  leichte  Lös^ 
lichkeit  des  Thalliumfktorürs ,  des  kohlensauren  und  schwefelsauren 
Thalliumoxyduls  und  die  Isomorphie  des  letzteren  mit  dem  schwe- 
felsauren Kali,  5)  die  Bildung  von  Thalliumoxydulalaunen,  6}  die  Lös- 
lichkeit der  phosphorsauren  Thalliumoxydul- Salze,  des  Cyan-,  des 
Ferro-  und  Ferridcyanthallium ,  7)  die  Unlöslichkeit  des  Thallium* 
platinchlorids. 

Ehe  ich  jetzt  zu  den  zahlreichen  gewichtigen  Momenten  übergebe, 
welche  dafür  sprechen,  das  Thallium  unter  die  schweren  Metalle  zu 
zählen,  muss  ich  noch  einige  Worte  über  die  Beziehung  sagen,  in  wel- 
cher das  Mischungsgewicht  des  Thallium  zu  denen  .der  Alkalien  nach 
Dmus  stehen  soll,  sowie  über  die  aus  der  specifischen  Wärme  abgelei- 
teten Argumente  Willm's. 

W.  in  seiner  oben  citirten  Abhandlung  sagt :  d  Herr  Düsas  in  sei- 
nem so  klaren  Bericht  über  das  Memoire  des  Herr  Laut  fügt,  nachdem 
er  die  Gründe  erörtert  hat,  welche  das  Thallium  unter  die  Alkalimetalle 
zu  stellen  zwingen,  hinzu,  dass,  diesen  Satz  zugegeben,  das  Lithium,' 
wenn  man  die  numerischen  Beziehungen  betrachtet,  welche  zwischen 
ihren  Aequivalenten  bestehen,  den  ersten  Platz  in  der  Reihe  dieser  Me- 
talle einnimmt,  indem  es  das  niedrigste  Aequivalent  bat,  während  das 
Thallium  am  andern  Ende  der  Reihe  mit  dem  höchsten  Aeqüivaleni 
sich  befindet.    Diese  Reihe  ist  folgende : 


44  H.  Flemiiiuig» 


Lithium 

.  •  .       7 

Natrium    . 

.  .  .     23 

Kalium 

.  .  .     39 

Rubidium.  . 

.  .  .     85 

Caesium  .  . 

.   .   <23 

Thallium  . 

.  .  .  204 

Ueber  diesen  Qegenstand  ist  noch  bemeiiit  worden,  fOgi  Daui 
hinzu : 

\ )  Dass  das  Aequivalent  des  Natrium  genau  die  Httifte  der  Aequi- 

valente  des  Kalium  und  des  Lithium  ist,     ^^  +  ^  =  23. 

2 

2)  dass ,  wenn  man  das  Doppelte  des  Gewichts  des  Natrium  sum 
Gewichte  des  Kalium  fügt,  man  das  Gewicht  des  Rubidium  erhttlt: 
46  +  39  =  85, 

3)  dass,  wenn  man  das  Doppelte  des  Gewichts  des  Natrium  asum 
Doppelten  des  Gewichts  des  Kalium  fügt,  man  liahezu  das  Gewicht 
des  Caesium  erhält:   46  +  78  »  424, 

4)  dass,  wenn  man  das  Doppelte  des  Gewichts  des  Natrium  zum 
Vierfachen  des  Kalium  hinzufügt,  man  nahezu  das  Gewicht  des  Thal- 
lium erhalt:  46  -h  456  ===  202.« 

Zu  3)  erwähnt  W.  in  einer  Anmerkung ,  dass  durch  spätere  For- 
schungen freilich  das  Aequivalent  des  Caesium  zu  133  festgestellt  sei, 
dass  sich  aber  auch  diese  Zahl  in  den  Zusammenhang  der  Reihe  bringen 
lasse,  wenn  man  sie  betrachte  als  gleich  dem  vierfachen  Gewicht  des 
Natrium  plus  dem  Gewicht  des  Kalium :  92  +  39  =  1 31 . 

Schliesslich  bemerkt  er,  dass  Dums,  indem  er  diese  Reziehungen 
aufsuchte,  dadurch  nicht  eigentlich  habe  ein  neues  Reweismittel  für  die 
Stellung  des  Thallium  unter  die  Alkalimetalle  bringen  wollen,  sondern 
dass  er  diesen  Punct  bereits  hinlänglich  erwiesen  achte  und  nur  bei- 
läu6g  ein  numerisches  Rand  zwischen  den  Aequivalenten  der  Alkalien 
habe  aufsuchen  wollen. 

Wie  bcker  und  künstlich  gemacht  der  hier  aufgestellte  Zusammen- 
hang ist,  scheint  mir  am  Klarsten  daraus  hervorzugehen,  dass,  wenn 
das  Aequivalent  des  einen  Elements  nach  neueren  Forschungen  sich 
plötzlich  um  10  ht^her  stellt,  die  aufgestellte  Rechnung  den  Autqren  des- 
halb um  Nichts  unwahrscheinlicher  erscheint^  sondern,  dass  es  schnell 
gelingt  ein  neues  Verhältniss  berzusteUen. 

Der  Zusammenhang  unter  den  Aequivalent-Zablen  verwandter 
Elemente  ist  bis  jetzt  noch  so  wenig  aufgeklärt ,  dass  es  durchaus  un- 
statthaft erscheint,  aus  einer  darauf  gegründeten  Combination  einen 


Ueber  einige  Thalliumrerbindangeo  oad  die  SteUnng  dieiMS  Metalls  im  System.       45 

RttokflcUoss  cu  machen.  Por  den  vorliegenden  Fall  Ittsst  sich  das  sehr 
leioht  in  einem  Beispiel  erOrtem. 

Han  ist  jetst  allgemein  darüber  einig,  dass  das  Thallium  nicht  wie 
Groous  anfongiich  annahm ,  zu  den  MetalloYden  resp.  der  Schwefel- 
Selen^ruppe  gehöre«  Es  würde  aber  diesem  Chemiker  leicht  gewesen 
sein,  swiscben  dem  Aequivalent  des  Thallium  und  jenem  der  3  Ele- 
mente Schwefel,  Selen  und  Tellur  einen  eben  solchen  Zusammenhang 
aoftufinden,  als  es  Dumas  mit  dem  Thallium  und  den  Alkalimetallen  ge- 
lungen ist.  —  In  der  Reihe : 

Schwefel  ...  46 
Selen     ....  39,5 
Tellur    ....  64 
ist  der  Zusammenhang  bekannt.  Fügt  man  nun  das  Doppelte  des  Aequi- 
Talents  des  Selen  zum  Doppelten  des  Tellur,  so  kommt  man  dem  Ae- 
quivalent des  Thallium  fast  ebenso  nahe,  wie  DtvAs  mit  der  Zahl  208 ; 
denn  79  -4-  428  «  207. 

Ich  sollte  meinen,  dass  dieser  Trugschluss  allein  genügte,  um  das 
Dmus'sche  Argument  zu  entkräften. 

WiLLM  sagt  weiter,  indem  er  daraufhinweist,  dass  das  Aiomge-^ 
wicht  des  Thallium,  aus  seiner  speciflschen  Wanne  abgeleitet,  sich, 
ebenso  wie  das  des  Kalium,  zu  408  berechnet,  es  müsse  das  Thallium, 
ebenso  wie  das  Kalium,  als  einatomig  angesehen  werden,  während  das 
Blei,  dessen  Aequivalent  4  03,5  mit  dem  berechneten  übereinstimmt, 
als  Eweiatomig  cu  betrachten  sei. 

W.  übersieht  dabei,  dass  sich  aus  der  angeführten  Thatsache  ebenso 
gut  eine  Aehnlichkeit  des  Thallium  mit  dem  Silber  ableiten  Ittsst,  denn 
das  Aeqvivalent  desselben  berechnet  sich  aus  der  specifischen  Wttrme 
gleichfalls  nur  au  54,  während  es  doch  allgemein  zu  408  angenommen 
wird.  ^  Nun  hat  auch  in  sehr  vielen  anderen  Beziehungen  das  Thal- 
linm  mit  Silber  kaum  weniger  Aehnlichkeit,  als  mit  Blei,  und  es  würde 
gewiss,  wenn  es  unter  die  schweren  Metalle  zu  ziihlen  sei ,  bei  beideti 
seinen  Platz  erbelten  müssen. 

Durch  das  Beispiel  des  Silbers  wird  gleichzeitig  auch  ein  Argument 
entkräftet,  welches  W.  als  das  gewichtigste  für  die  Placirung  des  Thal- 
lium unter  die  Alkalimetalle  bezeichnet,  nümlich  der  Isomorphismus 
einiger  ThaliiHmoxydulsalse  mit  Kalisalzen,  besonders  der  Sulfate. 

Durch  MrrscHBiucR's')  Untersuchungen  ist  bekannt,  dass  sehr  viele 
Djibcf salze  mit  Natronsalzen  isomorph  ^nd.  Ich  nenne  hier  nur  das 
aehwefelsavre  Silberoocyd  und  das  unterschwefelsaure  Silberoxyd.  Zwar 


4)  Pogg.  Annal.  Bd.  XN.  p   13S,  u.  Bd.  XXV.  p  t9\. 


46  &•  Fiemmiugf 

])at  man  bis  jetzt  durch  Versuebe  nur  festgestellt,  dass  das  uoter- 
schwefligsaure  Silberoxyd  mit  den  unterschwefligsauren  Alkalien  und 
alkaHiscben  Erden  Doppelsalze  bilde,  aber  in  Folge  des  oben  besproche- 
nen Isomorphismus  würde  es  höchst  wahrscheinlich  gelingen,  die  ent- 
sprechenden Natronsalze  in  Doppelverbindungen  durch  Silbersalze  ver- 
treten zu  lassen,  i^d  man  könnte  vielleicht  auch  Silberalaune  erhalten, 
wenn  die  dahin  gerichteten  Versuche  nicht  etwa  an  deriSchwerlö^ch- 
keit  des  schwefelsauren  Silber-oxyd's  scheitern  sollten.  Dadurch  würde 
auch  das  Vermögen  des  schwefelsauren  ThalliurnoxyduFs,  Alaune  und 
andere  Doppelsalze,  wie  sie  Wertber  mit  isomorphen  Sulfaten  der 
Magnesia-Reihe  erhalten  hat ,  zu  bilden ,  leicht  erklärlich ,  und,  weit 
entfernt,  für  die  alkalische  Natur  des  Thallium  zu  zeugen,  würde  es 
vielmehr  den  Beweis  liefern ,  dass  die  Thatsachen  des  Isomorphismus 
von  uns  durchaus  noch  nicht  in  ihrer  letzten  Ursache  erkannt  sind. 

Neben  diesem  Beispiel  des  Isomorphismus  der  Salze  solcher  Me- 
talle, die  ganz  verschiedenen  Gruppen  angehören ,  erscheint  es  unnö- 
thig,  noch  daraufhinzuweisen,  dass  Isomorphieen  zwischen .  Blei*-  und 
Strontian-  resp.  Baryt-Salzen ,  sowie  auch  zwischen  Zinn-  und  Mag- 
nesia-Salzen etc.  vorkommen.  Deshalb  hat  man  indess  sich  nie  be- 
wogen gefunden ,  daraus  Schlüsse  über  die  chemische  Stellung  dieser 
Körper  zu  ziehen. 

Eine  von  Vielen  betonte  Aehntichkeit  des  Thallium  mit  dem  Kali- 
um soll  darin  bestehen,  dass  seine  Salze  mit  Platinchlorid  ein  unlös- 
liches Doppelsalz  bilden.  Dieser  Umstand  scheint  mir  indess  wenig  zu 
beweisen;  erstlich  ist  das  Verhalten  der  Alkalimetalle  selbst  in  dieser 
Beziehung  verschieden ,  indem  bekanntlich  Ghlornatrium  ein  löslidies 
Doppelsalz,  das  mit  6  Aequivalenten  Wasser  krystallisiren  kann,  liefert, 
während  die  andern  Chloralkalien  unlösliche  Salze  geben,  und  zweitens 
ist  durch  die  Untersuchungen  v  Bonsdorff^s^)  dargethan  worden,  dass 
nicht  allein  Chloride  der  Alkalien ,  sondern  auch  Chloride  der  Metalle 
und  der  alkalischen  Erden  mit  Platinchlorid  Doppelsalze  bilden.  Die- 
selben haben  die  allgemeine  Formel  KCl,  PtCP  +  xaq.  Es  sollen  das 
Strontium-  und  Calcium-Salz  mit  8,  das  Barium-Salz  mit  4,  das  Mag- 
nesium-, Eisen-,  Mangan-,  Zink-,  Cadmium-,  Kobalt-,  Nickel-  und 
Kupfer-Salz  mit  6  Aequivalent  Wasser  krystallisiren ;  die  acht  letztge- 
nannten sind  isomorph.  Sowie  sich  also  hier  Magnesium,  Eisen,  Mangan 
etc.  an  die  Seite  des  Natrium  stellen ,  ohne  dass  man  daraus  geschlos- 
sen hat,  sie  gehörten  in  eine  Gruppe,  ebensowenig  lässt  sich  behaop- 
ten,  dass  das  Thallium ,  welches  sich  der  andern  Gruppe  der  Alkalien 


4)  Pogg.  Annal.  Bd.  XVII.  p.  S50,  fid.  XIX.  p.  837. 


Oeber  einige  TbaliiamrerbiDdungea  oail  4ie  Stellnng  dieses  Metalls  im  System.      47 

moksiehtlich  Beines  Verhaltens  bu  Plaiinchlorid  anscUiesst ,  deswegen 
nicht  unter  die  schweren  Metalle  zu  rechnen  sein  dürfte. 

Dass  Thallium- Verbindungen  die  Flamme  färben ,  ist  eine  Eigen- 
schaft, die  sie  bekanntlich  nicht  allein  mit  den  Alkalien ,  sondern  auch 
mit  den  Salzen  des  Kupfers  theilen. 

Aus  dem  spectralanalytischen  Verbalten  des  Thallium  und  seiner 
Verbindungen  hat  W.  Allen  Miller^)  ganz  die  entgegengesetzten  Schlosse 
gezogen,  als  die  franz()sischen  Chemiker.  Während  nUmlich  das  auf  ge- 
wöhnliche Weise  im  BuNsiN-KiECHHorp'schen  Apparate  erzeugte  Speo- 
trum  des  Thallium  nur  die  bekannte  grüne  Linie  zeigt,  enthält  das 
Spectrum  des  zwischen  zwei  Thallium-Drähten  überspringenden  elek- 
trischen Funkens  mehrere  neue  Linien,  welche  die  fttr  die  Metalle  cha- 
rakteristische Eigenschaft  zeigen,  an  den  Enden  viel  intensiver  zu  sein, 
als  in  den  mittleren  Theilen.  Uie  Photographie  des  Spectrums  erinnert 
am  Meisten  an  das  des  Gadmium  und  Zinkes,  Weniger  an  das  des  Blei's. 
MuLSA  bekämpft  auf  Grund  dieser  Beschaffenheit  des  Spectrums  die 
LAHY-DoMAs'sche  Ansieht  und  ist  der  Meinung,  dass  das  Thallium  in  die 
Nähe  des  Bleils  und  Silber*$  gestellt  werden  müsse. 

Man  hat  aus  dem  Umstände,  dass  blankes  Thallium  an  der  Luft 
schnell  anläuft  und  sich  mit  einer  Oxydschicht  bedeckt,  auf  ein  gros- 
ses Vereinigungsstreben  des  Metalls  zum  Sauerstoff  geschlossen,  aber 
abgesehen  davon,  dass  dasselbe  nach  Scböhbbik^s')  Untersuchungen  in 
trockenem  und  ozonfreiem  Sauerstoff  ganz  unverändert  bleibt,  spricht 
auch  der  Umstand,  dass  das  Thallium  die  Kohlensäure  und  das  Wasser 
nicht  zerlegt,  und,  wie  ich  gezeigt  habe,  durch  Kohlenoxydgas  aus  sei- 
nen Oxyden  leicht  redncirt  wird ,  desgleichen  die  leichte  Reducirbar- 
keit  aus  seinen  wässrigen  Salzlösungen  durch  den  elektrischen  Strom 
durchaus  nicht  für  eine  grosse  Verwandtschaft  zum  Sauerstoff. 

Es  ist  zudem  eine  bekannte  Thatsache,  dass  auch  blankes  Blei  sich 
nach  einiger  Zeit  mit  einer  Oxydschicht  überzieht  und  die  Versuche 
vieler  Chemiker,  unter  andern  die  von  Elsnbr  und  Noad')  haben  gelehrt, 
dass  es  in  Berührang  mit  Wasser  und  Luft  sich  äusserst  schnell  mit 
weissem  Bleioxydbydrat  bedeckt,  welches  von  Wasser  in  nicht  unbe- 
deutender Menge  gelöst  wird,  so  dass  durch  Schwefelwasserstoff  braune 
und  schwarze  Färbung  entsteht.  —  Mag  auch  das  TbaUinm  etwas  grös- 

\)  Sog.  Roy.  London,  45.  Jan.  4S63  ;  Annales  de  Chim.  ei  de  Phys.  111.  S^rie, 
T.  LXIX,  p  507. 

t)  Joarn.  f.  pract.  Chem.  XCIII,  p  85. 

I)  Chem.  techn.  IfUthellg.  1854-->5S.  p.  tt;  Jahresber.  v.  Likbm  und  Korr, 
4854.  p.  646. 


48  H.  Henittiiig, 

sere  Verwandtschaft  zum  Sauerstoff  haben,  als  andere  schwere  Metalle, 
jedenfalls  kann  dieselbe  mit  derjenigen ,  welche  die  Alkalimetalle  sei-^ 
gen,  nicht  yerglichen  werden:  denn«  dieselben  zersetzen  bekanntlich 
sowohl  das  Wasser,  als  auch  die  KohlensSiure  unter  Peuerersoheinaog. 

Derjenige  Umstand,  der  unstreitig  am  Meisten  geeignet  wäre,  dem 
Thallium  den  Platz  unter  den  Alkalimetallen  anzuweisen ,  ist  die  Lös- 
lidikeit  des  Oxyduls  in  Wasser.  Man  ist  allerdings  gewohnt,  die  UnlOs- 
lichkeit  der  Ox.yde  als  eine  charakteristische  Eigenschaft  der  schweren 
Metalle,  die  Lösiichkeit  als  eine  solche  der  alkalischen  Erden  und  Alka- 
lien  anzusehen,  aber  es  muss  constatirt  werden,  dass  innerhalb  der 
verschiedensten  Gruppen  sich  ausserordentliche  Differenzen  in  dieser 
Hinsicht  zeigen:  Kalihydrat  und  Lithionhydrat ,  Barythydrat  und  Mag- 
nesiahydrat, selenige  und  tellurige  Säure,  Phosphorsäure  und  Antimon- 
atture.  Dasselbe  gilt  für  die  schwefelsauren ,  phosphorsauren  und  koh- 
lensauren Salze:  schwefelsaurer  Baryt  und  schwefelsaure  Magnesia, 
schwefelsaures  Quecksilberoxyd  und  schwefelsaures  Bleioxyd,  phos- 
phorsaures Kali  und  phosphorsaures  Lithion,  kohlensaures  Kali  und 
kohlensaures  Lithion.  Dazu  kommt  die  Unl0sli(^keit  des  cbromsauren 
Thalliumoxyduls,  des  Chlor- ,  lod-  und  Bromthallium  der  Löslichkeit 
der  entsprechenden  Alkalisalze  gegenüber.  Man  sieht  daraus,  dass  Lös- 
licbkeits Verhältnisse  der  Verbindungen  Nichts  entscheiden,  wenn  es 
sich  um  die  chemische  Stellung  einer  Substanz  handelt. 

Es  spricht  aber  femer  gegen  die  Alkalinatur  des  Thallium ,  dass 
dasselbe  noch  ein  unlösliches  Oxyd  bildet,  welches,  wenn  es  auch  leicht 
Sauerstoff  abzugeben  und  mit  concentrirter  Salzsäure  Chlor  zu  ent- 
wickeln vermag,  doch  mit  Sauerstoffsäur^n  Salze  bildet  und  dadurdi 
von  den  Superoxyden  sich  wesentlich  unterscheidet. 

Wenn  man  überhaupt  zugeben  muss,  dass  die  Löslichkeit  des 
Oxyduls  nicht  unbedingt  ein  Criterium  für  die  alkalische  Natur  des 
Thallium  abgiebt,  so  fällt  damit  das  letzte  Argument  für  die  La«t-Do- 
nUAS'sche  AuJBTassung  hinweg.  Denn  die  sonst  noch  bemerkenswerthen 
Eigenschaften  des  Thallium,  so  die  alkalische  Reaction  und  der  laugen- 
artige  Geruch  der  Oxydulhydratlösungen  und  ihre  Eigenschaft ,  Kiesel- 
säure zu  lösen,  sowie  die  Löslichkeit  der  Cyanverbindungen ,  die  Bil- 
dung von  in  Alkohol  löslichem  Thalliumalkoholat  werden  in  der  Löslich-^ 
keit  des  Oxyduls  eine  genügende  Erklärung  finden. 

Ganz  direct  gegen  die  Alkalinatur  des  Thallium  sprechen  aber 
vor  Allem  drei  Eigenschaften:  i)  die  Abscheidung  desselben  durch  Zink 
aus  den  wässrigen  Lösungen  seiner  Salze,  2)  die  Reducirbarkeit  seiner 
Gxydationattufen  durch  Kohlenoxyd  und  3)  die  Fällbarkeit  durch  Schwe- 
felammonium. 


Ueber  einige  TbilliamTerbiodaiigen  nni  die  Stellnng  dieses  Metalls  im  System.       4d 

Will  man  sich  darnach  ein  Bild  von  der  Stellung  des  Thallium  im 
System  machen,  so  wtlrde  man  sagen  müssen ,  es  sei  das  Metall,  wel- 
ches die  Gruppe  der  Alkalien  und  alkalisehen  Erden  mit  der  Eisen- 
und  Bleignippe  verkntlpfe. 


Schliesslich  nehme  ich  Gelegenheit ,  den  Herren  Dr.  SoififENSCHEiic 
und  Professor  Dr.  Gbuthm,  unter  deren  Anleitung  ich  die  vorstehenden 
Untersuchungen  ausführte,  für  die  gütige  und  bereilwilligeUnterstützung, 
welche  mir  dieselben  dabei  zu  Theil  werden  Hessen  —  und  meinem 
geehrten  Freunde ,  Herrn  Dr.  CAftSTANJBN  in  Berlin  für  die  Liberalität, 
mit  welcher  er  mir  das  erforderliche  Ifaterial  zur  Verfügung  stellte, 
meinen  wfirmsten  Dank  auszudrücken. 

Jena,  Januar  1868. 


Baad  IV.   1. 


lieber  die  ftrehnug  des  Hnmenis. 

Von 

.  C.  Oegenbaur. 

(Hieriu  Taf  I.) 


Unter  der  Bezeichnung  » Drehung  a  (Torsion]  des  Humerus  machte 
Charles  Martins  i)  eine  Erscheinung  bekannt,  welche  an  sich  nicht  we^ 
nig  interessant,  für  die  Yergleichung  der  beiden  Extremitäten  aber  von 
grösster  Wichtigkeit  ist.  Sie  gibt  für  diese  Operation  einen  Factor  ab, 
der  die  Mehrzahl  der  grossen,  hier  auftretenden  Schwierigkeiten  besei- 
tigt. Obgleich  ich  selbst  bei  meiner  Yergleichung  der  vordem  und  hin- 
tern Gliedmassen  der  Wirbelthiere  zu  wesentlich  denselben  Resultaten 
gekommen  war,  wie  der  vorgenannte  Autor,  so  hatte  ich  damals  den- 
noch Bedenken  gegen  jene  Aufstellungen,  und  legte  Lageveränderun- 
gen  der  proximalen  Enden  von  Ulna  und  Radius  das  Hauptgewicht  bei. 
Diesen  Verschiebungen  jener  Enden  muss  ich  auch  heute  noch  das  Wort 
reden.  Allein  ich  halte  sie  nicht  mehr  für  das  Ausschliessliche,  ja  nicht 
einmal  für  das  Hauptsächlichste  bei  der  Umgestaltung  welche  die  Lage- 
rungsverhältnisse der  Theile  des  Armskelets  im  Vergleiche  mit  dem 
Skelete  der  hintern  Gliedmassen  darbieten.  Eine  genaue  Prüfung  der 
Angaben  von  Martins,  noch  mehr  aber  das  Auffinden  positiver  Nach- 
weise fürden  genannten  Vorgang  lassen  mich  nicht  nur  jener  Auffassung 
vollkommen  beipflichten ,  sondern  geben  auch  zu  diesen  Zeilen  mittel- 
baren Anlass.  Diese  meine  gleich  von  vornherein  erklärte  Zustimmung 
bezieht  sich  jedoch  nur  auf  die  Drehung  der  Humerus.   Bezüglich  der 


4)  Nouvelle  Comparaison  des  membres  pelviens  et  thoraciques  ches  rhomme 
et  chez  des  Mammiföres  däduite  de  la  torsion  de  THuroärus.  Extrait  des  M^rooires 
de  rAcadcmie  des  Sciences  et  letlres  de  Montpellier  T.  HI.  p.  474.  Montpellier 
4857.  —  Auch  in  den  Ann.  des  sc.  nat.  Sär.  IV.  Tome  8.  4857.  p.  45. 


beber  die  l)ifttHiiig  dei  Üumenid.  5t 

Deutttogen  von  Otecraooii  und  Pmella  müsa  ich  auch  jeitt  n^ch  andrer 
Meinung  sein. 

Beaehteu  wir  snoächsi  die  Angaben  von  Mahtibis.  Er  >üagi  in  dem 
der  Vergleiehung  des  Eamur  mit  dem  Humerus  gf»widme(^n  Abschnitt« 
seiner  Abhandlung:  x>Der  Humerus  des  Menschen  isl  ein  ui«  seie«  Axe 
in  einen  Winkel  von  i  80  Grad  ^drebtor  Knochen.  I^  Femur  kl^  ein 
gerader  Knochen,  ohne  Drehung.  Da  der  Humerus  ein  gedrehtes  FemiKf 
vorstelit,  so  muss  man  bei  der  Vergleiehung  dieser  beiden  Knochen  vor 
allem  den  Humerus  zui^Uckdrehn  (delordre);  das  Resultat  dieser  Ope- 
ration wird  sein ,  dass  die  Epitrochlea  nach  aussen,  der  Epipondylua 
nach  innen  gerichtet  sein  wird.  Alsdann  bietet  die  Vergleiphupg  der 
Brust-  und  der  BeckengUedmassen  gar  keine  Schw  ierigkeit  qiehr.  Der 
Kopf  des  Humerus  bleibt  dabei  unverändert  in  seiner  Lage  Oßcb  innen 
(median)  wie  jener  des  Femur.a 

9 Die  Körper  beider  Knochen  besitzen  ihre  Kanten  parallel  ihrer 
Axe.  Die  convexe  oder  trieipitale  Flilche  des  Oberarmknochens  findet 
sich  vorne,  wie  die  vordere,  convexe  oder  trieipitale  Fläche  des  Ober- 
schenkelknochens. Beide  Knochen  sind  somit  einander  ähnlich;  ihre 
Condylen  sind  nach  hinten  gerichtet.  Der  innere  Theil,  der  nunmehr 
zum  äussern  geworden  ist,  entspricht  durch  seinen  stifrkern  Vorsprung 
dem  sich  tfhnlich  verhaltenden  äussern  Condylus  des  Femur ;  das  Ole- 
cranon  liegt  wie  die  Patella  nach  vorne  zu ;  diese  tsl  an  den  vordem  äussern 
Theil  des  Kopfes  der  Tibia  befestigt,  welcher  die  mit  einander  verbun- 
denen und  verschmolzenen  Köpfe  der  Ulna. und  des  Badius  vorstellt.« 

»FUr  den  Unterschenkel  und  den  Vorderarm  scheinen  nun  die 
Schwierigkeiten  gteichfaUs  gelöst.  Wenn  die  Gliedmasse  steh  in  <Supi- 
nation  befindet,  so  lässt  die  Rückdr^ung  (d^torsien)  des  HumefUB  den 
Vorderarm  eine  Drehbewegung  ausführen,  welehe  die  Stfeckflödie  nach 
vorne  bringt ,  die  Beugefläehe  nach  hinten ;  folglich  wird  der  der  Tibta 
analoge  Radius  sich  innen  finden;  dfeUtna,  der  Fibula  analog,  aussen. 
Der  Daumen  und  die  grosse  Zehe  sind  beide  innen,  der  kleine  Finget* 
nnd  die  kleine  Zehe  aussen  geiagert.« 

Um  sieb  von  der  Richtigkeit  dieser  Aufstellung  eu  ttberzeugen,  ge- 
nügt es  nach  Martins  »am  Humetiis  des  Menseben  oder  irgend  eines 
SMgethieres  die  rauhe  Linie  lu  verfolgen  welche  vom  Epio^dylus  an 
sich  schräg  gegen  die  hintere  Fläche  wendet,  diese  längs  der  Rjnn^  fl|r 
deo  Radialnerv  umzieht,  und  sich  mit  d  «r  Insertioosoberfläche  des  An- 
oonaeus  internus  foitsetxt,  um  unterhalb  des  Humeru^s-Kopfes  an  einer 
ausgezeichneten  Stelle  des  Halses  zu  enden,  gerade  am  andern  Ende  des 
Querdurch  messe  rs  dr«  Knochens.  Diese  Drehung  ist  von  vielen  Anibfo- 
poioBien  beachtet  i^\oi:den.« 


52  C.  Gegenbanr, 

»Doch  zogen  diejenigen,  welche  die  Thatsache  constattrten  keines- 
wegs die  sich  daraus  ergebenden  Folgerungen.  Dass  diese  von  einem 
Botaniker  verstanden  wurden,  ist  jedoch  nicht  auffallend,  wenn  man 
weiss,  dass  die  Drehung  an  den  Stengeln  der  Gewächse  eine  sehr  ge- 
wöhnliche Erscheinung  ist.  Man  muss  ihr  beständig  Rechnung  tragen, 
da  sie  die  symmetrische  Anordnung  der  Anhangsorgane ,  der  Knospen, 
Blätter,  Blttthen  etc.  stört.« 

»Da  die  Drehung  des  Humerus  eine  unbestreitbare  Thatsache  ist, 
so  ist  es  klar,  dass  man  logischer  Weise  diesen  Knochen  nicht  mit  dem 
Femur  vergleichen  konnte,  ohne  ihn  zurückzudrehen,  und  aus  ihm  einen 
ebenso  geraden  Knochen  darzustellen  als  es  das  Femur  ist;  denn  es  ist 
die  Drehung  welche  den  Sinn  der  Beugung  der  Beckengliedmassen  um- 
kehrt, weil  der  Vorderarm  sich  nach  vorne,  der  Unterschenkel  dagegen 
nach  hinten  beugt.« 

»Die  Drehung  ist  keine  ausschliessliche  Eigenthümlichkeit  des 
menschlichen  Humerus,  sie  ist  allgemein  in  den  drei  obersten  Abthei- 
lungen der  Wirbel thiere,  der  Säugethiere,  Vögel  und  Reptilien,  leben- 
der sowohl  als  fossiler;  sie  beträgt  480®  beim  Menschen  und  den  Land- 
oder Wassersäugethieren ;  90®  bei  den  Chiroptern,  den  Vögeln  und  den 
Reptilien.«  ^ 

»Beim  Menschen  nnd  den  Land-  und  Wassersäugethieren  beträgt 
die  Drehung  zwar  immer  180®,  allein  die  Verhältnisse  der  Axen  des 
Halses  und  den  Trochlea  sind  nicht  in  der  ganzen  Reihe  dieselben.  Es 
gibt  davon  zwei  Modificationen.« 

»Beim  Menschen  und  den  anthropomorphen  Affen ,  wie  der  Orang, 
Chimpansee^  der  Troglodytes  Tschego,  der  Gorilla  und  die  Gibbons,  sind 
die  Axen  des  Halses  des  Femur  wie  des  Humerus  parallel  und  alle  beide 
gegen  die  Wirbelsäule  §erichtet,  d.  h.  von  aussen  nach  innen  und  von 
unten  nach  oben.  Die  eine  wie  die  andere ,  ebenso  wie  die  Axen  des 
Körpers  beider  Knochen ,  sind  in  derselben  Ebene  etwas  vertical  und 
senkrecht  gegen  die  Vertebro-Sternal-Ebene.  Diese  Richtung  der 
Axen  ist  die  mechanische  Bedingung  für  die  Drehbewegung  des  Arm- 
and des  Schenkelknochens  in  ihrer  Gelenkpfanne.« 

»In  dieser  Thiergruppe  ist  wie  beim  Menschen  die  Axe  der 
Trochlea  des  Humerus  ebenso  parallel  der  Ebene  in  welcher  die  Axen 
des  Halses  und  des  Körpers  desselben  Knochen  liegen ;  und  man  kann 
wenn  das  Thier  aufrecht  auf  seinen  Füssen  steht,  in  physikalischer 
(nicht  in  mathematischer  Beziehung)  sagen ,  dass  die  Axe  des  Hu- 
merushalses ,  des  Körpers  dieses  Knochens ,  und  die  seiner  Trochlea, 
ebenso  wie  jene  des  Femurhalses,  die  Axe  dieses  Knochens  und  die 


Ueber  die  Draliiing  des  Hnmerns.  53 

seiner  Condylen  deutlich  in  einen  und  derselben  verticalen  Ebene  lie- 
gen, die  senkrecht  gegen  die  Medianebene  des  Körpers  gerichtet  ist.« 

»Bei  den  Land-  und  Wasser-Säugethieren  ist  die  Axe  des  Feniur-; 
halses  wie  beim  HensCihen  gelagert,  und  die  Ebene  welche  man  durch 
die  Axe  d^s  Knochens,  sowie  jene  des  Femurhalses  legt,  ist  eben- 
falls senkrecht  zur  Medianebene  des  Körpers.  Aber  nicht  dasselbe  ist 
an  den  vorderen  Gliedmassen  der  Fall :  die  Axe  des  Humerushalses  ist 
von  vorn  nach  hinten  und  von  unten  nach  oben  gerichtet.  Diese  Axe 
und  jene  des  Humeruskörpers  liegen  in  einer  Ebene,  welche  parallel 
zu  der  Stemovertebralebene  steht.  Daraus  folgt,  dass  die  Ebene,  in 
der  die  Axe  des  Knochens  und  jene  seines  Halses  liegen,  senkrecht  zur 
Axe  der  Trochlea  liegt«,  »während  beim  Menschen  diese  drei  Axen  in 
eine  und  dieselbe  £bene  fallen.  Wenn  wir  als  Vergleiehungspunct 
die  Axenrichtung  des  Femurhalses  nehmen,  welche  bei  allen  Thieren 
dieselbe  ist,  so  können  wir  zugeben,  dass  beim  Menschen  und  den 
hohem  Affen  der  Humeruskopf  an  der  Drehung. des  Körpers  dieses 
Knochens  keinen  Antheil  nimmt.  Im  Gegensatz  hierzu  hat  bei  den  nie- 
dern  Affen  wie  bei  den  übrigen  SSugethieren  das  unt,ere  Ende  des  nu- 
merus eine  Umdrehung  von  180^  erlitten,  und  das  obere,  anstatt  wie 
beim  Menschen  unverändert  zu  bleiben ,  ist  gleichfalls  um  90^  gedreht. 
Diess  wird  bewiesen  durch  die  relative  Lagen  Veränderung  der  Rauhig- 
keiten, welche  die  Bicepsrinne  begrenzen.  Die  Tuberositas  externa 
beim  Menschen  wird  bei  den  Säugethieren  zur  vordem,  die  Tuberositas 
intema  des  Menschen  zur  hintern ,  was  eine  Drehung  von  90®  voraus- 
setzt.« »Die  Folge  dieser  Lagen  Veränderung  ist  die  Bewegung  der 
Vordergliedmassen  des  Säugethieres  in  einer  Ebene,  indem  es  nur  ganz^ 
unvollkommen  die  Drehbewegungen  vollführen  kann,  welche  den  Men- 
schen und  die  anthropomorphen  Affen  auszeichnen.« 

»Bei  den  Chiroptem,  den  Vögeln,  und  den  Reptilien  beti*ägt  die 
Drehung  des  Humerus  nur  90®,  die  Axen  des  Femurhalses  und  des  Hu- 
roerus  sind  wie  beim  Menschen  gerichtet,  nämlich  die  Axe  des  Körpers 
des  Knochens  und  jene  des  Halses  liegen  in  einer  zur  Medianeben<> 
senkrecht  stehenden  Ebene.  Da  jecioch  der  Körper  des  Humerus  blos 
um  90®  gedreht  ist,  so  iSt  die  Trochlea  nach  aussen  gerichtet.  Bei  diesen 
Thieren  ist  die  Ebene,  in  welcher  die  Axe  des  Knochens  und  jenr 
seines  Halses  liegt ,  senkrecht  geriditet  gegen  die  Axe  der  Humerus- 
Trochlea ,  und  ebenso  geschieht  die  Bewegung  des  Vorderarms  gegen 
den  Oberarm  nach  auswärts  in  einer  senkrecht  auf  die  Sterno-vertebral- 
Ebene  stehenden  Ebene.« 

Das  vorstehend  mitgetheilte  umfasst  einige  der  wichtigsten  Sätze 
der  genannten  Abhandlung,  welche  ich  ausführlicher  miizutheilen  mir 


54  ö.  €0g0frfcanr, 

erlaubte,  da  die  Arbeil  in  Deutsohbnd  wenig  gekannt,  oder  dödh  min- 
destens nfcht  gebtthreod  beachtet  ist.  *)  Der  Verfasser  erlSntert  wei- 
terbin  nooli  die  Beziehungen,  welche  diese  verschiedenen  Axenstel- 
lungen  der  Extremftdtenknochen  zu  den  von  den  ExtremitSHien  aus- 
geführten Hauptbewegungen  besitzen,  und  in  den  andern  Gapiteln 
der  Abhandlung  wird  die  Vergleichung,  sowohl  der  Skelettheile  als  der 
übrigen  Thelle  der  Extremitäten  —  Muskeln,  Nerven,  Arterien  —  durcb- 
gefllhrt.  Es  ist  indessen  keineswegs  meine  Absicht  auf  alle  diese  Ver- 
hältnisse einzugehen ,  vielmehr  will  ich  nur  an  die  Erscheinung  der 
Drehung  des  Humerus  anknüpfen,  da  diese  ja  für  die  Vergleichung  der 
beiden  Extremitäten  nach  Martins  ohnehin  den  Cardinalpunct  abgibt.^) 
Nach  Hartims  soll  der  Humerus  des  Menschen  im  Vergleiche  zum 
Femur  eine  Drehung  von  i  80®  um  seine  Axe  vollführt  haben ;  so  dass 
der  ulnare  Epicondylus  ursprünglich  aussen,  der  radicale  dagegen  innen 


4 )  Berücksichtigt  finde  ich  sie  im  Heodbueb  der  Anatomie  von  Cru  veilrieb  (Trait^ 
d'Anatomie  descriptive.  Quatri^me  Edition,  Tome  I.  ParivSl862.  In  einem  derVer- 
l^leichung  beider  Extremitäten  gewidmeten  Abschnitt  S.  262  heisst  es  :  »M.  Merlins 
a  bien  voulu  faire,  pieces  en  main,  la  dämonstration  de  son  ingenieuse  tfaeorie  de- 
vant  la  Socidtö  akiatomiqne ,  et  nous  devons  dire  qo'it  nous  a  parfaitement  con* 
vaincu,  ainsi ,  qae  tous  les  membrea  de  la  Soc\6i6  qui  assistaient  ä  cette  Avance.« 
Die  MAHTiNS'scbe  Angabe  einer  Drehung  von  480°  für  den  Humerus  des  Menschen 
wird  dabei  als  richtig  angenommen.  — 

2)  Die  Geschichte  der  Vergleichung  findet  sich  bei  Martins  gleichfalls  ausführlich 
besprochen.  In  gedrängterer  Form  habe  ich  in  meiner  Ahandlung  über  den  Carpus 
und  Tarsus  das  Wichtigste  darüber  zusammengestellt.  Von  einigen  damals  mir  nicht 
zugänglichen  Abhandlungen  war  mir  inzwischen  Einsicht  zu  nehmen  gestattet. 
Die  eine ,  Etüde  d'Anatomie  philosopbique  sur  la  msin  et  le  pied  de  Thoinme  et 
sur  les  Exträmites  des  Mammiferes  ramenöes  au  type  pentadactyle ,  par  les  pro- 
fesseurs  N.  Jolt,  et  A.  Lavocat,  Toulouse  4  853,  vertritt  die  Principien  der  Geopfrot-' 
sehen  Schule.     Wenn  diese  auch  als  »die   wahren  Grundlagen  einer  wirklichen 
wissenschaftlichen  Vergleichungsmethode  «  aufgeführt  wurden,  so  bewahren  sie  sich 
doch  nur  sehr  wenig  als  solche,  wie  alsbald  aas  der  Aufstellung  vun  zwei  je  fünf 
Stücke  umfassenden  Reihen  von  Carpus  oder  Tarsusknocben  hervorgeht.  Hierfür  wie 
für  andere  Aufstellungen  sucht  man  vergeblich  nach  einer  »wirklich  wissenschaft- 
lichen« Begründung,  denn  das  »Gesetz  der  Analogie«  Iftsst  auch  hier  im  Stich.  Viol 
wichtiger  ist  die  Arbeit  von  G.  M.  Humphry     Observations  on  the  limbs  of  verte- 
brate  animals,  Ihe  plan  of  Iheir  construction  ;  their  homology;  and  the  comparlson 
of  the  fore  and  hind  limbs.   Cambridge  and  London,  48GO.    Obgleich  keine  neuem 
Thatsacben  bringend,   ist  die  Abhandlung  dooh  reich  an  trefflichen  Bemerkungen. 
Da  jedoch  zum  Verstöndniss  der  unterhalb  der  Säugethiere  stehenden  dessen 
durchaus  neue  Untersuchungen  nöthig  waren .  so  würde  sie  schwerlich  einen  Ein- 
fluss  auf  die  Ergebnisse  meiner  Arbeit  gehabt  haben.   Da  die  Abhandlung  auch  der 
MARTtits-schen  Drehung  des  Humerus  entgegentritt,  werde  ich  in  dieser  Arbeit  da- 
t  auf  zurückkommen  müssen. 


lieber  die  DK4«iig  des  Humenis,  55 

sich  befand.  Diese  Drehung  wird  allerdings  nicht  als  thatsäehlich  sich 
iToUsiehend  angenommen ,  sondern  nur  im  Vergleiche  zuta  Femur  sau- 
wohl ,  als  zur  Humerusstellung  niedrer  Wirbelthierclassen  als  virtuell 
vorhanden  aufgeslelll.  Zur  Prüfung  dieser  AufsteHung  ist  vor  Allem 
ein  bestimmterer  Nachweis  des  Verhaltens  des  proximalem  und  distalen 
Humerusendes  nöthig,  denn  die  Angaben  von  MaztinS)  dass  eine  durch 
den  Hals  des Hnmerus  gelegte  Axe  in  derselben  Ebene  liege  mit  der  durch 
das  distale  Ende  gelegten  Queraxe  ist  nicht  sicher  erwiesen,  und  ergibt 
sidi  schon  bei  blosser  Betrachtung  mehrerer  Humeri  als  keineswegs 
durchgreifend.  Eine  zweite  Frage  betriffi  die  Jugendzustände  des  Hu- 
mems,  aus  welchen  zu  ermitteln  wäre,  ob  die  Stellung  der  beiden 
Enden  zu  einander  stets  die  gleiche  sei. 

Fttr  die  erste  Frage  ist  eine  von  Lucas  ^)  gemachte  Beobachlung 
von  Bedeutung,  nach  welcher  beim  "Neger  das  distale  Ende  des  Hume^ 
rus  eine  andere  Stellung  zum  Gelenkkopfe  besitzen  soll,  als  beim  Euro*- 
pKer.  Wblczxe  hat  das  durch  mehrere  Messungen  bestätigt,  die  von 
,  Lucas  veröffentlicht  worden  sind.^)  Dem  Verhalten  beim  Neger  wird 
der  Befund  des  Humerus  ein^s  Europäers  und  eines  Juden  entgegen- 
gestellt.  Das  Verfahren  Wzlgur's  bestand  darin  »auf  dem  Caput  hu- 
meri eine  Linie  aufzutragen,  welche  die  Richtung  bezeichnet,  in  wel- 
eher  der  Gelenkkopf  sich  nach  der  Sdiiilter  fainwendeU.  Sie  verläuft 
an  der  Insertionsfacetie  des  Muse«  supraspinatus  nach  dem  unteren 
etwas  lippenförmig  prolongirten  Rande  des  Gelenktlberauges  hin«, 
sodann  wunden  den  Condylen  desCubitalendes  zwei  Stecknadeln  ein-^ 
gefttgt.  Der  Knochen  wurde  non  in  einem  Glaskasten  senkrecht  auf- 
gestellt, Kopf  naeh  oben ,  und  zunächst  dieser  mit  dam  Fadenkreuzdi-^ 
opter  nach  der  LucAS^schen  Methode  gezeichnet.  Die  auf  das  flaput 
humeri  aufgetragene  Linie  »wurde  in  die  Zeichnung  mit  aufgenommen, 
zugleich  aber  auch  diejenigen  Theile  des  Cubitalendes ,  welche  bei 
dieser  Aufstellung  des  Knochens  sichtbar  waren  semmt  den  Steck- 
nadeln. Hierauf  wurde  der  Knochen'  mit  dem  unteren  Ende  nach 
oben  aufgestellt,  und  die  Unterseite  des  Processus  cubitalls  sammtden 
Stecknadeln  gezeicbnet. «  Durch  ^ebertragung  der  einen  Zeichnung 
auf  die  andere  unter  Anpassung  an  die  daselbst  angezeichneten  Axen- 
Union  konnte  dann  der  zwischen  beiden  bestehende  Winkel  gemessen 
werden. 

Aus  den  auf  diese  Art  ausgefCIhrten  Messungen  Wai^st^s  geht  zwar 
hervor,  dass  die  Stellung  des  distalen  fi^des  zum  Bnineruskopf  beim 


4)  AbhaDdl.  der  Senkenberg,  natarf.  Gesellsch.   V.  Bd. 
1)  Archiv  f.  Anthrapologla  II.  S.  178. 


56 


C  Gegeabanr, 


Neger  eine  vom  Verhalten  beim  Europäer  abweichende  ist,  Lucas  will 
aber  darin  keinen  »typischen  Unterschied  zwischen  Europäer  und 
Neger  erkennen ,  da  noch  einige  bei  Europäern  gemachte  Messungen 
ziemliche  Schwankungen  ergaben.«  Bevor  verglichen  werden  kann, 
wird  aber  erst  eine  Norm  in  dem  aus  zahlreichen  Messungen  sich  er- 
gebenden Mittelwerthe  aufzustellen  sein. 

Meine  eigenen  Untersuchungen  erstreckten  sich  auf  Messungen  von 
36  Oberarroknochen  Erwachsener.  Die  Objecto  gehörten  theiis  dun 
osteologischen  Unterrichtsmaterial  der  hiesigen  anatomischen  Anstalt, 
iheils  den  Skeleten  der  Sammlung  an ,  die  Messung  habe  ich  ganz  in 
der  von  Welgker  geübten  Weise  vorgenommen.  Da  aber ,  wie  dieser 
selbst  zugesteht,  verschiedene  Beobachter  die  eine  Linie  »um  4 — 2 
Winkelgrade  verschieden  a  legen  können,  so  hielt  ich  es  nicht  für  nOthig 
auch  die  Decimalen  mit  in  Anschlag  zu  bringen.  Vielmehr  möchte  ich 
der  Möglichkeit  einer  verschiedenen  Linienlegung  einen  viel  grösseren 
Breitegrad  der  Schwankung  einräumen.  Zunächst  sind  ja  die  beiden 
Stellen,  zwischen  denen 'Wblgur  die  Linie  über  das  Caput  humeri 
zieht ,  keine  festen  Puncto.  Die  Supraspinatusfacette  ist  verschieden 
gross,  und  der  »unlere  lippenförmig  prolongirte  Rand  des  Gelenküber- 
zugesa fehlt  sehr  häufig  vollständig.  Eine  Linie  zu  suchen  die  über  die 
Mitte  des  Gelenkkopfes  hinwegziebend  in  eine  durch  die  Langsame  des 
Humerus  gelegte  Ebene  fällt,  hat  mir  dann  das  Rathsamste  geschie- 
nen. Für  die  Linie  am  distalen  Ende  des  Humerus  ergeben  sich  ge- 
ringere Schwierigkeiten.  Die  verschiedene  Gestaltung  der  Epicondylen 
erhöht  jedoch  gleichfalls  die  Unsicherheit.  In  den  einzelnen  untersuchten 
Humeris  ergab  die  Winkehnessung  zviisohen  jenen  beiden  Linien  fol- 
gende Zahlen: 


\. 

10« 

15. 

12» 

Weib. 

i. 

14» 

altes  Weib. 

16. 

3» 

1 

3. 

38« 

Mann. 

17. 

80» 

— 

4. 

23» 

Weib. 

18. 

5» 

— 

5. 

20» 

- 

19. 

18» 

Weib  V.  SIS  Jahren. 

6. 

«2« 

— 

•20. 

6» 

Mann. 

7. 

5» 

Mann. 

21. 

11» 

Mann  v.  50  Jahren. 

8. 

10» 

— 

22. 

12» 

Mann. 

9. 

23» 

— 

23. 

10« 

- 

<0. 

13« 

Mann  v. 

64  Jahren. 

24. 

8« 

^            1 

41. 

15* 

Mann  v. 

30  Jahren. 

85. 

2" 

— 

4S. 

19» 

Mann. 

26. 

14» 

— 

13. 

5» 

— 

27. 

14» 

— 

14. 

10» 

— > 

88. 

11» 

Weib. 

üeber  die  Dnkwig  des  Haneras.  57 

99.  9^  Weihv.  iO  Jahren.  33.  U®   Mann. 

30.  4^  Mann.  34.  49® 

3<.  8»  -  35.       6« 

32.  9»  -  36.       40 

Das  Mittel  von  diesen  36  Fällen  ergibt  einen  Winkel  von  49®.  Als 
grttsster  Winl&el  erscheint  einer  von  32* ,  als  geringster  einer  von  2* 
In  1 1  Fällen  bleibt  der  Winkel  unter  1 0®.  In  H  8  Fällen  bewegt  er 
akb  «wischen  4  0—20*  Nur  in  4  Fällen  übersteigt  er  20*.  Eine  Ver- 
schiedenheit des  Verhaltens  in  beiden  Geschlechtern  kann  nicht  er- 
kannt werden.  Mit  dem  gefundenen  Mittelwerthe  stimmen  auch  die 
wenigen  von  Anderen  vollführten  Messungen  überein,  Wblcvbr  gibt  für 
einen  FaU  2,5%  Lucas  für  drei  Fälle  8*,  10®  und  43®  an.  Zähle  ich 
diese  meiner  Beobachtungsreihe  bei ,  die  dadurch  auf  40  Fälle  sich  er- 
hebt, so  wird  der  Mittel werth  nur  wenig  verändert,  er  wird  sich  dann 
auf  M  ,8®  stellen.  Da  die  beiden  Linien  also  noch  nicht  in  eine  durch  die 
Längsaxe  des  Humerus  gelegte  Ebene  fallen,  so  ist  folglich  im  Anschlüsse 
an  die  MARTiNs'sche  Auffassungsweise  keine  Drehung  um  480®  vorhanden, 
sie  wird  im  Mittel  nur  als  eine  von  468®  bezeichnet  werden  dürfen. 

Wenn  sich  nun  schon  von  hier  aus  ein  Vergleiehungsobject  mit 
den  Stellungen  der  Humerusenden  bei  anderen  Rassen  oder  bei  Thieren 
finden  liesse ,  so  schien  mir  wichtiger  zuerst  die  zweite  der  oben  be- 
rührten Fragen  ins  Auge  zu  fassen,  nämlich  den  Befund  dieser  Verhält- 
nisse in  jüngeren  Lebensaltem.  Das  in  dieser  Richtung  untersuchte 
Material  darf  ich  keineswegs  als  ausreichend  bezeichnen ,  allein  es  hat 
pennoch  einiges  Bemerkenswerthe  ergeben. 

Ab  Humeris  von  Embryonen  aus  der  42 — 10.  Woche,  die  ich  in 
Untersuchung  zog ,  war  mir  bedenklich  die  Messung  auszuführen.  Die 
Beschaffenheit  der  knorpeligen  Enden  gestattete  nicht ,  jene  Linien  mit 
der  annähernden  Sicherheit  zu  bestimmen ,  dass  die  Ergebnisse  einer 
Winkelmessung  mit  jener  an  den  Humeris  von  Erwachsenen  vorge-^ 
nommenen,  einen  gleichen  Anspruch  auf  Zuverlässigkeit  hätten  machen 
können.  Ich  nahm  daher  die  Untersuchung  von  älteren  Embryonen  auf. 
Von  der  4  6  —  33.  Woche  habe  ich  8  Exemplare  untersucht ,  und  die 
Winkd  jener  beiden  Linien  stellten  sich  wie  folgt  heraus. 

f.  f6.  Woche  48®  5.     20.  Woche  48® 

2.  47.       -       49®  6.     24.       -       43® 

3.  48.       -       50®  7.     33.       -       22® 

4.  49.       -      30®  8.«)  33.       -       59« 

Da  ich  nicht  eine  grossere  Anzahl  aus  gleichem  Alter  untersucht 
4)  Vergl.  Taf.  I.   Fig.  111. 


56  C.  Oeginrfmiir, 

habe ,  so  können  die  gefundenen  Zahlen  in  Anbetracht  der  Möglichkeit, 
ja  sogar  Wahrscheinlichkeit  einer  bedeutenderen  Schwankung,  keines- 
wegs als  Normzahlen  für  einzelne  fötale  Lri>ensperioden  gelten ,  und 
ich  muss  mich  sogleich  gegen  jede  derartige  Unterstellung  verwahren. 
Aber  aus  der  kleinen  Untersucbungareihe  kann  dennoch  geschlossen 
werden,  dass  die  Winkelstellung  der  beiden  Linien  eine  bedeutend  an- 
dere ist,  als  beim  Erwachsenen.  Winkel  von  59^,  50^,  49^,  selbst  43**, 
fehlen  in  der  oben  vorgeführten  Reihe  von  Humeris  Erwaohaeiif»r 
gänzlioh.  Wir  können  also  nur  das,  aber  auch  mit  Sicherheit  behaup- 
ten ,  dass  der  Mittelwerth  der  Winkel  jener  beiden  Linien  beim  Fötus 
ein  bedeutend  grösserer  ist,  als  beim  Erwachsenen.  Er  stellt  sich 
etwas  über  4H®,  gegenüber  18®  bei  Erwachsenen. 

Daran  schliessen  sich  einige  Messungen  von  Neugebomen;  Ich 
fand  an  solchen  die  Winkel : 

1.  35«»  3.    45® 

2.  590  4.    40» 

Wir  erhalten  hieraus  im  Mittel  fast  45®.  Der  Winkel  ist  somit 
offener  als  bei  den  Embryonen.  Wenn  man  von  letzteren  ausgeht,  so 
könnte  man  schliessen,  dass  der  Humerus  in  einer  Lebensperiode  wie^ 
der  eine  rückläufige  Drehung  vollführe.  Das  dürfte  aber  doch  ein  grober 
Irrthum  sein,  Die  ftlr  Neugeborne  gefundenen  Grade  sind  zw«r  im 
Mittel  höher  als  das  Mittel  der  Grade  bei  Embryonen  betrügt,  allein  hier«* 
bei  ist  nicht  zu  vergessen ,  dass  jene  Mittelwerthe  aus  einer  verhalt- 
nissmässig  sehr  geringen  Anzahl  von  Einzelfällen  gewonnen  sind.  Vier, 
und  Sieben.  Jeder  neuhinzukommende  Fall  kann  den  Mittelwerth  be~ 
deutend  anders  stellen.  Nehme  ich  an,  dass  von  den  Embryonen 
No*  4  u.  7  nicht  untersucht  worden  wäre,  so  würde  das  Mittel  der  an 
den  fünf  andern  gemessenen  Winkel  fast  48®  ergeben  babetn,  somit  im 
Vergleich  zu  dem  Resultate  bei  Neugebemen  einen  um  5®  offenem 
Winkel.  Ich  halte  also  dieae  Messungen  keineswegs  für  zahlreiob  ge-* 
nug,  um  ganzspecielie  Schlüsse  daraus  zu  uehen. 

Dasselbe  muaa  ich  auqh  von  den  Messungen  sagen  die  von  Kindern 
aus  dem  ersten  Leben^ahre  genommen  wurden.  Daraud  habe  ich  die 
Humeri  von  sieben  Individuen  ^)  untersucht,  die  ich  in  eine  nach  dem 
Alter  geordnete  Reihe  stelle: 


4)  Ich  halle  nicht  filr  überflüssig  anzuführen,  dass  die  Untersuchungen  der 
lugeBdfusMtodo  des  HuQieru$  in  keinem  Falle  an  trookeaen  ExiemplaFen  angestellt 
wurden,  die  hierzu  vollständig  ungeeignet  Mjnd  Dither  kam  es  auch,  dass  ich  mich 
auf  eine  geringe  Anzahl  beschränken,  und  das  ganze  von  der  anatomisoheo  Samm- 


Ueber  die  Dickvif  des  Ramerus.  6$ 


1)     3  Monnte  . 

.  S.)  0 

«)»)  3      - 

34» 

3)-    5      - 

39« 

4)     6      - 

380 

5)     8      - 

28« 

6)     9      - 

37» 

7)     9      - 

40» 

Als  Mittel  ergibt  sich  hieraus  nahebei  38  <^.  Von  den  7  Fällen  bietet 
nur  Einer  einen  Winkel  dar ,  der  an  die  bei  Erwachsenen  gefundene 
Reihe  sich  anschliesst;  ein  anderer  reicht  nahe  heran,  aber  auch  da 
zählen  diese  zu  den,  höhern.  Die  fünf  übrigen  Fälle  ergeben  Winkel, 
deren  Gradzahl  sich  selbst  weit  über  die  bei  Erwachsenen  gefundenen 
extremen  Fälle  erhebt.  (Von  älteren  Kindern  habe  ich  nur  bei  einem 
I  jährigen  Knaben  den  Humerus  untersucht  und  da  einen  Winkel  von 
Vorgefunden,  welchen  sehr  vereinzelten  Fall  ich  jedoch  nicht  mit  in 
Anschlag  bringen  will.)  Es  kann  also  für  die  bei  Kindern  aus  dem  ersten 
Lebensjahre  gefundene  Stellung  des  Humerusendes  Aehnliches  wie  für 
die  Humerusstellung  bei  Embryonen  und  Neugeborenen  ausgesprochen 
werden,  dass  nämlich  der  Winkel,  den  jene  beiden  durch  die  Gelenk- 
enden gelegten  Linien  mit  einander  bilden,  ein  bedeutend  oSbnef 
ist.  Rechnen  wir  alle  einzelnen  (1 9}  Fälle ,  die  oben  in  verschiedenen 
Kategorien  vorgeführt  wurden,  zusammen,  so  erhalten  wir  für  die  Stel- 
lung beider  Gelenkenden  im  tbtalen  und  ersten  Rindesalter  einen  Win- 
kel von  nahezu  42  ^,  Somit  ergibt  sich  ein  nicht  unbeträchtlicher  Unter- 
schied gegen  die  Stellung  des  Gelenkendes  der  Erwachsenen,  und  man 
wird  das  letzte  Verhalten  nur  dann  aus  dem  frühern  ableiten  können, 
wenn  man  mit  der  allmählichen  Ausbildung  des  Humerus  eine  ebenso 
allmähliche  Aenderung  der  Queraxenrichtung  des  untern  Gelenkendes 
statuirt.  Angesichts  dieser  Thatsache  wird  eine  Drehung  des  Hu- 
merus um  seine  Längsaxe  als  erwiesen  betrachtet  werden 
dürfen.  Der  Humerus  muss  um  von  dem  frühern  Zustande  der  Stellung 
der  beiden  Queraxen  in  den  spätem  überzugehen,  eine  Drehung  um 
seine  Längsaxe  vollführen,  durch  welche  der  ulnare  Epicondylus  weiter 
nach  innen,  der  radiale  weiter  nach  aussen  rückt.  Ein  die  drei  ersteh 
Figuren  auf  der  beigegebenen  Tafel  vergleichender  Blick  gibt  der  Vor- 
stellung von  jener  Veränderung  eine  Unterlage.  In  Fig.  ÜL  sind  die 
beiden  Gelenkenden  des  Humerus  eines  8  monatlichen  Fötus  nach  der 

hin;;;  gebotene  Material  an  trockenen  Skeleten  aas  verschiedenen  jugendlichen  Altern 
an  benutzt  lassen  musste. 
4)  Vergl.  Taf.  I.  Fig.  II. 


($0  G.  GegeRbanf,* 

WELGKER^schen  Weise  in  eine  Ebene  in  einander  gezeichnet.  Fig.  11. 
stellt  in  gleicherweise  den  Humerus  eines  3 Y2  Monate  alten  Kindes  dar. 
Fig.  I.  endlich  kann  als  Schema  für  die  aus  meinen  Fällen  berechnete 
Mittelstellung  des  Humerus  der  Erwachsenen  gelten.  Von  den  dargestellten 
Axen  wird  in  Fig.  III.  b  nither  an  B  und  a  an  A  rüdiLen  müssen  um  in 
die  in  Fig.  II.  dargestellte  Stellung  zu  treten,  sowie  in  dieser  Figur  der 
gleiche  Vorgang  Platz  greifen  muss  um  in  die  in  Fig.  I.  vom  erwach- 
senen Humerus  dargestellte  Lage  zu  treten.  Damit  hätte  also  die  Mar— 
Tnvs'sche  Theorie  von  einer  Drehung  des  Humerus  im  Allgemeinen  eine 
Bestätigung  gefunden,  wenn  auch  nicht  nachgewiesen  wurde,  dass  dem 
Humerus  anfänglich  eine  mit  dem  Femur  gleiche  Stellung  zukommt, 
und  dass  die  Drehung  sich  über  1 80^  erstreckt.  Der  Nachweis  einer 
Drehung  widerlegt  zugleich  die  von  Humphrt  gemachten  Einwürfe 
(op.  cit.  p.  22),  und  wenn  auch  zunächst  nur  der  zweite  derselben, 
dass  nämlich  zu  keiner  Entwickelungsperiode  eine  Drehung  beobachtet 
worden  sei ,  haltlos  werden  dürfte ,  so  fallen  doch  nicht  minder  auch 
die  übrigen,  und  zwar  um  so  leichter,  als  sie  nur  auf  theoretische  Be- 
denken gegründet  sind. 

In  welchem  Maasse  die  Erscheinung  zu  verschiedenen  Perioden 
der  fötalen  Entwickelung  sowie  des  jugendlichen  Alters  fortschreitet, 
ist  aus  meinen  Beobachtungen,  die  nur  an  ganz  wenigen  gleichaltrigen 
Knochen  angestellt  wurden,  nicht  zu  ersehen,  und  nur  das  eine  möchte 
ich  daraus  noch  anführen ,  dass  während  des  ersten  Lebensjahres  im 
Vergleiche  mit  der  embryonalen  Periode  die  Drehung  noch  eine  unbe- 
deutende ist.  Es  lässt  sich  also  nur  vermuthen,  dass  die  Zeit  des  gross- 
ten  Längswachsthums  des  Körpers  wohl  auch  für  den  Humerus  jene 
Veränderung  am  raschesten  herbeiführen  wird.  Die  dabei  thätigen 
Vorgänge  werden  selbstverständlich  weniger  in  Resorptions-  und  Neu- 
bildungserscheinungen an  der  Oberfläche  des  Knochens  gesucht  werden 
dürfen,  als  in  dem  Wachsthum  durch  Knorpel  an  den^G^elenkenden  oder 
vielmehr  an  den  Enden  der  Diaphyse. 

Vergleicht  man  mit  dem  von  mir  für  die  Jugendzustände  des  Hu- 
merus angegebenen  Verhalten  die  vom  Humerus  der  Neger  bekannt  ge- 
wordene Stellung  der  distalen  Gelenkenden ,  so  wird  in  letzteren  ein 
beim  Europäer  vorübergehender  Zustand  zu  erkennen  sein.  Wblgker 
fand  für  drei  Fälle  den  betreffenden  Winkel  zu  26^  29^  und  40». 

Lucas  gibt  eine  Messung  zu  iS^  an.  Ich  selbst  habe  an  zwei  Ske- 
leten  gleichfalls  Messungen  angestellt,  und  fand  an  dem  einen  männ- 
lichen Skelete  den  Winkel  zu  :^9^  dagegen  an  dem  andern,  weiblichen, 
von  nur  4^^.  Dadurch  stellt  sich  dieser  Humerus  weit  über  das  für  den 
Europäer  nachgewiesene  Mittel.  Das  letztere  Ergebniss  mahnt  sehr  drin- 


Ueber  die  Drehung  des  Hameras.  %\ 

geod  derartige  UDtersucfauBgen  lo  mdglichsl-weit  ausgedehntem  Maass- 
siab«  ausKufilkren,  oder  doch  dem  vereinzelten  Falle  nur  den  geringsten 
Werth  zuzuschreiben.  Aus  den  drei  von  Wblckcr  untersuchten  Fallen 
ergibt  sich  ein  Mittel  vtm  32^,  rechnet  man  dazu  noch  den  von  Ldcab  ^) 
üofgeftthrten,  sow|e  meine  beiden,  so  stellt  sich  das  Mittel  auf  26<>,  also 
doch  noch  bedeutend  verschieden  von  den  für  Europäer  gefundenen. 
Diese  Stellung  der  beiden  Axen  am  Negerhumerus  stellt  Fig.  IV.  .auf 
dw  beigegebenen  Tafel  dar. 

Wenn  Lucas  anzunehmen  scheint,  dass  die  Schwankungen,  welche 
sowohl  bei  Negern  als  bei  Europäern  in  der  Winkelstellung  des  distalen 
Gelenkendes  des  Humerus  bestehen,  nach  keiner  Seite  hin  einen  Aus- 
schlag geben,  so  wird  dies  doch  nur  auf  die  von  ihm  angeführte  ver- 
einzelte Messung  sich  beziehen  müssen.  Allein  selbst  in  diesen  Schwan- 
kungen  lässt  sich  nicht  nur  ein  bestimmter  Breitegrad  nachweisen,  son- 
dern auch  das  aus  ihnen  hergestellte  Mittel  erscheint  als  ein  ganz 
anderes  für  den  Neger-Humerus  als  für  jenen  des  Europäers.  Würden 
die  begonnenen  Messungen  fortgesetzt,  so  wird  sich  ohne  Zweifel  mit 
bedeutenderer  Sicherheit  ein  positives  Urtheil  gewinnen  lassen.  Auch 
wird  sich  gewiss  die  Vermuthung  Lugae's  bestätigen ,  dass  dem  Neger 
der  grossere  Winkel  keinesfalles  allein  zuzuschreiben  sein  möchte. 
In  dieser  Hinsicht  ist  die  von  demselben  Autor  gemachte  Angabe,  dass 
der  fragliche  Winkel  beim  Humerus  eines  Malayen-Skelets  sogar  51  ^ 
betrug,  sehr  bemerkenswerlh.  Es  wird  aller  Wahrscheinlichkeit  gemäss 
nachzuweisen  sein,  dass,  bei  aller  Schwankung  individueller  Zustände, 
im  Ganzen  genommen  doch  die  Rassenverschiedenheit  auch  an  jenen 
Verhältnissen  sich  kundgibt,  die  dadurch  an  ihrem  anscheinend  unter- 
geordneten Werthe  heraustreten  müssen. 

Diese  Verschiedenheit  der  Winkelstellung  der  Gelenkenden,  mag 
sie  sich  aus  einer  Vergicichung  verschiedener  Rassen  der  Menschen^ 
oder  aus  einer  Vergleichung  des  sich  entwickelnden  Humerus  mit  dem 
ausgebildeten  ergeben,  empfängt  ihre  tiefere  Bedentung  erst  durch  eine 
über  andere  Wirbelthierklassen  ausgedehnte  Vergleichung,  wie  sie  von 
Martins  versucht  worden  ist.  Sind  auch  die  bezüglichen  Angaben  die- 
ses Forschers  keineswegs  genau,   wie  schon  aus  dem  oben  für  den 


i)  Obgleich  Locab  eine  andere  Messungeweise  hat,  indem  er  die  untere  Quer* 
axe  durch  das  Cubitaigelenk  und  nicht  durch  die  Epicondylen  legt ,  so  glaube  ich 
doch  seine  Messung  hier  beirechnen  zu  dttrfen ,  denn  einmal  sind  die  Unterschiede 
nicht  sehr  bedeutend,  und  zweitens  bandelt  es  sich  doch  hier  nur  um  sehr  provi- 
sorische Ergebnisse. 


6i  t,  ^MgMiinMit, 

menschliobe«  Humeras  zin^Genüge  hervorg^t,  ^)  so  ist  dooh  die  Baupir- 
iMiche  ricbtig,  da^s  in  den  untern  Abtiieilungen  der  oft  beregte  Winkel 
ein  viel  grösserer  ist.  Bei  denReptttten,  auob  beiden  Vdgeln,  kommt  er 
nabeKU  einem  recbten  gleich.    Bei  den  Säugetbii^en ,  wo,  dem  oben 
angeführten  zufolge ,  von  Martins  noch  die  Stellung  des  Gelenkkopfes 
zur  Medianefoene  des  Körpers  mit  in  Betracht  gebogen  vfMy  soll  er  180^ 
beiragen ,  allein  es  soll  aucAi  das  proximale  Ende  des  Humerus  um  90* 
gedreht  sein,  wie  aus  der  Stellung  der  Tubercaia  hervorgehen  aolL 
Gegen  diese  letztere  Auffassung  möchte  ich  Bedenken  äussern.  Die  Dre- 
hung bezieht  sich  nämlich  dann  nicht  mehr  auf  den  Humerus  allein, 
sondern  auf  ihn  und  seine  Stellung  zum  Körper,  wodurch  die  in  Be- 
tracht zu  ziehenden  Instanzen  ausserordentlich  complicirt  werden.  Will 
man  hierauf  eingehen ,  so  müsste  die  Stellung  der  Scapula  vor  allem 
berücksichtigt  werden.  Bei  einer  Beschränkung  der  Untersuchung  auf 
den  Humerus  —  und  diese  ist  bei  einer  am  Humerus  sich  vollziehenden 
Erscheinung  gewiss  für's  erste  gerechtfertigl  —  ergibt  sich  für  die  Mehr- 
zahl der  Säugethiere  auf  keinen  Fall  eine  viel  grössere  Drehung  als  bei  den 
Reptilien.  Ich  finde  bei  der  Hauskatze  in  einem  Falle  einen  Winkel  von 
106<^,  in  einem  zweiten  von  93^.  BeimTieger  fand  ich  92<^;  beim  Bären 
94®.  Ferner  beim  Rinde  6^  (bei  einem  i  Fuss  langen  Rinderfötus  aber 
gleichfalls  nur  62^].  Von  Affen  habe  ich  Gynocephalus  hamadryas  unter- 
sucht. Der  bezügliche  Winkel  beträgt  51®.    Vom  Orang  gibt  ihn  Lucak 
auf  45®  an.  Eine  beiläufige  Schätzung  vieler  anderer  Säugethier-Hume- 
rus  lässt  mich  annehmen ,  dass  der  Winkel  seltener  einen  rechten  vor- 
stellen möchte,  dass  er  also  meist  geringer  ist  als  bei  Reptilien.') 


4)  Auch  die  Annahme  dass  am  Pemur  ein  Zusammenfallen  der  durch  don  6e- 
lenkkopf  und  der  durch  die  Co4idylen  gelegten  Axen  in  eine  Ebene  bestehe,  ist, 
wie  längst  bekannt,  nicht  richtig.  Ich  finde  den  Winkel  den  beide  Axen  zu  einander 
bilden  am  Femur  der  Erwachsenen  in  6  Fällen  sehr  verschieden:  10^  '7*,  IT*,  i^*, 
M^  4^  Die  untere  Axe  stellt  sich  median  hin  ler  die  obere,  somit  erscheint  ein 
dem  Huaierus  analoges  Vec^bttltniss,  das  men  unter. der  allerdings  hier  nooh  nicht 
erwiesenen  Vorausaetcung  eines  anDlnglicheu  ZusammenfaUens  beider  A]ien  gleich- 
falls als  Drehung  um  die  Läng^axe  bezeichnen  könnte. 

2)  Bei  den  Winkelmessungen  am  Humerus  von  Söugethieren  habe  ich  dasselbe 
Verfahren  wie  bei  den  Messungen  am  menschlichen  Humerus  eingeschlagen.  Dass. 
wie  nicht  anders  zu  erwarten,  auch  hier  individuellen  Schwankungen  bestehen, 
zeigen  die  beiden  Messungen  an  Katzen.  Der  Werth  einzelner  Maassangaben  ist  da- 
her auch  hier  ein  sehr  «ntergeordneler ,  so  dess  ich  den  »ngeHihiieo  Zahlen  der- 
selben kein  besonderes  Gewicht  beilegen  iLOnn,  und  auch  hier  wmnsolien  nuttchte, 
dass  ein  reichliches  Mnteriat  {«'Benutzung  gezogen  werden  ntftclito  Selbst  die  An- 
gaben eines  Mittels  für  den  menschlichen  Honierus  bin  icii  getteigl  für  scAm*  |trnvi** 
sorisch  anzusehen. 


Üeber  die  firebnng  ikss  Homeras»  63 

Eine  ühnliche  Bewegung  wie  ich  sie  'oben  für  den  Verlauf  der 
Entwickelung  des  menschlichen  Huroerus  gezeigt  habe,  wird  sich  also 
auch  innerhalb  der  Reihe  der  intt  vergleichbaren  Vordergliedmassen 
ausgestatteten  Wirbetttiere  herausstellen.  Nehmen  wir  als  Ausgangs- 
punct  fttr  diese  Dr^ung  jene  Stellung  an  ,  wo  der  radiale  Epicondylus 
median,  der  ulnare  lateral  gerichtet  ist,  so  dass  also  die  Vorderextremi- 
tjki  zu  der  hinteren  noch  vollständig  homotyp  erscheint,  so  wird  der 
radialB  Epicondylus  allmählich  nach  vorne  sich  richten,  dadurch  rückt 
der  ulnare  nach  hinten*  Bfi  den  Rt ptUlaa  wird  dann  eine  solche  Dre- 
hung  um  \iO^  erfolgt  sein;  ähnlich  bei  den  Vögeln.  Vollständiger  wird 
die  Umdrehung  bei  den  Säugethiereh ;  so  beträgt  sie,  wie  aus  obiger 
Winkelmessung  hervorgeht,  beim  Rinde  149^,  bei  Gynocephalus 
429®,  beim  Orang  135®.  Am  Matayen-Humerus  nur  129®;  am  Humerus 
der  Neger  (im  Mittel)  1 48®.  Am  fatalen  Humerus  des  Europäers  beträgt 
sie  1.39®.  Im  ersten  Lebensjahre  141®;  beim  Erwacfisenen  im  Mittel 
168®,  in  einzelnen  Fällen  sich  auf  179®  erhebend,  aber  auch  auf  148® 
stehen  bleibend.  Im  ftflalen  EustaAde  bietet  «der  Humerus  des  Europäers 
eine  Stellung  seiner  Gclenkenden  die  jener  bei  niederen  Rassen  nahe 
kommt,  und,  wenn  auch  etwas  entfernter,  an  die  bei  Säugethieren  ge- 
gebenen bleibenden  Zustände  sich  reihen  lässt.  Aus  dieser  Vergleichung 
ist  die  Erklärung  für  die  Verschiedenheit  der  Stellung  der  Gelenkenden 
des  Humerus  der  Erwachsenen  und  des  Fötus  zu  entnehmen.  Der 
fötale  ZusUmd  bietet  uns  hier,  wie  auch  an  so  vielen  anderen  Organen, 
die  durch  Vererbung  überkommene  Einrichtung  dar,  aus  welcher  all- 
mählich das  erst  später  erworbene  Verhalten  sich  ausbildet. 


trUanmg  nr  Tafel. 


Alle  vier  Figuren  sind  nach  der  l.ucAE-WELciBR'scheu  Weise  geteicbneke.  Utti^ 
risse  dar  beiden  Geleaiiefiden  des  Homerus. 

A— B  stellt  die  durch  den  Gelenkkop/  gelegte  Aie  vor, 

a— b  reprttsentirt  die  durch  das  distale  Humerusende  gelegte  Axe. 

Fig.    I.    Schema  der    mittleren  Axenstellung  für  den   Erwachsenen. 

(Niich  dem  sub  No.  2S  aufgeführten  Humerus). 
Fig.   II.    Von  einem  8*/,  Monate  alten  Kinde. 
Fig.  fll.    Von  einem  8  monatlichen  FOtus. 

Fig.  IV.     Von  einem  Neger  (das  aus  den  bis  jetzt  bekannten  Messungen 
rtch  erge*  ende  Mittel  darstellend.) 


^ 


Von 

Ernst  HäckeL 

(Hierzu  Taf.  II.  und  lU.) 


I.     Gescjiichtliche  Einleitung. 

• 

Moneren  1)  habe  ich  in  meiner  Generellen  Morphologie  der  Orga- 
nismen *)  diejenigen  auf  der  tiefsten  Stufe  der  Organisation  stehenden 
Lebewesen  genannt,  deren  ganzer  Körper  in  vollkommen  entwickeltem 
und  frei  beweglichem  Zustande  aus  einer  gänzlich  homogenen  und 
structurlosen  Masse ,  aus  einem  lebendigen  ^  mit  Ernährung  und  Fort- 
pflanzung begabten,  Eiweissklümpchen  besteht.  In  vielfacher  Beziehung 
sind  diese  einfachsten  und  unvollkommensten  aller  Organismen*)  vom 
höchsten  Interesse.  Denn  offenbar  tritt  uns  hier  die  eiweissartige  orga- 
nische Materie  als  das  materielle  Substrat  aller  Lebenserscheinungen 
nicht  nur  unter  der  einfachsten  wirklich  beobachteten  Form ,  sondern 
unter  der  einfachsten  Form  die  überhaupt  denkbar  ist,  entgegen.  Ein- 
fachere, unvollkommenere  Organismen,  als  die  Moneren  sind,  können 
nicht  gedacht  werden. 

Der  ganze  Körper  der  Moneren  stellt  in  der  That,  so  befremdend 
dies  auch  klingen  mag,  weiter  Nichts  dar ,  als  ein  einziges ,  durch  und 
durch   homogenes,    in   fest  flüssigem    Aggregatzustande    befindliches 


4)  fiopiqQfig,  einfach.  Am  passendsten  dürfte  die  Bezeichnung  als  Neutrum  ge- 
braucht werden :  to  ^oitj^ts,  das  Moner. 

5)  Ernst  Haeckel,  Generelle  Morphologie  der  Organismen.  Berlin,  4866.  Erster 
Band :  Allgemeine  Anatomie  der  Organismen  Zweiter  Band :  Allgemeine  Ent- 
wickelungsgeschichte  der  Organismen. 

8)  1.  c.  Vol.  I,  Cap.  V.  Organismen  und  Anorgane,  p.  486.  Cap.  VI :  Schöpfung 
und  Selbstzeugung,  p.  48i.  U  c.  Vol.  11,  Systematische  Einleitung,  p.  XXII. 


MonogT»p)iie  der  MoDeren.  65 

Eiweisskörperchen.  Die  äussere  Form  ist  ganz  unbestimmt,  in  fortwäh- 
rendem Wechsel  begriffen,  im  Ruhezustand  kugelig  zusammengezogen. 
Von  einer  inneren  Structur»  von  i9ilier  Zusammensetzung  aus  ungleich- 
artigen Theilchen,  ist  auch  bei  Anwendung  unserer  schärfsten  Unter- 
scheidungsmittel ki&ine  Spur  wahrzunehmen.  Da  die  gleichartige  Ei- 
Weissmasse  das  Monerenkörpers  noch  nicht  einmal  eine  Differenzirung  in 
einen  inneren  Kern  (Nucleus)  und  einen  äusseren  Zellstoff  (Plasma)  er- 
fea&llen  lässt,  vielmehr  der  ganze  Körper  aus  homogenem  Plasma  oder 
Protoplasma  besteht,  so  erreicht  hier  die  organisirende  Materie  noch 
nicht  einmal  den  Formwerth  einer  einfachsten  Zelle.  Sie  bleibt  auf  der 
denkbar  niedrigsten  Stufe  der  organischen  Individualität,  auf  derjenigen 
einer  einfachsten  Gymnocytode  stehen. 

Die  seit  zwanzig  Jahren  so  vielfach  behandelte  Frage  von  der  Grenze 
zwischen  Thier-  und  Pflanzenreich  wird  durch  die  Moneren  zur  Ent- 
scheidung gebracht;  oder  richtiger,  es  wird  durch  sie  bewiesen,  dass 
eine  vollkommene  Scheidung  beider  Reiche  in  dem  Sinne ,  wie  sie  ge- 
wöhnlich versucht  wird,  nicht  möglich  ist.  Offenbar  sind  die  Moneren 
so  indifferente  Organismen,  dass  man  sie  mit  gleichem  Rechte,  oder 
vielmehr  mit  gleicher  Willkür ,  als  Urthiere  oder  als  Urpflanzen  be- 
trachten könnte.  Sie  könnten  eben  so  gut  als  die  ersten  Anfänge  der 
thierischen,  wie  der  pflanzlichen  Organisation  angesehen  werden.  Da 
aber  kein  einziges  entscheidendes  Merkmal  sie  auf  diese  oder  jene  Seite 
drängt,  erscheint  es  vorläufig  das  Richtigste,  sie  als  Mittelwesen  zwischen 
echten  Thieren  und  echten  Pflanzen  aufzufassen,  und  nebst  den  Rhizo- 
poden,  Amoeben,  Diatomeen,  Flagellaten  etc.  in  jenes  unbestimmte,Thier- 
und  Pflanzenreich  verbindende  Zwischenreich  zu  verweisen,  welches 
ich  das  Reich  der  Urwesen  oder  Protisten  genannt  habe.  ^) 

Die  Moneren  sind  in  der  That  Protisten.  Sie  sind  weder  Thiere 
noch  Pflanzen.  Sie  sind  Organismen  der  ursprünglichsten  Art,  bei  de- 
nen die  Sonderung  in  Jhiere  und  Pflanzen  noch  nicht  eingetreten  ist. 
Aber  selbst  die  Rezeichnung  Organismus  scheint  auf  diese  einfachsten 
Lebewesen  kaum  anwendbar.  Denn  in  dem  ganzen  Regriffe  des  »Orga- 
nismustt  Hegt  nothwendig  die  Zusammensetzung  des  Ganzen  aus  un- 
gleichartigen Theilen,  aus  Organen  oder  Werkzeugen.  Mindestens  zwei 
verschiedenartige  Theile  müssen  verbunden  sein,  um  in  die'sem  ur- 
sprünglichen Sinne  die  Rezeichnung  eines  Körpers  als  Organismus  zu 
rechtfertigen.  Jede  echte  Amoebe,  jede  echte  (d.  h.  kernhaltige)  thie- 
rische  und  pflanzliche  Zeile,  jedes  Thier-Ei  ist  in  diesem  Sinne  bereits 


4)'  ro  ngtuTtatov,  Das  Allererste,  Drsprüagllche.  Generelle  Morphologie,  Vol.  I, 
p.  «08,  S«5;  Vol.  II,  p.  XX. 

BcadlV.  1.  5 


66  .    Ernst  Hick«l, 

ein  elementarer  Organismus,  aus  zwei  verschiedeneili  Organen,  dem 
inneren  Kern  (Nucleus)  und  dem  äusseren  Zellstoff  (Plasma  oder  Proto- 
plasma) zusammengesetzt.  Mit  diefsen  letzteren  verglichen  sind  die 
Moneren  eigentlich  »Organismen  ohne  Organe.«  Nur  in  physio- 
logischem Sinne  können  wir  sie  noch  Organismen  nennen ,  als  indi— 
viduelleTheile  der  organischen  Materie,  welche  die  wesentlichen  Lebens- 
thätigkeiten  aller  Organismen,  Ernährung,  Wachsthum  und  Fortpflan- 
zung vollziehen.  Aber  alle  diese  verschiedenen  Functionen  sind  noch 
nicht  an  differente  Theile  gebunden.  Sie  werden  alle  noch  von  jedem 
Theilchen  des  Körpers  in  gleichem  Maasse  ausgeübt. 

Wenn  schon  aus  diesen  Gründen  die  Naturgeschichte  der  Moneren 
sowohl  für  die  Morphologen  wie  für  die  Physiologen  vom  höchsten  In- 
teresse sein  muss,  so  wird  dies  doch  noch  gesteigert  durch  die  ausser- 
ordentliche Bedeutung,  welche  diese  einfachsten  Organismen  für  die 
wichtige  Lehre  von  der  Urzeugung  oder  Archigonie  (Generatio  spon- 
tanea)  besitzen.  Dass  die  Annahme  einer  einmal  oder  mehrmal  stattge- 
fundenen Urzeugung  gegenwärtig  zu  einem  logischen  Postulat  der 
philosophischen  Naturwissenschaft  geworden  ist,  habe  ich  in  meiner 
generellen  Morphologie  gezeigt.  Die  meisten  Naturforscher,  welche  diese 
Frage  verständig  behandelten,  glaubten  als  die  einfachsten,  durob  Ur* 
Zeugung  entstandenen  Organismen,  aus  denen  allb  übrigen  sich  ent- 
wickelten, einfache  Zellen  annehmen  zu  müssen.  Allein  eine  jede  echte 
Zelle  zeigt  schon  die  Zusammensetzung  aus  zwei  differenten  Theilen, 
aus  Nucleus  und  Plasma.  Offenbar  ist  die  unmittelbare  Entstehung 
eines  solchen  Gebildes  durch  Urzeugung  nur  schwer  denkbar,  viel 
leichter  dagegen  die  Entstehung  einer  ganz  homogenen  organischen 
Substanz,  wie  es  der  structurlose  Albumin-Leib  der  Moneren  ist. 

Aus  diesen  und  anderen  später  zu  erörternden  Gründen  scheint  es 
angemessen,  schon  jevzt,  wo  wir  erst  im  Anfang  unserer  Kenntnisse 
von  diesen  äusserst  interessanten  Urwesen  stehen,  Alles  darüber  Be- 
kannte  zusammenzufassen.  Den  unmittelbaren  Anstoss  zu  diesem  mo- 
nographischen Versuch  gab  mir  eine  Reihe  von  neuen  Beobachtungen 
über  einige  bisher  unbekannte  Moneren,  welche  icli  im  Winter  1866/67 
an  der  Küste  der  canarischon  Insel  Lanzarote  anzustellen  Gelegenheit 
hatte.  Bevor  ich  diese  Beobachtungen  mittheile,  scheint  es  mir  zweck- 
mässig, eine  kurze  geschichtliche  Skizze  der  bisher  veröffenUichien 
sicheren  Mittheilungen  über  Moneren  zu  geben,  loh  bemerke  dabei, 
dass  ich  mich  dabei  ganz  auf  die  eohten  Moneren  beschranke,  d.  h.  auf 
nackte  Plasroakörper  ohne  Kerne  und  sonstige  Organe,  und  dass  ich  die 
durch  den  Besitz  eines  oder  mehrerer  Kerne  unterschiedenen  Protoplaslen 
(Amoeben,  Arcellen  etc.)  sowie  die  durch  eine  differenzirte  Sdialeoder 


Monogr^ybif  4er  Moneren.  67 

Meaibran  ausgasK^iotixieten  Rhizi>podan ,  Sipbooeen  etc.  dabei  nicht  he- 
rttcksichli^o  werde. 

Das  erste  Moner^  d^Sfisn  Naturgeschichte  vollständig  verOffeptlicht 
wurde,  ist  Protogenes  primordialis,  welchen  ich  im  Frühling 
1864  iDi  Mittelmeere  bei  Nizza  beobachtete,  i)  Frei  im  Seewasser 
schwimmend  ersdiian  dieses  Moner  als  ein  durchsichtiges ,  Kugeliges 
SchlfliskUfimpchen  von  ungietähr  I  Mm.  Durchmesser  (die  kleineren 
Exemplare  nur  von  0,1  Mm.  Durchmesser).  Nur  ungefähr  e\n  Drittel 
dieses  Durchmessers  kam  auf  die  innere  Centraln;i9Sße  des  ({^(Mrpers, 
eine  homogene,  solide  Sarcodek^geJ,  während  die  äusseren  apwjei  Drittel 
sich  auf  eine  peripberiscbe  Kugelzone  vertheilten,  die  lediglich  aus  l,du- 
senden  von  feioei»  radialen  Schleim^den  bestand.  Diese  Fäden,  die 
sogienaonteD  Pseudopodien,  welche  theils  einfach,  theils  verzweigt  und 
aaastomosArend  nach  der  Peripherie  liefen,  sU*ahiten  unmittelbar  von  der 
Peripherie  des  centralen  Eiweisskörpers  aus.  Sie  zeigten  durchaus 
dieselben  Lebenser^cbeinungen ,  wie  die  gleichyeQ  Sarcode-F/$den  der 
edUen  Rhizopoden  (Acytiarien  und  Radiolariei^).  Die  festflUssige  Ei- 
weissmaase  des  ganzen  Kilrpers  war  in  beständiger  Bewegung,  einer  bald 
langsanverei),  bald  rascheren  Strömung  begriffen,  weiche  an  der  pßssiven 
WanderiiAg  der  feinen,  gewöhnlich  zdhireich  in  der  Eiweissmasse  ver- 
theillen  K4rucben  leicht  zu  verfolgen  war.  Die  Sarcodefäden  wechsettep 
beständig  an  Zahl,  Form  und  Git^sse;  sie  veirästelten  sich  und  anasto- 
mosirien,  flössen  wieder  auseinander  und  wurden  in  die  centrale  Bauptr- 
masse  zurückgezo^^.  Kurz  sie  zeigten  ganz  dasselbe  Schauspiel,  wel- 
ches Max  ScituLTr^B  ajo  den  Polythalaoiien  ^j  und  ich  selbst  an  den  Radio- 
larien^  so  ausführlich  und  vielfach  beschrieben  haben.  Auch  die 
NahniogfiaufBahme  des  Protogenes  war  dieselbe,  wie  bei  den  letzt- 
genaanien  echten  Rhizopoden.  Kleinere  Körper  (Diatomeen ,  einzellige 
Alj^ott  etc.)  blieben  an  der  klebrigien  Oberfläehe  der  Eiweissfäden,  wenn 
sie  zufällig  mit  ihnen  in  Berührung  kamen,  hängen,  wurden  von  ihnen 
umflossen,  und  dann  langsam  jn^ii^  centrale  Eiweissmasse  hineinge- 
zogen. Grössere  Körper,  wie  z.  B.  Peridinien  (I.  c.  Fig.  i)  wurden  in- 
Jetzt  v^Uatüodig  von  dem  P ro  togen eskörper  umflossen  ;  erst  nachdem 
dieser  dan  brauchbaren  Köiperinhalt'des  Opfers  assimilirt,  zpg  er  sich 
viOD  der  UBverdaulichen  Schale  wieder  herab.   In  einem  flachen  Uhr- 


4)  Ebvst  HACciit,  über  den  Sarcodekörper  der  Rhizopoden.    Zeitschrift  für 
wUseofch.  Zoologie,  4 SM.  XV.  Bd.  p.  860.  Taf.  XXVI.  Fig  4,  %. 

5)  Max  Scrultzb»  über  den  Organismus  der  Polythalamien.    (Leipzig,  4854.  p. 
47  ff.)- 

8}  RmfST  Haeckbi.»  Die  R9diol«rien,  eine  Monographie   Berlin,  4862    p.  86  ff. 

6* 


> 


68  Ernst  Hftekel, 

glaschen  mit  wenig  Seewasser  längere  Zeit  stehen  gelassen,  breitete 
sich  der  Protogenes  auf  dessen  Boden  in  Form  einer  dünnen  hyalinen 
Schleimplatte  aus.  Diese  Platte  erhielt  sehr  unregelmässige  lappige  Um- 
risse, und  einen  Durchmesser  von  3 — 4  Mm.  Das  Wichtigste  jedoch, 
was  ich  an  dem  Protogenes  constatiren  konnte,  war  seine  Fortpflanzung 
durch  Selbsttheilung.  Dieselbe  erfolgte  durch  einfachen  Zerfall  des 
kugeligen  Schleimkörpers  in  zwei  Hälften,  ohne  dass  ein  bea<»derer 
Ruhezustand,  eine  Encystirung  etc.  vorhergegangen  war. 

Meinem  Protogenes    primordialis  sehr  nahe  verwandt   ist 
wahrscheinlich  die  von  Max  Schültzb  im  adriatischen  Meere  beiAncona 
beobachtete  Amoeba  porrecta.^)    Dieses  Moner  ist  zwar  sehr  viel 
kleiner,  als  der  Protogenes  primordialis,  aber  durch  die  geringe 
Consistenz  des  SarcodekOrpers,  sowie  durch  die  lebhafte  KörnchensUrö- 
mung ,  Verästelung  und  Anastomosenbildung  der  Pseudopodien  dem- 
selben sehr  ähnlich.  Auch  fehlen  ihm  der  Kern  und  die  contractile  Blase, 
welche  die  echten  Amoeben  auszeichnen.  Es  würde  daher  richtiger  als 
Protogenes  porrectus  zu  bezeichnen  sein.    Da  jedoch  seine  Fort- 
pflanzungs-  und  Entwickelungsgeschichte  unbekannt  ist,   und    ohne 
deren  Eenntniss,  wie  wir  sehen  werden ,  über  die  systematische  Ver- 
wandtschaft und  Stellung  der  Moneren  nicht  sicher  geurtheilt  werden 
kann,  so  muss  die  Natur  der  Amoeba  porrecta   als  eines  echten 
Protogenes  zweifelhaft  bleiben. 

Von  der  grössten  Wichtigkeit  für  die  Naturgeschichte  der  Moneren 
sind  die  »Beiträge  zur  Kenntniss  der  Monaden  a,  welche  L.  Cunkowski 
1 865  veröffentlichte.  ^)    Diese  interessanten  Mittheilungen  sind  um  so 
wichtiger,  als  sie  von  einem  Naturforscher  herrühren,  der  eben  so  scharf 
und  genau  zu  beobachten,  als  vorsichtig  und  kritisch  zu  schliessen  ver- 
steht.   CiBNKOWsKi  beschreibt  die  Lebensgeschichte  von  fünf  verschie- 
denen Organismen  der  einfachsten  Art,  welche  er  in  zwei  verschiedene 
Gruppen    bringt:     Monadinaezoosporeae,    welche    sich    durch 
Schwärmsporen  fortpflanzen;   1)  Monas  (amyli),  %)  Pseudospora, 
3)  Colpodella;  und  Monadinae  tetraplastae,  welche  sich  durch 
Bildung  von  zwei  oder  vier  actinophrysähnlichen  Keimen  fortpflanzen: 
4)Vampyrella  und  5)Nuclearia.  In  beiden  Gruppen  geht  eine  Ency- 
stirung und  ein  Ruhezustand  der  Fortpflanzung  der  nackten  Plasma- 
körper, welche  sich  den  Rhizopoden  gleich  ernähren,  vorher.    Die  drei 


4)  Max  Schultzb,  Ueber  den  Organismus  der  Polythalamien ,  p.  8.  Taf.  VII. 
Fig.  4  8. 

2)  L.  CiBNKOWSKi,  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Monaden.  Schultze's  Archiv  für 
mikroskopische  Anatomie.   4865.  Bd.  I.  p.  20t.  Taf.  XII^XIV. 


MoDOgrapbie  der  Moneren.  69 

Crenera  Pseudospora,  Golpodella  und  Nuclearia  interessiren 
uns  hier  nidit  weiter,  da  ihr  Plasmakörper  bereits  einen  Kern  und 
Yacuolen  umschliesst^  nrilbfai  den  Formwerth  einer  Zelle  besitzt.  Da- 
gegen sind  Monas  (amyli)  und  Vampyrella  echte  Moneren,  deren 
nackter  Plasmaktfrper  weder  Kerne  noch  contractile  Blasen  besitzt. 
Da  der  Auadruck  Monas  sehr  vieldeutig  ist,  so  habe  ich  die  Monas 
amyU,  auf  welche  Cienkowski  diese  Gattung  beschränken  wollte,  um 
Verwechselungen  zu  vermeiden,  Protomonas  amyli  genannt  (Gen. 
Morphol.  Vol.  11,  p.  XXIII). 

Protomonas  amyli  war  bisher  das  einzige  Moner,  bei  welchem 
SchiA^ärmsporenbildung  beobachtet  worden  ist.  Der  homogene  Plasma- 
körper  derselben  lebt  in  faulenden  Nitellen ,  und  gleicht  einer  kleinen 
Aciinophrys  oder  einer  kleinen  Amoeba  porVecta,  ohne  Kern 
und  ohne  contractile  Blasen.  Wenn  er  sich  in  den  Ruhezustand  be- 
giebt,  zieht  er  sich  in  einen  rundlichen  Plasmakörper  zusammen, 
welcher  sich  sodann  mit  einer  Membran  umgiebt  (encystirt).  Dann 
zerfällt  der  Körper  in  eine  grosse  Anzahl  homogener  Schwärmsporen, 
welche  spindelförmig  und  sehr  contractil  sind ,  und  sich  ähnlich  einer 
Anguillula  schlängelnd  mittelst  einer  oder  zweier  langer  Cilien  bewegen. 
Oft  fliessen  mehrere  Schwärmer  [durch  Verwachsung)  zusammen  und 
bilden  ein  Plasmodium,  welches  nach  erfolgter  Nahrungsaufnahme  wie- 
derum in  den  ruhenden  Zustand  übergeht  (Cienkowski,  1.  c.  p.  213, 
Taf.  XII,  Fig.  4—5). 

Das  Genus  Vampyrella  pflanzt  sich  nicht  durch  Schwärmsporen, 
sondern  durch  zwei  oder  vier  actinophrysartige  Keime  fort.  Der  ho- 
mogene Plasmakörper  ist  durch  ziegelrothe  Farbe  ausgezeichnet. 
CuNKOWsKi  unterscheidet  von  diesem  Genus  drei  verschiedene  Arten. 
Vampyrella  Spirogyrae  (I.e.  Fig.  44 — 56)  bildet  im  Ruhezustande 
kugelige  Blasen ,  deren  dünne  Membran  einen  homogenen  rothen  Plas- 
makörper umschliesst.  Dieser  zerfallt  durch  Theilung  erst  in  zwei, 
dann  in  vier  Keime,  welche  die  HttUwand  durchbrechen  und  dann 
als  rotbe  Amoeben*  mit  spitzen  Fortsätzen ,  in  sehr  wechselnder 
Form  sich  umherbewegen.  Mit  ihren  spitzen  Pseudopodien  bohren 
diese  Keime  die  Zellenwände  der  Spirogyra  an,  worauf  sie  den 
Plasroainhalt  derselben  herausziehen  unjl  in  sich  aufnehmen.  Der 
grüne  Inhalt  der  ersteren  erhält  bei  der  Verdauung  eine  rothe  Farbe. 
In  ähnlicherweise  bohrt  Vampyrella  pendula  (1.  c.  p.  23t,  Fig. 
57 — 63)  die  Zellen  anderer  Algen  (Oedogonien ,  Bulbochaeten)  an  und 
saugt  deren  Plasma  heraus.  Sie  unterscheidet  sich  durch  einen  faden- 
förmigen Fortsatz,  welcher  von  dem  Plasmakörper  der  birnförmigen  Cyste 
durch  deren  zugespitzten  Stiel  hindurch  zur  Ansatzstelle  derselben  geht. 


iO  Ernst  HScldi 

und  durch  Mangel  der  Kdroch^nstt-ÖDiüDg  an  defi  actläopbrys-fibnlioheri 
Pseudopodien.  Vatapyrella  vorax,  eine  dritte  Art,  lebt  dagegen 
von  Diatomeen,  Euglenen  utid  Destnidiädeeti ,  \<'elche  ihr  formloser 
Plasdiakörfi^r  übersieht,  um  dann  Cysiefi  von  sehr  verschiedener  Form 
und  Grösse  zu  bilden  (I.  c.  p.  223,  Fig.  64—73). 

Als  Protamoeba  primitiva  endlich  habe  ich  in  meiner  gene- 
rellen Morphologie  (Vol.  I.  p.  133,  Anm.)  ein  kleines  amoebenahnlicbes 
Moner  beschrieben ,  welches  sich  von  den  vorhergehenden  Monadinen 
CusNKOWSKi^s  dadurch  unterscheidet,  dass  es  sich  einfach  durch  Thei- 
lung  fortpflanzt,  ohne  vorher  in  einen  Ruhezustand  überzugehen  oder 
sich  zu  encystiren.  Es  gleicht  in  dieser  Beziehung  dem  ProtogeneS 
primordialis,  von  dem  es  sich  aber  durch  die  kurzen,  stumpfen, 
flicht  cohflüirenden  Pseudopodien  unterscheidet.  Die  nähere  Beschrei- 
bung dieser  Protamoeba  wird  unten  folgen. 

Itti  Jahre  1866  sind  mehrere  meinem  Protogen  es  primordialis 
sehr  ahnliche  Moneren ,  gleich  diesem  von  ansehnlicher  Grö^ise ,  von 
RlcHAHl)  GkEBPF  an  der  Kttste  von  Ostende  beobaculet  worden.  Der- 
selbe zeigte  niii^  zahlreiche  Abbildungen,  aus  denen  sich  die  grosse 
Form  Veränderlichkeit  derselben,  ahnlich  den  Plasmodien  der  Myico- 
myceten,  ergab-  Mitiheilungen  darüber  sind  bis  jetzt  noch  nicht 
publicirt. 

Als  ich  im  Winter  1866 — 67  drei  Monate  auf  der  canarischen  Insel 
Lanzarote  verweilte,  um  daselbst  Beobachtungen  über  niedere  Seethiere 
anzustellen ,  war  mein  Augenmerk  neben  den  Hydromedusen  und  den 
echten  hhizopoden  vorzüglich  auch  auf  die  Moneren  gerichtet,  und 
meine  Hoffnütig ,  auch  dort  dergleichen  aufzufinden ,  würde  nicht  ge- 
tauscht. Die  auf  Taf.  I.  dargestellte  Protomyxa  und  das  auf  Taf.  II. 
abgebildete  Myxastrum  bereichern  die  Naturgeschichte diesef  einfach- 
sten Organismen  mit  neuen  Thatsachen.  Es  ist  wahi^cheinlich ,  dass 
Monereh  seht-  verbreitet  vorkommen,  und  es  ist  möglich,  dass  dieselben 
boch  fortwährend  durch  Urzeugung  entstehen.  Das  Schwierigste  bei 
iht*er  Untersuchung  ist  die  erste  ErkeimtnisS,  da  die  meisten  Beobachter 
auf  den  ersten  Anblick  nicht  geneigt  sein  werden ,  in  dem  kleinen, 
fok-mlosen ,  durch  und  dut^h  homogenen  SchleimklQmpchen  einen 
selbststandigen  und  ausgebildeten  Organismus  anzuerkennen.  Mögen 
daher  die  Moneren  fortan  der  besonderen  Aufmerksamkeit  der  mikro- 
skopirendett  Naturforscher  warm  empfohlen  sein. 


r 


r 

^  Monographie  d«r  HoDeren.  71 

II.  iesckreibiBg  neuer  ■•■erea. 

n.     I^Protomyxa  auraniiaca. 

(Hierzu  Taf.  II,  Fig.  4-^18). 

An  vielen  RUstenstrecken  der  canarischen  Inseln  finden  sich  in 
grosser  Menge  die  spiralig  aufgewundenen  Kalkschalen  der  Spirula 
Peronii  vom  Meere  ausgeworfen.    Besonders  zahlreich  fand  ich  die- 
selben an  der  Südosiküsie   der   Insel   Lanzarote  angehäuft,  z.  B.  an 
den  kleinen  flachen  Inselbünken  und  Halbinseln,  welche  vorder  Hafen- 
Stadt  Puerto  del  Arrecife  liegen  und  deren  Hafenbecken  tbeil weise  uni- 
scbliessen.    Während  meines  dreimonatlichen  Aufenthaltes  in  Arrecife 
hielt  ich  beständig  die  HolTnung  aufrecht,  lebendige,  oder  wenigstens 
zur  anatomischen  Untersuchung  taugliche  Exemplare  dieses  merkwUr-* 
digen  Gephalopodon   zu  erlangen,    von  dessen  weichem  Körper  man 
nur  höchst  unvollständige  Kenntnisse  besitzt.    Ich  setzte  den  Fischern 
von  Arrecife  eine  hohe  Belohnung  aus,  wenn  sie  mir  einen  lebenden  oder 
auch  nur  einen  vollständig  erhaltenen  todten  Spirula-Körper  brächten. 
Jodess  war  dies  ebenso  vergeblich,  als  die  vielen  Bemühungen,  welche 
meine  drei  Reisegefährten  und  ich  selbst  bei  unsern  pelagischen  Excur- 
sionen  und  beim  Durchsuchen  der  am  Strande  ausgeworfenen  Hassen 
um  die  Spirula  uns  gaben.  Dass  die  Spirula,  wenn  überhaupt,  so  doch 
jededfaHs  nur  sehr  selten  lebendig  nach  den  canarischen  Inseln  ge- 
langt, gebt  daraus  hervor,  dass  alle  Fischer  uns  mit  der  grössten  Be- 
stimmtheit einstimmig   versicherten,    dass   die   ihnen   wohlbekannte 
Spirula  -  Schale  stets  todt,   und  niemals  von  einem  lebenden  Thiere 
bewohnt  oder  eingeschlossen  sei.    Das  Einzige  was  ich  erlangte,  waren 
einige  unbedeutende  weisse  Mantelreste,   welche  an  einigen  wenigen 
Schalen  aufsas&en ,  aus  denen  sich  jedoch  Nicht.s  auf  den  Bau  des  Spi- 
rula-Kdrpers  scbliessen  Hess.     Diese  unbedeutenden  Reste  wurden 
wiederholt  an  einigen  Tagen  in  das  Hafenbecken  von  Arrecife  getriebeui 
als  gerade  ein  heftiger  Südwind  besonders  grosse  Mengen  nackter  Spi- 
rula-Schalen   in  Gesellschaft  zahlreicher  Physalien  und  Velellen  und 
anderer  pelagischer  Thiere  der  Insel  Lanzarote  zugetrieben  hatte. 

Während  so  meine  Hoffnung  auf  die  Spirula  selbst  nicht  io  Er- 
füllung ging ,  fand  ich  dagegen  auf  den  nackten  angetriebenen  Kalk- 
schaien  dieses  Cephalopoden  im  Januar  1 867  einen  Protisten-Organismu« 
aus  der  Monerengruppe ,  welcher  mir  von  hohem  Interesse  war ,  und 
dessen  Lebensgesohichte  ich  auf  Taf.  I.  dargestellt  habe. 

Als  ich  unter  einer  grossen  Menge  von  Spirula  —  Schalen ,  welche 


72  Erost  Hlckel, 

an  der  Oberfläche  des  Hafenbeckens  von  Arrecife  schwammen ,  und 
welche  ich  in  Gesellschaft  von  Physalia ,  Abyla ,  Hippopodius  und  an- 
deren pelagischen  Thieren  mit  einem  Eimer  geschöpft  hatte,  sorgfältig 
nach  etwa  an  den  Schalen  haftenden  Mantelresten  suchte,  bemerkte  ich 
eine  nackte  Spirula-Schale ,  deren  gewöhnliches  glänzendes  Porcellan- 
Weiss  an  mehreren  Stellen  durch  kleine  rothe  Flecke  getrttbt  war.  Mit 
einer  starken  Loupe  betrachtet,  lösten  sich  diese  Flecke  theils  in  Gruppen 
von  dichtstehenden ,  sehr  kleinen  rothen  Pttnctchen ,  theils  in  ausseiet 
fein  dendritisch  verzweigte  Figuren  auf. 

Die  rothen  Pünctchen  Hessen  sich  unter  dem  Präparirmikroskop 
ziemlich  leicht  mittelst  Nadeln  von  der  Oberfläche  der  Spirula-Schale 
abheben.  Bei  stärkerer  Vergrösserung  erschien  jeder  Punct  als  eine 
ziemlich  undurchsichtige  orangerothe  Kugel,  welche  von  einer  dicken, 
structurlosen  Membran  umhüllt  war. '  Der  Durchmesser  des  ganzen 
Körpers  betrug  bei  den  meisten  Kugeln  0,15  Mm.,  bei  den  grössten  0,2 
Mm.  bei  den  kleinsten  0,12  Mm.  (Taf.  II,  Fig.  I.j 

Die  Membran  der  Kugel  erschien  vollkommen  structurlos,  glas- 
artig, farblos  und  wasserbell.  Nur  eine  Anzahl  von  (ungefähr  5 — 10) 
sehr  feinen  parallelen  Streifen  waren  daran  wahrzunehmen ,  welche 
concentrisch  um  das  Centrum  der  Kugel  herumliefen ,  ofienbar  An- 
deutungen einer  schichtenweisen  Ablagerung  der  structurlosen  Masse. 
Radiale  Striche,  porencanalähnhche  Bildungen  oder  sonstige  Oeffnungen 
waren  an  der  Kugelmembran  nicht  wahrzunehmen.  Auch  die  Ansatz- 
stelle ,  an  welcher  sie  der  Spirula-Schale  (ofienbar  nur  sehr  locker)  an- 
geheftet war ,  erschien  nicht  besonders  ausgezeichnet.  Die  Consistenz 
der  Membran,  soweit  sie  sich  durch  den  Druck  des  Deckglases  ermitteln 
Hess,  war  die  einer  ziemlich  zähen  und  sehr  elastischen  Gallerte,  etwa 
vergleichbar  derjenigen  der  festeren  Medusenschirme  (z.  B.  von  Tra- 
chynema,  Rhizostoma).  Gleich  der  letzteren  zeigte  sich  die  Mem- 
bran sehr  indifferent,  durch  Carmin  würde  dieselbe  nicht  gefärbt, 
ebensowenig  durch  lod  und  Schwefelsäure.  Bei  längerem  Liegen  in 
lod  wurde  sie  schVach  gelb  gefärbt.  Essigsäure  sowohl,  als  Mineral- 
säuren brachten  keine  merkliche  Veränderung  hervor.  In  kaustischem 
Kali  quoll  sie  auf  und  löste  sich  langsam. 

Der  orangerothe  Inhalt  der  Kugeln  erschien  bei  den  unverletzten 
Exemplaren  innerhalb  der  geschlossenen  kugeligen  Membran  als  eine 
vollkommen  homogene,  festflUssige,  trübkömige  Masse,  in  welcher  sehr 
zahlreiche  äusserst  feine  Körnchen  und  eine  geringe  Anzahl  von  grösse- 
ren, stark  lichtbrechenden  rothen  Körnchen  zu  bemerken  waren.  Bei 
massiger  Compression  durch  das  Deckglas  liessen  sich  die  Kugeln  ziem- 
lich stark  sphaeroidal  comprimiren  und  nahmen  die  Gestftlt  einer  bicon- 


Mooogrtpbie  der  Nonereo.  73 

vexen  Linse  von  0,3  Mm.  Durchmesser  an.  Nach  Aufhören  des  Druckes 
dehnten  sie  sich  wieder  zu  ihrer  früheren  Kugelgestalt  aus.  Die  un- 
durchsiditige  Mitte  der  Kugeln  wurde  beim  Druck  durchsichtiger,  ohne 
jedoch  irgend  eine  Structur  erkennen  zu  lassen. 

Mein  erster  Gedanke,  dass  die  Kugeln  Eier  seien,  wurde  mir  schon 
dadurch  unwahrscheinlich,  dass  durchaus  kein  Keimbläschen  (Nucleus) 
in  dem  homogenen  Inhalte  der  structurlosen  Kugeln  zu  erkennen  war. 
Sr  wurde  bald  gänzlich  widerlegt  durch  die  verschiedenartigen  Ent- 
wickelungsstadien ,  welche  mehrere  Kugeln  zeigten ,  sowie  durch  das 
Verhalteb  des  aus  den  Kugeln  austretenden  Inhaltes. 

Während  bei  der  Mehrzahl  der  Kugeln  die  Inhaltsmasse  überall 
dicht  der  Innenseite  der  Membran  anlag,  und  den  Binnenraum  der  gan- 
zen membranttsen  Hohlkugel  vollständig  erfüllte ,  hatte  sich  bei  einigen 
Individuen  der  Inhalt  von   derselben  ein  wenig  zurückgezogen  und 
offenbar  verdichtet,  während  ein  heller,  mit  wasserklarer  Flüssigkeil 
erfüllter  Raum  zwischen  der  Membran  und  der  verdichteten  Inhaltsmasse 
entstanden  war  (Fig.  Sj.    Bei  einigen  Kugeln  war  der  Umriss  der  cen- 
tralen ,  verdiditeten ,  orangerothen  Masse  eine  ganz  scharfe  und  regel- 
mässige Kreislinie.  Bei  anderen  dagegen  erschien  derselbe  regelmässig 
gekerbt.   Es  waren  ungefähr  gegen  20,  Kerben  am  Gontourrande  der 
rothen  Kugel  zu  bemerken.     Bei  Beobachtung  der  Oberfläche  zeigte 
sieb,  dass  diese  Einkerbung  der  Ausdruck  einer  regelmässigen  Bildung 
von   halbkugeligen  Höckern  auf  def  gesammten  Oberfläche  der  ver- 
dichteten Kugel  war.   Noch  andere  Kugeln  endlich ,   welche  offenbar 
weiter  entwickelt  waren ,  zeigten  deutlich ,  dass  diese  Kerbung  nicht 
bloss  die  Oberfläche  der  verdichteten   Inhaltsmasse  betraf,  sondern 
nur  der  oberflächliche  Ausdruck  des  Zerfalls  der  ganzen  kugeligen 
orangerothen  Masse  in  eine  grosse  Anzahl  von  kleinen  Kugeln  war. 
Bei  den  am  weitesten  entwickelten  Individuen  war  in  der  That  der 
gesammte  orangerothe  Inhalt  der  Kugeln  in  lauter  kleine  Kugeln  von 
0,047  Mm.  zertheilt.   Diese  lagen  hier  nicht  mehr  zusammengepresst, 
sondern  berührten  sich  nur  locker,  etwa  wie  ein  Haufen  von  Kanonen- 
kugeln. Sie  hatten  sich  wiederum  derartig  von  einander  entfernt,  dass 
sie  nicht  mehr  den  gesammten  Binnenraum  der  Hohlkugel  ausfüllten, 
sondern  vielmehr  durch  eine  geringe  Menge  der  wasserhellen  Flüssig- 
keit von  einander  getrennt  wurden ,  welche  vorher  zwischen  der  hya- 
linen Membran  und  dem  verdichteten  Inhalte  sich  angesammelt  hatte 
(Fig.  3).    Die  Zahl  der  kleinen  orangerothen  Kugeln,  welche  aus  dem 
Zerfall  der  ursprünglichen  grossen  Kugel  entstanden  waren,  betrug, 
wie  sich  nachher  beim  Sprengen  ergab,  ungeftihr  zweihundert. 

Zunächst  versuchte  ich  an  den  ungetheilten  Kugeln  durch  Spreu- 


l 

74  Ernst  HMel,  *  i 

gen  der  Membran  tu  einer  genaueren  Kenntniss  des  orangerothen  In- 
halts zu  gelangen.  Dieser  Versuch  gelang  ohne  Mühe.  Sobald  der 
Druck  des  Deckgläsohens  ein  geTvi8se8^Maa«s.Uberschrillen  hatte,  barst 
die  Membran,  gewöhnlich  an  einer,  selten  an  tnehreren  Stellen  zu- 
gleich, und  der  orangerothe  Inhalt  trat  langsam  heraus.  Die  hyaline, 
structurlose  Membran  blieb  in  vielfach  gefaltetem  Zustande  zurück. 

Der  festflttssige  Inhalt  der  Kugeln ,  welcher  den  mittleren  Gonsi- 
stenigrad  des  organischen  Plasma  oder  Protoplasma  hatte,  quolt  selur 
langsam  und  allmählich  aus  der  geborstenen  Hülle  hervor  und  breitete 
sich  zwischen  Objectträger  und  Deckgläschen  aus,  wobei  die  Umrisse 
rundliche  stumpfe  Lappen  von  ungleicher  Grösse  bildeten.  Durch  vor- 
sichtiges Verschieben  des  Deckgiäschens  gelang  es  ziemlich  leicht,  die 
gl^shelle,  gefaltete  und  collabirte  Gallerthülle  der  geborstenen  Kugel 
ganz  bei  Seite  zu  schieben,  so  dass  der  orangerothe  Inhalt  völlig  isolirt 
unter  dem  Deckglase  lag.  Massigem  Druck  ausgesetzt,  zeigte  er  sich 
nur  als  eine  formlose  rundliche  Masse,  deren  Umriss  in  unregei- 
massigen  Lappen  von  verschiedener  Grösse  da  und  dort  sich  verschob; 
einzelne  Lappen  sahen  wie  gekerbt  aus.  Schon  auf  den  ersten  Blick 
war  ersichtlich,  dass  die  gesammte  Masse  structurlos  und  homogen  war. 
Nur  eine  sehr  grosse  Anzahl  von  den  bereits  erwähnten,  äusserst 
feinen  punctförmigen  Körnchen  und  eine  geringere  Anzahl  von 
grösseren  kugeligen  Körnern  war  in  der  völlig  homogenen  Grundsub- 
stanz vertheilt.  Diese  letztere  war*  in  ihrer  ganzen  Masse  blass  röthlich 
gelb  gefärbt,  auch  am  Rande,  wo  sie  nur  als  eine  sehr  dünne  Schicht 
sich  ausbreitete.  Die  lebhaft  orangerothe  Färbung  der  ganzen  Kugeln 
kam  daher  offenbar  mehr  auf  Rechnung  der  orangerothen  und  ziemlich 
stark  glänzenden  Körner. 

Die  chemische  Untersuchung  der  blass  rötblich  gelben  structur- 
losen  Grundsubstanz  ergab  bald,  dass  dieselbe  eine  Eiweissverbin- 
dung  war.  Sie  zeigte  dieselben  Reactionen ,  welche  das  Plasma  oder 
Protoplasma  der  Cytoden  und  der  Zellen  bei  Thieren,  Protisten  und 
PQanzen  in  gleicher  Weise  darbietet.  Durch  Gar  min  wurde  die  ganze 
Masse  dunkekoth ,  durch  lod  dunkelbraun  gefärbt.  Mineralsäuren  be- 
wirkten eine  kömige  Gerinnung.  Salpetersäure  färbte  das  Plasma  dun- 
kelgelbbraun ,  Schwefelsäure  spangrün.  Die  letztere  Reaction  erinnert 
an  die  gleiche  Färbung  des  Acanthometra- Pigments  durch  Schwefel- 
säure. Die  grösseren  sowohl  als  die  kleineren  Körnchen  in  der  struc- 
turlosen  Grundsubstanz  wurden  durch  Kali  nicht  gelöst,  wöhrend  das 
Plasma  darin  langsam  zerfloss.  Von  irgendv^eloher  Difiereazirong  oder 
Zusammensetzung  war  an  dem  ausgetretenen  Plasma  nicht  das  geringste 
zu  bemerken. 


r 

MonogripM«  der  MoneTeo.  75 

Auch  die  ^TBiter  entwickelten  Kugeln,  welche  ßtatt  «Her  homogenem 
(grossen  Plasuiakugel  eine  ganze  Masse  von  kleinen  ornngerothen  Kugeln 
enthielten,  gelanges  ziemlieh  leicht ,  zu  sprengen.  Doch  zeigte  deivn 
structurlose  HttUmembran  einen  höheren  Grad  von  Harte  und  Gonsi- 
fttenz.  Die  aus  der  geborstenen  Hülle  austretende  orangerothe  Inhalts- 
masse  Idsie  sk$h  im  Wassen  in  ihlre  einzelnen  Bestandtheile  auf,  die 
sich  leitfht  von  einander  trennten.  Die  einzelnen  Kugeln  waren  alle 
von  gleicher  Grösse,  von  0,047  Mm.  Durchmesser.  Sie  waren  volt- 
ständig nackt  und  hüHenlos,  einzig  und  allein  aus  dem  röthlich  gelben 
Plasma  gebildet,  in  welchem  eine  Menge  sehr  feiner  und  kleiner,  glän- 
zender orangerother  Körnehen  suspendirt  lagen.  Die  grösseren  roth^ 
gelben  und  rothen  kugeligen  Körner,  weichein  dem  Plasma  der  un- 
getheilten  Kugeln  zerstreut  waren,  fehlten  hier  völlrg.  Sie  fehlten  auch 
schon  in  denjenigen  Kugeln ,  bei  denen  die  Furchung  der  Oberfläche 
den  beginnenden  Zerfall  des  Plasma  in  kleinere  Kugeln  andeutete.  Weder 
von  einem  Kern ,  noch  von  einer  contractilen  Blase  war  an  den  kleinen 
Kugeln  eine  Spur  wahrzunehmen ,  eben  so  wenig  als  bei  den  grossen 
ungetheilten  Kugeln. 

Die  kleinen  orangerothen  Kugeln,  die  offenbar  aus  dem  Zerfall  der 
einen  grossen  Plasmakugel  hervorgegangen  waren,  zeigten  wahrend 
meiner  ersten  Beobachtung  keinerlei  Bewegung.  Dagegen  traten  als-- 
bald  amoebenartige  Bewegungen  bei  einer  der  grossen  ungetheilten 
orangerothen  Kugeln  ein ,  welche  ich  in  einem  UhrglSschen  mit  See- 
wasser möglichst  vorsichtig  dadurch  von  ihrer  structurlosen  Httlie  be- 
freit hatte,  dass  ich  die  letztere  unt^r  dem  Mikroskop  nicht  durch  den 
Druck  des  Deckglases  gesprengt ,  sondern  mit  zwei  spitzen  Nadeln  an- 
gestochen und  zerrissen  hatte.  Jedoch  waren  diese  amoebenartigen 
Bewegungen  nicht  besonders  lebhaft  und  hörten  bald  auf.  Sie  waren 
nicht  zu  vergleichen  mit  den  lebhaften  Bewegungen  der  zierlichen 
sternförmigen  und  dendritisch  verzweigten  Figuren ,  welche  Ich  neben 
den  orangerothen  Kugeln  auf  der  weissen  Spirula-Sohale  bemerkt  hatte, 
und  zu  deren  Beschreibung  ich  mich  jetzt  wende. 

Bei  Schwacher  Vergrösserung  und  auffallendem  Lichte  betrachtet, 
boten  diese  Gestalten  einen  Äusserst  zierlichen  Anblick  dar.  Die  un-^ 
durchsichtige,  gtanzend  weisse,  porcellanartige  Spirula-Schale  sah  aus, 
als  ob  sie  mit  zerstreuten  sternförmigen  rothgelben  Pigmentzelien  be- 
deckt sei ,  ahnlich  denjenigen ,  welche  in  der  Haut  niederer  Wirbel- 
tbiere  (Fische,  Amphibien)  so  verbreitet  sind.  Jeder  sternafanliohe 
Fleck  bestand  aus  einer  unregelmässig  rundlichen  centralen  Masse,  von 
ungeflihr  0,<?— 0,H  Mm.  Durchmesser  und  aus  einer  Anzahl  von  (meistens 
5—  1 0)  starken  Aesten ,   welehe  von  der  osntralen  Masse  ausstrablteii 


76  £n8t  Hlekei, 

und  sich  äusserst  fein  und   zierlich   verzweigten.     Bei  Anwendung 
stärkerer  Vergrösserung  liess  sich  sowohl  in  der  centralen  Masse  als  in 
den  Aesten  und  ihren  Zweigen  eine  FoFAveränderung  wahrnehmen, 
welche  auf  selbstständige  Contractionen  des  sternförmigen  Körpers  zu 
schliessen  gestattete.   Man  hätte  glauben  können,  Ghromatophoren  aus 
der  Haut  der  Spirula  vor  Augen  zu  haben.   Da  jedoch  an  der  völlig 
nackten ,  offenbar  schon  lange  an  der  Meeresoberfläche  schwiomienden 
Spirula -Schale  keine  Spur  eines  Mantels  mehr  wahrzunehmen   -war, 
musste   ich   alsbald  in    dem  zierlichen  Strahlenkörper   einen  grossen 
rhizopodenarUgen  Organismus  erkennen.    Um  ihn  bei  durchfallendem 
Lichte  genauer  untersuchen  zu  können ,  war  es  durchaus  nothwendig, 
ihn  von  der  undurchsichtigen  Spirula- Schale  zu  entfernen.    Mehrere 
Versuche,  ihn  vorsichtig  mit  einer  feinen  Staamadel  von  der  Schale 
abzulösen ,  oder  mit  dünnen  Splitterchen  der  Schale  selbst  abzuheben, 
missglttckten  völlig;  ich  brachte  nur  kleine   formlose  Trttmmer   des 
rothgelben  Protoplasma  unter  das  Mikroskop.     Ich  legte  desshalb  ein 
paar  grössere  Splitterchen  der  Schale ,  welche  einen  rothgelben  Stern 
trugen ,  in  ein  flaches  Uhrschälchen  mit  Seewasser ,  welches  ich  mii 
einem   anderen  Uhrschälchen  zudeckte,    und  stellte  dasselbe  in  eine 
feuchte  Kammer.    Meine  Absicht,  dadurch  den  Rhizopoden  zum  H^ab- 
kriechen  zu  bewegen ,  ging  bei  einem  Exemplar  schon  nach  wenigen 
Stunden ,  bei  zwei  anderen  am  folgenden  Tage  in  Erfüllung ,  urd  ich 
hatte  nun  das  Vergnügen,  diese  merkwürdigen  Organismen ,    welche 
von  der  Spirula-Schale  auf  das  Uhrgläschen  übergesiedelt  waren ,  und 
sich  hier  ausgebreitet  hatten,  in  aller  Müsse  betrachten  zu  können. 
(Fig.  H,  42). 

Jeder  sternförmige  Körper  zeigte  nunmehr,  bei  stärkerer  Vergrösse- 
rung  ohne  Deckglas  betrachtet,  ein  prachtvolles  Plasma-  oder  Sarcode- 
Netz  ,  so  ausgedehnt  und  maschenreich ,  als  man  es  nur  bei  Polythala- 
mien  und  Radiolarien,  Myxomyceten  und  Lieberktthnien,  finden  kann. 
Die  centrale  Plasmamasse  bildete  eine  flache,  durchsichtige  Scheibe 
von  unregelmässig  rundlichem ,  jedoch  nahezu  kreisförmigem  Umriss, 
und  ungefähr  0,2 — 0,3  Mm.  Durchmesser.  Am  Rande  zog  sich  dieselbe  in 
sechs  bis  acht  starke  Protoplasmastämme  aus,  deren  jeder  sich  zu 
einem  äusserst  zierlichen  Räume  verästelte.  Diese  Stämme,  am  Grunde 
von  0,01 — 0,03  Mm.  Durchmesser,  theilten  sich  alsbald  gabelig  in  zwei, 
sriten  drei  Aeste,  die  sich, nach  kurzem  Verlauf  abermals  gabelförmig 
spalteten,  und  sa  fort.  Rei  jeder  Spaltung  nahm  der  Durchmesser  der 
Gabeläste  stark  ab ,  so  dass  in  der  Regel  jeder  Ast  noch  nicht  halb 
so  stark  war,  als  der  nächststärkere  Ast  der  vorhergehenden  Ordnung. 
Die  Aeste  waren  fast  sämmtlich  leicht  und  zierlich  gekrümmt,  seltener 


Monographie  der  Moneren.  77 

fast  f^erade.  Schon  von  der  dritten  oder  vierten  Ordnung  an  begannen 
die  benachbarten  Aeste  zu  verschmelzen,  und  die  Anastomosen  der 
Aeste  wurden  nach  der  Penpberie  hin  immer  zahlreicher ,  so  dass  die 
«lussersten  Aeste  ein  fast  zusammenhängendes  peripherisches  Sarcode- 
netz herstellten.  Bie  Form  der  Anastomosen  war  sehr  unregelmttssig, 
nach  der  Peripherie  hin  mehr  und  mehr  bogenförmig,  am  Grunde  mehr 
unregehnttssig  polygonal.  Im  Ganzen  war  das  Plasmanetz  sehr  ähn- 
lich demjenigen,  welches  ClaparIu>e  von  seiner  Lieberkühnia  Wa- 
ge n  e  r  i  abgebildet  hat.  >] 

Die  rothgelbe  Färbung  war  am  intensivsten  in  der  Mitte  des  Kör- 
pers, welche  offenbar  auch  die  dickste  Plasmalage  bildete,  und  in 
den  Hauptstämmen ,  welche  von  deren  Peripherie  abgingen.  Gegen 
die  letztere  hin  Wurde  die  Farbe  immer  blasser,  und  die  feinsten  Aeste 
erschienen  hell  röthlichgelb  gefärbt.  Nirgends  war  die  Farbe  so  in- 
tensiv Orangeroth ,  wie  an  den  vorherbeschriebenen  Kugeln.  Wie  bei 
den  letzteren,  wurde  die  Färbung  auch  hier  ebensowohl  durch  ein 
dififttses  rothliches  Gelb  der  structurlosen  Grundsubstanz,  als  durch 
einen  lebhafter  gelbrothen  Ton  der  darin  suspendirten  Kömchen 
bedingt. 

Sowohl  die  centrale  scheibenförmige  Körpermasse ,  als  die  davon 
ausstrahlenden  Aeste  und  deren  Zweige  waren  vollkommen  durchsichtig 
und  Hessen  auch  bei  der  stärksten  Vergrössening  mit  der  grössten 
Deutlichkeit  die  Thatsache  erkennen ,  dass  die  gesammte  Körpermasse 
durchaus  structurlos  und  homogen,  ohne  jede  Zusammensetzung 
aus  Zellen  oder  zellenähnlichen  Gebilden  sei.  Zur  Evidenz  wurde 
diese  Thatsache  durch  die  feineren  und  gröberen  rothen  Körnchen  be- 
wiesen, welche  strömend  in  dem  Sarcodenetz  hin  und  herbewegt 
wurden,  sowie  durch  die  hie  und  da  in  das  Plasma  eingestreuten  frem- 
den Körper  und  Nahrungsbestandtheile  (namentlich  Diatomeen).  Auch 
diese  letzteren  wurden  gleich  den  rothen  Körnchen  ergriffen  und  passiv . 
mit  fortgeführt  von  der  Strömung ,  welche  diu*ch  active  Lageverände- 
rung der  Eiweissmoleküle  des  homogenen  Plasma  bewirkt  wurde. 
In  seinen  chemischen  Eigenschaften  war  der  Eiweisskörper  des  Plasma 
oder  der  Sarcode  nicht  verschieden  von  demjenigen  der  rothen  Kugeln, 
der  vorher  beschrieben  wurde,  und  zeigte  ganz  dieselben  Reactionen. 

Die  Strömungserscheinungen  der  Sarcode  oder  des  freien  Plasma 
(Protoplasma) ,  wie  sie  namentlich  bei  den  echten  Rhizopoden  (Aeytta*- 
rien  und  Radiolarien)  zu  Tage  treten,  sind  seit  nunmehr  33  Jahren  so 


4)  CLAPARiDB  et  Lacbvah H,  Stades  sur  les  Infusotreset  les  Rbizopodes,  Vol.  I, 
p.  464,  PL  ?CXIII. 


76  Ernst  ^^^ 

genau  untersucht  und  so  allgemeio  bekannt  gew  orden ,  dass  es  über- 
flttssig  sein  würde ,  dieselben  bei  dem  hier  vorliegenden  Organismus 
nochmals  detaiüirt  zu   beschreiben.    DvjjniDm^]  und  Max  Schultze'; 
haben  dieses  äusserst  interessante  und  wichtige  Phaenomon  bei   den 
Polythabmien ,   Glapar^de  und  Lachhank  bei  Actinophrys,  Acan- 
ihom^tra  und  Lieberktthnia'j ,  JoHAinfBsMüLLEa*)  und  ich  selbst') 
bei  den  Radiolarien,  de  Bart^)  und  Cibnkowski  ^j  bei  den  Myxmiftyceten 
so  übereinstimmend  und  genau  dargestellt,  dass  über  dessen  thatsHch- 
liehe  Existenz  und  weite  Verbreitung  kein  Zweifel  mehr  aufkooiuien 
kann.   Zwar  versuchte  Reichert  seit  186SI  in  einer  Reihe  von  Aufsätzen 
diese  Thatsachen  als  unmöglich  und  die  Beobachtungen  und  Deutungen 
«ämmtlicber  genannter  Forscher  als  falsch  darzustellen,  weil  diesel- 
ben mit  seiner  dogma tisch- vHalistischen  NaturauffassuDg  unvereinbar 
waren.    Indessen  habe  ich  bereits  in  meinem  Aufsatze  über  den  Sar- 
codekörper  der  Rfaieopoden  die  völlige  Grundlosigkeit  und  Verkehrt- 
heit von  RsicfifiRT^s  Behauptungen  dargethän.  Ich  würde  dieselben  hier 
gar  nicht  ervsähnt  haben,  wenn  nicht  RBiCBBtT  in   einer  soeben  er- 
*schienenen  gi^sseren  Abhandlung  die  von  ihm  angegriffene  Plasma- 
theorie der  Sarcode  selbst  acceptirte,  und  dabei  die  Sache  so  zu  ver- 
drehen snohte,  dass  er  als  der  eigentliche  Entdecker  jener  von  ihm  früher 
für  unmöglich  erklärten ,  in  der  Tbat  aber  längst  festgestellten  Phäno- 
mene erscheint.    Der  folgende  (HI.)  Abschnitt  meines  Aufsatzes  wird 
Tiiesen  umstand  noch  ndher  erörtern. 

Der  orangefarbene ,  rhizopodenähnüche  Organismus ,  welchen  ich 
auf  der  Spirula- Schale  fand,  und  für  welchen  ich  die  Bezeichnung 
Protomyxa  aurantiaea  vorschlage,  zeigt  das  Phänomen  der  Sar- 
codeströmung in  der  ausgezeichnetsten  Weise.  Die  rothgelbe  Sarcode 
desselben  ist  in  ziemlich  hohem  Grade  dünniüssig,  etwa  wie  bei  Tha- 
lassicolla  unter  den  Radiolarien,  bei  Gromia  unter  den  Acytturieo, 


4)DuiAiiaiN,  Ohservati4)ns  douvelJe«  etc.  Annales  des  sciences  nat  4835, 
II,  S6r.,  Tom   III.  p.  na  ff. 

%^  Max  Schultze.  lieber  den  Orgsnisniiis  der  Polythalamien  (4854)  p    46  ff. 

3)  Clapar^de  et  Lachmann,  Etudes  sur  les  Infusoires  et  les  tthtzopodes  (4858), 
Vol.  1,  p.  446,  464  ff. 

•4)  JoHANiiEs  UüLLER,  üeberdieThalaBsicolleB,  Fol^cystineninnUAcaBibooietreD, 
JUbhandi.  der  Berlin  Akad.  4S58,  p.  8  ff. 

5j  Ernst  Häokei«,  Die  Radiolarien.  Eine  Monographie  (4  862) ,  p.  89 — 416  und 
p.  427-469. 

6)  De  Bary,  Die Mycetozoen,  Zeitschrifl  für  vvissensch.  Zool.  4 860,  Vol.  X,  p.  88 ff. 

7}  CiETivKewsKf ,  Zur  EntwicfceliiRgsj^eschi'ible  der  MyxAjnycsfaea,  Priogsbeims 
Jahrbücber  für  wissensch.  Bolanik  III,  p   325  ff. 


Monograpkia  der  lloDeren.  79 

oder  beiPhysarutn  unter  den  Myxomyceten.  Die  zahlreich  zerstreu- 
ten reihen  Körnchen,  welche  durch  die  gegenseitige  Lagenveründerung 
der  sich  an  einander  verschiebenden  Plasmamol^ttle  in  Bewegung 
versetzt  und  passiv  ton  dem  activen  Sarcodestrom  mit  fortgerissen 
werden,  erlauben  ibhr  genau  die  verschiedenen  Strömungsbahnen  zu 
verfolgen.  Diese  Bahnen  sind  ohne  alle  bestimmte  Anordnung,  in  be- 
ständige Wechsel  begriffen.  An  den  grosseren  Stromladen*  bemerkt 
ffiftB  ot%  deutlich  einen  centrifugalen  neben  einem  centripetalen  Strom. 
Schnelligkeit,  Richtung  und  Stärke  der  Ströme  wechseln  beständig. 
Die  breiten  polygonalen  Sarcodeplatten,  welche  sich  leicht  an  den  Ana- 
stomosen zweier  Stromäste  bilden,  entstehen  und  vergehen ,  und  hier- 
bei lässt  sich  besonders  deutlich  der  durchaus  homogene  Charakter  der 
ganzen  contraotilen  Piasmasubstanz  wahrnehmen.  Von  einer  Schein 
düng  in  eine  dichtere  Rindenschicht  und  eine  dünner  flüssige  Mark- 
schicht,  wie  sie  bei  vielen  Rhizopoden  und  Myxomyceten  vorkommt,  ist 
Nichts  wahrzunehmen. 

Neben  den  zahlreichen  rothen  Körnchen  werden  auch  grössere,  als 
Nahrung  aufgenommene  fremde  Köf per  von  dem  Sarcodestrom  mit  fort- 
gerissen, so  namentlich  pelagische  Infusorien  und  Diatomeen ,  welche 
die  Hauptnahrung  der  Protomyxa  bilden.  Das  in  Fig.  H  dargestellte 
InoUviduum  hatte  zwei  isthmien,  und  drei  Tintinnoiden  mit  kieseliger 
GiUerschale  verzehrt  (zwei  Dictyocysta  elegans  und  eine  D.  mitra), 
und  war  trotzdem  schon  wieder  im  Begriff,  ein  Peridinium  in  seinen 
Körper  hineinzuziehen.  Die  Nahrungsaufnahme  erfolgte  in  derselben 
Weise-wie  bei  den  echten  Rhizopoden.  An  frei  schwimmenden  Diatomeen 
(Bacillarien  und  Navicul4*n) ,  welche  idi  in  das  Uhrschäldien,  das  die  fVo- 
tomyxa  enthielt,  hineinbrachte,  Hess  sieb  der  Vorgang  des  Fressens 
deutlich  verfdigen.  Sobald  ein  ausgestreckter  Plasmafaden  mit  einem 
dieser  Körper  in  Berührung  kam,  erfolgte  ein  verst«ir)^ler  Zufluss  von 
Plasma  zu  dieser  Stelle.  Benachbarte  Faden  legten  sich  an  und  ver- 
schmdzen  mit  dem  ersten,  in  kurzer  2^it  war  die  Kieselzelle  derDia^ 
tomee  von  einer  Protoplasiiiaschicht  umflossen  und  wurde  nun  lang- 
sam, durch  Retraction  cbr  beiheitiglen  Plasmafilden,  in  die  centrale 
Körpei*masse  hineingezogen.  Die  Verdauung  der  Beute  bestand  einfach 
in  einer  Extraction  und  Aasimiiation  des  gelbbraunen  PlasmaimhaltB 
der  Kiesekellen.  Die  Kieselniembran  derselben  schien  gar  nicht  davon 
angegriffen  zu  werden ,  und  die  entleerten  Schaleo  wurden  durch  die 
Contraction  der  weichen  Gentralmasse  wieder  attsgestosaen. 

Kerac  oder  kernahnliobe  Bildungen  waren  in  dem  ganzen  Plasma- 
körperder  Protomyxa  durchaus  nicht  wahrzunehmen,  ebensowenig 
contractile  Blasen,  falls  man  darunter  bleibende  Organe  versteht,  welohe. 


80  Ernst  HJUskel, 

wenngleich  noch  ohne  differenzirte  Wand ,  doch  eine  bestimmte  Stelle 
im  Körper  einnehmen.    Dagegen  waren  Vacuolen  in  grosser  Anzahl 
im  Körper  zerstreut,  und  zwar  sowohl  in  der  Gentralmasse ,  als  in  den 
stärkeren  Äesten.    Dieselben  traten  auf  in  Gestalt  heller  kreisrunder 
Flecke  (Fig.  H,  11  v.)  von  verschiedener  Grösse,  diegrössten  von  0,03 
Mm.  Durchmesser.  Fixirte  man  eine  und  dieselbe  Vacuole  längere  Zeit, 
so  konnte  man  die  Dilatation  und  Contraction  derselben,  ihr  Entstehen 
und  Vergehen  deutlich  wahrnehmen.  Ersteres  sowohl  wie  letzteres  er- 
folgte sehr  langsam,  und  nahm  bei  den  grössten  ungefähr  2 — 3  Minuten 
in  Anspruch.  Bei  der  Contraction  wurde  der  Umfang  der  Vacuole  kleiner 
und  kleiner.    Endlich  verschwand  der  helle  Fleck  ganz ;  es  sah  aus, 
als  ob  das  gelbrotbe  Plasma  über  demselben  zusammengeflossen  wäre. 
Fixirte  man  die  Stelle ,  an  der  die  Blase  verschwunden  war,  fortdau- 
ernd, so  sah  man  sie  Jsis weilen  an  demselben  Puncto  wieder  langsam 
auftauchen.  Es  erschien  ein  heller  Punct,  welcher  langsam  grösser  und 
grösser  wurde;  oft  überschritt  er  den  frühern  Umfang;  andere  Male 
blieb  er  hinter  demselben  zurück.    Sehr  oft  aber  war  und  blieb  die 
Vacuole  verschwunden ,  und  statt  ihrer  traten  ein  oder  mehrere  neue 
Vacuolen  an  anderen  Stellen  auf,  bald  in  der  Nähe,  bald  weit  davon 
entfernt.     Bisweilen  traten  an  Stelle  einer  grossen  verschwundenen 
Vacuole    eine   Anzahl    (40 — 20)    kleiner   Vacuolen    in   deren    Umge- 
bung auf,  entweder  unregelmässig  zerstreut  oder  ringförmig  um  den 
Platz  der  verschwundenen  Blase  gruppirt.    Aus  diesem  Allen  geht  her- 
vor, dass  die  contractilen  Hohlräume  im  Leibe  der  Protom yxa  wirk- 
liche Vacuolen  sind,  d.  h.  wandungsJose ,  mit  wässnger  Flüssigkeit 
gefüllte  Hohlräume  inmitten  des  homogenen  Sarcodeparenchyms ,  wie 
solche  auch  bei  vielen  Rhizopoden,  Myxomyceten  etc.  vorkommen.    Es 
sind  also  keine  echten  contractilen  Blasen,  wie  sie  bei  den  echten 
Infusorien,  (Ciliaten)  und  bei  einigen  Amoeben  (z.  B.  Amoeba  qua- 
drilineata)  vorkommen.    Diese  letzteren  sind  distinete  und  perma- 
nente  Organe,  gleichviel  ob  man   eine  eigene  differenzirte  Wand  an 
ihnen  unterscheiden  kann  oder  nicht.    Die  echten   contractilen  Blasen 
nehmen  stets  eine  und  dieselbe  Stelle  im  Körper  ein  ,  während  die  Va- 
cuolen bald  hier  bald  dort  mitten  in  der  festflüssigen  Eiweissmasse  des 
Plasmaparenchyms   auftreten   und   verschwinden.     Durch  diese  be- 
stimmte Unterscheidung  der  Vacuolen  von  den  contrac- 
tilen Blasen  soll  natürlich- keineswegs  geleugnet  werden,  dass  ver- 
mittelnde Uebergangsformen  zwischen  beiden  Bildungen  vorkommen. 
Im  Gegentheil  halte  ich  es  für  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  contrac- 
tilen Blasen  aus  einfachen  Vacuolen  phylogenetisch  (durch. 
natürliche  Züchtung]  entstanden  sind. 


Monogn^kle  dar  Moneren.  g] 

Die  Vaouolen  sowohl,  als  die  rolheo  Körnchen,  welche  in  dem 
homogenen  Plasma  der  Protomyxa  zerstreut  umher  liegen  und  umher 
wandern,  sind  Erscheinungen,  welehe  zu  dem  Stoffwechsel  dieses 
Moneres  in  der  engstgü  Beziehung  stehen.    Ich  versuchte  die  Proto- 
myxa  in  flachen  yhrschälchen  mit  Seewasser  längere  Zeit  zu  cultiviren, 
und  es  gelang  dies  mit  dem  besten  Erfolge.  Ich  stellte  die  Uhrgläschen, 
deren  j^es  eine  einzige  Protomyxa  enthielt,  in  ein  grösseres,  mit 
Wasser  gefülltes  Schäkhen  und  stülpte  ein  grosses  Glas  darüber,  so 
dass  eine  sehr  geräumige  feuchte  Kammer  hergestellt  war,  und  so  ge- 
lang es  mir,  die  Protomyxa  über  drei  Wochen  am  Leben  zu  erhalten, 
und  die  Erscheinungen  ihrer  Ernährung  und  Fortpflanzung  im  voll- 
ständigem Zusammenhange  zu  beobachten. 

Das  Nächste,  was  ich  bei  fortgesetzter  täglicher  Beobachtung  wahr- 
nahm, war  die  Thatsache,  dass  die  Anzahl  der  Vacuolen  und  der  rothen 
Körnchen  in  geradem  Verbältniss  zu  der  aufgenommenen  Nahrungs- 
menge steht.  Ich  hielt  einige  Protomyxen  in  reinem  Seewasser,  ohne 
Nahrung,  während  ich  anderen  Diatomeen  in  reichlidier  Menge  als  Nah- 
rung zuführte.  Bei  den  ersteren  nahm  die  Menge  der  rothen  Kömchen 
sowohl,  als  der  Vacuolen  schon  nach  einigen  Tagen  sichtlich  ab ,  wäh- 
rend bei  den  letzteren  sie  sich  fortdauernd  erhielt  und  bei  verstärkter 
Fütterung  sogar  zunahm.  Die  am  reichlichsten  mit  Diatomeen  gefütter- 
ten Individuen  waren  mit  rothen  Kömchen  ganz  vollgestopft,  so  dass 
die  Saroode  stark  getrübt,  und  namentlich  der  mittlere  Theil  des  Kör- 
pers ganz  undurchsichtig  erschien.  Zugleich  traten  kleinere  und  grössere 
Vacuolen  in  grosser  Anzahl  an  allen  Ecken  und  Enden  auf.  Die  hun- 
gernden Individuen  dagegen  wurden  blass,  mehr  gelb  als  roth  gefärbt; 
die  Zahl  der  rothen  Körnchen  nahm  auffällig  ab ,  ebenso  auch  die  Zahl 
der  Vacuolen,  und  schliesslich  verschwanden  dieselben  gänzlich.  (Vergl. 
Fig.  H  und  12). 

Es  geht  hieraus  deutlich  hervor,  dass  die  in  der  Sarcode  zerstreuten 
Körnchen  Producte  des  Stoffwechsels  sind.  Am  wahrschein- 
lichsten dürfte  wohl  die  Vermuthung  sein,  dass  dieselben  a  s  s  i  m  i  I  i  r  te 
Substanzen  sind,  welche  durch  die  chemische  Thättgkeit  der  ver- 
dauenden Sarcode  aus  den  aufgenommenen  Nahrungsbestandtheilen 
gebildet  und  späterbin  selbst  wieder  in  Sarcode  umgebildet  werden. 
In  meinem  Aufsatz  »über  den  Sarcodekörper  der  Rhizopoden  «  habe  ich 
diese  Hypothese  auch  fiir  die  Körnchen  wahrscheinlich  zu  machen  ge- 
sucht, welche  sich  im  Protoplasma  der  echten  Rhizopoden  (Acyttarien 
und  Badiolarien)  finden,  und  deren  Quantität  gleichfalls  der  Menge  der 
aufgenommenen  und  verdaueten  Nahrung  entspricht.  Bei  den  Radto- 
Ißrien  wird  diese  Vermuthung  noch  dadurch  besonders  wahrscheinlich 

BuBd  IV.  I.  6 


82  Ernst  Hiek«!, 

gemacht,  dass  die  Körnchen  bei  mehreren  Arten  roth  geforbt  sind  (bei 
Acanthostaurus  purpurascens,  Acanthochiasma  rubes- 
cens  und  Actinelius  purpureus.^) 

Nicht  bloss  die  Menge  der  Körnchen  und  der  Vacuolen ,  sondern 
auch  die  Stärke  und  Schnelligkeit  der  Sarcode-Strömung  scheint  bei 
Protomyxa  von  der  Quantität  der  aufgenommenen  Nahrung  abhän- 
gig zu  sein.    Obgleich  diese  Thatsache  viel  schwieriger  als  die  vorher 
genannte  zu  ei:kennen  und  festzustellen  ist,  und  obgleich  auch  vielfach 
äussere  Anpassungsbedingungen ,  wie  Licht,  Temperatur  etc.  auf  die 
Stärke  und  Schnelligkeit  der  Plasma-Strömung  Einfluss  zu  haben  schei- 
nen, glaube  ich  mich  doch  durch  anhaltende  Beobachtungen  und  durch 
Vergleichung  der  Extreme  von  der  Richtigkeit  derselben  überzeugt  zu 
haben.    Bei  den  hungernden  Individuen,  bei  denen  Kömchen  und  Va- 
cuolen an  Zahl  abnahmen,  wurde  auch  die  Strömung   in   den   ver- 
zweigten Schleimfäden  zusehends  schwächer  und  langsamer  (Fig.  12). 
Zugleich  nahmen  die  Anastomosen  der   Stromzweige  in  auffallender 
Weise  ab  und  statt  deren  wurde  an  der  Peripherie  des  Sarcodenetzes 
eine  grössere  Anzahl  von  äusserst  feinen,  divergenten,  aber  nicht  ana- 
stomosirenden  Schleimfäden  vorgestreckt.   Bei  den  reichlich  gefütterten 
Individuen  dagegen  waren  die  bogenförmigen    Anastomosen  äusserst 
zahlreich  und  die  peripherischen  Büschel  von  haarfeinen  und  nicht  ana- 
stomosirenden  Schleimfäden  fehlten  (Fig.  H).    Jedoch  muss  schon  hier 
bemerkt  werden,  dass  einige  von  diesen  gutgenährten  Individuen  nach 
einiger  Zeit  in  einen  Ruhezustand  übergingen,   indem  sie  ihre  Pseudo- 
podien   einzogen  und  sich  schliesslich  in  einen   kugeligen   Schleim- 
klumpen zusammenzogen,  der  sich  mit  einer  Hülle  umgab.    Bevor  ich 
auf  diese  encystirten  Ruhezustände  und  die  damit  zusammenhängenden 
Fortpflanzungs-Erscheinungen  der  Protomyxa  eingehe,  will  ich  noch 
Einiges  über  die  Reizbarkeit  dieses  Moneres  bemerken. 

Dass  man  die  echten  Rhizopoden  (Acyttarien ,  Hetiozoen ,  Radio- 
larien)  sowie  manche  Rhizopoden  ähnliche  Organismen  (Amoeben, 
Arcellen ,  Actinophryen)  früher  allgemein  und  unbedenklich  als  echte 
T hie re  betrachtete,  hatte  nächst  der  thieräbniichen  Gestalt  mancher 
Schalenbildungen  (molluskenähnliche  Polythalamien)  und  nächst  der 
mehr  thierischen  als  pflanzlichen  Nahrungsaufnahme  seinen  Grund  vor- 
züglich in  den  Erscheinungen  der  Beweglichkeit  und  Reizbarkeit  dieser 
Organismen.  Ebenso  wie  einzelne  Bewegungserscheinungen  einen 
bestimmten  Willen,  so  schienen  andere  das  Vermögen  einer  distinclen 
Empfindung  zu  verrathen;  und  man  konnte  schliesslich  diesen  be-  . 


1)  Zeitscbr  für  wissenscb.  Zool.  4865    Vol.  XV,  p.  859.  Taf.  XX^,  Fig.  4 


Honognplue  dtr  Htnereo,  g3 

lebten  SchleimklUnpchen  eben  so  gut  eine  wirkliche  Seele  oder  einen 
sogenannten  Geist  zuschreiben,  als  den  Menschen  und  anderen  echten 
Tbieren.  Auch  in  diesen  Beziehungen  schliesst  sich  unsere  Protomyxa 
den  echten  Rhizopod^n  an,  und  zeigt  namentlich  dieselben  Erscheinun- 
gen von  Reizbarkeit,  welche  ich  einestheils  bei  den  Radiolarien 
(1.  c.  p.  128)  andemtheils  bei  dem  Protogenes  primordialis  (1.  c. 
p.  362]  beschrieben  habe. 

Zunächst  und  hauptsächlich  äussert  sich  diese  »organische  Be- 
seelung« der  Protomyxa  darin,  dass  jeder  fremde  Körper,  der  ihre 
Oberfläche  berührt,  vorzOglicb  ein  bewegter  oder  sich  bewegender 
Körper,  einen  vermehrten  Zufloss  von  Sarcode  zu  der  berührten  und 
» gereizten«  KOrperstelle  veranlasst.  Bei  der  Nahrungsaufnahme  war 
dies  deutlich  zu  sehen.  Aber  auch  wenn  ich  unter  dem  Präparirmi- 
kroskop  mit  einer  sehr  spitzen  Nadel  vorsichtig  die  Protomyxa  be- 
rührte, hatte  dieser  Reiz  augenblicklich  einen  heftigen  Zufluss  von  Sar- 
code zur  Folge,  und  die  Nadelspitze  wurde  förmlich  davon  umflossen. 
Sobald  ich  jedoch  versuchte,  mit  der  Nadel  in  das  Innere  des  Sarcode- 
körpers einzudringen  und  denselben  gewaltsam  hin  und  her  schob,  so 
wurden  sämmtliche  Pseudopodien  eingezogen  und  der  ganze  Saroodeteib 
zog  sich  in  einen  zusammenhängenden  unförmlichen  Klumpen  zusam- 
men. Da  eine  ähnliche  oder  gleiche  »Reizbarkeit«  gegenwärtig  als  all- 
gemeine Eigenschaft  des  gesammten  organischen  Protoplasma,  in  gleicher 
Weise  bei  Thieren,  Protisten  und  Pflanzen  anerkannt  ist,  so  beweist  sie 
natürlich  ebenso  wenig  für  die  thierische  Natur  bei  der  Protomyxa,  als 
bei  den  echten  Rhizopoden  und  anderen  Protisten.  Die  Protomyxa 
ist  wegen  dieser  Reizbarkeit  ebenso  wenig  ein  Thier,  als  die  einpflnd- 
liche  Mimosa. 

Gelegentlich  dieser  Reizversuche  zerzupfte  ich  mehrere  Individuen 
von  Protomyxa  in  Stücke,  eins  in  zwei  ziemlich  gleicbgrosse  Hälften, 
ein  zweites  in  drei  und  ein  drittes  Individuum  in  fünf  ziemlich  ungleich 
grosse  Stücke.  Jedes  dieser  Theilstücke  zog  sich  alsbald  zu  einem  un- 
regelmässig rundlichen  Sarcodeklumpen  zusammen,  der  zuerst  eine 
Zeitlang  bewegungslos  dalag.  Bald  aber  begann  derselbe  sich  wie- 
derum zu  einer  flachen  Scheibe  auszudehnen  und  hier  und  da  an  der 

* 

Peripherie  kleine  stumpfe  Fortsätze  auszustredien.  Langsam  wurden 
diese  länger  und  länger,  fingen  an  sich  dichotomiseh  zu  verästeln  und 
mit  ihren  Zweigen  Anastomosen  zu  bilden ,  und  bald  war  das  ganze 
lebendige  Plasmanetz  wieder  so  hergestellt,  als  ob  Nichts  vorgefallen 
wäre.  Jedes  der  künstlich  erzeugten  Theilstücke  bewegte  sich  so  selbst- 
ständig und  lebendig,  wie  die  ungetheilte  Protomyxa.  Die  künst- 
liche Theilbarkeit  der  Protomyxa  ist  durch  diese  Versuche  fesl- 

6» 


84  Ernst  mUM^ 

gestellt.  Diese  an  sich  merkwürdige  Erscheinung ,  welche  sowohl   ftlr 
die  Individualitötslehre  (Tectologie)  überhaupt,  als  besonders 
für  die  Naturgeschichte  der  Protisten  von  hohem  Interesse  ist,  verliert 
neuerdings  viel  von  ihrem  Wunderbaren ,  da  sich  die  Yermehrbarkeii 
durch  künstliche  Theilung  immer  allgemeiner  als  eine  sehr  verbreitete 
Eigenschaft  der  niedrigen  Organismen,  namentlich  der  Protisten ,   aber 
selbst  vieler  höher  organisirten  und  stärker  differenzirten  Thiere  und 
Pflanzen  herausstellt.    Ich  will  bei  dieser  Gelegenheit  bemerken ,   dass 
ich  während  meiner  Anwesenheit  auf  Lanzarote  zahlreiche  Versuche 
über  die  künstliche  Theilbarkeit  der  Hydromedusen  angestellt  habe, 
welche  vom  überraschendsten  Erfolge  begleitet  waren.    Bei  der  Hydra 
des  süssen  Wassers  ist  die  ausserordentliche  Theilbarkeit  und  Repro- 
ductionsfähigkeit  seit  Tremblet's  Zeiten  allbekannt,  und  auch  bei  den  Hy- 
droiden  des  Meeres  durch  Dalybll's  Versuche  festgestellt.  Dagegen  war 
die  künstliche  Theilbarkeit  der  Medusen  selbst    (Schirmquallen   oder 
Discophoren)  bisher  noch  nicht  bekannt.  Meine  Versuche  ergaben,  dass 
dieselbe  bei  manchen  Medusen,  namentlich  aus  der  Familie  der  T  hau - 
mantiaden  von  Gbgbnbacr  (Laodiceiden  von   Agassiz)  einen  er- 
staunlichen Grad  erreicht.    Bei  mehreren  Arten  dieser  Familie  konnte 
ich  den  Medusenschirm  in  mehr  als  hundert  Stücke  ze^theilen,  und  aus 
jedem  Stück,  sobald  es  nur  einen  Theil  des  Schirmrandes  enthielt, 
erwuchs  in  wenigen  (8 — i)  Tagen  eine   vollständige   kleine  Meduse. 
Selbst  ein  einziger  losgelöster  Randtentakel,  an  welchem  die  Basis,  das 
ansitzende  Stück  des  Schirmrandes  erhalten  war,  bildete  in  wenigen 
Tagen  eine  Meduse.    Noch  ü|)erraschender  war  mir  das  Resultat,  das 
ich  bei  anderen  Hydromedusen  erhielt.    Hier  konnte  ich  den  kugeligen 
nicht  differenzirten  Zellenhaufen  (oder  die  wimpernde  kugelige  Larve) 
welcher  aus  der  Eifurchung  hervorgegangen  war ,  in  mehrere  Stücke 
zerschneiden,  und  aus  jedem  Stück  entwickelte  sich  eine  selbstständige 
Larve.    Da  ich  diese  Theilungsversuche  an  einem  anderen  Orte  aus- 
führlicher mittheilen  werde,  seien  sie  hier  nur  beiläufig  erwähnt. 

Sobald  ich  die  selbstständige  Natur  der  auf  den  Spirula-Schalen 
befindlichen  orangerothen  sternförmigen  Flecke  als  rhizopodenartiger 
Protisten  erkannt  hatte,  musste  sich  natürlich  die  Vermuthung  aufdrän- 
gen, dass  die  benachbarten,  vorher  beschriebenen  rothen  Kugeln  Ruhe- 
zustände oder  encystirte  Individuen  derselben  Art  seien,  und  dass  die- 
jenigen Kugeln ,  bei  denen  der  zusammengezogene  orangerothe  Inhalt 
in  zahlreiche  kleine  Kugeln  zerfallen  war ,  auf  monogene  Fortpflanzung 
zu  beziehen  seien. 

Die  rothen  Kugeln,  welche  ich  sorgfältig  von  den  Spirula-Sohalen 
abgelöst  und  in  flachen  Uhrschäichen  mit  Seewasser  in  eine  grosse 


r 
t 


Monogfiphie  der  Moneren«  85 

feuchte  Kammer  gebracht  hatte,  Hessen  zum  Theil  schon  nach  einigen 
(4 — 6)  Tagen  die  individuelle  EntwickelungsgeschichtederProtomyxa 
weiter  verfolgen.  In  sämmtlichen  Kugeln  zerfiel  der  orangerothe  Plas- 
mainhalt y  nachdem  er  sich  von  der.  hyalinen  Rapselwand  zurückge- 
zogen hatte,  in  eine  grosse  Anzahl  (einige  hundert)  kleine,  runde,  durch- 
aus structurlose  und  nackte  Kugeln.  Dieser  Zerfall  beruhte  nicht  auf 
einer  wiederholten  Zweitheilung  des  encystirten  Plasmakörpers,  son- 
dern darauf,  dass  gleichzeitig  eine  grosse  Anzahl  von  individuellen 
Attractionscentren  in  der  homogenen  Plasmamasse  sich  differenzirten, 
und  dass  gleiche  Plasmaportionen  rings  um  diese  Mittelpuncte  sich 
anhäuften.  Der  Process  würe  demnach  wohl  richtiger  als  Keimplastiden- 
bildung  (Monosporogonia),  denn  als  Spaltung  (Theilung  oder  Knospen- 
bildung) aufzufassen.  1) 

Die  kleinen  rothen  Kugeln  (von  0,017  Mm.  Durchmesser)  verharr- 
ten nun  noch  mehrere  Tage  ruhig  in  der  dickwandigen  Cyste,  deren 
ganzen  Binnenraum  sie  ausfüllten,  ohne  dass  eine  weitere  Veränderung 
an  ihnen  zu  bemerken  war.  Als  ich  sie  nach  Verlauf  von  ungefähr  einer 
Woche  wieder  unter  das  Mikroskop  brachte,  bemerke  ich  bei  einigen 
eine  langsame  Bewegung  der  Kugeln  innerhalb  der  Cyste.  Die  Bewe- 
gung bestand  in  keiner  regelmässigen  Rotation  derselben ,  sondern  in 
einer  langsamen  Ortsveränderung  der  Kugeln,  bei  der  sie  sich  ohne  be- 
stimmte Regel  in  allen  Richtungen  durch  einander  drängten. 

Einige  Stunden  später  war  die  Bewegung  lebhafter  geworden  und 
die  rothen  Kugeln  hatten  eine  birnförmige  Gestalt  angenommen,  indem 
das  eine  Ende  derselben  in  eine  feine  Spitze  ausgezogen  war.  Beim 
Durcheinanderwinden  innerhalb  der  Cyste  änderten  sie  mehrfach  die 
Gestalt  ihres  weichen  birnförmigen  Leibes,  indem  sie  bald  länger,  bald 
kurzer  keulenförmig  ausgezogen  wurden,  und  zuweilen  dabei  sich 
krümmten. 

Am  folgenden  Tage  fand  ich  eine  der  Cysten  zerplatzt;  die  leere 
coUabirte  Wand  lag  gefaltet  auf  dem  Boden  des  Uhrgläschens  und  eine 
grosse  Menge  von  keulen-  oder  birnförmigen  rothen  KOrperchen  be- 
wegte sich  frei  in  dem  Seewasser  umher.  Es  zeigte  sich  nun,  dass 
die  rothen  Kugeln  die  Schwärmsporen  der  Protoroyxa  waren,  und 
dass  dieselben  nach  dem  Austritt  aus  der  Cyste  sich  nach  Art  von  Fla- 
gellaten  oder  von  Algen-Schwärmsporen  frei  umher  tummelten.  Ich 
sprengte  nun  durch  leichten  Druck  des  Deckgläschens  eine  andere  Cyste, 
bei  welcher  bereits  die  Bewegung  der  Keimpiastiden  im  Innern  zu  sehen 
war ,  und  sah  alsbald  die  rothen  birnförmigen  Körperchen  in  dichtem 


\)  Vergl.  Generelle  Morphologie,  Vol.  II,  p.  70. 


86  Kn^st  ByM^ 

Geipvimmel  aus  der  geborstenen  Membran  austreten  (Fig.  4).  Unmiitd— 
bar  nach  dem  Austritt  wurde  die  Form  derselben  schlanker,  indem  sich 
das  vordere  Ende  in  eine  längere  Geissei  auszog ,  und  die  Bewegung 
wurde  bedeutend  beschleunigt  (Fig.  5). 

Die  Gestalt  der  freien  Schwärrosporen  (Fig.  5)  oder  der 
geisseltragenden  Reimpiastiden   (genauer  Keimcytoden)  war   schlank 
bimförmig,  von  der  abgerundeten  Basis  bis  zu  der  haarfein  ausgezoge- 
nen Spitze  ungefähr  0,06  Mm.  lang,  an  der  breitesten  Stelle  (kurz  vor 
dem  hinteren  abgerundeten  Ende)  0,042  Mm.  breit.    Der  hintere  Theil 
des  Sporenkörpers  war  bald  mehr  kugelig,  bald  mehr  eiförmig  abge- 
rundet und  spitzte  sich  nach  vorn  sehr  allmählich  in  einen  kegelför- 
migen schlanken  Hals  zu,  der  sich  dann  dünner  werdend  in  eine  haar- 
feine Geissei  auszog.    Die   Bewegung  dieser  Geissei  (Flagellum)  war 
mehr  pendelnd  oder  einen  Kegelmantel  beschreibend,  als  schlängelnd. 
Pie  Geissei  schleppte  durch  diese  ununterbrochenen  sehr  lebhaften 
Bewegungen  den  ganzen  Sporenkörper  mit  sich  fort.    Dieser  war  in 
seiner  ganzen  Masse  durchaus  einfach  und  homogen,  ohne  Spur  von  Rem 
(Nucleus)  oder  contractiler  Yacuole ,  ebenso  ohne  Spur  von  Membran, 
und  lediglich  aus  der  rothgelblichen  Grundsubstanz  des  Plasma  beste- 
hend, in  welche  sehr  feine  rothe  Körnchen  eingebettet  waren.    Durch 
Zusatz  von  lodlösung  wurden  die  Schwärmsporen  augenblicklich  zum 
Stillstand  gebracht  und  tief  gelbbraun  getürbt.  Man  sah  nun  ganz  deut- 
lich, dass  der  ganze  Sporenkörper  durchaus  structurlos  war,  und  dem- 
nach den  morphologischen  Werth  des  denkbar  einfachsten  organischen 
Individuums,  der  nackten  Cytode  oderGymnocytode  besass.  Ausser 
den  äusserst  feinen  rothen  Rörnchen  waren  durchaus  keine  differenien 
Beslandtheile  in  der  homogenen  Piasmamasso  wahrzunehmen.     Die 
Geissei  war  weiter  Nichts,  als  ein  haarförmig  ausgezogener  Fortsatz  des 
Plasma  oder  der  Sarcode  selbst. 

Verfolgt  man  die  Bewegungen  der  Schwärmsporen  (oder 
der  schwärmenden  Gymnocytoden)  von  Protomyxa  genauer,  so. findet 
man  sie  äusserst  ähnlich  denjenigen  der  Schwärmsporen  der  Myxomy- 
ceten.  Die  Beschreibung  De  Baby^s  passt  so  gut  auf  diese,  wie  auf  jene. 

w 

»Die  Bewegungen  der  Schwärmer  bestehen  zunächst  in  einer  mit  Vor- 
schreiten nach  der  Richtung  des  Vorderendes  verbundenen  Rotation  des 
ganzen  Rörpers  um  seine  Längsaxe ,  wobei  derselbe ,  wenn  er  gerade 
ausgestreckt  ist,  sich  in  dem  Mantel  eines  Regeis  dreht,  dessen  Basis 
von  dem  Vorderende  umschrieben ,  dessen  Spitze  vom  Hinterende  ge- 
bildet wird.  Jenes  beschreibt  also  den  grössten ,  jeder  andere  Punct 
der  Körperoberfläche  einen  um  so  kleineren  Kreis,  je  näher  er  dem  Hin- 
terende liegt.    Dabei  wird  dir  Cilie  beständig  wie  eine  Peitschenschnur 


Monograpkie  4er  MonereD.  87 

undulirend  nach  zwei  Seilen  geschwungen,  was  der  Drehung  des  Kör- 
pers ein  ruckweises  Hin-  und  Herwackeln  oder  Schaukeln  hinzufügt. 
Oft  fehlt  die  Rotation,  letztere  Form  der  Bewegung  ist  allein  vorhanden, 
oder  es  wechseln  beide  Arten  mit  einander  ab.  Gleichzeitig  mit  diesen 
Drehungen  und  Ortsveränderungen  zeigt  der  Körper  beständige  Aende- 
rungen  seines  Umrisses :  wurmft^rmige  Krümmungen  abwechselnd  nadi 
verschiedenen  Seiten  hin,  Zusammenziehung  zu  mehr  kugliger  Gestalt 
und  WiederausstredLung,  peristaltische  Contractionen,  endlich  Austrei- 
ben kurzer  spitzer  Fortsätze ,  welche  amoebenartig  in  stetem  Wechsel 
wieder  eingezogen  und  durch  neue  ersetzt  werden,  und  welche  beson- 
ders zahlreich  um  das  abgerundete  Hinterende  zu  entstehen  pflegen.« 

Wie  in  den  Bewegungen,  so  gleichen  die  Schwärmer  der  Proto- 
ni y  xa  denjenigen  der  Myxomyceten  auch  in  der  Gestalt,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  dass  den  ersteren,  so  lange  sie  schwärmen,  jede  Vacu- 
olenbildung  fehlt.  Auch  die  nächsten  Schicksale  der  beiderlei  Schwär- 
mer sind  ganz  ähnlich.  Beide  kommen  nach  einiger  Zeit  zur  Ruhe, 
gehen  in  amoebenartige  Zustände  über  und  bilden  dann  (wenigstens 
theilweise)  durch  Verschmelzung  Plasmodien. 

Die  Schwärmzeit  der  Protom yxa -Sporen   scheint  mindestens 
einen  Tag  zu  dauern.    Wenigstens  sah  ich  dieselben  niemals  an  dem- 
selben Tage,  an  welchem  sie  aus  der  Cyste  geschlüpft  waren,  zur  Ruhe 
kommen.    Am  folgenden  Tage  fand  ich  sie  meistens  ruhig  auf  dem  Bo- 
den des  Uhrschälchens  liegen :  die  Geissei  der  Schwärmer  war  einge- 
zogen und  die  bimförmige  Körpergestalt  in  diejenige  einer  unregel- 
iBässig  rundlicheu  Scheibe  übergegangen ,  deren  Umfang  sternförmig 
in  mehrere  Fortsätze  ausgezogen  war.    Die  rothgelben  Plasmakörper 
glichen  nun  im  Umriss  vollständig  den  zur  Ruhe  gekommenen  Myxomy- 
ceten-Schwärmern  oder  auch  der  Am oeba  radiosa  von  EHunBsaa, 
Nur  hatten  die  ringsum  ausgestreckten  Fortsätze  (5—20  gewöhnlich  an 
Zahl)  bald  mehr  eine  schlank  kegelförmige ,  bald  mehr  eine  kolbenför- 
mige Gestalt  (Fig.  6) .    Die  meisten  Fortsätze  waren  einfach,  die  grös- 
seren fingen  jedoch  schon  in  dieser  Zeit  an  der  Spitze  an  sich  gabel- 
förmig zu  theilen  oder  selbst  mehrfach  zu  verästeln*    Das  Ausstrecken 
und  Einziehen  der  formwechselnden  Fortsätze  gesdiah  durchaus  in  der- 
selben Weise,  wie  bei  den  lebhafter  beweglichen  Amoebenarten. 

Schon  kurze  Zeit  nachdem  die  Schwärmsporen  der  Protomyxa 
zur  Ruhe  gekommen  und  in  den  Amoebenzustand  übergegangen  sind, 
beginnen  dieselben  Nahrung  aufzunehmen.  Hit  einem  Wassertropfen 
brachte  ich  eine  Anzahl  von  kleinen  Diatomeen  in  das  Uhrschälchen  und 
alsbald  begannen  diejenigen  Amoeben ,  welche  mit  den  Diatomeen  in 
Berührung  kamen,  ihre  Fortsätze  an  dieselben  anzulegen  und  sie  in  der 


gg  £rtt8t  Htekel, 

bekannten  Weise  zu  umfliessen.  Bald  waren  die  Naviculen  ganz  von 
einzelnen  Ämoeben  umflessen,  deren  ganzer  Körper  gleichsam  nur  einen 
dttnnen  SchleimUberzug  über  den  ersteren  darstellte  (Fig.  8,9).  Der 
gelbbraune  Plasmainhalt  der  kieselschaiigen  Diatomeen  wurde  von  den 
Amoeben  assimilirt  und  dann  zogen  sie  sich  wieder  von  den  entleerten 
Kieseihttllen  zurück,  und  begannen  vom  Neuem  die  charakteristischeD 
Amoeben bewegungen,  das  beständige  Ausstrecken  und  Einztehen  der 
formwechselnden  fingerartigen  Fortsätze.  Das  Volum  der  kleinen  Amoe- 
ben wuchs  durch  die  Verdauung  einer  Navicula  wohl  um  das  Zwei-  bis 
Dreifache,  und  nun  begannen  auch  die  Fortsätze  sich  länger  auszuzie- 
hen, reichlicher  zu  verästeln,  und  selbst  hier  und  da  bereits  eine  Ana- 
stomose zu  bilden. 

£rst  nach  erfolgter  Nahrungsaufnahme  begannen  in  den  Amoeben 
Vacuolen  aufzutreten,  welche  sowohl  in  den  ruhenden  als  in  den 
schwärmenden  Sporen  vollständig  vermisst  wurden.  Gewöhnlich  trat ' 
zuerst  eine  einzige,  seltener  gleichzeitig  2 — 3  kleine  Vacuolen  als  helle, 
langsam  pulsirende  kreisrunde  Flecke  in  dem  röthlich  gelben  Amoeben- 
körper  auf.  Aber  schon  jetzt  Hess  sich  durch  andauernde  Beobachtung 
feststellen,  dass  die  Vacuolen  keine  constanten  contractilen  Blasen,  son- 
dern Ansammlungen  von  Flüssigkeit  innerhalb  des  contractilen  homo- 
genen Plasmaparenchyms  waren.  Bald  entstanden  sie  an  dieser,  bald 
an  jener  Stelle,  ohne  nach  ihrem  Verschwinden  wiederzukehren. 

Mehrfach  konnte  ich  bei  den  Schwärmern  der  Protomyxa  unter 
meinen  Augen  die  B i  1  d u n g  von  Plasmodien  durch  Verwach- 
sung (Concrescenz)  von  zwei  oder  mehreren  Amoeben 
unmittelbar  verfolgen.  Bisweilen  geschah  es,  dass  zwei  Amoeben, 
welche  eine  Navicula  an  entgegengesetzten  Enden  eriasst  hatten  und  sich 
über  dieselbe  herüberzogen ,  bei  der  Begegnung  in  der  Mitte  in  eine 
einzige  zusammenflössen  (Fig.  8,9).  Nach  erfolgter  Verdauung  zog 
sich  die  vereinigte  Plasmamasse  als  ein  einziges  amoebenartiges  Indi- 
viduum von  der  entleerten  Kieselschale  zurück.  Aber  aud)  an  freien 
Amoeben,  welche  sich  auf  dem  Glase  begegneten  und  mit  ihren  aus- 
gestreckten Pseudopodien  berührten ,  konnte  der  Verschmelzungspro- 
cess  unmittelbar  wahrgenommen  werden.  Da,  wo  die  Amoeben  in 
dichten  Gruppen  auf  dem  Boden  des  Gläschens  neben  und  durch  ein- 
ander krochen,  sah  ich  oft  drei  bis  vier  derselben  gleichzeitig  mit  ein- 
ander verschmelzen  (Fig.  7).  So  entstanden  grossere  Plasmodien,  die 
durch  die  grössere  Anzahl  der  Vacuolen  und  durch  die  reichlichere  Ver- 
ästelung und  Anastomosenbildung  der  ausgestreckten  Fortsätze  bereits 
den  Uebergang  zu  den  oben  beschriebenen'  erwachsenen  Protomyxen 
bildeten  (Fig.  10). 


/^^ 


MoDOgn^e  der  MooereB  89 

Ob  die  Plasmodieabildung ,  d.  h.  die  Entstehung  grösserer  Sar- 
codeköqter  durch  Goncrescenz  mehrerer  Amoeben ,  für  die  Entwicte^ 
long  der  erwachsenen  Protomyxa  ein  nothwendiger  und  unent- 
behrlicher oder  ein    mehr  zufälliger  und   gleichgültiger  Process  ist, 
vermag  ich  nicht  su  entscheiden.  Doch  ist  mir  das  letztere  wahrschein- 
licher,  ich  isolirte  mehrere  einfache  Amoeben  einzeln  auf  kleinen  Glas* 
chen  und  führte  ihnen  reichlich  Diatomeen -Nahrung  zu.     Innerhalb 
n^enigerTage  nahmen  dieselben  an  Grösse  beträchtlich  zu  und  erreich- 
ten das  Vier-  bis  Sechsfache  des  ursprünglichen  Volumens.    Die  Pseu- 
dopodien wurden  länger  und  bildeten  zahlreichere  Aeste  und  Anasto- 
mosen.   Es  ist  kein  Grund   für  die  Annahme  vorhanden ,   dass  nicht 
einfach  durch  solches  fortgesetztes  Wachsthum  jede  einzelne  aus  einer 
Schwärmspore   hervorgegangene  Amoebe  die   volle  Grösse  der  reifen 
Protomyxa  erreichen,  und  sich  dann  eben  so  gut  und  in  gleicher 
Weise  durch   Sporogonie  fortpflanzen   könne,    wie  die   Plasmodien. 
Diese  letzteren,  alsCompiexe  mehrerer  verschmolzener  Amoeben,  wer-» 
den  nur  den  Vorzug  haben ,  rascher  zu  wachsen  und  den  Ruhezustand 
eher  zu  erreichen,  als  die  einzelnen  Amoeben. 

Um  die  Naturgeschichte  der  Protomyxa  vollständig  herzustellen, 
war  es  nur  noch  erforderlich,  die  Encystirung  der  reifen  Form  zu  be- 
obachten, den  Uebergang  der  frei  beweglichen  Plasmodien  in  den 
Ruhezustand  der  rothen  Kugeln ,  welche  neben  den  letzteren  sich  auf 
den  Spirula- Schalen  angeheftet  hatten.  Auch  diesen  Uebergang  ge- 
lang mir  festzustellen. 

Zwei  der  gr^ssten  von  den  reichlich  gefütterten  Plasmodien,  welche 
sehr  zahlreiche  Vacuolen  enthielten  und  ein  sehr  ausgedehntes  Sarcode-* 
netz  mit  vielen  Aesten  und  Anastomosen  gebildc;).  hatten,  begannen 
nach  einiger  Zeit  ihre  auffallend  raschen  Strömungsbewegungen  zu 
verlangsamen  und  ihr  Stromnetz  zu  vereinfachen.  Die  Kieselschaien 
der  reichlich  aufgenommenen  Diatomeen  wurden  ausgestossen,  und  die 
Aeste  und  Zweige  der  Pseudopodien  einer  nach  dem  andern  eingezogen. 
Endlich  zogen  sich  auch  die  immer  einfacher  gewordenen  Hauptstämme 
in  den  centralen  Plasmakörper  zurück ,  und  der  gesammte  homogene 
Sarcodeleib  nahm  die  Form  eines  unregelmässigen  Klumpens  an ,  der 
sich  schliesslich  in  eine  reguläre  Kugel  abrundete. 

Nun  begann  die  Ausscheidung  der  Cysten  hülle,  indem 
zunächst  der  haarscharfe  einfache  Kreiscontour  der  orangerotben  Plasma- 
kugel in  einen  zwar  feinen,  aber  deutlichen  Doppel-Contour  überging. 
Diesem  folgte  bald  eine  zweite ,  dann  eine  dritte  concentrische  Kreis- 
linie, und  :>o  entstand  ziemlich  rasch  (im  Verlaufe  eines  Tages)  die 
conoentrisch  geschichtete   hyaline  GystenhüUe,   deren  Schichtstreifen 


90  Erns^  HMel, 

dem  (Modischen  Absatz  der  ausgeschiedenen  Gallerthäute  entsprachen. 
Anfänglich  waren  in  dem  Plasma  während  des  Encystirungsprocesses 
noch  eine  Menge  von  Vacuolen  sichtbar,  die  bald  hier,  bald  dort  auf- 
tauchten und  wieder  verschwanden;  jedoch  nahm  ihre  Anzahl  su— 
sehends  ab ,  und  nach  vollendeter  Bildung  der  GystenhoUe  war  keine 
Vacuole  in  dem  orangerothen ,  von  zahlreichen  Körnchen  durchsetzten 
Plasma  mehr  wahrzunehmen.  Die  encystirte  Plasmakugel  war  nun 
nicht  mehr  von  denjenigen  rothen  Kugeln  zu  unterscheiden,  deren 
Uebergang  in  die  Schwärmsporenmasse  ich  oben  beschrieben  habe. 

Somit  war  denn  der  Generationscyclus der  Protomyxa  erschöpft 
und  der  Kreislauf  ihrer  einfachen  und  merkwürdigen  Lebenserschei- 
nungen festgestellt.  Protomyxa  aurantiaca  ist  ein  Moner,  welches 
gleich  den  Vampyrellen  und  Protomonaden  in  zwei  verschiedenen  Zu- 
ständen während  seines  individuellen  Lebenslaufes  erscheint.    Im  frei 
beweglichen  Zustande  tritt  die  P r o to m y x a  als  ein  nacktes  Gymno- 
moner  auf,  von  dem  morphologischen  Werth  einer  denkbar  einfach- 
sten Plastide  (Cytode) ,  welches  nach  einander  drei  verschiedene  Form- 
zustände annimmt:  I,  den schM^ärmenden Flagellaten-Zustand,  eine 
frei  schwimmende,  nackte,  mit  einer  Geissei  versehene,  birnförmige 
Schwärmspore    (Fig.  5),  II,  den  kriechenden  Amoeben-Zustand, 
eine  Amoebe  einfachster  Art  (Protamoeba) ,  ohne  Kern  und  ohne 
contractile  Blase,  ohne  Verästelung  und  Netzbildung  der  Pseudopodien, 
und  ohne  Yacuolenbildung  (Fig.  6),  III,  den  netzförmigen  Rhizopo- 
den-Zustand,  *ein  colossales  nacktes  Plasmodium  mit  Verästelung 
und  Netzbildung  der  Pseudopodien  und  mit  Vacudlenbildung    (Fig. 
fO — 12).  Im  unbeweglichen  Ruhezustande  dagegen  erscheint  die  Pro- 
tomyxa als  ein  beschältes  Lepomoner,  als  eine  von  einer  aus- 
geschiedenen Membran   umgebene  Lepoc^lodej  bestehend  aus  einem 
▼dllig  homogenen  kugeligen  Plasmakörper  und  einer  von  demselben 
ausgeschiedenen   structurlosen  Httllmembran   (Fig.   1j.     Der  Plasma- 
körper zerfällt  durch  Monosporogonie  in  zahlreiche  kleine  Kugeln  (Fig. 
2,  3) ,  welche  nach  ihrem  Austritt  aus  der  geborstenen  Cystenmem- 
bran  (Fig.  4)  als  Flagellaten  umherscbwärmen  (Fig.   5).     Hiermit  ist 
der  einfache  Generationscyclus  der  Protomyxa   aurantiaca  voll- 
endet. *) 

4)  Meiner  Protoiny]La  möglicher  weise  sehr  nahe  verwandt  sind  die  weissen 
eiähnlichen  Kugeln,  welche  Ecker  in  abgestorbenen  Eiern  von  Lymnaeus 
stagnalis  auffand.  (Zeitschr.  für  wiss.  Zool.  4851,  Vol.  lU ,  p.  412,  Taf  XHI, 
Fig.  4  -  4).  Die  kugeligen  Cysten,  aus  denen  Schwärmer  mit  2  Geissein  (»Cerco- 
monaden«)  hervorkamen,  erinnern  nach  Ecnii's  Darstellung  auffallend  an  dieCy- 
statt  der  Protomyxa.  Leider  wurde  die  weitere  Entwtckehing  ntcbt  beobachtet. 


MoDogn|»bie  der  Monereih  91 

II.     2.  Myxastrum  radians. 
(Hiarza  Taf.  lii,  Fig.  4  3-34  ) 

An  dem  Quai  vod  Puerto  del  Arrecife,  der  Hafenstadt  der  canari- 
sehen   Insel  Lanzarote ,    wachsen  auf  den  flachen  Stellen  des  Hafen- 
beckens,   welche  bei  tiefer  Ebbe  vom  Wasser  entblösst  werden,    in 
grosser   Menge   verschiedene  Actinien,   namentlich   eine  braungrüne 
Aneoionia,  ferner  dichte  Bttsche  von  Codium  tomentosum  und 
andere  Algen.    Der  feine  braune  Schlamm ,  welcher  den  steinigen  Bo- 
den dieser  flachen  Stellen  bedeckt,  enthalt  unter  Anderem  zahlreiche 
Diatomeen  und  Polythalamien.    Um  letztere  zu  studiren  und  womöglich 
Etwas  über  ihre  Fortpflanzung  zu  ermitteln ,  sammelte  ich  ein  wenig 
von  diesem  Schlamm  und  liess  denselben  in  flachen  bedeckten  Glas- 
schälchen  einige  Zeit  stehen. 

Als  ich  nach  mehreren  Tagen  in  einem  dieser  Gläschen ,  das  ich 
gegeo  das  Licht  hielt,  den  Schlamm  mit  einem  Glasstäbchen  umrührte, 
gewahrte  ich  inmitten  der  aufgerührten  und  im  Wasser  umherwirbeln- 
den   dunklen  Partikelchen  (Diatomeen,  Steinfragmente  etc.)  einzelne 
kleine,   mit  blossem  Auge  eben  sichtbare  durchscheinende  hellgraue 
Pttnctchen,   welche  mich  lebhaft  an  das  unter  gleichen  Verhältnissen 
wahrnehmbare  Actinosphaerium  Eichhornii  Stein  (Actinophrys 
Eichhomii  Ehrbiibbeg)  unserer  süssen  Gewässer  erinnerte.   Unter  das 
Mikroskop  gebracht,  ergab  sich  sogleich,  dass  diese  Körper  allerdings 
nicht  dem  bezeichneten  Bhizopoden,   wohl  aber  einem  diesen  sehr 
ähnlichen  Organismus  einfachster  Art  angehörten. 

Unter  starker  Vergrösserung  (Fig.  24)  stellten  sich  diese  Körper- 
chen als  kugelige  Schleimkiümpchen  dar,  deren  centraler  Plasma- 
körper an  der  ganzen  Peripherie  eine  sehr  grosse  Menge  von  feinen 
radialen  Schleimfäden  (Pseudopodien)  ausstrahlte.  Diese  peripherische 
Fadenzone  war  ungefähr  ebenso  breit  oder  nur  wenig  breiter ,  hoch- 
stens  doppelt  so  breit,  als  der  Durchmesser  der  centralen  Sarcode- 
maese,  von  welcher  dieselben  ausstrahlten.  Dieser  betrug  ungefähr 
0,4  Mm.,  so  dass  der  gesammte  Körperdurchmessc«*  der  grössten  Indi- 
viduen 0,3  Hm. ,  im  längsten  Ausdehnungszustande  der  Strahlen  aber 
0,5  Mm.  erreichte.  Die  Fäden,  welche  mit  ziemlich  breiter  conischer 
Basis  sich  von  der  Oberfläche  der  Schleimkugel  erhoben,  verschmälerten 
sich  sehr  rasch  und  liefen  in  eine  haarfeine  Spitze  aus.  Verästelungen 
der  Fäden  waren  sehr  spärlich,  nur  hie  und  da  als  einfache,  selten 
wiederholte  r.abeltheilungen  wahrzunehmen,  welche  unter  sehr  spitzem 
Winkel  theils  von  der  Basis,  theils  mehr  von  dem  äusseren  Tfaeile  der 


f 


92  Ernst  Hiek«I, 

Faden  abgingen.  Anaslomosen  waren  ebenfalls  sehr  spärlich  vorhanden, 
mit  Ausnahme  derjenigen  Stellen,  an  denen  gerade  Nahrung  aufgenom- 
men wurde  (Fig.  23) . 

Die   gesammte   Körpermasse    dieses    zierlichen ,    strahl enreichen 
Schleimsterns  war  durchaus  structurlos  und  homogen.    Die  gleichartige 
Sarcodemasse  der  centralen  Kugel  ging  ununterbrochen  auf  die  aus- 
strahlenden Fäden  ihrer  Peripherie  über.     Die  einzigen  Körperchen, 
welche  in  der  structurlosen ,  blassgelblichen  oder  fast  farblosen  Grund- 
substanz sich  wahrnehmen  Hessen,   waren  zahlreiche  und    äusserst 
kleine  darin  zerstreute  hellglänzende  Körnchen  und  eine  geringe  An- 
zahl von  grösseren,  ebenfalls  stark  lichtbrechenden  Körnern.    Verfolgte 
man  anhaltend  diese  im  Plasma  des  Schleimsterns  suspendirten  Kör- 
perchen, so  konnte  man  eine  sehr  langsame  und  träge  Orts  Veränderung       j 
an  denselben  bemerken,  offenbar  der  Ausdruck  einer  langsamen  Strö- 
mung der  Sarcode,  welche  auf  eine  sehr  bedeutende  Gonsistenz  der 
Masse  schliessen  Hess.    Diese  letztere  ergab  sich  in  der  That  beim  Auf- 
legen eines  Deckgläschens ,   durch  welches   der  kugelige  Körper   bei 
massigem  Drucke  nur  wenig  abgeplattet  wurde.     Die  zunächst  be- 
troffenen FadenbUschel  brachen   dabei  ab,  und  ihre  abgebrochenen 
Spitzen,  theilweise  mehrmals  geknickt,  schwammen  im  Wasser  umher. 
Bei  längerer  Dauer  des  Druckes  löste  sich  noch  eine  grössere  Anzahl 
von   ausgestreckten  Pseudopodien  ab;   andere  wurden   sehjr  langsam 
eingezogen.    Bei  verstärktem  Druck  gestaltete  sich  der  ganze  Körper  zu 
einer  unförmlichen  Masse,  welche  sich  jedoch  nicht  flach  auf  dem  Ob- 
jectträger  ausbreitete,  sondern  in   viele  unregelmässige  Stücke  zer- 
brach.   Offenbar  zeigte  sich  in  allen  diesen  Erscheinungen  eine  un- 
gewöhnliche Gonsistenz   und  Zähigkeit  des  dickflüssigen  Plasma,  in 
ähnlicher  Weise,    wie   sie   auch  verschiedene   Acanthometriden    und 
unser  Actinösphaerium  Eichhornii  gegenüber  den  meisten  an- 
deren Rhizopoden  zeigen. 

Wie  in  der  gesammten  Körperform  und  Grösse,  in  der  Gonsistenz 
der  zähen  und  starren  Plasmafäden ,  ihrer  geringen  Neigung  zur  Ver- 
ästelung und  Anastomosenbildung,  ihrer  trägen  Kömchonströmung,*so 
glich  unser  Moner  dem  bekannten  Actinösphaerium  Eichhornii         ( 
auch  in  der  Nahrungsaufnahme.  Diese  war  leicht  zu  beobachten, 
sobald  man  die  kleinen  Körperchen  verfolgte,  welche  im  Wasser  um 
unsere  Schleimkugel  herumschwammen ,  und  in  deren  Strablenbezirk 
geriethen.    Es  waren  dies  vorzüglich  Diatomeen,  Peridinien,  Nauplius- 
Fonnen  verschiedener  Grustaceen  und  verschiedene  Infusorien.  (Fig.  23) . 

Sobald  eines  diesersch wärmenden  Körperchen  zwischendie  Strahlen 
des  Moneres  hinein  gerieth,  blieb  es  an  denselben  haften,  wie  es  schien 


Monograj^hie  der  Moneren.  93 

in  Folge  der  klebrigen  Beschaffenheit  ihrer  Oberfläche.  Bei  dem  Ver- 
suche, sich  los  zu  machen ,  reizte  es  durch  seine  unruhigen  Stösse  die 
benachbarten  Pseudopodien ,  und  nun  legten  sich  diese  langsam  von 
allen  Seiten  Über  die  gefangene  Beute  herüber,  ganz  ähnlich,  wie  es 
bei  Actinosphaerium  bekannt  ist.  In  der  Regel  waren  einzelne 
Fäden  hierbei  zu  beobachten,  welche  bei  längerer  fester  Berührung  eine 
wahre  Anastomose  bildeten.  Doch  schienen  dieselben  nicht  immer  über 
der  Beute  zusammenzufliessen  und  sie  mit  einer  continuirlichen  Sar- 
codehülle zu  umgeben ,  wie  es  bei  den  meisten  echten  Rhizopoden  der 
Fall  ist.  Vielmehr  schienen  die  starren  Pseudopodien,  weiche  sich  dichter 
und  dichter  um  die  gefangene  Beute  zusammendrängten,  diese  oft  nur 
der  Oberfläche  der  centralen  Plasmakugel  zuzuschieben  und  endlich 
in  die  zähflüssige  Schleimmasse  derselben  hineinzudrücken.  (Fig.  ^3). 
An  der  Oberfläche  bildete  sich  eine  flache  Grube  zur  Aufnahme  des 
fremden  Körpers,  welche  tiefer  und  tiefer  wurde  und  endlich  sich 
wieder  über  demselben  schloss.  Bisweilen  wurde  dabei  zugleich  eine 
geringe  Quantität  Seewasser  mit  verschluckt ,  so  dass  der  Bissen  in 
einer  Vacuole  von  kreisrundem  Umriss  zu  liegen  schien.  Langsam  wurde 
nun  allmählich  die  verschluckte  Beute,  deren  Bewegungen  gewöhnlich 
schon  vor  der  Aufnahme  in  den  centralen  Körper  aufgehört  hatten ,  in 
das  Innerste  des  letzteren  hineingedrängt  und  hier  verdaut.  Die  un- 
verdaulichen Ueberreste  wanderten  in  gleicher  Weise  langsam  wieder 
nach  aussen,  gewöhnlich  noch  von  einer  kleinen  Flüssigkeitsmenge,  wie 
von  einer  kugeligen  Alveole  umschlossen.  Die  Oberfläche  der  cen- 
tralen Schleimkugel  öflhete  sich  an  einer  beliebigen  Stelle  und  zwischen 
den  Basen  der  Pseudopodien  traten  die  Excremente  nach  aussen. 

Während  in  allen  diesen  Beziehungen  unser  Moner  sich  dem  be- 
kannten Actinosphaerium  Eichhornii  sehr  ähnlich  verhielt,  so 
zeigten  sich  dagegen  bei  genauerer  Betrachtung  sofort  Unterschiede, 
welche  ersteres  als  ein  ganz  verschiedenes  Protist  nachwiesen.  Acti- 
nosphaerium ist  leicht  von  allen  übrigen  bekannten  ähnlichen  Pro- 
tisten durch  zweierlei  anatomische  Eigenthümlichkeiten  zu  unterschei- 
den: erstens  durch  die  deutliche  Differenzirung  des  Körpers  in  eine 
centrale  (Mark-)  und  eine  peripherische  (Rinden-)  Schicht ,  und  zwei* 
tens  durch  die  eigenthümliche  Structur  der  Pseudopodien.  Die  centrale 
oder  Mark  messe  desselben  besteht  aus  einem  Sarcodekörper,  welcher 
zahlreiche  echte  (kernhaltige)  Zellen  enthält.  Die  Sarcode  der  Rinden- 
masse dagegen  umschliesst  zahlreiche  dichtgedrängte  Vacuolen,  welche 
der  ganzen  Rinde  ein  alveolares  Aussehen  verleihen.  Jedes  Pseudo- 
podium besteht  aus  einer  festeren  hyalinen  Axensubstanz ,  welche  von 
der  Markmasse  ausgeht,  und  aus  einer  dünnflüssigeren,  kömchenftth-i 


94  Ernst  Rlekel, 

renden  Rindensubstanz,  welche  erstere  überzieht.^)   Durch  diese  hist4>- 
logische  Differenzirung  schliesst  sich  Actinosphaerium  bereits  an 
die  Radiolarien  an,  von  denen  es  sich  jedoch  dadurch  wesentlich  unter- 
scheidet ,  dass  die  zellenhaltige  Markmasse  nicht  durch  eine  besondere 
Membran  (Gentralkapselj  von  der  peripherischen  Sarcode  getrennt  ist. 
Zugleich  unterscheidet  sich  dasselbe  durch  diese  Differenzirung  wesent- 
lich von  der  echten  Actinophrys  (sol),  welche  sich  durch  ihren  ho- 
mogenen SarcodekOrper  eng  an  die  Moneren  anschliesst.    Jedenfalls  ist 
es  ganz  ungerechtfertigt,  diese  beiden  ganz  verschiedenen  Protisten  als 
zwei  verschiedene  Species  des  einen  Genus  A c tin  op hr y  s  zu  betrach- 
ten.   Die  von  Stein  eingeführte  Trennung  der  echten  Actinophrys 
(solj  von  dem  viel  höher  differenzirten  Actinosphaerium  (Eich- 
hornii)  ist  auf  alle  Fälle  nothwendig.    Actinosphaerium  ist  ein 
echtes  Rhizopod ,  welches  zwischen  den  Acyttarien  und  Radiolarien  in 
der  Mitte  steht,  und  welches  ich  daher  in  meiner  generellen  Morphologie 
(Vol.  II.    p.    XXVIIIj   als  Repräsentanten   einer  besonderen   (dritten) 
Hauptabtheilung  der  echten  Rhizopoden  zwischen  jene  beiden  gestellt 
habe  (Heliozoa). 

Das  in  Fig.  23,  24  abgebildete  Schleimsternchen  enthält  in  seinem 
ganz  homogenen  Sarcodekörper  weder  die  kernhaltigen  Zellen,  nodi 
die  blasenförmigen  Vacuolen  des  Actinosphaerium.  Ebenso  fehh 
gänzlich  die  Differenz  einer  Axen-  und  Rindenschicht  in  den  durchaus 
homogenen  Pseudopodien.  Eher  würde  man.  unser  Moner  mit  der  ech- 
ten Actinophrys  (solj  zusammenstellen  können.  Jedoch  besitzt  es 
nicht  die  charakteristische  Vacuolenbildung  (die  grosse  contractile 
Rlase  an  der  Oberfläche)  des  letzteren ,  und  zeichnet  sich  ausserdem 
durch  seine  eigenthümliche  Fortpflanzung  so  sehr  aus ,  dass  es  als  Re- 
präsentant eines  neuen  Genus  zu  betrachten  ist,  für  welqhes  ich  den 
Namen  Myxastrum  vorschlage.  Die  abgebildete  Art  von  Arrecife 
nenne  ich  Myxastrum  radians. 

Die  Körnchen,  welche  in  dem  Sarcodekörper  des  Myxastrum 
zerstreut  sind ,  finden  sich  in  sehr  verschiedener  Menge ,  je  nach  der 
Quantität  der  aufgenommenen  Nahrung.  Myxastrum  verhält  sich  in 
dieser  Reziehung  ebenso  wie  Protomyxa  und  wie  die  echten  Rhizo- 
poden. Nach  reichlicher  Füllung  erscheint  eine  grosse  Menge  von 
Kömdben ,  welche  sehr  deutlich  die  langsame  und  wecbselvolle  Circu- 
lationsströmung  im  Parenchym  des  soliden  Plasmakörpers  und  seiner 
Pseudopodien ,    und  scheinbar  auch  auf  deren  Oberfläche  verfolgen 


4)  MaxSchultze,  Das  Proloplasma  der  Rhizopoden  und  der  Pflanzenzellen. 
486t.    p.  as  ff. 


MoDogniplüe  te  Noneraii.  95 

lassen.  Sie  ist  gans  wie  bei  den  Acanthometren,  ihre  Eiehiung 
bestöndig  wechselnd.  Verästelung,  Anastomose  und  Plattenbildung 
der  starren  Pseudopodien  ist  selten.  Bei  längere  Zeit  hungernden  in- 
dividuen  nimmt  die  Quantität  der  Sarcodekörnchen  bedeutend  ab. 
Zuletzt  scheinen  dieselben  ganz  zu  verschwinden. 

Durch  künstliche  Theilung  Hess  sieh  Myxastrum  ebenso  wie 
Protomyxa  vermehren.  Bei  zwei  Individuen,  voa  denen  ich  unter 
dem  Prfiparirmiki'oskop  das  eine  in  zwei ,  das  andere  in  drei  Stücke 
mit  scharfen  Nadeln  zerrissen  hatte,  rundete  sich  jedes  Theilstttck  lang-- 
sam  zu  einer  selbstständigen  Schleimkugel  ab,  welche  allmählich  anfing, 
die  eingezogenen  Pseudopodien  wieder  vorzustrecken ,  und  nun  gleich 
den  ungetheilten  Individuen  sich  zu  eriiähren  und  weiter  zu  leben. 
Die  gleiche  künstliche  Theilbarkeit  habe  ich  bei  dem  ähnlichen  Acti- 
Dosphaerium  Eichhornii  bereits  1862  nachgewiesen. 

Die  activen  Bewegungen  des  ganzen  Körpers  waren  bei  Myi.a- 
strum  eben  so  schwach  und  langsam,  wie  bei  Actinosphaerium. 
Jedoch  vermochte  es  sich  auf  dem  Objectträger  sehr  langsam,  wankend, 
von  der  Stelle  zu  bewegen ,  scheinbar  rotirend  oder  wälzend,  oder  auf 
den  stachelartigen  Pseudopodien  sich  wie  ein*  Seeigel  fortbewegend. 

Der  glückliche  Erfolg,  den  meine  Untersuchungen  über  die  Ent* 
wickelungsgeschichte  von  Protomyxa  gehabt  hatten,  liess  mich 
hoffen,  auch  bei  Myxastrum  einen  gleich  vollständigen  Entwiche-* 
lungKcyclus  zu  beobachten.  Mehrere  der  grössten  und  reichlich  gefütter- 
ten Myxastrum  isolirte  ich  in  einzelnen  Uhrgläschen  mit  Seewasser. 
Diese  bewahrte  ich  in  einer  geräumigen  feuchten  Kammer  mehrere 
Wochen  auf,  ohne  dass  die  Myxastren  abstarben. 

In  den  ersten  Tagen  zeigten  die  isolirten  Myxastren  keine  Verän- 
derung. Dann  aber  bemerkte  ich  zuerst  an  einem ,  bald  darauf  auch 
bn  einem  zweiten  Individuum,  dass  das  Schleimsternchen  seine  Strahlen 
eingezogen  und  sich  zu  einer  ganz  einfachen  Schleimkugel  mit  glatter 
Oberfläche  zusammengezogen  hatte.  Alle  Reste  der  früher  aufgenom- 
menen Nahrung  waren  entfernt,  und  ausser  den  feinen  zahlreichen  Körn- 
chen keinerlei  Formclemenle  in  dem  ganz  homogenen  Sareodekörper 
wahrzunehmen.  Einige  Tage  später  wurde  ein  doppelter  scharfer  Gon- 
tour  an  Stelle  des  bisherigen  einfachen  sichtbar,  und  nun  zeigte  es  sich, 
dass  das  Myxastrum  sich  ebensowiedieProtomy  xaencystirt  hatte« 
Die  anfangs  sehr  dünne  Cystenmemhran  wurde  langsam  didter  und 
dicker ,  indem  schiehtenweise  neue  Lagen  abgeschieden  wurden ,  und 
endlich  erreichte  ihre  Dicke  Vg  von  dem  Durchmesser  der  eingeschlos^ 
senen  Plasmakugel.  (Fig.  4  3) . 

Das  encystirte  Myxastrum  stellte  ebenso  wie  die  encystirle 


96  Kmst  ffitokel, 

Protom yxa,  eine  ganz  einfädle  kugdige  Lepocytode  dar,  eine 
vollkommen  structurlose  und  homogene  Plasroakugel  von  0,08  Mm. 
Durchmesser.  Auch  in  chemischer  Besiehung  zeigte  es  die  gleichen 
Reactionen,  wie  die  encystirte  Protomyxa.  Die  Membran  i^ar  eben 
so  structurlos,  jedoch  derber,  dicker  und  consistenter. 

Meine  Hoffnung,  die  weitere  Entwicklung  des  encystirlen  M yxa- 
s  t  r  u  m  ebenso  wie  bei  P  r  o  t  o  m  y  x  a  weiter  verfolgen  zuk  ön  n  en ,  schien 
zunächst  nicht  in  Erfüllung  zu  gehen.  Umilieselbe  zu  verfolgen,  betrach- 
tete ich  fast  Tag  für  Tag  die  eingekapselten  Plasmakugeln ,   welche  ich 
sorgfältig  in  kleinen  Uhrschälchen  in  der  feuchten  Kammer  isolirt  hielt. 
Endlich  nach  zweiwöchentlichem  vergeblichen  Warten  wurde  eine  Ver- 
änderung bemerkbar.    Es  begann  nämlich  die  homogene  Plasmakuge/ 
eine  grosse  Anzahl  von  radialen  Streifen  zu  zeigen ,  und  in  der  Rich- 
tung dieser  Streifen  sich  zu  zerklüften,  etwa  wie  bei  der  Dotterfu rchuog 
vonSagitta.  Nach  drei  bis  vier  Tagen  warder  gaqze  kugelige  Plasma- 
körper in    ungefähr  5(y  verdichtete  kegelförmige  Inhaitspartieen  zer- 
fallen, welche  im  Gentrum  der  Kugel  sich  mit  ihren  Spitzen  berührten, 
während  die  abgerundete  Basis  der  schlanken  Kegel  die  Innenseite  der 
Cysten  wand  berührte  (Ffg.  44).     Zwischen  den  einzelnen  eonischen, 
radial  gestellten  Plasmaportionen,  deren  Substanz  sich  offenbar  tang- 
sam verdichtete,  sammelte  sich  eine  geringe  Quantität  von  einer  Bellen 
wässrigen  Flüssigkeit  an.    Nun  trat  auch  langsam  eine  Form  Verände- 
rung der  radialen   Plasmastücke  ein,  indem  ihre  ursprüngliche  Ke- 
gelgestalt mehr  und  mehr  in  Spindelform  überging.    Zugleich  zogen 
sich  die  inneren  Spitzen  der  beiderseits  zugespitzten  Spindeln  aus  dem 
Centrum  zurück,  in  welchem  sich  Flüssigkeit  ansammelte.  (Fig.  45,  46^ 

Jedes  einzelne  von  den  gestreckten   spindelförmigen  Plasmakör- 
perchen,  welche  durch  die  radiale  Theilung  der  einfachen  Plasmakugel 
entstanden  waren,  begann  nun  eine  dünne  Hülle/iauszuscheiden,  welche 
als  ein  deutlicher  doppelter  Contour  zwischen  den  einzelnen  Spindeln 
sichtbar  wurde  (Fig.  15,  16).    Die  Länge  des  spindelförmigen  Körper- 
chens betrug  nur  0,03  Mm. ,  seine  grösste  Breite  (der  in  Mitte)  0,045 
Mm. ,  die  Dicke  seiner  Hüllmembran  0,0042  Mm.    Diese  Hülle  bestand^ 
wie  sich  alsbald  durch  die  chemischen  Reactionen  ergab ,  aus  Kiesel- 
erde.   Isolirt  hätte  man  jedes  einzelne  Spindelchen  für  eine  kleine  Diß" 
tomee,  etwa  eine  Na  vicula,  halten  können  (Fig.  17).   Jedoch  fehlte 
dem  gänzlich  structurlosen  Plasmakörper  der  Kern ,  welchen  die  Dto*- 
toraeen  besitzen.    Es  war  jede  Spindel  mithin  eine  einfache  Cytode, 
keine  echte  (kernhaltige)  Zelle. 

In  diesem  Zustande,  geschützt  von   der  festlen  Kieselhülle   und 
ausserdem  noch  von*  der  gemeinschaftlichen  CystenhoUe  des  elterlichen 


MoDOgnipIlie  der  Moueren,  97 

Körpers,  verharren  die  spindelfOrinigeD  Keime  des  My xastrum  wahr- 
scheinlich unter  ihren  natürlichen  Existenzbedingungen  längere  Zeit, 
ehe  sie  sich  iveiter  entwick^.  Da  selbst  nach  Verlauf  von  einer 
Wocbe  keine  auffällige  Veränderung  an  denselben  zu  bemerken  war, 
und  da  die  Zeit  meines  Aufenthalts  aufLanzarote  zu  Ende  ging,  be- 
schloss  ich,  die  beiden  einzigen  Cysten,  welche  noch  übrig  waren,  zu 
sprengen,  und  zu  sehen,  ob  dann  eine  Weiterentwickelung  der  Keime 
einträte.    Dies  geschah  in  der  That. 

Nachdem  ich  die  beiden  kugeligen  Cysten  gesprengt  hatte ,   (was 
bei  der  Festigkeit  der  hyalinen  Cystenmembran  einen  ziemlich  bedeuten- 
den Druck  erforderte)  traten  die  spindelförmigen  Kieselsporen  ausein- 
ander und  zerstreuten  sich  im  Wasser.    In  den  ersten  beiden  Tagen 
war  keine  Veränderung  und  keine  Bewegung  an  denselben  zu  bemer- 
ken.  Sie  lagen  regungslos  und  scheinbar  unverändert  am  Boden  des 
Uhrschälchens.   Endlich  am  dritten  Tage  bemerkte  ich,  dass  aus  dem 
einen  Ende  mehrerer  Kieselspindeln  ein  hyaliner  fingerförmiger,  abge- 
rundeter Fortsatz  hervorsah ,  etwa  Vi  oder  y,  so  lang  als  die  Spindel. 
Am  entgegengesetzten  Ende  hatte  sich  der  Plasmainhalt  von  der  Kie- 
selhttlle  abgehoben,  und  hier  war  eine  helle  Lücke  bemerkbar  (Fig.  4  8). 
Langsam  wurde  diese  Lücke  grösser,  während  entsprechend  das  Plasma 
am  anderen  Ende  mehr  und   mehr  vorquoll  (Fig.  19).    So  schlüpfte 
schliesslich  der  gesammte  homogene  Plasmakörper  der  spindelförmi- 
gen Spore  aus  seiner  Kieselhülle  heraus ,  zog  sich  kugelig  zusammen 
und  blieb  regungslos  vor  der  entleerten  Hülle  liegen  (Fig.  47,  20).   Die 
herausgeschlüpfte  Plasmakugel  war  vollkommen  homogen  und  structur- 
\os,  nur  von  äusserst  feinen  (bei  500  maliger  Vergrösserung  noch  nicht 
messbaren)   Kömchen  durchsetzt.     Von  einem  Kerne  und  ebenso  von 
einer  Vacuoie  war  auch  bei  Anwendung  verschiedener  Reagentien  keine 
Spur  wahrzunehmen.    Die  nackte  Spore  war  in  der  That  eine  gänz- 
lich structurlose  Sarcodekugel.    Auch  an  der  entleerten  Kieselmem- 
bran war  keinerlei  Structur  wahrzunehmen.    Sowohl  in  Flüssigkeit  als 
Ketrocknet  bei  stärkster  Vergrösserung  und  schiefer  Beleuchtung  be- 
trachtot,  zeigte  die  dünne  Kieselhülle  keinerlei  Oberflächenzeicbnung 
oder  sonstige  Differenzirung.     Ob  das  enge  Loch ,  durch  welches  die 
nackte  Spore  oder  Keimcytode  aus  ihrer  Kieselhülle  hervortritt,  prae- 
eiistirt,  oder  erst  vor  dem  Durchbruch  von  dem  Plasmn  (durch  Auf- 
lösung der  Kieselhülle  an  der  Spitze)  gebildet  wird,  ob  dieses  Loch  an 
beiden  Enden  der  spindelförmigen  Sporenmembran  oder  nur  an  einem 
Ende,  und  ob  es  in  letzterem  Falle  an  inneren  (centralen)  oder  äusseren 
(peripherischen)  Ende  der  radial  gestellten  Kieselspindel  sich  findet, 
vermochte  ich  nicht  zu  entscheiden. 

Band  IV.  1.  7 


98  ErBStHiekd, 

Ein  paar  Stunden,  nachdem  der  Plasmakörper  des  Myxastruoi 
aus  seiner  spindelförmigen  KieselhttUe  hervorgeschlüpft  ist,  bleibt  er 
regungslos  als  nackte  Piasmakugel  vorder  leeren  Httlle  liegen.     Dann 
wird  seine  gesammte ,  bisher  glatte  Oberfläche  {einstachelig  (Fig.  21). 
Diese  Stacheln  sind  weiter  Nichts,  als  radiale  Fortsätze  des  Plasma, 
welche  sich  allmählich  länger  ausziehen  und  schliesslich  den  Durchmesser 
der  centralen  Plasmakugel  erreichen  und  selbst  übertreffen  (Fig.  22} , 
Bald  bemerkt  man  nun  auch,  dass  die  Körnchen  der  centralen  Sarcode- 
masse in  diese  strahligen  Pseudopodien  übergehen ,  und  dass  dasselbe 
Spiel  der  Rörnchencirculation  beginnt,   wie  ich  es  oben  an  dem  er- 
wachsenen Myxastr  um  beschrieben  habe.    Auch  bleiben  nun  schon 
kleine  fremde  Körperchen,  welche  zufällig  mit  den  Pseudopodien  in  Be- 
rührung kamen,  an  diesen  hängen,  und  werden  langsam  in  die  centrale 
Leibesmasse  hineingezogen,  um  dort  assimilirt  zu  werden.     Offenbar 
liegt  nun  in  diesen  kleinen  Strahlenkugeln  von  0,08  Mm.  Durchmesser 
bereits  die  Form  des  30 — 50 mal  grosseren  ausgebildeten  Myxastrum 
vor,  und  letztere  kann  sich  durch  einfaches  Wachsthum  aus  der  ersteren 
entwickeln.  Besondere  Differenzirungsprocesse  oder  überhaupt  andere 
Veränderungen  als  das  einfachste  Wachsthum  sind  dazu  nicbl  mehr 
nOthig.    An  einzelnen  der  kleinen  actinophrysähnlichen  Keime,  weiche 
Nahrung  aufgenommen  hatten,  waren  auch  bereits  hier  und  da  spär- 
liche Verästelungen  und  Anastomosen  der  radialen  Pseudopodien  wahr- 
zunehmen.   Dagegen  kamen  ebenso  wie  bei  dem  erwachsenen  Myxa- 
strum weder  Vacuolenbildung  noch  Differenzirung  von  Kernen  in  dem 
durchaus  homogenen  Plasmakörper  vor. 

Unter  natürlichen  Verhältnissen  bleibt  das  encystirte  Myxastruin 
wahrscheinlich  lange  Zeit  liegen ,  ehe  seine  Cysienmembran  au^elöst 
oder  gesprengt,  und  damit  der  erste  Anlass  zur  weiteren  Entwic^elung 
der  spindelförmigen  Kieselsporen  gegeben  wird.  Offenbar  wäre  auch 
bei  den  beobachteten  Cysten  diese  Entwickelung  noch  nicht  eingetreteo, 
wenn  ich  nicht  künstlich  die  Cystenhülle  gesprengt  hätte. 

Myxastrum  radians  ist,  wie  aus  der  vorhergehenden  vollstän- 
digen Schilderung  seines  Generationscydus  oder  seines  individuellen 
(biontischen)  Entwickelungskreises  hervorgeht,  ein  Moner,  welches 
gleich  den  Protomyxen,  Protomonaden  und  Vampyrellen  während  seines 
individuellen  Lebenslaufes  in  zwei  ganz  verschiedenen  Zuständen  er- 
scheint, einem  ruhenden  und  einem  freibeweglichen  Zustande.  1^ 
freibeweglichen  Zustande,  während  dessen  die  Ernährung 
geschieht,  gleicht  Myxastrum  sehr  einer  echten  Actinophrys  (sol) 
und  unterscheidet  sich  wesentlich  nur  durch  Mangel  jeder  Vacoolen- 
bildung.    Im  ruhenden  Zustande  dagegen,   während  dessen  <U^ 


t 

f 


MoDogrtphie  der  Moneren.  9g 

Fortpfiansung  slaiifindet,  stellt  Myxastrum  eine  kugelig^  Cyste 
dar,  deren  homogener  Piasmainhalt  durch  Strahltheilung  (Dira- 
diatio)^)  in  eine  Anzahl  von  spindelförmigen  ruhenden  Sporen  zerfallt. 
Jede  Spore  scheidet  eine  KieselhuUe  aus  und  gleicht  dann  einer  Na  vi- 
cula  (ohne  Kern!).  Wenn  der  Ruhezustand  wieder  in  den  freibeweg- 
lichen Zustand  übergeht,  berstet  die  GystenhttUe ;  die  Sporen  schlüpfen 
ans  ihrer  Rieselmembran  heraus  und  gestalten  sich  sofort  wieder  zu 
einem  kugeligen  strahlenden  actioo'ßhrysähnlichen  Plasmakttrper,  wel-* 
eher  durch  einfaches  Wachsthum  in  die  Form  des  erwachsenen  Myxa-*- 
strum  übergeht. 

II.  3.  Myxodictyum  sociale. 
(Hierzu  Taf  III,  Fig.  S4— 38). 

Wahrend  meiner  Rückreise  von  den  canarischen  Inseln  verweilte 
ich  in  der  zweiten  Hälfte  des  März  4867  zehn  Tage  in  der  kleinen 
spanischen  Stadt  Algesiras,  welche  Gibraltar  gegenüber  an  dem  west- 
lichen Ufer  der  reizenden  Bai  von  Algesiras  liegt.  Ich  hoffte  hier  einige 
von  den  reichen  pelagischen  Thierschwarmen  anzutreffen,  welche  zu 
verschiedenen  Zeiten  in  der  Meerenge  von  Gibraltar  beobachtet  worden 
sind.  Jedoch  zeigte  sich  von  der  erwarteten  Fülle  von  Seethieren 
Nichts,  ausser  einigen  Physalien,  Velellen  und  anderen  pelagischen  By- 
dromedusen,  trotzdem  ich  taglich  mit  meiner  Barke  die  Bai  nach  allen 
Richtungen  durchsuchte.  Auch  die  Ergebnisse  der  pelagischen  Fischerei 
roit  dem  feinen  Netz  waren  sehr  dürftig.  Der  dadurch  aufgebrachte 
Mulder  bestand  wesentlich  aus  kleinen  Medusen  (Eucopiden) ,  und  aus 
grossen  Mengen  von  Noctiluca,  von  Acanthometren  und  von  polycytta- 
rien  Radiolarien  (CoUozoum,  Sphaerozoum,  Collosphaera  und  Siphono- 

sphaera.'j 

Um  die  Acanthometren ,  welche  an  einigen  Tagen  ziemlich  häufig 
waren,  in  ganz  unverletztem  Zustande  zu  untersuchen  und  die  Bewe- 
gungserscheinungen an  ihren  Pseudopodien  zu  verfolgen,  schöpfte  ich 
mehrfach  unmittelbar  mit  Glasern  Wasser  von  der  Oberflache  des  Hee- 
res, und  nachdem  dasselbe  einige  Zeit  ruhig  gestanden  hatte ,  schöpfte 
ich  wiederum  die  Oberflache  des  im  Glase  stehenden  Wassers  mit  einem 

«)  Generelle  Morphologie,  Vol.  11,  p.  4i,  70. 

t)  Das  merk  würdigste  unter  den  dort  gefundenen  Polycyttarien  war  eine  %\- 
phooosphaer«  mit  verästelten  Kieselröhren  auf  der  Oberfläche  der  kugeligen 
Gitterschale,  welche  desshalb  S.  cladophora  heissen  kann  Eine  ahnliche  Form 
hatte  ich  schon  auf  den  canarischen  Inseln  beobachtet.  Ich  werde  diese  und  die 
übrigen  dort  beobachteten  Radiolarien  an  einem  anderen  Orte  ausführlich  be^ 
schreiben. 


]  00  Ernst  H&ekel, 

flachen,  ganz  untergetauchten  Uhrgiäschen  ab.  Diese  Methode,  welche 
allerdings  einige  Geduld  und  Vorsicht  erfordert,  ist  sehr  zu  empfehlen, 
wenn  man  die  Sarcodebewegung  an  den  Pseudopodien  kleiner  Radio- 
larien  und  die  wirkliche  Körnchenbewegung  in  den  Sarcodeströmen 
an  ganz  unberührten ,  unverletzten  und  frischen  Objecten  beobachten 
Will.  Neben  mehreren  Acanthometren  und  Ommatiden ,  welche  ich  auf 
diese  Weise  erhielt,  führte  mir  ein  günstiger  Zufall  auch  das  merkwür- 
dige rhizopodenartige  Moner  zu.  Welches  ich  im  Folgenden  als  Myxo- 
dictyum  sociale  beschreiben  will. 

Als  ich  bei  massiger  Yergrösserung  den  Focus  des  Mikroskops  auf 
die  Oberfläche  des  Wasserspiegels  einstellte ,  auf  welcher  die  Acantho- 
metren floltirten,  bemerkte  ich  eine  Gruppe  von  kleinen  dicht  beisam- 
men liegenden  rundlichen  strahlenden  Körperchen,  deren  jedes  wie  eine 
kleine  Actinophrys  aussah.  Bei  400  maliger  Vergrösserung  zeigte  diese 
Gruppe  das  Bild,  welches  in  Fig.  31  dargestellt  ist. 

Auf  einem  Stück  des  Wasserspiegels,  der  ungefähr  einem  Kreise 
von  0,35  Mm.  Durchmesser  entsprach,  zeigte  sich  eine  Gruppe  von 
siebzehn  durchsichtigen  feinpunctirten  strahlenden  Körperchen,  deren 
jedes  ungefähr  das  Aussehen  einer  flach  ausgebreiteten  Actinophrys 
sol  oder  eines  Trichodiscus  hatte.  Jedes  Körperchen  strahlte  zahl- 
reiche feine  verästelte  und  anastomosirende  Fäden  aus,  welche  mit  de- 
nen der  benachbarten  Körperchen  sich  vereinigten.  An  den  Fäden  w  ar 
die  charakteristische  Körnchenströmung,  das  Entstehen  und  Vergehen 
von  Aesten  und  Anastomosen  zu  beobachten ,  welche  die  Pseudopodien 
der  echten  Riiizopoden  auszeichnen ,  und  die  Körnchenströmung  ging 
von  einem  Körperchen  auf  die  anderen  über  (Fig.  31). 

Jedes  einzelne  von  den  siebzehn  auf  diese  Weise  verbundenen 
actinophrysähnlichen  Körperchen  stellte  eine  vollkommen  structurlose 
Scheibe  von  0,03 — 0,04  Mm.  Durchmesser  dar,  und  war  von  den  be- 
nachbarten durch  einen  ebenso  grossen  oder  höchstens  zwei  bis  drei 
mal  so  grossen  Zwischenraum  getrennt.  Jedes  Körperchen  erschien  in 
seiner  ganzen  Masse  aus  einer  durch  und  durch  homogenen  Substanz  ge- 
bildet, einem  festflüssigen  Plasma,  welches  sich  ganz  wie  die  Sarcode  der 
Protomyxa  oder  der  Badiolarien  verhielt.  Von  irgend  welcher  Structur 
oder  Diflorenzirung  war  in  diesem  schleimigen  Eiweisskörper  so  wenig 
als  bei  Protom  yxa  eine  Spur  wahrzunehmen ;  namentlich  fehlte  völlig 
ein  Unterschied  zwischen  einer  festeren  Rindenschicht  und  einem  wei- 
cheren Markplasma  ;  Vacuoten  schienen  ganz  zu  fehlen.  Die  sehr  feinen, 
grösstentheilsunmessbar  feinen  Körnchen,  welche  in  der  vollkommen  ho- 
mogenen Grundsubstanz  zerstreut  waren,  befanden  sich  fast  beständig  in 
langsamer  Bewegung.  Einige  eingestreute  grössere  Körnchen  lieSsen  sich 


MoDographle  te  MonereD.  101 

sehr  schön  auf  ihrer  Wanderung  durch  die  Masse  des  Körpers  hindurch, 
auf  den  Pseudopodien,   ihren  Zweigen  und  Anastomosen,  und  von 
einem  Kdrperchen  lum  anderen  verfolgen.    Die  Strömung  der  Sarcode 
war  ziemlich  langsam,  bei  weilem  nicht  so  rasch,  als  bei  Protom yxa 
und  bei  Protogenes,  aber  auch  nicht  so  langsam,  als  bei  Myxa- 
strum.    Man  konnte  ganz  deutlich  sehen,  wie  die  grösseren  Kömchen 
auf  einxefaien  Pseudopodien  der  in  der  Peiipherie  gelegenen  Körperchen 
von  der  Plasmaströmung  bis  zur  Spitze  der  äusserst  feinen  Päden  ge- 
führt wurden,  hier  umkehrten  und  wieder  zurückliefen  oder  durch  eine 
plattenförmige  Anastomose  auf  einen  anderen  benachbarten  Faden  über- 
traten.   Führte  dieser  Faden  durch  Anastomose  mit  dem  Faden  eines 
benachbarten  Körperchens  in  die  Substanz  des  letzteren  hinüber,  so 
konnte  man  das  Körnchen  in  diese  übertreten  sehen.    Von  hier  konnte 
dasselbe  wieder  auf  ein  anderes  Körperchen  übergehen  und  so  fort. 
Kurz  es  stellte  sich  bei  andauernder  Beobachtung  als  unzweifelhaft 
heraus,  dass  der  ganze  zusammenhängende  Plasmakörper  aus  einem 
einzigen  grossen,   völlig  homogenen  Sarcodenetz  bestand,   und  dass 
die  siebzehn  einzelnen  strahlenden  Plasmakörperchen  gewissermassen 
nur  stärkere  Anhäufungen  von  Sarcodemasse  in  den  Knotenpuncten 
dieses  Netzes  waren.  Die  Maschen  des  Netzes  waren  polygonal,  meistens 
fünf-  oder  sechbeckig,    von  0,01 — 0,02  Mm.  mittlerem  Durchmesser, 
übrigens  ganz  formunbeständig.    Während  einzelne  Pseudopodien  neue 
Aestchen  aussendeten  und  diese  durch  Verschmelzung  mit  benachbarten 
Felden  wahre  Anastomosen  bildeten ,  wurden  an  anderen  Stellen  grös- 
sere Maschen  dadurch  hergestellt,  dass  der  Sarcodezufluss  von  einzel- 
nen Fäden  her  aufhörte,  und  nun  mitten  im  Verlaufe  eines  Stromes  eine 
Unterbrechung  entstand.    Der  centrale  Theil  eines  solchen  unterbroche- 
nen, gleichsam  durchschnittenen  Fadens  wurde  in  die  sich  verdickende 
Basis  desselben  zurückgezogen,  wogegen  der  peripherische  Theil  in  das 
Stromgebiet  des  benachbarten  Fadens  hinüber  gezogen  wurde.    Neben 
den  feinen  Körnchen  circulirten  entlang  der  Fäden  auch  kleine  fremde 
Körperchen,  welche  zufällig  an  die  Oberfläche  der  Fäden  geriethen,  hier 
haflen  blieben  und  nun  von  der  Sarcodeströmung  ergriffen  und  mit 
fortgeführt  wurden.     Dass  die  Sarcode  thatsächlich   eine  festflüssige 
Substanz  ist,  und  dass  die  in  derselben  suspendirten  Körnchen  und 
fremden  Körperchen  wirklich  von  dem  flüssigen  und  ewig  wechselnden 
Plasmaslrome  mit  fortgeführt  werden ,  liess  sich  bei  Myxodictyum 
ebenso  sicher  als  bei  Protogenes  und  bei  den  echten  Rhizopoden 
(Acyttarien  und  Radiolarienj  beobachten. 

Aller  Wahrscheinlichkeil  nach  geschieht  auch  die  Nahrungsauf- 
nahme bei  Myxodicty  um  ganz  ebenso  wie  bei  den  letztgenannten 


ProliMen.  Allerdings  waren  bei  dem  eintigen  Exeonfriare ,  wddies  ich 
in  Algesira^  beobachtete,  nnd  weiches  ich  nur  einige  Stunden  verfDlgen 
konnte,  keine  grösseren  fremden  Körperdien,  wie  etwa  pelagische  Dia- 
tomeen, Peridinien  etc.  innerhalb  der  Plasmasubstanz  wahrzunehmen. 
Allein  aud)  bei  echten  Rhizopoden,  sowie  beiProtogenes  und  M y  x a - 
strum  fehlen  bisweilen,  selbst  wenn  kurz  vorher  reichliche  Nahrungs- 
aufnahme stattgefunden ,  alle  fremden  Körperchen,  sobald  nämlidi  die 
unverdaulichen  Bestandtheile  bereits  wieder  ausgestossen  sind.  Die 
grosse  Anzahl  der  drcuHrenden  Kömchen  in  dem  Plasmaleibe  von 
Myxodictyum  schien  auf  reichliche,  kurz  zuvor  stattgehabte  Nah- 
rungsaufnahme hinzudeuten,  und  es  ist  kein  Grund  vorhanden,  die 
genannten  Phänomene  hier  anders,  als  bei  Myxastrum,  bei  Proto- 
myxa  und  den  echten  Rhizopoden  zu  deuten. 

Das  Bild,  welches  der  merkwfirdige  netzförmige  Sarcodeleib  von 
Myxodictyum  sociale  bei  starker  (iOOmaliger)  VergrOsserung 
gewährt  (Fig.  31),  erinnert  auffallend  an  das  ganz  ähnliche  Bild,  wel- 
ches ein  Polycyttar  oder  sociales  Radiolar  (z.  B.  GoUozoum,  Collo- 
sphaera)  bei  schwächerer  Vergrösserung  darbietet. i)  Die  siebzehn 
einzelnen  strahlenden  Sarcodescheiben,  welche  in  den  Maschen  des 
Netzes  liegen,  entsprechen  den  einzelnen  Centralkapsein  (morpholo- 
gischen Individuen)  der  Polycyttarien-Golonie.  Man  denke  sich  aus 
einem  Gollozo  um -Stocke  die  Centralkapsein,  die  Alveolen,  welche 
das  Sarcodenetz  tragen ,  und  die  gelben  Zellen ,  welche  darin  zerstreut 
sind,  entfernt,  und  man  hat  vollständig  das  Bild  des  Myxodictyum 
vor  sich. 

Für  die  morphologische  Deutung  des  Myxodictyum  ist  diese 
Vergleichung  von  Wichtigkeit.  Denn  offenbar  entspricht  der  ganze 
Körper  nicht  einem  einzigen  einfachsten  Individuum,  sondern  einer 
Moneren-Colonie.  Die  siebzehn  einzelnen,  sternförmigen  und 
strahlenden  actinophrysähnlichen  Plasmakörperchen  sind  ebenso  viele 
morphologische  Individuen  erster  Ordnung ,  und  das  ganze  Plasmanetz 
ist  trotz  seiner  absoluten  Einfachheit  bereits  eine  Individualität  höherer 
(zweiter)  Ordnung.  Es  ist  gewissermassen  eine  coloniebildende  Acti- 
nophrys  oder  Protogenes.  Strenger  morphologisch  ausgedrückt 
ist  jeder  der  siebzehn  nac&ten  homogenen  Plasmasterne  eine  Gymno- 
cytode,  und  der  ganze  Körper  ein  einfachstes  Individuum  zweiter  Ord* 


i)  Vergleiche  die AbbiiduDgen  von  Sp ha eroz Olim  i t a ii c u m  (Taf.  XXXIil, 
Flg.  4)  und  von  Collozouminerme  (Taf.  XXXV,  Kig.  I3j  in  meiner  Monographie 
der  Radiolarien. 


r 

■ 

MooQgnpbto  der  Moneren«  1 03 

DuAg  oder  ein  Organ  (diesen  Ausdruck  rein  morphologisch  genom-* 
men,  wie  ich  ihn  in  meiner  Teelologie  angewandt  habe). 

Da  ähnliche  Moneren-Colonieen  bisher  noch  nicht  bekannt 
geworden  sind,  so  wäre  es  von  hohem  Interesse  gewesen  das  My  xo- 
dictyum  längere  Zeit  hindurch  su  beobachten  und  namentlich  die 
Foripflanzungaweise,  sowie  einen  etwaigen  Uebergang  in  einen 
Ruhezustand,  oder  möglicherweise  auch  in  einen  anderen  Organismus 
festzustellen.  Leider  war  es  mir  nicht  möglich,  hierüber  in  wttnschens- 
werther  Weise  sichere  Aufschlüsse  zu  erlangen.  Doch  beobachtete'ich 
wahrend  der  wenigen  Stunden,  in  denen  sich  das  Myxodictyum  in 
meinem  Glase  befand,  wenigstens  eine  Veränderung. 

Nachdem  ich  die  in  Fig.  31  abgebildete  Zeichnung  von  Myxo- 
dictyum entworfen  und  die  Bewegungsphänomene  der  Sarcode  hin- 
reichend beobachtet  hatte,  um  ihre  Identität  mit  derjenigen  der  Rhizo* 
poden  festzustellen,  setzte  ich  das  Gläschen  bei  Seite,  um  einige  Acan- 
thometren,  die  ich  gleichzeitig  gefangen  hatte,  zu  zeichnen.  Drei  Stunden 
später  brachte  ich  das  Uhrschälchen  mit  dem  Myxodictyum  wieder 
unter  das  Mikroskop.     Immer  noch  lag  das  Schleimnetz  in  der  vorhin 
beschriebenen  Form  an  der  Oberfläche  des  Wasserspiegels,  und  die 
langsame  Strömung  der  Sarcode   dauerte  ununterbrochen  fort.    Nur 
hatten  sich  die  einzelnen  actinophrysartigen  Körper  etwas  weiter  von 
einander  entfernt,  etwa  um  das  Dreifache  bis  Vierfache  ihres  Durch- 
messers; die  Maschen  des  Netzes  erschienen  grösser  und  der  Umriss 
der  ganzen  Gruppe ,  welcher  vorher  nahezu  kreisrund  gewesen  war, 
mehr  unregelmässig  fünfeckig,  zugleich  in  einer  Richtung  etwas  ver- 
längert. Bei  genauerem  Zusehen  bemerkte  ich,  dass  nur  noch  fünfzehn 
Individuen  in  dem  Netze  vorhanden  waren.    Zuerst  vermuthete  ich, 
dass  vielleicht  die  zwei  fehlenden   Individuen   mit  zweien    von  den 
Qbrigen  zusammengeflossen  und  verschmolzen  seien.  Jedoch  stellte  sich 
bei  Durchmiisterung  des  ganzen  Schäfchens  bald  heraus,  dass  dieselben 
sich  einzeln  von  der  Colonie  abgelöst  hatten ,  und  isolirt  am  Rande  des 
Uhrgläschens  auf  dem  Wasserspiegel  schwammen.    Jedes  der  beiden 
Körperchen  hatte  einen  fast  kreisrunden  Umriss ,  strahlte  rings  einen 
reichen  Kranz  von  verästelten  und  anastomosirenden  Pseudopodien  aus, 
und  glich  einer  Actinophrys  sol  ohne  contractile  Blase  (Fig.  33). 
Möglicherweise  giebl  diese  Beobachtung  einen  Fingerzeig  über  die 
For4>flanzung  des  Myxodictyum.    Es  ist  denkbar,  dass  diese  Mone- 
reo-Stöcke  sich  einfach  dadurch  fortpflanzen,  dass  von  Zeit  zu  Zeit  sich 
einzelne  Individuen  von  der  Peripherie  der  Moneren-Gemeinde  ablösen. 
Diese  können  dann  eine  neue  Colonie  entweder  dadurch  bilden ,  dass 
das  einfache  Individuum  durch  Theilung  in  mehrere  zerfällt,  welche 


]  04  Krns^  fflldcelf 

mittelst  ihrer  Pseudopodien-Anastotnosen  vereinigt  bleiben ;  oder  da- 
durch, dass  an  einzelnen  Stellen  (Knotenpuncten)  des  peripherischen 
Netzes  ein  stärkerer  Zufluss  und  eine  Anhäufung  von  Sarcode  erfolgt, 
und  dass  diese  peripherischen  Plasmakltimpchen  sich  allmählich  oen— 
tralisiren  und  den  individuellen  Formwerth  des  centralen  Mutterkörpers 
erlangen.  So  kann  die  Fortpflanzung  dieser  Myxodictyen  in  der  ein- 
fachsten Weise  erfolgen,  ohne  dass  Ruhezustände  einzutreten  brauchen, 
und  dann  würde  sich  diese  Monerenform  unmittelbar  an  Protogenes 
anschliessend 

Andererseits  ist  es  jedoch  auch  leicht  möglich ,  dass  die  Ablösung 
der  beiden  Individuen  von  dem  beobachteten  Netze  mehr  zufällig  ge> 
schah  und  nicht  die  Bedeutung  eines  Fortpflanzungsactes  hatte.  Leider 
konnte  ich  das  merkwürdige  Moner  nicht  weiter  verfolgen.  Denn  bei 
dem  Versuche,  dasselbe  aus  dem  flachen  Uhrschälchen ,  in  welchem  es 
sehr  unbequem  mit  stärkerer  Vergrösserung  zu  beobachten  war,  auf 
einen  passenderen  Objectträger  zu  übertragen,  floss  unglücklicherweise 
ein  grosser  Theil  des  Wassers  sammt  dem  Myxodictyum  am  Rande 
ab,  und  dasUnicum  verunglückte.  Es  muss  daher  künftigen  Beobachtern 
vorbehalten  bleiben,  die  Naturgeschichte  dieses  wunderbaren  Organis- 
mus vollständiger  zu  ergründen. 

II.     4.    Protamoeba  primitiva. 

(Hierzu  Taf.  111,  Fig   25— 30K 

Von  den  echten  Amoeben  (den  Autamoeben)  welche  stets  einen 
Kern  und  meistens  auch  eine  Vacuole  oder  selbst  eine  constante  con- 
tractile  Blase  besitzen,  sind  diejenigen  amoebenartigen  Organismen 
wohl  zu  unterscheiden,  bei  denen  sowohl  Kern  als  contractile  Blase 
fehlen,  und  bei  denen  der  ganze  Körper  aus  einer  vollkommen  homo- 
genen und  slructurlosen  Masse  besteht.  Solche  absolut  einfache  Amoeben, 
die  einfachsten,  die  überhaupt  denkbar  sind,  treten  z.  B.  als  vorüber- 
gehende Jugendzustände  im  Entwickeiungskreise  der  Gregarinen  auf, 
in  deren  Navicula-ähnlichen  Keimkörnern ,  den  sogenannten  Pseudo- 
navicellen  sie  sich  entwickeln.  Aber  auch  als  selbstständige,  in  dieser 
einfachsten  Form  verharrende  und  sich  fortpflanzende  Organismen,  — 
wenn  man  will,  als  »gute  Species«  —  treten  solche  ganz  einfache  Amoe- 
ben auf,  und  ich  habe  in  meiner  generellen  Morphologie  vorgeschlagen, 
dieselben  als  DProtamoeba«  ganz  von  den  echten,  offenbar  schon 
viel  höher  differenzirten  Amoeben  zu  trennen  (Vol.  I,  p.  133).  Da  ich 
an  letzterem  Orte  diese  Protamoeba  nur  beiläufig  erwähnt  und  aus- 
serdem noch  Nichts  über  dieselbe  voröfTenllicht  habe ,  so  will  ich  hier. 


f 


Monograpliie  der  Moner^iL  1 05 

im  Anscbluss  an  die  vorher  beschriebenen  Moneren ,  eine  kurze  Dar- 
stellung derselben  folgen  lassen. 

Die  in  Fig.  25 — 30  abgebildete  Protamoeba  primitiva  be- 
obachtete ich  zum  ersten  Male  in  Jena  im  Sommer  1863,  in  Wasser, 
welches  ich  aus  einem  kleinen  Tümpel  im  Tautenburger  Forste  (Dorn- 
burg gegenüber  auf  dem  rechten  Saalufer)  geholt  hatte.  Der  Boden 
dieses  flachen  kleinen  Tümpels  ist  dicht  mit  abgefallenem  vermodern- 
den Buchenlaub  bedeckt  und  in  dem  feinen  braunen  Schlamme,  zwischen 
den  vermodernden  Blättern ,  fand  ich  die  kleine  Protamoeba,  das  erste 
Moner,  welches  mir  überhaupt  zu  Gesicht  kam. 

Wenn  man  Protamoeba  primitiva  unmittelbar  aus  dem  feinen 
Schlamm,  in  welchem  sie  umherkriecht,  unter  das  Mikroskop  bringt 
und  somit  energischer  Lichteinwirkung  aussetzt ,  so  erscheint  sie  ge- 
wöhnlich als  eine  voUkommen  homogene  Plasmakugel  von  0,03 — 0,04 
Mm.  Durchmesser.  Nach  einiger  Zeit  beginnt  sich  diese  Kugel  langsam 
abzuflachen  ;  ihr  Durchmesser  nimmt  zu  (bis  zu  0,06  Mm.)  und  gleich- 
zeitig wird  ihr  kreisrunder  Umriss  unregelmässig.  Bald  beginnt  dann 
an  einer,  bald  gleichzeitig  an  mehreren  Stellen  ein  stumpfer,  kegel- 
oder  warzenförmiger  Fortsatz  vorzutreten.  Indem  dieser  sich  verlän- 
gert, streckt,  und  einen  Theil  der  übrigen  Leibesmasse  nach  sich  zieht, 
geht  der  unregelmassig  rundliche  Umriss  in  einen  bimfDrmigen  über, 
oder,  wenn  mehrere  Pseudopodien  zugleich  vortreten,  in^ einen  stern- 
förmigen. Selten  waren  mehr  als  fünf  oder  sechs  warzenförmige  Fort- 
sätze im  Umkreise  des  scheibenförmig  abgeplatteten  Körpers  zu  sehen. 
Die  Fortsatze  oder  Pseudopodien  bleiben  immer  kurz  und  einfach. 
Höchstens  erreicht  ihre  Länge  ungefähr  den  Durchmesser  des  übrigen 
Körpers.  Niemals  verästeln  sie  sich ;  niemals  verschmelzen  zwei  be- 
nachbarte Pseudopodien  mit  einander  (Fig.  35,  S6).  Die  Bewegungen 
der  Protamoeba  primitiva,  das  Ausstrecken  und  Einziehen  der 
an  Zahl,  Form  und  Grösse  beständig  wechselnden,  obwohl  immer  ein- 
fachen Fortsätze  geschieht  sehr  langsam.  Sie  unterscheidet  sich  da- 
durch wesentlich  von  der,  von  Acbabach^)  beschriebenen  Amoeba 
1  i  m  a  X ,  welche  ihr  im  Uebrigen  von  allen  bekannten  Amoebenformen 
am  ähnlichsten  ist,  (abgesehen  natürlich  vom  Mangel  des  Kerns  und 
der  contractilen  Blase) .  i 

Der  ganze  Körper  der  Protamoeba  primitiva  ist  absolut  stnic- 
turios  und  homogen.  Namentlich  ist  eine  Differenzining  in  eine  dich- 
tere äussere  und  eine  weichere  innere  Sarcodemasse  nicht  vorhanden. 


1)  Auerbach,  (Jeber  die  Ginzeliigkeit  der  Amoeben.    Zeitscbr  für  wiss.  Zool. 
4856,  Vol.  VII,  p.  441,  Ttf.  XXII,  Flg.  41  — 46. 


106  Emt  Hidwl, 

Bei  den  meislen,  yielleicht  bei  allen  echten  Amoeben  ist  eine  solcbe 
Differeozining  wahrnehmbar.   Man  kann  gewöhnlich  leidii  die  feslere, 
äussere,  homogene,  nicht  kömige  Rindenschicht  (Ectosark)  von  dem 
dünner    flüssigen ,    körnchenreichen   Innenparenchy m    (Endosark) 
unterscheiden.    Bald  gehen  diese  beiden  Schichten  unmerklich  in  ein— 
ander  über,  indem  das  Ectosark  schichten  weise  nach  innen  immer 
weicher  und  flüssiger  wird ;  bald  erscheinen  beide  ziemlich  scharf  ge- 
schieden, so  dass  man  selbst  die  äussere  als  Membran  bezeichnen  kann 
(Aueuach)  .  Bei  den  Protamoeben  ist  von  dieser  Sonderung  des  Plasma 
in  Ectosark  und  Endosark  durchaus  Nichts  wahrzunehmen ,  auch  hidit 
bei  der  Behandlung  mit  chemischen  Reagentien.    Der  ganze  Leib  ist 
vielmehr  aus  einer  und  derselben  gleichartigen  Substanz  gebildet,  weldie 
ziemlidi  zähflüssig  und  dicht  ist,  und  die  gewöhnlichen  mikrochemischen 
Reactionen  des  Eiweisses  (Plasma)  liefert. 

Bei  einigen  Protamoeben  ist  die  Sarcodemasse  des  Körpers  ganz 
klar  und  hyalin,  bei  anderen  dagegen  durch  eine  grössere  oder  gerin- 
gere Anzahl  von  farblosen,  dunkeln ,  fettglänzenden  Körnchen  getrübt, 
welche  in  Essigsäure  unlöslich  sind.  Die  meisten  dieser  Körnchen  sind 
sehr  fein ,  wenige  gröber  und  von  messbarer  Dicke.  Die  wechselnde 
Zahl  und  Grösse  der  Körnchen ,  der  völlige  Mangel  bei  den  einen,  der 
Ueberfluss  daran  bei  den  andern  Individuen  ist  wahrscheinlich,  wie  bei 
den  übrigen  Moneren  und  bei  den  Rhizopoden ,  von  dem  Stofiwechsel, 
von  der  grösseren  oder  geringeren  Menge  der  aufgenommenen  Nahrung 
und  der  assimilirten  Bestandtheile  abhängig. 

Die  Nahrungsaufnahme  unmittelbar  durch  die  Pseudopodien  zu  be- 
obachten, gelang  mir  bei  Protamoeba  nicht.  Dagegen  konnte  ich 
experimentell  das  Eindringen  fester  Körperchen  in  ihren  homogenen 
Sarcodeleib  nachweisen,  indem  ich' ein  wenig  sehr  fein  zertbeilten  Indigo 
debo  umgebenden  Wasser  zusetzte.  Einige  Stunden  später  hatten  zahl- 
reiche Protamoeben  einzelne  oder  mehrere  Indigokömchen  in  ihr  Inne- 
res aufgenommen.  Wahrscheinlich  waren  auch  die  oben  erwähnten 
feinen  Körnchen,  wenigstens  zum  Theil,  ebenso  aus  dem  umgebenden 
feinen  Schlamm  in  das  Innere  des  Körpers  eingedrungen.  Jedenfalls 
erfolgt  die  Aufnahme  dieser  festen  Körperchen  ebenso  wie  bei  den  eoh* 
ten  Amoeben  und  wie  bei  den  amoebenartigen  Blutzellen  der  Thiere, 
vermittelst  der  eigenthttmlichen  Bewegung  der  Pseudopodien,  ohne  dass 
irgend  eine  bleibende  Oeflhung  oder  Höhlung  in  der  soliden  Schleim- 
masse des  Körpers  vorhanden  wäre. 

Schon  als  ich  1863  die  Protamoeba  zum  ersten  Male  beobach- 
tete, schloss  ich  auf  eine  einfache  Vermehrung  derselben  durch  Thei- 
lung,  da  die  Zahl  der  in  einem  kleinen  Gläschen  gehaltenen  Individuen 


MoDOgF«|ikie  d«r  MoDe;te.  107 

innerhalb  weniger  Tage  sich  auffallend  vermehrte,  ohne  dass  irgend 
welche  Yerinderungen  oder  der  Uebergang  in  einen  Ruhezustand  an 
diesen  einfachsten  Of^nismen  wäre  zu  beobachten  gewesen.    Als  ich 
zwei  Jahre  später  in  demselben  Gewässer  bei  Jena  die  Protamoeba 
nochmals  fand,'  versuchte  ich  durch  anhaltende  Beobachtung  einzelner 
Individuen  die  Art  und  Weise  der  Vermehrung  unmittelbar  festzustel- 
len, und  dies  gelang  in  der  That.    Mehrere  Protamoeben  zeigten  in 
der  Mitte  ihres  Körpers  eine  flachere  oder  tiefere  Einschnürung,  so  dass 
derselbe  mehr  oder  weniger  biscuitfdrmig  wurde  (Fig.  97) .  Die  Einschnü- 
rung blieb  dauernd,  unbt^schadet  der  Formveränderungen,  welche  jede 
der  beiden  Körperhälften  ausführte;  sie  wurde  zusehends  tiefer  (Fig. 
28,  29).  Endlich  gelang  es  mir  bei  zwei  Individuen,  welche  ich  lange 
Zeit  andauernd  verfolgt  hatte ,  den  wirklichen  Dnrchbruch  der  einge- 
schnürten Stelle  und  die  völlige  Trennung  der  beiden  Theilungshälften 
unmittelbar  zu  constatiren  (Fig.  30  A,  fi).  Jede  Hälfte  rundete  sich  als- 
bald ab  und  setzte  dann  die  früheren  langsamen  Bewegungen  ununter- 
brochen fort.  Es  war  also  nun  hier  bei  der  Protamoeba  die  einfachste 
Form  der  ungeschlechtlichen  Fortpflanzung,  die  durch  Theilung,  consta- 
iirt,  und  zwar  ohne  dass  ein  Ruhezustand,  eingetreten  wäre.    Offenbar 
durften  gleiche  Moneren ,  wie  die  Protamoeba  primitiva,  beider 
Hypothese  der  Archigonie  oder  Urzeugung  in  erster  Linie  in  Betracht  zu 
ziehen  sein. 

III.     Bemerkungen  zur  Protoplasma-Theorie. 

Die  so  eben  beschriebenen  Moneren,  Protomyxa,  Myxastrum, 
Myxodictyum,  Protamoeba,  ebenso  der  früher  (l.  c.)  von  mir  be- 
schriebene Protogenes,  und  die  von  GnivKOirBii  beobachteten  Pro- 
tom onas  und  Vampyrella  stimmen  sSlmmtlich  darin  überein,  dass 
ihr  gesammter  Körper  im  vollkommen  ausgebildeten  und  frei  beweg- 
lichen Zustande  aus  einer  vollkommen  structurlosen ,  durch  und  durch 
homogenen  Substanz  besteht.  Diese  Substanz  zeigt  in  jeder  chemischen 
und  physikalischen  Beziehung  die  Eigenschaften  einer  festflüssigen 
Kohlenstoffverbindung  aus  der  Gruppe  der  Albumine  oder  Eiweiss^ 
körper  (Proteine) .  Sie  ist  identisch  mit  der  Substanz,  welche  als  PI  a  sm  a 
oder  Protoplasma  den  contractilen  lebendigen  Körper  aller  organischen 
Piastiden,  aller  Zellen  und  Cytoden  von  Thieren,  Protisten  und  Pflanzen 
bildet.  Zum  Unterschiede  von  dem  eingekapselten ,  in  Zellmembranen 
oder  Cytodenschlduche  eingeschlossenen  Protoplasma  kann  man  das 
freie,  ohne  .'  rhützende  Hülle  mit  der  umgebenden  Aussenwelt  in  Be- 
rührung stehende  Plasma  mit  dem  von  Dojaumii  dafür  gebrauchten 


108  .   Ernst  Htokel, 

Namen  Sarcode  belegen.  Nur  darf  man  dann  nicht  vergessen ,  dass 
die  nackte  Sarcode  wesentlich  dieselben  Eigenschaften  besitzt,  wie  das 
umhttllte  Protoplasma ,  und  dass  zum  Beispiel  bei  den  oben  beschrie- 
benen Protomyxen  und  Myxastren,  und  ebenso  bei  den  Protomonaden 
und  Vampyrellen  die  Sarcode  in  Protoplasma  umgetauft  werden  muss, 
sobald  sich  jene  Moneren  encystiren  und  mit  einer  Hullmembran  um- 
geben, sobald  die  Gymnoplastiden  in  Lepoplastiden  übergehen. 

In  der  unbestreitbaren  Thatsache,  dass  bei  den  oben  erwähnten 
Organismen  wirklich  der  ganze  Körper  (in  vollkommen  ausgebil- 
detem Zustande!)  einzig  und  allein  aus  festflüssigem  struc- 
turlosem  Protoplasma  besteht,  und  dass  diese  einzige  homo- 
gene Materie,  als  das  active  Substrat  aller  Lebensbewegung,  ohne  Mit- 
wirkung anderer  Theile,  alle  wesentlichen  Lebensthätigkeiten :  Ernäh- 
rung und  Fortpflanzung,  Bew^egung  und  Reizbarkeit,  vollzieht,  erblicke 
ich  Grund  genug  zu  dem  in  meiner  generellen  Morphologie^gethanen 
Schrilt,  diese  Organismen  als  Moneren  allen  übrigen  entgegenzustellen. 
Denn  offenbar  stehen  dieselben  unter  allen  Organismen  auf  der  tiefsten 
Stufe,  und  stellen  nicht  nur  den  thatsächlich  einfachsten,  sondern  auch 
den  denkbar  einfachsten  Zustand  der  selbststdndig  lebenden  Materie 
dar.  Wie  nun  aber  einerseits  diese  merkwürdigen  Moneren  an  sich 
vom  höchsten  Interesse  sind,  so  verdienen  sie  andrerseits  die  allge- 
meinste Theilnahme  durch  die  unschätzbare  Bedeutung ,  welche  sie  für 
eine  mechanische  Erklärung  der  Lebenserscheinungen,  und  für  eine 
monistische  Erklärung  der  gesammten  organischen  Natur  überhaupt 
besitzen. 

Als  eine  der  grössten  und  folgenreichsten  Errungenschaften  der 
neueren  Biologie  darf  wohl  die  Protoplasma theorie  oder  Sar- 
codetheorie bezeichnet  werden,  die  Lehre,  dass  der  eiweissartige 
Inhalt  der  thierischen  und  pflanzlichen  Zellen,  (oder  richtiger  ihr  » Zell- 
stoff a)  und  die  frei  bewegliche  Sarcode  der  Rhizopoden,  Myxomyceten, 
Protoplasten  etc.  identisch  sind,  und  dass  hier  wie  dort  diese  Albumin- 
materie das  ursprüngliche  active  Substrat  aller  Lebenserscheinungen  ist. 

Nachdem  diese  Lehre  in  ihren  Grundzügen  schon  1 850  von  CoHk i) 
und  1855  von  Ungbr^j  angedeutet  wurde,  ist  sie  von  Max  Schultzs 
4  858  weiter  ausgeführt  und  endlich  1860  vollständig  begründet  worden.') 


4 )  F.  CoBv ,  Nachträge  zur  Naturgeschichte  des  Protococcuspluvialis. 
Nova  Acta  Ac.  Leop.  Card.  Vol.  XXII,  pars  2,  p   605.  4850. 

2)  Unger,  AnatoiDie  und  Physiologie  der  Pflanzen  4855.  (p.  280,  «82). 

8)  Max  Schültze,  nOeber  innere  Bewegangs- Erscheinungen  bei  Diatomeen,« 
in  Mttller'8  Archiv,  4858,  p.  380.     . 


MonognqpUe  der  Moneieii.  4  09 

Ich  selbst  war  seil  einer  Reihe  von  Jahren  bemüht ,  durch  zahlreiche 
Beobachtungen  diese  Theorie  zu  stützen  und  zu  erweitern.^)  Durch 
keine  Erscheinungep.  wfrd  die  Richtigkeit  dieser  Theorie  in  so  hohem 
Maasse  und  zugleich  auf  eine  so  einfache  und  unwiderlegliche  Art  be^ 
wiesen,  als  durch  die  Lebenserscheinungen  der  Moneren,  durch  die 
Vorgänge  ihrer  Ernährung  und  Fortpflanzung ,.  Reizbarkeit  und  Bewe* 
gung,  welche  sümmtlich  von  einer  und  derselben  einfachsten  Substanz, 
einem  wahren  » Uhrschleime  a  ausgehen. 

Die  Protoplasmatheorie  dürfte  heutzutage  beinahe  als  allgemein 
anerkannt  angesehen  werden,  wenn  nicht  seit  sechs  Jahren  von 
ei  nei»  Seile  her  bestündig  energischer  Widerspruch  gegen  diese  »Irr- 
lehre« erhoben  worden  wäre.  Da  keinerlei  irgend  beweiskräftige 
Gründe  gegen  dieselbe  jenen  Widerspruch  rechtfertigen,  so  würden 
wir  denselben  hier  auf  sich  beruhen  lassen,  wenn  nicht  die  äus^serliche 
Autorität  seines  Trägers  ihm  eine  scheinbare  Bedeutung  beilegte,  und 
wenn  nicht  zufiülig,  gerade  während  ich  dieses  schreibe,  eine  ausführ- 
lidie  Abhandlung  zur  vollständigen  Widerlegung  der  »Irrlehre  von  der 
Sarcode  ft  veröffentlicht  würde. 

Der  Berliner  Professor  der  menschlichen  Anatomie,  Rsicbbet,  wel-^ 
eher  1858  durch  einen  wunderlichen  Zufall  zum  Nachfolger  des 
unsterblichen  Jobannbs  Mubllbr  berufen  wurde,  versuchte  seit  i  8()2  in 
einer  Reihe  von  Aufsätzen  nicht  allein  die  Protoplasmatheorie  umzu- 
stürzen, sondern  auch  alle  dieselbe  stützenden  bisherigen  Beobachtungen 
über  die  Sarcodebewegung  der  Rhizopoden  als  grobe  Irrthümer  nach- 
zuweisen. Die  Strömungen  der  Proloplasmafäden  sollten  Contractions- 
wellen  solider  Fasern  untl  die  von  der  Strömung  fortgeführten  Körn- 
chen sollten  »hüpfende  Schlingen «  jener  Fasern  sein.  Verästelung  und 
Anastomosenbildung  der  Pseudopodien  sollten  niemals  vorkommen, 
sondern  nur  als  »wunderbar  mikroskopische  Trugbilder  die  Phantasie 
der  Beobachter  ergötzt«  haben  u.  s.  w. 

Diese  seltsamen  Behauptungen^urden  von  Rmcbbrt  mit  der  gross* 
ien  Bestimmtheit  aufgestellt,  nachdem  derselbe  kaum  einige  Wochen 


Max  SchultzBi  Ueber  Cornu'spira  (Archiv  für  Nalurgesch.  4860,  p.  987). 

Derselbe,  Ueber  Muskelkörperohen  ond  das  was  man  eioe  Zelle  zu  neanea 
habe.    Reichert  uod  Da  BoiS'Reymood's  Archiv,  4864.  p.  4. 

Derselbe,  Das  Protoplasma  der  RhizopodeD  und  der  Pflanzenzellen.  Leipzig, 
4  863 

4^  Einst  Haickil,  Uoaographie  der  Radiolarieii.  Berlin,  486i    p.  88—4  46. 

Derselbe,  Ueber  den  Sarcodekttrper  der  Rbiiopoden,  in  Zeiiscbr.  für  wissen- 
scbafU.  Zool.  XV.  Bd.,  4869.  p.  842,  Taf.  XXVI. 

Derselbe,  Generelle  Morphologie  der  Organismen,  Vol   I,  p.  i60 — tSO. 


110  Ernst  HIdiel, 

hindurch  in  Triest  »eine  nichl  näher  bestimmte  Species  von  Milioia 
und  Rolalia«  untersucht  halte.  Und  darauf  hin  erklärte  derselbe, 
dass  alte  bisherigen  Beobachter  der  Bhizopoden  sich  betreffs  deren 
Organisation  im  gröbsten  Irrlhum  befunden  hätten!  Unter  diesen  Beob- 
achtern befinden  sich  in  erster  Linie  Dujirdin,  Max  Schultzi,  Huxliy, 
GLAPARtoB,  Krohit,  JoHANNBS  MÜLLER,  Ndturforscbcr  von  anerkanntem 
Ruf,  welche  sich  mit  der  Beobachtung  der  Bhizopoden  monaielang, 
zum  Theil  jahrelang  beschäftigt  hatten.  Und  diese  alle  sollen  also 
»durch  ein  wunderbares  NaturspieU  auf  das  Gröbste  getäuscht  seina! 

In  meinem  Aufsatze  »über  den  Sarcodekörper  der  Bhizopoden« 
habe  ich  die  vollständige  Nichtigkeit  von  Rbichert's  Behauptungen  und  die 
Verkehrtheit  seiner  Darstellungen  klar  dargelegt  und  zugleicdi  die  hi- 
storischen Verhältnisse  dieses  seitsamen  Conflictes  auseinander  gesetzt,  ^j 
Indessen  hat  sich  dadurch  Bbighert  nicht  abschrecken  lassen,  seine 
Publicationen  Über  diesen  Gegenstand  fortzusetzen,  und  in  einem  Auf- 
satze ȟber  die  contractile  Substanz a  in  eigenthttmlicher  Weise  zu 
metamorphosiren.  ^}  Durch  welche  Verstösse  und  Verdrehungen  sieb 
diese  angebliche  Bechtfertigung  (in  der  That  aber  Umgestaltung)  seiner 
früheren  Ansichten  auszeichnet,  hat  bereits  Max  Schultze  in  seinem 
Aufsatze  »Reichert  und  die  Gremien o  gezeigt.') 

Soeben  erscheint  nun  eine  umfangreiche  Abhandlung  von   Rbi- 
CBBBT   ȟber  die  contractile  Substanz  (Sarcode,  Protoplasma) 
und  ihre  Bewegungs-Erscheinungend,^)  welche  die  letzter- 
wähnte Publica  tion  weiter  ausführt,  und  welche  zu  den  erstaunlichsten  Er- 
zeugnissen der  neueren  zoologischen  Literatur  gehört.    Man  glaubt  sich 
beim  Lesen  derselben  ungefähr  um  ein  halbes  Jahrhundert  zurückver- 
setzt.   Unter  Anderen   werden  den  Coelenteraten  die  Epithelialzellen 
abgesprochen  und  die  beiden  epithelialen  Bildungshäute  (Ectodenn  und 
Bntoderm]  aus  denen  nach   den   übereinstimmenden  Beobachtungen 
aller  neueren  Naturforscher  die  Coelenteraten  sich  entwickeln,  rund- 
weg geleugnet!   Sodann  wird  noch  immer  mit  der  grössten  Hartnäckig- 
keit die  Existenz  von  nackten,  membranlosen  Zellen  geleugnet,  obwohl 
nun  schon  seit  vielen  Jahren   so  zahlreiche  Beobachtungen  jene  be- 
strittene Existenz  bezeugen,   dass  der  nackte  (kernhaltige)    Plasma- 
kiiunpen  als  dei*  ursprüngliche  Zustand  der  allermeisten  Zellen  ange- 
sehen  werden  kann  und  die  Membran  immer  erst  als  seeundäre  Bildung 


4)  Zeitschrift  für  wisseusch.  Zool.  Bd.  XV,  4S«5,  p.  tk%. 

t)  Monatsberichte  der  Berlio.  Alcad.  4S«5,  p.  404. 

8)  Max  Schultze,  Archiv  für  mtkrosk.  Anat  Vol.  II,  IS66,  p.  440. 

4)  Abfaandl.  der  Berlin.  Aked.  4867,  p.  454^293. 


Monographie  4er  Mönem.  111 

erscheint.  Ferner  ist  dazwischen  vop  »kieselformigen  Geschöpfen« 
(wahrscheinlich  Diatomeen?]  die  Rede^)  u.  s.  w.  Alle  diese  Ungeheu- 
erlichkeilen  berühren  tu»  hier  nieht,  wohl  aber  die  Art  und  Weise,  in 
welcher  Rbichbrt  das  Haupithema  behandelt  und  die  Sarcodetheorie 
verdreht;  diesa'  verlangt  hier  nothwendig  eine  entschiedene  Abferti- 
gung. Ich  will  mich  dabei  möglichst  kurz  fassen  und  die  Hauptpuncte 
des  Stroilies  in  den  Vordergrund  stellen. 

In  seinen  oben  erwähnten  Aufsätzen,  welche  »die  Irrlehre  von  der 
Sarcode  klar  und  unzweideutig  an  den  Tag  legen«  sollten,  concentrirte 
RKiGHsaT  unter  den  mannichfaltigsten  Wendungen  seinen  vernichten- 
den  Angriff  in  folgenden  Behauptungen:  1)die  Pseudopodien  sind  so- 
lide contractile  Faden ,  welche  sich  niemals  verästeln ,  9)  diese  Fäden 
verschmelzen  niemals  mit  einander  durch  wahre  Anastomosen  ,  3) 
daher  können  auch  niemals  die  Fäden  durch  häutige  Platten  verbunden 
werden,  4j  die  Kömchen  auf  den  Pseudopodien  sind  »Schlingen,  wdche 
unter  dem  Bilde  eines  Korns  auf  der  Oberfläche  der  Fäden  hinhttpfen.« 
Vergleichen  wir  nun  diese  einzelnen  Behauptungen  mit  seiner  neuesten 
ausführlichen  Arbeit,  weiche  jene  in  allen  Puncten  bestätigen  soll. 

i)  Die  Verästelung  der  Pseudopodien.  Nach  Rbichbat^s 
früheren  Behauptungen  kommt  diese  niemals  vor  und  die  schein- 
bare  Verästelung  soll  «durch  Auf-  und  Ablösung  eines  Bündels  von  Pseu- 
dopodien« entstehen.  Jetzt  behauptet  derselbe  das  Gegentheil,  dass 
nämlich  wirkliche  Verästelung  der  Pseudopodien  vorkommt, 
welche  durch  eine  Gontractionsbewegung  bewirkt  werde! ! 

2;  Die  Verschmelzung  der  Pseudopodien.  Nach  Rn- 
cbsbt's  früheren  Behauptungen  kommt  diese  niemals  vor,  und  die 
scheinbare  Verschmelzung  soll  durch  Aneinanderlagerung  frei  ge- 
wordener Fäden  oder  scheinbarer  Aeste  entstehen.  Jetzt  behauptet 
derselbe  das  Gegentheil,  dass  nämlich  wirkliche  Verschmelzung 
der  Pseudopodien  vorkommt,  indem  die  Pseudopodien  »selbst  in  kür- 
zererZeit  mit  gleichartigen  Theilen  unter  dem  Scheine  des  Zusammen- 
fliessens  verwachsen«!! 

3)  Die  Plattenbildung  der  Pseudopodien.  Nach  Rbi- 
cbbet's  früheren  Behauptungen  kommt  diese  niemals  vor,  und  die 
scheinbare  Bildung  der  schwimmhautähnlichen  ^arcodepiatten  an 
den  anaston^osirenden  Pseudopodien  soll  dadurch  entstehen,  »dass  bei 
den  unter  einem  spitzen  Winkel  gekreuzten  und  einander  genäherten 


4)  EbeDSogut  als  voD  Bkieselförmigen  G^^schöpfen«  Icöonte  mao  auch 
vou  einem  »schwef elf Ö  rm igen  Reichert«  reden I  Beide  Ausdrücke  wfireo 
gleich  siBBvoll  und  (Ur  den  klaren  Geist  des  Berliner  Aoatoroeo  bezeichnend. 


112  ''     £riist  HarM, 

Pseudopodien ,  oder  richtiger  Pseudopodien -Bündeln  einzelne  in  ihnen 
enthaltene  Fäden  aus  ihrer  Lage  gerückt  und  in  dem  Winkel  zur  Bil- 
dung einer  scheinbaren  Plalte  zusainmengesehoben  werden,  a  Jetzt 
behauptet  derselbe  das  Gegentheil,  dass  nömlieh  wirkliche  Plat- 
tenbildung der  Pseudopodien  vorkommt,  und  dass  die  »häutigen  Platten 
der  contractilen  Substanz  in  das  Sarcodenetz  dadurch  eingeschoben 
werden ,  dass  eine  Portion  contractiler  Substanz,  aus  welcher  Pseudo- 
podien entwickelt  sind ,  die  Verbindung  mit  dem  übrigen  Theile  der 
contractilen  Rindenschicht  nur  durch  einen  feinen  pseudopodienartigen 
Faden  unterhält.«  I ! 

4j  Die  kornchenströmung  der  Pseudopodien.  Nach 
Rbicbbrt's  früheren  Behauptungen  existiren  gar  keine  Körnchen  in  der 
Sarcode,  und  die  scheinbaren  Kömchen  soUen  »hüpfende  Schlingen 
der  Fäden  seinol  Jetzt  behai^tet  derselbe  das  Ge gentheil,  dass 
nämlich  wirk  liehe  Körnchen  neben  den  scheinbaren  vorkommen, 
und  dass  diese  letzteren  »kleinste  warzenartige  Erhebungen  der  con- 
tractilen Substanz  sind.«  Wie  Max  Sghultzb  schon  1 866  voraussagte, 
hat  also  nun  wirklich  die  von  Reichert  in  Aussicht  gestellte  Entdeckung 
der  wirklichen  Körnchen ,  die  allen  Beobachtern  der  Rhizopoden  seit 
mehr  als  dreissig  Jahren  bekannt  sind,  stattgefunden  1 1 

Wie  man  sieht,  sind  Reichert's  neueste  Darstellungen  in 
allen  Hauptpuncten  genau  das  Gegen theil  seiner  frühe- 
ren Behauptungen.  Diess  hindert  ihn  jedoch  nicht,  ganz  naiv  gleich 
im  Eingange  seiner  Abhandlung  zu  behaupten,  dass  er  jetzt  für  jene  die 
ausführlichen  Beweise  bringe,  und  dass  er  damit  die  Sarcodetheorie, 
»welche  wie  ein  Alpdrücken  jahrelang  auf  vielen  und  namhaften  Natur- 
forschern gelastet  hata,  vollständig  vernichtet  habe.  In  der  That,  man 
weiss  nicht,  worüber  man  in  dieser  Abhandlung  mehr  erstaunen  soll, 
über  die  unglaubliche  Unkenntniss  einer  Masse  von  längst  bekannten 
und  allgemein  anerkannten  Tbatsachen,  oder  über  die  absichtliche  Miss- 
deutung und  Verdrehung  der  klarsten  Verhältnisse,  oder  über  die 
dreiste  Sophistik,  mit  welcher  die  Sachlage  des  Streites  geradezu  auf 
den  Kopf  gestellt  wird ,  und  mit  der  der  Verfasser  sich  den  Anschein 
giebt,  endlich  die  Thatsachen  entdeckt  zu  haben,  welche  er  früher 
allen  übrigen  Beobachtern  gegenüber  auf  das  Hartnäckigste  leugnete ! 
Für  das  inductive  logische  Schlussverfahren  Reichert's  ist  vielleicht 
Nichts  bezeichnender,  als  dass  seine  sämmtlichen  neuen  Beobachtungen, 
durch  die  er  angeblich  die  Sarcodetheorie  vernichten  will  (in 
der  That  aber  sie  adoptirt!)  auf  eine  einzige  Monothalamie 
(Gromia  oviformis]  sich  beziehen,  und  dass  er  dadurch  allein  die 
gleiche  Beschaffenheit  für  sämmtliche  Polythalamien  nachgewiesen 


^rjX. 


MoDognpbie  der  Sloni>r)M(.  1 1 3 

haben  will !  Es  wäre  ganz  eben  so  logisch,  wenn  Rbichbrt  behauptete, 
dass  sämmtliche  Polythalainien  eine  einkammerige  (nicht  viel- 
kammerige]  Schale  besiteen ;  denn  G r o m i a  (eine  Monothalamie] 
besitzt  offenbar  eine/ein  kammerige  Schale!  Man  könnte  auch  eben 
so  gut  und  mit  /dem  gleichen  Rechte  behaupten ,  dass  allen  placentalen 
Säugethieren.  die  Placenta  fehlt.  Denn  die  Beutelthiere  haben  keine 
PlacenUf  und  sind  doch  auch  Säugethiere  I 

Es  wärde  nicht  der  Mühe  lohnen,  Rbighebt's  neuestem  Machwerke 
hier  so  viele  Zeilen  zu  widmen,  wenn  nicht  zwei  Umstände  diese  ener- 
gische Verwahrung  dringend  erheischten.  Die  Meisten  werden  geneigt 
sein,  die  verworrene  Darstellung  und  die  offenbaren  Widersprüche  der 
REicHEET'schen  Publicationen  einfach  einer  intellectuellen  Rückbildung 
desselben  zuzuschreiben.  Wenn  bloss  senile  Degeneration  seines  Ge- 
hirns die  wirkende  Ursache  wäre,  würde  man  Mitleid  und  Schonung 
mit  ihm  haben  müssen.  Diess  ist  aber  keineswegs  der  Fall.  Vielmehr 
geht  durch  die  ganze  Schrift  die  dreisteste  sophistische  Verdrehung 
der  Thatsachen,  und  die  sichtlichste  Unwahrhaftigkeit  hin- 
durch. Nachdem  Rbichbrt  eingesehen,  in  welchen  Sumpf  er  durch 
seine  ersten  Mittheilungen  über  die  Sarcode-Bewegung  etc.  gerathen, 
sucht  er  sich  dadurch  herauszuziehen,  dass  er  den  von  Anderen  längst 
dargestellten  wahren  Sachverhalt  in  neuen  möglichst  dunkeln  Wen- 
dungen und  schwer  fasslichen  Ausdrücken  wiedergiebt,  und  ihn  als 
seine  neue  Entdeckung  preist.  Dabei  scheut  er  sich  z.  B.  nicht,  gleich 
in  einem  der  ersten  Sätze  scheinbar  Jobanubs  Müller  als  Zeugen  für 
seine  Darstellung  aufzurufen  (p.  4  54 ) ,  obgleich  bekanntermassen  die 
Beobachtungen  und  Anschauungen  JoHAintBS  Müllbr's  über  den  Sarcode- 
körper der  Polythalamien  und  Radiolarien  vollkommen  mit  denjenigen 
aller  übrigen  Autoren  seit  Düjarbin  übereinstimmen ! 

Der  zweite  Punct,  gegen  welchen  von  vornherein  entschiedener 
Protest  eingelegt  werden  muss,  ist  Rbicbbrt^s  Darstellung  von  dem 
» Sarcodekörper «  der  Hydromedusen,  insbesondere  der  Hydroidpo- 
lypen.  Nachdem  Rbichbrt  mit  seinen  Untersuchungen  auf  dem  Gebiet  der 
Rhizopoden  so  kläglich  Schiffbruch  gelitten ,  flüchtet  er  sich  auf  das 
Gebiet  der  Hydromedusen  hinüber,  und  versucht  hier  gleiche  Verwir- 
rung anzurichten.  Es  klingt  fast  unglaublich,  dass  Rbichbrt  hier 
nicht  einmal  im  Stande  ist ,  die  einfachsten ,  längst  bekannten  und 
jederzeit  augenblicklich  zu  demonstrirenden  Structurverhältnisse 
wahrzunehmen,  wie  z.  B.  die  beiden  epithelialen  Bildungshäute  (Ecto- 
derm  und  Entoderm) ,  oder  di^  Entwickelung  der  Nesselkapseln  in  Epi- 
thelialzellen.  Dies  hindert  ihn  jedoch  nicht,  gleich  auf  der  zweiten  Seite 
seiner  Untersuchungen  über  »Campanularien,  Sertularien  und  Hydriden« 

Band  IV.   1.  8 


114  ErDsi  Hilekel, 

die  ganze  bisherige  anatomische  Erkenntniss  des  Hydroiden-Organis- 
raus  für  einen  grossen  Irrthum  zu  erklären  und  auf  Grund  seiner  un- 
glaublich oberflächlichen  Untersuchung  einigw.Hjdroid-Polypen  folgen- 
den Salz  auszusprechen :  »Weder  die  üebereinstitnmung  im  einfachen 
Uohlkörperbau  des  Organismus  und  wohl  noch  weniger,  der  gleichartige 
äussere  Habitus  und  eine  gleichartige  Bildung  der  In^ividuenstöcke 
dtlrften  unter  solchen  Umständen  die  von  Lbugkart  aufgestellte  Thier- 
klasse  der  C  o  eleu  t  er  ata  in  ihrer  gegenwärtigen  Fassung  zu  hatten 
im  Stande  sein«!  I  Sehr  weise  setzt  Reichert  dann  gleich  den  Satz 
hinzu:  »Ich  muss  mich  des  Versuchs  enthalten,  die  Grenzen  auch  nur 
anzudeuten,  innerhalb  welcher  voraussichtlich  die  Sonderung  dieser 
Thierklasse  sich  vollziehen  werde« 1 1 

Der  weitere  Verlauf  von  Reighbrt^s  Coelenteraten-Studien  lässt  sich  • 
nach  diesem  hübschen  Anfange  und  nach  Analogie  der  Polythalamien- 
Studien  bereits  im  Voraus  bezeichnen.  Die  Monatsberichte  und  Ab- 
handlungen  der  Berliner  Akademie  werden  eine  Reihe  von  Aufsätzen 
bringen ,  in  denen  zunächst  alle  bisherigen  Beobachter  der  Coelente- 
raten  als  unfähige  und  im  gröbsten  Irrthum  begriffene  Beobachter  dar- 
gestellt werden ,  deren  » Phantasie  durch  ein  wunderbar  mikroskopi- 
sches Trugbild  irre  geleitet  ist.a  Dann  zeigt  Reichert,  wie  sich  Alles 
ganz  Anders  verhält,  als  man  bisher  annahm,  nähert  sich  jedoch  all- 
mählich unter  dunkeln  und  versteckten  Wendungen  und  Windungen 
den  von  ihm  geradezu  bestrittenen  Darstellungen  und  reproducirt 
schliesslich  dieselben  im  neuen  Gewände  seiner  glücklicherweise  einzig 
dastehenden  individuellen  Ausdrucksweise.  Da  Reichert  bei  den  Poly- 
thalamien  sechs  Jahre  zu  diesem  Kreislauf  der  Vorstellungen  brauchte, 
wird  er  vermuthlich  bei  den  Coelenteraten,  deren  wirkliche  Structur 
viel  allgemeiner  anerkannt  ist,  mindestens  zwölf  Jahre  nötbig  haben, 
um  die  »Irrthümera  der  anderen  Naturforscher  schliesslich  als  seine 
Entdeckungen  auf  den  Markt  zu  bringen.  Sollte  Reichert  also  zum 
Heil  der  Wissenschaft  noch  bis  zum  Jahre  4  880  leben ,  so  würde  er 
dann  wahrscheinlich  zu  der  heute  bereits  allgemein  anerkannten  Vor- 
stellung vom  Bau  der  Coelenteraten  gelangt  seini  Zufällig  habe  ich 
mich  in  den  letzten  Jahren  anhaltend  mit  der  Untersuchung  der  feineren 
Structur  der  Ilydromedusen  beschäftigt ,  und  bin  daher  zu  dem  Aus- 
spruch berechtigt,  dass  fast  sämmüiche  neuen  Angaben  Rbichbrt^s  über 
den  Bau  der  Hydroiden  ebenso  verkehrt,  falsch  und  werthlos  sind,  wie 
seine  früheren  Angaben  über  den  Bau  der  Polythalamien. 

Man  verzeihe  die  Bitterkeit  dieser  Polemik  und  entschuldige  sie 
durch  den  gerechten  Ingrimm,  den  ich  als  dankbarer  Schüler  und 
waruier  Verehrer  des  grossen  Johannes  Müller  empfinden  muss ,  wenn 


f 

Monographie  der  Montren.  \  \  5 

ich  an  diese  inielleciuellen  und  moralischen  Functionen  seines  unmittel- 
baren Nachfolgers  denke./'  Wenn  durch  Johaxubs  Müller  innerhalb 
eines  Vierteljahrhui\rf©ris  der  anatomische  Lehrstuhl  der  Berliner  Uni** 
versität  über  alju  übrigen  erhoben  wurde,  ist  es  nun  seinem  Nachfolger 
gelungen,  innerhalb  eines  Decenniums  ihn  in  gleichem  Maasse  zu  ernie- 
drigen. Sa -Müller  die  lange  Reihe  seiner  glänzenden  Arbeiten  mit  den 
RhisHqpoden  geschlossen  hatte,  dachte  Reichert  wahrscheinlich,  er 
müsse  da  wieder  anfangen,  wo  sein  grosser  Voi*gänger  aufgehört  hatte, 
und  wurde  dabei  offenbar  von  der  Hoffnung  getragen ,  ihn  baldigst  zu 
überflügeln!  Mit  welchem  Erfolge  dies  geschah,  liegt  vor  den  Augen 
Aller,  welche  die  einschlagende  Literatur  kennen  und  die  Objecto  selbst 
in  der  Natur  beobachtet  haben ! 

Die  Protoplasmatheorie,  welche  ich  für  eine  der  ersten  und 
wichtigsten  Grundlagen  einer  wahrhaft  monistischen,  d.h.  mechanisch- 
causalen  Erkenntniss  der  organischen  Natur  halte,  darf  seit  dieser 
letzten  Wendung  ihrer  Geschichte  als  neu  befestigt  und  gekrilftigt  an- 
gesehen werden.  Die  Vernichtung  drohenden  Angriffe  ihres  Gegners 
sind  durch  denselben  allmUhlich  zu  Verdrehungen  und  zuletzt  zu  Be- 
stätigungen geworden.'  Für  die  wahre  Natur  der  Sarcode  aber,  als 
eines  wirklich  einfachen  und  structurlosen  »Lebenssloffes«,  dürfte  die 
Naturgeschichte  der  vorstehend  beschriebenen  Moneren  weitere  direcle 
Beweise  liefern. 

IV.     Begrenzung  des  Protistenreiches. 

Seitdem  Charles  Darwin  die  von  Jean  Lamarck  und  Wolfgang 
Goethe  begründete  Descendenz-Theorie  von  dem  Scheintode  oder 
richtiger  von  dem  Todtschweigen  eines  halben  Jahrhunderts  zu  neuem 
Leben  erweckt  und  durch  seine  Selections-Theorie  auf  ein  uner- 
schütterliches causal-mechanisches  Fundament  gestellt  hat,  ist  die  Auf- 
gabe der  ordnenden  Systematik  eine  ganz  andere  und  eine  unendlich 
höhere  geworden.  Bisher  war  in  den  Hunden  der  meisten  Zoologen  und 
Botaniker  die  Systematik  eine  wissenschaftliche  Spielerei,  welche  sieb 
an  der  Formenverwandtschaft  der  ähnlichen  Nalurkörper  ergötzte,  ohne 
an  ihre  wirkliche,  dieser  zu  Grunde  liegende  Blutsverwandtschaft  zu 
denken.  Die  Hauptbeschllfligung  der  meisten  systematisirenden  Natur- 
forscher bildeten  endlose  und  höchst  unnütze  Streitigkeiten  über  die 
Frage,  ob  diese  oder  jene  Thier-  oder  Pflanzenform  eine  )>gute((  oder 
»schlechte  Art«,  eine  Subspecics  oder  Variet^H,  ein  Subgenus  oder  Ge- 
nus sei,  ohne  dass  es  den  grübelnden  Gelehrten  dabei  eingefallen  wnre, 
sich  vorher  den  Umfang  und  den  Inhalt  dieser  Begriffe  klar  zu  machen. 

8* 


116  Ernst  HSekel, 

Jetzt  dagegen,  wo  die  Unhaltbarkeit  derselben  als  absoluter,  ihr  eigent- 
licher Werth  als  relativer  Begriffe  erkanlil;-v^o  die  » wirkende  Ursache « 
der  Formen  Verwandtschaft  in  der  »Blutsverwamk^chafta  entdeckt  ist, 
tritt  an  die  Systematik  die  ungleich  höhere ,  schwierigere  und  interes- 
santere Aufgabe,  durch  die  Aufstellung  des  »natürlichen.  Systems a  den 
Stammbaum,  die  Abstammungsverhältnisse  der  verwandtea  Gruppen 
hypothetisch  möglichst  annähernd  festzustellen. 

Nirgends  stösst  diese  Aufgabe  auf  grössere  Schwierigkeiten ,  als 
bei  den  niedrigsten  und  tiefststehenden  Organismen.  Es  ist  verhält- 
nissmässig  leicht,  den  Stammbaum  der  Wirbelthiere  mit  annähernder 
Sicherheit  festzustellen,  wenn  man  damit  die  ausserordentlichen  Schwie- 
rigkeiten vergleicht,  die  dem  Stammbaum  der  sogenannten  Protozoen 
sich  entgegenstellen.  Während  dort  überall  bestimmte,  hoch  und  viel- 
seitig differenzirte  Organsysteme  feste  Handhaben  darbieten,  ist  hier 
Nichts  von  solchen  Organsystemen  vorhanden.  Während  dort  längst 
eine  Anzahl  von  Klassen  und  Ordnungen  als  wirkliche  natürliche  Grup- 
pen anerkannt  sind,  kann  man  dies  hier  von  wenigen  Gruppen  behaup- 
ten.  Dort  ist  ein  zusammenhängendes  und  reiches  Material  durch  die 
Erfahrung  von  Jahrhunderten  angesammelt;  hier  sind  kaum  seit  ein 
paar  Jahrzehnten  lockere  Sammlungen  von  vereinzelten  Thatsachen  be- 
'  kannt  geworden.  Kein  Wunder  daher,  wenn  in  der  Systematik  jener 
niedrigsten  Organismen  noch  heute  die  grauenhafteste  Verwirrung 
herrscht,  und  Jeder  sich  sein  eigenes  System  macht. 

Ich  habe  in  meiner  generellen  Morphologie  den  Versuch  gemacht, 
in  dieses  systematische  Chaos  dadurch  einiges  Licht  zu  bringen,  dass 
ich  als  eine  besondere  Abtheilung  zwischen  echte  Thiere  und  echte 
Pflanzen  alle  jene  zweideutigen  Organismen  niedrigsten  Ranges  stellte, 
welche  weder  zu  jenen  noch  zu  diesen  unzweifelhafte  nähere  Beziehungen 
zeigen,  oder  thierische  und  pflanzliche  Charaktere  in  der  Weise  verei- 
nigt und  gemischt  besitzen,  dass  seit  ihrem  Bekanntwerden  ein  endloser 
Streit  über  ihre  SteUung  im  Thier-  oder  im  Pflanzenreich  geführt  wird. 
Offenbar  wird  dieser  Streit  am  einfachsten  dadurch  geschlichtet,  dass 
man  die  streitigen  und  zweifelhaften  Zwischenformen  vorläufig  (wenn 
auch  nur  provisorisch)  sowohl  von  den  echten  Thieren ,  als  von  den 
echten  Pflanzen  abtrennt  und  in  einem  besonderen  organischen  »Reiche« 
vereinigt.  Man  gewinnt  dadurch  den  Vortheil ,  sowohl  echte  Thiere  als 
echte  Pflanzen  durch  eine  klare  und  scharfe  Definition  bezeichnen  zu 
können ;  und  andererseits  wird  die  Aufmerksamkeit  den  bisher  so  ver- 
nachlässigten und  doch  so  äusserst  wichtigen  niedersten  Organismen  in 
besonderem  Maasse  zugewendet.  Ich  habe  jenes  zwischen  Thierreich  und 
Pflanzenreich  mitten  inne  stehende  und  zwischen  beiden  vermittelnde 


r 

Monographie  der  M^ren.  117 

Grenzgebiet  das  Protistenreich  genannt.     (Gen.  Morphol.  Yol.  I. 
p,  203;  Vol.  II,  p.  XX,  p.'WS). 

*  Natürlich  habe/ielf  durch  diese  Trennung  der  Protisten  einerseits 
von  den  Pflanzen^  andererseits  von  den  Thieren ,  keineswegs  eine  ab- 
solute und  dauernde  Scheidewand  zwischen  diesen  drei  organischen 
Reichen  Nffichten  wollen.  Vielmehr  halte  ich  es  für  sehr  wahrscheia-^ 
lichv^ass  sowohl  die  Thiere  als  die  Pflanzen  aus  den  Protisten ,  und 
zwar  ursprünglich  aus  einfachsten  Protisten ,  aus  Mo^neren ,  ihren  Ur-  « 
Sprung  genommen  haben.  (1.  c.  Vol.  II,  p.  XX.  p.  403,  Taf.  I).  Vor- 
läufig halte  ich  es  jedoch  aus  praktischen  Gründen  fttr  zweckmassig,  die 
Protisten  sowohl  von  den  Pflanzen  als  von  den  Thieren  im  Systeme 
ganz  zu  trennen. 

Inder  systematischen  Einleitung  zu  meiner  )»allgemeinenEntwicke- 
lungsgeschichte«  habe  ich  folgende  acht  natürliche  Hauptgruppen 
oder  »Stämme«  (Phylen)  von  Protisten  unterschieden: 

I.  leien«   Moneren. 

4.  Gymnomonera  (Protogenes,  Protamoeba  etc.) 
2.  Lepomonera  (Protomonas,  Vampyrella  etc.) 

II.  Prttoplasta.   Protoplasten. 

\.  Gymnamoebae  (Autamoeba,  Petalopus,  Nuclearia  etc.) 

2.  Lepamoebae  (Arcella,  Difflugia,  Euglypha  etc.) 

3.  Gregarinae  (Monocystidea  et  Polycystidea). 

ni.  Matesea.    Eieselzellen. 

IV.  flagellata.    Geisseischwärmer. 

(.  Nudiflagellata  (Euglena,  Spondylomorum  etc.) 
2.  Cilioflagellata  (Peridinium,  Geratium  etc.) 

V.  lyiMiyeetes.    Schleimpilze. 

VI.  HedOieae.    Meerleuchten. 

VU.  Ihhepeda.    Wurzelfüsser. 

\.  Acyttaria  (Monothalamia  et  Polythalamia). 

2.  Heliozoa  (Actinosphaerium  Eichhornii). 

3.  Radiolaria  (Monocyttaria  et  Polycyttaria). 

VIII.  Speagiae.    Schwämme. 

4.  Autospongiae. 
2.  Petrospongiae. 


118  ^rnst  Haekel, 

Seit  der  Unterscheidung  dieser  acht  ProUstengruppen  iai  eine  Sbeue 
Ginippe  von  Orgsrnismen  niedersten  Rangeriiekannt  geworden,  welche 
in  keine  Von  diesen  acht  Abiheiiungen  sich  ohne  SWv«^  einreihen  lasi^en, 
udd  welche  gleich  den  letsteren  eine  derartige  Mischung  von  tbieriscben 
und  pflanzlichen  Gharaktei*en  zeigen,  dasa  sie  ebenso  wenig. als  echte 
Pflanten,  wie  als  echte  Thiere  angeseheli  Werden  können.  S»i«ind  dies 
die  merkwt&rdigen  Labyrinthuleen  (Labyrinthula  vitellina^ 
/  V  L.  macrocystis),  welche  von  dem  uro  di^  Naturgeschichte  der  Pro- 

tisten hochverdienten  Cubnkowski  itn  Hafen  von  Odessa  entdeckt  worden 
sind.  ^)  Jedenfalls  müssen  dieselben  vorläufig  als  eine  ganz  besondere 
Protistengruppe  betrachtet  werden. 

Während  so  einerseits  das  Reich  der  Protisten  durch  die  Labyrin- 
thuleen um  eine  besondere  Klasse  vermehrt  wird,  so  dürfte  es  anderer- 
seits jetzt  hinreichend  begründet  sein,  eine  andere  Gruppe  von  Protisten 
aus  diesem  Reiche  zu  entfernen ,  und  als  entschiedene  Thiere  in  das 
Thierreich  zu  verweisen.  Dies  sind  die  Schwämme  oder  Spon- 
g  i  e  n ,  für  deren  Ihierische  Natur  in  neuester  Zeit  sehr  entschiedene 
morphologische  Indicien  entdeckt  worden  sind.  Bereits  seit  1 854  hat 
Lecgkart  ,  der  verdienstvolle  Begründer  des  Goelenteratenstammes ,  in 
seinem  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Zoologie  (im  Archiv  für 
Naturgeschichte)  die  Spongien  oder  Poriferra  mit  den  Coelenteraten 
vereinißt,  indem  er  das  Canalsystem  der  Schwämme  mit  dem  coelen- 
terischen  Gastrovascularapparat  der  echten  Coelenteraten  verglich. 

Im  vorigen  Winter  hat  mein  Schüler  und  Assistent,  Herr  Stud. 
Mklucdo-Maglay  aus  Petersburg,  während  unseres  Aufenthaltes  auf  der 
canarischen  Insel  Lanzarote  die  ausserordentlich  reidne  Sehwammfauna 
dieser  Küste  eingehend  untersucht,  und  wie  ich  mich  durch  eigenen 
Augenschein  überzeugt  habe ,  dabei  neue  Schwammformen  gefunden, 
deren  Anatomie  für  die  nähe  Ver\Vand(schaft  der  Spongien  mit  den  Coe- 
lenteraten weit  kräftigere  Beweisgründe  liefert,  als  wir  bisher  besassen. 
So  hat  namentlich  Herr  Miklugbo  einen  Kalkschwamm  (Guancha 
blanca)  entdeckt,  welcher  Sycon  und  Ute  nahe  steht,  dessen  ganzes 
Gefässsystem  aber  aus  einer  einfach^il  cylindrischen  Leibeshöhle,  einer 
verdauenden  Cavität,  wie  bei  den  einfachsten  üydrdiden  besteht.  Die 
sogenannten  Schornsteine  (Camini)  der  Spongien  sind  nicht  blos  Aus- 
strömungsöfTnungcn,  wie  man  bisher  annahm,  sondern  sie  dienen  auch 
zur  Aufnahme  von  Wasser  und  Nahrung.    Ihre  Oeflnung  nach  Aussen 


4)  L.  CiENKOwsKi,  Ueber  den  Bau  und  die  Entwickclung  der  Labyrinthuleen. 
Max  Schultze's  Archiv  für  mikrosk.  Anat.  Vol.  III.  1867.  p.  274.  Taf.  XV,  XVI, 
XVII. 


f 

r 

Monographie  der  Mqieren.  119 

isl  zugleich  Mund  und  After.  Mit  einesli  Wort ,  die  Schornsteine  sind 
den  Magenhohlen  der  Goeleitoraten  und  zunächst  der  Polypen  analog 
und  aller  WahrschoMfchkeit  nach  zugleich  homolog.  Die  von  den 
SelMymsteinen  ausgehenden  Ganäle  entsprechen  den  Ganälen,  welche 
sieh  im  Parencftym  vieler  Anihozoen  verzweigen.  Was  mir  aber  von 
dergrösstes^ichtigkeit  erscheint,  diese  Magenhöhle  zerfallt  bei  raeh- 
r^renr'&fawämmen  (Axinella  und  Anderen)  durch  radiale  Schei-* 
dewHndeinFächer  (von  verschiedener  oder  constanter  Zahl,  nament- 
licfaachtl),  und  dadurch  erscheint  der  ganze  Leib  des  Schwamm^ 
Individuums  ansein  er  bestimmten  Anzahl  von  Antimeren 

• 

zusammengesetzt.  Den  Mangel  der  Antimerenbildung  hatte  ich  aber 
bisher  für  einen  der  wichtigsten  morphologischen  Unterschiede  zwischen 
Spongien  und  Goelenteraten  gehalten.  Auch  durch  die  ähnliche  Art 
der  Stockbildung  u.  s.  w.  wird  die  nahe  Verwandtschaft  der  Spongien 
und  AnthoKoen  noch  wahrscheinlicher.  Kurz,  ich  halte  es  jetzt  für  das 
Richtigste,  nach  Leuckart's  Vorgang  die  Spongien  mit  den  Goelenteraten 
im  System  zu  vereinigen,  und  halte  daher  auch  einen  gemeinsamen  Ur- 
sprung beider  Gruppen  Ihr  sehr  wahrscheinlich.  Das  Phyhim  der  Goe- 
lenteraten  würde  demnach  in  zwei  Subphylen  zerfallen:  1.  Spon- 
giae  (Goelenteraten  ohne  Nesselorganej  4.  Petrospongiae. 
2.  Autospongiae.  II.  Acalephae^)  (Goelenteraten  mit  Nessel-^ 
Organen)  \,  Anthozoa.  S.  Archydrae.  3.  Hydromcdusae.  4.  Gteno- 
phora. 

Da  Herr  Miklvgho  seine  schönen  Beobachtungen  liber  Schwämme 
demnächst  veröflentlicben  und  die  Stammverwandtschaft  der  Spongien 
und  Acalephen  ausführlich  entwickeln  wird,  so  beschriinke  ich  mich  hier 
auf  diese  kurze  Mittheilung.')  Ich  habe  dieselbe  desshalb  hier  angeführt, 
weil  mir  durch  die  Entfernung  der  Spongien  von  den  übrigen  Protisten 
und  durch  ihre  Vereinigung  mit  den  echten  Thieren  ein  grosser  Gewinn 


4 )  Die  VOD  Aeistoteles  herrührende  Bezeichnung  Acalephae  oder  K n i d a e 
dürfle  für  die  echten  Goelenteraten  (nach  Ausschluss  der  Spongien)  die  passendste 
sein,  einerseits  weil  sie  bereits  deren  wichtigsten  Charakter,  den  Besitz  von  Nes- 
selorganen, ausspricht,  und  sodann,  weil  bereits  Aristoteles  unter  dieser  Be- 
zeichnung A\^  beiden  verschiedenen  Typen  der  Goelenteraten,  die  festsitzenden 
Petra calephen  (Actinien)  und  die  frei  scbwimmenden Nectacalepäen  (Medusen) 
zu8amD>eQfas8to  («/  amnXf^ai,  alutvl^ai). 

2)  Ein  cigenthUniliches  Licht  wird  durch  diese  Stammverwandtschaft  auch  auf 
das  neuerdings  so  viel  besprochene  Hyaloneraa  geworfen.  Sollte  vielleicht  doch 
am  Ende  Schwammkörper  und  Polypenüberzug  zusammengehören  ,  und  Hyalo- 
neraa ein  gerader  Ausläufer  von  der  gemeinsamen  Stammgruppe  der  Spongien  und 
Acalapheo  sein  ? 


120  ^  Ernst  Hickel, 

für  die  Systematik  erzielt  scheint^  Eswirdnämlichjetzt  mögli  ch , 
mein  Protistenreich  durch  eine^Hkßstimmten  und  wich- 
tigen Charakter  zu  bezeichnen,  und  ViM^den  echten  Thi^ren 
und  echten  Pflanzen  zu  trennen:  Dieser  Charakleur  ist  der  gänz- 
liche Mangel  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung.  Bei  fast 
allen  unzweifelhaften  Pflanzen  und  ebenso  bei  allen  unzweifelhaften 
Thieren  findet  sich  geschlechtliche  Zeugung  (Amphigonie]  von  AUe 
echten  Protisten  dagegen  (alle  oben  genannten  Gruppen  mit  Aus* 
nahtne  der  Spongien)  pflanzen  sich  ausschliesslich  durch 
ungeschlechtliche  Zeugung  (Monogonie)  fort.  Wenn  man 
diese  Definition  auf  die  genealogische  Individualität  erster  Ordnung,  auf 
den  Zeugungskreis  (Gyclus  generationis)  aller  drei  organischen  Reiche 
überträgt,  so  ist  der  Zeugungskreis  der  Thiere  und  der 
Pflanzen  die  Amphigenesis,  dagegen  der  Generationscy- 
clus  der  Protisten  die  Monogenesis  (Yergl.  hierüber  generelle 
Morphologie,  Vol.  II,  p.  70,  p.  83). 

Wenn  man  auf  Grund  dieses  Kriteriums  die  Trennung  der  drei 
Reiche  scharf  durchfuhren  will ,  so  wird  man  «inige  Gruppen  der  nied- 
rigsten Organismen,  die  bisher  bei  den  echten  Pflanzen  standen,  die 
aber  der  geschlechtlichen  Zeugung  entbehrten ,  zu  den  Protisten  ziehen 
müssen.  Es  wird  dies  um  so  eher  geschehen  können,  als  ohnehin  die 
übrigen  entscheidenden  Pflanzencharaktere  sich  bei  ihnen  verwischen 
und  als  sich  anstatt  dessen  nahe  Beziehungen  zu  verschiedenen  Pro- 
tistengruppen  einstellen.  Vor  allen  wird  man  berechtigt  sein,  die  grosse 
und  formenreiche  Klasse  der  Pilze  (Fungi)  aus  dem  Pflanzenreiche  zu 
entfernen  und  in  die  Nähe  der  Myxomyceten  unter  die  Protisten  zu  stei- 
len. Die  ganze  Ernährungsweise  und  der  Stofiwechsel  der  Pilze,  und 
damit  im  Zusammenhang  viele  andere  Eigenschaften  (insbesondere  der 
gänzliche  Chlorophyll-Mangel)  entfernen  dieselben  so  sehr  von  den 
echten  Pflanzen,  dass  bereits  ältere  Botaniker  aus  den  Pilzen  ein  beson- 
deres Organismen-Reich  errichten  wollten. 

Aus  ähnlichen  Gründen  wird  man  ferner  die  Phycochroma- 
ceen  (Ghroococcaceen  und  Oscillarineen)  als  einen  Protistenstamm 
betrachten  können ,  ebenso  auch  vielleicht  die  Codiolaceen  (Codiolum 
etc.).  Andererseits  wird  man  die  durch  geschlechtliche  Zeugung  aus- 
gezeichneten Yolvocinen  von  den  Flagellaten  trennen  und  den  echten 
Algen  zurechnen  müssen.  Derartige  Versetzungen  werden  in  der  näch- 
sten Zeit  noch  viele  vorkommen,  je  nachdem  unsere  Kenntniss  der  einen 
oder  anderen  Gruppe  voraussichtlich  vollständiger  wird.  Keinenfalls 
aber  werden  wir,  wie  ich  glaube,  jemals  dazu  gelangen ,  eine  absolute 
Grenzscheidewand  zwischen  Thier-  und  Pflanzenreich  aufzurichten, 


'  ' 


Monognphi^  der  Molereo«  121 

und  den  einen  Theil  der  Protisten  mit  voller  Sicherheit  zu  den  Pflanzen, 
den  andern  zu  den  TbierrfTrechnen  können.  Auch  soll  ja  durch  die 
von  mir  vorgeschlagpne  systematische  Trennung  der  drei  Reiche  ledig- 
lich' der  praktis^sbe  Zweck  einer  differentiellen  Diagnostik  erleichtert, 
und  keineswegis  eine  absolute  Scheidung  der  Thiere,  Protisten  und 
Pflanzen,  ah  dreier  fundamental  verschiedener  Organismengruppen  be- 
h^oiplü  werden.  Vielmehr  beharre  ich  bei  der  in  meiner  generellen 
Moiphologie  ausgesprochenen  Vermuthung ,  dass  sowohl  das  Thierreich 
als  das  Pflanzenreich  ihre  erste  Wurzel  in  je  einem  oder  mehreren  Pro- 
listenstammen  haben,  wSihrend  andere  Protistenstämme  (z.  B.  Diato- 
meen ,  Myxoroyceten ,  Rhizopoden)  sich  unabhängig  von  jenen  selbst- 
siändig  entwickelt  haben  (1.  c.  Vol.  II,  p.  106).  Dass  schliesslich  alle 
organischen  Stämme  an  ihrer  ältesten  Wurzel  zusammengehangen 
haben  mögen,  ist  auch  wohl  denkbar.  Der  Streit,  wie  viele  ursprüng- 
liche protistische  Phylen  oder  Stammformen  den  Thierstämmen,  den 
Pflanzenstämmen  und  den  noch  heute  existirenden  Protistenstämmen 
den  Ursprung  gegeben  haben  mögen,  verliert  aber  sehr  dadurch  an  sei- 
ner scheinbaren  Wichtigkeit,  dass  offenbar  die  ältesten  Ursprungsformen 
aller  Organismen  Honeren  der  einfachsten  und  indifferentesten  Art, 
structurlose  und  homogene,  formlose  Saroodeklumpen  gewesen  sein 
müssen,  durch  Archigonie  oder  Generatio  aequivoca  entstanden. 

Wie  die  von  Cunkowsei  und  von  mir  beschriebenen  Moneren  zei- 
gen, ist  es  ganz  unmöglich,  dieselben  mit  irgend  welcher  Sicherheit  an 
eine  bestimmte  andere  Protistengruppe  anzuschliessen,  oder  gar  sie  mit 
Bestimmtheit  entweder  den  Thieren  oder  den  Pflanzen  zuzurechnen. 
Im  Ruhezustande  und  während  der  Fortpflanzung  sind  dieselben  mehr 
pflanzlicher,  im  Bewegungszustande  und  während  der  Ernährung  mehr 
thierischer  Natur.  Im  Ganzen  aber  sind  sie  ihrer  einfachsten  Natur  nach 
so  indifferente  Organismen,  dass  man  sie  als  erste  Anfänge  jedes  belie- 
bigen organischen  Stammes  (Phylum)  betrachten  könnte.  Wie  sehr  die- 
selben in  dieser  Be^tiehung  Anklänge  an  die  verschiedensten  Protisten- 
gruppen  zeigen,  wird  am  Besten  aus  der  nachfolgenden  morphologischen 
Vergleichung  der  Moneren  mit  den  verschiedenen  Protistengruppen  her- 
vorgehen. Bevor  wir  uns  zu  dieser  wenden,  erscheint  es  passend,  die 
verschiedenen  organischen  Stämme  nochmals  aufzuzählen ,  welche  das 
Protistenreich  in  dem  soeben  erläuterten  Umfange  zusammensetzen. 
Ich  wiederhole  dabei  nochmals,  dass  ich  dieses  »System  der  Protisten« 
in  jeder  Hinsicht  nur  als  einen  ganz  provisorischen  Versuch  und  als  eine 
Anregung  zu  weiterer  Bearbeitung  betrachte. 


122  >  Ernst  HIekel, 


B  eich  der  Protisten  oder  der  mond|(<Q4ie  tischen  Organismen' 

(Organismen,  welche  sich  ausschließslich  auf  ifilgeschlechtlichem 
Wege,  durch  Monogonie,  fortpflanzeBry. 

I.  Gruppe :  loBera« 

1.  Gymnomonera    (Protogenes,    Protamoeba  etc.). 

2.  Lepomonera  (Protomonas,  Vampyrella,  Protomyxaetc). 

II.  Gruppe:  flagellata. 

4.     Nudiflagellata  (Euglena,  Spondylomorum  etc.). 
2.     Cilioflagellata  (Peridinium,  Ceratium  etc.). 

III.  Gruppe :  LaliTriiiihiilea  (L  a  b  y r  i  n  th  u  1  a  e) . 
lY.  Gruppe:  Matomea  (Bacillaria). 
Y.  Gruppe :  Phjrcodironiacea  (Myxophycea). 

4.     Chroococcacea  (Gloeocapsa,  Merismopoedia  etc.). 
2.     Oscillarinea  (Nostochacea,  Rivulariacea  etc.). 

YI.  Gruppe:  Vnugl  (Mycetes). 

1.  Phycomycetes  (Saprolegnieae,  Mucorinae  etc.). 

2.  Hypodermiae  (Uredineae,  Ustilagineae  etc.). 

3.  Basidiomycetes  (HymenomyceteSjGastromycetesetc.). 

4.  Ascomycetes  (Protamycetes,  Discomytes  etc.) 

YII.  Gruppe:  lyiMiycetei  (Mycetozoa). 

YIII.  Gruppe:  Protoplasta  (Amoeboida). 

4.     Gymnamoebae  (Autamoeba,  Nuclearia  etc.). 

2.  Leparooebae  (Arcella^  Diffiugia  etc.). 

3.  Gregarinde  (Monocystida  et  Polycystida). 


/ 


IX.  Gruppe:  Noctilacae  (Myxocystoda). 

X.  Gruppe :  Rhizopoda. 

1.  Acyttaria  (Monothalamia  ot  Polythalämia) 

2.  Heliozoa  (Actinosphacrium  Eichhornii). 

3.  Radiolaria  (Monocyttaria  et  Polycyttaria). 


Btenographie  der  Mo^u.  1 23 

V.    Vergleichendelfor'pbologie  der  Moneren. 

m 

Um  die  verwicUelten  Beziehungen  der  Moneren  zu  den  übrigen 
Protisten  und  ül>^aupt  zu  den  Organismen  niedersten  Ranges  richtig 
zu  würdigen ,  erscheint  es  zunächst  nothwendig,  sich  über  den  mor- 
phologischen,  oder  genauer  tectologischen  Werth  derselben  zu 
vefsUindigen ,  und  ihre  Individualiläls-Stufe  zu  bestimmen.  Ich  lege 
hierbei  die  Anschauungen  zu  Grunde,  welche  ich  in  meiner  gene- 
rellen Tectologie  oder  Individualitälslehre  (Structurlehre)  der  Or- 
ganismen entwickelt  und  begründet  habe.  *) 

Als  den  allgemeinen  und  einzig  unentbehrlichen  materiellen  Be- 
standtheil  aller  Organismen  haben  wir  das  Plasma  oder  Protoplasma 
(Sarcode) ,  eine  festflüssige  stickstoflhaltige  Kohlenstoffverbindung 
aus  der  Gruppe  der  Eiweisskörper  nachgewiesen.  Dieses  Plasma  bildet 
bei  den  Moneren,  als  den  tiefst  stehen  den  unter  allen  Organismen,  ein- 
zig und  allein  für  sich,  ohne  Betheiligung  anderer  KOrper,  den  ganzen 
slructurlosen  Leib  des  vollkommen  ausgebildeten  Organismus.  Seinem 
Formwerthe  nach  reprüsentirt  derselbe  also  ein  einfachstes  morpho- 
logisches Individuum  erster  Ordnung,  ein  Plasmastück  oder 
eine  Plastide. 

Der  vieldeutige  Begriff  der  organischen  Zelle  ist  nach  dem  ge- 
wöhnlichen Sprachgebrauch  auf  diese  einfachsten  individualisirten 
Plasmastückchen  nicht  mehr  verwendbar.  Um  daher  die  Zellenthe- 
orie, diese  unentbehrliche  Grundlage  unserer  gesammten  Tectologie 
auch  auf  die  Moneren  und  die  verwandten  Protisten  anwendbar  zu 
machen,  habe  ich  das  Yerhältniss  dieser  Plasmastückchen  zu  wirklichen 
Zellen  in  meiner  Tectologie  möglichst  scharf  zu  entwickeln  versucht. 
Nach  meiner  Ansicht  sind  die  echten  Zellen,  für  deren  Begriff  ich  die 
Sonderung  von  innerem  Kern  und  üusserem  Plasma  für  nothwendig  er- 
achte, aus  den  Moneren  durch  innere  Differenzirung  hervorgegangen. 
Andererseits  sind  aus  den  Moneren  durch  Uussere  Differenzirung  von 
Plasma  und  umhüllender  Membran  oder  Schale  die  zellenUhnlichen, 
aber  kernlosen  Plastidcn,  die  membranösen  Cytoden  hervorgegangen. 

Durch  diese  systematische  Unterscheidung  erhalten  wir  folgende 
vier  wesentlich  differonzirte  Grundformen  von  Piastiden,  oder  von  mor- 
phologischen Individuen  erster  Ordnung : 

I)  (ȟQcreUe  Morphologie.  Vol.  I.  Drittes  Duch.  IX.  Capitel.  p.  )69. 


1 24  ^  Ernst  HRckel, 

Pla8tideii*]hclM|,. 

I.  Cytodae  (s.  C ellin ae],  Gytoden.  Plasmibiftücke  ohne  Kern. 

4.  Gymnocytodae  (s.  Cytodae  nudae),  NÄpktcytoden. 

Nackte  PlasmastUcke  ohne  Kern,  ohne  Membran  oderlSchale,  z.  B. 
die  frei  sich  bewegenden  Moneren,  die  kernlosen  Plasmodien  der  Myco- 
myceten  und  mancher  anderen  Protisten,  die  aus  den  Pseudonavicellen 
geschlüpften  amoeboiden  Keime  derGregarinen  etc. 

S.  Lepocytodae  (s.  Cytodae  membranosae),  Hautcytoden. 

Umhüllte  Plasmastücke  ohne  Kern,  von  einer  (ganzen  oder  unvoll- 
ständigen) Membran  oder  Schale  umschlossen,  z.  B.  die  eingekapselten 
Buhezustände  der  Lepomoneren,  viele  Siphoneen  und  zahlreiche  andere 
niedere  Pflanzen,  die  sogenannten  »kernlosen  Zellen«  vieler  höheren 
Pflanzen  und  vieler  thierischen  Gewebe. 

II.  Cellihe  (s.  Cyta},  Zellen.  .Plasmastücke  mit  Kern. 

4.  Gymnocyta  (s.  Cellulae  nudae),  Nacktzellen. 

Nackte  Plasmastücke  mit  Kern,  ohne  Membran  oder  Schale,  z.  B. 
die  echten  Amoeben  (Autamoeben),  die  nackten  Schwärmsporen  der 
Algen,  die  Eier  der  Siphonophoren  und  anderer  Thiere ,  die  farblosen 
Blutzellen ,  viele  Nervenzellen  und  überhaupt  sehr  viele  andere  Zellen 
der  Thiere  etc. 

2.  Lepocyta  (s.  Cellulae  membranosae],  Hautzellen. 

Umhüllte  Plasmastücke  mit  Kern ,  von  einer  (ganzen  oder  unvoll- 
ständigen) Membran  oder  Schale  umschlossen,  z.  B.  die  Diatomeen,  die 
meisten  jugendlichen  Pflanzenzellen  (so  lange  sie  noch  einen  Kern  be- 
sitzen), die  Eier  der  meisten  Thiere,  und  überhaupt  sehr  viele  thie- 
rische  Zellen  etc. 

Offenbar  beruht  das  hohe  Interesse  der  Moneren  vorzugsweise 
darauf,  dass  sieGymnocytoden,  d.  h.  Piastiden  der  allereinfachsten 
Art  sind,  und  dass  also  sämmtliche  übrige  Piastidenarten ,  wie  sie  den 
Körper  aller  Organismen  bilden,  auf  sie  zurückzuführen  sind.  Die  Phy- 
logenie ,  die  palaeontologische  Entwickelungsgeschichte  der  organischen 
Stämme  »(Phylen)  ist  nothwendig  zuletzt  gezwungen,  auf  archigone 
(durch  Generatio  aequivoca  entstandene)  Moneren  als  auf  die  erste  Wur- 
zel aller  verschiedenen  Organismengruppen  zurückzugehen.    Aus  den 


Monographie  der  Hcumn.  125 

Gymnocytoden  als  den  ursprünglicheo.  Plastidenfonnen  (einfachsten, 
vollkommen  homogenen  Plawa^slUckchen)  entstanden  einerseits  durch 
äussere  Differenzirun&.y6n  Plasma  und  Membran  die  Lepocytoden ,  an- 
dererseits durch  innere  Differenzirung  von  Plasma  und  Kern  die  Zellen  * 
und  diese  letzU$ren  zerfielen  dann  wieder  in  Hautzellen  und  Nackt- 
zellen, je  ]MChdem  sie  sich  mit  einer  Membran  umgaben  oder  nicht. 
Auf  dijMS  vier  Grundformen  der  Piastiden  lassen  sich  alle  übrigen  Zellen 
mkd  Zellenformen,  und  überhaupt  alle  histologischen  Elemente  zurück- 
führen ,  wie  ich  in  meiner  genereilen  Tectologie  ausführlich  entwickelt 
habe  (Gen.  Morph.  Vol.  I,  p.  269—303). 

Bestimmen  wir  nun  nach  diesem  Maassstabe  den  morphologischen 
Werth  aller  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Monerenformen,  wie  ich  die- 
selben im  letzten  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  übersichtlich  zusammen- 
stellen werde,  so  gelangen  wir  zu  folgendem  Resultate : 

i.  Alle  Moneren  bleiben  zeitlebens  Gytoden;  niemals 
gehen  sie  in  den  höheren  Formzustand  der  Zelle  über,  da  niemals  in 
ihrem  Protoplasma  sich  Kerne  differenziren. 

2.  Alle  Moneren  sind  in  vollkommen  ausgewachse- 
nem und  frei  beweglichem  Zustande  Gymnocytoden;  nie- 
mals besitzen  sie  in  diesem  Zustande  eine  Membran  oder  Schale  oder 
eine  sonstige  Hülle.  ^ 

3.  Die  Gymnomoneren  (Protogenes,  Protamoeba,  viel- 
leicht auch  Myxodictyum?)  bleiben  zeitlebens  Gymnocy- 
toden; sie  gehen  nicht  in  einen  Ruhezustand  über  und  umgeben  sich 
nicht  mit  einer  Hülle. 

4.  Die  Lepomoneren  (Protomonas,  Protomyxa,  Yam- 
pyrella,  Myxastrum)  werden  aus  ursprünglichen  Gym- 
nocytoden später  Lepocytoden,  indem  sie  behufs  der  Fortpflan- 
zung in  einen  Ruhezustand  übergehen  und  sich  dann  mit  einer  Hülle 
oder  Schale  umgeben. 

5.  Einige  Moneren  (Protogenes,  Protamoeba)  blei- 
ben zeitlebens  einzelne,  isolirte  Gytoden,  permanente  In- 
dividuen erster  Ordnung ,  indem  die  durch  den  Fortpflanzungsprocess 
entstehenden  neuen  Individuen  (Bionten)  sich  sofort  von  dem  elterlichen 
Organismus  trennen,  oder  indem  dieser  einfach  in  zwei  Stücke  zerfällt. 

6.  Andere  Moneren  (Myxodictyum  und  alle  Lepomoneren) 
bilden  zeitweilig  Individuen  zweiter  Ordnung  oder  Or- 
gane (in  rein  morphologischem  Sinne) ,  indem  während  der  Fortpflan- 
zungszeit die  neu  gebildeten  Individuen  (Schwärmsporen,  Tetraplasten, 
Theilstücke,  und  andere  Keimformen)  eine  Zeit  lang  zu  einer  Cytoden- 
colonie  (Organ)  vereinigt  bleiben. 


\  26  ''^  ^rnst  liiCckel, 

In  diesen  sechs  Sätzen  tsi4l\e  vollständige  morphologische  Charak- 
teristik der  Moneren  enthalten.  Da'zu  mnmt  dann  noch  das  physiolo- 
gische Kriterium  der  ausschliesslich  ungeschledlüUjchen  Fortpflanzung. 

Wenn  wir  nun,  unter  steter  Berücksichtigung  dieser  charakteristi- 
schen Eigenthümlichkeiten,  die  Moneren  mit  den  übrigen  Organismen 
und  besonders  mit  den  nächstverwandten  Protisten  veiigleichen ,  so 
werden  wir  leichter  einerseits  den  besonderen  Charakter  der  Moneren- 
gruppe, andererseits  die  mannichfaltigen  Yerwandtschaftsbezichungen 
derselben  zu  den  übrigen  Gruppen  erkennen.  Ich  werde  also  der  Reihe 
nach  die  den  Moneren  nächstverwandten  unter  den  vorstehend  aufge- 
führten Protistengruppen  einzeln  mit  den  Monei^n  vergleichen. 

I.     Moneren  und  Rhizopoden. 

Von  allen  Organismen  stehen  die  echten  Rhizopoden  den  Moneren 
{etwa  mit  Ausschluss  der  Protamoeba)  am  nächsten.  Ich  beschränke 
dabei  die  natürliche  Gruppe  der  echten  Rhizopoden,  wie  ich  in  meiner 
generellen  Morphologie  gethan  habe,  (nach  Ausschluss  der  Protoplasten 
oder  Amoeboiden)  auf  die  drei  Classen  der  Acyttarien  (Monothalamien 
und  Polythalamien,  oder  Imperforaten  und  Perforaten),  derlleliozoen 
(bis  jetzt  nur  aus  dem  eigenthümlichen  Actinosphaerium  Eich- 
hornii  Stein,  Actinophrys  Eichhornii  Ehrenberg,  gebildet) 
und  der  Radio larien  (Monocyttarien  und  Polycyttarien).  Die  aller- 
meisten von  diesen  echten  Rhizopoden  unterscheiden  sich  von  den  Mo- 
neren dadurch,  dass  sie  in  frei  beweglichem  und  vollkommen  ausgebil- 
detem Zustande  ein  Skelet  oder  eine  Schale  besitzen.  Die  wenigen  üb- 
rigen Rhizopoden,  welche  dieses  Skelets  o'der  dieser  Schale  entbehren, 
(Actinosphaerium,  Thalassicolla,  Physematium,  Collo- 
zoum)  unterscheiden  sich  von  den  Moneren  durch  die  DifTerenzining 
von  Kernen  im  Innern  des  Plasmakörpers.  Eine  ganz  eigenthüm liehe 
Stellung  nimmt  die  gewöhnlich  zu  den  Rhizopoden  gerechnete,  sehr  ge- 
meine Actinophrys  sol  (Ehrenb.)  ein,  der  einzige  genauer  bekannte 
Repräsentant  der  echten  Actinophrys.  Ich  würde  diesen  Organis- 
mus am  liebsten  zu  den  Moneren  ziehen  und  zwischen  Vampyrella 
und  Myxastrum  stellen.  Die  eigenthümliche  sehr  grosse  contractile 
Blase  dieses  Protisten  würde  dann  als  blosse  Vacuole  aufgefasst  wer- 
den müssen.  Da  wir  jedoch  trotz  der  Häufigkeit  der  Actinophrys 
sol  immer  noch  nichts  Sicheres  von  ihrer  Fortpflanzung  undEntwicke- 
lung  wissen,  muss  ihre  Stellung  unter  den  Moneren  vorläufig  noch 
zweifelhaft  bleiben..  Die  von  Cienkowski  (l.  c.  p.  227)  beobachteten 
Ruhezustände  der  Actinophrys  sol  machen  ihre  Stellung  unter  den 


Monographie  der  MoMen.  }  27 

Moneren  noch  wahrscheinlicher.  Verauithlich  werden  künftig  ausser 
der  echten  Actinophrys  s^LH^hi^nb.)  auch  noch  eine  Anzahl  nächst- 
verwandter actinophrjÄörtiger  Prolisten  (z.  B.  Trieb odiscus  und 
Piagiophrys)  zu' den  Moneren  zu  stellen  sein.  ^]  Die  von  Cienkowski 
neulich  beschrijBJbene  Clathru  1  in a,  welche  ich  auch  bei  Jena  beob- 
achtet habe,  halte  ich  für  einen  echten  Rhizopoden  und  stelle  ihn  zu 
den  Mpw^halamien  unter  die  Ac^ltarien*) . 


"*« 


II.    Moneren  und  Flagellaten. 

Unter  den  verschiedenen  Monerenformen  zeigen  die  Schwärmspo- 
ren der  Protomonas  und  Protom yxa  die  grösste  Aehnlichkcit  mit 
den  einfachsten  Formen  der  Flagellaten.  Die  letzteren  unterscheiden 
sich  durch  die  DifTerenzirung  von  Kernen  und  von  Hüllen.  Das  ausge- 
bildete und  frei  bewegliche  Flagcllat  ist  niemals  eineGymnocytode,  wie 
alle  Moneren  im  frei  beweglichen  Zustande  sind. 


HI.     Moneren  und  Labyrinthuleen. 

Unter  den  Moneren  erinnert  Myxastrum  durch  seine  Fortpflan- 
zungszustände  auffallend  an  die  Labyrinthula.  Jedoch  sind  die  ein- 
zelnen Piastiden  der  letzteren  stets  kernhaltig,  also  echte  Zellen,  wäh- 
rend die  Moneren  niemals  Kerne  besitzen. 


IV.     Moneren  und  Diatomeen. 

Wie  an  die  Labyrinthuleen ,  so  erinnern  die  spindelförmigen  kie- 
selschaligen  Sporen  des  Myxastrum  auch  an  die  Diatomeen,  beson- 
ders an  die  einfachsten  Formen  von  Navicula.  Da  jedoch  auch  die 
Diatomeen  immer  (?)  kernhaltig,  also  echte  Zellen  sind ,  und  da  sie  so* 


4)  Actinosphaerium  Eichhornii  (Stein),  welches  gewöhnlich  noch  als 
Actinophrys  Eichhornii  (Ghrenberg,  nicht  KöUiker)  mit  der  echten  Acti- 
nophrys sol  (Ghrenberg;  Actinophrys  Eichhornii  KOlIiker)  in  einem 
Genus  vereinigt  wird,  ist  sehr  weit  davon  verschieden.  Bei  Actinophrys  sol 
ist,  wie  bei  den  Moneren,  der  ganze  Protoplasmakörper  structurlos ,  wahrend  sich 
bei  Actinosphaerium  Eichhorniii  einem  echten  Uhizopoden,  bereits 
kernhaltige  Zollen  in  der  Marksubstanz  d^s  Körpers  diflcrenzirt  haben. 

2)  CiKKKowsKi ,  Uober  die  Clathrulina,  eine  neue  Actinophryen-Gattung. 


\  28  ^  E">^  BMb^ 


weit  bekannt,  niemals  als  nacl^e  Pla^den  erscheinen,  so  sind  die  Un* 
terschiede  von  den  Moneren  sehr  drarAigceifend. 


V.     Moneren  nnd  Myxomyceten. 

Unter  allen  Protisten  stehen  nächst  den  echten  Rkizopoden  die 
Myxomyceten  den  Moneren  am  nächsten.  Die  colossalen  nackten  frei 
beweglichen  SarcodekOrper  von  Protogenes,  Protomyxa  und  flUch 
von  Vampyrella  sind  von  den  Plasmodien  der  Myxomyceten,  beson- 
ders der  dünnflüssigen  Formen,  an  und  für  sich  geradezu  nicht  zu 
unterscheiden.  Nur  die  weitere  Entwickelung  lässt  die  Divergenz  bei- 
der Gruppen  erkennen.  Dazu  kommt  noch  die  auffallende  Aehnlichkeit 
in  der  Fortpflanzung  durch  Schwärmsporen  bei  der  Protomonas  und 
Protomyxa.  Man  könnte  daher  diese  als  die  einfachsten  Myxomy- 
ceten betrachten.  Allein  die  Spore  der  Myxomyceten  umschliesst  einen 
Rem  und  ist  daher  eine  echte  Zelle ,  während  bei  den  Moneren  über- 
haupt niemals  Kerne  vorkommen.  Hierin  erblicke  ich  den  wesentlichsten 
Unterschied  der  Moneren  und  Myxomyceten ,  abgesehen  von  der  viel 
höheren  Differenzirung  des  Sporangium  bei  den  letzteren.  Man  könnte 
jedoch  den  eingekapselten  Ruhezustand  von  Protomyxa  als  die  erste 
und  einfachste  Anlage  des  Sporangiums  der  Myxomyceten  betrachten. 
Bei  beiden  gehen  die  Schwärmsporen  in  den  Amoebenzustand  über. 

VI.     Moneren  und  Protoplasten. 

Auch  die  Protoplasten  zeigen,  gleich  den  Myxomyceten  und  Rhizo- 
poden,  sehr  nahe  Beziehungen  zu  den  Moneren.  Als  Protoplasten  habe 
ich  in  der  generellen  Morphologie  folgende  drei  Protistengruppen  zu- 
sammengefasst :  1)  Gymnamoebae  (die  echten,  nackten  Amoeben, 
mit  Kern,  mit  oder  ohne  contractile  Blase  oderVacuole:  Autamoeba, 
Nuclearia,  Pseudospora,  Podostoma,  Petalopus  etc.).  2) 
Lepamoebae  (mit  Schale  oder  Panzer  versehene  Amoeben :  A  r  c  e  1 1  a , 
Difflugia,  Euglypha  etc.).  3)  Gregarinae  (Monocystideen 
und  Polycystideen).  Die  Gregarinen  sehe  ich  als  Amoeben  an, 
welche  durch  Parasitismus  rückgebildet  sind.  Die  Moneren  zeigen  zu 
den  Protoplasten,  namentlich  zu  den  Gymnamoeben,  die  nächsten  Be- 
ziehungen. Protamoeba  ist  nur  durch  den  Mangel  des  Kerns  und 
der  contractilen  Blase  von  echten  Amoeben  (Autamoeba)  zu  unter- 
scheiden. Ausserdem  erinnern  die  Pseudonavicellen  der  Gregarinen, 
noch  mehr  als  die  »Spindelncc  der  Labyrinthuleen ,  an  die  spindelför- 
migen Sporen  des  Myxastruni.  Ein  wesentlicher  und  durchgreifender 


Monographie  der  Mo^n.  129 


Unterschied  Hegt  aber  i^eder  darin,  dase  bei  allen  Protoplasten  wirk- 
liche Zellenkerne  in  der  Substanz  der  Sarcode  differenzirt  sind  ,  w9ih- 
rend  dies  bei  den  Mo^imn  niemals  der  Fall  ist. 

Die  drei  noch  fl&rigen  Protisten-Gruppen ,  die  Phycochromaceen, 
Pilze  und  Noctiliiken ,  zeigen  weniger  ausgesprochene  Beziehungen  zu 
den  Moneren^' als  die  fünf  soeben  betrachteten  Gruppen,  und  eine  be- 
sondere¥^g1cichung  derselben  ist  daher  überflüssig.  Jedoch  schliessen 
st<Ä  anch  die  niedersten  Pilze,  ebenso  wie  die  einfachsten  Phycochro- 
maceen, durch  die  Einfachheit  und  die  niedere  Ausbildungsstufe  ihres 
Baues  und  ihrer  Lebenserscheinungen  unmittelbar  an  die  Moneren  an. 
Die  einfachsten  Anfänge  derselben  können  unmittelbar  aus  Moneren 
hervorgegangen  sein. 

Jedenfalls  lässt  sich  schon  jetzt  aus  der  eben  gegebenen  Ueber- 
sicht  und  aus  einer  einfachen  Yergleichung  derEntwickelungsgeschichte 
der  verschiedenen  Protisten  mit  voller  Deutlichkeit  ersehen ,  dass  ohne 
vollständige  Kenntniss  der  individuellen  Entwickelungsgeschichte  sich 
die  systematische  Stellung  der  einzelnen  niedrigsten  Organis^nen  in  die- 
ser oder  jener  Protistengruppe  nicht  einmal  mit  annähernder  Sicherheit 
bestimmen  lässt.  Ganz  besonders  gilt  dies  von  allen  nackten,  amoeben- 
artigen  und  actinophrys-artigen  Körpern,  ebenso  wie  von  den  myitomy- 
ceten-arligen  Plasmodien  und  von  den  flagellaten-artigen  Schwärm- 
sporen. Hier,  wie  überall  in  der  Morphologie,  ist,  wie  Baer  sagt,  die 
Entwickelungsgeschichte  der  wahre  Lichtträger  für 
Untersuchungen  über  organische  Körper.  Nicht  minder 
aber  bewährt  sich  auch  hier  der  wichtige  Satz,  dassdieDescen- 
denztheorie  der  wahre  Lichtträger  für  die  gesammte 
Entwickelungsgeschichte  ist. 


VI.    System  der  Moneren. 
GruppcDcharakter  der  MoDeren. 

Organismen  ohne  Organe,  welche  in  vollkommen  aus-^ 
gebildetem  Zustande  einen  frei  beweglichen,  nackten, 
vollkommen  structurlosen  und  homogenen  Sarcode- 
(Protoplasma-)  Körper  bilden.  Niemals  differenziren 
sich  Kerne  (Nuclei]  in  dem  homogenen  Protoplasma.  Die 
Bewegung  geschieht  durch  Contractionen  der  homoge- 
nen Körpersubstanz  und  durch  Hervortreiben  von  form- 
wechselnden Fortsätzen  (Pseudopodien),  welche  ent- 
weder einfach  bleiben  oder  ifich  verästeln  und  anasto- 
mosiren.      Die    Ernährung    geschieht    in    verschiedener 

Band  IV.  I.  9 


130  -^  Erost  Hüekel, 

Weise,  meist  nach  Art  der  jQJnzopoden.  Die  Fortpflan- 
zung geschieht  nur  auf  ungescU«chtlichem  Wege  (durch 
Monogonie).  Oft,  jedoch  nicht  imm^«,  wechselt  der  frei 
bewegliche  Zustand  mit  einem  Ruhezustande  ab,  wdh~ 
rend  dessen  sich  der  Körper  mit  einer  ausgeschwitzten 
structurlosen  Hülle  umgiebt  (encystirt).  Alle  Moneren 
leben  im  Wasser. 

Elaste  Abtheilung  der  Monerengruppe : 

Gymnomonera. 

« 
Moneren  ohne  Ruhezustand  und  Hüllenbildung. 

Der  frei  bewegliche  Zustand  des  Moneres  wird  von 
keinem  Ruhezustande  mit  Hüllenbildung  unterbrochen. 

Genus  I :  Pr«taBi«eba  Hasgkel.  ') 
Habckel,  Generelle  Morphologie.  4866.  Vol.  I.  p.  133. 

Gattungscharakter:  [Ein  einfachster  formloser  Protoplasma- 
körper ohne  Yacuolenbildung,  welcher  einfache,  nicht  verästelte  und 
nicht  anastomosirende  Foitsätze  treibt,  und  sich  durch  Zweitheilung 
fortpflanzt. 

Species:  Protamoeba  primitiva  Hasckbl. 
Taf.  HL  Fig.  25—30. 

Generelle  Morphologie.  1866.  Vol.  I.  p.  133. 

Protoplasmakörper  von  0,03 — 0,05  Mm.  Durchmesser,  beständig 
form  wechselnd,  mit  einem  oder  wenigen  (3 — 6)  peripherischen  Pseudo- 
podien. Fortsätze  kurz ,  abgerundet,  stumpf ,  fingerförmig,  höchstens 
so  lang  als  der  Durchmesser  des  centralen  Körpers. 

Fundort:  Ein  Süsswassertümpel  im  Tautenburger  Forst,  Dom- 
burg gegenüber,  bei  Jena.  \  863  und  1 865. 

Genus  H:  Protagenes  Haegkbl.^) 
Zeitschr.  für  wissensch.  ZooL  Vol.  XV.  1865.  p.  360. 

Gattungscharakter:  Ein  einfachster  formloser  Protoplasma- 
körper ohne  Vacuolenbildung,  welcher  verästelte  und  anastomosirende 
Fortsätze  treibt,  und  sich  durch  Zweitheilung  fortpflanzt. 


4)  TtQtüTfi  ufioißrlf  die  erste  Wechsel gestalt. 
2]  7tQwtoy€v]jsf  der  Erstgeborene. 


\ 


lloBogni^w  der  Motten.  1 3 1 

Species:  Protogenes  primordialis  Uabckbl. 
Ueberden  Sarcodekörperder  Rhizopoden,  1.  c.  p.  360.  Taf.  XXVI.  Fig.  \ ,  2. 

Protoplasmakdiper  bald  kugelig  zusammengezogen,  von  0,4 — 4 
Mm.  Durchmesser  (1.  e.  Fig  4),  bald  plattenformig  ausgebreitet,  von 
ganz  unregelmässigem  Umriss,  von  3 — 4  Mm.  Durchmesser  (Fig.  2). 
Pseudopodien  äusserst  zahlreich  (tlber  tausend),  sehr  fein,  mit  sehr 
sabJfeichen  Verästelungen  und  Anastomosen. 

Fundort:  Mittelmeer  bei  Nizza.   4864. 

• 

Genus  HI :  ljx«4ietyiH  Habckel.i) 
(Vergl.  oben  p.  99). 

Gattungscharakter:  Mehrere  einfachste  formlose  Protoplasma- 
körper ohne  Vacuolenbildung,  welche  verästelte  und  anastomosirende 
Pseudopodien  treiben,  verbinden  sich  durch  deren  Anastomosen  zu  ei- 
nem Netz.  (Die  Fortpflanzung  erfolgt  wahrscheinlich  durch  Theilung 
und  durch  Ablösung  der  einzelnen  Individuen,  welche  dann  neue  Colo- 
nieen  bilden??). 

Species:  Myxodictyum  sociale  Ha eckel. 
Taf.  III.  Fig.  34—33. 

Protoplasmakörper  an  dem  einzigen  beobachteten  Exemplar  ein 
flach  ausgebreitetes  Sareodenetz  von  0,35  Mm.  Durchmesser  bildend, 
zusammengesetzt  aus  siebzehn  Moneren-Individuen,  a^tinophrys-ähn- 
lichen  Körperchen  von  0,04  Mm.  Durchmesser. 

Fundort:  Bai  von  Algesiras  an  der  Strasse  von  Gibraltar.    4  867. 

Zweite  Abtheilung  der  Monerengruppe : 

Lepomonera. 

Moneren  mit  Ruhezustand  und  Htillenbildung. 

Der  frei  bewegliche   Zustand  des  Moncres  wird  von 
einem  Ruhezustande   mit   llullenbildung  unterbrochen. 

Genus  IV :  Pr«t«B«MS  Haeckbl.') 
Generelle  Morphologie,  Vol.  II.  p.  XXIII. 

Gattungscharakter:   Ein  einfachster  formloser  Protöpiasma- 
körper,  ohne  Vacuolenbildung,  welcher  einfache  oder  veraslehe  P^eu- 

4;  fiv^oiixivov,  Schleiiunetz. 
))  iQmofiovagt  Ureinheit. 


132  ^  Emst  Hfekd,  ^  ^ 

dopodien  Ireibt.    Fortpflanzung  duQs^  SchwHrmsporen,  welche  in  Plas- 
modien zusammenfliessen.  *  • '  ^ 


Species :  Protomonas  amyli  Uaegkel. 
(Monas  amyli  Cibnkowski} . 

Archiv  für  mikrosk.  Anat.  Vol.  I.  p.  <65.  Taf.  XII.  Fig.  1—5. 

Protoplasmakörper  ein  Plasmodium ,  welches  durch  Verschmelzen 
mehrerer  Schwärmsporen  entsteht,  von  ungefähr  0, 02— 0, 05  Mm.  Durch- 
messer, mit  wenigen,  verästelten,  sehr  feinen  Pseudopodien.  Ruhezu- 
stand eine  rundliche  Lepocytode,  deren  Membran  keilförmige,  nach  innen 
vorragende  Warzen  Ireibt.  Schwärmsporen  spindelförmig,  sehr  con- 
tractu, mit  mehreren  (zwei  ?)  Greisseln  versehen,  sich  nach  Art  einer  An- 
guillula  bewegend. 

Fundort:  In  faulenden  Nitellen  des  süssen  Wassers  in  Deutsch- 
land und  Russland  (Cienkowski)  . 

Genus  V:  hrotom^ria  Haeckel.^) 
(Vergl.  oben  p.  71) 

Gattungscharakter:  Ein  einfachster  formloser  Protoplasma- 
körper mit  Vacuolenbildung,  welcher  verästelte  und  anastomosirende 
Pseudopodien  treibt.  Fortpflanzung  durch  Schwärmsporen ,  welche  in 
Plasmodien  zusammenfliessen. 

Species:  Protomyxa  aurantiaca  Haeckel. 

Taf.  II.  Fig.  4—12. 

Proloplasmakörper  ein  Plasmodium  von  orangerother  Farbe,  wel- 
ches (immer  ?)  durch  Verschmelzen  mehrerer  Schwärmsporen  entsteht, 
von  0,5 — 1  Mm.  Durchmesser;  mit  sehr  zahlreichen  und  sehr  dicken, 
baumförmig  verästelten  Pseudopodien,  welche  durch  viele  Anastomosen 
^ein  Netz  bilden.  Ruhezustand  eine  kugelige  Lepocytode  von  0,15  Mm. 
Durchmesser,  mit  dicker,  structurloser  Hülle  (Cyste).  Schwärmsporen 
bimförmig,  am  spitzen  Ende  kegelförmig,  in  eine  sehr  starke  Geissei 
auslaufend,  sich  nach  Art  der  Myxomycetenschwärmer  bewegend.  Die 
zur  Ruhe  gekommenen  Sporen  kriechen  nach  Amoebenart  einher. 

Fundort:  Auf  hoher  See  treibende  nackte  Schalen  von  Spirula 
Peronii,  angetrieben  an  die  Küste  der  canarischen  Insel  Lanzarote. 
1867. 


4)  TTQtoro^v^a,  Urschleim. 


IfoDogruptiie  der  Hoofm-  133 

/ 
Genus  YI :  fanpjrrella  <Üiei<(kowski.  <) 

Archiv  für  Kfikrosk.  Anal.    Vol.  I.    p.  218. 

Gaitungscharakter:  Ein  einfachster  formloser  Protoplasma- 
körper  ohne  Vacttolenbildung,  welcher  einfache  oder  verüstelte  Pseudo- 
podien treibt.  Fortpflanzung  durch  Tetraplastenbildung :  der  eingekap- 
selte ruhende  Körper  zerfällt  erst  in  zwei,  dann  in  vier  Keime,  welche 
nach  dem  Austrift  aus  der  Cyste  actinophrys-ähnliche  Körper  darstellen. 

Species  4:  Vampyrella  Spirogyrae  Gienkowski. 
Archiv  für  mikrosk.  Anat.  Vol.  1.  p.  218.  Taf.  XII.  Fig.  44—56. 

Protoplasmakörper  von  ziegelrother  Farbe,  und  äusserst  wechseln- 
der und  unregelmässiger  Gestalt.  Pseudopodien  mit  Kömchenbewegung, 
theils  lang,  dünn  und  spitz,  theils  kurz,  dick  und  stumpf.  Die  Pseudo- 
podien bohren  die  Zellen  der  Spirogyra  an  und  saugen  deren  Inhalt 
heraus.  Ruhezustand  eine  kugelige  oder  sphaeroidale,  seltener  unregel- 
mässige Lepocytode,  von  0,06  Mm.  Durchmesser,  angeheftet  an  Spiro- 
gyren.  Cysten  wand  aus  Cellulose  bestehend  (durch  lod  und  Schwefel- 
säure gebläut) . 

Fundort:  Spirogyren  des  süssen  Wassers.    Cienkowski. 

Species  S:  Vampyrella  pendula  Cienkowski. 
Archiv  für  mikrosk.  Anat.  Vol.  I.  p.  221 .  Taf.  XII.  Fig.  57—63. 

Protoplasmakörpcr  von  ziegelrother  Farbe  und  sehr  wechselnder 
Gestalt.  »Pseudopodien  ohne  Körnchenbewegung«  bohren  die  Zellen  ver- 
schiedener Conferven,  Oedogonien,  Bulbochaeten  etc.  an  und  saugen 
deren  Inhalt  heraus.  Ruhezustand  eine  birnförmige  Lepocytode,  die 
mit  dem  zugespitzten  Ende  angeheftet  ist.  Von  dem  encystirten,  kuge- 
lig Contrahirten  Körper  geht  ein  fadenförmiger  Fortsatz  durch  das  zuge- 
spitzte Ende  der  aus  Cellulose  bestehenden  Cystenwand  hindurch  zur 
Ansatzstelle. 

Fundort:  Verschiedene  Conferven  des  süssen  Wassers. 

Species  3:  Vampyrella  vorax  Cienkowski. 
Archiv  für  mikrosk.  Anat.  Vol.  I.  p.  223.  Taf.  XII.  Fig.  64—73. 

Protoplasmakörper  von  ziegelrother  Farbe,  und  höchst  unregelmäs- 
siger und  wechselnder  Gestalt,    d Pseudopodien  ohne  Körnchenbewe- 

4)  Deminutivam  von  Vampyrus. 


134  Ernst  Hii0k^l,  MonograpLie  der  MoMpren. 

guDg((,  umfliesscn  nach  Art  der  Rhizjgjgoden  fremde  Körper  (Diatomeen, 
Desmidiaceen  und  Flagellaten)  und  zreneinliese  in  das  Innere  des  Kör- 
pers hinein.  Ruhezustand  eine  ganz  unregelolSssige ,  meist  langge- 
streckte Lepocytode. 

Fundort:  Im  süssen  Wasser. 

Genus  YII :  lyxastraa  Haeckel.  ^)     « 
(Vergl.  oben  p.  91). 

Gattungscharakter:  Ein  einfachster  formloser  Protoplasma- 
körper ohne  Vacuolenbildung ,  welcher  einfache  oder  verästelte  und 
anastomosirende  Fortsätze  treibt.  Tortpflanzung  durch  Strahltheilung. 
Der  eingekapselte  ruhende  Körper  zerfällt  in  eine  grosse  Anzahl  von 
länglichen  Keimen,  deren  Längsaxe  radial  gegen  das  Centrum  der  kuge- 
ligen Cyste  gerichtet  ist.  Jeder  einzelne  Keim  umgiebt  sich  mit  einer 
kieseligen  HttUe.  Die  aus  dieser  Sporenhülle  ausschlüpfenden  Keime 
nehmen  sofort  wieder  die  Form  des  erwachsenen  Organismus  an. 

Species:  Hyxastrum  radians  Haeckel. 
Taf.  III.  Fig.  13—24. 

Protoplasmakörper  in  frei  beweglichem  Zustand  gewöhnlich  von 
Gestalt  einer  strahlenden  Kugel,  von  sehr  zäher  Consistenz,  von  0,3 — 
0,5  Mm.  Durchmesser.  Pseudopodien  sehr  zäh  und  starr,  mit  spärlicher 
Verästelung  und  Anastomosenbildung.  Fremde  Körper,  Diatomeen,  Pe- 
ridinien  etc.  werden  von  den  Pseudopodien  umflossen  und  in  den  Gen- 
tralkörper  hineingedrückt.  Ruhezustand  eine  kugelige  Cyste  von  0,08 
Hm.  Durchmesser.  Der  Inhalt  zerfällt  in  zahlreiche  kieselschalige  Spo- 
ren von  0,03  Mm.  Länge,  0,015  Mm.  Breite,  deren  Längsaxe  radial 
gegen  das  leere  Centrum  der  kugeligen  Cyste  gerichtet  ist. 

Fundort:  Hafenbecken  von  Puerto  del  Arrecife,  Hafenstadt  der 
canarischen  Insel  Lanzarote.   1867. 


4)  fivSui  aOjQov,  Schleimsternchen. 


/ 


ErkUrnog  der  Abbildungen. 

Taf.  IL 
Protomyxa  auraatiaca. 

Fig.  4.  Protomyxa  aurantiaca,  encystirt,  im  Ruhezustand:  eine  homo- 
gene orangerothe  Protoplasmaicugel ,  umgeben  von  eiuer  weichen  siructarloseo 
Gallerthülle.  Vergr.  800. 

Fig.  2.  Dieselbe ,  im  Beginne  der  Entwicicelung.  Die  homogene  orangerothe 
Protoplasmakugel  bat  sich  von  der  Innenseite  der  Cystenwand  zurückgezogen,  ver- 
dichtet, und  beginnt  in  zahlreiche  kleine  Kugeln  zu  zerfallen;  zwischen  Plasma- 
kugel und  Gallerthülle  hat  sich  ein  wenig  helle  Flüssigkeit  angesammelt.  Vergr.  300. 

Fig.  8.  Dieselbe,  weiter  entwickelt.  Die  Plasmakugel  ist  vollstänflig  in  zahl- 
reiche kleine  Kugeln  von  gleicher  Grösse  zerfallen  ;  diese  füllen,  locker  beisammen- 
liegend, den  ganzen  Hohlraum  der  kugeligen  Cyste  wieder  aus.  Vergr.  800. 

Fig.  4.  Die  kleinen  Protoplasmakugeln,  welche  aus  dem  Zerfall  der  encystirten 
Plasmakugel  hervorgegangen  sind,  ziehen  sich  an  einem  Ende  in  eine  lange  Geissei 
ans,  und  treten  als  » Schwärm sporen«  unter  lebhafter  Bewegung  aus  der  Cysten- 
hülle  (»Sporangium«)  aus.  Vergr.  800. 

Fig.  5.  Zehn  einzelne  birnförmige  Schwttrmsporen ,  sich  nach  dem  Austritt 
aus  der  geborstenen  Cyste  mittelst  ihrer  Geissei  lebhaft  bewegend ;  der  Sporen- 
kOrper  ist  sammt  seiner  Geissei  eine  vollkommen  nackte  und  homogene  Sarcode- 
masse.   Vergr.  880.  . 

Fig.  6.  Sieben  einzelne  Schwttrmsporen ,  welche  zur  Ruhe  gekommen  sind, 
die  Geissei  eingezogen  haben  und  statt  dessen  eine  Anzahl  von  spitzen,  formwecb- 
selnden  Fortsätzen  (Pseudopodien)  hervorstrecken;  sie  kriechen  mittelst  derselben 
unter  beständiger  langsamer  Formveränderung  nach  Amoebenart  umher;  der  ho- 
mogene Plasmakörper  ist  noch  ohne  Vacuolen.  Vergr.  880. 

Fig.  7.  Drei  amoeben artige  Keime  (zur  Ruhe  gekommene,  kriechende  Schwärm- 
sporen) vereinigen  sich  mittelst  ihrer  anastomosirenden  Pseudopodien  und  fliessen 
schliesslich  vollständig  in  einen  einzigen  Plasmakörper  (Plasmodium)  zusammen ; 
bereits  sind  einzelne  Vacuolen  (v)  im  Plasma  wahrzunehmen.  Vergr.  SSO. 

Fig.  8.  Zwei  amoebenartige  Keime  (von  den  in  Fig.  6  abgebildeten)  greifen 
eine  Diatomee  (Navicula)  an  den  beiden  entgegengesetzten  Enden  an.   Vgr.  SSO. 

Fig.  9.  Dieselben  beiden  Amoebenkeime,  wie  Fig.  8,  etwas  später ;  von  beiden 
Enden  der  Navicula  her  dieselbe  überziehend ,  sind  sie  in  der  Mitte  zusammenge- 
troffen und  haben  sich  hier  zu  einer  einzigen  vereinigt.  Vergr.  SSO. 

Fig.  40.  Eine  ältere  Protomyia,  entweder  durch  einfaches  Wachsthum  eines 
einzigen  amoebenartigen  Keimes  oder  durch  Verschmelzung  einer  grösseren  An- 
zahl von  Amoeben  zu  einem  Plasmodium  entstanden.  Eine  gefressene  Isthmia  und 


1 36  Givitf  ßg  der  Abbildaogen. 

eine  Navicula,  nebst  zahlreichen  Vtcuolen  Jv)  sind  in  dem  homogenen  Parcnchym 
der  Sarcode  sichtbar.  Vergr.  220.  ^ 

Fig.  4 1 .  Eine  ausgewachsene  Protomyxa  im  ü^igsten  Futterzustande,  nach 
sehr  reichlicher  Nahrungsaufnahme.  Im  Inneren  des  centn^len  Protoplasma-Leibes 
befinden  sich  zahlreiche  Vacuolen  {v),  ferner  oben  zwei  noch  ^usammenhüngeade 
Isthmien,  unten  drei  gegitterte  Kieselschalen  von  pelagischen  Tlntinnoiden,  (iwei 
Dictyocysta  elegans  und  eine  Dictyocysta  mitra);  die  eine  Schale  sc^int  eben  aus- 
gestossen  zu  werden.  Ringsum  strahlen  von  dem  centralen  Sarcodekörper  die  sehr 
starken,  baumförmig  verzweigten  Pseudopodien  aus,  deren  peripherische  Anasto- 
mosen zahlreiche  bogenförmige  Schlingen  bilden.  Oben  haben  mehrere  starke 
Pseudopodien  soeben  ein  dreihörniges  Peridinium  erfasst  und  umfliessen  es.  Die 
Vacuolenbildung  erstreckt  sich  auch  in  die  grösseren  Pseudopodien  hinein. 
Vergr.  220. 

Fig.  42.  Eine  ausgewachsene  Protomyxa,  hungernd,  ohne  Nahrung  Der  ganz 
homogene  Sarcod«l«tb  strahlt  ringsum  eine  sehr  grosse  Menge  von  baumförmig 
verästelten  Pseudopodien  aus,  welche  nur  wenige  Anastomosen  bilden  und  wenige 
Körnchen  führen.  Auch  die  Zahl  der  Vacuolen  in  dem  centralen  Protoplasma- 
liörper  ist  gering.  Vergr.  440. 

Taf.  111. 
Fig.  48—24.     Myxa  strum  radians. 

Fig.  4  3.  My&astrum  radians,  encystirt,  im  Ruhezustand:  eine  komogefie 
farblose  Protoplasmakugel,  umgeben  von  einer  zähen  structurlosen  Gallertbiille. 
Vergr.  450. 

Fig.  4  4.  Dasselbe,  im  Beginne  der  Entwickelung.  Die  homoi;ene  farblose 
Protoplasmakugel  beginnt  durch  radiale  Zerklüftung  (Strahltheilung)  in  zahlreiche 
kegelförmige  Portionen  zu  zerfallen,  deren  Spitzen  sich  im  Centrum  der  Kugel  be- 
rühren, wähi^end  ihre  abgerundeten  Basen  an  der  Oberfläche  der  Plasmakugel 
eine  maulbeerförmige  Zeichnung  hervorrufen.  Vergr.  450. 

Fig«  4  5  Dasselbe,  weiter  entwickelt.  Die  kegelförmigen  Plasmastttcke,  welche 
durch  die  radiale  Zerklüftung  der  encystirten  Plasmakugel  entstanden,  haben  Spin* 
delform  angenomaaen,  und  jedes  einzelne  hat  eine  kieselige  Hülle  ausgeschieden. 
Das  encystirte  Myxastrum  stellt  jetzt  ein  kugeliges  Sporaagium  dar,  welches 
zahlreiche  spindelförmige,  kieselschalige  radial  gestellte  Sporen  einschliesst. 
Vergr.  450. 

Fig.  46.  Dasselbe  Sporangium,  wie  Fig.  45.  Der  Focos  des  Mikroskops  ist  auf 
eine  meridianale  Durchschnittsebene  der  Kugel  eingestellt,  so  dass  man  die  radiale 
Stellung  der  kieselscheligen  spindelförmigen  Sporen  wahrnimmt.    Vergr.  450. 

Fig.  17.  Die  leere  Kieselschale  einer  Spore,  deren  Protoplasmakörper  bereits 
ausgeschlüpft  ist.    Vergr.  460. 

Fig.  48.  Eine  Spore,  deren  Sarcodeinhalt  aus  der  Kieselschale  auszuschlüpfen 
beginnt.   Vergr.  450. 

Fig.  49.  Dieselbe  Spore,  wie  Flg.  48,  einige  Zeit  später.  Es  ist  nur  noch  wenig 
Sarcode  in  der  Kicselschale.    Vergr.  450. 

Fig.  20.  Der  homogene  Sarcodeleib  einer  Spore,  welche  ihre  Kieselschale 
(Fig.  47)  gänzlich  verlassen  und  sich  kugelig  zusammengezogen  h«l.  Vergr.  450. 

Fig.  24.  Dieselbe  Sarcodekugel,  wie  Fig.  20,  einige  Zeit  später.  Es  beginnen 
Überali  feine  Strahlen  aus  der  Oberfläche  vorzutreten.  Vergr.  460. 


Erklüruiig  der  AbbUMgen.  \  37 

Fig.  Vi.  Ein  etwas  ftlires  kugeliges  My^astrum ,  dessen  radiale  Pseudopodien 
schon  länger  sind.    Vergr.  4JI9^ 

Fig.  28.  Ein  erwaffiMdnes  Myxastrum,  während  sehr  reichlicher  Nahrungs- 
aufnahme, im  üppigstÜBn  Futterzustande.  Die  radialen  Pseudopodien,  welche  rings- 
um von  der  centraton  Plasmakugel  ausstrahlen,  legen  sich  büschelförmig  über  den 
angegriffenen  Beutestücken  zusammen  und  drücken  diese  in  den  Sarcodeleib  hinein. 
In  der  Mitte  6ind  drei  Naviculen,  unten  eine  Kette  von  Baciilarien,  und  oben  rechts 
eiu  .Peridlnium  gefangen.  Körnchen  sind  in  reichlicher  Menge  im  Protoplasma 
zerstreut.    Vergr.  880. 

Fig.  24.  Ein  ausgewachsenes  Myxastrum,  hungernd,  ohne  Nahrung.  Der  ganz 
homogene  Sarcodeleib  strahlt  ringsum  eine  sehr  grosse  Menge  von  starren  ein- 
fachen radialen  Pseudopodien  aus ,  von  denen  nur  sehr  wenige  sich  verästeln  und 
anastomosiren.  Die  2ahl  der  Körnchen  im  Plasma  ist  sehr  gering.    Vergr.  280. 

Fig.  25—30.    Protamoeba  primitiva.   (Vergr.  400). 

Flg.  25.  Protamoeba  primitiva,  mit  mehreren  kurzen  Fortsätzen. 

Fig.  26.  Dieselbe,  mit  einem  langen  Fortsatz. 

Fig.  27.  Dieselbe,  im  ersten  Beginn  der  Zweitheilung. 

Fig,  28.  Dieselbe,  mit  weiter  fortgeschrittener  Zweitbeliuiig. 

Fig.  29.  Dieselbe,  mit  fast  vollendeter  Zweitheilnng. 

Fig.  30.  Dieselbe,  durch  vollendete  Zweitheil«ng  in  zwei  Individuen  (Auod 
B;  zerfallen. 

Fig.  84— 33.    Myxodictyum  sociale.  ' 

Flg.  31.  Myxodictyum  sociale,  eine  Colonie  von  siebzehn,  durch  ein  Sarcode- 
netz verbundenen,  actinophrysartigen  Moneren.    Vergr.  400. 

Fig.  32.    Ein  einzelnes  Stück  des  Sarcodenetzes.    Vergr.  600. 

Fig.  33.  Ein  einzelnes  Individuum,  welches  sich  von  der  Colonie  der  Siebzehn 
Moneren  abgelöst  hat.  'Vergr.  400. 


V 


Kleinere  Mittheilimgen. 


lieber  die  C^BsUtatitB  der  Mg.  loMtlegen  der  Blaisaue. 

Von 
A/Oeuther. 

Die  von  A.  W.  Hofhakn')  und  Gavtier*)  in  neuester  Zeit  bei  der  Einwirkung 
von  Chloroform  und  Aminbasen  auf  Kalihydrat  und  von  Cyansilber  auf  die  löd- 
Wasserstoff- Aether  erhaltehen,  mit  den  sog.  Nitrilen  isomeren  Verbindungen  sind 
von  HoFHAKN  als  »Homologe  der  Blausäure«,  von  Gaütibr  als  »Isomere  der  Cyan- 
wasserstoff-Aether«  bezeichnet  worden.  Kolbe  ')  unterscheidet  die  Letzteren  von 
den  Ersteren  so,  dass  er  in  ihnen  einen  zweiwerthigen  Kohlenstoff  annimmt, 
welcher  mit  dem  einwerthigen  Alkoholradical  den  dreiwerthigen  Stickstoff  befrie- 

tt 

€,... 
digt :   ,  >  N,  während  in  den  ersteren  diess  durch  ein  dreiwerthiges  Kohlenstoff- 


radical  geschehen  soll:  R€  )  N.  Claus*)  legt  den  neuen  Cyaoverbindungen  die 
doppelte  Moleculargrösse  bei,  als  den  Nitrilen. 

Ich  glaube ,  dass  es  weder  der  Annahme  eines  zweiwerthigen  Kohlenstoffs, 
noch  die  einer  Verschiedenheit  des  Moleculargewichts  zur  Erklärung  der  Isomerie 
bedarf. 

Die  Eigenschaft  des  Stickstoffs  einwerthig  auftreten  zu  können,  d.  h.  Was- 
serstoff zu  gleichen  Mischungsgewichten  zu  vertreten ,  beweisen  die  sog.  Azover- 

u 
bindungen.    Die  Blausäure  ist  aber  auch  als  eine  solche,  als  Monazomethylen :  €«^ 

aufzufassen  und  ihr  analog  sind  die  übrigen  Nitrile  zu  betrachten :  Acetonltril  s 

€'^ .  Propionitril  sb  ^^  etc.  und  Benzonitril  sb  ^'^     Sie  alle  sind  Monazover- 

bindungen  der  Kohlenwasserstoffe  von  der  allgemeinen  Formel :  €»  H*n— «m  (wo- 
rin m=o  und  jeder  ganzen  Zahl,  die  kleiner  als  »  ist,  sein  kann).    Die  Blausäure, 


\)  Annal.  d.  Chemie.  Bd.  4  44.  p.  H4. 

S)  Zeitschrift  f.  Chem.  N.  F.  Bd.  8.  p.  666. 

8)  Ebend.  Bd.  4.  p.  80. 

4)  Ber.  d.  naturf.  Gesellsch.  in  Freiburg.  Bd.  4.  Hft.  4. 


p^B 


A.  Geotber,  Über  die  Gonstitutioa  der  flogei.  Homologen  der  BUas&ore.         1 39 

das  Acetoniiril ,  das  Propionitril  etc.  «ipd  homologe  Glieder  einer  Reihe.  Dah«r 
kommt  es,  dass  sie  bei  der  Udfteteung  mit  Kalihydrat  und  Wasser  die  gleiche  Ver- 
änderung erleiden  und  ^6lnoIoge  Zersetzungsproducte,  die  homologen  Sfiuren,  lie- 
fern. Die  neu  entdeckten  Cyanverbindungen  dagegen  sind ,  um  im  gewöhnlichen 
Sprachgebrauch  zo-^eden,  nichts  als  blausaure  Salze,  Cyanwasserstoffverbindungen 
der  Kohlenwaeaerstoffe  €°  H*Q— "»i  sie  entsprechen  dem  Gyanwasserstoff-Ammo- 
niak  (Cyanammonium).  Daher  liefern  sie  alle  unter  dem  Binfluss  starker  Säuren  die 
ZersetMBgsproducte  der  Blausäure,  Ameisensäure  und  Ammoniak,  welch'  letzteres 
aOgleich  zu  dem  Kohlenwasserstoff  tritt  und  die  Aminbase  bildet.  Starken  wäss- 
rigen  Basen  gegenüber  besitzen  sie  die  Beständigkeit  der  Haloidaether. 

Während  also  die  Blausäure,  das  Acetonitril,  das  Propionitril,  das  Benzonitril, 
Abkömmlinge  des  Methylen's,  des  Aethylen's  des  Propylen's,  des  Benzylen's  (€' H*) 
sind,  sind  die  neuen  Cyanttre :  das  Methylcyanür,  das  Aethylcyanür,  Phenylcyanür 
Abkömmlinge  des  Sumpfgases,  des  Aethylwasserstolfs,  desBenzol's,  in  gleicher 
Weise,  wie  das  Methylchlorilr,  das  Aethylchlorür,  das  Phenylchlorür  es  sind. 

€H* ;  €■«• ;  €•«•  etc.  €'«•    |    €Ä»,  H«;  €W,  H»{  etc.  €•»*,  «•. 

x»H      J3i"      r^S*«       •       r«t"  £JJ1«    C**  C*I1*  Cr*       m      C^U*    C^ 

Nicht  die  neuen  Cyanverbindungen  also,  sondern  die  schon  längst  bekannten 
Nitrile  sind  die  wahren  Homologen  der  Blausäure. 

Ich  werde  in  Kürze  Gelegenheit  nehmen  die  Ansicht,  dass  die  Blausäure  als 
Azomethylen  aufisufassen  ist,  und  die  sich  daraus  ergebenden  Consequenzen  näher 
zu  entwickeln. 

Jena,  d.  45.  Jan.  4808. 


Kwel  N«tiiei« 

Von 
A.Geather. 


E.  LiRif BMAHN ')  beobachtete  bei  der  Einwirkung  von  salzsaurem  Aethylamin 
auf  sbipetrigsaures  Silberoxyd  neben  Alkohol  eine  bei  470— 47t*  C.  siedende  Sub- 
stanz, die  schwach  gelblich  gefärbt,  leichter  als  Wasser  ist,  einen  eigenthüm liehen 
Seruch  und  die  Zusammensetzung  G^H^^N'O'  besitzt.  Er  meint  von  ihr,  dass  sie 
sich  ihrer  Zusammensetzung  nach ,  keiner  bis  jetzt  bekannten  Classe  von  Körpern 
anschliesse.  Dieselbe  ist  indess  nichts  anderes,  als  das  von  Kredtzhagb  und  mir') 
bei  der  Einwirkung  von  salzsaurem  Diaethylamin  auf  salpetrigsaures  Kali  und 
ebenso  von  salzsaurem  Triaethylamln  auf  das  Letztere*)  beobachtete  N  itro  so - 
d  i  a  e  t  h  y  I  i  n.  Dasselbe  besitzt  die  gleiche  Zusammensetzung,  den  gleichen  Siede» 
punct  (470—4  73*  uncorr. ;  476*,0  corr.)  und  die  nämlichen  Eigenschaften ;  es  ist 


4)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Bd.  444.  p.  488. 

5)  Ebond.  Bd.  428.  p.  454. 

-8)  Diese  Zeitschrift.  Bd.  I.  p.  494. 


1 40  A*  Gwk£r,  Zwei  Nolizea. 


miilff 


nämlieh  eine  »schwach  gelblich  gerärl^e«  FyissjgkeU,  von  »eigenthümlich-aroma- 
tiscbem  Gerach,«  es  töst  sich  in  conc.  £(alzsäffihäi«Md  wird  beim  Erhitzen  damit 
unter  Bildung  von  SÜckoxyd  wieder  in  salzsaures  DiaMfayJ^min  verwandeit.  Ich 
habe,  schon  bei  der  ersten  Beschreibung  dieser  Verbindung  die  Vermuihung  aus- 
gesprochen ^  dass  das  von  Hofmank  bei  der  Zersetzung  des  Salzsäuren  Aethyhinftin's 
iu  geringer  Menge  erhaltene  Oel  eben  diese  Verbindung  sei,  wa» j«tzt  dnrcb die 
Versuche  von  LiKtwiiitfii  best&iigt  wird. 

Das  NitrosodiaethyÜA  ist,  wie  sein  Verbalten  zur  Salzsäure  zeigt,  ein  AMbt^mm*' 
ling  des  Diaeihylamin's  UAd  nicht  wie  Linmevahn  anzunehmen  geneigt  ist ,  ein  sft» 
clier  des  Aethy  len's  und.  Aethy  lenox.yd's,  es  ist  eben  Nitrosoxydiaethylamin 
(NUrosodiaethylin)  d.  h.  Diaethylamin,  worinn  an  Stelle  von  4  Mgt.  Wasserstoff 
die  Elemente  voia  Stickoxyd,  oder  4  Mgt»  Sauerstoff  und  4  Mgt.  Sauerstoffoxydul 
enthaltea  sind : 


'  ONO  J 


€*  »*•  N»  0»  «  ß»  »•      >  »•  N. 


Es  ist  die  analoge  Verbindung  eines  Hydroxydiaethylamin's : 


^    OÖO  J 


Das  von  A.  Siersch  bei  der  Behandlung  von  salzsaurem  Propylamin  mit  sal- 
petrigsaurem Silberoxyd  erhaltene,  zwischen  200 — 205*  siedende  Nebenproduct 
von  der  Zusammensetzung  €*ff  ^*N*0'  ist  offenbar  nichts  anderes ,  als  das  homo- 
loge Glied  vom  Dipropylamin. 


A.  W.  Hofmann*]  hat  über  die  Veränderung,  welche  die  Dömpfe  des  Me- 
thylalkohols erleiden ,  wenn  sie  mit  einem  Sfrom  atmosphärischer  Luft  iiber  eine 
glühende  Platinspirale  geleitet  werden,  berichtet.  Er  ist  der  Meinung,  dass  dabei 
das  Methylaldehyd  gebildet  werde,  weil  das  mit  Ammoniak  alkalisch  gemachte 
flüssige  Product  mit  salpetersaurem  Silberoxyd  erwärmt ,  einen  vollkommnen  Sil- 
berspiegel erzeuge,  indem  zuerst  Ameisensäure  und  dann  Kohlensäure  entstehe, 
dass  ferner  dasselbe  mit  einigen  Tropfen  Kalilauge  erhitzt  sich  beim  Kochea  trübe, 
eine  gelbe  Färbung  au  nehme  und  bald  gelbbraune  Oeltrtfpfchen  abscheide,  die  im 
hohen  Grade  den  Geruch  von  Aldehydharz  besitzen.  Dass  ferner,  wenn. man 
Schwefelwasserstoff  im  jenes  flüssige  Product  der  Reaction  leite,  es  sich  nach  eini» 
gen  Augenblicken  trübe,  indem  sich  ölige  Tropfen  von  zwiebelartigem  Geruch  ab- 
scheiden, die  sich  beim  Kochen  mit  Salzsäure  üösen  und  beim  Erkalten  eine  Masse 
blendend  weisser  verfilzter  Nadeln  von  der  Zusammensetzung  ۊ'S*  liefern.  Der 
Schmelzpunct  derselben  liegt  bei  t48® ,  sie  verflüchtigen  sich  ohne  Zersetzung,  sie 
sind  wenig  löslich  iu  Wasser,  mehr  in  Alkohol ;  Aether  ist  ihr  bestes  Lösungsmittel. 

Die  ZusamnusBsetzttng  dieser  Krystalle,  sowie  die  obige  von  Hofmann  gegebene 
Beschreibung  stimmen  vollkommen  überein  mit  der  von  Girard*)  durch  Reduction 


4)  Compt.  rend.  T.  LXV.  p.  555.  Zeitschr.  für  Chemie.  N.  h\  Bd.  4.  p.  6. 
2)  Annal.  Bd.  4  00.  p.  806. 


JT' 

Jobo  Mayow  über  Apnoe  uaMImntarrespiration.  141 

von  Schwefelkohlenstoff  zaerst/inotechtelan ,  später  von  A.  Hüsmifi«!)  aus  dem 
IfethylensuJfür  (Product  d^f^nwirkung  von  Methylenjodür  auf  Schwefelnatrium) 
beim  Erhitzen  auf  4  50/Mialtenen  und  von  Letzterem  »Dimethylensulfür«  be- 
nannten Verbinduns^  Hosemanm  sagt  von  ihr,  dass  sie  in  »reinen  künorhombisohen 
Prismen«  kryslalll^re,  deren  Schmelzpunkt  »oberhalb  300*«  liege,  die  sich  aber 
•schon  bei  i^Blt  niedrigeren  Temperaturen  in  reichlicher  Menge  verflüchtigen«,  dass 
sie  einen  jmnerträglich  zwiebelartigen  Geruch«  besitzen  und  »ihre  USslichkeit  in  den 
vcsfldBMenen  indifferenten  Lösungsmitteln  sehr  gering  ist,  dass  sie  sich  am  besten 
noch  in  Schwefelkohlenstoff  und  Benzin  lösen.«  6irari>  beobachtete  ihre  unver- 
llnderle  Löslichkeit  in  warmer  SalzsKure. 

Wenn  darnach,  wie  mir  scheint,  die  IdentÜtttdervon  Hofmavh  erhaltenen  Kry- 
stalle  mit  dem  Dimethylensulfür  nicht  mehr  bezweifelt  werden  kann ,  so  wird  die 
Existenz  des  Methylaldehyds  in  dem  betreffenden  Product  natürlich  ebenso  sehr 
fraglich ,  als  darin  die  Anwesenheit  von  Dioxymethylen,  welches  durch  Oxydation 
leicht  Ameisensäure  und  Kohlensäure  liefert,  wahrscheinlich  wird. 

Jena,  den  S5.  Januar  4868. 


J«hi  lajtw  ib«r  Ayi«e  nd  f hceitamspinitira. 

Von 
B.  S.  Schultae. 

Studien  über  ältere  Anschauungen  von  den  Existenzbedingungen  des  Fötus 
führten  mich  auf  Matow,  dessen  Tractatus  terlius  überschrieben  ist :  De  respira- 
tione  Foetus  in  utero,  et  ovo. 

Es  war  bekannt,  dass  Matow  dem  Sauerstoff  auf  der  Spur  gewesen  sei,  hun- 
dert Jahre  vor  dessen  Entdeckung  durch  Lavoisier.  Dass  ihm  die  physiologische 
Bedeutung  dieses  sehr  bestimmt  von  ihm  definirten  Bestandtheils  der  Atmosphäre 
nicht  sowohl  abnungsweiee  vorschwebte,  als  vielmehr  auf  Grund  von  Experimenten 
offenbar  war,  und  zwar  zum  Theil  bis  in  Einzelheiten,  deren  Wiederauffindung  der 
Forschung  der  neuesten  Zeit  vorbehalten  war,  hat  neuerdings  Heioenhais^)  aus- 
führlich dargelegt.  ^ 

Mayow  weist  nach,  dass  derjenige  Bestandtheil  des  Salpeters,  welcher  dessen 
explosive  Wirkung  im  Schiesspulver  bedingt,  identisch  ist  mitdemjenigen  Bestand- 
theil der  Atmosphäre,  welcher  zur  Unterhaltung  der  Flamme,  zur  Unterhaltung  der 
Athmung  erforderlich  ist.  Dass  durch  die  Athmung,  wie  durch  die  Flamme  ein 
und  derselbe  Bestandtheil  der  Atmosphäre  verbraucht  wird,  dass  durch  beide  Pro- 
cesse  die  Atmosphäre  diesen  Bestandtheil  verliert,  durch  dieselben  an  Volum  ein- 
büsst,  auch  untauglich  wird,  sowohl  der  Athmung  als  der  Verbrennung  weiter  zu 
dienen,  das  demonstrirt  Matow  durch  dieselben  Experimente,  deren  man  sich 
beuteln  Schulen  und  Vorlesungen  zur  Demonstration  der  gleichenThatsachen  bedient. 


4)  Annal.  Bd.  4i6.  p.  294. 

i)  Mechanische  Leistung ,  Wärmecntwickolung  und  Stoffumsstz  bei  der  Mos- 
keithätigkeit.    Leipzig,  1864.    Seite  5  u.  ff. 


* 

I 


144  B.  S.  SehaHie,  Mm  Mi^«c^r  AfiM«  mid  Ptaeratarmpintion. 

SauertloffeiDnaiii&e,  nielii  die  KohleqSäivoaaswb^daiig  kennt.  Matow  ^tkstX  fort : 
•  Enimvero  vertsim  ile  est,  si  sanguis  Sfieriosas,  qui  spiriln 
nitro-aereo  imbutas  est,  loco  venosi  ad  ^-»c.  accederet,  nulla 
omotDo  respiratione  opus  esse.  Et  hoc  inde  coA/irmari  videtar, 
quod  dum  saaguis  arteriosus  ex  ono  Cane  in  allTejPum,  noto  jam 
experimeoto,  transmittitur,  canis  in  quem  %anguis  transfertur, 
quarnquam  antea  anheius,  et  intense  respirans,  saogatoe  tarnen 
arterioso  intds  recepto,  vixomnino  respirare  videtur.« 

Alan  glaubt  nicht,  wenn  man  diese  Worte  liest,  einen  Mann  des  Torvorigen 
Jahrhunderfts  zu  veruehmen.  Es  ist  gewiss  dem  Matow  sehr  hoch  anmrechnen, 
dass  er  auf  dem  Boden  der  damaligen  Keoniniss  im  Stande  war ,  den  Sauerstoff  zu 
finden.  Jkber  weit  tftauoeaswerther  ist  die  Leistung,  dass  derselbe  Mann,  welcher 
durch  eigene  Experimente  den  Sauerstoff  (and,  in  seinem  kurzen  Leben  (er  starb 
t4  Jahr  alt)  die  Bedeutung  dieses  Stoffes  für  die  tbieriscfae  Oekenomie  soweit  er- 
gründen konnte,  dass  ihm  selbst  die  Apnoe  bekannt  nnd  vollständig  verständlich 
war ,  dass  der  ununterbrochene  Sauersloffverbrauch  auch  im  Fdtus  ihm  ausser 
Zweifel  war  auf  Grund  objectiver  Keootniss  solcher  Functionen  an  demselben, 
welche  ohne  Sauerstoffverbrauch  nicht  stattfinden,  dass  derWeg,aaf  welchem  dem 
Fötus  der  Sauerstoff  zugeführt  wird ,  ih«  bekannt  war ,  und  dass  er  den  Zustand 
des  Fötus  in  Bezug  auf  die  Befriedigung  seines  Atbembedürfnisses  mit  dem  eines 
durch  Transfusion  apnoisch  gemachten  Hundes  vergleichen  konnte.  Ich  stehe  nicht 
an,  dem  Matow  seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung  nach  den  Platz  unmittelbar 
neben  Harwjet  und  gleich wertbig  mit  Ihm  anzuweisen.  Seine  historische  Bedeu- 
tung, ich  meine  seine  Bedeutung  für  die  Weiterentwickelung  der  Wissenschaft  ist 
Ireiüch  gegenüber  der  Haewet's  verschwindend.  Hahwet  wurde  von  seinen  Zeit- 
genossen und  Nachfolgern  verstanden,  Matow  nicht.  Als  Beweis,  wie  wenig  er  ver- 
atanden  worden,  genüge  anzuführen ,  was  Hallek  in  seiner  genau  hundert  Jahre 
später  erschienenen  Bibliotheca  anatomica  über  ihn  sagt.  In  seinqp  kurzen ,  sonst 
meist  wunderbar  scharf  trefiißnden  Weise  sagt  Hallcr  über  Matow  :  »f  uvenis,  ut  ex 
pictura  videtur,  vii*  ingeniosus  neque  mathematum  ignarus ,  caeterom  in  bypothe- 
ses  pponior,  quod  fere  commune  ejus  aetatis  Vitium  fuit.  Nitrum  statuit  per  aerem 
obvolitansi  quod  in  pulmones  absorptum  abeat  in  Spiritus  vitales  .  .  .  cet.« 

Ich  weiss  dafür,  dass  Matow  auf  die  Bntwickelung  der  Wissenschaft  fast  ohne 
Einfluss  blieb,  keinen  anderen  Grund,  als  dass  er  mit  den  Zielen  seiner  Forschung 
unter  seinen  Zeitgenossen  zu  isotirt  dastand,  dass  er  mit  den  Resultaten  derselben 
über  die  Leistungen  seinerzeit  um  eine  ganze  Reihe  von  Menschenaltern  hinausragt. 

Matow's  Tractatus  quinque  medioo-physici  erschienen  zu  OxfortH674.  Ob 
sie  früher  einzeln  erschienen,  ist  mir  nicht  bekannt,  doch  geht  ans  einer  Bemer- 
kung Matow's  auf  Seite  4i9  hervor,  dass  der  Traotatus  de  respiratione  früher  von 
ihm  veröffentlicht  worden,  als  der  in  der  Gesammtansgabe  voranstehende  wesent- 
lich chemische  De  Sal  Nitro  et  Spiritu  nttro-^aäreo.  Mir  liegt  eine  spätere  Ausgabe 
vor:  Johannis  Matow  Londinensis  Doctoris  et  Medici,  nee  non  Coli.  Onm.  Anim.  in 
Universitate  Oxoniensi  Socii ,  Opera  omnia  medico-physica ,  tractatibus  quinque 
comprehensa. '  Hagae-Comitum,  4681. 

Jena,  den  13.  Februar  1868. 


r 


^ 


JeiiaistV.i  Zeitschrift,  Bd.  IV. 


Taf .  I. 


I. 


JfT 


"> 


^  /-  . 


■\ 


^=1- 


u.^the  Zt  t.^rk 


Täf.l.. 


«• ..    ■f 


i 


,  'h 


-       I  y 


*  ' 


I    .     •  •« 


»      j» 


^    /. 


»>     » 


i   »'.  . 


II 

4«. 


^. 


■  « 


.r^    ' 


I 

1 


Beobachtungeii  des  pathologiseheii  Instituts  zu  Jena  in  Jahre  1866 

von 

Wilhelm  MüUer. 


Allgemeiner  Theil. 

Dem  Bericht  über  die  Beobachtungen  des  pathologischen  Instituts 
2U  Jena  im  Jahre  1 866  schicke  ich  folgende  Bemerkungen  voraus. 

Das  pathologische  Institut  zu  Jena  verfügt  in  Folge  der  Liberalität 
der  Aerzte  fast  über  das  ganze  Sectionsmaterial  der  Stadt ;  dazu  kommt 
eine  beschränkte  Zahl  von  Sectionen  in  den  benachbarten  Dörfern, 
welche  durch  die  Poliklinik  dem  Institut  zugewiesen  werden,  lieber  die 
Mortalitätsverhättnisse  der  Stadt  Jena  werden  von  dem  Amtsphysicus 
Herrn  F.  Siebert  sorgfältige  Aufzeichnungen  nach  dem  Muster  des 
Registrar  general  geführt.  Sie  liefern  die  absoluten  Sterblichkeits- 
zahlen. Sie  gewähren  femer  einen  Einblick  in  die  Häufigkeit  der  ver-« 
schiedenen  Todesursachen  und  deren  Yertheilung  auf  die  einzelnen 
Lebensalter  und  Geschlechter.  So  zuverlässig  und  für  den  Statistiker 
unentbehrlich  die  ersteren  Angaben  sind  y  so  wenig  sind  die  letzteren 
frei  von  den  Mängeln ,  mit  welchen  zur  Zeit  jede  Statistik  der  Todes«^ 
Ursachen  behaftet  ist.  Diese  Mängel  sind  begründet  einmal  in  der 
Unvollkommenheit  unsres  Wissens.  Sie  gestattet  in  vielen  Fällen 
nicht,  die  Art  der  Todesursache  während  des  Lebens  mit  hin- 
reichender Genauigkeit  festzustellen,  wodurch  ein  Theil  der  sta- 
tistischen Angaben  mehr  oder  weniger  willkürlich  wird,  wenn  die 
Gontrole  durch  die  Section  mangelt.  Sie  sind  zweitens  begründet  in 
der  Un Vollkommenheit  der  Methode.  Da,  wieS.  Wilks  in  seinem  lesens- 
werthen  Aufsatz  Acute  and  chronic  disease  mit  Recht  hervorgehoben 
äat,  der  Tod  viel  häufiger  die  Folge  einer  Combination  von  Ursachen  ist, 
als  man  gewöhnlich  annimmt,  so*  kann  eine  ZusammensteUung ,  welche 
jeden  Todesfall  unter  eine  bestimmte  Rubrik  einreiht,  nur  einen  an- 
nähernden Ausdruck  der  wirklichen  Verhältnisse  darstellen. 

Hievon  ganz  abgesehen  findet  bei  einer  Statistik  der  Todesursachen 

Bmnd  IV.  2.  40 


1 4G  Wilbelm  Mfillcr, 

eine  ganze  Reihe  von  KrankbeitsprocossA,  welphc  hiiufig  den  Morbilitäts— 
Verhaltnissen  einer  Gegend  ein  charakter^scnK»  Gepräge  verleihen, 
aus  dem  Grunde  keine  Berücksichtigung,  weil  sie  in  d(^*  Regel  nur  durch 
besondere  Gomplicationen  den  Tod  herbeiführen.  Mfin  würde  in  den 
ofiicielien  Todtenlisten  vergebens  Nachweise  über  die Httufigkeit  des 
Kropfs,  des  runden  Magengeschwürs,  der  Uteruserkrankungen  in  jiie— 
siger  Gegend  suchen.  Es  ist  aber  unzweifelhaft  für  den  Statistiker  nich^ 
blos  von  Interesse  zu  wissen,  welche  Krankheiten  in  einor  Gegend  den 
Tod  der  Einwohner  herbeiführen,  sondern  auch  zu  erfahren,  mit  welcher 
Häufigkeit  namentlich  chronische  Processe  bei  denselben  sich  finden, 
da  letztere  hauptsächlich  es  sind,  welche  die  Arbeitsfähigkeit  der  Indi- 
viduen in  ausgiebigerem  Grade  beeinträchtigen.   • 

Ein  pathologisches  Institut  vermag  diesem  Verlangen  der  Statistik 
innerhalb  gewisser  Grenzen  zu  genügen,  insofern  dasselbe  alle  die  Ver- 
änderungen registrirt,  welche  überhaupt  bei  den  geöffneten  Leichen 
sich  vorfinden,  mithin  einen  Einblick  in  die  Häufigkeit  aller  der  Krank- 
heitsprocesse  gewährt,  welche  mit  bleibenden  Formänderungen  im  Or- 
ganismus einhergehen.  Wie  werthvoU  die  Ergänzung  ist,  welche  die 
officielien  Todtenlisten  in  dieser  Hinsicht  durch  die  Aufzeichnungen  des 
pathologischen  Instituts  erhalten ,  ergibt  sich  aus  dem  Umstand ,  dass 
das  Verhältniss.  der  in  Jena  Verstorbenen,  welche  secirt  werden,  zu 
den  überhaupt  Verstorbenen  durchschnittlich  gegen  70  Procent  beträgt. 

Es  ist  klar,  dass  es  zur  Herstellung  einer  MorbilitätsstatistikJena's, 
soweit  das  pathologische  Institut  eine  solche  zu  liefern  vermag ,  einer 
längeren  Beobachtungszeit  bedarf.  Die  Beobachtungen  der  einzelnen 
Jahrgänge  haben  bei  der  Beschränktheit  des  Materials,  welches  eine 
Stadt  von  8000  Einwohnern  liefert,  nurWerth,  insofern  sie  Glieder 
einer  grdssern  Beobachtungsreihe  darstellen  und  zugleich  einen  Ein- 
blick in  die  periodischen  Schwankungen  der  beireffenden  Verhältnisse 
gewähren. 

Zur  Erleichterung  der  Uebersicht  sind  an  der  Spitze  der  nachste- 
henden Mittheilungen  die  verschiedenen  Todesursachen  in  üblicher 
Weise  tabellarisch  zusammengestellt.  Ausser  den  in  statistischer  Hin- 
sicht wichtigen  Beobachtungen  wird  der  vorliegende  allgemeine  Theil 
zugleich  jene  enthalten ,  welche  grösseres  wissenschaftliches  Interesse 
darbieten  und  eine  kurze  Darlegung  gestatten.  Der  in  dem  nächsten 
Heft  dieser  Zeitschrift  erscheinende  specielle  Theil  wird  eine  Reihe  von 
Detailbeobachtungen  in  ausführlicher  Darlegung  bringen. 

Die  Zahl  der  im  Lauf  des  Jahres  i  866  vom  pathologischen  Institut 
zu  Jena  geöffneten  Leichen  beträgt  135.  Die  Vertheilung  der  haupt^ch- 
liehen  Todesursachen  auf  diese  4  35  Leichen  ergibt  sich  aus  nächste- 
hender  Zusammenstellung: 


BeohaclttiiUiriMi  des  pathologischen 


Jena  im  Jahre  1866. 


147 


Todesursache 

1 

1 

L  /1-r 

■ 

1 

( 

1 

I 
1 

f|i-40 

H^fO\  —30 

—-40 

-50 

i  —60 

.    -70 

—80 

M  \, 

M.W 

M.  W.  |M.  W. 

M.W. 

M.W. 

1": 

W. 

jM. 

W. 

M.  W 

1 
ll 

f 

1 

Carcinom         ,  —  1 
des  Uterus    ....  ^  — '  — 

1 

1 

1 

1 

1 

1       • 

1 

^-- 

>~ 

— 

1 

—  — 

, 

4 

— 

1 

1 

_!' 

a    Darms   ,  .  .  .    — 

— . 

^-. 

— 

—. 

— 

;  ^_  ■  ^i 

V  ___ 

1  ^""    """ 

1  ^^ 

4 

__^ 

1; 

der  Brustdrüse  .  .     — 

1 
1 

— 

=;'!- 

I! 

:      1  - 

1      1' 

1  ~~^  1' 

»  liieren  ....!,— 

-    i 

II                ;       1         i 

Epitheüoni 

1 

;     1 

1       1         1       1         •        1         .        1 

der  Saanienblasen   \  -^ 

— 

1    1 

1          1 

— 

1 

1-^':  i:     ■:ii 

»    Blase — 

— 

1 

— 

' 1 i 1 

1          i     1 

— 

^i- 

;—    4i— '  — ' 

des  Uterus   ....     —  1  —  |      1  — 

8 

1 

,.     ;    :'-!); 

»    Kehlkopfs.  .  .     —  , — ,—•)—- 

II      1     • 

1        .      1 

1          1       .   ' 

ll     ^          1 

Adenom 

i 

t 

r 

1 

1      '     : 

'     1     1 
1     )     '     ' 

I 

dei*Glaud.lhyrectd     — 

.1   ' 

1                     ! 

i 
1     1 

— 

t 

1 

1 

1 

»      »        piluit.  .  ,  —   — '1 —    — 

1 

— 

^ 

1 

■ 

— 

1 

Sarkom 

f          ; 
■          ; 

1 

1 
\ 

des  Gehirns    .  .  .     — ,  — 

1 ,  — 

1  ^^ 
1 

— 

— 

-■  i 

"*~i 

—   — . 

1 

-i    < 

der  Lungen  ....     —  ;  — , 

1 

r 



1 

4' 

r         1 

<              t 

1 

1 

1 

1 

1 

der  Hirnbaut  .  .  .  ;  —    — 

S       4 

i               1 

4 



1  < 

1                       F 
1.                       1                    t 

t. 

»    Lungen  .  .  .  .  ,  —   — 

— 

a 

3      4 

8 



■     Jl— ,'1     3.        1;     1 

1                  1                   •                11 

-i  *   ' 

4''               12< 
II               '■ 

»    Knochen   ..."  —    — 

4 

— 

— 

—    — " 1            

Syphilis ,     4  j  — 

1 

-i- 

—     ^            1 

— '1  — 

— 

. 



—  i       \ 

Lupus "^  i  "■ 

i 

' 

-^~ 

_^_ 

1      ^         -^^ 

I                    1 

1 

'1 

— - 

1 

— 

1 

~~"  "i     ^ 

Typhus -    — 

— ^ 

— 

-;-l:  < 

ll  "^ 

"""r  "" 

—  tl      1 

Scorbut 1  —   — 

__     .— 

1 — 1 

— 

— 

) 

I                    ' 

— 

1       M^M 

<l — ll- 

— :.   4 

Krankh.  des  Ner-  ' 

1 

■ 

i 

r 

1 

1: 

vensystems 

i 

1               1 

1 

i 

1               ' 

1 

Pachymeniugitis  .     — 

— 

— 

— 

^— 

1 
1 

1 

-:    <>-j 

-  *1-1 

_»    .     ' 

Leptomeningitis   .     — 

— 

4 

-^ 

1 

1  — 

— 

1    — 

.  1 

■~- 

— 

1  ""  '      ji        '        '     "^ 

llydrocephalus  .  .     — 

— 

'  — 

4 

1 

1  * 

4    — 

— " 

-^ 

1              » 

-••  1  —  1 

Haemorrbag.  cer.  1  -;-   — 

■ 

-1 

t 

—    ^ 

i 

1  ___ 

— 

4 

It""        1 

"^  ''  '~~  ( 

Krankh.  d.Circuls. 

1 

1 

1 

i 

1 

1 

1               1 

1 

roricarditis.  ...     —    — 

1        1  "~i'       1  ""^1 

1       '  ^' 

1 

^^™ 

— 

<i- 

4 

— 

.    1 

Kndocarditis  ...       i    — 

^»        .  _^    —.^ 

— 

— 

«r- 

— 

4 

ji 

< 

— 

it 

Aneurysma  cordis    — 

— - 

1       ■       1 

-  _  i 

— — 

'  -— 

— 

•^kM 

i 

—— 

4 

it  "T 

— 

^!!45 

»          Qortae    — 

— 

1 

— 

— 

— !'  4 

— 

— 

— 

Phlebitis 4 

2 

,  1   1  ^^^^ 

1 
1 



1  ""* 

— 

1 

ii  ___ 

-^ 

«  - 

Kr.  des  Resplrs.     1 

1 

1 

1 

1 

1 

Diphtheria    laryn.     — 

4 

T  "Tt 

1          1 

— ,•  — 

— 

1    ■ 

^^ 

^^^ 

— 

( — 

— 

■ 

Dronchopueum.    .     — 

— — 

8      1| 

1 

~v 

1-   '■  ^ 

•^ 

-•" 

_^  — ^  1  — ^ 

~"" 

"■■• 

Pnoumon.  crupos.  1  — 

— 

1 

—— 

— — 

1            t         t 

i 

4 

1,1          !      »■ 

4 

B           chron.     — 

< 

— ^ 

^1 

—    — 

1  ^^ 

-  -1 

— 

^^i  * 

i 

— 

^^m» 

l'iS 

Empbysema  ...     —    — 

^_    .^' 41 

— ;  < '- 

1 

4 

2 

— 

( 

Pleuritis —    — 

"^  1  "~*i  '~~ 

— 

— ^ 

— -1   — 

1 

4        4 

1        1 

n 

•^. 

-— 

"— 

Asphyxia 1  ,    * 

■  ■ 

1 

1 

1 

t 

— - 

— 

Kr.  des  Digests. 

r 

1         !     1 

)• 

1 

Incarcer.  intest.  .  ,  —  j    < 

-— 

— 

1  "~             • 

1 

— 

'1 

— — 

4    — 

4 

— 

* 

Catarrh.    intesl.  .       8  j  — 

— 

_1  

— 

— 

ii      1 

— 

— 

— — 

4  7 

• 

Cholera 

1 

— 

— 

m^mmf    '      ^^^ 

— 

— 

— 

— ~ 

Dysenteria  .... 

1 « - 

^ 

— " 

^—     ^~    -^ 

-tl    * 

4 

.^  '  —  '     4  1     4  '  — 
1         1 

— 

— 

4 

Abscoss.  hepatis  •  ;   -  |  ~ 

1  "— 

— 

,        -      .    ' 

— 

~"~ 

Echinococc.    hep.  ,  — 

— 

— 

■  —     "~|  ~  .  "~!  "^ 

^— 

"^ 

—" 

Kr.  des  uropoet.  S,  i             i 

1           '     i 

'         '        |l         1 

1     , 

-          «    8 

1 

:  — ,  4  '— ,  — ;   4,  —      r  1 

—      4 

"■ 

»          inlerst.     —   — ;  — 

!                         ' 

1 

i          1! 

t 

1,-1-,    4    - 

— 

—  -|-i:  —  l 

-Ii 

5    t<44U 

19      5       7     5  ;    .5     « 

^6      4       0      40 

•   44    7 

7     8 

6     44    0 

1      4i      .       \t            7 

7            49 

tK 

15 

4  7           4  1 

1 

L 

1 

f 

■ 

f 

1 

lu* 


HS 


\m  MJUler, 


Tudeftursar'be 


0—4      2— «0     —20      —30      —40  f  A-JU 
M.W.    M.W.   M.W.   M.W.   M.W.iM.W. 


— «0      —70      —80 


]u.y^\  M 


W.   M.  W 


I      I' 


Pyelitis —   — „  —  j  —  — 

Diabetes il  — 

Kr,  des  Geoitals.    { 
Dipbtberia  uteri  .  '  — 
Ruptura  » 

Kr,  der  Haut 
Erysipelas  .  .  . 
Woriddiphtberie 
Krd.BeweguD^ss 
Rachitis    .... 
Koocbetibrucb  . 
Vergiftung  .  .  . 


>i 


-f- 

II 
ii 


'II 


— .  i 


4 


(        (  '  ;  I 


I 


—  1    i'  — i   2  -_  .  «  ;  — 


^ 


h 


.1      I 


i\ 


1 


— ''    4 


,1^1       '       j      .1 


I   — I J—     6 


3: 


tii     4344       S;    7    40:    7    44 


5  133 


13 


<      9 


24 


49      ;•  47 


48 


44 


Tuberkulose 

fand  sich  als  frischer,  noch  im  Fortschreiten  begriffener  Process  in  27 
Leichen ,  dies  gibt  ein  Verhältniss  von  20  %.  Die  beobachteten  Fälle 
lassen  sich  in  drei  Gruppen  bringen,  je  nachdem  Tuberkulose  für  sich 
dem  Leben  ein  Ziel  setzte  oder  der  Tod  durch  eineCompIication  erfolgte 
oder  in  den  Leichen  Veränderungen  sich  fanden,  welche  als  disponirende 
Momente  für  die  Entwicklung  der  Tuberkulose  betrachtet  werden 
konnten. 

Der  erstercn  Gruppe  gehören  \  4  Fälle  an ;  nur  in  einem  war  die 
Tuberkulose  auf  die  Lungen  beschränkt,  in  allen  Übrigen  auf  mehrere 
Organe,  namentlich  Lungen,  Lymphdrüsen  und  Darm  ausgebreitet. 

In  die  zweite  Gruppe  gehören  4  Fälle:  Bei  einem  4 4jährigen Mann 
kam  es  in  Folge  von  Perforation  der  rechten  Lunge  durch  tuberkulöse 
Yerschwärung  zu  Pleuritis  und  Pneumothorax;  bei  einem  45j.  Mann 
hatte  sich  im  Anschluss  an  periphere  vereiternde  Lungentuberkulose 
eitrige  Pleuritis  entwickelt.  Ein  68j.  Tuberkulöser  erlag  eiaer  hämor- 
rhagischen Pachymeningitis.  Bei  einem  17j.  Tuberkulösen,  welchem 
wegen  Garies  des  linken  Kniees  der  Oberschenkel  im  unteren  Dritttheil 
amputirt  worden  war,  hatte  sich  diffuse  eitrige  Periostitis  längs  des 
ganzen  Stumpfs  entwickelt,  an  welche  sich  iBbriuös-eitrige  Pericarditis 
anschloss. 

In  der  dritten  Gruppe  lassen  sich  9  Fälle  unterbringen.  Bei 
3  Individuen  hatte  sich  Tuberkulose  an  chronische  Pneumonie  und 
Bronchialerweiterung  angeschlossen ;  in  2  Fällen  war  das  disponirende 
Moment  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  durch  rundes  Magengeschwür 
gegeben.    Bei  einem  15j.  Mädchen  hatte  sich  Tuberkulose  im  Verlauf 


BeobaclitungCD  des  patbologischen  Ii^Mpi  ZQ  Jena  im  Jahre  1866.  ]  49 

eines  weit  verbreiteten  Lupus  entwicAlt,  bei  einem  30  j.  Mann  im  An- 
schlussan  chronische  tubjffiHfltfephritis,  bei  einem  32j.  MannimAnschluss 
anDiabetes.  ZahIr«€llemih'areTuberke]knötchen  neben  umfangreicheren 
Knoten  und  verscUieden  grossen  Cavemen  in  beiden  Lungen  sicherten  in 
diesem  Fall  dl^lRiagnose.  Bei  einer  67  j.  Frau  fand  sichacute  und  subacute 
Tuberlj^uloseneben  ausgedehnter deformirender Endarie ritis,  Verkalkung 
.fast  aller  Knorpel  des  Körpers  und  beträchtlichem  Kalkinfarct  beider 
Nieren. 

Von  den  einzelnen  Formen  der  Tuberkulose  sind  folgende  hervor- 
zuheben. Acute  Tuberkulose  der  Hirnhäute  fand  sich  in  5  Fällen,  stets 
imAnschluss  an  eine  ältere  Tuberkulose  der  Lungen  oder  Lymphdrüsen. 
In  4  von  diesen  5  Fällen  war  beträchtlicher  Wassererguss  in  die  Gehirn- 
Ventrikel  vorhanden  ohne  Trübung  oder  Eiterbeschiag  des  Ependyms. 
in  keinem  dieser  Fälle  wurde  eine  zum  Theil  reichliche  Einsprengung 
miliarer  Tuberkelknötchen  in  die  mittleren  und  seitlichen  Plexus  und  in 
die  Pia  am  Uirnschlitz  vermisst,  Plexus  und  Pia  zeigten  sich  lebhaft  in- 
jicirt  und  ödematös  geschwellt,  gleichfalls  ohne  Trübung  oder  Eiterbeleg. 
Dieser  Sachverhalt  legt  es  nahe,  die  Steigerung  der  Transsudation  we- 
nigstens zum  Theil  aus  der  Drucksteigerung  abzuleiten ,  welche  durch 
die  Entwicklung  der  Neubildung  und  die  damit  verbundene  Schwellung 
des  Gewebes  der  Pia  im  Hirnschlitz  im  Gebiete  der  Vcnae  magnae  Ga- 
len i  zu  Stande  kommen  muss. 

In  zwei  Fällen  fand  sich  neben  acuter  Tuberkulose  der  Pia  auch 
solche  der  Dura  mater.  Bei  einem  vierjährigen  Knaben  wurden  nahe 
dem  vordorn  Rand  des  Foramen  magnum  mehrere  stecknadelkopfgrosse 
Tuberkelknötchen  auf  der  Dura  mater  beobachtet  neben  zahlreichen 
analogen  Knötchen  in  den  Meningen  der  Himbasis  und  den  Plexus,  die 
Arachnoides  mit  derDura  der  Schädelbasis  mehrfach  locker  verwachsen. 
Bei  einem  87jährigen  Mann  zeigte  die  Dura  zu  beiden  Seiten  der  Hinter- 
hauptbasis namentlich  an  den  Stellen,  welche  den  seitlichen  Plexus  des 
vierten  Ventrikels  anliegen,  mehrfache  miliare  Tuberkelknötchen,  welche 
ihrer  Oberfläche  theils  mehr  theils  wTniger  fest  anhafteten,  die  Meningen 
mit  der  Dura  am  Glivus  mehrfach  locker  verwachsen,  sie  selbst  und  die 

Plexus  reichlich  mit  miliaren  Tuberkelknötchen  durchsetzt. 

• 

Beide  Beobachtungen  stimmen  mit  dem  vonB.  Wagfcbr  im  VH.  Jahr- 
gang des  Archivs  der  Heilkunde  veröffentlichten  Befund  überein.  Ich 
bin  jedoch  zu  einer  andren  Auffassung  des  vorliegenden  Processes  ge- 
neigt als  sie  B.  Wagner  gegeben  hat.  Es  scheint  mir  keine  Nöthigung 
vorzuliegen,  in  einem  dieser  Fälle  eine  von  der  Dura  ausgehende  Tu- 
berkulose anzunehmen.   So  wenig  von  vornherein  die  Möglichkeit  sich 


150  """Nipielm  Mfiller. 

bestreiten  lässl,  dass  die  der  mndes^hslanz  der  Dura  angehörenden 
Zellen  ebensogut  wie  jene  der  Pleura  coSÄrt^berkelknötcben  zu  pro- 
duciren  im  Stande  sind,  so  glaube  ich  doch,  dalRW^  vorliegenden  Be- 
funde ungezwungen  durch  die  Annahme  sich  erkläre^,  dass  es  sich  um 
eine  von  der  Pia  und  den  Plexus  ausgehende  Tuberknl^ß^  handelt,  wo- 
bei einzelne  Tuberkelknötchen  an  der  Berührungsstelle  mibr  oder  we- 
niger fest  mit  der  Dura  durch  peripherische  BindesubstanzneuHUduog 
verwachsen  sind.  Für  diese  Auflassung  spricht:  die  Anhäufung  der 
Tuberkelknötchen  an  Stellen  der  Dura,  welche  mit  tuberkulösen  Parthien 
der  Meningen  oder  Plexus  in  unmittelbarer  BeiUhrung  stehen,  die 
lockere  Verwachsung  beider  Membranen ,  endlich  die  augenscheinlich 
aufgelöthete  Beschaffenheit  eines  Theils  der  Knötchen. 

Tuberkulose  des  Anfangstheils  des  Oesophagus  fand  sich  bei  einem 
\  5jährigen  Mädchen.  Neben  weitverbreitetem  ulcerösen  und  desqua- 
mativen Lupus  der  Haut  und  knotigem  Lupus  des  Kehldeckels  fand  sich 
chronische  und  acute  Tuberkulose  der  Lungen,  des  Darms  und  derMe- 
senterialdrüsen.  In  der  vordem  Wand  des  Anfangstheils  vom  Oesopha- 
gus fand  sich  ein  elliptisches  der  Längsachse  des  Oesophagus  parallel 
laufendes  Geschwür  von  1  Gentimeter  Länge  bei  ^/^  Gent,  Breite  mit 
scharfem  glatten  Rand  und  flacher  mit  einzelnen  miliaren  Tuberkel- 
knötchen besetzter  Basis. 

Tuberkulose  des  Knochensystems  Ifand  sich  bei  einem  7jährigen 
Knaben  in  Form  multipler  zum  Theil  symmetischer  Auftreibungen  ver- 
schiedener Knochen  mit  ausgedehnter  Verkäsung  und  peripherischer 
Knötcheneinlagerung.  Der  Tod  war  durch  weit  verbreitete  Lungen-, 
Darm-  und  Lymphdrüsentuberkulose  und  vorgeschrittene  Amyloidde- 
generation  von  Leber,  Milz,  Nieren  und  Nebennieren  erfolgt.  Zweimal 
erhielt  das  Institut  von  Herrn  Geh.  Hofrath  Ried  mit  Garies  behaftete 
Extremitäten,  bei  welchen  die  methodische  Untersuchung  Tuberkulose 
als  Ursache  der  Knocheneiterung  nachwies.  Diese  Fälle  werden  im  spe- 
ciellen  Theil  ausführlicher  besprochen  werden. 

Krebs. 

Hier  ist  zunächst  hervorzuheben  ein  multipler  atrophirendcr  Skir- 
rhus  des  Darms  und  Mesenteriums  bei  einer  60j.  Frau.  Es  fand  sich 
eine  ringförmige  krebsige  Stenose  des  Mastdarmanfangs,  eine  zweite  in 
der  Mitte  des  Golon  transversum,  jede  etwa  2  Gentimeter  breit,  ausser- 
dem zahlreiche  plattenförmige  zum  Theil  mit  narbenartigen  Ausläufern 
in  die  Umgebung  übergreifende  Faserkrebse  im  Mesenterium ,  welche 
(lurph  mehrfaches  Uebergreifen  auf  den  Dünndarm  eine  Anzahl  leichterer 


Beobachtunt2;eu  des  piiüiologisckn  lii||jMnu  Jena  im  Jnhre  1866.  1 5 1 


Stenosen  und  Knickungen  in  dessen  Verlauf  herbeigeführt  hatten.  Da- 
neben zahlreiche  secundjiw€1lifebse  auf  den  Pleuren  und  dem  Herzbeutel. 
Von  Interess^rtBrterner  ein  Faserkrebs  des  Uterus  mit  Freilassung 
des  Cervix  und  /der  oberflächlichen  Schleimhautparthien.  Bei  einer 
i7jähr.  Frau/^elche  seit  einem  Jahr  neben  dumpfen  Schmerzen  im 
Becken  und  zunehmendem  Marasmus  profuse  Menstrualblutungen  da rge- 
bot^  hatte,  entwickelte  sich  Oedem  beider  Beine  und  nach  einiger  Zeit 
Pleuritis  mit  rasch  tödtlichem  Verlauf.  Der  Uterus  fand  »ich  in  eine 
faustgrosse.  Geschwulst  verwandelt  von  fester  Consistenz ,  auf  der 
Schnittfläche  grauweisser  Farbe  und  speckigem  Glanz,  seine  Wandung 
^ — 3  Gentimer  dick,  die  Schleimhaut  geschwellt  und  sehr  gefässreich, 
an  die  Unterlage  fixirt,  ihre  Oberfläche  jedoch  unversehrt ;  die  Neubil- 
dung gegen  die  obere  Parthie  des  Cervix  hin  ohne  scharfe  Grenze  sich 
verlierend,  der  Muttermund  unverändert.  Ausgedehnte  zum  Theil  von 
Krebsknoten  durchsetzte  Verwachsungen  zwischen  Tuben  und  anlie- 
genden Organen,  mehrere  kleine  Krebsknoten  im  rechten  Ovarium, 
zahlreiche  miliare  zum  Theil  von  Pigmenthöfen  umgeben  im  Netz ,  Me- 
senterium, und  der  Serosa  der  Leber;  chronischer  Katarrh  des  untern 
Theils  des  Oesophagus,  diffuse  krebsige  Infiltration  seiner  Schleimhaut 
und  Submucosa  im  oberen  Drittheile.  Ausserdem  Thrombose  beider 
Venae  iliacae,  der  rechten  Jugularis  und  Subclavia,  Embolie  der  Lungen- 
«irterie,  Abscesse  und  Gangrän  beider  Lungen  mit  consecutiver 
Pleuritis. 

Epitheliale  Geschwülste. 

In  dieser  Gruppe  fasse  ich  alle  jene  Neubildungen  zusammen ,  bei 
welchen  eine  deutliche  Wucherung  charakteristischer  Epithelien  neben 
einer  solchen  der  Bindesubstanz  des  Körpers  vorhanden  ist.  Ich  rechne 
hieber  die  Kystome,  welche,  wie  aus  den  Untersuchungen  von  Wilson 
Fox  undBKAXTONilicES  an  jenen  das  Ovarium  hervorgeht,  ungezwungen 
aus  gleichzeitiger  Wucherung  von  Derivirten  des  ursprünglichen  Epi- 
thelialrohrs  und  Faserblatts  sich  ableiten  lassen ;  die  Adenome ,  auf 
welche  die  ViECHow'sche  Bindegewebskörperhypothese  nie  allgemeine 
Anwendung  gefunden  bat,  endlich  die  Epitheliome,  weiche  nicht  nur 
in  der  durch  die  Anwesenheit  von  Pflasterepithelien  charakterisirten 
Form,  wie  C.  Thibhsch  gezeigt  hat,  sondern  auch  in  der  ganz  analogen 
mit  Cylinderepithelien  versehenen  dieser  Ableitung  sich  fügen. 

Pflasterepitheliom  desLarynx  fand  sich  bei  einem  78jährigen  Mann, 
welchem  einige  Monate  früher  ein  Epitheliom  des  rechten  unteren  Augen- 
lids exstirpirt  worden  war.    Beide  Stimmbänder  waren  in  zerklüftete, 


152  ÜMkclm  Miller, 

mit  zahlreichen  warzigen  ExcresH^nzen  bededite  Geschwüre  verwandelt 
mit  gelblich  weisser  speckig  glünzender^ilhiitfläche  und  dem  für  das 
Pflasterepitheliom  charakteristischen  Bau.  Dabä^ir9i^eschrittene  Amy- 
loiddegeneration  der  Nieren ,  Thrombose  der  iinkeii  Gruralvene  und 
Lungenarterienembolie  mit  ihren  Folgen. 

Von  den  5  Fällen  von  Epitheliom  des  Uterus  waren  i"»  Pflasterepi- 
iheliome ;  sie  waren  alle  augenscheinlich  von  der  oberen  Parthi^.  der 
Scheide  ausgegangen.  Im  fünften  Fall  hatte  sich  bei  einem  32jahr.  le- 
digen Mädchen  Cylinderepilheliom  entw  ickelt.  Ausser  der  charakteristi- 
schen Veränderung  des  Uterus,  welche  den  Cervix  in  grosser  Ausdeh- 
nung zerstört  hatte,  fanden  sich  beide  Ovarien  in  höckerige  wallnuss- 
resp.  apfelgrosse  Geschwülste  verwandelt,  welche  im  Innern  eine 
gelblich  weisse  käsige  Masse  beherbergten.  Die  ganze  Masse  bestand 
aus  kömigem  Detritus,  untermischt  mit  zahlreichen  theils  mehr  theils 
minder  erhaltenen  Cylinderepithelien.  Es  fanden  sich  ferner  in  den 
lumbaren  und  dorsalen  Lymphdrüsen,  in  Lunge,  Leber  und  Darm- 
schleimhaut zahlreiche  theils  miliare  theils  umfangreichere  Epitheliom- 
knoten,  welche  in  ihrem  Bau  mit  der  Neubildung  am  Uterus  überein- 
stimmten. 

Es  gehört  hieher  ferner  ein  sogenannter  Zottenkrebs  der  Blase, 
welcher  durch  wiederholte  Blutungen  neben  rechtsseitiger  interstitieller 
Nephritis  eine  64jähr.  Frau  dahin  gerafft  hatte.  Die  Geschwulst  sass 
im  Umfang  eines  Doppelthalers  im  Trigonum  vesicae ;  ihre  Oberfläche 
zeigte  eine  grosse  Zahl  bis  \  Centimeter  langer  zottiger  Excrescenzen ; 
die  Basis  war  th^ilweise  zerklüftet,  weich,  von  gelblich  weisser  Farbe. 
Die  Untersuchung  ergab  an  den  Zotten  den  von  Gerlagh  und  Lambl  ge- 
nügend beschriebenen  Bau,  die  Basis  bestand  aus  einem  lockeren  zum 
Theil  im  Granulationszustand  befindlichen  Bindegewebsstroma,  zwischen 
dessen  Maschen  theils  rundliche  theils  schlauchförmige  Hohlräume  sich 
fanden,  welche  an  der  Peripherie  von  einem  deutlichen  aber  flachen 
Gylinderepithelium  ausgekleidet  waren,  während  die  centralen  Parthien 
dicht  angehäufte  theils  cylindrische  theils  mehr  abgeflachte  Epithelien 
enthielten.  Ich  kann  duf  Grund  dieses  Befundes  die  in  Frage  stehende 
Zottengeschwulst  nur  für  ein  Cylinderepilheliom  halten  und  sehe  in  den 
zottigen  Auswüchsen  der  Bindesubstanz  der  Blase  lediglich  das  Analogen 
der  zottigen  und  warzigen  Wucherungen,  welche  bei  den  Epitheliomen 
der  Magen-  und  Darmsohleimhaut  und  jenen  der  äusseren  Haut  etwas 
Gewöhnliches  sind. 

Hierher  gehört  endlich  ein  Fall  von  Cylindenellenepitheliom  beider 
Samenblasen  bei  einem  71  jähr.  Mann,  soviel  mir  bekannt,  der  einzige 


BeobaclitougeD  des  pathologisclieu  InjüMlf  zu  Jena  im  Jahre  1866.  153 

bisher  beobachtete.  Er  wird  im  ^pecieHen  Theil  ausführlich  beschrieben 
worden.  r   ^ 

An  die  EpitheUlfBl^  reiht  sich  an  ein  umschriebenes  Adenom  der 
vordem  Wand  d^  Anfangstheils  vom  Oesophagus,  welches  in  Form 
einer  bohneng^ssen  flachen  leicht  höckerigen  Geschwulst  bei  einem 
50jähr;  an  dholera  verstorbenen  Mann  gefunden  wurde.  "Zahlreiche 
weit^  Oeffhungen  von  DrUsengängen  liessen  schon  mit  unbewaffnetem 
Auge  den  Charakter  der  Geschwulst  erkennen. 

Bei  den  Adenomen  reihen  sich  am  zweck  massigsten  die  Vergrösse- 
rungen  der  Schilddrüse  und  des  Hirnanhangs  ein.  Beide  lassen  sich 
als  traubige  Drüsen  mit  obliterirtenAusführungsgUngen  und  selbständig 
gewordenen  Terminalbläschen  auffassen.  Die  Häufigkeit,  mit  welcher 
Veränderungen  der  Schilddrüse  in  Form  von  Struma  in  hiesiger  Gegend 
auftraten,  ergibt  sich  daraus,  dass  nicht  weniger  als  M  Fälle  =  12. 
5  %  verzeichnet  worden  sind,  mithin  jede  achte  Leiche  mit  einem  deut- 
lichen Kropf  behaftet  war.  Die  beiden  Geschlechter  betheiligten  sich 
hieran  in  sehr  ungleicher  Weise,  indem  die  1 7  Fälle  auf  4  Männer  und 
4  3  Weiber  sich  vertheilen.  Hervorzuheben  ist  ein  Fall  von  angeborenem 
Kropf  bei  einem  Mädchen ,  welches  während  der  Geburt  asphyktisch 
starb.  Beide  Schilddrüsenlappen  waren  vom  Umfang  je  eines  massigen 
Hühnereies,  das  Gewebe  braunroth,  deutlich  kOmig,  ziemlich  blutreich. 
In  der  verengten  Trachea  fand  sich  ein  mekoniumhaltiger  Schleimpfropf. 

Bei  einem  83jähr.  Mann  fand  sich  neben  vorgeschrittener  Gehirn- 
atrophie  und  Hydrocephalie  eine  wallnussgrosse  Struma  der  Glandula 
pituitaria,  die  sich  im  Verlauf  mehrerer  Jahre  langsam  entwickelt  hatte. 
Nur  der  drüsige  Theil  derHypophysis  war  an  der  Geschwulst  betheiligt. 
Der  Fall  wird  im  speciellen  Theil  ausführlicher  besprochen  werden. 

Kystome  der  Nieren  wurden  in  4 ,  solche  der  Ovarien  in  7  Fällen 
beobachtet,  bei  zweien  der  letzteren  zeigten  die  Geschwülste  dermoiden 
Inhalt.  Bei  einer  68jähr.  Frau  hatte  ein  im  rechten  breiten  Mutterband 
zwischen  Tube  undOvarium  mithin  wahrscheinlich  von  einem  Rest  des 
WoLFP'schen  Körpers  aus  entwickeltes  Kystom  durch  mehrere  an  dasselbe 
sich  ansetzende  Pseudomembranen  Gelegenheit  zu  Einklemmung  des 
lleum  gegeben. 

An  diese  mit  den  Genitalorganen  nachweisbar  in  Zusammen- 
hang stehenden  Kystome  reihe  ich  an  eine  ellipsoidische  reich- 
lich wallnussgrosse  mit  klarer  lymphartiger  Flüssigkeit  erfüllte  Cyste, 
welche  sich  an  der  rechten  Seite  der  Aorta  abdominalis  nahe  dem  Ab- 
gang der  rechten  Arteria  spermatica  int.  vorfand  und  welche  möglicher- 
weise mit  einem  abgeschnürten  Organrest  aus  der  Zeit  der  ersten  Ent- 
wicklung der  Genitalien  in  Beziehung  gesetzt  werden  rouss.     Die  Ge- 


154  "my heim  Malier, 

schwulst  fand  sich  bei  der  schon  erwähnten  an  Cylinderepitholiom  der 
Blase  verstorbenen  64jährigen  Frau.       '    '^'^^ 


Bindesubsianz-Geschwülslc. 

In  dieser  Gruppe  fasse  ich  alle  jene  Geschwülste  zusammen,  wdidie 
aus  der  Wucherung  eines  der  Bindesubstanz  reihe  angehörenden  Ge- 
webes hervorgehen.  Es  gehören  mithin  hieher  nicht  nur  die  eigentlichen 
Neubildungen  von  Bindesubstanz  in  fertiger  oder  embryonaler  Form  die 
Fibrome,  Myxome,  Sarkome  und  Lipome,  sondern  auch  die  Chondrome 
und  Osteome. 

Fibrome  und  Fibromyome  in  der  Dicke  der  Uteruswand  wurden 
bei  4,  solche  im  Ovarium  bei  2  Frauen  beobachtet.  Auf  der  Schleim- 
haut des  Uterus  hatten  sich  Bindesubstanzneubildungen  in  Form  theils 
flacher  theils  polypöser  Geschwülste  bei  4  Frauen  entwickelt,  in  3  Fällen 
ausschliesslich  im  Gervix.  Die  Geschwülste  zeigten  stets  eine  ziemlich 
weiche  Beschaffenheit;  in  einem  Fall  hatten  sich  die  Uterusdrüsen  in 
ausgiebigerer  Weise  an  der  Neubildung  betheiligt. 

Ein  faustgrosses  Lipom  der  rechten  Inguinalgegend  fand  sich  bei 
einer  64jährigen  Frau. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Beobachtungeines  wa]lnus3grosson 
lappigen  scharf  umschriebenen  Myxoms  der  Lunge  einer  65jährigen  an 
Insufflcienz  der  Bicuspidalklappe  und  massiger  Aortenstenose  verstor- 
benen Frau.  Trotz  sorgfältiger  Untersuchung  der  Körpertheile,  in  wel- 
chen Myxome  häufiger  primär  sich  entwickeln ,  gelang  es  nicht,  eine 
zweite  Neubildung  der  Art  aufzufinden,  so  dass  die  Geschwulst  als  ein 
primäres  Myxom  der  Lunge  betrachtet  werden  muss. 

Spindelzellensarkome  fanden  sich  in  S  Fällen  im  Gehirn,  sie  werden 
seiner  Zeit  im  Zusammenhang  mit  einer  grösseren  Reihe  analoger  Hirnge- 
schwülste beschrieben  werden.  Bei  einer  60jähr.  Frau  war  ein  Spindelzel- 
lensarkom ausderFascie  des  linken  Oberschenkels  cxstirpirt  worden.  Sie 
erlag  den  Erscheinungen  zunehmender  Lungeninsufficienz.  Es  fand  sich 
ein  reichlich  kindskopfgrosser  Tumor,  welcher  das  obere  Dritttheil  der 
rechten  Pleurahöhle  ausfüllte  und  mit  der  comprimirten  Lunge  fest  ver- 
wachsen ^ar  neben  zahlreichen  sarkomatösen  Tumoren  in  Lungen,  Gostal- 
pleura  und  parietalem  Blatt  des  Herzbeutels.  Zugleich  fand  sich  im  Uterus 
eine  bohnengrosse  grauweisse  markige  Geschwulst  von  der  Schleimhaut 
des  Fundus  ausgehend,  welche  bei  der  Untersuchung  als  ein  Spindel- 
zellensarkom sich  erwies. 


Beobachluitgen  des  pHtkologischeii  litflfffiis  zu  Jena  im  Jahre  1866.  155 

Aagiooie. 

Ich  fasse  diese  Bejfichnung  in  einem  weiteren  Sinn  als  dies  ge- 
gewöhnlich  geschilpt  und  begreife  darunter  alle  Geschwülste,  welche 
einer  Wucher]A»g  von  Derivirten  des  embryonalen  Gefässrohrs  ihre  Ent- 
stehung verdanken.  Ich  rechne  somit  hieher  nicht  nur  die  Teleangiek- 
tasien und  cavernösen  Geschwülste,  sondern  auch  die  wahren  Aneu- 
i*ysmen  und  den  Varix.  Beide  gehen  aus  einer  flllchenhaften  Hyperpla- 
sie des  Gefiissrohrs  hervor  und  verhalten  sich  meiner  Ansicht  nach  zu 
den  Veränderungen,  welche  die  Endarterilis  und  Endophlebitis  defor- 
mans  hervorbringt,  analog  wie  ein  Fibrom  der  Pleura  sich  verhält  zu 
der  diffusen  Hyperplasie  durch  chronische  Pleuritis. 

Hier  ist  zu  erwähnen  ein  Aneurysma  des  Aortenbogens ,  welches 
sich  bei  einem  69jähr.  Mann  entwickelt  hatte.  Neben  den  gewöhnlichen 
Erscheinungen  waren  jene  einer  Lähmung  des  linken  Slimmbandes 
vorhanden.  Es  fand  sich  ein  kopfgrosses  Aneurysma  des  Aortenbogens 
roitErosion  der  Wirbel,  Schwund  und  blassgelbliche  Färbung  des  linken 
Muse,  crico-arytaenoideus  posticus  neben  Verdünnung  und  graulicher 
Färbung  des  linken  N.  laryngeus  inf. 

Venöse  Angiome  der  Leber  fanden  sich  bei  3  Männern  von  48  resp. 
5!  Jahren;  sie  waren  in  keinem  Fall  über  kirschengross. 

* 

Neurome. 

Ich  fasse  diese  Bezeichnung  in  der  Ausdehnung ,  welche  Vircbow 
in  seiner  bekannten  Abhandlung  ihr  gegeben  hat.  Es  gehört  hieher  ein 
achtes  Neurom ,  welches  bei  einer  55jährigen  im  hiesigen  Irrenhause 
verstorbenen  Frau  am  linken  Nervus  peronaeus  sich  entwickelt  hatte. 
Ausser  dieser  peripherischen  Anomalie  fand  sich  eine  sehr  merkwürdige 
Veränderung  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Rückenmarks,  welche  we- 
sentlich an  die  Gefässscheiden  gebunden  w'ar  und  im  speciellen  Theii 
ihre  ausführliche  Darstellung  finden  wird. 

Syphilis. 

Mit  Sicherheit  wurde  Syphilis  nur  bei  5  Leichen  nachgewiesen. 
Ein  45jahriger  Steinschleifer  zeigte  neben  Bronchialerweiterung  und 
Lungentuberkulose  allgemeine  Hyperplasie  der  Lymphdrüsen,  in  beiden 
Hoden  die  Reste  früherer  Gummigeschwttlste  in  Form  theils  käsiger 
theils  verkalkter  Einlagerungen.  Bei  einer  39jährigen  an  eitriger Lepto- 
meningitis  verstorbenen  Frau  fand  sich  eine  frische  Gummigeschwulst 
der  Leber  neben  granulösem  Katarrh  des  Uterus  und  der  Vagina.     Ein 


1 56  ÜMielm  Müller, 

fünf  Tage  alter  Knabe  zeigte  neben  Peipphygus  der  untern  Extremitäten 
eitrige  Infiltration  der  centralen  Parthicn  (ÜF^^Ymus.  Ein  51  jähr.  Irre 
bot  Narben  an  Penis,  im  Rachen,  in  der  Leber.      "*^, 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  Beobachtung  einer  Gumniige- 
schwulst  im  Gehirn  bei  einem  vierwöchentlichen  Knaben..  Ausser Pem- 
phygus  und  maculösem  Hautsyphilid  fand  sich  Foramen  övaleoind  Ductus 
arteriosus  offen,  letzterer  nur  an  beiden  Inserlionspuncten  unbedetkeiwix 
verengt.  Das  Marklager  des  Gehirns  bot  bei  gallertiger  Consistenz  eine 
lebhaft  rosenrothe  Färbung.  Ueber  dem  linken  Hornstreif  etwa  dessen 
Mitte  entsprechend  das  subependymale  Gewebe  im  Umfang  einer  Linse 
auffallend  derb,  schwielig  und  von  gelblich -weisser  Färbung.  Im 
rechten  Centrum  semiovale  nach  Aussen  vom  Thalamus  opticus  eine 
erbsengrosse  weissliche  fibroide  mit  Ausläufern  in  die  Umgebung  über- 
greifende Einlagerung,  in  deren  Mitte  eine  umschriebene  Verkäsung. 

Nervensystem. 

Pachymeningitis  interna  wurde  in  9  Fällen  beobachtet,  dreimal 
als  chronischer  Process  und  zwar  in  massigem  Grad  und  mit  zahlrei- 
chen Resten  früherer  Extravasate  bei  einem  G8jährigen  Tuberkulösen  und 
einem  51jährigen  Irren,  mit  Bildung  umfangreicherer  Hämatome,  welche 
den  Tod  unter  den  Erscheinungen  des  Hirndrucks  herbeiführteii,  bei 
einem  44jährigen  Irren  als  acuter  Process  wurde  sie  in  6  Leichen  ange- 
troffen. Da  bei  \  03  Leichen  die  Schädelhöhle  untersucht  werden  konnte, 
ergibt  sich  ein  Procentverhältniss  von  8,  7. 

Bei  4  Irren  waren  es  nur  die  übereinstimmend  in  allen  Fällen  vor- 
handenen Veränderungen  im  Centralnervensystem ,  welchen  der  Tod 
zugeschrieben  werden  konnte.  Diese  bestanden  in  deutlichem  Gehirn- 
schwund, Wassererguss  in  die  Arachnoidealräume  des  Gehirns  und 
Rückenmarks  und  in  die  Gehirnventrikel,  Erweileiiing  der  letzleren 
mit  Verdickung  undGranulirung  desEpendyms.  Eines  dieser  Individuen 
hatte  zwei  Jahre  lang  die  charakteristischen  Erscheinungen  des  para- 
lytischen Blödsinns  dargeboten ;  die  Resultate  der  methodischen  Unter- 
suchung des  Gehirns  und  Rückenmarks  werden  später  veröffentlicht 
werden. 

Im  speciellen  Theil  wird  der  Fall  einer  31jährigen  Frau  ausführlich 
geschildert  werden,  'welche  gleichfalls  in  dem  hiesigen  Irrenhause,  einer 
wahren  Fundgrube  interessanter  Veränderungen  des  Gentralnervensy- 
stems,  gestorben  war.  Neben  den  Erscheinungen  der  Erotomanie  und 
zunehmenden  Blödsinns  zeigte  sie  schon  beim  Eintritt  in  die  Anstalt 
eine  auffallende  Abmagerung  der  einen  und  Vergrösserung  der  andren 


J 


Beobachtungen  des  pathologischen  lujftkCffs  za  Jena  im  Jahre  1866.  1 57 

Wade  neben  Klumpfusssiellung  beider  Füsse.  Die  Seciion  ergab  ein- 
fache Atrophie  und  Fett^l^eiieration  der  Muskeln  des  einen,  Atrophie 
und  Lipomatose  jerv^ntTes  andren  Unterschenkels  und  Fusses,  eine  um- 
schriebene Veränderung  um  den  Gentralcanal  im  unteren  Abschnitt  des 
Lendenmarks^tind  hochgradigen  Hydrocephalus. 

Frische  fiämorrhagie  im  linken  Sehhügel  setzte  bei  einem  30jähr. 
seit  längerer  Zeit  an  tubulärer  Nephritis  und  massiger  Herzvergrösse- 
rung  leidenden  Mann,  eine  umfangreiche  Hämorrhagie  im  rechten 
Centrum  semiovale  bei  einem  60jährigen  bisher  gesunden  Mann  dem 
Leben  ein  Ziel.  In  letzterem  Fall  fand  sich  neben  Yergrösserung  und 
Lipomatose  des  Herzens  mässiggradige  Verfettung  der  Hirnarterien. 

Bei  einem  1jährigen  Mädchen,  einer  60-  und  einer  69  jähr.  Frau 
fanden  sich  im  Anschluss  an  abgelaufene  Endocarditis  die  Residuen 
embolischer  Gef^ssverstopfungen  des  Gehirns  in  Form  gelber  Heerde 
in  den  Frontalwindungen  resp.  dem  Hornstreif  und  der  linken  Insel. 

Endlich  wurden  bei  einem  61  jähr.  Mann  mehrere  Gysticerken  im 
rechten  StreifenhUgel  neben  solchen  im  Muse,  biceps  brachii  dextri  be- 
obachtet. 

Circulationssystem. 

An  die  Spitze  der  hieher  gehörigen  Beobachtungen  stelle  ich  einen 
Fall  von  angeborener  Lungenarterienstenose  bei  einem  dreiwöchent- 
lichen Knaben,  welcher  auf  der  Klinik  des  Herrn  Hofrath  Schultzb  zur 
Beobachtung  kam.  Das  Kind  hatte  von  der  Geburt  an  die  Erscheinungen 
der  Venenstauung  dargeboten  und  war  unter  hochgradiger  Gyanose 
gestorben.  Es  fand  sich  ausgebreitetes  Oedem  des  Unterhautbindege- 
webes neben  massigem  Lungenödem.  Der  Herzbeutel  in  grösserem 
Umfang  als  normal  frei  liegend,  in  seiner  Höhlei  Gubikcentimeter  klarer 
Flüssigkeit,  seine  beiden  Blätter  glatt  und  glänzend.  Herz  etwas  ver- 
grOssert,  rundlich,  mit  einer  anomalen  queren  Einziehung  in  der  Mitte 
des  rechten  Ventrikels.  Die  Lagerungsverhältnisse  der  grossen  Gefässe 
normal.  Herzmuskel  braunroth,  fest,  in  beiden  Ventrikeln  von  gleicher 
zwischen  4  und  6  Mm.  betragender  Dicke.  Der  rechte  Vorhof  weit,  sein 
Endocard  glatt  und  glänzend.  Foramen  ovale  mit  vollständig  sufficienter 
Klappe  versehen,  deren  Blätter  nur  im  Umfang  einer  Linse  un verwachsen 
sind.  Ostium  venosum  dextrum  von  normaler  Weite,  Valvula  tricuspi- 
dalis  normal  gestaltet,  mit  geringer  Wulstung  ihrer  Ränder,  die  Sehnen- 
fäden theilweise  verschmolzen  und  etwas  verkürzt.  Das  Endocard  des 
rechten  Ventrikels  allenthalben  getrübt  und  verdickt,  am  Sinus,  welcher 
erweitert  ist,  0,  4  Mm.  messend,  ip  Gonus  in  eine  derbe  2  Mm.  dicke 
Schwiele  verwandelt,  welche  denselben  ringförmig  einsclmilrt.     Der 


1 58  ^Mhehu  Möller, 

Conus  beträchtlich  verengt,  an  der  Spitze  auf  eine  Anzahl  schmaler 
zwischen  den  Trabekehi  liegender  Spalteb^fV^hicirt.  Ostiuiu  arteriosum 
pulmonale  verengt,  8  Mm.  im  Umfang  betragena^^iU^  Semilunarklappen 
sowohl  unter  sich  als  Iheilweise  mit  der  Gefasswand  verwachsen ,  letz- 
tere in  Längsfalten  gelegt.  Die  Lungenarterien  jenseits  das  Ostium  4  6 
Mm.  im  Umfang  haltend,  Ductus  arteriosus  offen,  nur  am  Ursprung  un- 
bedeutend verengt,  5  Mm.  im  Durchmesser.  Septum  ventrioidllfum 
ohne  Veränderung.  Der  linke  Ventrikel  und  Vorhof  normal  weit,  weder 
am  Endocard  noch  an  den  Klappen  eine  Veränderung  zeigend.  Die 
Aorta  vor  der  Einmündungsstelle  des  Ductus  arteriosus  \  8,  hinter  der- 
selben 16  Mm.  im  Umfang  messend,  ihre  Klappen  normal  gestaltet  und 
schlussfähig.  Im  Übrigen  Körper  ausser  hochgradigem  Harnsäurein- 
farct  beider  Nieren  nichts  Bemerkenswerthes. 

Die  Unversehrtheit  des  Septum  ergibt,  dass  dieser  Fall  zu  der 
dritten  von  Peacock  in  seinem  bekannten  Werke  aufgestellten  Gruppe 
gehört,  die  Erkrankung  des  Herzens  mithin  erst  nach  der  i2.  Woche 
des  Fötaliebens  aufgetreten  ist.  Aus  den  Veränderungen  am  Klappen- 
apparat, der  Dicke  der  Schwiele,  der  unversehrten  Beschaffenheit  der 
unterliegenden  Musculatur  schliesse  ich,  dass  die  Lungenarlerienstenose 
in  diesem  Fall  lediglich  durch  Endocarditis  bedingt  ist;  aus  der  Faltung 
der  imStamnr  normal  weiten  Lungenarterie  an  der  verengten  Ursprungs- 
stelle  glaube  ich  schliessen  zu  dürfen,  dass  dieselbe  erst  in  einer  relativ 
späten  Periode  des  intrauterinen  Lebens  aufgetreten  ist.  Der  Umstand, 
dass  das  Kind  von  der  Geburt  an  die  Erscheinungen  von  Venenstauung 
darbot,  macht  es  wahrscheinlich ,  dass  zu  dieser  Zeit  die  Veränderung 
im  Herzen  bereits  fertig  ausgebildet  war.  Welche  Momente  'die  Endo- 
carditis hervorriefen,  liess  sich  nicht  eruiren ,  da  die  Mutter  während 
der  Schwangerschaft  keine  Anomalie  darbot,  welche  als  disponirende 
Ursache  hätte  betrachtet  werden  können. 

Daran  schliesst  sich  an  ein  Fall    von  erworbener   schwielenbil- 

« 

dender  Endomyocarditis  mit  wahrem  Uerzaneurysma  bei  einem  57jähr. 
Mann,  welcher  während  der  Arbeit  auf  dem  Felde  plötzlich  umfiel  und 
sogleich  todt  war.  Ausser  dumpfen  Schmerzen  in  der  Herzgegend, 
welche  schon  seit  längerer  Zeit  bestanden,  hatte  derselbe  keine  abnormen 
Erscheinungen  dargeboten.  DieSection  ergab  das  Gehirn  normal,  etwas 
anämisch,  in  den  Lungen  keine  Veränderung.  Herzbeutel  mit  dem 
Herzen  allseitig  durch  kurze  bindegewebige  Adhäsionen  verbunden. 
Herz  normal  gross,  schlaff,  rechterseits  massiger  Fettgehalt  im  subperi- 
cardialen  Bindegewebe  ,  am  Endo-  und  Myocard  einzelner  Papillar- 
muskeln  schwielige  Verdickung.  Die  Wandung  des  linken  Ventrikels 
normal  dick,  ausgedehnte  Trübungen  des  Endocard  neben  Schwielen- 


Beobachtungen  des  pathologischen  InsjyiMf^zu  Jena  im  Jahre  1866.  159 

bildung  in  den  Papillarmuskeln  und  der  anliegenden  Herzwand.  Die 
Hersmusculatur  an  einen^hltoi  grossen  Stelle  derVorderflaehe  unmittel- 
bar über  derHerzsp^mr  vollständig  geschwunden,  die  nur  aus  dem  ver- 
dickten Peri-  und'Endocard  bestehende  Herzwand  daselbst  flach  aus- 
gebuchtet. Säidmtliche  Klappen  des  Herzens  unverändert,  Aorta  normal 
weit  mit  massigem  Atherom. 

Endocarditis  wurde,  abgesehen  von  dem  schon  erwähnten  an- 
geborenen Fall,  in  12  Leichen  beobachtet.  =  8.  8%.  Als  frischer 
Process  fand  sie  sich  viermal,  stets  im  linken  Herz :  bei  zwei  Kin- 
dern neben  Bronchopneumonie  als  Gomplication  der  Masern,  bei  einer 
30jähr.  Frau  neben  krupöser  Pneumonie  als  Gomplication  tubulärer 
Nephritis,  endlich  fanden  sich  bei  einer  40jähr.  Frau  frische  condylo- 
matdse  Excrescenzen  an  beiden  Segeln  der  Bicuspidalis  neben  alter 
Verdickung  und  Stenose  des  Ostium.  Die  Residuen  abgelaufener  Endo- 
carditis wurde  in  8  Leichen  angetroffen :  in  4  Fällen  hatte  dieselbe  die 
Bicuspidalis  allein  getroffen  und  zu  Insufficienz  durch  Verkürzung  ge- 
führt, bei  einer  iOjähr.  Frau  war  das  Ostium  venosum  sinistrum  allein, 
bei  einer  55jähr.  des  Ostium  aorticum  aliein  stenosirt  durch  Verwach- 
sung der  betreffenden  Klappen  ;  bei  einer  66jähr.  Frau  fand  sich«  gleich- 
zeitige Stenose  beider  Oslien  des  linken  Herzens,  bei  einer  38jährigen 
Frau  endlich  hatte  sich  im  Anschluss  an  Rheumatismus  acutus  hoch- 
gradige Stenose  beider  Ostien  des  linken  Herzens  neben  Erweiterung 
des  rechten  Herzens  und  Insufßcienz  der  Tricuspidalis  ausgebildet. 

Frische  fibrinös-eitrige  Pericarditis  wurde  viermal  beobachtet:  bei 
einem  4jährigen  Mädchen  im  Anschluss  an  Rachitis,  bei  einem  1 7jähr. 
Tuberkulösen  im  Anschluss  an  diffuse  eitrige  Periostitis  des  Schenkels, 
endlich  bei  einer  5ü-  und  einer  GGjähr.  Frau  neben  Thrombose  der  Herz- 
obren.  Die  Residuen  abgelaufener  Pericarditis  fanden  sich  ausser  bei 
dem  schon  erwähnten  57jähr.  Mann  noch  bei  einer  58jähr.  Frau. 

Endarteritisdeformans  im  Aortensystem  fand  sich  bei  29  Individuen, 
13  Männern,  46  Frauen  =  21.  4%.  Das  jüngste  Individuum,  welches 
die  fragliche  Veränderung  in  deutlicher  Ausbildung  zeigte,  war  ein 
40jähr.  Mann.  Im  System  der  Pulmonalarterie  fand  sich  der  Process 
in  8  Fällen ,  stets  im  Anschluss  an  Lungenemphysem  oder  chronische 
Pneumonie. 

Von  den  Erkrankungen  des  Venensystems  ist  zu  erwähnen  eine 
hochgradige  Erweiterung  sämmtlicher  am  Thorax  gelegener  Hautvenen 
im  Anschluss  an  eine  voluminöse  substernale  Struma  bei  einer  74jäh- 
rigen  Frau. 

Eitrige  Phlebitis  fand  sich  in  4  Fällen :  bei  2  Neugeborenen  in  der 
Nabelvene,  das  eine  Mal  neben  eitriger  Leptomeningitis  des  Gehirns  und 


160  ""-xJVilliclin  Möller, 

Rückenmarks,  das  andere  Mal  neben  Thrombose  des  Sinus  longiiudi-* 
nalis  im  Anschluss  an  eine  Infractfon  oaS'^^heitelbeins.  Bei  einem 
17jähr.  Mann  hatte  sich  von  einem  FurunkelSl^  Stirn  aus  diffuse 
Phlegmone  der  Stirnhaut  und  linken  Orbita,  eitrige  Phebitis  der  Vena 
ophlhalmica  und  des  Sinus  cavernosus  neben  eitriger  L^ptomeningitis 
entwickelt;  in  den  Lungen  fanden  i>ich  metastatische  Absceilse^  der  ganze 
Krankheitsverlauf  hatte  5  Tage  betragen.  Bei  einer  Puerpera  eMIicJbi. 
fand  sich  bei  intactem  Peritoneum  und  ziemlich  weit  zurückgebildetem 
Uterus  eitrige  Phlebitis  im  Plexus  vesico-uterinus  neben  Thrombose  der 
rechten  Hypogastrica  und  lliaca  und  diffuser  Phlegmone  längs  beider 
Gefässe  bis  zum  Schenkclring. 

Thrombosen  im  venösen  Abschnitt  des  Gefässsystems  fanden  sich  in 
22  Fällen,  davon  kommen  auf  das  Venensystem  1ö,  auf  das  rechte  Herzobr 
6,  auf  die  Spitze  des  rechten  Ventrikels  i.  In  4  6  von  diesen  Fällen  war 
es  zuEmbolie  in  die  Lungenarterie  gekommen.  Im  linken  Herzohr  fanden 
sich  Thromben  in  4  Fällen ;  sie  halten  dreimal  zu  Embolie  von  Körper- 
arterien Anlass  gegeben.  Es  fanden  sich  mithin  im  Ganzen  26  Throm- 
bosen =  1 9.  2  %  ^^^  von  diesen  kam  es  bei  73  %  zur  entsprechenden 
Embolie.  In  9  von  den  i  5  Fällen  von  Embolie  der  Lungenarterie  war 
es  zu  erheblicheren  Folgeprocessen  in  den  Lungen  gekommen,  wieder- 
holt wurde  in  derselben  Lunge  bei  vollkommen  gleichartiger  Natur  des 
eingeschwemmten  Materials  die  Entwicklung  vonAbscessen  neben  jener 
von  einfachen  keilförmigen  Hepatisationen  und  von  hämorrhagischen 
Infarcten  beobachtet. 

Eitrige  Lymphangitis  wurde  in  5  Fällen  beobachtet:  Bei  einem 
73jähr.  Mann  erstreckte  sie  sich  von  einem  Geschwür  des  rechten  Unter- 
schenkels aus  längs  des  ganzen  Lymphgefässstrangs  bis  zum  Ligamen- 
tum Pouparti ,  dieselbe  Ausdehnung  zeigte  sie  bei  einem  67jäbr.  Mann, 
bei  welchem  von  einer  Excoriation  am  Unterschenkel  aus  ein  wandern- 
des Erysipel  mit  Blasenbildung  und  oberflächlicher  Gangrän  sich  ent- 
wickelt hatte.  In  zwei  Fällen  fand  sich  eitrige  Lymphangitis  des  sper- 
matischen Gefässslrangs  neben  Diphtherie  des  puerperalen  Uterus  und 
weit  verbreiteter  eitriger  Peritonitis.  Es  gehört  hieher  endlich  ein  Fall 
von  Periarteritis  umbilicalis  bei  einem  Neugeborenen,  bei  welchem  der 
Tod  durch  Blutung  in  den  Arachnoidealraum  des  Rückenmarks  erfolgte. 

Es  ist  hier  der  Befund  bei  einer  früher  schon  erwähnten  55jährigen 
Irren  anzureihen,  welche  ein  Neurom  des  linken  N.  peronaeus  und  eine 
weit  verbreitete  Veränderung  im  Rückenmark  hatte.  Nebem  eitrigem 
Katarrh  der  Scheide  und  des  Uterus  fanden  sich  die  oberflächlichen 
Lymphgefässe  an  der  hinteren  Wand  des  letzteren  sowie  jene  des  rechten 
spermatischen  Gefässstrangs  varicös  erweitert ,  die  einzelnen  Ectasien 


.  BeobAchtiiiigeu  des  patbologischen  \ni\'\ii0(St\[  Jena  im  .Inhre  1866.  161 

ober  senfkorogross,  dünnwandige^  mit  einer  ziemlich  festen  gelblichen 
durchscheinenden  Colloidjnasse  gefüllt.  Diese  merkwürdige  Anomalie 
wii*d  im  Zusammenhing  mit  der  ganz  analogen  Veränderung  derGefäss- 
scheiden  des  Rückenmarks  im  speciellenTheil  näher  besprochen  werden. 


Respirationssystem. 

Unter  den  Erkrankungen  dieses  Systems  steht  an  Häufigkeit  oben 
nn  crupöse  Pneumonie;  ihr  erlagen  15  Individuen  oder  1 1  %.  Nur  in 
einem  Fall,  bei  einem  33jähr.  Mann,  hatte  ausgedehnte  Hepatisation 
beider  Lungen  den  Tod  herbeigeführt,  ohnedass  anderweitige  Verände- 
rungen im  Körper  vorhanden  gewesen  wären.  In  allen  übrigen  Fällen 
war  die  Pneumonie  in  Individuen  aufgetreten,  deren  Constitution  durch 
anderweitige  Erkrankungen  bereits  deteriorirt  war:  vier  von  den  Fällen 
betrafen  Irre,  je  zweimal  waren  tubuläre  Nephritis  und  rundes  Magen- 
geschwür, je  einmal  Dysenterie,  Echinococcus  der  Leber,  Pyelonephritis, 
Aneurysma  der  Aorta,  Insufficienz  der  Bicuspidalis,  Synechie  der  Pleu- 
ren neben  marastischem  Emphysem  und  chronischer  Bronchitis  als 
Complicationen  vorhanden.  Kein  Fall  kam  vor  dem  dreissigsten  Jahre 
zur  Beobachtung;  das  weibliche  Geschlecht  lieferte  ein  genau  doppelt 
so  grosses  Contingent  als  das  männliche.  Die  Vertheilung  desProcesses 
auf  die  verschiedenen  Abschnitte  beider  Lungen  war  derart,  dass 
fünfmal  beide  Unterlappen,  viermal  der  rechte  Unterlappen,  dreimal  der 
linke  Oberlappen,  zweimal  die  ganze  linke  Lunge  und  nur  einmal  der 
linke  Unterlappen  allein  betroffen  war. 

An  Häufigkeit  die  nächste  Form  ist  die  Bronchopneumonie ;  sie  lie- 
ferte \9  Todeställe  oder  S.  S^  o-  ^^^  ^^^"  ^i^  hieher  gehörigen  Fälle 
in  zwei  Gruppen  abtheilen.  Die  eine  umfasst  die  Bronchopneumonien, 
welche  vorwiegend  dem  kindlichen  Alter  angehören  und  durch  das 
Uebergreifen  von  einfachem  Katarrh  oder  Diphtherie  der  Bronchien  auf 
die  Terminalbläschen  herbeigeführt  werden.  Hieher  gehören  9  Fälle: 
einer  bei  einem  einjährigen  Mädchen  nach  Diphtherie,  zwei  nach  Masern, 
z^^ei  nach  Keuchhusten  neben  tubulärer  Nephritis,  drei  bei  rachitischen 
Kindern ,  dazu  kommt  ein  Fall  bei  einer  60jähr.  Frau ,  welche  neben 
Emphysem  intensiven  Bronchialkatarrh  mitbronchopneumonischen  Heer* 
den  darbot.  In  die  zweite  Gruppe  gehören  jene  Fälle,  bei  welchen  ge- 
wöhnlich in  Folge  vollkommener  oder  unvollkommener  Lähmung  der 
Schlingmuskeln  Fremdkörper  in  die  Bronchien  gelangen  und  dort  theils 
auf  mechanischem  theüs  auf  chemischem  Wege  heftigere  Katarrhe  mit 
peripherer  Ausbreitung  hervorrufen.  Diese  Form  fand  sich  in  drei  Fäl- 
len :  bei  einem  iKjähr.  Mann  mit  diffusem  Sarkom  des  Corpus  callosum, 

Bm4  IV.   2.  •  M 


162  \,  Wilhelm  MftHer, 

ferner  bei  zwei  Irren,  in  beiden  FhWeji  mit^utrider  Zersetzung  des  In- 
filtrats. ^ 

An  die  Bronchopneumonie  reiht  sich  an  {bl%  gewöhnliche  Polge, 
die  chronische  Pneumonie  mit  Bronohialerweiterung.  6ie  fand  sich  in 
sieben  Leichen  =  5.  1  %.  In  mehreren  dieser  Fälle  waren  die  Lymph- 
drüsen im  Lungenhilus  in  höherem  Grade  verändert:  zweimal  hatte 
narbige  Schrumpfung  derselben  zu  Stenose  von  grösseren  Bronchim 
und  Lungenart^rienzweigen  Anlass  gegeben,  in  eii\em  dritten  Fall  war 
durch  Vereiterung  einer  solchen  gleichzeitiger  Durchbruch  in  einen  Haupt- 
bronchus  und  in  die  Lungenarterie  zu  Stande  gekommen  mit  tödtlicher 
Blutung.  Diß  Fälle  werden  mit  einigen  analogen  im  speciellen  Theil 
ausführlich  geschildert  werden. 

Höhere  Grade  von  Emphysem  fanden  sich  bei  6  Individuen.  In 
allen  diesen  Fällen  war  neben  der  charakteristischen  Veränderung  der 
Terminal bläschen  alter  und  frischer  Bronchialkatarrh,  hochgradige  End- 
arteritis  in  Aorta  und  Lungenarterie  und  Erweiterung  des  rechten 
Herzen  zugegen.  In  4  Fällen  konnte  der  Tod  lediglich  der  recenten 
Steigerung  df  s  Bronchialkatarrbs  zugeschrieben  werden,  welcher  einmal 
mehrfache  bronchopueumonische  Verdichtungen  herbeigeführt  hatte. 
In  zwei  Fällen  hatU)  sich  zu  dem  Emphysem  Thrombose  des  Herzens 
mit  ihren  Folgen  gesellt,  in  einem  derselben,  einer  47jähr.  Frau,  neben 
rechtsseitiger  eitriger  Pleuritis. 

Pigmenthypertropbie  massigen  Grades  fand  sich  in  den  Lungen 
einer  Sojähr.  Frau  im  Anschluss  an  Insufficienz  der  Bicuspidalklappe 
und  Stenose  des  linken  Ostium  venosum. 

Eitrige  Pleuritis  fand  sich,  von  den  ganz  leichten  die  Pneumonieen 
begleitenden  Formen  abgesehen,  in  10  Fällen  =s  7.  4%.  Nur  in  einem 
Fall,  bei  einer  47jähr:  Frau,  bei  welcher  eitrige  Pleuritis  neben  Lungen- 
emphysem und  H^r^thrombose  beobachtet  wurde,  blieb  die  Entstehungs- 
art dunkel,  in  allen  übrigen  Fällen  war  die  Pleuritis  secundär  entstanden 
und  zwar  dreimal  im  Anschluss  an  embolische  Lungenabscesse,  zweimal 
an  tuberkulöse  Lungeneiterung  und  an  Perforation  des  Zwerchfells  von 
der  Leber  aus,  je  einmal  an  Bronchiektasie  und  Rippenbruch.  Der  letz- 
tere Fall  ist  von  Iqteresse  wegen  derEigenthttmliobkeit  seines  Verlaufs. 
Bei  einem  50jähr.  Irren  hatte  während  der  Anwendung  des  Zwangs- 
Stuhls  derKnpipel  der  rechten  zweiten  Rippe  von  letzterer  sich  abgelöst. 
Es  kam  zu  Eiterbildung  an  der  Bruchstelle  und  da  allseitige  ziemlich- 
feste  Verwachsung  der  rechten  Lunge  die  Entstehung  einer  Pleuritis 
verhinderte,  zu  einem  Absoess  im  vorderen  Mediastinum,  welcher  sich 
in  die  linke  Pleurahöhle  öflhete. 

Die  Residuen  abgelaufener  Pleurilis  fanden  sich  in  Form  ausge- 


r 

BeobAchtiiiigen  des  patbologitcheii  Inatipiirzii  Jena  im  Jahre  1866.  1 63 

d^bn(€«'er  Verwaeh^ungen  beider  BlHUer  in  43  Leichen  =s  34.  8%. 
Davon  waren  26  Männer  «nd  4  7  Frauen.  Es  war  demnach  das  männ- 
liche Geachlecbt  ungtfMdi  häufiger  Processen  unterworfen ,  welche  mit 
beträchtlicherer  Reizung  der  Pleuren  verbunden  sind,  als  das  weibliche, 
wie  dies  die  Vetschiedenheit  des  Berufs  von  vornherein  wahrscheinlich 
erscheinen  lä3St. 

Es  ist  hier  noch  eines  seltenen  LeiohenphSinomens  zu  erwähnen, 
welches  bei  einem  halbjährigen  an  Intussusception  verstorbenen  Mäd- 
chen sich  fand.  Magen  und  Dünndarm  waren  beträchtlich  ausgedehnt 
und  mit  reichlichen  Mengen  giilnlich-gelber  Flüssigkeit  gefüllt,  die 
Wandungen  des  ersteren  im  Fundus  hochgradig  gallertig  erweicht. 
Beide  Lungen  vollkommen  frei,  die  Pleurahöhlen  leer,  der  Pleura- 
Überzug  glatt  und  glänzend  aber  an  mehreren  Stellen  namentlich  der 
rückwärts  liegenden  Parthien  eigenthümlich  grünlich  missfarbig.  Die 
Verfärbung  erstreckte  sieh  auf  eine  Anzahl  Heerde  des  unterliegenden 
Lungenparenchyms,  welches  in  deren  Bereich  theils  emphysematbs 
und  hochgradig  erweicht,  theils  geradezu  in  einen  grünlich  braunen 
missfarbigen  Brei  verwandelt  war.  Diese  Parthien  der  Lungen  enthielten 
gleich  den  zuführenden  Bronchien  und  der  Trachea  dieselbe  Flüssigkeit, 
welche  in  Magen ,  Oesophagus  und  Rachen  in  reichlicher  Menge  sich 
vorfand.  Das  Zwerchfell  erwies  sich  intact.  Ich  kann  in  diesem  Befund 
Nichts  sehen  als  eine  cadaveriJse  Erweichung  der  Lungen,  bedingt  durch 
das  Eindringen  von  verdauungsAihigem  Mageninhalt  in  die  Bronchien 
während  der  Todenstarre.  Diese  Ansicht  gründet  sich  4j  auf  den  Mangel 
jeder  Reaction  seitens  der  Pleuren,  2)  auf  die  gleichzeitige  Erweichung 
des  Magens,  3)  auf  die  Uebereinstimmung  der  in  beiden  finalog  verän- 
derten Organen  enthaltenen  Flüssigkeit. 


Digestionssystem. 

In  erster  Linie  sind  die  Lageänderungen  der  in  der  BauchhMile 
liegenden  Theile  dieses  Systems  zu  erwähnen. 

Prolapsus  ani  fand  sich  bei  %  Frauen ,  er  hatte  in  einem  Fall  das 
disponirende  Moment  zur  Ansteckung  mit  Dysenterie  abgegeben. 

Hernien  waren  in  8  Individuen  vorhanden  =  5.  8%,  hieven  waren 
vier  rechtsseitige  Leistenbrüche,  sämmüich  bei  Männern,  zwei  links- 
seitige Leistenbrüche  bei  einem  Mann  und  einer  Frau,  bei  letzterer 
neben  rechtsseitigem  Schenkelbruch ;  ausserdem  Canden  sich  noch  bei 
zwei  Frauen  reohtsseitige  Schenkelbrüche,  wovon  einer  die  Hernio- 
tomie  nothwendig  gemacht  hatte  mit  ungünstigem  Ausgang.     In  einem 

44  • 


104  ^^^  Wilkebi  MfllW, 

dieser  Fälle  fanden  sich  nebenbei  noch  zwei  leere  Bruchstücke  im  Ga- 
nalis obturatorius. 

Innere  Einklemmung  war  dreimal  eingetreten:  ein  halbjahriges 
Madchen  hatte  Intussusception  des  Ileumendes  undCoecum  in  das  Colon 
ascendens.  % 

Bei  einer  68jühr.  Frau  fand  sich  Einklemmung  einer  Ileum— 
schlinge  durch  eine  gespaltene  Pseudomembran ,  die  von  einer  Cysile 
im  rechten  breiten  Mutterband  gegen  das  Parietalperitonäum  in  der 
Gegend  der  rechten  Synchondrosis  sacro-iliaca  sich  ei*streckte. 

Besonders  complicirt  gestaltete  sich  der  Befund  hei  einer  GOjährigen 
Frau,  welche  wie  die  beiden  vorigen  unter  den  Erscheinungen  deslleus 
gestorben  war.  Es  fand  sich  neben  frischer  Peritonitis  das  Duodenum 
und  der  obere  Theil  des  Jejunum  beträchtlich  ausgedehnt,  das  Lumen 
mit  einer  enormen  Masse  gelblich-grauer  fäculentriechender  Flüssigkeit 
erfüllt.  Das  Ende  des  Jejunum  an  einer  umschriebenen  Stelle  sowohl 
mit  der  vorderen  Wand  des  Mesenteriums  nahe  dessen  Anheftung  als 
mit  einer  anliegenden  lleumschlinge  massig  fest  verwachsen.  Das 
lleum  an  der  verwachsenen  Parthie  in  Folge  alter  Adhäsionen  mehrfach 
winklig  geknickt.  Die  zwischen  den  verwachsenen  Stellen  liegende 
130  Gentimeter  lange  Parthie  des  Darms  dunkelblauroth ,  stellenweise 
blutig  suffundirt,  allenthalben  die  Spuren  alter  Hyperämie  in  Form  von 
schiefrlger  Pigmentirung  und  Verdickung  der  Wand  mit  zahlreichen 
Bindegewebsvegetationen  zeigend.  Die  Verwachsung  leicht  trennbar, 
nach  ihrer  Trennung  kommt  eine  groschengrosse  Ulceration  der  vorderen 
Platte  des  Mesenteriumszum  Vorschein,  welcher  analoge  Ulcerationen  der 
anliegenden  Darmschlingen  entsprechen.  Jene  des  Jejunum  zeigt  sich 
auf  die  Serosa  beschränkt,  jene  des  lleum  ist  mit  einer  schmalen  Per- 
forationsöffnung versehen,  durch  welche  ein  5  Gentimeter  langer  Zahn- 
stocher von  Bein ,  umgeben  von  bräunlichem  übelriechenden  Eiter,  in 
die  ulcerirte  Parthie  des  Mesenteriums  hineinragt.  Letzteres  verkürzt 
und  zwischen  der  Stelle,  an  welcher  die  Perforation  stattgefunden  hatte 
und  derDarminsertion  zu  einem  halbfaustgrossen  Tumor  angeschwollen, 
dessen  Substanz  theils  blutig  theils  eitrig  infiltrirt  ist  und  mehrere  blutig 
suffundirte  geschwoUene  Drüsen  einschliesst.  Nebenbei  umfangreiche 
Leisten-  und  Schenkelbruchsäcke,  deren  Inhalt  augenscheinlich  lange 
Zeit  hindurch  das  jetzt  retrahirte  lleum  gebildet  hatte. 

In  zwei  Leichen  fanden^  sich  Divertikel  der  vordem  Oesophaguswand 

■ 

im  Niveau  der  Trachealbifuroation  im  Anschluss  an  narbigen  Schwund 
der  anliegenden  Lymphdrüsen. 

Chronischer  Magenkatarrh  fand  sich  als  Gomplication  der  verschie- 
densten Processe  in  1 8  Leichen  =13.3  %  und  zwar  gleich  häufig  bei 
Männern  und  Frauen. 


Beobachtangen  d«8  pathoIoiEtSfbf n  Instifnts  tu  J«na  im  Jahr«  1866.  1 65 

Das  chronische  Magengeschwür  und  seine  Residuen  wurde  in  f  0 
Fallen  beobachtet  =  7.  1  %.  Wie  gewöhnlich  stellte  das  weibliche 
Geschlecht  ein  viel  betrachtlicheres  Contingent  als  das  mannliche  (7 : 3] . 
In  neun  von  diesen  10  Fallen  waren  es  die  charakteristischen  Narben, 
welche  die  frühere  Anwesenheit  des  Processes  doeumentirten^  nur  bei 
einer  63jährigen  Frau  fand  sich  eine  sanduhrförmige  Verengerung  durch 
eine  alte  Narbe  neben  einem  frischen  Geschwür.  Bemerkenswerth  ist, 
dass  mit  einer  Ausnahme ,  welche  den  Fundus  betraf,  stets  dieselbe 
Stelle  des  Magens  Sitz  der  Veränderung  war :  die  hintere  Wand  in  der 
Mitte  zwischen  Pylorus  und  Gardia  nahe  der  kleinen  Gurvatur. 

Eine  interessante  Form  der  Wurmfortsatzperforation  wurde  bei 
einem  78jahr.  Mann  gefunden.  Der  Processus  vermiformis  war  5  Mm. 
vor  seinem  etwas  erweiterten  Ende  mit  der  vorderen  Flache  des  Ileum 
nahe  den  BAURiif'schen  Klappe  verwachsen  und  mündete  durch  eine 
schmale  seitliche  von  einem  gewulsteten  Schleimhautrand  umgebene 
Fistel  in  letzteren  ein.  Seine  Schleimhaut  war  im  Zustande  chronischen 
Katarrhs. 

Chronischer  Darmkatarrh  fand  sich  abgesehen  von  den  Fallen ,  in 
welchen  er  tuberkulöse  Verschwörung  der  Darmschleimhaut  begleitete, 
bei  10  Individuen,  i  Mahnern,  6  Frauen;  er  fand  sich  in  :^  Fallen  neben 
Garcinose  verschiedener  Organe,  eben  so  oft  im  Anschluss  an  chronische 
Nephritis,  in  i  Fallen  trat  derselbe  als  Theilerscheinung  allgemeiner 
Venenstauung  auf. 

Eine  beschrankte  Epidemie  von  Dysenterie,  welche  im  Herbst  auf- 
trat, lieferte  7  Todte.  Schon  im  August  war  ein  Mann  aus  der  Naum- 
burger Gegend  in  das  Landeskrankenhaiis  aufgenoipmen  worden ,  wo 
er  nach  kurzem  Aufenthalt  der  Erkrankung  erlag.  Im  October  wurde 
ein  zweiter  Fall  aufgenommen  und  wegen  des  Ausbruchs  von  Delirium 
tremens  auf  die  Irrenabtheilung  transferirt.  Daselbst  haftete  das  Gonta- 
gium  und  raffte  zwei  Angehörige  dieser  Anstalt  hinweg.  In  derselben 
Zeit  starben  in  der  gerade  gegenüberliegenden  Entbindungsanstalt  zwei 
Neugeborene  an  der  gleichen  Erkrankung.  Ein  siebenter  Fall  kam  in 
einem  benachbarten  Dorfe  vor,  er  war  gleichfalls  aus  der  Umgegend 
von  Naumburg  eingeschleppt.  Die  Erkrankung  erstreckte  sich  bei  einer 
der  Irren  auf  das  ganze  Ileum  und  den  Dickdarm ,  ersteres  mit  einer 
dicken  in  Zusammenhang  ablösbaren  gelblichen  Grupmembran  über- 
ziehend. Bei  einem  der  Neugeborenen  beschrankten  sich  die  Belege 
im  Ileum  auf  die  PsTiE'schen  Drüsen  neben  ausgedehnter  Diphtherie 
des  Colon. 

Es  ist  hier  der  Fall  eines  33jahr.  Arztes  anzufügen,  welcher 
in  den  Tropen  einen  umfangreichen  Leberabscess  mit  Durchbruch  in  die 
rechte  Pleurahöhle  acquirirt  hatte.    Es  fanden  sich  im  Dickdarm  neben 


166  WUbelaMftller, 

schief riger  Pigmentirang  der  Schleimhaut  aablrMcbe  slraMIgeNiirben 
als  Residuen  einer  abgelaufenen  Dysenterie. 

Esdiinocoocen  der  Leber  kamen  zweimal  zur  BeobachUing:  bei 
einem47jähr.  Mann  mit  Perforation  in  die  rechte  Pleurahöhle  und  eitriger 
Pleuritis,  bei  einer  57jähr.  Frau  mit  Perforation  in  die  Gallenwege  und 
terminaler  Pneumonie.  Im  letzteren  Fall  war  es  zu  mehrfachen  sack- 
förmigen Ektasien  der  Gallengänge  innerhalb  der  Leber  gekommen, 
welche  sich  ferner  auch  bei  einem  Mann  mit  Krebs  des  NierenbeckMs 
und  der  Lymphdrüsen  um  die  Leber pforte  vorfanden. 

Gallensteine  fanden  sich  in  1  \  Individuen  =:  8.  1  %,  Audi  hier 
stellte  das  weibliche  Geschlecht  mit  9  Fällen  das  ungleich  grössere 
Gontingent. 

Bei  einer  64jähr.  an  Epitheliom  der  Blase  verstorbenen  Frau  fanden 
sidi  zahlreiche  Stecknadelkopf-  bis  erbsengrosse  gelbe  käsige  Einlage- 
rungen in  die  Bindesübstanz  zwischen  den  einzelnen  Läppchen  des 
Pankreas^  wahrscheinlich  die  Residuen  früherer  Eiterbildung  im  inter- 
stitiellen Bindegewebe  der  Drüse  imAnschluss  an  hochgradigen  Katarrh. 
Die  Sehleimhaut  des  Duodenum  zeigte  ausser  schiefriger  Pigmentirung 
keine  Veränderung. 

Eitrige  Peritonitis  fand  sich  in  8  Fällen,  stets  als  secundärerProcess 
und  zwar  dreimal  im  Anschluss  an  innere  Einklemmung ,  zweimal  an 
Diphtherie  des  puerperalen  Uterus,  je  einmal  an  Binichschnitt,  Darm- 
Perforation  durch  Dysenterie  und  Uterusruptur. 

Uropoetisches  System. 

An  Wichtigkeit  steht  unter  den  hier  abzuhandelnden  Erkrankungen 
die  Nephritis  obenan.  Man  kann  3  Formen  unterscheiden.  Die  erste 
begreift  jene  Fälle,  welche  wesentlich  durch  Veränderungen  in  der  epi- 
thelialen Auskleidung  der  Harncanälchen  cbarakterisirt  und  bei  acutem 
Verlauf  als  crupöse  Nephritis,  bei  chronischem  als  Fettniere  bezeichnet 
werden ;  für  sie  empfiehlt  sich  der  von  Digkiksok  vorgeschlagene  Name 
der  tubulären  Nephritis.  Die  zweite  umfasst  jene  Fälle ,  bei  weichen 
neben  den  Veränderungen  des  Harncanälchenepithels,  weiche  mit  jener 
der  vorigen  Form  identisch  sind,  eine  Wucherung  der  interstitiellen 
Bindesübstanz  der  Niere  zu  Stande  kommt ,  wodurch  diese  narbigen 
Schwund  verschiedenen  Grades  erleiden  kann.  Man  wendet  auf  diese 
als  €irrbose  oder  Granularatrophie  der  Niere  bekannte  Perm  zweck- 
mässig die  Bezeichnung  der  interstitiellen  Nephritis  an.  Sie  ist  die  ge- 
wöhnliche Fonn  bei  Giehtischen ;  sie  isl  noch  häufiger  eine  Fol^e  der 
katarrhalischen  Nephritis  d.  h.  einer  vom  Nierenbeeken  afus  amf  die 


■r 
BeobacbtuugeD  des  patbologisdMH  lostHats  zu  ^tia  iui  Jahre  1866.  167 

Harnoanälchen  akh  lorlpflansenden  EpitHelialwucherang,  denn  nur  in 
dioser  Aufiasaung  erhalt  überhaupt  <tie  Beaeichnung  »kaiarrtaaliscbe 
Nephritis«  eine  beslimmte  and  klare  Bedeutung.  Auf  Grundlage  dieser 
Form  entwickelt  sieh  in  der  Regel  die  dritte,  die  auppurative  Nephritis, 
charakteriairt  durch  Eitertellenbildung  im  interstitieUen  Bindegewebe 
des  Organa. 

Die  acute  Form  der  tubulären  Nephritis  wurde  in  5  Fällen  beob- 
achtet: je  eintsal  neben  Diphtherie  und  Masern,  zweimal  neben  Keuch- 
husten;  in  beiden  letzteren  Fällen  waren  Conereroente  im  Nieren- 
becken nnd  war  der  Tod  unter  den  gewöhnlichen  Erscheinungen  der 
Urämie  erfolgt.  Bei  einer  31  jähr.  Frau  hatte  sieh  die  Erkrankung  zwei 
Monate  vor  dem  Tod  unter  Oedetfien  entwickelt.  Es  fand  sich  neben  all- 
gemeinem Hydrops  und  der  charakteristischen  Veränderung  der  Nieren 
eine  linksseitige  Pneumonie  und  frische  Endooarditis  derBicuspidalklappe. 

Die  chronische  Form  der  tubulären  Nephritis,  sog.  Fettniere, 
kam  dreimal  zur  Beobachtung:  zweimal  neben  Garies,  einmal  neben 
recenter  Tuberkulose. 

Interstitielle  Nephritis  fand  sich  im  Anschluaa  an  chronischen  Ka- 
tarrh des  Nierenbeckens  bei  2  Frauen,  in  einem  Fall  doppelseitig ,  itn 
andern  auf  die  rechie  Niere  beschränkt.  Unabhängig  hievoti  fand  sie 
sich  bei  einem  iöjähr.  Mann.  Das  Krankheitsbild  war  hier  sehr  dunkel 
gewesen :  öftere  schmerzhafte  Anschwellungen  der  Gelenke,  fortschrei- 
tende Abmagerung  und  Blässe  ^  zum  Schlüsse  unstillbare  Blutungen 
aus  Mund  und  Nase  neben  Coma  und  Gonvulsionen.  Die  Niereti  fanden 
sich  auf  V4  <^s  Normalvolums  reducirt ,  exquisit  granular-^trophisob, 
die  Malpighischcn  Körper  zum  Theil  kysiomatös  erweitert  mit  Abplattung 
der  enthaltenen  Gefässrudimente ,  die  Harneanälcheu  tlieUs  verengt, 
mit  fettigem  Detritus  und  hyalinen  Gylindem  erfüllt,  theils  erweitert  und 
in  beginnender  Gystenumwandlung«  Der  Urin  hatte  bei  einmaliger 
Untersuchung  keinen  Eiweisagehalt  dikrgeboten« 

Der  suppurativen  Nephritis  erla^^  ein  4 4 jähr.  Mann,  wekher  in 
Folg0  eines  Blasensteins  schon  längere  Zeit  dn  interstitieller  Nephritis 
gelitten  hatte  und  wenige  Tage  vor  sddem  Tod  der  Uthotomie  unter- 
worfen worden  war. 

Amyloiddegeneration  der  Niere  fand  sich  in  5  Fällen :  zweimal 
neben  Uteruskrebs,  zweimal  neben  Tuberkulose,  einmal  neben  Pyelitis. 

Kalkinfarcte  in  den  Pyramiden  wurden  bei  4  fast  gleichaltrigen 
\^'^  67  Jahrj  Individuen  beobachtet ;  in  keinem  Fall  )var  eine  Bezie- 
hung zu  Veräaderungeii  im  Knoobenaystem  nachweisbar. 

Katarrh  des  Nierenbeckens. fand  sich  in  mäaeigem  Grade  bei  drei 
Irren  und  ehiem  Tuberkulosen ;  in  keineol  dieser  Fälle  fehlten  die  Er**- 


'> 


168  "^    .  Wilhelm  MWter, 

scheinungen  des  chronischen  Katarrhs  in  Blase  und  Uretfard.  Hochgra- 
dige eitrige  Pyelitis  fand  sich  bePzwei  Frauen  neben  eitrigem  Ölaseil- 
katarrhy  in  dem  einen  Fall  auf  die  rechte  Niere  beschränkt.  Combinlrl 
mit  Hydronephrose  f.ind  sie  sich  bei  einer  iljähr^  Frau,  deren  linkes 
Nierenbecken  durch  ein  im  Ureteranfang  festsitzendes  Concrement  her- 
metisch abgeschlossen  war,  während  das  rechte  mehrere  freie  Goncre- 
mente  enthielt.  Beide  Nieren  waren  in  kopfgrosse  Säcke  verwandelt, 
das  Parenchym  bis  auf  geringe  Reste  geschwunden,  die  enthaltene  FlttS- 
sigkeit  eitergemischt  und  übelriechend. 

Bei  4  Frauen  hatte  sich  im  Anschluss  an  Epitheliome  des  Uterus 
mit  Gompression  eines  oder  beider  Ureteren  Hydronephrose  entwickelt. 

Es  ist  hier  noch  ein  Fall  abnormer  Beweglichkeit  und  Tiefstandes 
der  rechten  Niere  mit  Ausbildung  eines  kurzen  Mesonephrons  zu  er- 
wähnen, welcher  sich  bei  einer  69jähr.  Frau  fand. 

f 

4 

Genitalsystem. 

Granulöser  Katarrh  der  hinteren  Parthien  der  Urethra  fand  sich  bei 
5  Männern,  worunter  3  Irre  und  \  Tuberkulöser.  In  zwei  von  diesen 
Fällen  machte  schiefrige  Pigmentirung  der  Samenblasen  mit  bräunlich- 
gelber Färbung  der  enthaltenen  Flüssigkeit  deren  Betheiligung  an  dem 
Process  wahrscheinlich. 

Katarrh  der  weiblichen  Genitalschleimhaut  war  in  \  I  Individuen 
nachweisbar  =  8.  \  %,  in  3  Fällen  zugleich  mit  Schwellung  und  er- 
heblicher Verlängerung  des  Gervix.  Bei  einer  69jähr.  Frau  fand  sich 
im  Anschluss  an  croupöse  Pneumonie  ein  gelblicher  in  Zusammenhang 
ablösbarer  Croupbeleg  in  Uterus  und  Vagina  neben  beträchtlicher Röthe 
und  Schwellung  der  unterliegenden  Schleimhaut. 

Diphtherie  des  puerperalen  Uterus  fand  sich  in  3  Fällen,  stets  be- 
gleitet von  eitriger  Peritonitis,  in  2  Fällen  zugleich  von  eitriger 
Lymphangitis  im  Plexus  spermaticus. 

Lageänderungen  des  Uterus  kamen  in  8  Individuen  zur  Beobach- 
tung =  5.9  %  und  zwar  1  Vorfall,  \  seitliche  Beugung,  6  Rückwärts- 
neigungen und  Beugungen.  Alle  diese  Individuen  gehörten  dem  reiferen 
Alter  an. 

Haut. 

Es  ist  hier  ein  Fall  von  Wunddiphtherie  seiner  Gomplieation  wegen 
zu  besprechen.  Bei  einer  53jähr.  Frau  war  wegen  eines  umfangreichen 
Sarkoms  der  rechte  Oberschenkel  im  unteren  Drittheil  amputirt  worden. 


Beobaebtansen  dM  patbolopseben  Institny^m  .1«na  im  Jabre  1866.  169 

Es  stellte  sieh  in  Form  eines  graugelbliclien  festsitzenden  übelriechenden 
Belegs  Wunddiphtherie  ein,  welcher  die  Kranke  erlag.  Es  fand  sich 
ausser  der  Wundaffection  hochgradiger  granulöser  Katarrh  des  Uterus, 
der  Blase  und  des  rechten  Nierenbecken;  in  allen  diesen  Theilen  fanden 
sich  inselfbrmige  Groupbelege ,  während  die  normale  Schleimhaut  des 
linken  Nierenbecken  von  der  Affection  vollständig  verschont  blieb. 


Bewegungssystem. 

Bei  einer  56jähr.  liren  fand  sich  eitrige  Bursitis  patellaris  ohne 
Communication  mit  dem  Gelenk.  Die  Wandung  des  Schleimbeutels  war 
hochgradig  verdickt,  sehr  gef^ssreich  und  mit  zahlreichen  bis  erbsen- 
grossen  wuchernden  Granulationen  besetzt,  der  enthaltene  Eiter  dick, 
gelblich  und  übelriechend. 

Bei  einem  57jahr.  an  chronischer  tubulärer  Nephritis  versiorbeoen 
Mann  fand  sich  Eiterung  des  rechten  Kniegelenks  neben  solcher  am 
Periost  des  Oberschenkelknochen ;  der  letztere  in  seinem  unteren  Drit- 
theil beträchtlich  verdickt,  von  auffallend  compacter  Beschaffenheit,  in 
der  Mitte  scierotischen  Gewebes  zwei  etwa  kirschengrosse  vollkommen 
glattwandige  mit  Eiter  gefüllte  Höhlen  enthaltend,  welche  durch  Fistel- 
gänge mit  den  anliegenden  Äbscessen  und  der  Oberfläche  der  Haut 
communicirten.  Der  weitere  Befund  ergab  keinen  Anhalt  für  die  Ver- 
muthung ,  dass  hier  das  Besultat  constitutioneller  Syphilis  vorgelegen 
habe. 


BetbBchtmgeM  ins  ^th«l*gi«diMi  lUÜtMis  u  Jeit  !■  itlre  I8<7. 


Allgemeiner  Tbeil. 

Vom  1.  Januar  bis  31.  IWcember*867  wurden  vom  pathologischen 
Institut  tuJenaUS  Leichen  secirt.  Die  Hauptlodesnrsflchen  ergibt  nach- 
sMbende  Uebersicht: 


Tuberkulose 
der  Langen .... 
>    Knochen  .  .  . 

■  Nieren  .... 
deBBawbMIs  .  . 
der  Hirnhaute    .  . 

Carcinom 
dar  Brustdrüse     . 
des  Colon 

Bpitheliom 

desUagens 

der  HuDdhOble .  . 
des  Utaras  .... 

Sarkom 
des  Gehirns    .  .  . 
der  Schilddrüse    . 

■  Lungen    .  .  . 

syphms 

Nervensyst. 
Leptomeningitis   . 

Erkr.  des 
Circutalionssyst 
Endocarditis  .  .  , 
Adiposis  Cordts .  . 

Milabitis 

ArteritlB 

iDUlatiOD    .... 

1 

- 

1 

- 

- 

_ 

t 
- 

i 

1 

- 

- 
1  i 

- 

— 

— 
— 

* 

z 

— 

t 

- 
z 

1 

< 

3 

-; 

- 
- 

1 

z 
- 

■ 
_ 

1 

1 

1 

I 
- 

_ 
1 

- 

z 

— 

z 

4 

I 

— 

.1 

—  1 

1\ 

-\ 

-1 

-ll 

Beobwhtnngeu  des  p«tliolo08ehen  institots^m  Jeiw  im  Jahn  1867. 


171 


•m^^^^^ß* 


Uli"? 


*mm^ 


Todesursache 


0—4 


*'■—■■  •^t     ■  ff** 


Erkr.  d.  Respirats 
Diphtheria  .  .  . 
Pneumonia    crup 
Brdßebopnmim. 
FnottiDonia  chron 
Emphysema  .  . 
Pleuritis   .... 
Aspbyxia  .... 
Erkr.  des 
,  Digestionss. 
Catarrh.gaslro-iat. 
Dysenteria  .  .  .  . 
Ulcus  roiUDd.  .  . 
Perforalio  proc. 

vermiform.  .  . 
Peritonitis  .  .  .  . 
Incarcerat.    herik 

Voivulus 

Erkr.d.uropoet.S. 
Nephritis  tubul.  . 
»      interstit. 
»      SQpporat. 

Diabetes 

Erkr.  d.  Genitals. 
Adhaes.  placentae 
Dipbtb.  ul.  pucrp. 

Erkr.  der  Haut 

Erysipels s  .  .  .  . 

Phlegmone  .  .  .  . 

Erkr.  des 

Bewegnngss. 
Krad,  libiae  .  .  . 

»      Costa  rum    . 
Vergiftung  . 
Verhungert . 


«— !• 


H^IO 


1  ■, 


1! 

'I— I  — 


««—80 


81—40 


44—50 


4 

5 


i-i-y-i  I 


«   *   • 


l! 


ti 


•i-t' 


— I  —  ii    4 .  — 

'    4  1 


i4*i 


54—60 


*  »■ » 


64—70 


a± 


4 


4 

4 

II    4 


!•** 


74—80 


1—1 


V    41  — 


I       I 


I 

%  - 

4     i 


|l  — 


♦  I 


aac 


84 


10 


9 


8 


4 
4 
4 


47  8   8  4  .  5  8  40  U   7  7  42  5  45  8  .45  5"—  9 
85  t   4     18    88    4  4    47    88  ,  SO     9 


448 


Tuberkulose 


wurde  in  S9  LeicbeD  conslaltrta  «9.  6»/o.  Sie  fttbrie  in  i3  Fttll^ü 
dtreci  lum  Tode,  in  (>  FitUen  durch  Contplitiationen  »nd  swar  dreinial 
durah  Perfoniü^n  der  Lungen  tnil  darauf  (oigcmdom  PtiouaicUMfaic, 
iweitnal  durch  Perforaiion  des  Darms  mit  darauf  Mf^MKier  Periiönitii. 
Bei  einem  53jahr.  Haftn  war  ea  im  Gefolge  von  Uiberkulbddr  Carica  dte 
i,  und  3.  Lendenwirbela  tu  umacbrSebeoer  Perforation  der  Dura  aaUtr 
spinalis  gekommen  mit  nachfolgender  bis  in  die  Hirnhölüen  verbreiMer 
eitriger  Lepknettingiiia* 


172  ^  WilhelB  MM, 

In  f  0  Pätien  fanden  sich  näben  der  Taberkntosr  ^rocesse ,  welche 
das  disponirende  Moment  zu  ihrer  Entwicklung  abgegeben  haben  konn- 
ten und  zwar  dreimal  Syphilis,  zweimal  chronischf  Pneumonie  und  tä- 
cale  Concremente  im  Wurmfortsatz,  je  einmal  Manie,  Diabetes,  Ulcus 
rotundum. 

Von  bemerkenswerthen  Beobachtungen,  zu  welchen  die  Tu- 
berkulose Änlass  gab,  hebe  ich  heraus  das  gleichzeitige  Vorkommen 
alter  theils  verkäster  theils  verkreideter  bis  erbsengrosser  Tuberkel  in 
der  Pia  der  Hirnoberfläche  neben  frischem  miliaren  Nachschub  bei  einem 
28jähr.  Mann  und  I3jahr.  Mädchen. 

Bei  einem  i  6jähr.  Mann  zeigte  sich  der  Kehlkopfeingang  dadurch 
deform,  dass  die  rechte  Cartilago  corniculata  mit  der  überziehenden 
Schleimhaut  der  vorderen  Fläche  der  Cart.  arytaenoidea  auflag.  Es  fand 
sich  an  der  Basis  der  letzteren  ein  linsengrosses  zackiges  Geschwür, 
welches  die  Schleimhaut  nach  oben  unterminirt  und  die  vordere  Parthie 
des  Bandapparates  zwischen  Gart,  arytaenoidea  und  corniculata  zerstört 
hatte,  wodurch  letztere  ihrer  Schwere  folgend  nach  vorne  und  abwärts 
gesunken  war. 

Bei  einem  \  Ojähr.  Mann  fand  sich  eine  stecknadelkopfgrosse  von 
einem  schwarzen  Pigmenthof  umgebene  Oeffnung  im  rechten  Haupt- 
bronchus,  aus  welcher  bei  Druck  Eiter  sich  entleerte.  Die  Präparation 
zeigte,  dass  eine  anliegende  tuberkulöse  Lymphdrüse  vereitert  und  in 
den  Bronchus  durchgebrochen  war. 

In  zwei  Fällen  fand  sich  neben  weit  verbreiteter  Tuberkulose  Ver- 
schwärung  der  Oesophagusschleimhaut.  Bei  einer  34jähr.  Frau  war 
letztere  im  Anfangstheil  von  spärlichen,  im  weiteren  Verlauf  von  zahl- 
reichen rundlichen  und  zackigen  bis  groschengrossen  Geschwüren  be- 
setzt, deren  Ränder  glatt,  deren  von  der  Submucosa  gebildete  Basis  hie 
und  da  durch  netzförmig  vorspringende  Bindegew  ebszüge  uneben  war. 
Die  zwischenliegende  Schleimhaut  war  flach  gewulstet  und  mit  ver- 
dicktem Epithelüberzug  versehen.  Die  Uebereinstimmung  dieser  Ver- 
schwärungen  des  Oesophagus  mit  zahlreichen  gleichzeitig  vorhandenen 
in  der  hinteren  Wand  der  Trachea  war  unverkennbar.  Auf  das  untere 
Drittheil  des  Oesophagus  beschränkt  wurde  derselbe  Befund  bei  einem 
4  9jahr.  Mann  beobachtet.  In  letzterem  Fall  waren  längere  Zeit  hindurch 
Schmerzen  beim  Schlingen  vorhanden,  welche  constant  im  unteren 
Theil  des  Oesophagus  angegeben  wurden  und  von  dem  behandelnden 
Arzt,  Geh.  Hofrath  Ried,  schon  während  des  Lebens  mit  Wahrschein- 
lichkeit auf  eine  Verschwärung  der  Oesophagusschleimhaut  bezogen 
worden  waren. 

Bei  einem  27jähr.  Mann  war  es  iuiAnschluss  an  inveierirte  Syphilis 


ReobMhttin^en  des  patbolo^tiafhen  Insfituts  %\\  Jeim  im  Jahre  1867.  17^ 

ttfid  alte  Tuberkulose  der  Lungen  und  Lymphdrüsen  zu  acuter  Tuber- 
kulose gekommen,  welcbif  sich  auf  das  PeritonHuui  beschränkte. 

Tuberkulose  d^  Nieren  in  Form  discreter  Knoten  fand  sich  bei 
einem  i^jühr.  Mann.  In  infiHrirter  Form  und  zwar  von  den  Spitzen 
einzelner  Pyramiden  aus  auf  deren  Basis  und  die  Rindensubstanz  über- 
greifend fand  sie  sich  bei  einem  lOjühr.  und  einem  28jähr.  Mann,  bei 
letzterem  mit  Bildung  einer  umfangreichen  daveme.  In  beiden  Füllen 
warderProcess  auf  die  rechte  Niere  und  den  rechten  Ureter  beschritnkt : 
es  fanden  sich  in  letzterem  und  dem  Nierenbecken,  in  Blase,  Prost^ita 
und  den  hinteren  Parthien  der  Urethra  theils  frische  Tuberkelk nötchen, 
theils  rundliche  und  zackige  Geschwüre  neben  hochgradigem  chronischen 
Katarrh.  In  beiden  Fällen  waren  Vas  deferens.  Nebenhode  und  Hode 
beiderseits  vollkommen  frei  geblieben. 

Krebs. 

Zwei  Fülle  von  Garcinom  der  Brustdrüse  boten  übereinstimmenden 
Befund:  Oertliohes  Recidiv  an  der  Operationssieile,  secundttre  Carcinoma 
in  den  Ach.seldrüsen,  Rippen,  Pleuren,  Lungen  und  der  Leber. 

Bei  einer  73jtfhr.  Frau  fand  sich  ringförmiges  Garcinom  des  Colon 
transversum  neben  solchem  beider  Eierstöcke ,  dabei  acute  Careinose 
des  Peritonäum. 


Epitheliale  Neubildungen. 

Pflasterepitheliom  des  Uterus,  vom  Scheidegewölbe  ausgehend,  fand 
sich  bei  einer  48jHhr.  Frau.  Die  Neubildung  hatte  in  ausgedehnter 
Weise  auf  die  Blase  am  Trigonum  übergegriffen  und  sowohl  eine  ab- 
norme Communication  mit  der  Vagina  als  doppelseitige  Hydronephrose 
herbeigeführt.  Das  Rectum  war  bis  auf  einige  submucöse  Knötchen 
frei ;  dagegen  fanden  sich  secundäre  Epitheliomknoten  in  den  retrope- 
ri tonaalen  Lymphdrüsen  und  der  Leber. 

Bei  einem  :i8  jühr.  Weib  hatte  ein  ausgedehntes  Pflasterepitheliom 
der  Mundhöhle  zu  Entfernung  der  linken  Unterkieferhfllfte  Anlass  ge- 
geben. Nach  dem  3  Wochen  später  an  Bronchopneumonie  erfolgten 
Tod  zeigte  sich  der  ganze  weiche  Gaumen  von  der  Neubildung  substi- 
tutrt,  welche  sich  längs  der  linken  beiden  Gaumeabögen  bis  zum  Kehl- 
deckel erstreckte  und  theilweise  in  die  Zungenbasis  übergriff.  Die  be- 
nachbarten Lymphdrüsen  waren  frei  geblieben. 

Drei  Fülle  von  Gylinderepiiheliom  fanden  sich  im  Magen,  zwei  im 
Pylorustheil  bei  einem  60jähr.  Mann  und  einem  Tijähr.  Weib,  ein  dritter 


174   ^  ^  WUbelmMAUer, 

in  dßv  NMhß  der  Cardio  bei  einer  ißjäbr.  Frau,  bi  den  letstenen  beiden 
Fällen  war  die  Neubildung  auf  den  Magent>eMhrilnkt,  im  isrsteren  waren 
di^  Lymphdrüsen  um  Magen  und  I^berpfarte  und  die  Leber  selbst  von 
»alilreichen  secundären  zum  Tbeil  sehr  grosaen  Epithel  iomknoten  durch-^ 
setst.  Da3  Resultat  der  metbodisohen  Untersuchung  dieses  Falk  wird 
der  specielle  Theil  bringen. 

Bei  den  Adenomen  ist  z,u  erwöhnen  die  sog.  Hypertrophie  der  Pro- 
stata. Sie  JEand  sich  in  höherem  Grade  bei  5  Individuen,  stets  im  An- 
achluss  an  chronischen  Katarrh  der  hinteren  Parthien  der  Urethra  und 
mit  Bildung  eines  sog.  mittleren  Lappen.  Die  Untersuchung  von  dreien 
dieser  F^lle  und  die  eines  frtlheren ,  in  welchem  die  Prostata  im  An- 
schluss  an  einen  alten  periurethralen  Abscess  über  apfelgross  war,  hat 
ergeben,  dass  an  der  Bildung  des  mittleren  Lappen ,  welcher  in  einem 
Fall  über  wallnussgross  und  deutlich  abgegrenzt  war,  eine  Neubildung 
von  Drüsenbläschen  den  wesentlichsten  Antheil  hatte.  Nur  in  einem 
Fall   trat  das  Drüsengewebe  gegen   die   verdickte  Musculatur  zurück. 

Vf^rgrösserungen  der  Schilddrüse  in  Form  der  verschiedenen  Modi- 
ficationen  d?s  Kröpfe  wurden  in  S7  Individuen  angetroffen  »t:  18.  2%. 
Auch  in  diesem  Jahre  stellte  das  weibliche  Geschlecht  mit  1 6  Fällen  das 
grossere  Cootingent. 

Kystome  der  Nieren  fanden  sich  bei  7  {4M.,  3  W«),  solche  der 
Ovarien  bei  8  Individuen ,  von  letzteren  eines  mit  dermoidem  Inhalt. 
Bei  einer  33jähr.  Frau  hatte  ein  colossales  multjloculäres  Kystom  des 
rechten  Ovarium  dessen  Entfernung  durch  die  Operation  nothwendig 
gemacht;  der  Tod  erfolgte  5  Tage  später  durch  allgemeine  eitrige  Pe- 
ritonitia.  , 

Bin  de  Substanz -Neubildungen. 

Fibrome  derUteniflschleimbaut  fanden  sidi  bei  5  Individuen,  vier-^ 
mal  in  Form  polypöser  Fibrome  desGervix,  im  fünften  Fall  in  Form  eines 
gestielten  myxomatösen  Fibroms  des  Uteruagrundes. 

Myome  und  Fibromyome  in  der  Dicke  der  Uteruswandungen  kamen 
in  4  Individuen  »ir  Beobachtung ,  w&hrend  Ovarium ,  Wandung  des 
Magens  und  der  Vagina  je  einmal  diese  Neubildung  darboten. 

Besondere  Erwähnung  verdienen  mehrfache  fladiböckerige  breit 
aufail^eieDde  bis  erbseof^rosse  Fibrome  desEpendyms  derSeitenrentrikel 
eines  67jilhr,  Mannes ,  welcher  den  Folgen  des  Bnichsefanitts  erlegen 
war.  Während  des  Lebens  war  kein  Symptom  vorhanden,  welches  auf 
die  Anwesenheit  derNeubildung  hingedeutet  hütile.   Die  Weite  der  Yen- 


m 

Beobachtungen  des  pathoiagiflebtn  loBCitii6 1\\  Jena  im  Jahre  1867.  1 75 

Irikel  zeigte  sich  nonnal,  die  anliggende  Hirn8ui)stani&  unvermindert. 
Die  Geschwülste  waren  jrUti  derber  Consisteuz,  reinweisser  Farbe ;  sie 
beftanden  aus  Behr>tfarten  wohl  ausgebildeten  BindegewebsObriUen  mit 
massenhaft  dazwischen  liegenden  starkgeschluod^enen  feinen  elastisohen 
Fasern  und  zarten  elliptischen  Zellelementen ,  welche  s|.elieQwei8e  mit 
Zurücktreten  der  intercellularsubstanz  dichter  zusammenlagen. 

In  viel  grösserem  Maassstabe  fanden  sich  ganz  ähnliche  Geschwülste 
in  Form  einer  handgrossen  2 — 8  Mm.  prominirenden  Gruppe  «nuf  der 
linken  Costalpieura  einer  60jähr.  Frau,  wo  sie  das  hintere  Drittheil  des 
5.  bis  8.  Intercostalraums  bis  zur  Wirbelsäule  einnahmen.  Sowohl  in 
der  äusseren  Beschaffenheit  als  im  Bau  stimmten  diese  Geschwülste  mit 
jenen  des  Ependym  vollständig  überein. 

Noch  interessanter  sowohl  hinsichtlich  der  Symptome  als  de3  Be^ 
fundes  ist  die  Beobachtung  zweier  freilieffender  neben  einep)  gestielten 
Fibrom  in  der  lipken  Pleurahöhle  eines  58jähr.  Mannes.  Derselbe  war 
nur  wenige  Tage  in  Behandlung  gewesen,  die  Erscheinungen  waren 
Präcordialangst,  Puls  von  18  Schlägen,  Kühle  der  Extremitäten.  Die 
Section  wies  ziemlich  beträchtliche  Fettdegeneration  derHerzmusculatur 
nach.  Im  Nervensystem  des  Herzens  wurde  Nichts  gefunden  ,  was  die 
auffallende  Pulsverlangsamung  erklärt  hätte:  Vagus  und  Accessorius 
sowie  ihre  Ursprünge  im  verlängerten  Mark,  die  sympathischen  Ge- 
flechte längs  der  Art.  vertebralis  sowie  die  Herzgeflechte  selbst  wurden 
mit  völlig  negativem  Resultat  mikroskopisch  untersucht.  Nun  fand  sich 
aber  ein  kirschengrosser  derber  freier  Körper  von  weisser  Farbe  und 
etwas  höckeriger  Oberfläche  im  linken  Pleurasack  neben  der  Wirbel- 
säule gerßde  über  der  Zwerchfellskuppe ,  ein  zweiter  eben  so  grosser 
gerade  auf  der  Mitte  der  vorderen  Fläche  des  Herzbeutels,  während  ein 
dritter  etwas  über  erbsengrosser  durch  einen  schmalen  bindegewebigen 
Stiel  an  die  Pleura  über  dem  4  linken  Rippenknorpel  nahe  seinem  An- 
satz an  die  Rippe  angeheftet  war.  Im  Bau  stimmten  alle  diese  Körper 
sowohl  unter  sich  als  mit  den  schon  beschriebenen  des  Ependym  über- 
ein. Es  muss  dahin  gestellt  bleiben,  ob  die  auffallende  Pulsverlangsa- 
mung  mit  der  Anwesenheit  der  freien  Körper  an  der  vorderen  und  hin- 
teren Fläche  des  Herzbeutels  in  Beziehung  gesetzt  werden  kann  oder  ob 
das  Zusammentreffen  beider  Befunde  ein  zufilUiges  darstellt. 

Bei  2  Männern  fanden  sich  rundliche  Fibrome  an  der  Innenfläche 
der  Dura  mater  vom  Umfang  einer  massigen  Kirsobe,  welche  wie  an 
dieser  Localitfit  gewtthidioh,  mit  c^mcentriscb  geadiiobtetenKalkkörneni 
imprägnirt  waren.  In  dem  einen  Fall  fand  sich  daneben  auagedehnie 
Verkalkung  der  Bindesubatant  aelbal,  in  dem  andren  waren  lahlreiGbe 


176  Wilhelm  MAUer, 

Fetizellengruppen  imregelm£lssig  abwischen  die  Bindegewebsbttndel  ein^ 
gestreut.  ^^^ 

Ein  erbsengrosses  Lipom  an  der  InnenfllMie  der  Nierenkapsel 
fand  sich  bei  einem  60jähr.  Mann. 

Kleinzellige  Sarkome  des  Gehirn  wurden  bei  2  Männern  zur  Todes- 
ursache, ihr  Sitz  war  das  einemal  der  linke  Stimlappen,  das  andremal 
der  Balken.    Sie  w:erden  später  beschrieben  werden. 

Ein  kleinzelliges  Rundzellensarkom  mit  Pigmentgehalt  fand  sich 
in  Form  zahlreicher  Geschwülste  im  Sternum ,  Mediastinum ,  beiden 
Pleuren  und  Lungen  eines  20jähr.  Mannes. 

Bei  einem  66jHhr.  Mann  war  die  ganze  Schilddrüse  in  ein  kopf- 
grosses  lappiges  Spindelzellensarkom  verwandelt  mit  Perforation  der 
Trachea  und  zahlreichen  metastatischen  Geschwülsten  in  den  Hals- 
lymphdrüsen  und  Lungen. 

Es  sind  endlich  hier  noch  mehrfache  Exostosen  zu  erwähnen, 
welche  sich  bei  einer  60jähr.  Frau  an  Rippen,  Wirbeln  und  der  Innen- 
fläche des  Schädels  fanden. 

A  n  g  i  o  m  e. 

Cavernöse  Angiome  der  Leber  fanden  sich  bei  i  Männern  von  57 
und  60  Jahren,  in  dem  einen  Fall  zahlreich  und  bis  zu  Apfelgrösse,  in 
Form  lappiger  Geschwülste  über  das  Niveau  der  Leber  prominirend. 

Varixbildung  wurde  bei  34  Individuen  constatirt  =  20.  9%  und 
zwar  lieferten  die  hämorrhoidalen  Venen  25 ,  jene  des  breiten  Mutter- 
bands und  des  Unterhautbindegewebes  der  untern  Extremitäten  je  5, 
jene  der  Pia  mater  2  Fälle,  während  einmal  eine  hochgradige  Varicocele 
im  rechten  Samenstrang  constatirt  wurde. 

« 

Neur ome 

fanden  sich  in  Form  von  knotigen  Anschwellungen  sämmtlicher  Nerven 
eines  Amputationsstumpfs  des  rechten  Oberarms  bei  einem  42jährigen 
Mann. 

Syphilis 

wurde  in  9  laichen  constatirt  =  6.  08%.  Unter  den  hieher  gehörigen 
Fällen  ist  hervontubeben  die  Beobachtung  multipler  tief  ehidringender 
Narben  der  Leber  hei  einem  i.^jähr.  Irren.  Bei  einem  Neugeborenen, 
weicher  Vj  Stunde  lebte,  fand  steh  neben  Pemphygus  Bf onohopneuntonie 


Beobachtungen  des  pathotogiseheo  Institata  ku  Jeua  im  Jahre  1867.  177 

beider  Lungen  mit  umschriebenen  MSsigen  Hepatisationen.  Der  Fall 
wird  seiner  Wichtigkeit /IPfegen  im  speciellen  Theil  ausführlicher  be~ 
schrieben  werden.   ^' 

Typhus 
war  in  den  4  Fallen,  welche  zur  Ohduction  kamen ,  durch  Complica- 
tionen  iMtlich  geworden  und  zwar  zweimal  durch  Verschwörung  des 
Kehlkopfs  mit  nachfolgender  Bronchopneumonie,  je  efnmal  durch  Darm- 
perforation und  durch  Venenthrombose  mit  nachfolgender  Lungen- 
arterienembolie. 

Nervensystem. 

Pachymeningitis  interna  fand  sich  in  chronischer  Form  und  mit 
beträchtlichem  Bluterguss  zwischen  den  gallertigen  Pseudomembranen 
bei  \  ,  in  acuter  bei  7  Leichen,  darunter  6  Manner,  2  Frauen.  5  von 
den  Individuen  waren  Irre,  2  Potatoren.  Auf  414  Leichen  berechnet, 
deren  Schädel  eröffnet  wurde,  ergibt  sich  ein  Verhältniss  von  7.  2%. 

Eitrige  Leptomeningitis  wurde  in  4  Individuen  beobachtet:  bei  einem 
57jahr.  Mann  in  Form  von  Cerebrospinalmeningitis  mit  protrahirtem 
Verlauf;  bei  einem  33jahr.  Mann  nach  Durchbruch  derDura  spinaiis  von 
einer  tuberliulösen  Wirbelcaveme  aus;  bei  einem  54 jähr.  Mann  trat 
sie  im  Anschluss  an  Pneumonie,  bei  einer  38jähr.  Frau  im  Anschluss 
an  Diphtherie  des  puerperalen  Uterus  mitLymphangitis  des  Plexus  sper- 
maticus  auf. 

Bei  einem  Todtgeborenen  und  3  Irren  war  innerer  und  äusserer 
Hydrocephalus  die  einzige  Veränderung,  welche  als  Todesursache  be- 
trachtet werden  konnte.  In  einem  der  letzteren  Fälle  waren  neben  den 
Erscheinungen  des  paralytischen  Blödsinns  öfter  wiederkehrende  An- 
fiille  von  Bewusstlosigkeit  mit  halbseitiger  Lähmung  vorhanden  gewesen, 
welche  stets  im  Lauf  weniger  Tage  wieder  verschwanden;  die  Lähmung 
wechselte  einmal  mit  Veränderung  der  Lage  des  Kranken. 

Bei  einer  67jähr.  Frau  fand  sich  neben  den  Resten  abgelaufener 
Endocarditis  der  Bicuspidalklappe  der  viereckige  Lappen  des  Kleinhirns 
beiderseitsizum  grossen  Theil  in  eine  orangegelbe  narbige  Masse  ver- 
wandelt ,  mit  welcher  die  verdickte  Pia  fest  verwachsen  war.  Beide 
zuführende  Arterien  waren  durchgängig  und  ohne  Veränderung,  so  dass 
der  Beweis  ftir  die  embolische  Natur  der  schon  lange  bestehenden  Ver- 
änderung sich  nicht  führen  Hess. 

Ein  36jäbr.  Mann  hatte  vor  längerer  Zeit  den  ±.  Lendenwirbel  ge- 
brochen und  eine  unvollständige  Lähmung  der  unteren  Extremitäten 
zurückbehalten,  welche  ihn  zum  Gehen  an  der  Krücke  nöthigte.  Die 
B«Bd  IV.  2.  12 


178  ^^    Wilhelm  MOller, 

SectioD  ergab  deutlichen  Callus  illp  Körper  upd  Bogen  diese»  Wirbeb, 
dieDura  mit  demselben  verwachsen,  eine  SiifMe  bindegewebige  Pseudo- 
membran querdurch  die  Wirbelhöhle  gespannt mit&nschnttrungsSmmt- 
lieber  Nerven  am  Anfang  des  Filum  terminale.  Ausserdem  fand  sieb 
altes  abgesacktes  linksseitiges  Empyem;  der  erste  Lendenwirbel  in  sei- 
nen unteren  2  Drittheilen  eine  grosse  mit  käsigeV  Masse  gefüllte  Höhle 
enthaltend,  welche  beiderseits  mit  ausgedehnten  verkästen  eine  Anzahl 
Knochenfragmente  und  Kalkbrocken  enthaltenden  Psoasabscessen  in 
Verbindung  stand. 

Ein  überaus  wichtiger  Fall  von  partieller  Verwundung  des  Rücken- 
marks im  Niveau  des  4.  Dorsalwirbels  wird  im  speciellen  Theil  geschil- 
dert werden. 

Girculations  System. 

Frische  fibrinös-eiti^ge  rerioarditis  wurde  in  3  Leichen  constatirt, 
einmal  neben  Thrombose  des  rechten  Herzohrs  bei  Uterusepitheliom, 
einmal  neben  frischer  Endocarditis  im  linken  Ventrikel  bei  Diphtherie 
des  puerperalen  Uterus,  endlidi  bei  einem  51  jähr.  Mann  neben  Pleuro- 
pneumonie und  eitriger  Leptomeningiüs. 

Die  Residuen  abgelaufener  Pericarditis  fanden  sich  in  Form  mehr 
oder  weniger  ausgedehnter  Verwachsungen  zwischen  beiden  Herz- 
beutolblättem  in  5  Leichen. 

Vergrösserung  des  Herzens  mit  Hyperplasie  der  Musculatur  war  in 
4  9  Leichen  ausgebildet.  Sie  war  in  8  Fällen  durch  Klappenfehler  be- 
dingt; in  5  Fällen  war  lediglich  das  rechte  Herz  Sitz  der  Vergrösserung, 
dreimal  im  Anschlusa  an  Emphysem,  je  einmal  an  chronische  Pneumonie 
und  Tuberkulose.  In  6  Fällen  war  die  Vergrösserung  beiderseitig  und 
di'eimal  mit  Struma ,  zweimal  mit  interstitieller  Nq)hntis ,  einmal  mit 
chronischer  Pneumonie  und  gleichzeitig  vorhandenem  rundem  Magen- 
geschwür combinirt. 

Vorgeschrittene  Fettdegeneration  des  Herzmuskels  fand  sieh  in  8 
Leichen;  bei  einem  68jäbr.  Mann  war  sie  mit beträohll icher Lipomatose 
combinirt  und  die  einzige  Veränderung,  welcher  der  auf  dem  Heimweg 
von  einem  benachbarten  Dorfe  plötzlich  erfolgte  Tod  zugeschrieben 
werden  konnte. 

Endoearditis  mit  ihren  Folgen  wurde  ISmal  beobachtet  =  40. 1 7o• 
AlsfrischcrProcess  war  sie  in  5  Individuen  nachweisbar^  zw^mal  neben 
jauchenden  Epitheliomen,  einmal  neben  Diphtherie  des  puerperalen 
Uterus  und  neben  Tuberkulose.  Während  in  diesen  Fällen  der  linke 
Ventrikel  allein  betroßen  war,  waren  bei  einem  44jähr.  Kutscher  mit 
Ausnahme  der  Semilunaren  der  Lungenarterie  sämmtliche  Herzklappen 


Beobachtujogeu  des  patliologiseheu  Instituu  lu  Jeua  im  Jahre  1867.  179 

beibeiligl  mit  ausgedehnter  Thrombifse  beider  Ventrikel  und  multiplen 
Embolien,  ohne  dass  einTtRsponirendes  Moment  für  die  Entwieklung  der 
Erkrankung  sich  hMle  nachweisen  lassen.  Der  ganze  Verlauf  hatte  li 
Tage  in  Ansprueh  genommen. 

Die  Residuen  abgelaufener  Endocarditis  fanden  sich  in  40  Lei- 
chen und  iwar  fünfjaoal  (\  itf.  4  W.)  in  Form  von  Insufficieni  der 
Bicuflpidalis,  zweimal  (i  M.j  in  Form  von  Insufficienz  der  Aorta- 
klappen ,  zweimal  (S  W.)  waren  beide  Klappen  insufficient ;  endlich 
war  in  einem  Fall  die  Bicuspidalis  insufficient  neben  Stenose 
des  Ostium.  Die  beiden  Falle  von  Insufficiene  der  Aortaklappen  ver- 
dienen nähere  Erw&hnung ;  in  dem  einen  war  bei  einem  43jahr.  Mann 
während  des  Aufsitzens  zum  Behuf  der  Untersuchung  des  Herzens  der 
Tod  plötzlich  eingetreten;  es  fand  sich  die  hintere  Semilunarklappe 
narbig  verkürzt,  hochgradige  Endarteritis  deformans  mit  Verengerung 
der  Coronararierien  und  vorgeschrittene  Fettdegeneration  des  Herz- 
muskels; im  zweiten  Fall  (57jAhr.  Mann)  war  die  hintere  Klappe  be- 
trächtlich verdickt  und  verlängert  mit  einer  queren  Einschnttrung  Inder 
Mitte,  von  welcher  an  das  peripherische  Sttick  gegen  den  Ventrikel  um- 
geklappt war. 

Es  ist  hier  der  Ort,  die  übereinstimmenden  Veränderungen  zu  er- 
wähnen, welche  bei  S  auf  dem  Marsche  von  Weimar  nadti  Jena  resp. 
Lobeda  der  Insolation  erlogenen  24 jähr.  Soldaten  sich  vorfanden.  Die 
Erscheinungen  waren  die  gewöhnlichen :  Bewusstiosigkeit,  Gonvulsionen, 
Uusserst  frequenter  Puls,  ihre  Dauer  in  dem  einen  Falle  2,  im  andren 
7  Standen.  Bei  beiden  Individuen  ergab  die  Section  Gyanose  des  Ge- 
sichts, umschriebene  Sugillationen  im  Mesenterium,  den  Lungen,  dem 
Vfsceralblartt  des  Herzbeutels  und  imBndocard  des  rechten,  ausgedehnte 
in  jenem  des  linken  Herzens,  wo  sie  bis  zu  4  Mm.  Dicke  erreichten. 
Das  Gehirn  eher  anämisch  und  etwas  weich ,  Lungen ,  Milz  und  Nieren 
venös  hyperAmisch,  das  Blut  allenthalben  dunkel  und  flüssig ,  nur  im 
rechten  Herzen  ein  lockeres  Leichengerinnsel.  Ausserdem  fanden  sich 
in  dem  einen  Fall  mehrfache  zum  Theil  mit  käsigem  Inhalt  gefüllte 
Bronchiectasien  im  Oberlappen  der  linken  Lunge  und  ein  Fäcalconore- 
ment  im  Processus  vermiformis ,  im  andren  chronischer  Bachen-  und 
Larynxkatarrh  mit  VergrOsserung  beider  Tonsillen ,  mehrfache  narbige 
Verdichtungen  in  den  Oberlappen  beider  Lungen  nnd  Verkalkungen 
der  bronchialen  Lymphdrüsen.  Stücke  der  Lungen,  Nieren,  des  Gehirns 
und  Rückenmarks  wurden  theils  frisch,  tbeils  nach  mehrwOchentlicher 
Härtung  in  einer  4  %  L(S8ung  von  doppelt  chromsaurem  Kali  auf  Pett^ 
embolie  und  parenchymatöse  Verfettung  untersucht,  mit  negativem  Er- 
folg,   leb  lege  auf  dieses  Resultat  gegenüber  den  Angaben  von  E.  Wag- 

12* 


180  Wilhelm  Mflller, 

NBR  um  so  mehr  Gewicht,  nls  dieSdlhe  Methode  in  drei  sogleich  2u  er- 
wähnenden Fällen  mit  positivem  Erfolg  zttffipnstatirung  vorhandener 
Fettembolie  verwendet  wurde. 

Versucht  man  auf  Grund  beider  Beobachtungen  die  Theorie  der 
Insolation  zu  prtlfen,  welche  Obernier  aufgestellt  hat,  so  findet  allerdings, 
wie  ich  glaube,  sowohl  der  Befund  in  der  Leiche  als  die  Symptomen- 
gruppe  im  Leben  eine  genügende  Erklärung  auf  Grund  der  Hypothese, 
dass  die  schweren  Erscheinungen  bei  beiden  Soldaten  eintraten,  nach- 
dem das  zur  Verdunstung  resp.  Abkühlung  des  Körpers  disponible 
Wasser  in  Blut  und  Lymphe  bis  zu  einem  gewissen  Grad  veii)raucht 
war.  Zweierlei  Folgen  leiten  sich  ungezwungen  aus  dieser  Hypothese 
ab :  eine  Erwärmung  des  Körpers  resp.  Blutes  über  die  Norm  und  eine 
Heduction  des  Blutyolums.  Von  diesen  Pactoren  ist  der  erstere  kein 
Gegenstand  pathologisch  anatomischer  Beobachtung ;  seine  Wirkungen 
sind  zudem  von  Obernier  genügend  beleuchtet.  Der  letztere  war  jeden- 
falls ein  begünstigendes  Moment  für  den  Eintritt  der  Herzlähmung,  als 
deren  Resultat  die  Anämie  des  Gehirns  und  die  stärkere  Füllung  des 
Venensystems  sich  betrachten  lässt.  Als  Folgen  der  letzteren  erscheinen 
die  Blutungen  in  den  serösen  Häuten ;  ihr  Auftreten  imEndocard  konnte 
begünstigt  werden  durch  eine  beträchtliche  Verminderung  des  Drucks, 
welchen  bei  normaler  Füllung  der  Ventrikel  das  enthaltene  Blut  auf  das 
Endocard  ausübt.  Mit  dieser  Annahme  steht  völlig  im  Einklang ,  dass 
diese  Blutungen  viel  ausgedehnter  im  Endocard  des  linken  als  in  jenem 
des  rechten  Herzens  sich  vorfanden,  denn  das  Volum  des  im  linken 
Ventrikel  enthaltenen  Blutes,  welches  die  gewaltige  Verdunstungsfläche 
der  Lunge  passitt  hatte,  konnte  in  Folge  dieses  Umstandes  sehr  wohl 
eine  grössere  Menge  Wasser  verloren  haben  als  ein  gleiches  Volum 
Körperblut. 

Endarteritis  deformans  fand  sich  im  Aortensystem  in  27  =  1 8.  2  7o» 
in  jenem  der  Pulmohalis  in  1 0  Fällen,  in  letzteren  fast  stets  neben  Em- 
physem oder  chronischer  Pneumonie. 

Eitrige  Phlebitis  derUmbilicalvene  führte  bei  2  Neugeborenen  zum 
Tod  unter  den  Erscheinungen  der  Pyämie,  das  eine  Mal  neben  Leber- 
abscess  und  Gelenkeiterung,  ^das  andre  Mal  neben  Lungenabscess  und 
eitriger  Pleuritis. 

Thrombosen  wurden  im  Ganzen  27mal  oonstatirt  =  18.  1  7o  ? 
es  waren  deren  Sitz  die  Körpervenen  in  20,  die  Pfortader  in  1,  das 
rechte  Herz  in  4,  gleichzeitig  das  rechte  und  linke  Herz  in- 2  Fällen. 
In  21  von  diesen  Fällen  wurde  die  zugehörige  Embolie  constatirt 
=  77.  7%.  In  einem  Falle  wurden  in  der  Placenta  eines  Todtgebo- 
renen  mehrfache   derbe  theils  braunrolhe  theils  gelbliche  Stellen  ge- 


UÄxiM 


Beobucbtuiigen  des  patliologiseheii  lustitutjriu  .ieiia  im  Jahre  1867.  181 

funden ;  die  Untersuchung  ergab,  das«  es  sich  um  Thrombosen  in  ver- 
sdiiedenen  Stadien  der  HttokKIMung  handelte. 

Drei  Fälle  von  FeUembolie reihen  sich  hier  an,  welche  im  Anschluss  an 
complicirte  Fracluren  der  Tibia  und  Fibula  sich  ereigneten.  Ein  30j.  Dienst- 
knecht wurde  den  3.  Januar  in)  trunkenen  Zustand  überfahren  und  erlitt 
einen  Splilterbruch  der  rechten  Tibia  uiidFibula.  Er  wurde  bald  nach  sei- 
ner Aufnahme  ins  Spital  soporOs  und  starbden  6.  Januar.  DieSection  er- 
gab ausser  der  örtlichen  Zerstörung  beträchtliche  Hyperämie  beider 
Lungen,  zahlreiche  capilläre  Hämorrhagien  in  Gehirn,  Pleuren,  Lungen, 
Endocard,  Nieren.  Die  mikroskopische  Untersuchung  sowohl  der  fri- 
schen als  der  in  Lösung  von  chromsaurem  Kali  gehärteten  Organe  zeigte 
colossalo  Fcttembolie  in  den  Lungen  und  Nieren ,  so  dass  in  letzteren 
förmliche  injectionspräparate  der  Malpighischen  Knäuel  entstanden 
waren,  weniger  intensive  in  den  Capillaren  des  Gehirns,  Darms,  Herz- 
muskels und  der  Haut.  Eine  17jähr.  Irre  war  den  15.  Juni  aus  dem 
Fenster  gesprungen  und  hatte  die  linke  Tibia  und  Fibula  gebrochen. 
Auf  grosse  Unruhe  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Verletzung  folgte  zuneh- 
mendes Coma  und  am  Morgen  des  10.  der  Tod,  nachdem  noch  blutige 
Sputa  aufgetreten  waren  Die  Section  ergab  enorme  Hyperämie  beider 
Lungen  mit  zahlreichen  capillaren  Hämorrhagien ,  die  mikroskopische 
Untersuchung  ausgedehnte  Fcttembolie  der  kleinsten  Arterienzweige 
und  Capillaren  der  Lungen,  sehr  unbedeutende  der  Malpighischen  Kör- 
per der  Nieren  und  des  Gehirns.  Genau  denselben  Befund  ergab  die 
Obduction  und  nachfolgende  mikroskopische  Untersuchung  bei  einem 
43jähr.  Potator,  welcher  den  i.  Juli  einen  Coraminutivbruch  der  rechten 
Tibia  und  Fibula  durch  Ueberfahren  erlitten  hatte.  Am  Tag  nach  der 
Verletzung  stellten  sieh  die  Erscheinungen  von  Delirium  tremens  ein, 
wozu  sich  zuletzt  einige  tetanische  Anfälle  gesellten,  welchen  der  Kranke 
den  7.  erlag.  Diese  Fälle  summen  sowohl  unter  einander  als  mit  den 
von  dem  Entdecker  der  Fettembolie ,  E.  Wagnbk  ,  veröffentlichten  so 
vollkommen Uberein,  dass  sie  eines  weiteren  Commentars  nicht  bedürfen. 

Eitrige  Lymphangitis  fand  sich  im  Cruralstrang  eines  67jähr.  Mannes 
im  Anschluss  an  ein  Erysipel  des  Unterschenkels,  bei  3  Frauen  im  PleJLUs 
spermaticus  im  Anschluss  an  Diphtherie  des  puerperalen  Uterus. 

Eitrige  Lymphadenitis  fand  sich  einmal  in  den  retroperitonäalen 
Drüsen  neben  eitriger  Lymphangitis  qsermatica,  in  einem  zweiten  FaU 
in  einzelnen  Drüsen  der  Mesenterialwurzel  neben  eitriger  Phlegmone 
des  Mesenteriums  und  retroperitonäalen  Bindegewebs,  welche  zugleich 
mit  Thrombose  der  Pfortader  von  einem  Ulcus  rotundum  duodeni  aus 
sich  entwickelt  hatte. 

Pigmentirung  und  narbige  Schrumpfung  sämmtlicher  inguinaler 
und  lumbarer  Drüsen  fand  sich  bei  einem  mit  Elephantiasis  beider 


— s 

182  .  Wilhelm  Hfiller, 

unteren  Extremitötei)  behafleten  töj&hr.  Jttnglin^.  Auf  die  Bronchial«* 
drttsen  beschränkt  fand  sie  sich  mit  odef  Ohofi^leichzeilige  VeriLreidung, 
abgesehen  von  den  durch  Tuberkulose  bedingtennEäUen ,  4  f  mal  vor,  in 
6  von  diesen  1 4  Fällen  war  chronische  Pneumonie  mit  Bronchialerwei— 
terung  das  disponirende  Moment  gewesen.  Die  Xymphdrtlsen— 
Schrumpfung  hatte  zweimal  au  Stenose  grosser  Bronchien ,  einmal  zu 
solcher  eines  grösseren  Lungenarterienzweigs  geführt,  während  iifeinem 
vierten  Fall  eine  pigmentirte  Narbe  einen  früheren  Durohbruch  eitler 
eiternden  Drüse  in  den  anliegenden  Bronchus  vermuthen  Hess.  Bei 
einer  73jähr.  Frau  fanden  sich  mehrfache  VeriLalkungen  der  mesente- 
rialen Lymphdrüsen  neben  chronischem  Katarrh  des  Wurmfortsatzes. 

Respirationssystem. 

Eitrige  Pleuritis  fand  sich,  von  den  leichten  die  Pneumonie  beglei- 
tenden Formen  abgesehen,  in  43  Fällen  =s8.  7%.  Sie  war  stets  se- 
cundärer  Process  und  zwar  bestand  das  disponirende  Moment  je  vier- 
mal in  embolisohem  Lungenabscess  und  in  Peritonitis,  zweimal  in  Rippen- 
brüchen, je  einmal  in  Bronohiectasie,  Tuberkulose  undSarkomatoseder 
Lungen.  Die  Häufigkeit  ist  au&Uend,  mit  welcher  eitrige  Peritonitis  zu 
eitriger  Pleuritis  führte;  man  wird  unwillkürlich  versucht,  dabei  eine 
massenhafte  Durchwanderung  von  Eiterl^Uen  oder  den  Erregern  der 
Eiterung  überhaupt  durch  das  Zwerchfell  im  Sinne  von  CoHimBiii  und 
V.  Rbcklihghausbii  anzunehmen  um  so  mehr,  als  auch  der  umgekehrte 
Fall  nicht  selten  ist,  dass  an  eitrige  Pleuritis  eine  Peritonitis  des  Zwerch- 
fells sich  anschliesst,  welche  zur  Verwachsung  des  Zwerchfells  mit  Milz 
oder  Leber  schliesslich  führen  kann. 

Die  Residuen  früherer  Pleurareizungen  fanden  sich  in  Form  mehr 
oderwenigerausgedehnterSynechien  beider  Blätter  in  ÜLeichen  sc  29%. 

CrupOse  Pneumonie  war  bei  16  Individuen  nachweisbarst  40. 
8%.  Ihr  Sitz  war  sechsmal  in  beiden,  eben  so  oft  im  rechten 
Unterlappen,  zweimal  in  der  ganzen  rechten  Lunge,  zweimal  im 
linken  Unterlappen.  Bemerkenswerth  ist  das  Auftreten  einer  Pneu- 
monie, welche  sich  9owohl  hinsichtlich  der  Körnung  und  Farbe  der 
Schnittflädie  als  hinsichtlich  der  gleichförmigen  Verbreitung  von  der 
gewöhnlichen  crupöseu  nicht  unterscheiden  Hess,  in  beiden  Lungen 
eines  achtwöchentlichen  vorher  vollkommen  gesunden  Knaben, 
welcher  fünf  Tage  vor  seinem  Tod  unter  den  üblichen  Erscheinungen 
erkrankt  war.  In  allen  übrigen  Fällen  fand  sich  der  Process  ne- 
ben andorweiligen  Affectionen  oder  doch  in  Individuen ,  deren  Con- 
stitution erhebliche  Störungen  bereits  erlitten  hätte.  Das  diqionirende 
Moment  bestand  je  dreimal  in  eitriger  Lymphangiüs  und  in  ohreoisQlwf 


n  Jei 


BeobMktungen  des  pathologisöbeo  lastituts  ib  Jena  im  Jahre  1867.  183 

Pnettmoiue  mit  BronchialerweiteruDg^  iWeimal  in  Manie,  jo  einmal  in 
Syphilis,  Alkoholismus,  Narbe»  des  Kleinhirns  und  Magens,  Epitheliom 
des  Magens,  chronis^slM^ Dysenterie ,  interstitieller  Nephritis,  Arthritis 
deformans. 

Bronchopi^monie  war  in  4  9  Individuen  vorhanden  =  \2.  8%. 
Bei  sieben  Kindern  und  einem  iijähr.  Emphysematiker  stand  sie  im 
AnscUass  an  acute  Bronchitis,  bei  vier  Individuen  im  Anschluss  an 
D^rirtherie.  Augenscheinlich  durch  Herabfliessen  von  Racheninhalt  in 
Trachea  und  Bronchien  bedingt  fand  sich  derProcess  bei  einem  viertel- 
jährigen Knaben  mitLabium  und  Palatum  flssum,  einer  38jähr.  Frau 
mit  Epitheliom  der  Mundhöhle  und  des  Gaumens ,  zwei  Mädchen  mit 
Typhusgeschwttren  des  Larynx  und  einem  fünfmonatlichen  Kind,  welches 
der  Dysenterie  nach  acutem  Magen-  und  Darmkatarrh  erlegen  war.  Bei 
einer  26jähr.  Kranken  mit  Diabetes  fanden  sich  zahlreiche  broncho- 
pneumonische  Heerde  in  beiden  Lungen  mit  brandigem  Zerfall ,  ohne 
dass  die  tuberkulöse  Natur  der  Affection  mit  hinreichender  Sicherheit 
sich  hätte  erweisen  lassen ,  wie  dies  in  einem  zweiten  Falle  möglich 
war.  Endlich  fand  sich  bei  einem  54 jähr.  Mann  eine  sehr  merkwürdige 
bronchopneumonisehe  Verdichtung  des  Unterlappens  der  rechten  Lungen 
mit  ausgedehnter  Cholestearinmetamorphose.  Der  Fall  wird  imspeciellcn 
Theil  ausführlich  beschrieben  werden. 

Chronische  Pneumonie  mit  Bronchialerweiterung  fand  sich  bald 
auf  einzelne  Lappen  der  Lungen  beschränkt,  bald  weiter  verbreitet  in 
45  Fällen  =  40%.  Vorwiegend  waren  es  Individuen  in  der  vorge- 
schritteneren Lebensperiode.  Auffallend  häufig  war  der  untere  Abschnitt 
des  rechten  Oberlappen  betroffen  mit  gleichzeitiger  Synechie  des  unteren 
und  oberen  Lappen  oind  beträchtlicher  schwartiger  Verdickung  der 
Pleura. 

Emphysem  höheren  Grades  fand  sich  in  9  Individuen  =  6.  0  %. 
Nur  in  4  Fällen  konnte  es  als  eigentliche  Ursache  des  Todes  betrachtet 
werden ,  der  zweimal  durch  recente  Steigerung  des  Bronchialkatarrhs, 
zweimal  durch  Herzthrombose  erfolgte. 

Von  den  zwei  Asphyxien  erfolgt  die  eine  während  der  Geburt,  die 
andre  durch  Ertränkung  bei  einem  57jähr.  Irren. 


Digestionssystom. 

Von  den  oberhalb  des  Zwerchfells  liegenden  Theilen  dieses  Systems 
sind  zunächst  die  Tonsillen  zu  erwähnen.  Sie  fanden  sich  einmal  bei 
einor  2ijähr.  Puerpera  mit  frischen  Abscesscn  versehen;  in  8  Leichen 


184  Wilhelm  Möller, 

=  5.  4%  waren  sie  vergrössert^  zweimal  bei  jugendKchon  Individuen 
bis  zum  Umfang  grosser  Kirschen.       '"^^ 

Der  Oesophagus  fand  sich  in  7  Leichen  mii^aüsgedchntemSoorbeleg 
versehen.  Chronischer  Katarrh  fand  sich  in  ihm  fünfmal ,  stets  neben 
chronischem  Katarrh  des  Magens.  In  2  Fällen  hatte  narbige  Schrumpfung 
der  Lymphdrüsen  an  der  Trachealbifurcation  zur  Entstehung  kleiner 
Divertikel  seiner  Schleimhaut  geführt.  '» 

Von  Lageänderungen  der  in  der  Bauchhöhle  liegenden  Theile  des 
Digestionssystems  wurdfen  Hernien  in  7  Leichen  constatirt  =  4.  7  7q. 
Hievon  waren  je  2  rechtsseitige,  je  \  linksseitige  Leisten-  resp.  Schen- 
kelbrüche, ein  47jähr.  Mann  halte  doppelseitigen  Leistenbruch.  Zwei 
Schenkel-  und  ein  Leistenbruch  der  rechten  Seite  hatten  durch  Ein- 
klemmung die  Herniotomie  erforderlich  gemacht  mit  ungünstigem 
Ausgang. 

Eine  complicirte  Form  innerer  Einklemmung  mit  Achsendrehung 
fand  sich  bei  einer  78jähr.  Frau.  Eine  Schlinge  vom  Anfang  des  Ileum 
war  an  ihrem  freien  Rand  durch  eine  strangförmige  3  Centimeter  lange 
Adhäsion  divertikelartig  ausgezogen  und  an  die  innere  Oeffnung  des 
linken  Schenkelrings  befestigt.  Der  darauf  folgende  Abschnitt  des  Ileum 
hatte  sich  unter  diesem  Pseudoligament  von  links  nach  rechts  durchge- 
schoben und  war  in  dieser  abnormen  Lage  wahrscheinlich  seit  längerer 
Zeit,  wie  aus  den  ein  halbes  Jahr  lang  vor  dem  Tod  vorhandenen  Er- 
scheinungen hervorging,  welche  in  zeitweiser  Schmerzhaftigkeit  des 
Unterleibs  und  hartnäckiger  Stuhl  Verstopfung  mit  Diarrhoe  abwechselnd 
bestanden.  Zwischen  dem  Mesenterium  dieser  Darmparthie  und  dem 
Pseudoligament  hatte  sich  schliesslich  noch  eine  Strecke  des  Ileum  von 
links  nach  rechts  durchgeschoben,  welche  20  Cestimeter  über  der  Bac- 
HiN^schen  Klappe  endigte.  Durch  letztere  Verlagerung  war  die  Stelle  des 
Ileum,  welche  das  Pseudoligament  trug,  nicht  nur  beträchtlich  gedehnt, 
sondern  auch  bis  zum  Verschwinden  des  Lumen  um  seine  Längsachse 
gedreht  worden.  Der  Tod  erfolgte  unter  den  gewöhnlichen  Erschei- 
nungen der  Darmstenose;  der  ganze  Dickdarm  war  coUabirt  und  leer, 
Jejunum  und  Duodenum  enorm  aufgetrieben,  mit  graugelblicher  trül)er 
Flüssigkeit  reichlich  gefüllt. 

Eitrige  Peritonitis  fand  sich  in  19  Fällen  =  1^.  87o-  Sie  war  stets 
secundärer  Process ;  das  veranlassende  Moment  war  fünfmal  Diphtherie 
des  puerperalen  Uterus  mit  Fortpflanzung  des  Processes  auf  die  Tuba, 
in  je  4  Fällen  operative  Verletzung  des  Bauchfells  und  Perforation  des 
Wurmfortsatzes,  in  je  2  Fällen  ulcerirende  Divertikel  der  Harnblase  mit 
kleinen  Perforationsslellen,  Perforationen  des  Magens  und  solche  des 
Darms  Bei  einem  todtgeborenen  siebenmonatlichen  männlichen  Kind 
fand  sich  frische  fibrinös-eitrige  Peritonitis  als  alleinige  nachweisbare 


}Jn.1( 


Beobachtuugen  des  patboloffisehen  Institut^  Jeua  ün  Jahre  1867.  1 85 

m 
\ 

Todesursa^e.  Weder  von  Seite  des  KlBdes  noch  von  Seite  der  Mutter 
konnte  eine  genügende  Entstcbmgsursache  desProcesses  eruirt  werden. 

Ghroniäcber  KaijWrh  des  Magens  fand  sich  in  1 3  Leichen,  worunter 
9  Mttnner.  Auch  bei  dem  Ulcus  rotundum ,  welches  sich  im  Ganzen 
neunmal  fand  ^  6.  07%,  stellte  abweichend  von  der  Regel  das  männ- 
liche Geschlcabt  mit  5  Fällen  das  grössere  Contingent.  Sitz  des  Ge- 
schwürs war  achtmal  der  Magen,  einmal  das  Duodenum;  in  6  Fällen 
wtirde  der  Prooess  durch  die  charakteristischen  Narben  constatirt,  in  3 
Fällen  lagen  offene  Geschwttre  vor.  Bei  einem  65jähr.  Mann  erfolgte 
der  Tod  durch  Blutung,  bei  einem  60jährigen  waren  zwei  Geschwüre 
vorhanden,  das  eine  an  der  gewöhnlich  betroffenen  Stelle  der  hinteren 
das  andere  gerade  gegenüber  an  der  vorderen  Wand,  das  letztere  hatte 
durch  Perforation  zu  eitriger  Peritonitis  geführt.  Ein  groschengrosses 
kurz  oberhalb  des  VATBR'schen  Divertikels  sitzendes  Ulcus  duodeni  hatte 
zu  Phlegmone  der  Mesenterialwurzel  und  des  retroperitonäalen  Bindege- 
webs, Lymphdrüseneiterung  im  Mesenterium ,  Thrombose  der  V.  me- 
senterica  superior  bis  zur  Pfortader  und  embolischen  Leberabscess  ge- 
führt; ausserdem  fand  sich  im  erweiterten  Ende  des  Ductus  choledochus 
ein  voluminöser  braunrother  Gallen farbstofipfropf ;  ähnliche  Goncremente 
fanden  sich  in  einer  Anzahl  sackförmiger  Gallengangerweiterungen 
innerhalb  der  Leber. 

Chronischer  Katarrh  des  Dünn-  und  Dickdarms  wurde  von  den 
mit  Tuberkulose  verbundenen  Fällen  abgesehen  in  7  Leichen  =  4.7% 
constatirt.  Er  war  viermal  im  Anschluss  an  allgemeine  Vcnenslauung, 
dreimal  im  Anschluss  ati  chronische  Nephritis  ausgebildet ;  in  einem  der 
letzteren  Fälle  fand  sich  neben  schiefriger  Pigmentirung  weit  verbreitete 
kystomatöse  Umwandlung  der  Drüsen. 

Acute  Dysenterie  war  Todesursache  bei  einem  37jähr.  Mann  und 
einem  neugeborenen  Knaben;  beide  Fälle  schliessen  sich  an  die  im  vor- 
jährigen Bericht  erwähnte  kleine  Epidemie  an.  Der  chronischen  Dysen- 
terie erlag  ein  %1  jähr.  Mann  aus  den  Ostseq[>rovinzen  Russlands.  Die 
Erkrankung  hatte  seit  2  Jahren  bestanden  und  zu  drei  fistulösen  Durch- 
bohrungen der  äusseren  Haut  vom  Colon  descendens  aus  geführt;  da- 
neben fand  sich  ausgebreitete  Amyloid  degeneration  der  Unterleibsorgane 
und  eine  terminale  crupöse  Pneumonie. 

In  7  Tndividuen  =  4.  7  %  fanden  sich  thetls  wirkliche  Kothsteine, 
theils  Veränderungen,  welche  auf  deren  frühere  Anwesenheit  bezogen 
werden  mussten,  im  Processus  vermiformis.  Bei  zweien  von  den  6 
Fällen  der  ersteren  Kategorie  war  es  zu  Perforation  gekommen,  in  einem 
derselben  fanden  sich  gleichzeitig  3  Goncremente,  welche  Barthaare  des 
Individuums  enthielten.    Zu  erwähnen  ist  die  Beobachtung  eines  Koth- 


186  WtlbeliB  Mitter, 

Steins  im  Wurmfortsatz  einer  9|Jhr.  TubeiiLulosen,  deren  einige  Jahre 
früher  verstorbener  Bruder  die  gleiche- Affi^ction  dargeboten  hatte.  Als 
wahrscheinliche  Folge  eines  früher  vorhanden6»<[oncremenls  fand  sich 
Obliteration  der  peripherischen  Hälfte  des  Wurmfortsatses  mit  Pigmen— 
tirung  bei  einem  51jähr.  Mann. 

Ein  veriLreideter  Echinococcus  fand  sich  in  der  Leber  eines  43jähr. 
Mannes. 

Gallensteine  waren  in  10  Leichen  vorhanden;   wie  im  Vorj^Msre 
stellte  das  weibliche  Geschlecht  mit  7  Fällen  das  grössere  Gontingent. 


Uropoetisches  System. 

Tubuläre  Nephritis  wurde  in  8  Fällen  beobachtet;  zweimal  als 
chronisdierProcess  mit  Verfettung  der  Epithelien  und  amyloider  Dege- 
neration des  Gef^apparats;  sechsmal  acut  und  secundär  und  zwar 
dreimal  neben  Diphtherie,  zweimal  neben  crupöser  Pneumonie ,  einmal 
bei  Typhus  neben  acutem  eitrigem  Katarrh  des  Nierenbeckens  und  der 
Blase  bei  einem  1  Tjähr.  Mädchen. 

Interstitielle  Nephritis  wurde  in  8  Fällen  constatirt,  welche  sich 
gleichmässig  auf  beide  Geschlechter  vertheilen.  Ihr  Sitz  waren  in  4 
Fällen  beide  Nieren,  davon  einmal  die  rechte  stärker  als  die  linke,  in  3 
Fällen  war  die  rechte,  ia  I  Fall  die  linke  Niere  ausschliesslich  betroflfon. 
Ohne  Ausnalinie  fand  der  Process  im  Anschluss  an  chronischen  Katarrh 
des  Nierenbeckens  und  der  Blase.  In  7  von  den  8  Fällen  war  in  letz- 
terem Organ  und  der  Urethra  der  Ausgangspunct;  im  achten,  dem  einer 
77jähr.  Frau,  war  derselbe  im  Nierenbecken  gelegen,  welches  reich- 
lichen Harnsäuregries  enthielt;  die  rechte  Niere  enthielt  gleichzeitig  in 
ihrer  oberen  Parthie  ein  kirsehengrosse  Cyste,  wddie  von  analogen  Ab- 
lagerungen ganz  erfüllt  und  wahrscheinlich  aus  der  Abschnürung  eines 
Niereokelchs  hervoi^egangen  war. 

In  zwei  Fällen  von  chronischem  Urethralkatarrh  mit  Prostatahyper- 
plasie hatte  suppurativa  Nephritis  an  die  interstitieUe  sich  angeschlossen. 
Dasselbe  hatte  bei  einer  65jähr.  Frau  statt,  welche  mit  chronischem 
Katarrh  der  Blasen-  und  Genitalschleimhaut  bd^aftet  war«  Es  fand  sich 
die  Schleimhautbeider  Nierenbecken  beträchtlich  verdickt,  schiefergrau, 
stellenweise  oberflächlich  ulcerirt,  der  enthaltene  Harn  eitrig  trübe  und 
übelriechend,  dieH*echte  Niere  bis  auf  einen  unscheinbaren  8Centimeter 
langen^  5  Gent,  breiten  Rest  gieschwund^i ,  die  Oberfläche  narbig 
hdckerig,  im  Innern  zahlreiche  disseminirte  Abscesse ;  die  linke  Niere 
1 8  Centimeter  lang,  1 1  breit,  die  Oberfläche  grob  granulirt  mit  adhä- 
renter  verdickter  Kapsel,  das  Parenchym  derb,  von  zahlreichen  verdich- 


sjiJeni 


BeobAcbttingen  des  patholo(P8dieo  iMtttatui  Jena  im  Jahre  1867.  187 

telen  Biodegewebsittgen  durohseU^  glefeihfaUs  eine  Anzahl  rundlkdier 
und  streifiger  EilereinlageningeB- enthaltend. 

AmyloiddegeneraUeft  höheren  Grades  fand  sich  in  6  Leichen :  sie 
stand  je  zweimal  iig^  Anschluss  an  Tuberkulose  und  chronische  tubuläre 
Nephritis,  je  eiqflDal  an  obronisobe  Dysenterie  und  Elephantiasis. 

Hamsäuroinfarct  wurde  in  den  Nieren  von  4  Neugeborenen, 
KalkinCvret  in  jenen  von  drei  Erwachsenen  angetroffen ;  in  keinem  der 
I0ti4eren  Fälle  war  eine  Veränderung  des  Knochensystems  vorhanden. 
Ein  enormer  Grad  von  Hydronephrose  fand  sich  bei  einem  60jähr.  an 
Epitheliom  des  Magens  verstorbenen  Mann.  Die  rechte  Niere  stellte  einen 
dünnwandigen  kindskopfgrossen  Sack  dar,  welcher  röthlich  gelbe  klare 
Flüssigkeit  enthielt  und  in  der  Wandung  einzelne  Reste  des  Parenchyms 
zeigte.  Der  Ureter  war  kurz  dUch  seinem  Ursprung  aus  dem  Nieren- 
becken an  einer  umschriebenen  Stelle  obliterirt,  die  Ursache  der  Obli- 
teration  liess  sich  nicht  ermittein.  Geringere  Grade  fanden  sich  bei  einer 
Frau  mit  Epitheliom  und  einem  4  jähr.  Knaben  mit  angeborener  Phimose. 

Concremente  im  Nierenbecken  fanden  sich  in  3  Leichen,  2  Frauen 
und  einem  halbjährigen  männlichen  Kind ;  stets  war  die  Goncroroent- 
bildung  mit^itrigem  Katarrh  des  Beckens  verbunden. 

Katarrh  der  Harnblase  fand  sich  in  44  Fällen  3=  9.  4  %,  hievon 
stellte  das  weibliche  Geschlecht  mit  8  Fällen  das  grössere  ContingenU 
In  40  Fällen  hatte  der  Prooess  von  der  Urethra  auf  die  Blase  sich  fortr- 
gepflanzt,  in  je  einem  Fall  waren  Typhus  und  Verletzung  des  Rücken- 
marks mit  Blaaenlähmung  die  veranlassenden  Momente.  Besondere  Er- 
wähnung verdienen  die  übrig  bleibenden  zweiFäHe,  bei  welchen  neben 
den  Erscheinangen  des  chronischen  Katarrhs  mehrfache  Ulcerationen 
auf  der  Blasenschleimhaut  sich  vorfanden  und  zwar  im  Anschluss  an 
hochgradige  variköse  Erweiterung  der  Blasen  venen,  weiche  in  dem  einen 
Fall  eine  fast  zusammenhängende  blausobwarze  wulstige  Schichte  auf 
der  Innenwand  des  Organs  bildeten. 

Genitalsystem. 

Von  Erkrankungen  der  männlichen  Genitalien  ist  zu  erwähnen  der 
chronische  Katarrh  der  Urethra.  Er  fand  sich  bei  401ndtvidiiDn  s  4 1 . 
9  %  der  männlichen  Leichen ,  darunter  4  Irre  mit  periodischer  Manie. 
Der  Process  war  in  5  Fällen  mit  Vergrösserung  der  Prostata ,  in  4  mit 
Strictar  der  Pars  roembranacea  und  Fistelbildung  complicirt  In  vier 
Fällen  waren  die  Samenblasen  nachweisbar  betheiligt,  ihre  Wandungen 
verdickt  und  schicfrig  pigmenttrt,  die  enthaltene  Flüssigkeit  gelblich 
und  von  citrigem  Aussehen.  Uebereinstimmend  ergab  die  Untersuchung 


188  "^^    Wilhelm  Malier, 

dioser  Flüssigkeit  als  Ursache  der  gelben  Färbung  zahlreiche  grosse  mit 
gelbem  Pigment  erfüllte  KörnchenzeUetl»^  welche  wahrscheinlich  den 
bekanntlich  normal  gelbes  Pigment  führenden- Spithelien  der  Samen— 
blasen  entstammten.  Daneben  fanden  sich  ausser  wohl  ausgebildeten 
Samenfäden  sparsame  Eiterzellen  und  grosse  concentrisch  geschichtete 
weiche  mattglänzende  Kugeln,  ähnlich  den  Goncretionen ,  wie  sie  ge- 
wöhnlich in  der  Prostata  sich  finden.  Gelbliche  Färbung  d^s  Sperma 
ist  die  gewöhnliche  Art,  durch  welche  die  Betheiligung  derSamcnblasen 
am  granulösen  Katarrh  der  hinteren  Parthien  der  Urethra  sich  kundgibt; 
sie  ist  ungleich  häufiger  bedingt  durch  Beimischung  pigmenthaltiger 
Kömchenzellen  als  durch  solche  von  Eiterzellen  und  es  ist  entschieden 
unrichtig,  wenn  selbst  in  neueren  Abhandlungen  über  diese  Erkrankung 
gelbes  und  eitriges  Sperma  ohne  Weitere^ls  identisch  genommen  werden . 

Hydrocele  wurde  in  2  Fällen  beobachtet,  das  eine  Mal  rechts,  das 
andre  Mal  links;  in  einem  dritten  Fall  fand  sich  Synechie  beider  Blätter 
der  Scheidenhaut  als  Folge  der  Radicaloperation. 

Katarrh  der  weiblichen  Genitalschleimhaut  fand  sich  von  den  neben 
Neubildungen  entwickelten  Formen  abgesehen  in  8  Individuen  =  13. 
5%  aller  weiblichen  Leichen.  Hier  ist  der  Fall  eines  23jähr.  Mädchens 
zu  erwähnen ,  welches  einer  jauchigen  Peritonitis  nach  Durchbohrung 
des  Wurmfortsatzes  erlegen  war.  In  Tuben  und  Uterus,  in  letzterem 
vom  Fundus  gegen  den  Cervix  hin  abnehmend,  fand  sich  Schwellung 
und  graue  Verfärbung  der  Schleimhaut  mit  graugelben  übelriechenden 
Secret,  Scheide  und  Hymen  unverändert.  Der  Befund  stimmt  mit  der 
Annahme,  dass  die  Veränderung  des  Uterus  durch  Uebergreifen  der 
Jauohung  vom  Peritonäum  auf  die  Schleimhaut  der  Tube  vermittelt 
wurde. 

Bei  einer  57jähr.  an  crupöser  Pneumonie  verstorbenen  Frau  fand 
sich,  ein  gelblicher  in  Zusammenhang  abziehbaror  Croupbeleg  auf  der 
Schleimhaut  der  Vagina  in  ihrer  ganzen  Länge. 

Diphtherie  des  puerperalen  Uterus  lieferte  nicht  weniger  als  7  Todes- 
fälle. Der  Befund  war  in  allen  Fällen  derselbe :  Verlauf  von  i  bis  8 
Tagen ,  gelblich-grauer  oder  bräunlicher  übelriechender  Beleg  an  der 
Innenfläche  des  Uterus,  enormer  Katarrh,  in  einem  Falle  deutliche  Diph- 
therie im  peripherischen  Theil  der  Tube,  allgemeine  eitrige  Peritonitis, 
eitrige  Lymphangitis  |im  Plexus  spermalicus,  wozu  sich  in  einem  Fall 
Eiterung  der  retroperitonäalen  Drüsen  gesellte.  Wiederholt  nahmen 
Pleuren  und  Gelenkhöhlen  in  einem  Fall  auch  die  Meningen  an  der 
Eiterung  Antheil. 

Bei  einer  35jähr.  Tuberkulösen  fand  sich  eine  thalergrosse  etwa 
1  Mm.  dicke  orangcgelbe  Auflagerung  auf  der  Rückfläche  des  Uterus, 


BeobAcbtungen  des  pathologischen  Institutf  zn  Jena  im  Jahre  1867.  189 

welche  durch  reidilichen  Häroatoidingehalt  auf  ein  früheres  Extravasat 
hinwies. 

Von  Gestalt  undLageänderungendesUterusfand  sich  Verlängerung 
des  Gervix  und  Ysrgrösserung  des  ganzen  Uterus  in  je  einem  Fall  neben 
chronischem  Katarrh.  Bei  einer  84jahr.  Frau  war  der  Cervicaicanai  an 
seinen  beiden  Enden  obliterirt  mit  Erweiterung  der  Höhle  und  Erfüllung 
mit  farbloser  opalisirender  Flüssigkeit.  Schiefe  Gestalt  des  Uterus  be- 
dingt durch  Zurückbleiben  der  linken  Hälfte  mit  gleichzeitiger  Verkür- 
zung des  linken  breiten  Mutterbands  fand  sich  bei  einem  1  Tjähr.  Mäd- 
chen. Beugungen  und  Neigungen  des  Uterus  nach  vorwärts  fanden  sich 
in  7,  nach  rückwärts  in  4,  nach  der  Seite  in  2  Individuen. 

Hydrops  der  Tuben  mit  beträchtlicher  Verengerung  ihrer  Ostien 
fand  sich  bei  einer  4  4  jähr.  Frau. 

Haut. 

Erysipel  wurde  in  4  Leichen  beobachtet,  sein  Auftreten  hatte  ein- 
mal spontan,  dreimal  im  Anschluss  an  Wundflächen  der  unteren  Extre 
mitäten  stattgefunden.  Stets  wurden  die  zu  der  erysipelatösen  Haut- 
parthie  gehörigen  Lymphdrüsen  geschwellt  und  intensiv  hyperämisch 
gefunden,  in  zwei  Fällen  fand  sich  überdies  eitrige  Lympbangitis  im 
betreffenden  Gefässstrang.  Besondere  Erwähnung  verdient  ein  Fall  von 
Erysipel  neben  Elephantiasis  der  unteren  Extremitäten.  Bei  einem 
\  5jähr.  Jüngling  von  früher  guter  Gesundheit  waren  im  Sommer  1 865 
mehrfache  rothe  Anschwellungen  der  Haut  aufgetreten  an  den  unteren 
Extremitäten,  welche  einige  Tage  standen,  .dann  bräunlich  sich  färbten 
und  im  Lauf  von  i  bis  3  Wochen'  wieder  verschwanden.  Im  Herbst 
traten  neben  Fiebererscheinungen  Schmerzen  im  rechten  Unterschenkel 
und  der  rechten  Hüfte  auf.  In  beiden  Gegenden  bildeten  sich  Absoesse. 
Bald  darauf  kam  es  zu  Eiterung  der  Leistendrüsen  der  rechten  Seite 
mit  Aufbruch  an  fünf  Stellen,  aus  welchen  längere  Zeit  hindurch  grosse 
Quantitäten  von  Eiter  sich  entleerten.  An  Weihnachten  1865  begann 
die  rechte,  etwas  später  die  linke  untere  Extremität  zu  schwellen ,  die 
Schwellung  nahm  allmählich  so  colossale  Dimensionen  an,  dass  sie  den 
Gebrauch  der  Extremitäten  unmöglich  machte.  Dabei  dauerte  die  Eite- 
rung am  rechten  Unterschenkel ,  in  der  Hüfte  und  Leistengegend  fort 
mit  gelegentlicher  Entleerung  von  Knochensplittern  am  ersteren  Ort, 
während  die  Constitution  sich  verschlechterte.  Kurz  nach  der  am 
1 5.  Juli  \  867  erfolgten  Aufnahme  des  Kranken  in  das  Spital  brach  ein 
Erysipel  um  eine  Excoriation  des  linken  Unterschenkels  aus ,  welchem 
der  Kranke  in  wenigen  Tagen  erlag. 


190  '   WitteliD  Milller, 

Die  SecUoD  ergab  betrachUiohe  Abmagerung  der  oberen  Körper- 
hälfte, Schwund  und  Verfettung  der  Muskrta,  Oedem  desScrolüm,  As- 
cites, frische  Embolie  einzelner  Lungenarterienz^ige.  Die  Haut  in  den 
oberen  zwei  Drittheilen  des  linken  Oberschenkels  tmd  am  Bauch  ge— 
röthet  und  stellenweise  in  Blasen  erhoben.  ^In  der  Leiste,  Httfte  und 
unter  demKniee  der  rechten  Seite  mehrere  von  wulstigen  Granulationen 
umgebene  Fistelö£fhungen,  aus  welchen  bei  Druck  Eiter  sich  entleeru 
Beide  Pttsse  und  Unterschenkel ,  von  letzteren  namentlich  der  rechte, 
vergrOssert,  der  Umfang  des  rechten  Fusses  49,  Jener  des  linken  52, 
der  der  rechten  Wade  52,  jener  der  linken  41  Centimeter  betragend. 
Die  Volumzunahme  auf  Haut  und  Unterhautbindegewebe  beschrankt, 
deren  Dicke  an  den  Unterschenkeln  zwischen  4  und  6 ,  an  den  Füssen 
8  Centimeter  beträgt.  Die  Oberfläche  der  Haut  theils  glatt,  theils  warzig 
und  knotig  uneben,  die  Schnittfläche  von  beiden  weiss  und  reich  an 
farbloser  spontan  sich  entleerender  und  alsbald  gerinnender  Flflssigkeit. 
Die  Muskeln  beider  Unterschenkel  undFttsse  gelblich  verfärbt  und  atro- 
phisch. Die  Nerven  sowie  die  Blut-  und  Lymphgefttsse  soviel  von  letz- 
teren überhaupt  aufgefunden  werden  konnte,  ohne  nachweisbare  Ver- 
änderung. Die  Knochen  des  Fusses  durch  Rarefaction  des  Knochenge- 
webes weich  und  leicht  schneidbar.  Die  rechte  Tibia  nahe  derTvbero^ 
sitas  an  ihrer  vorderen  Fläche  durch  Osteophytauflagerungen  verdickt, 
stellenweise  rauh,  im  Inneren  mehrere  haselnussgrosse  glattwandige 
Abscesse  enthaltend  mit  Scierose  der  umgebenden  Knochensubstanz 
und  mehreren«  zur  Oberfläche  der  Haut  führenden  Fistelgängen.  Das 
Kniegelenk  frei.  Der  rechte  Schenkelkopf  m^t  der  Pfanne  durch 
knöcherne  Vereinigung  verbunden,  sein  Gewebe  sclerotisoh ,  die  Rinde 
des  Femur  an  mehreren  Stellen  von  Periost  entbltfst  und  rauh,  letzteres 
allenthalbefi  verdickt,  in  den  unogebenden  Weicbtbellen  mehrere  Abs- 
cesse. Die  Nerven  beider  Oberschenkel  unverändert.  Die  rechtsseitigen 
Venen  mit  Leicbengerinnseln  versehen,  die  linke  V.  saphena  thrombOBin, 
ebenso  die  Cruralis  von  der  Einmündung  der  Profunda  bis  zur  Verei- 
nigung mit  der  Hypogastricfi«  Das  subcutane  Bindegewebe  der  rechten 
Leistengegend  mehrere  narbig  verdickte  Stellen  zeigend,  ebensolche 
finden  sich  unter  dem  Parietaiperitonäum  der  vorderen  Beckenwand. 
Die  Geflüssscbeiden  Kfngs  des  ganzen  Verlaufs  der  Art.  iliacae  namentlich 
reehterseüs  beträchtlich  verdickt,  schwärzlich  grau  pigmentirt,  stellen- 
weise von  narbiger  BeschaflTenheit,  die  spärlichen  dazwischen  liegenden 
Lymphdrüsen  auffallend  sehmal,  derb,  graupigmentirt,  augenscheinlich 
in  narbiger  Umwandhong.  Die  lumbaren  Drüsen  zum  Theil  geschwellt 
und  im  Zustand  inlensiver  Hyperämie.  Ich  ghiube,  dass  Verlauf  und 
Leichenbefund  in  diesem  Fall  zu  der  Annehme  führen ,  dass  der  Aus- 


BaobMlittiiigeii  des  puthologisebeD  Institotf  in  k/tm  in  Jakre  t8S7,  191 

gangspunci  des  Processes  in  einer  eitrigen  Periostitis  und  Endostitis  von 
TIbia  andPemur  der  recbtan  Seite  &u  suchen  ist,  woran  secundär  die 
Eiterung  der  rechtssoWgen  Leistendrüsen  und,  wahrscheinlich  als  Folge 
einer  Thrombo8e|''(tfer  narbige  Schwund  derLymphbahnen  und  Lymph- 
drOsen  im  Verlauf  der  Art.  iliaca  ext.  sich  ansdiloss.  Dass  im  Verlauf 
des  gleichnamigen  Lymphgefässstrangs  der  linken  Seite  analoge  Verttn- 
derungbn  sich  vorfanden  wie  auf  der  rechten ,  erklllrt  sieb  durch  die 
Annahme,  dass  nach  eingeleiteter  Lymphstauung  der  rechten  Seite  mit 
abnormen  Stoffen  beladene  Lymphe  durch  Collateralbahnen  dem  Lymph- 
gefilssstrang  der  linken  Seite  zugeleitet  wurde.  Damit  stimmt  die  Be- 
obachtung, dass  die  rechte  iy  tere  Extremität  früher  anfing  sich  ui  ver«« 
grossem  als  die  linke.  Wenn  wir  mit  C.  Ludwig  annehmen ,  dass  in 
Form  der  Lymphe  ein  wesentlicher  Theil  der  Emührungssäfte  den  Kör- 
pergeweben  geboten  wird,  so  erscheint  die  Volumzunahme  der  beiden 
unteren  Extremitäten  ab  eine  nothwendige  Folge  der  Lymphstauung, 
welche  durch  'den  narbigen  Schwund  der  Drüsen  und  Lymphbahnen 
im  Becken  bedingt  war. 

^    Bewegungssystem. 

Von  Verietzongen  der  Knochen  ist  ausser  den  schon  besprochenen 
Unterschenkelbrttchen  mit  nachfolgender* Pettembolie  hier  zu  erwähnen 
ein  Fall  von  Bruch  der  6.  bis  9.  rechten  Bippe  durch  Ueberfahren  mit 
enormer  Zerreissnng  der  Abdominalorgane.  Ein  91  jähr.  Knecht  wurde 
von  einem  Lastwagen  überfahren  und  erst  einige  Zeit  nachher  todt  auf«- 
gefunden.  Es  fand  sich  eine  breite  ringförmige  Sugillation  an  der  un- 
teren Farlhie  des  Thorax.  Die  6.  bis  9.  Bippe  in  der  Gegend  der  grOsslen 
Convexität  gebrochen,  die  Weichtheile  des  sechsten  Intercostalraumes 
von  der  Bruchstelle  bis  zum  vorderen  Ende  durchrissen,  in  der  Brust- 
hdihle  etwa  200  GC.  Blut.  Der  grosse  Leberlappen  vom  Aufhängeband 
und  Kreuzband  sowie  vom  kleinen  Lappen  abgerissen ,  frei  beweglich 
und  so  gedreht,  dass  der  abgerissene  obere  Band  nach  unten  im  Meso- 
gastrium,  der  untere  Band  mit  der  Gallenblase  nach  oben  unter  dem 
Zwerchfell  lag.  Das  Ligamentum  hepato-duodenale ,  Leberarterie, 
Pfortader  und  Gallengänge  unverletzt.  Ein  querer  Biss  in  der  vorderen 
Fläche  der  Milz,  ebensolche  in  beiden  Nieren.  In  der  Bauchhohle  min- 
destens 2  Kilogramm  geronnenes  Blut. 

Bei  einem  46jähr.  Mann  wurde  eine  Luxation  des  linken  Ober- 
schenkels gefunden,  welche  seit  dem  vierten  Lebensjahr  bestanden 
hatte.  Die  Extremität  zeigte  sich  verkürzt  und  im  Kniegelenk  gebeugt 
mit  Herabtreten  der  Patella  auf  die  vordere  Tibiakante  und  Umlegung 


^v 


192     WUheloi  MQUer,  Beobacbtuiinen  des  pathol.  Instituts  so  Jena  im  Jahre  1867. 

der  letzteren  nach  Aussen«   Die  Gelenkflachen  des  Kniees  unversehrt, 
Extension  jedoch  nach  Durchschneidung  «äipmtlicher  Flexoreo  nicht 
ausführbar,  da  augenscheinlich  die  hinteren  Partbien  der  Gelenkkapsel 
geschrumpft  waren.  Sämmt]icheOberschenkehnuske)»j)ochgradig  atro- 
phisch neben  Verdickung  der  Fascien  und  Oedeini  des  intermusculären 
Bindegewebes.   Die  ursprüngliche  Pfanne  in  einen  dreieddigen  mit  ge- 
wulsteten  Knochenrändern  versehenen  etwa  Y3  des  normalen  Doifangs 
einnehmenden  flachen  Hohlraum  verwandelt,  welcher  von  Fett  erfüllt 
war.  Dielncisura  acetabuli  mit  der  Anheftung  des  Ligamen  tum  teres  er- 
halten, letzteres  continuirlich  zu  dem  nach  hinten  und  oben  dislocirten 
Schenkelkopf  verlaufend ,  welcher  an  seiner  vorderen  dem  Darmbein 
anliegenden  Fläche  abgeplattet  und  mit  einer  groscbengrossen  Schliff- 
flache  versehen  war,  währehd  sein  Knorpelüberzug  allenthalben  rund- 
liche flache  theilweise  verkalkte  Knorpelwucherungen  zeigte,  ganz  ähn- 
lich jenen  eines  an  Arthritis  deformans  leidenden  Schenkelkopfs.     Die 
neue  Pfanne  zeigte  sich  gebildet  durch  beträchtliche  OsCeophytwuche- 
rungen  auf  dem  Darmbein,  der  Grund  in  der  Peripherie  mit  sehnigem 
Bindegewebe  überzogen ,  in  der  Mitte  gleichfalls  mit  einer  groscHen- 
grossen  spiegelnden  Schliflflüche  versehen ;  durph  Verdichtung  des  Pe- 
riosts und  der  ihm  anliegenden  Bindegewebsschicbten  war  ein  unvoll- 
kommenes Labrum  cartilagineum  der  flachen   Pfanne  zu  Stande  gt^ 
kommen. 

Bei  einer  77jähr.  Frau  fand  sich  Arthritis  deformans  fast  aller  Ge- 
lenke, eines  grossen  Theifs  der  Schleimbeutel  und  der  Sehnenscheiden. 
Der  Fall  wird  im  speciellen  Theil  ausführlich  mitgetheilt  werden. 


Ct8|iar  Friedrick  Wolff. 

Sein  Leben  und  seine  Bedeutung  für  die  Lehre  von  der  organischen 

Ent^ickelung. 

Von 

Alfred  Kirohhoff.    * 


Es  gibt  wenig  Männer,  deren  Gedanken  und  Werke  für  alle  nach- 
kommenden Geschlechter  denkender  Menschen  so  unsterblich  und  deren 
personliches  Fortleben  in  der  geschichtlichen  Erinnerung  doch  ein  so 
verkümmertes  wäre  wie  beides  bei  dem  grossen  deutschen  Physiologen 
WoLFP  der  Fall  ist.  Auch  ohne  die  Betrachtung  der  wissenschaftlichen 
Bedeutsamkeit  dieses  Mannes  voranzustellen  dürfen  Air  daher  wohl 
für  den  Versuch,  das  Andenken  an  seine  Person  unverdienter  Ver- 
gessenheit zu  entreissen,  ja  selbst  für  die  kleineren  Züge  seines  Lebens- 
ganges ein  entgegenkommendes  Interesse  voraussetzen.  Schon  bei  einer 
früheren  Gelegenheit  \  suchten  wir  einiges  Hierhingehörige  zusammen- 
zustellen und  waren  so  glücklicheinige,  thcils  für  Wolpp^s  Berliner Lehr- 
thätigkeit  entscheidende ,  theils  für  den  an  der  Berliner  medicinisch- 
chirurgischen  Schule  zu  Wolpp^s  Zeiten  herrschenden  Geist  charakteri- 
stische Schriftstücke  in  alten  Actenstössen  des  kOnigl.  preussischen 
Cultusministeriums  zu  entdecken.  Indem  wir  hinsichtlich  dieser  und 
anderer  schon  damals  benutzten  Quellen  auf  jene  Schrift  verweisen, 
schliessen  wi  r  in  die  gegenwärtige  Darstellung  die  bisher  ganz  übersehenen 
Mittheilungen  des  Dr.  Mursiki^a')  (eines  Ammanuensis  von  Wolpp  und 
praktischen  Arztes,  dessen  in  Berlin  noch  mancher  Lebende  dankbar 
gedenkt)  und  Selbstbekenntnisse  Wolfp's  aus  seinem  Briefwechsel  ein, 
den  er  mit  Hallbr  geführt  hat  und  auf  den  wir  erst  durch  einen  Recen- 


i)  Die  Idee  derPflaazen-lletamorphosebei  Wolfp  und  bei  Goetbk.  Berlin  1867. 
S)  Abgedrackt  in  Goithi'b  V^erke  »Zar  Morphologie«   I.  Bd    pag.  S5iff.  der 
Ausgabe  fon  4847. 

IV.  2.  4» 


194  ^        Alfred  Kirehhoff, 

senten  unserer  Abhandlung  iti^OBSCHEif's  Zeitschrift  für  wissenschaft- 
liche und  praktische  Medicin  desNäheceoi  aufmerksani  gemacht  wurden. 


Wolffs  Leben. 

Caspar  Friedrich  Wolfp  ist  ein  Berliner  Kind  und  hat  mit  unserxn 
grossen  Dichter-Naturforscher  Goethe  ,  dem  er  in  der  Entdeckung  der 
Pflanzen-Metamorphose  clen  Bang  ablief,  das  gemein,  dass  seine  Vor- 
fahren dem  ehrsamen  Schneiderbandwerk  angehörten.    Wie  Gobthb's 
Groasvater  eio  Schneiderin  Artern  anderUnstrut,  so  war  Wolpp'b  Vater  ein 
Schneider  in  Berlin.   Glücklicherweise  war  jedoch  auch  der  Schneider- 
meister Wolfp  wohlhabend  genug ,  um  dem  kleinen  Caspar  Friedrich, 
der  schon  frühzeitig  Talente  zeigte,  einen  gelehrten  Schulunterricht  an— 
gedeihen  zu  lassen.  Wissen  wir  auch  nicht,  auf  welcher  Schule  Berlins 
WoLFF  seine  allgemeine  Vorbildung  erhielt ,  so  ist  es  uns  doch  um  so 
sicherer,  nämlich  durch  seine  eigene  Erzählung,  bekannt,  dass  er  auf 
dem  GoUegium  medico-chirurgicum  seiner  Vaterstadt  in  sein  Special- 
Studium,  das  der  Medicin  und  Naturwissenschaft,  eingeweiht  wurde. 
Im  Jahre  1733  geboren,  war  er  kaum  SO  Jahre  alt,  als  er  unter  Jobann 
Friedrich  Mbckel  ,    dem  Professor  der  Anatomie  an  dem  medicinisch- 
chirurgischen  Institut,  sein  erstes  Präparat  —  ein  Muskelpräparat  vom 
Fuss  eines  Hydi^opischen  —  fertigte.    Er  scheint  mehrere  Jahre  Zuhörer 
undPracticant  im  GoUegium  geblieben  zu  sein,  bis  er  zur  Erlangung  tie- 
ferer und  allgemeinerer  Wissenschaft  die  Universität  Halle  bezog.    Hier 
reiften  bereits  in  ihm  die  Ideen  der  grossen  Revolution,,  die  er  auf  dem 
Gebiete   der  organischen   Naturwissenschaft    verursachte;    nicht   als 
Wunderkind,  aber  doch  als  junger  Mann  von  26  Jahren  vollzog  er  in 
seiner   bertlhmten  Dissertation  mit  jugendlicher  Entschlossenheit  den 
Bruch  mit  der  seit  dem  Beginn  des  Kl,  Jahrhunderts  herrschend  ge- 
wordenen ,  jetzt  aber  von  dem  grossen  Haller  so  glänzend  vertretenen 
Theorie  der  Evolution.    Am  28.  Npvember  <759  war  es,  wo  er  unter 
den  solenneu  akademischen  Feierlichkeiten  seine  Theoria  Generationis 
d.  h.  seine  Theorie  von  dem  wirklichen  Werden  der  Organismen  aus 
einem  Keim,  der  den  fertigen  Körper  noch  nicht  in  mysteriöser  Präfor- 
mirung  birgt,  also  die  »Epigenetika,  die  Lehre  von  der  wahren  »Ent- 
wickelung«  öffentlich  vertheidigte  und  die  DoctorwUrde  als  Siegespreis 
davontrug. 

In  der  nächsten  Folgezeit  finden  wir  ihn  wieder  in  Berlin,  von  wo 
er  kurz  vor  dem  Weihnachtsfest  4759  seinem  grossen  und  von  ihm  stets 
mit  tiefster  Ehrfurcht  genannten  Gegner  Albreght  von  Haller  die  Dis- 
sertation  zusendet.     Vielleicht  hatte   er  jetzt  noch  einen  Cursus  am 


Cispir  l^fMiteti  WMflt.  üt 

medldnifich^lif^ill^fscbfeti  GoR^ium  tu  absolviren ,  da  ihm  jene  Vor- 
stiidiefi  d^r  fiHb^refi  Jahre  wobt  nicht  als  ein  solcher  gerechnet  \<airden 
and  nach  angeroein  gttlliger  Vorschrift  dem  »Obercollegium  medicuttift 
das  Testat  über  di^  Absolvirung  jenes  Gursus  wegen  Zulassung  2Uh 
tnedianischen  Staatsprüfung  vorgelegt  werden  musste. 

Nun  war  damals  in  dem  mörderischen  Krieg  der  si^en  Jahre  eben 
die  goMene  Zeit  für  Aerzte  und  Chirurgen  erschienen.  Der  vortreffliche 
GoTBBimjs  hatte  die  Leitung  des  gesammten  Feldlazareth Wesens  über- 
nommen und  war  nicht  gesonnen  durch  das  gewissenlose  Naturalisiren 
gar  nicht  wissenschaftlich  gebildeter  Peldscheere  die  Opfer  des  Kriegs 
zu  vermehren :  er  forderte  deshalb  im  Berliner  Gollegium  wie  in  den 
Lazareth-Lehrlrnstalten  Studien  in  Osteologie,  Hyologie  und  Splanchno- 
logie,  die  allem  Operiren  vorangehen  sollten.  So  war  es  ihm  denn  ge- 
rade recht,  in  dem  1764  von  ihm  als  Feldarzt  beim  BreslauerPeldlazareth 
angestellten  Dr.  Wolpp  den  Mann  zu  finden ,  der  mit  logischer  Klarheit 
und  vollster  Beherrschung  des  wissenschaftlichen  Materials  den  jungen 
Peldwundarzten  Vorlesungen  üh^r  Anatomie  halten  konnte ;  er  enthob 
ihn  daher  bald  von  dem  gewöhnlichen  Lazarethdien^t,  um  sein  Lehr- 
talent desto  Vollständiger  verwerthen  zu  können.  Damals  (f76tj  war 
es,  wo  ihn  nach  der  Eroberung  von  Schweidnitz  Mutt^nriTA  Zuerst  sah 
und  ihm  alsbald,  obgleich  erst  ein  Siobzehnjnhriger ,  als  Amtndnuensis 
bei  seinen  Vortragen  vor  mehreren  Hunderten  von  angehenden  Feld- 
wundnrzten  hilfreich  zur  Rand  ging.  An  Cadavern  war  nie  Mangel, 
und  auch  mit  aus  diesem  Grunde  waren  Wolpp's  ausgezeichnete  Vorträge 
dermassen  anziehend,  dass  bald  sämmtllche  Militär-  wie  Cfvlterzte  der 
Stadt  Breslau  sich  zu  seinem  Auditorium  di^ngten. 

Aber  so  vortrefflich  die  Leistungen  Wolpp's  nach  Ausweis  der 
monatlichen  Examina  seiner  Schüler  waren  —  das  Prledensjahr  kam, 
und  mit  den  andern  wurde  auch  das  Bre^lauer  Feldlazareth  aufgehoben, 
Docenten  und  Aerzte  entlassen.  Wolpp  hatte  sich  zwar  schon  im  Früh- 
jafhr  1769  an  seinen  hohen  Gönner  ContüKttrs  mit  der  Bitte  gewendet, 
ihm  dfe  Erlaubniss  zu  öffentti'chen  Vorlesungen  übet^1%ysiologie,in  Bertin 
aivszuwirken,  dte  engherzig  zünftigen  Professoren  des  dortigen  Colle- 
ghims  weigerten  sich  jedoch  mit  eifersüchtiger  Betonung  ihrer  »Privile- 
gia  und  Prurogativen«  energisch  den  Stöi'enfried  in  ihren  freundvetter- 
lichen  Verband  der  Schwagerschnft  und  ded  Nepotismus  aufzunehmen. 
Jetzt,  nach  Auflösung  der  Breslauer  Las^af ethsehule ,  war  daher  Wolp^ 
trotz  der  unschätzbaren'  fNenste ,  die  tt  dem  Staat  in  traurigster  2eit 
geleitet,  b^OR(Ilo».  Er  zog  nun  ins  elterifehe  Haus  tittth  Berlin  ztfrück, 
UYvd  Mer  hnA  ihn  HtmsmUA,  den  sein  Genius  Mch  bdid  datifach  hierher 
ftUirte,  im  engen  Schneiderstübchen  unter  Büchern  vergraben.    Trüb- 


]96  AVre4  Klffcli|lv>i(» 

» 

selig  scheint  WoLFF  indessen  den  Gefährten  von  Breslau  nichi  empfangen 
zu  haben,  denn  schon  hatte  er  vonGoTBBiousdieJEriaubiiiss  zuPrivat- 
voriesungen  erhalten,  und,  l^onnte  er  auch  b^i  der  sich  3(U  offener 
Feindseligkeit  steigernden  Abneigung  der  CoUegiumsprof^asoren  gegen 
ihn  zu  keiner,  auch  noch  so  bescheiden  dotirtan,  Professur,   zu  keiner 
Hitbenutzung  weder  der  Apparate  des  Ciollegiums  noch  der  aus  Offenl- 
lichen   Kranken-  und  Armenhäusern  dorthin  gelieferten  G^daver  ge- 
la.ngen,  so  ging  er  doch  rUstig  ans  Werk,  machte  den  jungen  Mlrsinna 
abermals  zu  seinem  Ammanuensis  und  Hess  ihn  zunächst  die  Zettel  ver- 
theilen,  auf  denen  sich  zu  seinen  angebotenen  Vorlesungen  die  Anneh- 
menden eintragen  sollten.    Und  in  Kurzem  gab  es  der  Unterschriften 
auf  diesen  Zetteln  so  viele ,    dass  man  Noth  hatte ,   einen  die  Zuhörer 
fassenden  Saal  ausfindig  zu  machen. 

Es  mögen  Wolff's  freudigste  Jahre  gewesen  sein.,  wo  er  immer 
neue  jugendliche  Anhänger  für  seine  immer  tiefer  durchdachten,  immer 
klarer  dargestellten  Theorien  sich  erwarb,    wo  er  zugleich  für  seine 
wissenschaftliche  Stellung  und  für  seine  persdnlidiie  Lage  den  »Kampf 
ums  Daseina  in  frischester  Manneskraft  durchkämpfte.     Er   las  mit 
Meisterschaft  ein  GoUeg  über  Logik  und  wusste  die  Medicin   wie  eine 
angewandte  Logik  vorzutragen,  was  der  damaligen  piediciniscben  Wissen- 
schaft zu  mancher  Säuberung  von  phraseologischer  Tradition  und  von 
unklaren  Zuthaten  neuer  Hypothesen  genützt  haben  wird.      Daneben 
soll  er  Pathologie  und  specielle  Therapie  gelesen  haben ,  als  wenn  er 
der  grösste  praktische  Arzt  gewesen  wäre;  zumal  aber  seine  Generations- 
Theorie  verfolgte  er  mit  erneutem  £ifer  und  gab  17G4  eine  deutsche, 
ursprünglich  nur  für  einen  engeren  Freundeskreis  berechnete,  Bear- 
beitung derselben  für  seine  Zuhörer  in  Druck.  Seine  treusten  Gefährten 
waren  und  blieben  die  Hühner,  die  ihm  um  die  Wette  Eier  legen  mus^s- 
len,  damit  er  jede  Viertelstunde  eins  aufbrechen  und  das  Werden  und 
Wachsen  des  Embryos  unter  dem  Mikroskop  verfolgen  konnte. 

Natürlich  brachten  seine  physiologischen  Ketzereien  die  alten  Per-^ 
rücken  des  CoUegiums  in  immer  grössere  Aufregung.  Der  ältere  Mic^i^f 
sein  früherer  Lehrer,  und  Professor  Waltheil  zogen  auf  dem  Katheder 
gründlich  über  ihn  los )  und  ihre  Schüler  wie  die  .Wolfp's  lebten  in 
förmlicher  Fehde.  So  sehr  man  es  aber  selbst  dem  kurzen  Berichte 
Mursinna's  anhört,  mit  wie  frischem  Muthe  dieser  Kampf  geführt  wurde 
bei  seiner  inneren  SiegesgewissheH  und  seinen  entsprechenden  äusseren 
Erfolgen  »der  Bekehrung  und  Versammlung  der  Meisten  zu  den  Fahnen 
des  Wolfs«  — :  endlich  erlahcqte  bei  den  ewigen  neidischen  Intriguen 
seiner  Gegner,    bei  dem  ewigen  Erwiedem  seiner  offenen,   freilieb 


C  «spar  Tri«drieh  Wolff.  1 97 

soliarfen  Schwertstreiche  mit  heirtittlckischen  Nadelstichen  auchWoLFp's 
LodI  am  Wlsiterkampf  mit  derartig  ungleichen  Waffen. 

Für  die  Geivinnmg  einer  äusserlich  gesicherten  Existenz  wurde 
sotDft  dieser  Kampf  immer  aussichtsloser,  und  um  so  freudiger  wurde 
daberderRuf  der  grossen  Kaiserin  aus  fernem  Norden  von  ihm  willkommen 
gefaeissen,  der  im  Jahre  1766  an  ihn  gelangte.  Eine  heftige  Augenent- 
Zündung,  an  derer  im  Winter  f  766  zu  67  litt,  scheint  ihn  von  der  Reise 
noch  einige  Zeit  zurückgehalten  zu  haben ,  aber  sein  Entschluss ,  dem 
Rufe  der  Kaiserin  Katharina  nach  Petersburg  Folge  zu  leisten ,  stand 
bereits  bei  ihm  fest.  Wohl  war  es  ein  Entschluss ,  der  mit  Resignation 
verbunden  war:  fern  von  der  Vaterstadt ,  im  kalten  Nordtande,  ohne 
den  ewig  frischen  Kranz  begeisterter  Schüler  um  sich  zu  haben  und 
ausser  allem  näheren  Verkehr  mit  europäischer  W^issenschaft  sollte  er 
von  nun  an  leben  I  —  In  einem  Rrief  an  Hallbr  verzichtet  er  schmerz- 
lieh  auf  die  verheissene  Zusendung  des  2,  Theiles  von  dessen  Opera 
minora,  da  er  nunmehr,  wo  seine  Abreise  vor  der  Thür  siehe,  »kein 
UebersenduTigsmittel  in  die  Feme«  absähe.  Aber  ein  Unterpfand  der 
Heimath  erhör  er  sich,  da  er  zum  letzten  Mal  in  seinem  Leben  deutsche 
FrübNngsiuft  athmele :  er  Hess  sich  »ein  armes  aber  schönes  Mädchen« 
in  Berlin  antrauen  und  trat  mit  ihr  etwa  gegen  Ende  April  1767<)  die 
Reise  an. 

Hütte  er  bis  jetzt  vorwiegend  als  Lehrer  gewirkt  und  nach  MuRsnmA^s 
Versicherung  viele  gründliche  Aerzte  gebildet,  die  den  Segen  der  von 
ihm  erhaltenen  klaren  und  praktischen  Unterweisung  der  leidenden 
Menschheit  weit  und  breit  zutrugen  durch  die  Länder  Europa's,  —  so 
begannen  nun  ruhigere  Jahre  stillen  Familienglücks  und  unablässiger 
Forschung  auf  dem  Gebiete  der  blos  theoretischen  Wissenschaft.  Noch 
stand  ja  Wolpp  in  der  BIttthe  seiner  Jahre,  und  war  er  auch  nur  mit 
800  Rubeln  (neben  900  Rubeln  Reisegeld)  nach  Petersburg  berufen, 
so  konnte  er  doch  bei  aller  Bescheidenheit  seiner  Verhältnisse  mit  seiner 
anspruchslosen  Gattin,  zumal  seine  Ehe  kinderlos  blieb,  un^stört  fleis- 
sige  und  in  so  fem  herrliche  Jahre  verleben.  Man  vermag  wohl  nicht 
mehr  das  Häuschen  zu  zeigen ,  wo  der  grosse  Mann  in  stiller  Zurück- 
.uezogenheit  vor  dem  Thore  der  modernsten  Kaiserstadt  der  Welt  wohnte ,' 
aber  die  Werke,  die  er  hier  schuf  in  fast  27  arbeitreichen  Jahren,  wer- 
den der  Stolz  der  rassischen  Akademie  bleiben ,  als  deren  Mitglied  er 
berufen  war  und  für  deren  Denkschriften  er  sie  schrieb. 

Am  29.  Februar  1794  machte  ein  Schlagfluss  seinem  Leben  plotz- 


i)  MuRsiNNA's  ADgabe,  dai»8  er  bU  1768  in  Berlin  dociri  hatte,  kann   nur  auf 
einem  trrihum  berahen. 


19$  AiAfd  kh<m<»a; 

lieh  ein  Ende;  in  dem  fremden,  eisigeaBodaq  grab  man  soinGrab,  uad 
Deutschland  musste  e^  gesoheben  lassen,  d»^  ein^m  SAimr  be9lfo 
Söhne  Fremde  den  Nachruf  widmeten;  dooh  ^iq  tbaten  -ts  in  edler 
Weise,  indeip  si^  seine  Werke  für  ihn  reden  lies^en  und  iBicleitt  «e  Yer- 
sicherten,  daas  die  Grösse  eines  solchep  Verlustes  Ober  jeder  Phrase  er- 
haben sei,  dass  ßi^  nur  eins  zu  sagen  vermöchten:  er  habe  »Alles  ge- 
than  für  den  Fortschritt  seiner  Wissenschaft.« 

Versqohen  wir  es,  die  Wahrheit  dieser  Wsrte  der  Petersburger 
mademie  durch  die  (iharakterisUk  von  Wolff's  Stellung  io  der  Ge- 
ß^chte  der  organifichea  Naturwissenschaft  zu  erhärten* 

Die  Prädelineations-Theorie. 

(Nichts  hat  in  dem  Studium  Über  die  Natqr  desOrganisoAUs  sosti^r 
Epoche  gemacht  als  die  Erfindung  de^  Mikroskops.     Als  das*  1 6.  Jahr- 
hundert diese  Erfindung  in  ihren  ersten  Anfängen  dem  4  7.  zu  weüarer 
Vervollkommnung  vererbte,  fühlte  man  sich  mit  immer  waobsendeio 
Staunens  einer  neuen,  nie  gähnten  Welt  gegenüber.  AndieBfitdeekliog 
tibersepischer  Welten  hatte  man  sich  seit  mehr  denn  bupdert  Jubren 
gewöhnt,  und  dsss  es  in  weitem  Fernen  Wunderdinge  gäbe,  bette  man 
ja  längst  geträumt;    das  Wunder  war  eigentlich  nur  dies:    dsss  der 
TraUm  zi|r  Wahrheit  g|B worden.  Dass  es  aber  in  der  altbekeonleo  Welt 
una^hlbare  Wunderwelten  in  dem  schlichten  Gewand  der  alll^gUobsten 
Erscheinungen  gf&be,  dassnur4ie  UnvoUkommei^heit  des  iMOsoblicben 
Gesichtssinqes  tausend  und  abor  tausend  Ges^^pfS)  jo  die  tippigsta 
FttUe  windiger  ivoime  der  sohop  vordem  bekannten  Wessen  im  Innern 
dieser  selbst  übersehen  h9t|e,  die  jetzt  nun  dem  scbarf  bewahrten  Auge 
offenbart  wurden,  *—  d^s  erfüllte  mit  solchem  Stolz  gegen  alle  Vor^il^ 
dass  man  in  Pflanzen-  und  Thierforsohung  aas  liebsten  jede  Hesiehung 
zu  der  älteren  Wissenschaft  abbrach.     Man  fühlte  sich  plötzlich  ganz 
emaacipirt  Sogar  yon  den  höchsten  Autoritäten  des  Alt^rthums ,  de«en 
das  ganze  Jahrtausend  des  Mittelalters  so  blind  gehuldigt  hatte.    Und 
besass  man  nichts  das  vollste  Recht  zu  sagen :  was  bindet  mich  die  alte 
Theorie,  und  wenn  sie  ßuch  dem  Genie  eines  Asistotslzs  entstammt  ist, 
meine  Beobachtungen  sind  duroh^iis  neu ,  von  ihnen  ausgebend  moss 
i^  ganz  natürlich  zu  neuen  Schlüssen  geführt  werden ,  deren  grttnd-* 
liebster  Widerspruch  mit  der  alten  Theorie  mich  nur  mit  Stolz  auf  400 
Fof tßcjhritt  unsrer  Zeit  zu  erfüllen  braucht  i 

Des  grossen  Haryet  Ausspruch  »Omne  vivum  ex  ovo«,  dieses  Er- 
^ebniss  der  mühsamsten  und  für  jene  Zeit  unübertrefflichen  Unter- 
suchungen, durfte  man  sicherlich  ohne  Ueberhebung  den  aristoteli;5dheQ 


r 

AasiohleD  von  Entstehung  der  Aale,  Mttcken.  Flohe,  aua  Sohbrnim  oder 
Staub,. aiegeebewnsal  entgegenhalten.  Aber  man  ging  auf  dem  We^^ 
der  Erklärung  des  Grossen  aus  dem  Kleinen  weiter  und  weiter,  wie 
auf  einer  aliscbttasigen  Bahn,  und  endlich  ttberstürste  man  sich.  Man 
kam  auf  den  verbf  ngnissvollen  Gedanken :  das  thierische  Ei  und ,  waa 
man  demselben  irrthttralieherweise  analog  glaubte,  der  Same  der 
Pflanze  sahliesse,  wenn  auch  in  kaum  sichtbarer  Kleinheit^  nicht  nur 
die  Anlage  zum  Organismus,  sondern  diesen  selbst  in  einer  derartigen 
Zusammengedrängtheit  der  Theile  ein,  dass  uns  daraus  der  trügerische 
Schein  unförmlicher  Bildung  der  einen,  ja  völligen  Fehlens  der  andern 
Organe  erwüchse.  Recht  charakteristisch  ist  für  diese  psychologisch 
sehr  wohl  erklärbare  Yerirrung  aus  der  kaum  eroberten  Welt  der  mi- 
kroskopischen Wunder  in  die  der  völlig  unsichtbaren  oder  wenigstens 
für  die  doch  immer  nur  relative  Vollkommenheit  der  eben  zu  Gebote 
stehenden  optischen  Instrumente  unsichtbaren  Welt  ein  Ausspruch  eines 
Schülers  Lmnt's,  der  im  Kampf  für  die  noch  zu  erwähnende  Prolepsis- 
Theorie  äusserte:  »Was  wir  mit  den  Augen  «ehen,  das  müssen  wir  dooh 
für  wahr  halten,  dass  nämlich  im  Samen  das  winzige  Urgebilde  der 
neuen  Pflanze  verborgen  ist  sammt  ihren  Bldttknoq)en,  die  noth wen- 
dig er  Weise  (1)  wieder  Knospen  und  KnOspchen  in  sich  haben«*). 
Man  hatte  in  den  Gotyledonen  verborgen  die  Plumula  entdeckt,  in  der 
TbaV  schon  das  junge  Pflänzchen  mit  all  seinen  wesentlichen  Organen, 
den-Blattspitzchen  am  Rudimente  des  Stengels,  der  an  seiner  Basis  so- 
gar sehen  das  Würzelchen  zeigte.  Hatten  die  Früheren  auch  die  Thatr- 
Sache  längst  gewusst,  dass  aus  der  Eichel  ein  Eichbaum  erwüchse,  — 
das  hätten  sie  doch  nie  geglaubt,  dass  der  Eiche  Stamm,  Wurzel  und 
Laubkrooe  nicht  erst  aus  der  Eichel  neu  entstünde,  sondern  bereits 
in  ihr  enthalten  gewesen»  dass  alles  Wachsen  nur  dem  Herausschieben 
der  Rährenstücke  eines  Fernrohrs  gleiche.  Da  schien  es  doch  fürwahr 
uubereehtigte  Skepsis,  in  den  Blattachseln  des  Keims  kleinere  Knospen, 
in  diesen  noch  kleinere,  auch  Blüthenknospen,  folglich  auch  Eichbäume 
fernerer  Generationen  in  infinitum,  in  ihnen  zu  unsichtbarer  Kleinheit 
zwar  zusammengezagan,  aber  nichts  desto  weniger  doch  vorhanden  — 
leugnen  zu  wollen  I  Man  ahnte  gar  nicht  die  Falschheit  dieser  Analogie^ 
Schlüsse,  man  glaubte  vtfllig  auf  dem  Boden  der  Erfahrung  zu  stehen 
und  hatte  doch  so  ganz  entschieden  die  einzig  mdgUche  Richtschnur 
aller  Naturwissenschaft  verloren:  die  sinnliche  Wahrnehmung. 

Die  besten  Köpfe  sehen  wir  denn  auch  in  die  Zauberkreise  dieser 
Trugschlüsse   verfangen,    manche   mit  glühendem  Enthusiasmus  die 


4|  Lnoii,  AiM>mittttes  soadeiDicse.  VI,  p.  140. 


200  AilM  Klnliltoff, 

Grossartigkeit  dieser  oEntdeckung«  preisen ,  andre  sidi  wenigstens  m 
unbefangenster  Hingabe  mit  diesen   Ideen  befreotiden.     Wenigstens 
höchst  )>wabrscheinlich«  dttnkie  diese  Lehn)  vom  unsichtbaren  Daseün 
organischer  Wesen  in  allen  ihren  Theilen,  und  wie  leicht  vertraut  der 
Mensch  in  FS^Ilen,   wo  er  die  Wahrheit  nicht  erforschbar  wähnt,  äer 
Wahrscheinlichkeit,    die  ihm  zuletzt  der  Wahrheit  gleichwerthig  ^er- 
scheint.   Eine  treffliche  Benutzung  dieser  angeerbten  Seeleneigenthüm— 
lichkeit  hörte  ich  einmal  den  redegewandten  Jesuitenpater  Hasslacsbr 
zum   Beweis  der  Unsterblichkeit  der  Seele  machen;    in   rhetorischer 
Anaphora  iingirte  er  ein  Evangelium,  das  an  den  Staub  erginge,  der 
da  eine  Pflanze  werden  solle  und  doch  die  unfassbare  Höhe  dieses  Glücks 
nicht  glauben  will,  ferner  nach  Verwirklichung  des  unglaubhaft  erschie- 
nenen Wunders  ein  ähnlich  roisstrauisch  aufgenommenes  Evangelium 
an  diese  Pflanze,  dass  sie  einThier  werden  solle,  ein  ferneres  an  dieses 
Thier,  dass  sein  Stoff  einst  die  Anlage  eines  Menschen  werden  solle, 
und  nachdem  er  sich  sogar  in  verfänglich  physiologischer  Evangelisten- 
Anrede  an  den  Fötus  gewe<idet ,  der  gewiss  die  Freude  das  Licht  der 
Sonne  dereinst  zu  schauen  in  seinem  engen  Kämmerlein  nicht  hätte 
fassen  können,  schloss  er  mit  emphatischen  Hinweis  darauf,    dass  es 
auch   bei  den  dem  Fötuszustande   entwachsenen  Menseben   die   ent- 
sprechende Erscheinung  nur  zu  allgemein  gäbe ,  dass  es  wie  auf  den 
Voretufen  sehr  natürlich,  aber  ebenso  thöricht  sei,  dem  Glück  der  Ver- 
hetssung  misstrauisch  entgegenzusehen.  Nätürlich.Uherzeugte  er  damit 
viele,  denn  in  der-That  war  es  ad  horainem  gesprochen.   Die  Wissen- 
schaft der  beiden  vorigen  Jahrhunderte  ging  unbewusst  den  gleichen 
Weg. 

Ehe  wir  jedoch  bei  dem  uns  beschäftigenden  trügerischen  Analogie- 
schluss  den  Mann  auftreten  lassen,  der  es  muthig  ausspricht :  »die  Bot- 
schaft hör*  ich  wohl,  allein  mir  fehlt  der  Glaube!«  —  ist  es  noth wendig 
genau  die  Form  zu  charakterisiren,  zu  der  sich  der  Glaube  an  das  un- 
sichtbare Sein  im  Laufe  des  17.  und  4  8.  Jahrhunderts  ausgebildet  hatte. 
Das  Mikroskop  lehrte  das  Vorhandensein  von  Dingen ,  die  man  in  der 
Zeit  des  unbewaffneten  Auges  deshalb  für  nicht  vorhanden  ge- 
halten hatte ,  weil  man  sie  nicht  gesehen ,  man  hatte  irrthümlich  da 
von  einem  Neuwerden  geredet,  wo  es  sich  wirklich  nur  um  ein  Aus- 
wachsen des  schon  vorhandenen  Thieres,  der  schon  vorhandenen 
Pflanze  handelte,  und  wenn  alle  Organismen  aus  elterlichen  Organismen 
hervorgehen,  so  müssen  diese  die  junge  Brut  als  Tbeile  ihres  Inneren 
schon  bergen ,  diese  wieder  eine  folgende  Generation  u.  s.  f.  Selbst 
bei  der  bis  aufs  Aeusserste  getriebenen  Verbesserung  der  Vergrössenings- 
gläser  können  uns  diese  Einscbachtelungen  unsichtbar  bleiben ,  denn, 


CaspAr  fMiMi  Woll  201 

wie  ihr  Name  sagt,  können  diese  Glaser  zwar  zanbergleich  das  Kleiod 
gross  erscheinen  lassen,  —  Bbev  niemals  das  Durchsichlige  un- 
dnrohsichiig.  Und  mit  diesem  so  onzwetfelhaft  wahren  Satze  stand 
man  am  Rande  des  Abgrundes  nnd  wieder  hatte  der  Satz,  der  über  alle 
Grenzen  der  Wissenschaft  in  das  freie  Luflreich  der  Hypothesen  hhums- 
trieb,  eine  scheinbare  Berechtigung  durch  die  auf  diesseitigem  Gebiet 
gemachtefirfahrung,  dassdieJugendzustände  den  Organismus  in  feinster 
JDurchsichtigkeit  setner  Theile  unter  dem  Mikroskop  erscheinen  liessen, 
oft  selbst  Injectionen  die  farblose  Krystallfaelle  nicht  zu  andern  ver- 
möchten. Wir  sehen:  man  traute  ganz  sicher  dem  ScUuss,  dass  die 
sinnfidie  Wahrnehmung  unzureichend  sei,  dass  die  Yerkennung  dieser 
Thatsache  ganz  irrig  zur  Theorie  von  einem  Neuwerden,  von  einem 
wirklichen  Werden  der  Dinge  geführt  hatte ,  dass  da ,  wo  man  wegen' 
nicht  zu  grosser  Kleinheit  und  I>ur<^sichtigkeit  vermeintliches  Werden 
belauschen  könne,  nur  Grösser-  und  Undurdisichtigwerden  Thatsache, 
Werden  also  überhaupt  nur  Dogma,  eitles  Phantom  sei. 

Nicht  ganz  genau  pflegt  man  heutzutage  die  auf  solcher  Grundtage 
errichtete  Lehre  von  organischer  Ausbildung  die  Theorie  von  der  Evo- 
lution zu  nennen.  So  wurde  vielmehr  nur  die  eine  Auffassung  der 
Theorie  vom  sichtbaren  Darbilden  des  unsichtbar  Dagewesenen  genannt, 
die  nömlich,  welche  den  Organismus  in  der  Periode  seiner  unsichtbar- 
keit  im  Ei  sich  latent  dachte;  diesen  »Ovisten«,  an  deren  Spitze 
Malpiohi  und  Malebzangrb  standen,  traten  die  »Ammalculisten«  gegen- 
über, welche,  geführt  von  HAarsocKBR  und  LzzirwBiaioBK,  ein  System  der 
Praformation  aufbauten,  in  welchem  die' Zoospermien  (»animaicula 
seminis«)  die  Stelle  der  Eier  vertraten.  Entscheiden  liess  sich  dieser 
Streit  ebensowenig  wie  die  Frage,  ob  die  Engel  in  dem  östlichen  öder 
westlichen  Himmelsraume  wohnen.  Und  schon  darum ,  weil  auf  dem 
Gebiet  der  Pflanzenforschung  beide  Riditungen  nicht  deutlich  aus  ein- 
andertraten,  können  wirhiermitdemalten  Namen  der  Pradel in eation 
beide  Richtungen  zu  einem  w^esentlich  auf  dasselbe  hinauslaufenden 
System  verbinden ,  nach  welchem  das  Leben  des  Individuums  durch 
die  Zeugung  nicht  begründet,  sondern  nur  zu  einer  neuen  und  zwar 
dem  menschlichen  Auge  sichtbaren  Form  erweckt  wird. 

Die  vollständigste  Ausbildung  erreichte  dieses  System  im  vorigen 
Jahrhundert  durch  Lbibniz  ,  Bon ptkt  und  Hallb«.  •  Obgleich  Lbibn» 
keine  neuen  Untersuchungen  zur  weiteren  Begründung  der  merkwür- 
digen Theorie  anstellte,  war  er  doch  nicht  nur  durch  sein  unzweifel- 
haftes Genie  ein  unschätzbarer  Parteiganger,  der  kleinere  Geister  mäch- 
tig mit  fonriss,  sondern  er  trug  auch  wesentlich  zur  Entwicklung  dieser 
Lehre  bei,  indem  er  sie  consequent  ausdachte  undderDaaeinsgeschitdite 


des  &tfq)er8  die  der  Seele  himufttgle.   Aller  lebendige  Stoff  isl  ihm 
seell,   er  ist  tief  dnrdidniiigeii  von  dem  unldebaren  Bvad  swischeii 
Seele  und  lebendigeoiKärpery  die  in  ihrer  Zweinoigkeit  dteindividuimi 
(«dieüetiadei^  bilden.  Wenn  aber,  wieerdengritsslenFoiadiem  seiiier 
Zeit  glanbl,  der  Organismus  schon  vor  der  Geburt  da  war,  so  vmr  aneh 
seine  Seele  da,  und  wenn  es  nur  fttr  den  blöden  Sinn  desMen^ 
sehen  ein  Werden,  in  der  Thal  nur  ein  Sein  gibt,  so  ist  niohi  bloss  die 
G^urt  ein  nur  seheinbarer  Anfang,  es  ist  vielmehr  auch  der  Tod 
ein  nur  scheinbares  Ende,  das  Leben  nichts  als  ein  Durchgang  aus  einem 
unsidiibaren  Zustand  durch  den  dem  Menschen  sichtbaren  in  einen 
anderen  nnsiehlbaren.  »Die Philosophen«,  sagtLiomu  in  der  Monadologie 
(Op.  phil.  p.  741),  »haben  sich  viele  Schwierigkeiten  gemacht  mit  dem 
Ursprünge  der  Formen,  Entelechien  oder  Seelen.  Indessen  haben  gegen- 
wärtig genaue  Untersuchungen,  angestellt  mitPfiansen,  Insecten  und 
Thieren ,  zu  dem  Ergebnis»  geführt,  dass  die  organischen  Körper  der 
Natur  niemals  aus  einem  Chaos  oder  einer  Fäulniss  hervorgehen,  son- 
dern allemal  aus  Keimen  (semencei^ ,  in  denen  ohne  Zweifel  schon 
eine  Prätormation  vorhanden  war ;  so  hat  man  geurtheilt,  dass  in  dieser 
Anlage  nicht  Mos  der  organische  Körper  vor  der  Zeugung  eustirte,  aoD- 
dem  auch  eine  Seele  in  diesem  Körper,  mit  einem  Wort  daslndivi-« 
duumaelbst,  und  dass  vermittelst  der  Zeugung  dieses  Individuum 
nur  tehig  gemacht  werde  zu  einer  grossen  Formwandelung ,  um  ein 
Individuum  anderer  Art  zu  werden.   Man  sieht  selbst  etwas  Aelmliohes 
ausserhalb  der  Zeugung,  wie  wenn  die  Wttrmer  Fliegen  und  die  Raupen 
ScbmeUerlinge  werden.«  Lsbiffc  war  also  ga«s  eonsequenler  Anhänger 
der  Präformations-^Theorie,  gleubte,  dass  das  Individuum  aus  der  un- 
sichtbaren in  die  sichtbare  Welt  durch  eineArtMetamorphose  übergehe, 
und  natttrUcb  erlaubte  sein  echt  wissenschaftlicher  Monismus  auch  kei- 
neswegs den  Menschen  anders  zu  betrachten  als  die  tünigen  Organis- 
men. An  einer  Stelle  seiner  Theodicee ,  in  der  er  sich  auf  die  mikro- 
skopischen Beobachtungen  Lbbuwsnboiul's  ausdrücklich  beruft,  sagt  er 
(p.  bV7  der  Op.  phil.) :   »So  sollte  ich  meinen,  dass  die  Seelen,  welche 
eines  Tages  menscbliche  Seelen  sein  werden,  im  Samen,  wie  jene  von 
anderen  Species,  dagewesen  ^d,  dass  sie  in  den  Voreltern  bis  auf 
Adam,  also  seit  dem  Anfang  der  Dinge  immer  in  der  Form  organisirter 
Körper  existirt  haben,  t  < 

Hatte  die  PrödeUneatiops-Theorie  in  Lsibniz  einen  ausgozeiobneten 
BöfOrworter  gefunden,  dessen  bewondemswerthe  Darstellungen  in 
woiteo  Umfang  Einfluss  gewannen,  so  fand  sie  in  Bouhbt  einen  uner- 
müdlichen Forscher,  der  in  seinem  Eifer,  dieser  Lehre  immer  mehr 
empirische  Stttisefn  zu  schaffen  der  Naturwissenschaft  bleibende  Güter 


gew9Qiv  Wir  enooern  qur  aq  seine  moisterhafteQ  UDiersnctuiBgen  über 
die  Blßt^lSUiaa  (verOQeDtljoht  U45  in  seinem  Traitö  d'insedologie  I,  peg, 
26  t.).  ^s  war  vieUeicbt  der  werthvollale  Gewinn  für  die  Tlteorie  der 
Ein3p)|acbteluDg  künftiger Genera^PDen  in  früheren,  daasBomiir  dureb: 
Absp^rruAg  und  fest  stündliche  Beobachtnug  eines  Exei»plars  der  Apbis 
rosale  ^ass^be  nach  viermaliger  Häutung  am  4 1 .  Tage  trotz  absoliiler 
Jungfr^ulicbkeil.  eine  lebendige  Tochter^  ja  innerhalb  weiterer  SO  Tagef 
nebeii  der  ersten  nicht  weniger  als  94  »ir  Welt  bringen  and  diese  die 
Parthenogenesis  der  Mutter  treulich  nachahmen  sah.  Das  war  angleieh' 
ein  Sieg  der  Ovisten  Über  die  Animalcutisten.  Wollte  man  den  Weftli 
der  Befruchtung  durch  Zooapermien  in  diesem  Falle  nicbt  gänsUcb  in- 
Abrede  stellen,  so  blieb  nichts  übrig  als  zu  Ihun  was  Haubi  that :  an- 
zunehmen, das  Urexemplar  einer  weiblichen  Aphis  sei  befruchtet  wor«^ 
den  von  dem  Samen  eiues  MVnncbenSy  der  kräftig  genug  gewesen  wäre, 
alle  Hüllen  der  unzähligen  in  einander  gekapselten  Thiere  der  folgenden 
Generationen  zu  durchdringen  und  diese  für  Jahrtausende  zu  befhioiw- 
ten*).  Auch  versäumt^  HAitn  bei  Erwldinupg  dieses  Vorgaogs,  der 
wenigstens  den  Schluss  auf  vielfache  Einschaohtelung  nicht  einmal 
der  Ibafruchtung  zur  Evolvirung  bedürftiger  Thiera  zu  gestatten  schien, 
nicht  auf  das  Lieblingstfcier  derEinacbachtehiugstheorie,  aufVolvoi  glo^ 
balor  w  verweisen»  wo  man  sich  in  der  That  von  der  Coexistenz  meb^ 
rerer  Generationen  in  j?  einem  Individuum  der  jedesmal  älteren  Gene- 
ration durch  den  Augenschein  Überzeugen  könnt?. 

Dnss  sich  Ai.BaJ^CHT  ton  Hauki«  dieser  JniuNiiBsMöLua  des  vorige»* 
Jahrhunderte,  der  Theorie  mehr  und  mehr  abnahm ,  trug  nun  vollends 
zu  ihrer  RefeMigung  und  Verbreitung  bei.  In  früheren  Schriften  hatte 
er  ihr  noch  gar  nieht  c)as  Wort  geredet,  erst  seine  475S  erschieneneii 
Beobachtungen  über  dJQ  Bildung  dea  Herzens  im  behrüteten  Hühnerei 
zeigen  ihn  im  Lager  d^r  Ovisten,  als  entscheidenden  Vertreter  der  Maw 
picai'scben  Ansicht.  Und  im  darauf  folgenden  Jahrzehnd  konnte  man 
sagen,  dass  dvrch  Bobubi 's  Aufsehen  erregendes  Werk  unter  dem  Titel 
DConsiderations  sur  les  cqrps  organis^,  vor  Allem  aber  durch  die  den 
ganzen  physiologischen  Wia^ensschatz  der  Zeit  iu  sich  samn^lnden  £|e- 
menta  Phyaielogiae  des  grossen  Schweizers  die  Theorie  ihren  vollen. 
Ausbau  gefunden  habe. 

Die  prSlciseste  Fassung  der  Sache  steht  im  9.  Theil  der  Elemente 
unter  der  siegesgewissen  lloberschrift:  NuUa  est  epigenesia  — *  es  gibt 
kein  Werdenl  DNuUa  in  corpore  animale  pars  ante  aliam  facta  eat, 
et  omnes  simul  croatae  ei.istunM  Pa  ist  Haups  Evelutionist  vom  rein-« 

i)  ii#U«i1  EiemeoU  PhyilqUigiae.  VI.  p.  4S5. 


204  Arfred  Kireüboff, 

Sien  Wasser:  kein  Compromiss  mit  irgend  einer  gegnerischen  Ansicht, 
wenn  es  noch  irgend  wo  eine  solche  gibt,  Äbsagung  selbst  von  den 
eigenen  früher  gehegten  Zweifeln  gegen  die  Theorie  der  Ovisten.     Was 
könnte  mehr  wirken,  als  wenn  ein  Haller  selbst  sagte,  was  er  früher 
gegen  die  Theorie  der  Evolution  vorgebracht  habe,  wie  z.  B.  die  Ün— 
äimiidikeit  des  Pdtüs  im  Vergleich  mit  dem  ausgewachsenen  Thiere, 
beweise  nur  für  dieselbe  (ib.  p.  448),  denn  eben  weil  nicht  gleich  alle 
Theile  des  sich  evolvirenden  Thieres  in  die  Erscheinung  träten ,  mtlsse 
der  Pdlus  nothwendig  missgestaltet  aussehen.    Wenn  der  eine  Forseber 
behaupte,  zuerst  entstehe  das  Herz,  der  andre  dasselbe  vom  Hirn ,  ein 
dritter  dasselbe  vom  Hirn  und  Rückenmark  behaupte ,  so  sollten  sich 
doch  diese  MSinner  bescheiden ,  dass  sie  eben  diese  Theile  »zu  der  Zeit 
mit  Augen  gesehen,  wo  die  übrigen  Theile  verborgen  waren«,  die  aber 
in  Wahrheit  mit  jenen  seit  dem  Schöpfungstage  coexistirt  hätten.  Dabei 
schrickt  Haller  indessen  auch  vor  keiner  Gonsequenz  zurück,  die  sich 
mit  Nothwendtgkeit  aus  dem  Leugnen  des  irdischen  Werdens  ergab. 
So  behauptet  er  die  (nur  latente)  Existenz  des  Geweihes  beim  eben  ge- 
borenen Hirsch,  des  Bartes  beim  Knaben,  alles  dies  mit  derselben  Zu- 
versichtiichkeit  wie  das  Dasein  des  Darms  öder  der  Nieren   und  des 
Herzens  zur  Zeit  des  vielleicht  noch   allein   sichtbaren  Rückenmarks. 
Ausgehend  von  der  Annahme  eines  6000jährigen  Bestandes  von  Erde 
und  Menschheit,  einer  30jährigen  Durchschnittsdauer  des  Menschen- 
lebens und  einer  Kopfzahl  von    1000  Hillionen  gleichzeitig  lebender 
Menschen,  berechnet  er  endlich  das  Minimum  der  von  Gott  auf  einmal 
erschaffenen  Menschen   auf  ^00,000,000,000,   wobei   er  es  dem  Ge- 
schmack der  Zeit  überlässt,  sich  dieselben  entweder  als  Animalculist  in 
Adams  Hoden  oder  als  Ovist  iti  Eva's  Eierstock  zu  denken  (ib.  p.  150). 
All  solche  Gedanken  vvaren  aber  noch  vfelmehr  der  Wissenschaft 
nachtheilig  als  einfach  unnütz.    Was  nämlich  musste  die  Folge  da- 
von sein,  dass  Haller  in  dem  Zeugungsact  nichts  anderes  als  eine  »In- 
stimulation«  sah,  durch  welche  im  weiblichen  Körper  irgend  ein  Graaf- 
sches  Bläschen  des  Eierstocks  einen  Riss  bekam  und  durch  diesen  Riss 
in  unsichtbarer  Kleinheit  das  Junge  in  den  Eileiter  und  weiter  in  die 
Gebärmutter  schlüpfen  liess ,  um  sich  da  endlich  zur  Sichtbarkeit  zu 
evolviren?   Ganz  abgesehen  von  der  hierin  ausgesprochenen  Unklarheit 
über  dais  Verhältniss  des  Eies  zum  GRAAp'schen  Bläschen  und  der  fal- 
sdien  Beziehung  vom  Loslösen  des  Eies  zur  Begattung,  was  ja  forlge- 
setzte Untersuchungen  so  wie  so  berichtigt  haben  würden,  lag  hier  doch 
unverhttllt  die  Ansicht  zu  Tage:  es  sei  eineThorheit  nach  dem  Werden 
zu  fragen.    Wo  man  aber  nicht  nach  dem  Werden  eines  Dinges  fragt, 
schliesst  man  jede  wirkliche  Erkenntniss  desselben  aus.  Die  Evointions- 


G«8|f»rJ-ri04ri(UWo»r.  SM 

Theorie  erreichte  in  Halusr's  Physiologie  ihren  uQzweideutjgsteiii  Aus** 
druck   und  bewies  zugleich   ihre  eigene  Unmiiglichkeit.     Denn  eine 
Theorie  soll  wissenscbafUich  erkliirep,  uiijLhin  den  Ursprung  der  Objecto^ 
um  die  es  sich  handelt,  aufdecken;    und  diese  Theorie  bewies  oder 
glaubte  doch  zu  beweisen ,  dass  dieser  Ursprung  ausserhalb  aller  .Er-^ 
fahrung  d.  h.  ausserhalb  der  Naturwissenschaft  läge.  Dobel  konnte  die 
anatomisch^  Forschung   die  allervorzüglichste  sein^  sie  brachte  doeh 
nur  Material  für  eine  wirkliche  Erklärung  des  Organismus,  diente 
mithin  einer  zukünftigen  Zeit,  der  Wissenschaft  auf  ihrem  gegenwär««- 
tigen  Standpuncte,  gegen  dessen  Erreichung  sie  aber  gerade  ankämpfte. 
Nicht  genug  jedoch,  dass  man  in  dem  blossen  Wahn  begriffen  war, 
eine  Theorie  der  organischen  Bildung  zu  besitzen ,   wahrend  man  den 
Organismus  doch  nur  »wie  die  Wilden  ein  Linienschiffa  betraohtete,  — c 
es  gab  die  bodenlos  luftige  Hypothese  auch  Anlass  zu  ganz  verfehlteo 
Erklärungsversuchen.   Abstand  eines  ^  grossen  Meisters,  wie  Hallba 
war,  von  jeder  Erklärung  konnte  dem ,  der  nicht  an  die  absolute  Un- 
möglichkeit einer  solchen  glaubte,  gerade  ein  Sporn  sein ,  sie  lu  erfcuv 
sehen,  aber  eine  Erklärung,  die  scheiobar  rationell  wtrkliehe  und  ver- 
meintliche Erfabrungsthatsachen  zu  einem  Trugsystem  vereinte,  dessen 
eigentliche  Fundamente  in  dem  Noli  me  tangere  jenes  Mysteriums  der 
Evolution  sich  unnahbar  dem  kritischen  Blick  entzogen,  hätte  auf  fernste 
Zeiten  die  Wissenschaft  verwirren  können.    Ein   solches  Trug&ystein 
war  aber  das  der  Lufi«a^schen  Prolepsis,  dessen  evolutionistisohe  Basis 
meist  verkannt  worden  ist  1).    Hier  führte  man  den  ganzen  Entwick'^ 
lungsvorgang  der  Pflanze,  nämlich  der  kormophytischen,  auf  das  blaltr* 
bildende  Emporschieben  der  concentrischen  Gylinder  von  Rinde,  Bast, 
ilolz  und  Mark  des  Stengels  zurück,  die  sich  je  nach  dem  stärkeren  oder 
schwächeren  Zutritt  des  Nahrungssaftes  in  blosse  Laub-,  oder  Laub- 
und  BlUthenblätter  verwandelten,  und  zwar  ktzteres  einfach  dadurch, 
dass  die  inneren  (eigentlich  für  eine  ganze  Reihe  künftiger  Jahrgänge 
bestimmten)  Blatigebilde  gerade  bei  magerer  Nahrung  (in  unvoUkom^ 
mener  Form)  anticipirt  würden.   Beweis  für  das  Vorhandensein  einer 
Knospe  in  jeder  Blattachsel  war  ja  bei  der  Voraussetzung  eines  jedem 
scheinbaren  Werden  vorausgehenden  unsichtbaren  Seins  die  unleugbare 
Fähigkeit  jeder  Blattachsel ,  eine  Knospe  hervorzutreiben ;  jedes  Blast 
derselben  musste  wieder  seine  Ac^iselknospe  haben  und  so  im  Sinne  der 
Einschachtelungstheorie  weiter.   Dem  Axiom  des.  unsichtbaren  Daseins 
unzähliger  Knospen  in  deq  Blattachseln  (nicht  nur  der  sichtbaren  sondern 


4)  Vergl.  LiMiri,  Syst.  hat.  (edU.  Xlf)  11,  p.  9.   Linn£.  Ainoenit.  acad.  IV,  pp. 
»SS  ff.  «a4  VI*  pp.  StB.  140  f. 


a06  Aiffed  tlMbhdf^ 

attcH  der  unslohiharM  Blattef)  ftlgt<^  maki  dartiti,  litn  j^urnZM^ebk  %n  ge- 
langen, die  gewaltsame  Behauptvitig  zu,  dass  utiter  den  bestimmtet)  Er- 
nahrutigsverhilUnlssen  die  Anticipirung  von  den  Knospen  der  eigentlich 
der  Zukunft  vorbehaltenen  Jahrgänge  nur  jeeinBlatt  zum  Torschein 
kommen  lasse ;  man  musste  sich  auch  bei  Pflanzen  mit  spiraliger  oder 
deeussirter  Blattstellung  cur  Erzeugung  etwa  einer  pentamerenAlsineen- 
bittthe  Knietet  einmal  eineKreisstelhing  von  je  SLaubblattem  denken, 
die  ihre  eigentlich  ntt€fest}ahfigen  Acfaseiknospen  in   blosser  Blsrttfonn 
und  zwar  nieht  zu  Laubbtmtem  sondern  zu  Deckblättern  (Bracteen)  ge- 
formt verfrüht  vorseböben)  und  hatte  nun  die  Freiheit  weiter  zu  schlies- 
sen,  dass  bei  den  abnormen  Zustanden  einer  solchen  DProlepsis«  aus 
der  Achsel  der  Bracteen  die  Laubblattknospen   emes    zweitfolgenden 
Jahres  als  blosse  Pseudoknospen  in  der  Form  der  Kelchblatter  faervor- 
wttchsen,  die  des  3.  Jahres  als  Kronen-^,  die  des  I.  als  Siaub-,  die  des 
i^.  aU  FruohtUtttter.  So  war  denn  jede  BHlthenpflanze  ein  thats^tchlfcher 
Beweis  der  Evoluiiensibeone  geworden :    beim  Schmetterling  war  e.s 
sobwerer  die  Elemente  seines  Körpers  in  der  Raupe  nachzuweisen,  da 
sie  den  latenten  Zustand  enst  überwanden,  w^nn  dieRaupenbattt  fängst 
ansgeflBOgen  war,  —  bei  den  Gewächsen  aber  konnte  sich  ja  jeder 
tyflerzeugen,  dass  der  bunte  Schmetterling  derBItlthe  aus  seiner  grflnen 
Raupeühaut  ganz  aUmählich  hervortrat,  im  Larvenzustand  der  Vegetation 
also  sicberücb  die  Pflanz  das  Image  der  Bltlthe  lange  vorher  schon  ge- 
borgen hatte.    Durelf  äussere  Umstände  allein  war  es  bedingt,  ob  sieb 
die  Stengelinternodien  ausdehnten  ond  Jahr  für  Jahr  ihre  Knospen  in 
der  Totalität  der  Blattgebilde  ans  Tageslicht  brächten,  oder  ob  jene  Pro- 
lepais  die  hUemodien  eusammengezogen  liess,  und  nur  je  ein  Vtaii  aas 
jeder  Knospe,  aber  bei  dieser  Verfrühung  in  der  merkwtirdigen  üm- 
wioMldung  zu  einem  BHlthenblall  dem  Auge  sich  zeigte.     Man  bildete 
sich  wirklich  ein^  diese^Bfetamorphose«  damit  auf  ihre  Ursachen  zurück- 
geführt z«  hubeii)  und  man  hatte  allerdings  die  beste  Ausrede  für  den 
Fi^  des  völligen  Unterbleibens  der  Blüthenbildung   bei   reichficherer 
Nahrungsswfuhr,  —  dann  sohob  sich  eben  nieht  simultan  der  Schmetter- 
ling, sondern  suecessiv  Raupe  auf  Raupe  Jahr  für  Jahr  hervor;  ein  Ge- 
genbeweis aber  gegen  daS'  latente  Vorhandensein  des  einen  oder  des 
anderen  lag  niemals  vor^ 

Zw  njtanlicbm  Zeit  hatten  also  die  bedeutendsten  Forscher  ^fdeni 
fiebiet  der  Pfleinzen^  und  Thiernatur  die  Wissenschaft  in  bed^kHcber 
Weis»  gefithrdet:  HikiLi«  hatte  ihr  mH  der  Ftk^e  nach  dem  Werden 
gleichsam  den  Herzschlag  verboten,  LncNfi  eine  Theorie  geschaffen,  die 
mit  trügerischem  Gaukelspiel  eine  gewisse  Befriedigung  des  dem  Men- 
schen so   tief  eingeprägten  Bedürfnisses,  die  Ursache   der  Dingo  t^ 


CMpMfiieiikkWoiff/'  aar 

socbM,  dadureb  erkaufte,  daas  sie  die  geseUinSfiai(|fyn  Gruodlage«  dal* 
l)oiaoiscben  Morphologie  aod  Anatomie  in  schwankende  Bewegmig 
hrackte. 


Wolffs  Gegenbeweis. 

Es  is4  eine  merkwürdige  Thatsacke,  dass  die  gnttsst^A  Umwäkungen 
in  der  Geschichte  der  menschlichen  Geistesentwickiung  oftdarch  bloase 
Erneuerung  alibekaiuKer  Sätze  herbeigeführt  werden ,  durdi  Zurück- 
gehen auf  eine  für  jrrthttmUeh  gehaltetie  Wahrheit,  die  einst  naiv  hin-» 
genommen,  dann  verdammt  worden  und  nun  plötzUoh  duM^h  den  Er«* 
weis  ihrer  RechtsbesUlndigkeit  sogar  eine  neue  Epoehe  heraufführt,  i^ 
tief  ist  daa  naiv  dogmatische  und  das  kritische  Fürwahrhalten  verschieden. 

Die  Alten  hatten  langst  das  Leben  als  wirtLÜcfae  Veründeruag ,  das 
Weitlen  als  wirkliche  Entstehung  von  etwas  Neuem,  vorher  niphtDa^ 
gewesenem  begriflen,  und  dooh  ist  nicht  AkiSTornss ,  sondern  W^Lff 
der  Vater  der  EntwidüuBgsgeschicbte:  Aaistotilbs  behauptete, 
WoLrp  bewies  das  Werden. 

Was  Kant  für  die  Philosophie,  ist  Wolpp  für  die  Physiologie :  der 
kritische  d.  h«  der  aUekn  den  Namen  verdienende  Begründer.  Man 
hat  viel  vor  Kamt  philosophiri  Und  die  Ideen  früherer  Systeme  sind  uns 
von  hohem  Werthe,  aber  eben  dass  sie  es  noch  für  uns  sind,  dass  man 
mit  HtJiu's  völlig  berechtigtem  Zweifei  an  der  Zulässigkeit  der  Ideen- 
Verbindung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  nicht  den  Schritt  unab^ 
sehbarster  Tragweite  that  und  das  Streben  nach  philosophisdier  Er-** 
kenntniss  als  Unsinn  bei  Seite  that,  —  das  verdanken  wrtr  Kant,  der 
den  Beweis  von  der  Müglichkeit,  von  der  Thatsache  der  mensdi liehen 
Erkenntniss  im  hüchsten  Sinne  des  Worts  führte.  Wir  kOnneaWoLvr's 
Bedeutung  für  die  Wissenschaft  vom  organischen  Leben  nicht  genauer 
bezeichnen,  als  wenn  wir  von  ihm  das  Analoge  sagen :  er  begründete 
die  Lehre  vom  Werden,  indem  er  die  Thatsache  des  Werdens  bewies^ 
Man  stosse  sich  nicht  an  unsre  nothwendig  bildliche  AusdrudEeweiae  : 
er  befindete  die  Ittngst  vorhanden  gewesene  Lehre ,  nicht  etwa  von 
neuem,  nein  ganz  im  eigentücben,  jede  Coneurrenz  ausschliessenden 
Sinne«  Wohl  sollte  man  meinen,  die  Frage  nach  der  Wirklichkeit  des 
Objects  müsse  ^er  Untersuchung  des  Objeets  vorangehen.  Aber  das 
ist  einmal  nicht  der  Gang  menschlicher  Geistesregungen ;  die  dogm»« 
tische  Periode  Usst  tausend  Fragen,  vieUeioht  auch  gltteklich  erledigsn, 
ehe  die  logisch  erste  daran  kommt  Dass  jedoch  die  Erledigung  der  letz- 
teren deshalb  nicht  eine  nutzlose  Nachträglichkeit  ist,  beweist  das  K  7. 
und  18.  Jahrhundert  durch  seine  Theorie  von  der  Prttdelineation.    Der 


^Og  AlfM  kirdihoä; 

Baum  des  physiologischen  Wissens  war  im  Allertbom  gleichsatii 
verwildert  gewachsen ,  nach  der  Winterruhe  des  Mittelalters  hatte  er 
frische  junge  Triebe  bekommen ,  und  doch  würde  er  nur  noch  kurze 
Zeit  ein  wahres,  dann  nur  ein  Scheinleben  gefristet  haben ,  wenn  seine 
Wurzeln  in  dem  Boden,  in  den  sie  sich  tiefer  und  tiefer  einsenkten  und 
in  dem  sie  mit  Naturnothwendigkeit  absterben  mussten,  nicht  neue 
Quellen  zuströmender  Nahrung  durch  Annahme  einer  neuen  Bichtung 
gefunden  hallen. 

Dass  ihnen  Wolff  diese  neue  Richtung  gab,  dass  er  sie  in  die 
Lage  brachte  nun  den  Baum  so  lange  ununterbrochen  zu  nähren ,  als 
denkende  Menschen  auf  Erden  leben  werden,  —  das  ist  jetzt  auch  im 
Ganzen  wohl  unbestritten.  Und  doch,  waltet  über  Wolpf's  Werken  seit 
Alters  ein  eigenthttmlicher,  die  Berechtigung  solchen  Lobes  nicht  recht 
erleuchtender  Unstern.  Botaniker  haben  Wolff,  wie  schon  Scblsidbii 
klagte,  fast  nie  gelesen,  Zoologen  kennen  ihn  wesentlich  als  den  Ent- 
decker der  Darmbildung  bei  den  W^irbelthieren ,  Dank  dem  Ueber- 
Setzungsverdienst,  das  sich  der  jttngereMKCKBL4842  um  diebelreffende 
akademische  Abhandlung  Wolpf's  erworben  hat;  für  jene  im  Allge- 
meinen hingestellte  Grösse  citirt  man  die  berühmte  Theoria  Generationis, 
gewöhnlich  aber  ohne  sie  zu  lesen ,  wahrend  man  mit  dem  eigentlich 
beweisenden  deutschen  Werk  desselben  Titels  consequenter  ver- 
fahrt: das  liest  man  weder,  noch  citirt  man  es. 

Es  sei  daher  hier  versucht ,  in  kurzen  Zügen  die  Methode  dieser 
epochemachenden  Beweisführung  zu  diarakterisiren ,  durch  die  Wolbf 
ahnlich  wie  Lbssing  eine  viel  höhere  Bedeutung  hat  als  durch  die  er- 
zielten Forschungsre^ultate,  obwohl  letztere  ihm  als  echtem ,  nie  vom 
festen  Boden  der  Empirie  loslassenden  Naturforscher  die  unentbehrlichen 
Waffen  in  die  Hand  gaben.  Eine  ins  Einzelne  gehende  Wiedergabe 
s^ner  Generationstheorie  d.  h.  Entwicklungslehre  des  höheren  Pflanzen- 
und  Thierorganismus  dürfen  wir  hier  um  so  eher  unterlassen ,  als  die 
heutige  Physiologie  des  Wtrbelthierkiji'pers  die  wichtigsten  hierhin  ein- 
schlagenden WoLFP'schen  Entdeckungen  in  glücklicher  Portbildung  in 
sich  trägt,  die  heulige  Botanik  zwar  in  ähnlicher  Weise  Sgrlbidiii's 
statt  Wolff 's  Entdeckungen  fortentwickelt,  Wolff's  Pflanzenentwick- 
lungsgeschichle  aber  anderen  Orts  von  uns  dargestellt  worden  ist  ^). 

In  der  Theoria  Generationis  sehen  wir  den  jugendlichen  Forscher 
in  feierlichem  Ernst  das  Werden  von  Pflanze  und  Thier  mit  Wort  und 
Bild  darstellen,  in  festgeschlossener  logischer  Schlusskette  deductiv  and 


4)  lü  der  Eingangs  erwähnten  Schrift  über  die  »Pflanzen- Metamorphöse  bei 
Wolff  und  bei  Gobthe  « 


Cispar  ttwinA  W^lUfT  20^ 

inductiv  Satz  fOir  Salz  begründen,  ohne  den  ruhig  objectiven  Ton  einer 
sich  bloss  in  den  Gegenstand  vertiefenden  DarslelJung  durch  pole- 
mische Aus&lle  gegen  seine  Gegner  zu  unterbrechen.  Man  würde  aus 
den  Worten  der  »dissertation  profonde«,  wie  sie  der  Eloge  der  Peters- 
burger Akademie  nannte,  die  Existenz  der  Prädelineationstheorie  gar 
Hiebt  ahnen.  In  der  deutschen  »Theorie  von  der  Generationa  tritt  da- 
gegen WouPF  bereits  im  Bewusstsein  des  Triumphes  nicht  nur  mit  ge- 
wandterem Darstellungstalent  und  wichtigen  neuen  Entdeckungen  an 
sein  Werk  von  Neuem  heran,  sondern  er  gebt  auch  der  gegnerischen 
Theorie,  die  soeben  in  Bonnbt  und  Hallsr  mit  wttnschenswerther  Ent- 
schiedenheit geredel  hatte,  muthig  zu  Leibe. 

Er  ist  bei  aller  Hochachtung  vor  der  wissenschaftlichen  Grosse 
ÜAtLBt's  aller  frommen  Verehrung  des  vermeintlichen  Mysteriums  un- 
endlich fern,  er  gibt  vielmehr  seinem  natürlichen  Widerwillen  gegen 
die  unnatürliche  Hypothese  herzhaftesten  Ausdruck.  »Wie  sehr,  sagt  er, 
ändert  sich  nicht  dadurch  der  Begriff,  den  wir  von  der  gegenwärtigen 
Natur  haben,  und  wie  viel  verliert  er  nicht  von  seiner  Schönheit I 
Bishero  war  sie  eine  lebendige  Natur,  die  durch  ihreeigene 
R  rufte  unendliche  Veränderungen  herfUrgebracht.  Jetzo  ist  sie  ein 
Werk,  welches  nur  Veränderungen  herfürzubringen  scheint,  in  der 
That  aber  und  dem  Wesen  nach  unverändert  so  liegen  bleibt,  wie  es 
gebauet  war,  ausser,  dass  es  allmählich  immer  mehr  und  mehr  abge- 
nutztwird. Zuvor  war  sie  eine  Natur,  die  sich  selbst  destruirte,  und 
sich  selbst  von  .neuem  wiederschuf,  um  dadurch  unendliche  Verän- 
derungen herfürzubringen,  und  sich  immer  wieder  auf  einer  neuen  Seite 
zu  zeigen.  Jetzo  ist  sie  eine  leblose  Masse,  von  der  ein  Stttck  nach 
dem  andern  herunter  fällt,  so  lange  bis  der  Kram  ein  Ende  hat.  Eine 
solche  elende  Natur  kann  ich  nicht  ausstehn, unddieSamen- 
tbierchen,  in  Ihrer  Hypothese  betrachtet,  sind  nicht  ein  Werk  des  un- 
endlichen Philosophen,  sondern  sie  sind  das  Werk  eines  Lbuwkii- 
hoick's,  eines  Glasschleifers.«  Das  sind  die  schonen  Worte,  die  er  an 
seinen  (beim  Druck  der  Schrift  bereits  verstorbenen)  Freund  Gvstat 
Matiius  Lüdolp  richtete,  in  dessen  personlicher  Anrede  die  geistreichen 
»zwo  Abhandlungen«,  die  das  Büchlein  bilden,  wie  eine  Privatnnterhal- 
tung  (ohne  Scheu  vor  Berolinismenj  sich  ergehen. 

Darauf  führt  er  aus,  wie  unwahrscheinlich  die  {lypothese  dadurch 
erscheinen  müsse,  dass  in  dem  übrigen  Naturleben  kein  einziger  phy- 
sikalischer oder  chemischer  Prooess  aufzufinden  sei ,  der  nur  entfernt 
auf  ein  erst  uiisichü>ares,  dann  sichtbares  Sein  deute;  wohl  sei  zu  Wol- 
ken, Regen  und  Schnee  der  Stoff  vorher  da,  aber  der  Stoff  des  Wassers 
sei  so  wenig  die  Wolke,  als  diese  der  Regen  oder  Schnee,  den  sie  er- 

fd.  IV.  2.  <4 


S(tO  AHM  KfftAilioir, 

zeuge,  30  selbst  Schwefelsäure  —  setzt  e*- Iffeflferid  liitoz*  —  karm  ^^hl 
zar  ProducUon  von  Schwefel  dienen,  aber  sie  ettlhall  ihn  doch  tifcht 
in  dem  durch  seine  bestimmten  MerkmÄle  zu  charakterfesirenden  Weseo, 
folglich  gar  nicht: 

Und  nun  rückt  er,  auf  die  Knospen^ntfaituwg  der  GcwJIchfee  über- 
gebend, der  Entwirrung  det  unklaren  Gedankenassocialiotien  sehon  sehr 
nahe :  freilich,  sagt  er,  existirt  hier  eine  Entfaltung,  eine  Evdtelion  jün- 
gerer Gebilde  aus  der  bergenden  Hülle  älterer  hervor ,  aber  man  darf 
nie  diese  »Entwicklung  in  der  Natur«  mit  der  »Entwickluttg  in  der  Hy- 
pothese« verwechseln;  zum  Schutz  d^r  zarten  Neubitdutigen ,  die 
sonst  allen  Unbilden  l^loss  gesteift  warfen,  dient  die  Einschadlteiung,  die 
bei  kfeinen^  Thier  in  solcher  Weise  sich  findet  (dd  hier  Eischale  oder 
Uterus  schützt) ,  die  selbst  den  Faraen  mit  ihrer  Enlrollung  (»Emwick- 
long«  im  Wörtlichsten  Sinne!)  fehlt,  da  hier  die  Schneckenwindung  des 
Wedels  nebst  der  seiner  Seitenfiedern  den  jedesmal  jüngsten  Theil  selbst 
kinge  genug  besdiirmt.  Wer  darf  schliessen ,  weil  aus  Kttospe  oder 
Samen  (vielmehr  dem  dVirin  befindlichen  Keim)  jtttigere  Thieile  sich  er- 
heben, diese  ewig  vorhanden  gewesen  seien?  Das  wäre  derselbe  hals- 
brechende Schluss ,  als  wenn  Bonnbt  auf  die  Rnospeneinschlüsse  der 
HyacinthetYzwiebel  tjusqu'ä  quatri^me  gen^ration«  mit  den  Worten  hin- 
weist: da  sieht  man  die  Evolution  vor  Aogen. 

Als  Hallbh  1760  in  defi  Gottinger  Anzeigen  Wolm^'s  Dissertation 
recensirte,  ftmd  er  ganz  richtig  heraus,  dass  der  Verfasser  im  botanischen 
Thell  seiner  Arbdt  besonderes  Gewicht  auf  den  Nachweis  lege,  die  Ge- 
fässe  seien  im  jugendlichsten  Zustand  eines  Pflanzentheils  »nicht  zu 
klein  oder  zu  durchsichtig,  sondern  gar  nicht  vorhanden.«  Denn  in  der 
That  ist  diese  erste  Thalsache,  die  die  Theoria  Generationis  empirisch 
feststellt,  gleich  die  entschiedenste  Widefh^gung  des  Satzes  von  Halibe  : 
»Nulla  est  epigenesis.«  Der  junge  Stengel,  das  junge  Bl^tt,  nicht  mehr 
zu  klein  um  selbst  in  allen  seinen  Theilen  deutlich  gesehen  zu  wenJen 
zeigte  nichts  als  rundliche  Zellen  unter  dem  Mikroskop,  die  nachher 
Vorhandenen  GefilsKe  konnten  sich  hier  unmöglich  dem  Blick  entzogen 
haben,  mussten  also  durch  fortgesetzte  Sa flstrOmung  nachträglfch 
eitstanden  sein. 

W^OLFp's  schöne  Untersuchung  der  Blattbildung  beim  Weisskohl,  der 
Blüthetibildung  bei  def  Bohne  referirt  Hallbr  ohne  irgend  weiche*  Ein- 
wurf: das  ganze  Pflanzenleben  war  auf  Vergrösserung  und  Verzweigung 
von  Stengel  und  Wurzel,  sowie  auf  Bildung  von  Laub-  und  (metamor- 
phosirten)  Blüthenblättem  zurückgeführt,  der  Ursprung  all  dieser  Theile 
in  unendlich  kleinen  Hügel-  oder  Conusformen  genau  aul^efasst,  aud^ 
das  Auftreten  fernerer  Hervorwachsungen  wieder  aus  ihnen,  z.  B.  der 
Zähne  aus  dem  Blattrand,  vortrefflich  gezeichnet  und  besdirieben,  — 


aber  regte  siob  dedn  nicht  bM  Hallbr  der  Argwohn ,  das  sei  Alles  nur 
ein  Hervol*sdiieben  in  di«  Si^bnrkeit  von  latiier  Dingen,  die  vorher  im 
Stengel  ed^r  in  der  Keimanlage  unsichtbar  vorhanden  gewesen,  selbst 
die  OeAlBSe  nicht  erst  nach  der  rein  oellulosen  Periode  neu  gebildet, 
sondern  nur  da  erst  durch  Eintreten  der  Nahningsflttssigkeit  sichtbar 
geworden,  vorher  BusammensehUessende  R(^ren,  dünn  wie  das  feinste 
Haar,  dabei  völlig  durchsichtig  und  ohne  Lumen  ? 

Er  gesieht  uns  diesen  Argwohn  erst  beim  Uebergang  auf  den  zoo- 
logischen Theil  des  Werkes.  DafaeSsst  es  auf  den  ersten  Zeilen:  »Beider 
Erzeugung  derThiere  mussman  wohl  auf  einen  Grund- 
satz merlien,  der  gleich  am  Anfange  steht,  und  nach  wel- 
chem dasjenige  nicht  da  ist,  was  man  nicht  sieht.«  Wie 
unstatthaft  aber  dieser  Satz  sei,  werde  ein  geObter  Mikroskopiker 
«umal  von  den  GekrOseadem  des  Frosches  wissen ,  die  sich  selbst  bei 
Anwendung  chemischer  Reagentien  durch  Farblosigkeit  und  Durchsich- 
tigkeil dem  Blick  des  Beobachters  entzogen. 

WoLFP  blieb  indessen  völlig  Herr  der  Situation.  Sdiarfer  Logiker, 
wie  er  war,  gestand  er  sofort  ein,  dass,  wenn  er  diesen  Satz  zum 
TrOger  seiner  Theorie  gemacht  hatte ,  «nicht  Salomons  Weisheit«  ihm 
helfen  würde,  sein  System  kritisch  zu  rechtfertigen.  In  völliger  Ge- 
mtlthsruhe  legt  er  selbst  die  Gründe  aus  einander,  warum  jener  Satz 
einen  Unsinn  enthalte.  Ganz  anders  gestalte  sich  jedoch  die  Sache, 
wenn  man  daraus  den  Satz  mache,  den  er  wirklich  zum  Leitstern  seiner 
Untersuchungen  gewählt  habe :  ein  Ding  von  bestimmten  sinn^ 
liehen  Merkmalen  Ist  da  nicht  vorhanden,  wo  man  diese 
Merkmale  nicht  durch  die  Sinne  wahrnimmt.  Ganz  schalk-^ 
haft  belegt  er  diesen  echten  Naturforscfaergrundsatz  mit  den  populärsten 
Nutsanwendttngen:  »Auf  diese  Art,  sagt  er,  kann  ich  zum  Esempel  sehr 
leidit  beweisen,  dass  in  meinem  Geldbeutel  kein  Friedriehsd'or  sey; 
dass  Doris  jetzo  nicht  in  meiner  Stube  sey.  Sie  sehen  leicht,  alle  diese 
bestimmten  Dinge  sind  mit  gewissen  Erscheinungen  verbunden,  die 
ihrer  Natur  nach  nicht  verborgein  bleiben  kOnncfi.  '  Den  Friedrichsd^or 
ntüile  man  i»  Geldbeutel  sehen  und  fühlen  können ,  wenn  er  darin 
wäre;  und  wenn  Doris  hier  w^e,  so  würden  wieder  aiMlere  Erschein 
mmgen  statt  finden.« 

Se  enthüllt  er  halb  scherzend  die  Waie,  die  der  PrNdelineatton»* 
ehimllra  den  Todesstoss  versetzen  musste.  Freilich  bedurfte  es  müh- 
samer Stadien  auf  dem  noch  so  ^den  Felde  der  embryonalen  Entwiok*^ 
Imgsgeachichte ,  denn  nor  in  den  frdben  Lebensmomenten  konnte  er 
jenen  Gmndsalz  zum  Seweis  eines  früheren  NichtexielirenB,  4^ines  erst 
spttteren  Werdens  und  somit  zum  endlich  entaeheidenden  Siege  an^ 

44* 


212  Alfred  KiKhkoi; 

wenden.  Es  war  schwerer  die  Abwesenheit  des  Herz^is  im  soeben 
erst  angelegten  Embryo  des  Hühnchens  zu  entdecken  als  —  Doris'  Ab- 
wesenheit zu  beweisen.  Und  doch  gelang  es  vortrefflich.  Bekannllidi 
zeichnet  sich  die  embryonale  Entwicklung  der  Wirbelthiere  überhaupt 
durch'  die  so  frühe  Ausbildung  des  Herzens  aus ,  und  es  war  deshalb 
für  WoLFF,  der  sich  nach  der  Sitte  der  Zeit  wesentlich  auf  die  Unter- 
suchung dieses  Entwicklungstypus  beschrankte,  ein  wahres  Meister- 
stück ^  Haller's  Lehre  zu  stürzen,  dass  die  ganze  »Evolution«  eines 
Thicres  darauf  beruhe,  dass  in  dem  unsichtbar  kleinen  und  durchsich- 
tigen Pünctchen  auf  der  Aussenseite  des  Dotters  das  Herz  zu  pulsiren 
anfange  und  dadurch  sich  alsbald  zum  Centrum  eines  schon  wohl  or- 
ganisirten  Ganzen  mache,  da  es  nur  gelte  die  »zusammengefallenen« 
Häute  der  längst  vorhandenen  Gefässe  auszudehnen ,  die  dann  durch 
das  Roth  der  einströmenden  Blutkörperchen  sichtbar  würden.  Erst 
während  seiner  letzten  Berliner  Jahre  machte  Wolfp  die  Entdeckung, 
dass  in  der  allerersten  Zeit  der  Bebrütung  des  Hühnereis,  nicht  nur 
neben  der  Wirbelsäule  mit  ihrem  Rückenmark  kein  Herz  vorbanden 
sei,  während  der  Embryo  schon  stark  ernährt  werde,  sondern  dass 
auch  die  Zusammenziehung  des  kaum  gebildeten  Herzens  anfangs  eine 
ganz  langsame  sei,  das  Blut  aber  unabhängig  davon  seinen  Lauf  voll- 
führe, längst  ehe  das  Herz  »der  hüpfende  Punct«  geworden.  Damit  war 
jeder  Widerspruch  aus  dem  Felde  geschlagen :  sein  Mikroskop  war  nicht 
unfähig  gewesen,  das  Herz  zu  sehen,  sondern  im  Gegentheil  völlig  aus- 
reichend das  Herz  in  einem  der  Hypothese  Halljbr^s  widersprechenden 
Zustand  zu  sehen;  dabei  tauchte  es  als  zelliges  Körperchen  auf  zu  einer 
Zeit,  als  noch  gar  keine  Brust  vorhanden  war,  wurde  nachweislich  erst 
später  in  den  Brustkasten  vor  dessen  Schliessung  hineingezogen ,  kurz 
es  war  nicht  ein  unsichtbarer  Mittelpunct  des  Embryo,  sondern  es 
wurde  erst  mit  der  wachsenden  Selbständigkeit  des  werdenden  Thieres 
dessen  Centralorgan. 

Einen  speciellen  echt  evoluUonistischen  Einwurf  hatte  Hallbr  gegen 
Wolpf's  Entstehun^gsgesohicfate  der  netzförmigen  Nabelgef^sse  in  der 
area  umbilicalis  erhoben.  Hallsr  glaubte  natürlich  an  das  unsichtbare 
Dasein  auch  dieser  Netzgefässe,  die  nur  auf  das  Erwadien  des  Herz* 
pulses  warteten ,  um  durch  eingepumpte  Säfte  in  die  Erscheinung  zu 
treten.  Wolff  hingegen  hatte  genau  gesehen,  wie  in  der  ursprünglich 
homogenen  körnigen  Masse  der  afea  Trevnungen  anfangen ,  die  mehr 
und  mehr  zur  Verwandlung  derselben  in  lauter  ungleiche,  drei-  oder 
mehreckige  Inseln  führen,  zwischen  denen  eine  flüssigere  Materie  eine 
Art  Netz  bildet.  Die  gröber  kömige  weissliche  Masse  sah  er  zuletzt  die 
bbssen  Zwischenräume  eines  Systems  von  Geftasen  bilden ,  die  sich 


Casptr  Fri^i6li  Wolff.  2 1 3 

mit  dduUichen  Wandungen  versahen  und  so  schliesslich  das  Netz  der 
Nabdgefilsse  farmirten.  Es  war  schon  eine  Entstellung,  wenn  Hallei 
diese  Darstellung  insofern  billigte,  als  rede  sie  von  worgezeichneten 
Wegen«  in  der  area ;  das  erinnerte  schon  zu  sehr  an  Prädelineation, 
und  dazu  fügte  er  noch  den  Zweifel,  ob  es  zur  Evidenz  zu  bringen  sei, 
dass  diese  »Wege  zwischen  dem  körnigten  Wesen«  wirklich  ursprüng- 
lich ohne  Wandung  seien.  —  Da  bewahrte  sich  denn  WoLpr^s  kritischer 
Grundsatz  in  aller  nur  wttnschenswerthen  Scharfe:  nicht  gassenartig 
waren  in  der  area  »Wege«  aufgetaucht,  sondern  es  hatten  sich  blosse 
Laounen  gebildet,  die  kein  Merkmal  mit  fertigen  Gefassen  gemein  hatten, 
folglich  auch  keine  Gef^sse  in  diesem  Primitivzustand  waren;  ihre  Com- 
munication  hatte  sich  nicht  dem  Auge  entzogen,  sondern  ihre  ursprüng- 
liche Isolirtheit  dem  Auge  ganz  klar  gezeigt;  die  Wandungen  traten 
auch  nicht  in  krystallklarer  Durchsichtigkeit,  sondern  in  recht  äugen-' 
fUliger  opaker  Derbheit  auf;  endlich  war  wegen  der  anfanglichen  Zu- 
sammenhangslosigkeit  der  Lücken,  die  sogar  nach  dem  Amnium  zu 
immer  kleiner  wurden  und  dicht  an  demselben  die  area  gar  nicht 
durchbracben,  ein  Einfluss  etwa  vom  Herzen  her  immittirter  Säfte  zur 
Ausweitung  »vorgezeichneter  Wege«  vollkommen  unmöglich,  selbst 
wenn  man  ein  von  Anfang  an  vorhandenes,  nur  nicht  sichtbares  Herz  hatte 
annehmen  wcrflen. 

Es  kann  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden,  wie  Wolfp  in  Peters*- 
bürg  diese  Untersuchungen  so  rüstig  fortsetzte,  dass  —  kaum  ein  Jahr 
nach  seinem  Abschied  von  Berlin  —  gerade  jetzt  vor  hundert  Jahren 
jenes  classische  Werk  über  die  Bildung  des  Darmcanals  im  Hühnchen 
fertig  wurde,  von  dem  Ernst  v.  Bakr  urtheilte :  »es  ist  die  grösste  Meister- 
arbeit, die  wir  aus  dem  Felde  der  beobachtenden  Naturwissenschaften 
kennen.«  Bis  auf  verhaltnissmtfssig  geringe  Irrthttroer  (wie  die  Wolfp 
nickt  geglückte  Unterscheidung  der  »Darmrinne«,  seiner  fistula  intesti- 
nalis, von  der  Höhlung  des  Darms)  hat  die  ganze  Folgezeit  nichts  daran 
2U  bessern  gefunden ,  wohl  aber  diente  diese  Arbeit  Wolpf^s  ,  seitdem 
MictBL  sie  zugänglicher  gemacht  hatte,  um  wesentliche  Irrthümer  in 
der  4906  von  Oksn  (ohne  Bekanntschaft  mit  seinem  grossen  Vorgänger) 
nur  nach  —  natürlich  weit  unvollständigeren  —  Suiten  von  Entwick-* 
Jungsstadieii  der  Säugethierembryonen  gegebenen  Naturgeschichte  der 
Dannentwicklung  zu  berichtigen. 

Als  im  14.  Band  der  Novi  Goromentarii  der  Petersburger  Akademie 
der  letzte  Theil  dieser  berühmten  Abhandlung  De  Ponnatione  Intesti- 
norüro  erschien,  durfte  Wolfp  mit  Befriedigung  auf  das  noch  nicht  ein- 
mal ganz  beendete  Jabrzehnd  hinMicken,  das  er  seit  der  Vorbereitung 
zur  Doctor-Promotion  an  Saale  und  Oder,  an  Spree  und  Newa  in  uner- 


21 4  *"'     Mfnri  Kiicbheff, 

mttdlicber  Arbeil  durchlebt  hatte.  Cr  sagte  nicht  mehr  als  die  Wabr^ 
beit,  wenn  er  in  deniBUohlein  von  1764  bebafiptele,  es  hab«  nie  \tt4er 
Welt  eine  wirkliche  Theorie  organischer  Entwicklung  gegeben  ausser 
der  von  Gjlrtesiüs  und  der  seinen ;  von  diesen  aber  wäre  die  cartesia- 
nische  ohne  irgend  zureichende  Beobachtungsgrundlage  ertranmli 
nur  die  seinige  wahr. 

Er  verhehlt  sich  nirgends  die  Schwächen  seiner  Leistungen,  die  er 
vielmehr  gegenüber  der  unendlichen  Natur  auf  dem  noch  so  ganz  un- 
hetretenen  Boden  der  Entwicklungsgeschichte  stets  als  der  Besserung 
bedürftig  anerkennt.  Aber  der  Würfel  war  gefallen :  die  Theorie  von 
der  lebendigen,  schaffenden  Natur  hatte  die  Aftertheorie  von  der 
nur  in  lebendiges  Gewand  verkleideten,  geschaffenen  Natur  be- 
siegt, —  dem  Berner  Schreckenswort  oNulla  est  epigenesis«  war  glück- 
lich Paroli  geboten  mit  dem  Berliner  Jubelruf  »Est  epigenesisit 

Wolff's  Materialismus. 

Nachdem  die  lebenden  Wesen  als  unter  unsem  Augen  entstehende 
erkannt  worden  waren,  erhob  sich  ganz  von  selbst  die  Frage  nach  den 
Ursachen  solcher Entstriiung.  Haller  hatte  das  Reebt,  sein Myateriora 
des  unsichtbaren  Seins  von  dem  Mysterium  des  Schöpfungsactes  ada- 
mitischer  Urzeit  abzuleiten ;  Wolfp^s  Epigenesis  rückte  dagegen  das 
Wunderspiel  tausendfilltiger  Neubildungen  aus  dem  Dunkel  der  Ursek 
ins  Licht  der  Gegenwart,  und  da  galt  es  nun  der  Schi^pfung  mit  allen 
Httifsmitteln  rationeller  Wissenschaft  auf  den  Grund  zu  kommen. 

Hatte  WoLFF  das  Werden  der  Organismen  in  mühsamen  Unter- 
suchungen und  mit  logischer  Schärfe  zur  zweifellosen  Gewiseheii  er* 
hoben,  so  fügte  er  diesem  Verdienst  ein  zweites  hinzu:  er  brach  die 
Bahn  für  die  einzig  mögliche  naturwissenschaftliche  ErklMrüng  des  Le- 
bens, nämlich  für  die  mechanische  oder  materialistische ,  die  auf  dem 
felsenfesten  Satz  beruht,  dass  die  prgauische  Welt  als  ein  Theil  der 
Welt  überhaupt  an-  einem  gewissen  Quantum  von  Materie  participirt, 
ihre  (Lebens-)  Erscheinungen  daher  nicht  anders  als  aus  der  Materie 
und  deren  unverUusserlicker  Kraftsumme  erklärt  werden  können. 

Dieses  zweite  Hauptverdienst  Wolff^s  hat  man  deshalb  bisher  nicht 
zu  würdigen  gewusst.  weil  seine  »wesentliche  Kraft((  (Vis  essentialis), 
die  er  gleich  in  den  ersten  Paragraphen  der  Dissertation  auffldirt,'  ohne 
nähere  Charakteristik  nicht  viel  zu  bedeuten  schien ,  und  das  beiaahe 
letzte  Werk  Wolff^s,  das  diese  DWesentliohe  Kraft«  sum  alleinigen  Ge- 
{«nstand  nahm,  so  gut  wie  völlig  unbekannt  geblieben  ist. 

Auf  seinen  Antrieb  hatte  die  Petersburger  Akademie  eine 


Gaspit  Fnedndi  Wiolff.  2 1  & 

aulgabe  gesil^l(  »^her  die  ^igentbUmliche  und  wesentlickü  Kraft  der 
v^gß^biliscbea  «owoU  als  der  animalischen  Substanz.«  Aus  Frankreich 
und  DeqiSGliland  ^aren  Lösungen  von  sehr  verschiedenem  Werth  ein- 
gogßogw»  und  als  n89  die  kaiserliche  Akademie  die  besten  davon  in 
Druck  ftib,  (Ugte  Wolfp  eine  an  Klarheit  und  Gedankenreiohthum  alle 
Jen«  Beantwortungsversuche  weit  überflügelnde  Abhandlung  über  das- 
aeitiie  Thema  in  deutscher  Sprache  zu  ^j .  In  schonender  Kritik  v^andte 
er  sioh  hauptsächlich  an  die  beste  Lösung,  welche  die  Preisaufgabe  von 
BiCMgifBACB  erfahren  hatte.  Dieser  hatte  darin  jene  Ansicht  entwickelt, 
die  dann  in  Deutschland  so  viele  Anhänger  erwarb:  Grundkraftjedes 
Organismus  sei  der  Bildungs trieb. 

WoLFF  legte  nun  mit  seiner  seit  dreissig  Jahren  so  oft  geübten 
klaren  GedaokeneinfoU  dar,  dass  \  j  dieser  Satz  in  folgerechter  Anwen- 
dung sieb  augenblicklich  selbst  widerlege,  denn  jede  Kraft  müsse  sich 
in  ihren  WiriiLungen  gleich  bleiben ,  mithin  müssten  alle  Organismen 
einander  gleich  sein  u|id  auch  aus  völlig  gleichartigen Theilen bestehen; 
i)  aber  mit  der  von  BtuiuNBiCH  angewendeten  Glausel ,  dass  »die  be- 
sonderen UmsUlnde«,  unter  denen  diese  Kraft  wirke,  die  Verschieden- 
aitigkeit  ihrer  Wirkungen  erkläre,  der  Satz  einfach  zurückgenommen 
SM,  denn  in  diesem  Fall  seien  dann  offenbar  »die  besonderen  Umstände« 
das  Wirkepde,  die  Bildungskraft  nur  das  Bedingte,  folglich  keipe 
»Gvundkraft.« 

Dann  folgte  der  positive  Theil  der  Abhandlung :  Begründung  seiner 
eigenen  Ansicht  von  der  C  a  us  a  1  i  t ä  t  des  Lebensprooosses.  Hier  drang 
er  mit  einer  Art  Vorahnung  von  der  Bedeutuag  unsrer  heutigen  Celiur- 
larpatbologie  fi|r  die  Enthüllung  biologisoherRäihsel  lief  in  die  morpho- 
logische und  fonotionelle  Natur  der  Drüaengewebe  ein,  betonte  die 
wunderbare  und  doch  gewiss  so  natürliche  Verschiedenheit  in  der  StoQ^ 
aneignung  und  Stoflüabsonderung  der  verschiedenen  Organe  eines  und 
desselben  Körpers,  überall  seine  früh'even  Beobachtungen  anziehend 
und  neu  gemachte  Erfahrungen  da^ufUgend.  Was  aber  die  Resultate 
dieser  ErörVei^ungep  angeht,  ^  dtirfen  wir  sie  hier  in  folgende  einfache 
Schlussi'eihe  mit  Citirung  der  Seitenzahlen  der  genannten  Abhandlung 
zusaounenfassen. 

Das  organiaebe  Loben  sieht  unter  der  Herrschaft  der  allgemein  und 
auanahmiloa  gültigen  Naturgesetze,  wie  wir  sie  audi  in  der  anorga- 
nischen W#lt  tkUtig  finden  (40,  74,  74).    Wollen  wir  die  Ursache  oder 


•■^  t  p  ■■  mw  *^ 


4)  Gedruckt  4789  in  4*  tu  Petersburg;  gewöhnlich  mit  den  übrigen  Abhnnd- 
lonfin  lUMumengebufden  und  >o  oft  durch  den  Tilelaufdrucli  «^ombiibach  und 
Bwm  4U(  den  (ietf»iioU|)d|nd,  aliM)  durch  reines  Buchhinderversehao  versteokl. 


21  g  Atfrtd  Kirchhof, 

die  wirkende  Kraft  ermitteln,  welche  die  Erscheinung  des  Lebens  her- 
vorruft, so  müssen  wir  hier  wie  anderwärts  die  Wirkung  genau  unter- 
suchen, denn  anders  als  in  einer  Wirkung  ist  es  unmöglich  eine  Kraft 
zu  erkennen  (7j .   Nun  ist  der  Lebensprocess  ein  ewiges  Anziehen  und 
Abstossen  von  Stofftheilchen,  die  jedem  Tbeile  jedes  organischen  Kör- 
pers zukommt  (34).    Das  ist  jedoch  nicht  die  allgemeine  Attractions- 
erscheinung  in  der  einfachen  Weise,  wie  sie  auch  der  Stoff  ausserhalb 
der  Organismen  zeigt,  weil  wir  sonst  eine  beliebige  Wiesenpflanze, 
etwa  den  Wiesenbocksbart  (Tragopogon  pratensis)  in  irgend  einem  Stoff 
nur  genau  nachzubilden  brauchten,  um  uns  als  Schöpfer  eines  sich  er- 
nährenden und  sich  fortpflanzenden  Wesens  zu  fühlen ;  daraus  folgt, 
dass  die  organische  Anziehungskraft  eine  den  Organismen  eigenthüm- 
liehe  »Ernährungskraft«  (=Yis  essen  tialis)  ist  (39) .  In  ihr  besteht 
das  Wesen  des  Organismus,  sie  wohnt  jedem  Theilchen  desselben  mit 
der  Doppeläusserung  der  Anziehung  für  diesen,    der  Abstossung  für 
jenen  Stoff  inne ,  wie  ja  auch  im  Magneten  und  im  geriebenen  Bern- 
stein jedes  Pünctchen  zugleich  anziehend  und  abstossend  wirkt  (69). 
Das  eine  hat  die  wesentlich  organische  Nutrition  mit  dem  Wachsthnm 
eines  Krystalls  gemein,  dass  nur  gewisse  Stoffarten  angezogen,  andre 
abgestossen  werden  (5?);  darin  aber  liegt  das  Unterscheidende,  dass 
der  Krystall  nur  äusserlich  neuen  Stoff  ansetzt,  der  Organismus  den 
assimilirbaren  Stoff  innerlich  aufnimmt  (60) .  Mit  diesem  Vorgang  können 
wir  von  Naturerscheinungen  ausserhalb  des  Organismus  nur  die  chemi- 
schen vergleichen,  bei  denen  sich  auch  eine  vollständige  Durchdringung 
mit  dem  aufnehmbar  befundenen  Stoff  zu  einem  ganz  neuen  Körper 
zeigt,  z.  B.  wenn  ein  festes  Metall  durch  Verbindung  mit  Quedisüber 
ein  Amalgam  bildet  (64).     Die  allein  zur  Zeit  nicht  sicher  erklärbare 
Seite  dieser  Nutrition  (deren  morphologischer  Wirkung  in  der  Genera- 
tionstheorie genau  nachgegangen  war)  besteht  in  der  bei  verschiedenen 
Species  so  verschiedenen  Stoffwahl,  die  man  mit  den  Seelenzuständen 
von  Neigung  und  Abneigung  vergleichen  möchte,  aber  trotzdem  keines- 
wegs mit  der  Eigenthümlichkeit  der  thierischen  Seele  vermengen  darf, 
wie  Stahl  gethan  hatte  (70).   Pest  steht  nur  soviel,  dass  die  dem  orga- 
nischen Körper  ausschliesslich  zukommende  Art  der  Stoffaneignung 
und  Slofforganisirung  von*  einer  wesentlichen  Eigenthümlichkeit  her- 
rühren rauss,  welche  der  organische  vor  dem  anorganischen  Stoff  vor- 
aus hat:   sei  das  eine  besondere  nur  in  Pflanzen  oder  Thieren  vorkom-- 
mende  Substanz  oder  eine  besondere  Art  der  Mischung,  falls  nämlich 
lebende  und  leblose  Körper  aus  denselben  Stoffen  beständen  (94). 

Welche  Klarheit  unbefangener  Naturanschauung  und  uiriiestechltcher 
Folgerichtigkeit  liegt  in  diesen  Sätzen  1    Fügen  wir  die  erst  uns  mög- 


' 


tupAr  Friedrieb  Wolff.  217 

liehe  Entscheidung  dar  letztgenannten  Alternation  hinzu,  dass  es  näm- 
lich die  Goroplicirtheit  der  auch  im  Felshau  der  Erde  weit  und  breit 
vorkommenden,  nur  hier  ganz  einfachen  Kohlenstoffverbindungen  ist, 
weiche  den  unterscheidenden  Charakter  der  organischen  und  anorga- 
nischen Natur  bedingt,  so  haben  wir  in  der  That  die  festen  Lineamente 
der  mechanischen  Biologie  unserer  und  sicherlich  aller  Zeiten  vor  uns: 
Stoflbewegung  nach  den  ewigen  Gesetzen  der  Physik  und  Chemie  be- 
wirkt das  Kreisen  des  Stoffs  ebenso  in  dem  leicht  verfolgbaren  Wege 
durch  Luft,  Wasser  und  Erde  wie  in  geheimnissvollerer  Weise  durch 
den  lebendigen  Körper,  dessen  Geburt,  Leben  und  Tod  nicht  deshalb 
abnorme  Thatsachen  sind,  weil  sie  das  Normale  im  wundervollen  Com- 
plex  darbieten.  Wolfp  sagte  genau  das  von  der  BLUVBüBACH'schen  »Bil- 
dungskraft«, was  Humboldt  von  der  modernen  »Lebenskraft«:  ihre  An- 
nahme ist  nur  ein  Beweis,  dass  der,  welcher  sie  macht,  in  der  persön- 
lichen Unfähigkeit,  das  Leben  auf  seine  Ursachen  zurückzuführen  d.  h. 
den  räthselvollen  Complex  der  bunt  in  einander  greifenden  Ursachen 
naturgesetzlich  zu  zerlegen,  —  sich  mit  einem  grossen,  gleich  Alles  mit 
einander  auf  die  billigste  Weise  erklärenden  Wo  rt  hilft.  Denn  eben, 
wo  Begriffe  fehlen,  da  stellt  ein  Wort  zu  rechter  Zeit  sich  ein  I 

Wenn  aber  Humboldt  diesen  wenig  ruhmvollen,  aber  dem  Sdiwäch- 
lichen  stets  einladend  dttnkenden  Fluchtversuch  aus  dem  Labyrinth  der 
biologischen  Causalität  nur  als  Parallele  anführte  zu  der  Neigung,  die 
so  oft  mit  seinem  Bruder  das  Zwiegespräch  tief  bewegt  hattfe,  dass 
nämlich  der  Mensch  angesichts  der  unendlichen  Bedingtheit  des  geschicht- 
lichen Lebens  auch  nur  des  kleinsten  Staates ,  des  kürzesten  Zeitraums 
vom  Schwindel  erfasst  würde,  wenn  er  nun  gar  die  unabsehbaren  Fer- 
nen der  ganzen  Weltgeschichte  zu  ergründen  unternähme,  dass  er  dann 
stets  dem  uralten  »dumpfen  Gefühle«  verfalle  und  die  Kritik  in  das  ge- 
fühlstiefe Meer  des  Glaubenssatzes  versenke:  »Gott  regiert  die  Weh;  , 
die  Geschichtsaufgabe  ist  das  Aufspüren  dieser  ewigen  geheimnissvollen 
RathschlOsse«  —  so  dürfen  wir  zum  Schluss  jenes  Streben  nach  Anru- 
fung der  Gottheit  auf  dem  Felde  der  Wissenschaft  in  noch  näherer  Be- 
ziehung zu  der  Hypothese  von  der  Lebenskraft  sowie  zu  unserem  C. 
Fr.  Wolpp  betrachten. 

Als  Wolpp,  dem  Greisenalter  nahe ,  am  Vorabend  der  grossen  Er- 
eignisse, die  von  Parisaus  die  neue  Zeit  heraufbeschworen,  seine  Ideen 
über  das  Leben  zum  letzten  Mal  zu  jenen  allgemeineren  Resultaten  sam- 
melte, schwieg  er  von  jeder  dem  Ernst  der  Wissenschaft  nicht  ziemenden 
Verthcidigung  seines  Materialismus  gegen  Einwendungen,  die  von 
fremden  Gebieten  aus  dawider  erhoben  werden  konnten.  Aber  als 
Jüngling  hatte  er  dem  vreit  älteren  Hallbr  gegenüber  einen  schweren 


}t8  Altred  Kitebboff, 

Stand  gehabt.  Zwar  hatte  einerseits  WotPF  nur  ^n.  eioer  eimigen  Stelle 
der  Dissertation  einmal  das  Wort  fallen  lassen ,  es  l^gje  ihm  daran  zu 
heweiseni  dass  vaw  zur  Erklärung  der  Generation  die  götüicbeAlbnacbi 
nicht  ins  Spiel  zu  ziehen  nöthig  habe,  und  andrerseits  redete  Hallei 
stets  ohne  jede  Gereiztheit  in  vollster  Achtung  von  den  FqrscbuB^resul- 
tateiii  des  jungen  Berliner  Physiologen  in  seinen  Werken.  Indessen  eben 
weil  sich  Vfourf  in  deniPrivatverkebr  seiner  Correspondenz  mit  UiXLKi 
so  aufrichiig  best;heiden  ,  so  offen  für  jede  Zurechtweisung  zeigte ,  be- 
nutzte dieser  seine  väterliche  Stellung»  wie  as  scheint»  zu  n^ancber  nach- 
drOeklichen  Vorstellung,  zuni0l  wegen  d^r  Gefährdung ,  di^  er  in  der 
ganzen  Th^rie  der  Epigenesis  fUr  den  religiösen  Glauben  mit  Rechl 
erkannte. 

Schon  wegen  des  liebenswürdig  kindlichen  Tones  und  der  echt 
wissenschaftlichen  Selbstlosigkeit»  die  sich  in  Wolff's Briefen  anHiLLKH 
ausspricht,  sei  es  daher  gestattet  an  diesem  Ort«  einige  Stellen  derselben 
übersetzt  mitzutheilen,  die  auf  die  so  still  vor  sich  gegangene  und  doch 
80  tiefe  Um  Wandelung  der  Ideen  ein  edgenthümliehes  Ucbt  wirft  ^j. 

ZuDäaMt  waren  bei  de^  U^bersendungen  des  lateinischen  wie  des 
deutschen  Werks  über  die  epigenetische  Generation  kürzere  Begleil- 
sobreiben  erfolgt,  dann  hatte  Wolff  \  765  naoh  empfang/enem  Tadel  über 
^u  unscboneBde  Behandlung  seiner  wissensdiafUichen  Gegner  (ver- 
muthlich  Bo:fx«T^s!)  seinemHentor  von  seinen  weiteren  Untersuchungen 
über  dieStihncbenentwickelung  geschrieben  und  zugleich  seiner  Selin- 
sucht  nach  dem  »festUchep  T^g«  Ausdruck  verliehen,  der  für  ibnkommeD 
werd^  wenn  er  nun  im  8.  Theile  der  Elementa  Physiologiae  die  mni- 
versa  generationis  tbeoriaa  zu  lesen  beginne. 

Der  Tag  kam«  Der8,Tbeil  war  erschienen,  vermutblich  von  Haus« 
selbst  ihm  zugeschickt:  er  bnacbte  neben  ehrenvoller  Erwähnung  der 
WoiTP^Sobon  Arbeiten  das»Nulla  ^st  epigenesis  la  -r-  In  eine«i  Sebreibea 
dd»  Berlin,   den  6.  Oct.  1766  sprach  Wolpf  seinen  Dank  aus,  dass 
IIl44.|z  in  seinem  grossen  Werke,  seinem  kleinen»  seinen  »Versucbeo« 
einenPlatz  vergjtinnt  habe,  dazu  aber  fügte  er  einei^  wahrhaft  rührenden 
Herzenserguss»  den  man  lesen  musa,  um  in  Wolpf  den  ehrlichen  deut- 
schen Gelehrten  zu  erkennen.    »Dank«  heisst  es  da  »dass  iHi  mir  wohl 
willst,  dass  Du  mich  liebst,  erhabener  Mann»  obwohl  Du  mich  niemals 
gesehen  und  nur  aus  Briefen  mich  und  meine  GemUthsart  kennst.    Das 
nUj^e  Pir  Gott  lohnen ,  denn  ich  kann  nieht  hoSen ,  in  diesem  Leben 
solche  Badeutung  zu  erlangen ,  dass  ich  Dir  eine  Deiner  Güte  würdige 
Erkenntlichkeit  erweisen  könnte,  wenn  Du  nicht  die  unaustoscbliche 


4)  EpistoUß  ad  li4li«raui  IV,  p.isiff.  v/p.  iioff,  p,  Stoff,  p.  $S4  ff.  jp.  snff. 


GiniMr  Friedrieh  1l^«lff.  319 

Verebmng  DeiiMs  Seiftes  dafür  nekoien  willst.  —  Und  was  unsere 
StreksaobebalriA,  so  denke  iob  also.  Mir  nickt  mehr  als  Dir,  herrHoher 
MsQn,  lie(^  die  Wahrheit  am  Herzen.  Sei  es,  daas  DrganiscbeK9rp^r 
aus  dem  ansiehlbaren  in  den  sichtbaren  Zustand  sieh  erheben,  sei  es^ 
dass  sie  aus  Luft  sieh  hervorbringen :  es  gibt  keinen  Grand  ^  weshalb 
icb  dies  mehr  als  jenes  wttnseben,  oder  jenes  vielmehr  wollen ,  dieses 
nicht  wollen  sollte.  Und  ebendies  ist  ja  aueb  Deine  Meinung,  herrlieber 
Mann.  Einzig  der  Wahrheit  forschen  wir  beide  nach;  das,  wae 
wahr  ist,  suchen  wir.  Warum  also  sollte  ich  gegen  Dieb  streiten  1 
Warum  sollte  ich  Dir  widerstreben ,  da  Du  mit  mir  nach  demselben 
Ziele  strebst?  Deiner  Obhut  vielmehr  vertraue  ich  voll  Zuversicht 
meine  Epigenesis  an,  sie  zu  vertheidigen  und  auszubauen,  wenn  sie 
wahr  ist;  ist  sie  aber  falsch,  so  soll  sie  auch  mir  ein  verbasstee  Ungfrr* 
heuer  sein.  Ich  werde  die  Evolution  bewundem ,  w^nn  sie  wahr  ist, 
uad  werde  den  anbetungswürdigen  Urheber  der  Natur  mit  demttthigster 
Andacht  verehren  als  eine  den  menschlichen  Einsichten  unerUHiiiare 
Gottheit;  ist  sie  aber  falsch,  so  wirst  Du  sie,  auch  wenn  ich  schweige, 
ohne  Zögern  verwerfen.« 

Aber  Halles  Hess  die  Evolution  nicht  fallen  und  mahnte  vielmehr 
von  einer  ganz  ai^deren  Seite  her  den  jüngeren  Forscher  ernstlich  von 
weiteren  Angriffen  auf  diese  Lehre  aus  Ntttzlichkeitsgründen 
ab.  Es  wa  r  kurz  vor  seinem  Abgänge  nach  Petersburg,  als  Wolff  am 
n.  April  4  767  folgende  buchst  bezeichnende  Antwort  auf  die  erhaltene 
Warnung  an  Hallbr  schrieb :  er  sei  von  der  Wahrheit  der  Gründe,  die 
Haller  j  e  t  z  t  für  die  »Hypothese  von  derEvolution«  vorgebracht  habe  ^) , 
so  durchdrungen,  dass  er  in  der  That  nicht  wisse,  was  er  in  Zukunft 
für  seinen  Lebenszweck,  die  Geheimnisse  des  organischen  Lebens  zu 
ergründen,  thun  solle.  Er  habe  früher  nicht  so  eingesehen  wie  jetzt, 
dass  es  sich  bei  der  Bedeutung  der  Evolutionslehre  für  die  Religion  nicht 
sowohl  um  den  Beweis  der  Wahrheit  der  Religion  handle,  als  viel- 
mehr darum,  dass  jener  Beweis  (durch  die  l'hatsache  der  Ur-Erschaf- 
fung  und  wunderbaren  Evolvirungj  »leicht,  kurz  und  einleuchtend«  sei, 
dabei  auch  geschützt  genug  gegen  laienhafte  Bestreitung.  Er  begreife, 
dass,  zwar  nicht  für  die  wahrhaft  religiösen  Wahrheiten,  aber  für  solche 
populäre  Demonstrationen  die  Aufrichtung  seiner  Epigenesis  verhäng- 


1 )  Diese  Gründe  scheinen  oacbWoLFP's  Antwort  zu  ^chliessen,  dem  schönen  Aus- 
spruch Halleb's  wenig  entsprochen  zu  haben,  wie  er  in  den  Worten  liegt :  »Laeli 
memintmus,  experiroenta  ad  verum  ducere,  verum  ad  Deum  viam  aperire.«  (Op. 
niin  III,  p.  190}.  So  scbluss  er  einst  (475S)  seine  Beurtheilung  der  BüFFon'schen 
Theorie  ttber  die  Weltentstehung,  die  man  des  Atheismus  angeklagt  hatte* 


220  Alfred  Kircllli«ff,  Cnspar  Fneiriek  Wolff. 

nissToll  sei.  »Preilicba  setzt  er  hinzu  »ist  gegen  dieExialenz  eines  gött- 
lichen Wesens  noch  nichts  geschehen,  wenn  auch  die  orgmischen  Kör- 
per durch  Naturkräfte  und  unter  natttriichen  Ursachen  sich  darbiMen, 
denn  diese  Krflfte  und  Ursachen  selbst,  ja  die  Natur  selbst  veiiangen 
ebenso  einen  Urheber  als  die  organischen  Körper :  aber  dennoch  würde 
der  Beweis  weit  in  die  Augen  fallender  und  kräftiger  sein ,  wenn  wir 
in  der  Betrachtung  der  Naturbedingungen  fänden ,  dass  die  einzelnen 
Naturproducteoder  die  organischen  Körper  einen  Schöpfer  nötbig  hätten, 
und  nichls  Organisches  durch  natürliche  Ursachen  hervorgebracht  wer- 
den könne.« 

Wir  denken  an  das  Dogma  der  einen  oder  vielen  Erscfaafiungen 
der  Pflanzen-  und  Thierarten,  an  Dabwin,  an  die  anglicanische  Kirche 
und  manchen  ähnlichen  Yerdammungsruf  diesseit  des  Ganais  I  Denn 
das  sind  Zwiliingsschwestern  die  Theorie  der  Epigenesis  und  die  der 
Desoendenz.  Die  Wahrheit  dieser  wird  wie  die  jener  siegen,  oder 
vielmehr  sie  hat  schon  gesiegt  I 


Beiträge  nr  Keuteiss  der  S|MBgiM  I. 

von 

N.  IQklaoho-Maclay, 

Mit  Tafel  IV.  und  V. 


I.  üeber  Onaneha  blanea,  einen  neuen  Halkschwamm. 

Die  reiche  Seh  warnttifauna  dfiv  canarischen  Inseln,  welche  ich  im  voii- 
gen  Winter  (1866/67)  zu  untersuchen  Gelegenheit  hatte,  bietetauch  in  der 
Abtheiiang  der  Kalkspöngien  einige  Mannigfaltigkeit.  An  den  mit  Algen 
und  Schwämmen  bedeckten  zerklOfieteDLavaroasaen,  die  den  niedrigen 
Strand  des  Hafens  del  Arredfe  (Lanzarote)  bilden ,  fanden  sich  einige 
KalkschwSmme  von  verschiedener  Grosse  und  Gestalt,  die  gruppenweise 
an  den  Lavabldcken  sassen.  Es  waren  besonders  swei  Formen,  die 
meine  Aufmeriisamkeit  in  Anspruch  nahmen.  Die  in  Fig.  4 .  auf  Taf .  IV . 
abgebildete  Gruppe  wird  eine  bessere  Idee  vom  Aussehen  derselben 
geben,  als  jede  Beschreibung.  Der  Schwamm  A  (Taf.  IV.  Fig.  4 . )  be* 
Stehtaus  einem  I  y^ — SyjMm.  langen.  Vi  Mm.  breiten  spindelförmigen 
Korper,  der  auf  einem  ziemlich  hingen  Stiel  aufsitzt.  Der  Körper  des 
Schwammes  ist  schlaff  und  biegsam,  so  dass  bei  der  leisesten  Bewegung 
des  Wassers  er  sich  bald  auf  die  eine ,  bald  auf  die  andere  Seite  legt. 
Am  oberen  Ende  findet  sich  dieMundOffnung^),  die  keinen  mit  blossem 
Auge  sichtbaren  Spicuhikranz  besitzt,  die  Oberflttche  erscheint  giaU  und 
von  glonzend  weisser  Fttrbung.  Neben  solchen  Einzelnen  fanden  sieb 
auch  mehrere  dieser  Körper ,  die  auf  einem  gemeinschafUachen  Stiel 
aufsassen  (Fig.  4.  B.) 

In  derGesellschafIt  dieser,  bald  isolirt  sich  erhebenden,  bald  einem 
gemeinsamen  Stiele  entspringenden  SchwammkOrper,  die  als  zusammenr- 


4)  Ich  gebrsQche  den  Ausdruck  »MandSfltaiuig«  sl  alt  AaswurftOflhiaosd^  Ante« 
reo,  aus  Grttodeo,  auf  welch«  ich  spSler  sarttckkomaiaa  werde. 


222  '  N.  Mikluelio-MaeUy, 

gehörig  leicht  zu  erkennen  waren,  traf  sich  noch  eine  andere  Fonn  von 
mehr  fremdartiger  Beschaffenheit.  Dieselbe  (Fig.  4.  G.)  war  grösser 
(3 — 4  Mm.  Länge,  <  Y2 — 2V2  Mm.  Breite)  und  ihrer  Gestalt  nach  von 
den  erstem  sehr  verschieden.  Sie  sass  ebenfalls  auf  einem  Y4 — ^2^^"* 
dicken  Stiele  [s) ,  bildete  aber  einen  ganz  ansehnlichen  kugeligen  oder 
birnförmigen  Körper,  der  von  zahlreichen  Lücken  (/)  durchbrochen  ^ar. 
Am  obem  Ende  fand  sich  ebeofßlls  eine  Mundöfibung  (mj.  Obwohl  die 
erste  der  beschriebenen  Formen  am  besten  zu  der  von  Oscar  Scbmidt 
aufgestellten  Gattung  Ute  passt,  so  will  ich  diesen  Schwamm  aus  man- 
chen Gründen,  welche  ich  später  mittheilen  werde,  mit  einem  nicht 
gebrauchten  Namen  belegen:  ich  nenne  diesen  Schwamm  Guancha 
blanca.  — 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Form  A  Fig.  \.  ergab,  dass 
man  durch  die  Mundöffhung  in  eine  geräumige  mit  Flimmerepithel  aus- 
gekleidete Höhle  gelangt.  Dieser  einfache  Sack  ist  die  verdauende  Ca- 
vität  des  Schwaiiunep.  Die  Wao^^^^g^  bestehen  mw  enem  tanero 
Epithel,  das  auf  einer  zelligen  Grundlage  aufsitzt.  Zwischen  dieser  und 
der  dOnnea  strudurlosen  Hülle  finden  sich  regelmässig  verthettle  drei- 
sirahlige  Spicula.  Die  verdauende  Ca vität  setBtsich,  wie  es  scheint, 
nicht  im  den  Stiel  fort. 

Die  iMilräunie  der  Form  C  Fig.  I .  verkMten  sich  wesentlich  en- 
dete. Durch  die  Muodoffnung  gelaiif;!  man  nichl  wie  bei  der  vorbe- 
9ohriebe»cn  Form  (A)  tn  ^ine  einfache  blind  geendigfe  HMile ,  sondern 
tu  einen  üohlraimi,  in.  welchen  ziMreidie  Ganttie  einmünden.  Was  die 
Wendungen  dieser  Form  betrifft,  so  bestehen  sie  aas  denselben  Zellen, 
ded^elbei)  Hatte  and  denselbea  Spicula  wie  bei  der  vorhin  besdbriebenen 
Fonn  A.  Die  ^usiene  Gestalt  and  dits  Verhalten  der  HofalNIume  hatten  jeden 
Syslemaltiker  bestimnit ,  dl6  zwei  Formeo  als  verschiedene  Arten ,  ja 
sagarGatliingen  zu  besehreiben  ;  denBöoh  Verhält  es  sich  mit  denselben 
anders.  Je  mehr  ich  Exetnplare  antersttohfte^  um  so  grösser  erschienen 
die  individoeften  Verschiedenheiten  der  beiden  Formen.  Besonders 
viele  Afolfeichttniget)  eeigten  die  IndividuaB  der  Form  G.  Kein  einziges 
War  deia  andern  gleich ;  in  einem  wai^n  die  Lücken  laUreicber  ihmI 
kietner,  bei  andern  langge^treekt  und  an  Zahl  geringer ;  auch  die  äussere 
Geistalt  «wediselte,  sie  war  bald  mehr  spindeUannig  bald  oval,  ja  segar 
becherförmig.  Alle  diese  Abweichungen  Hessen  es  wünscheaewcrth 
ersoheimeA,  eine  roögüchst  grosse  AneaU  ven  Individuen  sa  Gesicht  zu 
bekommea.  Schon  iia  Laufe  der  aäcfaslen  Tafe  fand  ich  eine  Aasahl 
Schwammindividuen,  die  sich  zu  einer  Reihe  schöner  Uebergangsformen 
ordnen  liessen.  Eine  genauere  fietraditung  der  Fig.  I .  und  2.  wird 
dieses  Verhalten  viel  besser  als  Werte  demonstriren. 


BeitrXg«  Vit  f  f  Hntttlaft  #ef  S))#^ieu  I.  iiS 

A«f  f*ig.  1  9iah6  Mi  die  Hatiptförinen  der  GtiAnchd,  auf  Fig.  i  die 
Uebergangsforroen  dargestellt. 

!Vi  fter  Nalur  liess'  Sich  die  üebergangsreihe  viel  vonständiger  er- 
kennen, aber  aHe  diese  Individuen  einzeln  abzubilden,  wäre  zu  weit^ 
läufig  tttid  tu  scheint  mir,  dass  die  beigelegten  Zeichnungen  vollkommen 
ausreicht.  — 

Die  Form  €  ist  nicht  die  letzte  in  dieser  Reihe.  Man  findet, 'obwohl 
nicht  so  oft,  wie  die  andern,  aber  in  der  Nähe  derselben  kleine  Polster, 
dünne  Ueberttige  von  ungleicher  Grösse  (6—9  Mm.  Länjge  und  ^ 
bis  4  Mm.  Dicke)  und  Gestalt.  Diese  Schwammform  besitzt  aber  die- 
selben Lucken,  wie  jene  von  €  und  geht  in  der  Thal  aus  der  letztge- 
nannten Form  hervor.  8ehr  viele  dieser  Hegenden  Formen  besitzen 
Stiele,  von  welchen  sie  firsprftnglic*  getragen  wurden.  (F,  D  Flg.  1 
und  2).  Man  muss  sich  demnach  vorstellen,  dass  anfänglich  frei  empor- 
ragende Formen  sich  senken,  nnd  unter  polMerarliger  Ausbreitung  ihre 
anfängliche  Form  verlieren.  Fffir  die  einzelnen  Stadien  dieses  Vorganges 
sind  Belege  unschwer  aufzufinden. 

Diese  (leihe  von  Üebergängen,  selbst  wenn  sie  auch  nicht  so  voll- 
ständig wäre,  wie  sie  inderThat  ist,  und  die  übereinstimmende  mikro- 
skopische Structur,  ffthren  mich  zu  dem  Schluss,  dass  alle  diese  For- 
men blos  Zustände  ein  es  und  desselben  Schwammessind 
und  dass  die  Form  A  für  die  ursprüngliche  gelten  kann, 
aus  welcher  die  andern  entstanden  sind.  Fragt  man,  wie 
alle  diese  Formen  aus  der  einen  entstanden  sind?  so  ist  die  Antwort: 
durch  Verwachsung  oder  Concrescenz^).  Diese  Verwachsung 
oder  Verschmelzung  ist  ein  bei  Schwämmen  bereits  bekannter  Process, 
welchen  ein  Autor  treffend  in  folgenden  Worten  dargestellt  hat:  »Kom- 
men sie  (die  Schwämme)  bei  weiterer  Ausdehnung  mit  einander  in  Be- 
rührung, so  schwindet  ihre  Grenzhaut,  die  Nadeln  des  Schwammes 
kreuzen  sich,  die  innem  Canäle  treten  mit  einander  in  Verbindung, 
man  kann  ihn  jetzt  nur  noch  gewaltsam  zerreissen.a 

Dasselbe  kann  man  auch  von  derGuancha  sagen.  Da  dieGuancha, 
wie  frtüter  erwähnt,  fast  immer  gruppenweise  vorkommt ,  sehr  oft  so- 
gar mehrere  Individuen  auf  einem  gemeinschaftlichen  Stiel  [Form  B)  so 
kann  es  leicht  sich  treffen,  dass  die  einzelnen  Individuen  mit  einander 
fn  Berührung  kommen,  sich  aneinander  legen,  wobei  die  Wandungen 
verschmelzen.  Es  entstehen  dadurch  zugleich  Verbindungen  der  Hohl- 
räume^ erst  später  vereinigen  sich  dieMundOlfhungen  zu  einer  gemein- 


f)  B.  Hazceel,  Gen.  Morph.  11.  p.  U7  hat  das  Voikonimeo  dieses  Vorgaogea 
im  Thierreiche  tttsammengesielli. 


% 


324  N.  Mikluelio-HMliiy, 

sdiaftlicheD.     Man   kann   häufig  solche  im   Yerscbmelzen  begriffene 
Schwämme  finden.  Fig.  2,  i  zeigt  ein  Stadium  dieses  Procesves  deutlich, 
die  verdauenden  Gavitaten  sind  zum  Theil  vermi^gt,  die  MundOffkuingen 
noch  getrennt.   Schema  3  Fig.  3  zeigt  einen  Längsdurchschnitt  desselben 
Schwammes.  Bezüglich  der  verzweigten  Form  B  Fig.  \ .  scheinen  grössere 
Gomplicationen  zu  bestehen.    Wahrscheinlich   entsteht  sie  nur  theil— 
weise  durch  Verwachsen  einzelner  Individuen,  theilweise  auch  durch 
Knospenbildung.   Für  das  letztere  spricht  das  öftere  Fehlen  einer  dif- 
ferenzirten  Mundöffnung,  welches  bei  einzeln  stehenden  Individuen  nur 
in  sehr  jungem  Zustande  vorkommt.   Die  ain  der  verästelten  Form  vor- 
kommenden mundlosen  Individuen  werden  daher  gleichfalls  als  frühe 
Zustände  angesehen  werden  müssen.    An  der  complicirteren  Form  C 
findet  man  zuweilen  zwiei,  sogar  mehrere  Mundöffnungen  (4  Fig.  2],  die 
sich  später  zu  einer  einzigen  Oeffnung  verbinden,  und  diese  stellt  dann 
das  häufigere  an  dieser  Form  sich  treffende  Verhalten  dar.    Die  Lücken 
sind  Andeutungen  der  früheren  Trennung.   Die  verdauenden  Gavitäten 
der  Form  A  bilden  sich  in  der  Form  G  zu  Ganälen,  die  alle  in  einen  ge- 
meinschaftlichen Sinus  ausmünden.  Dieses  Verhalten  sieht  man  in  Fig.  12. 
Tat  V.  sehr  deutlich.     Es  ist  ein  horizontaler  Schnitt  durch  das  obere 
Drittheil  der  Guancha,  Form  G,  d  ist  der  gem^nschaftliche  Sinus,  in 
welchen  die  Ganäle  e  ausmünden ;  a  ist  die  Mundöffnung« 

Diese  Form  G  geht  bei  bedeutendem  Wachsthum  in  die  Form  D 
über.  Der  Stiel  wird  zu  schwach ,  um  den  immermehr  an  Masse  zu- 
nehmenden Körper  zu  tragen,  die  Form  G  senkt  sich  zu  Boden  und 
wächst  weiter,  indem  sie  als  Polster  die  darunterliegenden  Körper  be- 
deckt. Der  Stiel  bleibt  als  rudimentäre  Bildung  zurück  und  deutet  auf 
den  Zusammenhang  mit  den  andern  Formen*  Jede  dieser  Formen  (A, 
B,  G,  D)  kann  aber  selbstständig  fortexistiren ;  es  sind  keine  noth- 
wendig  zu  durchlaufenden  Stadien,  es  ist  keine  Entwickelung  der  einen 
Form  aus  der  andern;  es  sind  blos  Zustände  eines  Schwammes; 
aber  dennoch  erfordert  jede  nachfolgende  Form  das  Vorhandensein  einer 
vorhergehenden. 

Die  verschiedenen  Formen  erscheinen  auch  in  verschiedener'  An- 
zahl. Die  einfache  Form  A  ist  die  häufigste,  seltener  ist  schon  die  Form 
B,  noch  seltener  G  und  von  der  liegenden  Form  D  habeich  im  Ganzen  nur 
3  oder  4  Exemplare  gefunden.  Auch  diese  Zahlen  Verhältnisse  sprechen 
für  das  vorhin  Gesagte. 

Um  das  Verhalten  der  Hohlräume  bei  den  verschiedenen  Formen 
anschaulich  zu  machen,  habeich  in  Fig.  3  Schema  tische  Quer- und  Längs- 
durchschnitte zusammengestellt,  an  welchen  man  die  allmählichen  .Ueber- 
gänge  sehen  kann. 


Beiträge  lar  Kaniituiss  der  Sjf^tn  I.  225 

In  Fig.  3.  sind  4.  und  i.Durchs&nitte  durch  die  Form  A.  Die  ver- 
dauende Gavitäi  ist  ein  einfäl^her  Sack  ohne  Canäle  und  Flimmer- 
kammem.  Sund  5  (Fjig.  3.)  bilden  einen Uebergang  zu  der  complicirien 
Form  G,  deren  schematische  Durchschnitte  2,  6  und  7  darstellen.  S  ist 
der  gemeinschaftliche  Sinus  ,  in  welchen  die  Ganäle  einmünden.  Ob 
die  innere  Wandung  aller  dieser  verschiedenen  Hohlraumformen  mit 
Flimmerpfthel  ausgekleidet  ist,  kann  ich  nicht  behaupten,  doch  halte  ich 
es  fttr  wahrscheinlich.  Sicher  habe  ich  dasselbe  btos  bei  Form  A  gesehen. 

Feinerer  Bau. 

Die  einfachen  Formen  derGuancha  Fig.  4.  2.  A  sind  schöne  mikro- 
skopische Objecte,  da  sie  sehr  durchsichtig  sind.  Ein  Zusatz  von  wenig 
Glyoerin  reicht  aus,  um  die  ganze  Structur  zu  erkennen.  Schon  bei 
den  schwächste^  Vergrösserungen  unterscheidet  man  die  sackförmige 
Höhle,  die  ich  als  verdauende  Gavität  erwähnt  habe.  Sie  ist  von  einer 
dttnnen  Wandung  umgeben,  welche  äusserlich  viele  Unebenheiten  be- 
sitzt, indem  die  Schenkel  der  Spicula  überall  hervorragen.  Diese  sind 
daselbst  von  einer  äusserst  dünnen  homogenen  Hülle  (Guticula)  über- 
zogen (Flg.  40.  6b).  Diese  dünne,  die  ganze .  Guancha  äusserlich 
umkleidende  Hülle,  setzt  sich  ohne  deutliche  Grenze  nach  innen  fort. 
Bei  Behandlung  mit  Säuren  tritt  sie  deutlicher  hervor,  ist  aber  durchaus 
kein  Kunstproduct,  da  sie  schon  bei  ganz  frischen,  blos  mit  Wasser  be- 
handelten Exemplaren  deutlich  ist.  Sie  ist  sehr  dem  undifferenzirten 
kernlosen  Protoplasma ,  das  man  so  oft  bei  andern  Schwämmen  beob- 
achtet, ähnlich  und  scheint  von  der  darunterliegenden  Zellenschicht 
ausgeschieden  zu  sein.  Darunter  finden  sich  sehr  regelmässig  geordnete 
Spicula,  die  frei  zwischen  den  Zellen  liegen.  Um  den  Mund  herum 
zeigen  die  Spicula  eine  bestimmte  Anordnung ,  so  dass  sie  einen  zier- 
lichen Kranz  bilden  (Fig.  41.  a).  Dieser  Kranz  zeigt  sich  bei  allen 
Formen  der  Guancha  ähnlich.  Die  Kalkspicula  sind  säromtlich  drei- 
schenklig,  aber  von  sehr  verschiedener  Grösse,  der  eine  Schenkel  ist 
länger  als  die  zwei  andern;  der  durch  je  zwei  Schenkel  gebildete  Winkel 
beträgt  4  20  ^.  Die  Spicula  sind  nicht  hohl,  wie  man  beim  Glühen  oder 
Auflösen  in  schwachen  Säuern  leicht  sehen  kann.  Beim  Glühen  be- 
kommt man  oft  ein  Bild ,  welches  man  einer  verkohlten  organischen 
Grundlage  zuschreiben  möchte.  Aber  da  ich  diese  Grundlage  beim  all- 
mählichen Auflösen  in  verdünnter  Essigsäure  niemals  bekommen  habe, 
so  konnte  ersteres  wohl  eine  optische  Täuschung  sein.  Die  Spicula  bil- 
den bei  Guancha  ein  zierliches  Netzwerk,  dessen  Anordnung,  wie  vorhin 
erwähnt,  sehr  regelmässig  und  constant  ist.    Der  längere  Schenkel  ist 

»lud  IV.    2.  -45 


226  '>J^-  Miklaeho-Maelay, 

gewöhnlich  nach  unten  gerichtet;  (Fig.  6.)  die  Anordnung  ist  bei  allen 
Formen  der  Guancha  dieselbe.  Wie  die  Spicula  in  der  Guaneba  entr- 
stehen,  weiss  ich  nicht.  Die  verdauende  CavitSt  ist  mit  Flimmerepitbcl 
ausgekleidet,  wie  man  das  bei  gewissen  Umständen  sehr  gut  sehen 
kann.  Wenn  die  verdauende  Cavitat,  wie  wir  später  sehen  werden,  mit 
Embryonen  angefüllt  ist,  so  kann  sie  eine  beträchtliche  Ausdehnung 
erleiden,  die  Wandungen  werden  noch  dttnner,  und  man  kann  das  in- 
nere Epithel  beim  Vorttbergleiten  der  bewimperten  Embryonen  deutlich 
unterscheiden.  Genügend  dünne  Durchschnitte  an  der  zarten  "frischen 
Guancha  sind  mir  nie  gelungen ,  so  dass  ich  die  Epithelschicht  nie  im 
Zusammenhange  beobachtet  habe;  ich  sah  an  diesen  Durchschnitten 
blos  die  äussere  Hülle,  durchschnittene  Spicula  zwischen  der  innem 
Zellenschicht,  und  einzelne  abgelöste  Zellen,  die  wahrscheinlich  von  der 
Epithelschicht  abstammten.  In  den  Wandungen  der  Guancha  findet 
sich  durchaus  nichts  den  von  Liebbrkühn  bei  Spongillen  nachgewiesenen 
Wimperapparaten  Analoges.  Etwas,  den  sogenannten  Einströmungs- 
öffnungen Aehnliches  habe  ich  nur  bei  ein  paar  Exemplaren  gesehen : 
es  waren  sehr  enge  Ganäle,  die  die  äussere  Hülle  durchbrachen  und 
sich  in  der  mittleren  Zellenschicht  verloren,  bis  in  die  verdauende  Ca- 
vität  Hessen  sich  dieselben  nicht  verfolgen.  Bei  sehr  vielen  andern 
speciell  darauf  untersuchten  lebenden  Schwämmen  Hess  sich  gar  nichts 
derartiges  auffinden. 

Durch  Behandlung  mit  schwachen  Säuren  kann  man  sämmtliche 
Spicula  entfernen,  dann  bekommt  man  ein  weiches  durch  Behandlung 
mit  Carmin  sich  intensiv  roth  färbendes  sackförmiges  Gebilde ,  an  wel- 
chem man  die  zellige  Structur  leicht  erkennen  kann.  Durch  Entfernung 
der  Spicula  wird  die  äussere  Form  der  Guancha  gar  nicht  verändert. 

Ein  ganz  analoges  Bild  bekommt  man  bei  Entfernung  des  Parenr 
chyms  des  Schwammes  mittels  Glühen ;  man  erhält  schön  angeordnete 
Spicula,  die  auch  die  Form  des  Schwammes  vollkommen  darstellen. 
Was  ich  hier  über  die  mikroskopische  Structur  gesagt,  gilt  für  alle 
Formen. 


Fortpflanzung. 

Beim  Untersuchen  einiger  Individuen  fand  ich  die  ganze  ver- 
dauende Cavität  mit  einer  zelligen  Masse  angefüllt  (Taf.  IV.  Fig.  i,e).  Um 
diesen  Inhalt  deutlicher  zu  sehen,  entfernte  ich  durch  Essigsäure  die 
Spicula  und  fand  diese  Masse  aus  Zellencomplexen  (Keimkörper  der 
Autoren)  bestehend,  die  durch  äusserst  schwache  Conturen  getrennt 
waren  (Fig.  5.).   Einzelrfe  Individuen  derselben  Gruppe  waren  unver- 


<8^ngu 


Beitrüge  znr  Kenntniss  der  «S^ongien  I.  227 

ändert  und  noch  andere  zeigten  cßeselben  Compleie  mit  einer  deut- 
lichen Hülle  umgeben.  Weitere  Untersuchungen  ergaben,  dass  diese 
zelligen  Conglomerate  kleiner  werden  und  sich  verdichten ,  so  dass  sie 
spater  nur  einen  Theil  der  verdauenden  Cavität  einnehmen.  Die  in- 
neren Parthien  dieser  Körper  färben  sich  braun  und  es  differenzirt  sich 
an  ihnen  eine  helle  ziemlich  dicke  äussere  Schichte.  Man  kann  di^se 
Gebilde  nach  Ablauf  dieser  Differenzirung  als  Embryonen  bezeichnen. 
Bald  darauf  bekommen  sie  lange  Wimpern,  vermöge  deren  sie  in  der 
verdauenden  Cavität  umherschwimmen  (Fig.  4  e).  Diese  bewimperlen 
Embryonen  treten  durch  den  Mund  aus  und  verlassen  so  das  Mutter- 
thier.  Die  freigewordenen  Embryonen  (Schwärmsporen  der  Autoren) 
sind  oval  (Fig.  12),  besitzen  einen  dunkelbraunen  Inhalt  und  eine  helle 
Corticalschicht  und  ttber  dieser  noch  eine  zarte  Hülle. 

Deber  die  feinere  Structur  dieser  hellen  Schicht  weiss  ich  nicht  viel  zu 
sagen.  Die  angewandten  Vergrösserungen  (450)  reichen  nicht  aus,  um 
ihre  Beschaffenheit  zu  erkennen.  Sie  schien  mir  aus  sehr  grossen  Zellen 
zu  bestehen,  doch  will  ich  das  nicht  behaupten.  Bei  leichten  Druck- 
versuchen mit  dem  Deckgläschen  zerreisst  die  äussere  Hülle  sowie  die 
helle  Corticalschicht  und  der  braune,  aus  Zellen  bestehende  Inhalt  tritt 
aus;  in  diesen  ausgetretenen  Zellen  habe  ich  nie  etwas  einem  Spiculum 
Aqhnliches  gefunden.  An  den  folgenden  Tagen  fand  ich  mehrere  der  Em- 
bryonen am  Glase  ansitzend,  während  andere  noch  herumschwärmton. 
Einige  der  festhaftenden  hatten  schon  einen  Theil  ihres  Wimperkleides 
verloren  und  ihre  äussere  Gestalt  war  verändert.  Diese  Embryonen 
gingen  aber  im  Laufe  der  folgenden  Tage  zu  Grunde  und  da  die  Be- 
obachtung in  die  letzte  Zeit  unseres  Aufenthaltes  in  Arrecife  fiel,  so 
musste  ich  die  Anstellung  neuer  Züchtungsversuche  aufgeben  und  darauf 
verzichten  die  ganze  Entwickelung  vom  Embryo  bis  zur  erwachsenen 
Guancha  zu  verfolgen.  Aber  schon  lange  vor  dieser  Beobachtung  fand 
ich  ganz  junge  Exemplare  derselben  Guancha ;  sie  besassen  noch  keine 
differenzirte  Mundöffnung,  die  auch  hier,  wie  bei  den  übrigen  Schwäm- 
men erst  später  entsteht,  so  dass,  obwohl  mir  gewiss  einige  Zwischen- 
stadien fehlen,  ich  doch,  auf  die  positiven  Beobachtungen  gestützt,  ein 
ideales  Bild  der  vollständigen  Entwicklungsreihe  construiren  kann. 

Fig.  \  5  auf  Taf .  IV.  stellt  diese  Entwicklungsreihe  vor.  « 

Von  einem  befruchtenden  Elemente,  Samenfctden,  hnbo  ich  nichts 
gesehen. 

45» 


228  Wi^Miklncho-Maclay, 

Gemmulabildung   bei   Gu'ancha   und   andern   See- 
schwämme n; 

Eine  andere,  ebenfalls  interessante  Fortpflanzungsart,  die  ich  bei 
Guancha  beobachtete,  ist  die  sogenannte  Gemmulabildung,  die 
auch  bei  anderen  Seeschwämmen  verbreitet  ist;  auf  Algen,  Pfähleö, 
Steinen  am  Strande  fand  ich  zuweilen  kleine^  weissliche  Kügelcben ,  die 
ich  für  Gemmulae  ansah,  ohne  zu  wissen,  dass  sie  der  Guancha  enge- 
hörten.  Endlich  half  mir  ein  glücklicher  Zufall.  Eines  Tages  erbeutete 
ich  eine  Guanchagruppe ,  deren  Formen  mir  auffielen.  Ich  hielt  diese 
Schwämme  in  einem  Gläschen  isolirt;  und  fand  am  nächsten  Tage  noch 
keine  wesentliche  Veränderung.  An  den  folgenden  Tagen  fehlte  mir 
die  Zeit  jene  Schwämme  von  neuem  zu  untersuchen ,  so  dass  ich  nur 
einigemal  das  Wasser  wechselte.  Am  fünften  Tage  fand  ich  zu  meinem 
grossen  Erstaunen  die  Gruppe  ganz  verändert.  An  einzelnen  Stellen  der 
Schwammindividuen  boten  sich  Anschwellungen  dar  (Fig.  6  g) ,  die  an 
anderen  scharf  abgegrenzt  wareo,  und  eine  UmwandlTlng  in  Gemmulae 
wahrnehmen  Hessen.  Die  eine  derselben  löste  sich  schon  in  ein  paar 
Stunden  ab.  Sie  glich  vollständig  den  vorhin  erwähnten  (Fig.  7) ,  die 
mir  bezüglich  ihrer  Abstammung  anfänglich  unbekannt  waren. 

Die  dünne  Wandung  umschloss  eine  aus  Zellen  bestehende  Sub- 
stanz und  einzelne  Spicula  des  Mutterschwammes. 

Um  vollkommen  sicher  zu  sein ,  nahm  ich  eine  andere  Guancha- 
gruppe (Fig.  8),  deren  Individuen  voll  Embryonen  waren  und  unter- 
warf sie  demselben  Versuche.  In  wenigen  Tagen  erhielt  ich  neue  Gem- 
mulae (Fig.  9),  die  Individuen  mit  den  Embryonen  waren  rückgebildet. 
Die  Gemmulae  der  Guancha  entwickeln  sich,  indem  einzelne  Stellen  des 
Körpers  anschwellen.  Die  Wand  derselben  wird  an  diesen  Stellen  dün- 
ner, durchsichtiger,  die  Anschwellung  nimmt  allmählich  an  Grösse  zu 
und  die  Schwammzellen  und  Spicula  des  Schwammes  gehen  in  diese 
sich  bildende  Gemmula  über,  die  sich  allmählich  abschnürt.  Die  äussere 
Hülle  der  Guancha  wird  zur  Gemmulahülle,  der  Inhalt  des  Schwammes 
zum  Gemmula-Inhalt.  Aus  einem  Schwammindividuum  geht  bald  eine 
Gemmula,  bald  gehen  deren  zwei  hervor. 

Ich  behielt  die  abgelösten  Gemmulae  bis  zu  meiner  Abreise  aus 
Aürecife,  zwei  Wochen  ungefähr,  wechselte  sorgfältig  das  Wasser,  ohne 
jedoch  eine  Weiterentwickelung  der  Gemmulae  erzielen  zu  können. 

Das  Schicksal  dieser  Gemmulae  ist  wahrscheinlich  dasselbe  wie  das 
derGemmulae  anderer  Schwämme;  sie  treiben  sich  umher,  bis  sie  gün- 
stige Gelegenheit  und  Jahreszeit  finden.  (Dabei  muss  erwähnt  werden, 
dass   meine  Beobachtungen   in   den  Monat  Februar  fielen).  —  Schon 


Beiträge  lur  Keuutoiss  der  §|^ieu  1.  229 

früher  fand  ich  am  Fuss  vieler  einzeln  stehender  Guancha  Fetzen  eines 
Häutchens  und  Spicula,  die  der  äHancha  anzugehören  schienen  (Fig.  16.). 
Die  Bedeutung  dieses  HUutchcns  wurde  mir  aber  erst  dann  klar,  als  ich 
diese  Thatsache  mit  dem  Vorhergehenden  in  Zusammenhang  brachte. 
Ich  untersuchlb  darauf  sehr  viele  Exemplare,  bei  einigen  fand  ich  gar 
nichts  derartiges,  bei  andern  gleiche  Fetzen ,  zwei  oder  drei  aber  be- 
sassen  vollständige  lläutc,  die  am  untern  Ende  des  Stieles  sassen  und 
viel  umränglicher  waren,  als  die  darauf  sich  erhebende  Guancha.  Die 
Vergleichung  dieser  Häute  mit  der  structurlosen  GemmulahüUe  erwies 
beider  Identität.  Diese  Beobachtungen  habe  ich  mehrfach  wiederholen 
können.  So  fand  ich  ganz  einzeln  vorkommende  Guancha  auf  Äigon 
an  einer  Uferstelle  bei  Puerto  Naos  (Lanzarote] ,  wo  ich  nach  langem 
Suchen  keine  andere  Guancha  zu  Gesicht  bekam.  Sie  besassen  die  be- 
schriebenen Membranreste,  offenbar  waren  sie  als  Gemmulae  dahin  gc- 
rathen.  Die  Gemmulae  sind  beim  SUsswasserschwamm  von  Libberkühn 
und  andern  Naturforschem  beobachtet  und  genauer  untersucht  worden. 
Es  war  zu  vermuthen,  dass  das  Vorkommen  dieser  Bildungen  nicht  blos 
auf  Spongilla  beschränkt  sei,  aber  soviel  ich  weiss,  sind  Gemmulae  bei 
Seeschwämmen  noch  nicht  constatirt  worden.  Da  ich  fast  bei  allen  auf 
Lanzarote  vorkommenden  Schwämmen  Gemmulae  gefunden  habe,  so 
benutze  ich  diese  Gelegenheit,  um  sowohl  die  grössere  Verbreitung 
dieses  Fortpflanzungsmodus  nachzuweisen,  als  auch  einiges  über  die 
Verschiedenheit  in  ihrem  Vorkommen  mitzutheilen.  Die  Gemmulae 
fanden  sich  bei  Kalk-,  Kiesel-  und  Hornschwämmen.  Man  trifft  dieselben 
bald  imParenchym  des  alten  Schwammes  (Fig.  18),  bald  frei  vom  Wasser 
getrieben  oder  an  fremde  Gegenstände  befestigt.  Die  Gemmulae  ent- 
stehen bei  Hornschwämmen  im  Innern  des  Schwammkörpers ,  indem 
sich  an  einzelnen  Stellen  Anhäufungen  von  Zellen  bilden.  Diese  umgeben 
sich  mit  einer  Hülle  und  bleiben  in  diesem  Zustande,  bis  mechanische 
Einwirkung  des  Wassers  die  sie  umschliessenden,  allmählich  abster- 
benden Theile  des  Mutterschwammes  entfernt  und  sie  auf  diese  Weise 
befreit.  Die  Gemmulae  der  Hornschwämme  zeigen  einen  Zusammen- 
hang mit  dem  Gei*üsto,  indem  Verästelungen  desselben  in  dieGemmula 
hineinragen  (Fig.  18a).  So  sieht  man  beim  Absterben  des  Schwammes 
oft  grössere  Massen  des  Gerüstes  mit  den  daran  sitzenden  Gemmulae. 
Dieser  Zusammenhang  persistirt  aber  nicht  lange ;  das  Ilorngerüst  wird 
durch  das  strömende  Wasser  zerbröckelt  und  die  einzelnen  Gemmulae 
werden  frei.  Vom  alten  Gerüst  bleiben  noch  flockenartige  Reste  als 
Anhänge  (Fig.  19a)  an  der  Gcmmula  übrig,  womit  sich  diese  sehr  leichten 
Ilolzstückcheri  anhängen  und  mit  denselben  weite  Wanderungen  machen 
können.  Die  Gemmulae  dieser  Schwämme  sind  helle  oder  dunkelbraune 


230  ^*  Miklucho-Maclay, 

Kugoln  von  verschiedeaer  Grösse  {\ — 2Mm.j)  diese  ist  sogar  am  selben 
Schwämme  sehr  wechselnd.  Die  Hülle  ist  dünn,  stark  lichtbrechend) 
in  Kali  nur  beim  Kochen  löslich  und  bietet  auch  der  Einwirkung  von 
Sauren  viel  Widerstand  dar. 

Dieses  Verhalten  scheint  aber  je  nach  dem  Älter  der  Gemmula  ver- 
schieden zusein;  Hüllen  älterer  Gemmulae  sind  am  schwersten  löslich. 
Somit  bietet  diese  Membran  ähnliche  Veränderungen  wie  Chitinmem- 
branen dar.  Von  Kiesel-  oder  Kalkeinlagerungen  in  der  Hülle ,  ctvyas 
dem  Amphidisken  Aehnlichem  habe  ich  keine  Spur  gefunden.  £in  Po- 
rus  fand  sich  nur  bei  einem  Kalkschwamm,  Nardoa  canariensis  mihi  *), 
wo  der  Inhalt  beim  Aufdrücken  mit  dem  Deckgläschen  nur  an  einer 
bestimmten  Stelle  hervortrat.  Bei  allen  andern  zerriss  auch  beim  leisesten 
Aufdrücken  die  ganze  Hülle. 

Es  besteht  durchaus  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  dem 
Inhalte  der  Gemmula  und  dem  Parenchym  desselben  Schwammes ,  es 
sind  dieselben  Zellen,  dieselben  Spicula.  In  der  Gemmula  eines  Uorn- 
schwammes  habe  ich  ziemlich  grosse  concrementartige  Bildungen  ge- 
troffen, die  in  Säure  sich  nicht  lösten,  nur  bei  Behandlung  mit  Kali  eine 
deutliche  concentrische  Schichtung  zeigten.  Ob  sie  dem  Schwamm  ange- 
hören oder  fremde  Bildungen  sind,  habe  ich  nicht  ermitteln  können. 

• 

Vorkommen  der  Guancha  und  Stellung  im  Systeme. 

Die  Zeit  meiner  Untersuchungen  fiel  in  den  Februar.  Der  Fundort 
der  Guancha  blanca  waren  die  Riffe  am  Fort  vor  dem  Puerto  del  Arre- 
cife  auf  der  Insel  Lanzarote.  An  andern  Stellen  habe  ich  sie  zwar  ge- 
sucht, aber  nicht  gefunden,  mit  Ausnahme  zweier  vereinzelter  Guancha 
in  Puerto  Naos. 


4)  Es  fanden  sich  bei  Arrecife  ausser  den  beschriebeocn  noch  drei  Kalk- 
schwämme, deren  kurze  Beschreibung  ich  hier  anreihen  will.  Diese  Schwömme 
bilden  ein  mit  Lücken  durchbrochenes  Polster,  besitzen  eine  oder,  mehrere  Mund- 
Öffnungen,  die  in  einen  Gomplex  von  Canälen  führen;  stfmmtliche  Spicula  sind 
dreistrahlig ,  die  Schwämme  zeigen  einen  übereinstimmenden  Bau  und  unter- 
scheiden sich  von  einander  nur  durch  ihre  Farbe,  die  bei  den  einzelnen  sehr  Consta  nt 
ist.  Der  eine  Schwamm  ist  weiss,  der  andere  mennigroth,  der  dritte  schwefelgelb. 
Die  Farben,  die  am  lebenden  Schwamm  sehr  schön  sind,  verschwinden  in  Spiritus. 
Die  Schwämme  färben  sich  braun  und  sind  in  diesem  Zustande  kaum  zu  unter- 
scheiden, sowie  auch  die  Spicula  nur  sehr  wenig  von  einander  verschieden  sind. 
Diese  drei  Schwämme  passen  am  besten  in  die  von  0.  Schmidt  aufgestellte  Gattung 
Nardoa  und  ich  nenne  sie  nach  Fundort  und  Farbe  N.  canariensis,  N.  rubra  und 
N.  sulphurea.   Gemmulae  habe  ich  bei  den  zwei  letzteren  nicht  gefunden. 


Beiträge  zur  Kenntuiss  der  SpoigRo  I.  231 


Auf  meiner  Rückreise  nach  EurofChabe  ich  mehrfach  die  Strand- 
säume  der  nordafrikanischen  Kü9le  (bei  Mogador  und  Massagan)  unter- 
sucht und  fand  ziemlich  viele  Schwämme,  zum  Theil  solche  die  auf  den 
canarischen  Inseln  tfleines  Wissens  nicht  vorkommen;  die  Guancha 
fehlte  jedoch  hi^f.  Auch  mein  Suchen  am  Strande  der  Bai  von  Algesiras 
bei  Gibraltar  war  fruchtlos.  In  Arrecife  aber  ist  die  Guancha  durchaus 
keine  Seltenheit.  Sie  sitzt  gruppenweise ,  die  verschiedenen  Formen 
Mtsaaimen,  ap  Steinen,  die  gewöhnlich  bei  Ebbe  trocken  gelegt  werden. 

Das  ist  ungefähr  Alles,  was  ich  über  die  schöne  Guancha  blanca 
zu  sagen  habe.  Ich  weiss  wohl ,  dass  meine  Beobachtungen  Vieles  zu 
wünschen  übrig  lassen,  aber  diese  Untersuchungen  fallen  in  die  letzten 
Tage  des  Aufenthaltes  auf  den  canarischen  Inseln,  sodass  ich  Vieles  nicht 
berücksichtigen  konnte. 

Bevor  ich  zur  systematischen  Stellung  der  Guancha  blanca  über- 
gehe, will  ich  über  die  jetzt  bestehende  Classification  der  Kalkschwämme 
einige  Worte  sagen. 

DerGattungsnameGrantia  ist  für  sämmtliche Kalkschwämme  von 
Flbmhing  4  8^8  aufgestellt.  Libberkühn  trennte  davon  Sycon;  er  belegte 
mit  diesem  Namen  alle  cylindrischen  mehr  oder  weniger  regelmässigen 
Kalkschwämme,  im  Gegensatz  zu  den  formlosen  und  mit  Lücken  durch- 
brochenen, für  die  er  den  Namen  Grantia  beibehielt. 

BowBRBANK  thoUte  dann  die  Syconen  in  den  eigentlichen  Sycon  und 
in  die  Dunstervillia;  0.  Schmut  stellte  die  Gattungen  Ute  und 
Nardoa  auf: 

Nach  O«  ScHsrnT  zerfallen  die  Kalkschwämme  in  folgende  Gattungen : 

1.  Gattung  Sycon  Lbk.  Körper  spindelförmig,  eine  grosse 
Centralhöhle  enthaltend.  Um  die  Ausströmungsöfinung  ein 
Kranz  grosser  Nadeln. 

2.  Gattung  Dunstervillia  Lbk.  Den  Syconen  ganz  ähnlich, 
Oberfläche  getäfelt. 

3.  Gattung  Ute  Sdt.  Schlaffe  Wandungen,  geräumige  Central- 
höhle ohne  Nadelkranz. 

4.  Gattung  Grantia  Lbk.  Körper  unregelmässig,  verästelt,  Zahl 
der  Ausströmungsöffnungen  unbestimmt,  Nadelkranz  fehlt, 
Wandungen  solid. 

5.  Gattung  Nardoa  Sdl.  Körper  unregelmfissig ,  Wandungen 
sind  zart,  die  Canäle  münden  in  eine  Centralhöhle  <) . 

Meine  Guancha  besitzt  Formen,  die  nach  den  Autoren  für  ver- 
schiedene Gattungen  gelten  können,  da  sie  zugleich  Ute  (Form  A)  und 


4)  Ose.  ScHBiDT,  8p.  d.  Adriat.  Meeres  S.  48—49. 


232  ^  N.  Miklußho-Maclay, 

Nardöa  ist  (PormD  ,  und  üoch  ehie  FormC.  besitzt,  die  vielleicht  auch, 
einzeln  gefunden  und  untersucht,  als  Gattung  aufgestellt  werden  könnte. 
Dieses  Verhalten  war  der  Grund,  weshalb  »ich  für  den  untersuchten 
Schwamm  einen  nicht  gebrauchten  Namen  wählte;-  Ich  überlasse  einem 
mehr  in  Systematik  Bewanderten,  die  Guancha  zu  cläsMßciren,  glaube 
aber  dass  solches  ohne  Äenderung  der  bei  der  Systematik  der  Spongien 
angewandten  Principien  nicht  geschehen  könne.  Statt  dessen  wende  ich 
n^ich  jetzt  noch  zu  einigen  allgemeineren  zoologischen  Betrachtui^jelar 
über  die  Natur  der  Schwämme. 

n.  lieber  den  coelenterischen  Apparat  der  Schwämme. 

Der  für  wesentlich  geltende  anatomische  Charakter  derSchwämme, 
dass  das  Wasser  durch  besondere  verschliessbare  mikroskopische  Oeff— 
nungen  aufgenommen,  dann  in  den  Ganälen  des  Schwammos  durch  die 
sogenannten  Wimperorgane  hindurch  getrieben  wird  und  wieder  durch 
besondere  Äusströmungsöffhungen  (Schornsteine)  den  Schwamm  ver- 
lässt,  ist  durchaus  nicht  so  allgemein ,  wie  man  bis  jetzt  anzunehmen 
pflegte.  Es  waren  die  Untersuchungen  von  Grant  und  LibbbrkCIhn  ,  die 
den  Grund  zu  dieser  Anschauung  legten,  die  auch  mit  verschiedenen, 
aber  nicht  wesentlichen  Modificationen  von  Bowbrbank,  0.  Schhidt  und 
anderen  Spongiologen  angenommen  ist.  Der  dieser  Mittheilung  gegebene 
Raum  erlaubt  mir  nicht,  auf  alle  diese  Verschiedenheiten  einzugeben. 
Ich  will  blos  bemerken,  dass  einige  Umstände  gegen  diese  so  verbrei- 
tete Anschauung  sprechen.  Während  meines  Aufenthaltes  auf  den  ca- 
narischen  Inseln  hatte  ich  Gelegenheit,  ziemlich  viele  Seeschwämme  zu 
sehen  und  lebend  zu  beobachten.  Dabei  ist  es  mir  gelungen,  bei  vielen 
derSchwämme  zusehen,  dass  durch  die  Ausströmungsöffnungen  Wasser 
nicht  nur  ausströmt,  sondern  auch  einströmt.  Das  Aus- 
strömen des  Wassers  ist  an  den  Schwämmen  weit  leichter  zu  beobach- 
ten, als  das  Einströmen.  Der  hauptsächliche  Grund  liegt  in  den  Um- 
ständen, unter  welchen  die  Beobachtung  angestellt  wird.  Denn  es  ist 
sehr  schwierig,  Momente  (Licht,  Wellenbewegung  des  Wassers  etc.; 
zu  beseitigen,  die  als  Reize  auf  den  Schwamm  wirken,  auf  \^elche  der- 
selbe reagirt,  indem  er  sich  zusammenzieht  und  das  Wasser  ausströmen 
lässt.  Bei  längerer  Beobachtung  gelingt  es  unzweifelhaft^  auch  das  Ein- 
strömen zu  beobachten.  Es  wäre  demnach  die  Schornsteinöffnung, 
nicht  blos  Ausströmungs-,  sondern  auch  Einströmungsöff- 
nung. 

Damit  will  ich  durchaus  nicht  sagen ,   dass  andere  Forscher   wie 
Grant  ,  Libberkühn  etc.  falsch  beobachtet  haben ;  alles  was  dieselben 


$^9ip;n 


Beitri&ge  lur  Kenntniss  der  Sppifiien  I.  233 

gesehen  habeD,  habe  ich  auch  an  den^n  mir  beobachteten  Schwämmen 
gefunden.  Vielleicht  liegt  es  nuF  an  den  untersuchten  Objecten ,  dass 
es  mir  gelang  mehr  zu  sehen,  als  die  obengenannten  Naturforscher. 
Es  ist  auch  möglich,  dass  die  Behauptung,  dass  die  Schwammöffnungen 
zu  verschiedenen  Functionen  differenzirt  seien,  bei  manchen  Schwäm- 
men ganz  bemchtigt  ist.  Aber  diese  Theorie  derCirculation  d«s  Wassers 
wUre  für  andere  Spongien  vollkommen  unhaltbar.  Bei  meiner  Guancha 
z.  B.  finden  sich  weder  Einströmungsöffnungen  noch  Wimperapparate. 
Die  ganze  Höhlung  besteht  aus  einem  sackförmigen  Gebilde,  in  welches 
Wasser  durch  die  Mundöffnung  sowohl  aufgenommen  als  ausgestossen 
wird,  ganz  nach  Art  des  Verdauungsapparats  bei  Coelenteraten. 

Viel  natürlicher  erscheint  es  mir,  die  Hohlraumverhältnisse  der 
Schwämme  von  einem  allgemeineren  Standpuncte  zu  betrachten  und 
zu  beurtheilen.  Wenn  wir  die  allmähliche  Entwickelung  der  Ernährungs- 
organe in  der  Thierreihe  verfolgen,  so  finden  wir  eine  Reihe  von  Diffe- 
renzirungon.  Bei  vielen  Thieren  geschieht  die  Nahrungsaufnahme  durch 
die  ganze  Körperoberfläche  (Gregarinen,  Cestodenj.  Diese  Form  der 
Ernährung  (Endosmoso)  findet  sich  auch  im  Pflanzenreiche.  Die  Auf- 
nahme fester  Stoffe  in  den  Körper  findet  also  nicht  sogleich  durch  eine 
Mundöffnung,  die  in  die  verdauende  Höhle  führt,  statt,  sondern  gleich- 
sam als  Uebergang  hierzu  ist  in  einer  Abtheilung  von  Thieren  (denRhi- 
zopoden)  der  gesammte  Körper  zur  Nahrungsaufnahme  dienend,  indem 
jede  Stelle  der  Oberfläche  als  Mund ,  jede  Stelle  des  Innern  als  Magen 
zu  fungiren  im  Stande  ist.  Auf  einer  höheren  Bildungsstufe  treffen  wir 
dann  den  Verdauungsapparat  durch  eine  im  Körper  befindliche  Ca  vität 
vorgestellt,  die  durch  eine  Mundöffnung  nach  aussen  führt  (Coelenteraten, 
viele  Würmer).  Bei  den  Schwämmen  finden  wir  Verhältnisse,  die  als 
Uebergänge  zwischen  den  Einrichtungen  derRhizopoden  und  denen  der 
viel  höher  stehenden  Coelenteraten  angesehen  werden  können.  Es  be- 
stehen nämlich  bei  einigen  Schwämmen  mehrere  Oeffnungen ,  die  zur 
Nahrungsaufnahme  dienen  können,  die  sich  aber  von  den  Einrichtungen 
der  Rhizopoden  unterscheiden,  indem  sie  eine  constantere  Bildung  re- 
präsentiren  (Localisirung  der  Function).  Bei  andern  Schwämmen  be- 
merkt man  schon  eine  Centralisation ,  indem  sich  eine  oder  mehrere 
Oeffnungen  besonders  ausbilden.  Diese  Differenzirung  geht  weiter,  bis 
sie  endlich  zur  Bildung  einer  grossen  Mundöffnung  führt ,  die  zugleich 
auch  After  ist  und  die  in  eine  weite  einfache  oder  complicirte  verdauende 
Cavitut  führt  (bei  unserm  Kalkschwamm,  bei  Hydra  u.  a.).  Diese  Ein- 
richtungen schliessen  sich  unmittelbar  an  die  höhere  Bildungsstufe  des 
Verdauungsapparats  der  Coelenteraten. 

Auf  das  Vorhergehende  mich  stützend,  betrachte  ich  den  cölente- 


234  ^^  ^*  MikluchO'Maclay, 

rischen  Apparat  der  Schwämme  Skt  eine  zwar  noch  indifferentere,  aber 
mit  dem  Gaslrovascularapparat  der  Goelente raten  homologe  Bildung,  die 
bei  den  letzteren  nur  weiter  diiferenzirt  ist. 

Die  weitere  Diiferenzirung  der  verdauenden  Gavität  bei.denCoelen- 
teraten  führt  zum  Auftreten  von  Antimeren ,  die  aber,  wie  ich  spiiter 
mittheilcn  werde,  auch  manchen  Schwämmen  zukommen. 

Ausser  der  Mundölfnung  commünicirt  der  coelenterische  Apparat 
mancher  Schwämme  durch  Ganäle  unmittelbar  nach  Aussen,  bei  eiD^n, 
wie  bei  der  Guancha  und  andern,  fehlen  sie.  Diese  Bildung  wird  all- 
mählich ganz  rudimentär,  verliertdamit  ihre  Bedeutung,  findet  sich  aber 
noch  bei  einigen  Goelenteraten,  wo  sie  später  ganz  verschwindet,  indem 
eine  völlig  abgeschlossene  Leibeshöhle  besteht.  Diese  Auffassung  des 
coelenterischen  Apparats  der  Schwämme  scheint  mir  die  Erscheinungen 
jener  Einrichtung  auf  die  ungezwungenste  Weise  zu  erklären.  Sie 
verbindet  zugleich  einfachere  Zustände  mit  complicirteren,  und  führt 
von  dem  bei  ersteren  herrschenden  Wechsel  vollen  Verhalten  zu  dem 
scheinbar  einen  abgeschlossenen  Typus  repräsentirenden  Verhalten  der 
Goelenteraten  hin. 

Wie  aus  dem  von  mir  Vorgebrachten  ersehen  werden  kann,  bietet 
die  Structur  der  Schwämme  viel  mehr  Mannigfaltigkeit,  als  man  bisher 
annehmen  mochte. 

Man  hatte  irrthümlicherweise  Vorstellungen,  die  aus  den  blos  bei 
einigen  Arten  constatirten  Thatsachen  gewonnen  waren,  auf  die  ganze 
Abtheilung  übertragen. 

Ich  selbst  habe  zwar  zu  wenig  Schwämme  untersucht,  um  über 
alle  bei  den  Spongien  bestehenden  Verhältnisse  der  Structur  und  der 
Lebenserscheinungen  ein  Urtheil  abgeben  zu  können,  allein  ich  darf 
glauben,  dass  das  von  der  Guancha  mitgetheilte  das  Ungenügende  der 
bisherigen  Auffassung  der  Spongien  darthut.  Namentlich  liegt  in  der 
Bildung  des  coelenterischen  Apparates  und  seiner  Entstehungsweise  bei 
den  complicirteren  Formen  ein  jene  Auffassung  umgestaltendes  Moment. 
Wenn  ich  hienacb  auch  die  übrigen  Spongien  beurtheilen  möchte,  so 
thue  ich  dies  jedoch  nur  hypothetisch.  Diese  Hypothese  erscheint  mir 
aber  gerechtfertigt,  da  sie  einmal  auf  Thatsachen  sich  stützt,  und  dann 
ganze  Reihen  sonst  unerklärlicher  Formerscheinungen  in  Zusammenhang 
bringt. 

III.  lieber  die  Stockbildung  der  Schwämme. 

Die  Guancha  blanca  ist  für  die  Frage  der  Stockbildung  nicht  nur 
bei  den  Schwämmen,  sondern  auch  im  Allgemeinen  von  Interesse.  Wir 


Beiträge  zur  Keontniss  der  Spoi^^j^I.  235 

/■ 

haben  gesehen,  wie  aus  mehreren  disj(Mf«ten  Schwammindividuen  (Per- 
sonen) schliesslich  sich  ein  Stock  bilden  kann.  Die  Entstehung  des 
Stockes  geschieht  durch  Verwachsen.  Dieser  Process  ist  besonders  als 
Moment  für  Entstehung  der  Stöcke  von  Interesse.  Bis  jetzt  nahm  man 
an,  dass  die  Ccjjnilen  oder  Stöcke  entstehen  durch  »unvollständige 
Spaltung  dtr  Personen  und  zw^ar  ist  diese  Spaltung  allermeistens 
Knospenbildung,  viel  seltener  Theilung.«^) 

Gmncha  blanca  ist  ein  Beispiel  von  Stockbildung  durch  Ver- 
wachsung oder  Goncrescenz.  Diese  beiden  Arten  von  Stockbii- 
düng  sind  wesentlich  verschieden :  während  bei  der  ersten  Form  (Spal- 
tung der  Personen)  die  einzelnen  Individuen  fünfter  Ordnung  nach  Uaeckel 
sich  nicht  vollständig  entwickeln,  und  einseitig  differenziren ,  so  ver- 
schmelzen bei  der  zweitenForm  die  früher  vollständig  getrennten 
und  ausgebildelen  Personen  zu  einem  Stocke.  Im  letzten  Falle 
gehen  die  einzelnen  Individuen  eine  wirkliche  Rückbildung  ein, 
während  bei  Stockbildung  durch  Spaltung,  wo  die  Individuen  ihre  voll- 
ständige Entwickelung  nicht  erreichen,  von  einer  wahren  Rückbildung 
nicht  die  Rede  sein  kann. 

Die  Stockbildung  stimmt  mit  der  Individualitätstheorie  der 
Schwämme  von  Ose.  Schiudt  nicht  ganz  überein.  Diesem  Autor  zufolge 
kommt  einem  jeden  Schwammindividuum  eine  Ausströmungsöffnung 
(Mund)  zu,  und  mithin  hätte  ein  Stock  soviel  AusströmungsöShungen, 
wie  die  Zahl  der  Individuen  betrüge,  aus  denen  er  besteht.  Stöcke  der 
Guancha  (Fig.  1.  i.  C),  die  aus  vielen  Individuen  bestehen,  besitzen 
gewöhnlich  eine  Mundöffnung,  selten  zwei  oder  drei.  So  Vieles  auch 
die  Theorie  ScuMmr^s  für  sich  hat,  so  ist  doch  die  Individualitdtsfrage 
bei  den  Schwämmen  dadurch  nicht  vollständig  erledigt  und  erwartet 
erst  durch  Ausdehnung  der  Untersuchungen  eine  befriedigendere 
Lösung.  ^  ^ 

lY.  Ueber  die  Stellung  der  Sehwftmme  in  der  Thierreihe. 

Es  erscheint  vielleicht  nicht  überflüssig,  hieran  noch  einige  Worte 
über  die  Stellung  der  Schwämme  zu  den  übrigen  Thierformen  zu 
knüpfen.  Die  Schwämme  unterlagen  einem  grossen  Wechsel  im  Bezug 
auf  die  Classification;  so  reohnete  sieLiNNfi  zu  denThiercn,  Blumbnbagh, 
Okjbn,  Burmeister  u.a.  zu  den  Pflanzen,  LiEBERKüDNaber  erkannte  wieder 
ihre  thierische  Natur. 

Die  Schwämme  als  Thiereaufgefasst,  wurden  bald  zu  den  Protozoen, 


i)  Haeckkl,  Generelle  Morphologie:  Ontogenie  d.  Stöcke  Ji,  145 ff 


236  '    N.  MiklucLo-Maclay, 

bald  zu  den  Goelcnteraten  gerecbqet;  von  Huxley,  Carter,  Perty  u.  A. 
wurden  sie  fU'rRhizopoden  erklärt,  Habckel  betont  auch  ihre  nahe  Bezie- 
hung zu  den  Rhizopoden.  Leugkart  endlich  stellte  die  Schwämme  zu 
den  Goelcnteraten  und  unterschied  sie  als  Poriferen  von  den  übrigen. 
Ich  werde  auf  alle  diese  verschiedenen  Auffassunged  nicht  specicller 
eingehen  und  will  blos  die  Schlüsse,  zu  denen  mich  meine  Unter- 
suchungen gefuhrt  haben,  mittheilen.  Wenn  auch  R.  Leugkaat  die  nahe 
Verwandtschaft,  die  jene  Thiere  mit  den  Goelcnteraten  verbindet,  er- 
kannt hat,  so  hat  er  doch  meines  Wissens  unterlassen  genügende  Be- 
weise für  seine  Auffassung  beizubringen.  Es  war  wesentlich  nur  das 
Ganalsystem,  welches  er  mit  dem  Gastrovascularsystem  der  Goelcnteraten 
verglich.  Ein  complicirtes  Ganalsystem  fehlt  aber  vielen  Goelenteraicn 
und  eine  einfache  verdauende  Gavitdt  kommt  ebenso  jn  anderen  Abthei- 
lungen vor.  Sehr  viele  Momente  jedoch,  sowohl  anatomische  als  Lebens- 
erscheinungen deuten  auf  diese  Verwandtschaft.  Die  allmähliche  Diffe- 
renzirung  der  verdauenden  Cavität,  das  Auftreten  der  Antimeren  ^),  die 
embryonalen  Zustände  und  Entwickelungsformen^j,  die  verschiedenen 
Vermehrungsarten  (Auftreten  geschlechtlicher  neben  der  ungeschlecht- 
lichen Fortpflanzung),  ja  sogar  das  Absterben^],  besonders  aber  dieDif- 
ferenzirungsreihe  des  coelenteri sehen  Apparates  und  die  Betrachtung 
fossiler  Formen  (Petrospongien)  haben  mich  zu  der  Ansicht  geführt,  dass 
die  Schwämme  undGoelenteratenAbkömmlinge  derselben 
Grundform  sind,  und  dass  die  Aehnlichkeit  der  beiden  Gruppen 
nicht  blos  Analogie  ist,  sondern  auf  einer  tiefern  Verwandtschaft,  auf 
Homologie,  beruhet.  Die  viel  geringere  histologische  Differenzirung  (ob- 
wohl in  letzter  Zeil  auch  bei  Schwämmen  contractiles  faseriges  Gewebe 
(Muskeln?)  von  0.  Schmidt  und  Köllikbr  nachgewiesen  ist*),  die  ver- 
breitete Verschmelzungsfähigkeit  (die  aber  auch  bei  Goelcnteraten  vor- 


4)  üin  sich  zu  überzeugen,  dass  Antimeren  bei  den  Spun^ien  auftreten,  be- 
trachte man  bios  die  MundöfTnungen  von  Axinella  polypoidos  in  dem  Werke  von 
0.  Schmidt  (Sponglen  des  Adriat.  Meeres,  Taf.  VI.  Fi::.  4)  otler  mache  einen  Quer- 
schnitt durch  einen  Sycon.  Nicht  minder  bieten  die  fossilen  Formen  zahlreiche 
Beispiele  dieses  Auftretens,  Coeloptychium  lobatum,  Siphonia  coslata  und  manche 
andere. 

2)  Alles  was  man  überEntwickelung  dcrAnthozoen  kennt,  stimmt  vollkommen 
mit  dieser  Ansicht  überein.  * 

3)  Das  Wachsthum  vieler  Schwämme  geschieht,  wie  ich  beobachtet  habe, 
durch  EntWickelung  immer  neuer  Schichten  auf  den  untern  abgestorbenen,  ganz 
ähnlich  wie  bei  Koralleustöcken. 

4)  Interessant  ist ,  dass  diese  contractilen  Fasern  bei  Schwammen  besonders 
deutlich  um  die  MundÖfTnuu^  gelagert  sind,  analog  dem  Verhalten  vieler  Coelen- 
teraten  (Alcyonium,  Verotillum  etc.). 


Beiträge  ur  Kenntoiss  der  Sppi^en  1.  237 

kommt  ^),  die  nicht  so  deutlich  ausgeg{>rocbene  Individualität,  besonders 
aber  der  niedere  Differenzirungsgrad  der  Gewebe  (Fehlen 
der  Nesselkapseln)  sind  Momente ,  wodurch  die  Coelenteraten  über  die 
Spongien  sich  erheben.  Trotz  alledem  wenn  man  das  pro  und  contra 
genügend  berücksichtiget,  kommt  man  zu  der  Ansicht,  dass  die 
Schwämme  nur  als  indifferentere  Zustände  der  Coelenteraten,  oder  um- 
gekehrt, die  Coelenteraten  als  differenzirtere  Schwämme  betrachtet  wer- 
den kOnnen  2)  und  ich  bin  überzeugt,  dass  diese  Verwandtschaft  um 
so  klarer  hervortreten  wird,  je  weiter  wir  in  der  Erkenntniss  der  Or- 
ganisation der  Spongien  fortschreiten  ^ . 

Meine  Ansicht  über  die  Verwandtschaft  der  jetzt  lebenden 
Schwämme  mit  den  Coelenteraten  lässt  sich  in  dem  folgenden  Satze  zu- 
sammenfassen:  Die  jetzt  lebenden  Schwämme  undCoelente- 
raten  sind  aus  gemeinschaftlichen  Grundformen  ent- 
standen, wobei  aber  die  ersteren  eine  viel  niedere  Dif- 
ferenzirung  eingegangen  sind  und  zumTheil  sich  rück- 
gebildet haben.  Die  Petrospongien  stehen  viel  näher  der 
Grundform  und  bilden  den  (Je b ergang  zu  den  jetzt  leben- 
den oder  Autospongien. 


4)  Habceel,  Gen.  Morph.  I.  p.  KKl.  Lacaze  Ddtricis  in  seiner  Hist.  du  Corail 

p.  94  ciiirt  auch  ein  schönes  Betspiel  des  Verwachsens  bei  AnUiozoen. 

• 

2)  Om  nicht  niiss verstanden  zu  werden,  und  um  die  Verwandtschaft  der 
Schwfimnio  zu  den  Coelenteraten  niiher  zu  erläutern,  muss  ich  bemerken,  dass  die 
Antbozo^n  es  sind,  die  sich  zuntfchst  den  Schwämmen  anscbliessen.  Der  Gasiro* 
vascular-Apparat,  der  bei  den  Korallen  höher  differenziri  int,  besitzt  aberdurcbaus  an 
sieb  Nichts  so  CbarakteristiAches,  dass  dadurch  eine  Trennung  desselben  von  dem 
bei  den  Scbwäiumen  vorkommenden  Hohlraumsystem  berechtigt  wäre.  Auch  die 
Entwickelung  der  Anthozoen  be8läti^t  diese  nahen  Beziehungen.  Die  Korallen  ent- 
wickeln sich  aus  bewimperten  Embryonen,  die,  nachdem  sie  sich  festgesetzt  haben, 
mit  einer  einfachen  Ifagenhdhie  versehen  sind.  Erst  später  differenzirt  sich  die 
einfache  verdaaeode  Cavitttt  durch  Entwickelang  der  Septa  etc.  in  das  Gastrovas- 
cuiarsystem.  Die  jungen  Anthozoen  besitzen  keine  Tentakeln ,  die  erst  nach  der 
DifferenzininR  der  AnUmeren  bervorknospen.  Bei  anderen,  so  Antipathes,  bleiben 
sie  stets  rudimeotdr  und  bilden  nur  niedrige  die  Miindöffnung  umstehende  Tubor- 
coJa.  —  Eine  ganz  analose  Reihenfolge  in  der  Entwickelung  findet  sich  bei  der  Bil- 
dung der  Korallensttfcke  durch  Knospen.  (S.  Lacaze  Dothizks  Le  Corail  H.  95  und 
45t— ^•l  elc. 

5)  leb  bofle  narhstens  neue  Beweise  zu  Gunsten  dieser  Auffassung  mitlheilen 
zu  können. 


238  "^  N.  Miklaebo-Maelay, 

Jotzt  lebende  tloetenteraten 


Jetzt  febende 


•'  Schwämme 

0 
# 

•  Petrespongien 


Gemeinsrhafiticher  Stamm. 

Das  Wort  »rückgebildeUi  ist  noch  zu  erliiulern.  Wenn  man  die  jetzt 
lebenden  Schwämme  mit  den  fossilen  vergleicht,  so  findet  man  eine 
gewisse  Verschiedenheit,  die  sogar  so  bedeutend  ist,  dass  von  manchen 
Autoren  (Hakgkbl)  i]  die  Petrospongien  von  den  Autospongien  getrennt 
worden  sind.  Aber  einige  Thatsachen,  die  mir  im  vorigen  Jahre  bei 
Durchmusterung  der  reichen  Collection  fossiler  Schwämme  des  Berliner 
Museums,  und  später  der  Museen  zu  Kopenhagen ,  Stockholm  und  Pe- 
tersburg  aufgefallen  waren ,  können  eine  andere  Meinung  begründen. 
Es  fand  sich  nämlich :  Eine  vollkommene  Uebereinstimmung 
vieler  fossilen  Schwammformen  mit  den  jetzt  lebenden  Spongien,  die 
mir  gegen  die  Trennung  der  Autospongien  von  den  Petrospongien  Be- 
denken erregte.  Es  giebt  fossile  Schwämme ,  welche  der  vorhin  be- 
schriebenen For^  C  der  Guancha  sehr  ähnlich  sind,  z.  B.  Siphonia  pi- 
riformis. Nach  einem  Durchschnitt  von  Siphonia  praeraorsa  zu  urtheilen, 
gelangt  man  durch  die  Mundöffnung,  die  hier  einen  radial  zerklüfteten 
Rand  besitzt,  in  einen  Sirus,  in  den  Canäle  einzumünden  scheinen, 
man  bekommt  ein,  dem  Fig.  3.  2.  g^ebenen  Schema  sehr  ähnliches  Bild. 
Ein  Paar  solcher  Durchschnitte  finden  sich  im  Berliner  Museum. 

Jedenfalls  geht  aus  den  hier  angeführten  und  einigen  anderen  That- 


1)  Gen    Morph.  U.  p.  XXX. 


mu^ 


BeMii«»  nr  KeoiUiss  te  SpbaipM  I.  239 

Sachen  so  viel  hervor,  dass  die  Kentklniss  und  Vei^Ieichong  der  bisher 
sehr  vernachlässigten  fossilen  Sehwdmme  (Petrospongien)  für  das  Ver- 
ständniss  der  lebenden  Schwämme  (Autospongien)  und  ihrer  nahen 
Verwandtschaftsbeziehungen  zadenCodenteraten  von  hoher  Wichtigkeit 
ist.  Wenn  eiderseits  die  Spongien  sidi  durch  ihre  mannigfachen  Be- 
ziehungen zu  den  Rhizopoden  (z.  B.  die  Skeletbildung ,  die  niedere 
Stufe  der  histologischen  Ausbildung)  den  Protisten  anschliessen, 
so  sind  dieselben  doch  andererseits  nicht  von  den  Coelenteratrn 
scharf  zu  trennen.  Die  Stellung  der  Spongien  im  Systeme  dürfte  am 
besten  dadurch  ausgedrückt  werden,  dass  man  sie  nach  Leückait  als 
die  niederste  Stufe  der  Coelenteraten  betrachtet,  da  ausser  der  histolo- 
gischen Differenzirung  alle  charakteristischen  Merkmale  der  beiden 
Thiergruppen  gemeinschaftliche  sind. 


Erklamng  der  Abbildungen. 

Taf.  IV. 

Fig.  <.  Hauptformen  der  Gaancha  blanca  Mcl.,  sehr  vcrgiössert. 

A.  Die  einTache  Form. 

B.  C.  D.  Durch  Verwachsung  and  Knospenbildang  entstandene  Formen  des- 

»eilien  Schwammes. 

m.  Mundöffnung. 

l.    Lücken. 

k.   Neue  durch  Knospenbildung  entstandene  Individuen. 

1.   Stiel. 

Fig.  i   Reihe  von  Uebergang.srormen,  sehr  vergrössert. 

4 .   Form  B. 

i.   Exemplar ,  an  welchem  man  den  Verwachsungsprocess  deutlich  sehen 

kann.  Die  verdauenden  CaviUlten  inm  Theil  vereinigt,  die  MundöfTnungen 

nur  getrennt. 

V  Verwachsungsslell«  durch  dickere  Wandung  au*<^ozcichnet. 
t.   Analoges  Verhalten,  gemeinschaftliche  verdauende  Cavilät  und  3  Mund- 

öfTnungen. 

4.  Form  C.  miti  Mondöffnungen. 

5.  Form  C.  mit  4  Mundöffnung,  auf  9  Stielen  sitzend. 

6.  7.  Formen  D. 

m.  I.  «.  Dieselbe  Bezeichnung  wie  Fig.  4. 

Fig.  S.  Schema  der  verdauenden  Cavität  der  Guancha-Formeo. 

4.  t.  S.  Längs-,  4.  5.  6.  7.  Querdurchschnitte. 

4.  u.  4.  Längs-  und  Querdurchschnitt  durch  Form  A. 

9.  Lflngsdurchschnitt  durch  Form  C. 

6.  7.  Querdurchschnitte  durch  dieselbe  Form  aber  in  verschie<ienen  Ebenen, 

6.  im  obern  Drittheil,  wo  man  das  Verhtflinisa  des  Sinus  5  deutlich  s(>hi»n 

kann ;  7.  Durchschnitt  im  untern  Dritlheil. 

8.  5.  Durchschnitte  durch  die  Gruppe  9.  Fig.  9. 

^  a.    Wnndong. 

b.    Vcnlaupnde  Cavilüt. 


240  N.  Miklnclio-Maclay,^itrSge  zur  Kenntniss  der  Spongien  I. 

m.  Mundöffnung.  V 

c.   Stiel. 
s.   Sinus. 

Fig.  4.  Guancha-Grappe  der  Form  A.  Die  8  Individuen  der  Gruppe  enthalten  Em- 
bryonen in  verschiedenen  Stadien  der  Entwickelung.  e  Zellencomplexe 
durch  einfache  Conturen  von  einander  getrennt,  noch  keine  Wimpern  zei- 
gend, e'  Embryonen  mit  einer  deutlichen  Grenzschicht,  wiraperlos.  e"  Be- 
wimperter Embryo  in  der  verdauenden  Gavität  des  Mutterthieres  herum, 
schwärmend,  welche  er  einige  Tage  nach  der  Bewimperung  verlässt.  Die 
Spicula  in  dieser  Gruppe  sind  durch  Essigsäure  entfernt,  um  das  Innre  des 
Schwammes  deutlich  zu  sehen    ^.  Hülle.   ».  Stiel,   m.  Mundöffnung. 

Fig.  6.    Z^llen-Conglomerat  (Keimkörper  der  Autoren  bei  450  Vergr.J 
h.  Aeussere  Wandung  des  Mutterthieres. 

Fig.  6.   Guancha-Gruppe  mit  Gemmulabildung. 
g.  Gemmula. 

Fig.  7.   Eine  abgelöste  junge  Gemmula. 
k.  Hülle,   t.  Zellen,   c.  Spiculum. 

Fig.  8.    Guancha-Gruppe  vor  der  Gemmulabildung. 
a.  mit  Embryonen  gefülltes  Individuum. 

Fig.  9.    Die  in  Fig.  8.  dargestellte  Guanchagruppe  in  Gemmulabildung  begriffen. 
Das  mit  Embryonen  erfüllte  Individuum  a.  'sl  iillniUhlicl:  \prkümnicrt. 

Taf.  V. 

Flg  40.  Slück  der  Form  A.  bei  Vergrösserung  von  250 

a.  Kranz  iim  die  Mundöffnung,  eine  regeln liis.si^c  Anordnung  zeigend. 
6.  Dünne  homogene  Hülle,  die  Aussenflächc  umkleidend  (Cuticula). 
c.  Zellen,  zwischen  welchen  die  Spicula  sich  finden. 

Fig.  41.  Stück  der  Form  C,  dieselbe  Vergrösserung  wie  Fig.  4  0.  l.  Lücke,  übrige 
Bezeichnung  wie  Fig.  5. 

Fi(!.  4  2.  Durchschnitt  durch  den  Sinus  der  Form  C,   um  das  Verhältniss  zu  den 
Mundöffnungen  und  Canälen  zu  bezeichnen  (420  Vergr.). 
a.  MundöfTnung.   6.  Spiculakranz.    c.  Durchschnittene  Wandungen,   d.  Si- 
nu.s.   0.  Einmündeode  Canäle. 

Fig.  43.  u.  44.  Zwei  Embryonen. 

a.  Dunkelbraune  Centralmasse.  ' 

6.  Aeussere  hellere  Schicht. 

c.  Structurlose  Hülle,  lange  Wimpern  tragend. 

Fig.  45.  Schema  der  Entwicklungs.stadien  der  Guancha. 

Fig.  46.  Guancha-Individuum,   an   dessen  Stiel  noch  die  structurlose  Gemmula- 
Membran  befestigt  ist. 

Fig.  4  7.  Stiel  einer  Guancha  bei  etwas  stärkerer  Vergrösserung. 
h  Hülle.   6.  Schwamtiizellen.   a.  Spicula. 

Fig.  48.  Ein  sehr  häufig  im  atlantischen  Ocean  vorkommender  gelber  Hornschwamm, 
Nat.  Gr. 

a.  Hornskelet  mit  der  an  ihm  sitzenden  Gemmula  g. 

b.  Durchschnitt  eines  sogenannten  Schornsteins. 

c.  Verdauende  Gavität. 
g,  Gemmulae. 

Fi^.  49.  Zwei  Gemmulae  desselben  Schwammes  (vergrössert) 
a.  Stücke  des  Horngerüsles  vom  Mutterschwamme. 

Fig.  20.  Inhalt  derst^lben  Gemmula  bei  450  Vergr. 

a.  Gommuta-Hülle.   6.  Schwammzellen,    c.  Spicula. 

Fast  sämmtliche  Zeichnungen  sind  mit  der  (Jamcra  I  ucida  rtUh^efülirt. 


lieber  die  Einwirkung  des  Aethernatrons  auf  die  Aether  einiger 

KohlenstoffsAuren. 


Von 

A.  Geuther. 


Zur  Entscheidung  der  Frage,  auf  welche  Weise  die  von  Frankland 
und  DuppA  beobachtete  Bildung  der  Aethylessigsüure,  DiätbyiessigsHure 
und  Diäthyldiacetsäure  aus  der  Aethyldiacetsllure  vor  sich  ginge,  schien 
es  mir  wünschenswerth  die  Einwirkung  von  Aethernatron  zusammen 
mit  Essigelther  auf  den  ^ethyldiac^^tsJUireJither  zu  studiren  ^) .  Ich 
glaubte  am  besten  meinen  Zweck  zu  erreichen,  wenn  ich  mich  zu  diesen 
Versuchen  der  von  Beilstein^)  vermutReten  Verbindung  des  Essigäthers 
und  Aethernatrons  (zu  gleichen  Mischungsgewichten)  bedienen  würde 
und  habe  desswegen  diese  darzustellen  versucht.  Das  abweichende 
Resultat,  zu  dem  ich  hierbei  gelangt  bin,  war  Veranlassung  auch  die 
weiteren  hier  mitzutheilenden  Versuche  auszuführen. 

Der  zu  der  Darstellung  von  Aethernatron  verwandte  Alkohol  war 
jedesmal  unmittelbar  vorher  durch  Rectification  von  absolutem  Alkohol 
über  Natrium  erhalten  und  sofort  in  dasGefllss  destillirt  worden,  worin 
gleich  darauf  die  Darstellung  des  Aethernatrons  und  dessen  Einwirkung 
auf  die  betreffenden  Aether  vorgenommen  wurde.  Dieses  Geßiss  war 
mit  einem  doppelt  durchbohrten  Kork  verschlossen ,  der  ein  gerades 
längeres  und  ein  kürzeres  knieförmig  gebogenes  Rohr  trug.  Das  Erstere, 
welches  bis  in  die  Mitte  des  Gef^sses  reichte,  wurde  mit  der  Spitze  des 
den  Alkohol  zuführenden  Kühlrohrs,  das  Letztere,  welches  mit  der  Luft 
communicirte  mit  einem  Chlorcalciumrohr  verbunden.  Die  Einwirkung 
des  Natriums  auf  den  Alkohol  wurde  stets  in  einer  Wasserstoffatmo- 
sphäre vorgenommen,  weil  nur  bei  vollkommenem  Ausschluss  des 
Sauerstoffs  ein  farbloses  reines  Product  erhalten  wird  und  zwar  in  der 


i)  Vorsl.  ZeitHchrlfl  f.  Chemie  N.  F    Bd,  4.  p.  5S. 
2)  Annal.  d.  Chem.  u.  Pharm.  Rd.  H2.  p.  42S. 

Band  IV.  2.  16 


242  '      A.  Genther, 

Art,  dass  nach  Entfernung  des  Ghlorcaleiuniiohrs  irocknes  Wnsserstoff— 
gas  durch  das  gerade  Rohr  zugeleitet  wurde ,  während  der  Dauer  der 
Einwirkung  sowohl,  als  während  des  Erkaltens..  Der  überschttssige 
Alkohol  wurde  meist,  nachdem  alles  Natrium  in  Lösung  gegangen  war, 
durch  gelindes  Erwärmen  im  Gasstrom  so  lange  wegdestillirt,  bis  sich 
in  der  siedenden  Pltlssigkeit  festes  Aethernatron  auszuscheiden  begann. 


Aethernatron  und  Essigäther. 

In  einer  Rochflasche  wurden  zu  Aethernatron ,  das  mit  Hülfe  von 
1,6  grm.  Natrium  und  45grm.  Alkohol  erhalten  war,  also  so  viel  über- 
flüssigen Alkohol  beigemischt  enthielt,  dass  es  beim  Erkalten  nicht  so- 
gleich krystallisirte  1 5  grm.  reiner  über  Natrium  rectificirter  Essigätber 
gefügt.  Es  trat  nach  dem  vollständigen  Vermischen  in  ähnlicher  Weise, 
wie  bei  den  Versuchen  von  Bbilstbin  dieBildupg  eines  weissen  volumi- 
nösen Niederschlags  ein  Die  Menge  desselben  war  indessen  nur  gering. 
Es  wurde  darauf  die  Flasche  im  Wasserbade  und  unter  foriwjSbrendem 
Zuleiten  von  Wasserstoffgas  erhitzt  bis  alles  Flüchtige  abdestiUirt  war. 
Dos  Destillat  besass  den  Geruch  von  Essigäther ;  nach  mehrmaliger  Recii- 
ßcation  und  einmaligem  Waschen  desselben  mit  dem  gleichen  Volum 
einer  verdünnten  Ghlorcalciumlösung  wurden  14  grm.  des  Letzteren 
wieder  erhalten.  Der  Rückstand  in  der  Kochflasche  war  farblos,  bei  der 
Temperatur  des  Wasserbades  flüssig,  erstarrte  aber  beim  Abkühlen  so- 
gleich zu  weissen  nadelformigen  Krystallen ,  ganz  vom  Aussehen  des 
Aethematrons. 

Diess  Resultat  des  Versuchs  musste  zu  der  Annahme  führen ,  dass 
dieser  Rückstand,  dessen  Menge  10  grm.  betrug,  abgesehen  von  der 
geringen  Menge  gebildeten  essigsauren  Natrons,  in  der  That  nur  die 
Verbindung  sei,  für  welche  Sghbitz  ^)  die  Zusammensetzung : 

€^*Na02,  2€2H602 

gefunden  hat.  Er  wurde  deshalb  mit  Wasser  Übergossen,  worin  ep 
sich  unter  Erwärmen  leicht  löste  und  diese  Lösung ,  da  sie  stark  alka- 
lische Reaction  zeigte  mit  Essigsäure  schwach  angesäuert  und  aus  dem 
Wasserbade  dcstiUirt  so  lange  noch  Alkohol  überging.  Das  Destillat  be-*- 
sass  nur  den  Geruch  von  Alkohol,  nicht  den  von  Essigätber  und  bestand 
ausser  Wasser  nur  aus  diesem.  Nach  mehrmaliger  Rectification  aus 
dem  Wasserbade  und  darauf  folgender  mit  eingesenktem  Thermometer 
wurden  8  grm.  desselben  (79® — 8P)  erhalten.     Das  essigsaure  Natron 


1)  Diese  Zettschi  ift  B(i.  4    p  4« 


Ueber  die  Einwirkong  des  Aetheriiatrous  auf  die  Aeth^eiiii'ger  KohleustoflTsäiiren.  243 

wog  nach  dem  Eindampfen  und  völligto  Austrocknen  5,7  grm.,  entspr. 
4,6  grm.  Natrium. 

Wären  die  im  Eölbcben  enthaltenen  10  grm.  Substanz  die  reine 
Verbindung  €2flftNa02,  2€2«602  gewesen,  so  hätten  sie  8, 6  grm.  Alkohol 
liefern  müssen. 

Aus  dem  Mitgetheiltcn  folgt  also,  dass  eine  Verbindung  von 
Aethernatron  mit  Essigäther  unter  den  angeführten  Umständen 
nicht  existirt,  dass  vielmehr  der  Essigäther ,  abgesehen  von  einer 
kleinen  durch  schwer  auszuschliessende  Feuchtigkeit  bedingten  Zer- 
setzung vom  Aethernatron  unverändert  abdestillirt. 

Nach  dieser  Erkennttiiss  wird  es  möglich  die  Angaben  BEiLSTEiif's 
zu  deuten.  B.  hat  bei  seinen  Versuchen  offenbar  das  Wasser  nicht  ge- 
nügend ausgeschlossen  und  davon  in  einem  Falle  so  viel  gehabt  als 
nmhtg  war  um  die  ganze  angewandte  Aethematronmenge  in  Natron- 
hydrat und  Alkohol  zu  verwandeln,  denn  als  er  nach  dem  Versetzen  des 
Aeihernatrons  mit  Essigäther  die  vom  ausgeschiedenen  essigsauren  Na- 
tron »abfiltrirte  Flüssigkeit«  analysirte  fand  er  für  sie  die  Zusammen- 
setzung einer  Mischung  von  Alkohol  und  Essigäther,  sie  musste  demnach 
ganz  natriumfrei  sein.  Bei  einem  zweiten  Versuche,  wobei  B.  den 
Ueberschuss  von  Alkohol  und  Essigäther  durch  einen  Strom  trockner 
Luft  und  Erhitzen  des  Kolbens  im  Wasserbade  entfernte,  fand  er  in  dem 
bei  dieser  Temperatur  geschmolzenen ,  beim  Erkalten  fest  werdenden 
»braunen«  Rückstand  24,5  Proc.  Natrium,  während  essigsaures  Natron 
28,1  Proc.  und  die  von  ihm  vorausgesetzte  Verbindung  von  Aether- 
natron und  Essigäther  nur  14,7  Proc.  Natrium  verlangt.  Dieser  Rück- 
stand war,  wie  dem  früher  Mitgetheilten  gemäss  leicht  einzusehen  ist, 
nichts  anderes  als  ein  Gemenge  von  viel  essigsaurem  Natron  mit  wenig 
Aethernatron,  das  durch  die  Einwirkung  der  Luft  braun  geworden  war. 
Es  geht  dies  auch  aus  seiner  Zersetzung  mit  Wasser  hervor,  indem  beim 
Rochen  der  Lösung  »viel  Alkohol«  destillirte,  während  ein  »stark  alka- 
lischer« Rückstand  blieb  >] . 

4)  Ira  Anschluss  hieran  bat  Hr.  J.  E  Marsh  eine  directe  Bestimm ang  desAlko» 
hols,  welchen  die  Krystalle  von  Aethernatron  bei  ihrer  Zersetzung  mit  Wasser  lie- 
fern und  welche  bis  jetzt  noch  nicht  ausgeführt  worden  war,  unternommen.  Er 
löste  in  47  grm  Über  Natrium  rectificirtem  Alkohol  4,4  grm.  Natrium,  destillirte  im 
WaMcrstoffslrom  aus  dem  Wasserbade  allen  überschüssigen  Alkohol  fort  und  be- 
hielt als  Rückstand  9,8  grm.  der  Verbindung.  Dieselbe  wurde  in  Wasser  gelöst, 
der  Alkohol  aas  dem  Wassorbade  abdestillirt,  mehrmals  für  sich ,  dann  über  ge- 
brannten Kalk  aus  dem  Wasserbade  nml  schliesslich  wieder  für  sich  mit  einge- 
senktem Thermometer  reclificirl.  Die  Menge  desselben  (Sdp.  700 — 840)  betrug  8,5 
grm.  —  Die  i,4  grm.  N<itriuni  hüMcii  U,8  grm  der  Verbindung  und  diese  8,4  grm. 
Alkohol  liefern  müssen 

46* 


244  ^'  A.  Geuther, 

In  der  Erwartung,  dass  efi^p  Verbindung  oder  Wechselwirkung 
des  Aethematrons  und  Essigäthers  bei  höherer  Temperatur  eintreten 
wttrde^  habe  ich  diese  beiden  Substanzen  im  verschlossenen  Rohr  bei 
verschiedenen  höheren  Temperaturen  verschieden  lange  mit  einander  in 
Berührung  gebracht. 

Erster  Versuch:  In  einem  Glasrohr  wurde  roitHttlfe  von  3  grm. 
Natrium  Aethcrnatron  bereitet  und  dieses  nach  dem  Erkalten  sofort  mit 
etwas  mehr  als  2  Mgtn.,  nämlich  26  grm.  reinen  EssigHthers  übergössen 
und  eingeschmolzen.  DasAethematron  löst  sich  schon  bei  gewphnJicher 
Temperatur   im  Essigäther  leicht  und  farblos  auf  unter  nur  geringer 
Abscheidung  eines  krystallinischen  Körpers  (essigsaures  Natron).     Das 
Rohr  wurde  im  Oelbad  während  4  Stunden  auf  130^  erhitzt. 
Nach  dem  Erkalten  zeigte  sich  kein  Drucke  im  Innern,  es  wurde  geöffnet 
und  die  fast  farblos  gebliebene  stark  nach  Essigäther  riechende  Lösung 
unter  möglichstem  Abschluss   der  Luftfeuchtigkeit   vom   vorhandenen 
unlöslichen  Salze,  dessen  Menge  sich  etwas  vermehrt  hatte,  durch  Fil- 
tration getrennt.    Das  Letztere  wurde  im  Wasser  gelöst,  mit  Schwefel- 
säure deslillirt,  das  saure  Destillat  mit  kohlensaurem  Natron  in  geringem 
Ueberschuss  versetzt,  zur  Trockne  gebracht  und  durch  fractionirte  Lö- 
sung in  abs.  Alkohol,  nach  der  Filtration  und  Verdunsten  des  Letzteren 
zwei   Salzrückstände  erhalten,   deren  Natrongehalt  bestimmt   wurde. 
Der  aus  der  ersten  Lösung  ergab  37,7  Proc.  Natron,  der  aus  der  zweiten 
Lösung38,0  Proc.  Beide  Salze  waren  demnach  nichts  als  essigsaures 
Natron,  welches  37,8  Proc.  Natron  verlangt.     Ihre  Gesammtmenge 
betrug:    1,1  grm.     Vom  oben  erwähnten  ersteren  Filtrat  wurde  eine 
Probe  genommen  und  von  ihr  im  Wasserbade  alles  Flüchtige  (Essigäther 
und  möglicherweise  vorhandener  Alkohol)  abdestillirt.   In  dem  gelblich 
gefärbten  dickflüssigen  Rückstand  erschienen  beim  Erkalten  Krystall- 
nadeln,  die  ihrem  Ansehen  nach  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  krystalli- 
sirten  äthyldiacetsauren  Natron  ^)   hatten  und  desswegen  zur  Prüfung 
darauf  veranlassten.    Zu  dem  Zwecke  wurden  sie  in  Wasser  gelöst,  die 
alkalische  Lösung  mit  verdünnter  Salzsäure  neutralisirt  und  mit  einigen 
Tropfen  Eisenchlorid  versetzt.    Es  erschien  sofort  die  für  die  Aethyl- 
diacetsäure^j    und   ihre   Salze   charakteristische  dunkelkirschrothe 
Färbung.    Nun  wurde  die  ganze  Menge  des  Filtrats  im  Wasserbade  vom 
Essigäther  befreit,  der  Rückstand  nach  dem  Erkalten  mit  Wasser  und 
der  für  die  angewandte  Natriummenge  berechneten  Menge  Essigsäure 
versetzt  und  sofort  mit  A<*lh<'r  wiederholt  geschüttelt.     Die  ätherische 


1)  Diese  Zeitschrift  Bd.  II.  p.  394 

2)  I<:hond.  p.  398. 


^ 


lieber  die  Einwirkuoi^  des'Aetberiiatroiis  auf  die  Aetli^eiuiger  Kohle  iistoffsäuren.  245 

Flüssigkeit  wurde  über  Ghlorcalcium  entwässert,  im  Wasserbade  der 
Aether  abdestillirt  und  der  den  Geruch  von  Essigsäure  uud  Aethyldiacet- 
säure  zeigende  Rückstand  wiederholt  rectificirt.  Er  lieferte  4,6  grm. 
von  nO— 190^  destillirendcr  Flüssigkeit,  die  sich  in  der  That  als  fast 
reine  Aethyldiacetsä  ure  erwies.  Sie  gab  nach  vorsichtiger  Neu- 
tralisation mil  Natronlauge  und  Versetzen  dieser  Flüssigkeit  mit  essig- 
saurem oder  schwefelsaurem  Kupferoxyd  sofort  das  für  diese  Säure 
charakteristische  Kupfersalz  i)  mit  den  nämlichen  Eigenschaften  und 
dem  gleichen  Verhalten. 

0,2628  grm.  des  zwischen  478*  und  180®  übergegangenen  Theils 
gaben  0,5242  grm.  Kohlensäure  und  0,1862  grm.  Wasser,  was  0,14296 
grm.  oder  54,4  Proc.  Kohlenstoff  und  0,02069  grm.  oder  7,9  Proc. 
Wasserstoff  entspricht. 

Die  Aethyldiacetsclure  erfordert :  55, 4  Proc.  Kohlenstoff  und  7,7  Proc. 
Wasserstoff. 

Da  die  Ursache  für  den  \  Proc.  zu  gering  gefundenen  Kohlenstoff 
\%ahrscheinlich  einer  Beimengung  von  noch  etwas  Essigsäure  zuzu- 
schreiben war,  welche  durch  fractionirte  Destillation  der  geringen  Sub- 
stanzmenge wegen  nicht  völlig  entfernt  werden  konnte,  so  wurde  die 
von  der  Analyse  übrig  gebliebene  Menge  der  zwischen  178  und  180® 
destillirten  Substanz  dazu  verw^andt  das  Barytsalz  und  aus  diesem  das 
Kupfersalz  darzustellen  ^j. 

0,1058  grm.  des  Letzteren  über  Schwefelsäure  getrocknet  gaben 
im  Tiegel  mit  Salpetersäure  zersetzt  nach  dem  Glühen  des  salpetersauren 
Kupferoxyds:  0,026  grm.  Kupferoxyd,  entspr.  24,6  Proc. 

Das  aethyldiacctsaure  Kupferoxyd  fordert:  24,7  Proc. 
Kupforoxyd. 

Es  kann  somit  die  Identität  der  hier  erhaltenen  Säure  mit 
dcrAethyldiacetsäure  nicht  mehr  zweifelhaft  sein'^).  Die  Bildungs- 
weise derselben  auskrystallisirtcmAethernatron  undEssigäther  verläuft 
nach  folgender  Gleichung: 

€2Ä»Na02, 2€2««02  +  2(€2«<0^€2«4)  =  €6H»05NaO  -♦-  \&W<fi 

Man  kann  sich  den  Verlauf  der  Reaction  so  vorstellen ,  dass  die 
2  Mgte  Essigäther  2  Mgle  Alkohol  verlieren  und  dafür  C^H^^gO^  auf- 
nehmen, was  sich  durch  folgende  Gleichung  leicht  veranschaulicht: 

NaO"^€H2G02  HO         —  ^^^^, 

)flO€2ti4  ^^  i 


MO 


4)  Diese  Zeitschrfn  BH.  II.  p.  400. 

%)   tibenil.  p.  89U. 

3)  Vcrgl.  weilet*  unten  p.  i48 


246  A.  Gentber, 

Wdro  die  Gesammtinougc  de^  Natriums  in  äthyldiacetsaures  Natron 
verwandelt  worden,  so  hätten  mitHttlfe  der  angewandten  3  grm.  dieses 
Metalls  fast  H  grm.  der  Säure  erhalten  werden  müssen.  Wie  oben  an- 
gegeben ist  wurden  aber  nur  1,6  grm.,  also  nicht  ganz  40  Proc.  der 
möglicherweise  entstehenden  Menge  gebildet. 

Die  Hauptmenge  von  Aethernatron  und  Essigäther  war  also  auch 
unter  diesen  Umständen  ohne  Einwirkung  geblieben.  ' 

Um  zu  sehen,  ob  die  Menge  der  sich  bildenden  Aethyldiacetsäurc 
bei  Anwendung  anderer  Temperaturen  und  verlängerter  Einwirkung 
vermehrt  werde,  wurden  die  folgenden  Versuche  angestellt. 

Zweiter  Versuch.  Angewandt  2%  grm.  Natrium  und  %6  grm. 
Essigäther;  5  Stunden  lang  auf  14  6— - 1  5  0^  erhitzt.  Kein  Druck 
im  Rohr,  ober  die  Flüssigkeit  bräunlich  gelb  gefärbt.  Die  Menge  des 
ausgeschiedenen  Salzes  beträgt  wohl  das  doppelte  der  Menge  im  ersten 
Versuch.  Der  Röhreninhalt  wurde  in  eine  Kochflasche  gebracht  und 
nachdem  aus  dem  Wasserbade  alles  Flüchtige  (aus  etwa  16  grm.  Essig- 
äther und  9  grm.  Alkohol  bestehend)  abdestillirt  war,  in  Wasser  gelöst, 
mit  Essigsäure  angesäuert  und  mit  Aether  geschüttelt.  Erhalten 
wurde  nur  etwa  Y2  grm.  Aethyldiacetsäure  und  viel  eines 
braunen  nicht  ohne  Zersetzung  destillirenden  harzartigen  Körpers,  wahr- 
scheinlich eines  der  Zersetzungsproducte,  welche  das  äthyldiacetsaure 
Natron  für  sich  in  höherer  Temperatur  liefert*). 

Dritter  Versuch.  Angewandt  lYi  grm.  Natrium  und  22  grm. 
Essigäther;  erhitzt  auf  100—110^  7  Stunden  lang.  DerRöhrcn- 
inhalt  in  ein  Kochfläschchen  gebracht  und  im  Wasserbade  vom  Flüchtigen 
befreit  gab  einen  Rückstand,  der  in  Wasser  gelöst,  mit  verdünnter  Salz- 
säure neutralisirt  und  mit  schwefelsaurem  Kupferoxyd  gefällt  1  74  grm. 
Kupfersalz  lieferte,  was  \  grm.  Säure  entspricht. 

Vierter  Versuch.  2Yi  grm.  Natrium  und  26  grm.  Essigäther 
7  Stunden  lang  auf  125^  erhitzt,  im  Uebrigen  wie  im  dritten 
Versuch  behandelt  gaben  2  grm.  Kupfersalz,  entspr.  1,6  grm.  Säure. 

Fünfter  Versuch.  3  grm.  Natrium  und  26  grm.  Essigäther 
wurden  auf  130— 135<^  während  14  Stunden  erhitzt.  Der 
Röhreninhalt  entsprach  dem  vom  zweiten  Versuch.  Er  wurde  wie  im 
ersten  Versuch  auf  Aethyldiacetsäure  untersucht ,  es  wurde  aber  nur 
so  wenig  erhalten ,  da§s  sie  mit  Hülfe  der  Destillation  nicht  gereinigt 
werden  konnte,  wesshalb  sie  in  Kupfersalz  verwandelt  wurde.  Von 
ihm  wurden  erhalten  1 Y2  grm.,  was  1,2  grm.  Säure  entspricht. 

Sechster  Versuch:  Eswurden  2  Röhren  mit  je  3  grm.  Natrium 


0  Diese  Zeitschrift  Bd.  11  p.  44  2. 


Ueber  die  Eiowirkung  des  Aetheniatroiis  auf  die  Aejmr  eiuiger  Kohleustoffsäureu.  247 

und  23  grm.  £ssigäther  3  Stund^tTauf  1  25  — i  28«  erhitzt  und 
4  grm.  Säure,  also  11,8  Proc.  der  möglicherweise  entstehenden  Menge 
erbalten. 

Die  auch  bei  diesem  Versuch  erhaltene  verhältnissniässig  geringe 
Menge  von  Seilte  Hess  mich  vermuthen,  dass  die  mit  dem  Aethernatron 
verbundene,  sowie  bei  der  Umsetzung  sich  bildende  Menge  von  Alkohol 
der  Grund  sei,  wesshalb  die  Umsetzung  sich  nicht  auf  grössere  Mengen 
der  Eductc  erstrecke  und  ich  habe  desshalb  einen 

Siebenten  Versuch  vorgenommen,  bei  dem  ich  alkohol- 
freies Aethernatron  (=:  G^H^NaO^j  verwandte.  Das  erst  auf  die  oben 
angegebene  Weise  dargestellte  Aethernatron  wurde  im  Wasserstoffstrom 
durch  Erhitzen  im  Oclbad  bis  auf  1 40  ^  vollkommen  von  Alkohol  befreit 
und  dazu  der  EssigUther  gegeben.  Es  wurden  2  Röhren  und  auf  jede 
2%  grm.  Natrium  und  23  grm.  EssigUther  angewandt.  Das  Aethernatron 
löste  sidi  unter  schwacher  Erwärmung  in  geringer  Menge  im  Essigäther, 
beim  nachherigen  Erkalten  krystallisirte  es  in  farblosen  nadelfbrmigen 
Krystallen  wieder  aus.  Als  darauf  das  eine  Rohr  einer  Temperatur  von 
50 — 60^  einige  Zeit  ausgesetzt  wurde,  löste  sich  fast  alles  Aethernatron, 
beim  Erkalten  in  gleicher  Weise  krystallisirend.  Als  darauf  diese  Er- 
wärmung während  einiger  Stunden  wiederholt  wurde,  war  alles  flüssig 
geworden  und  beim  nachherigen  Erkalten  erschienen  weniger  Krystalle 
als  vorher.  Das  Rohr  wurde  nun  auf  70 — 80^  während  wieder  einiger 
Stunden  erhitzt  und  abermals  erkalten  gelassen.  Neben  den  in  noch 
geringerer  Menge  erscheinenden  farblosen  nadeiförmigen  Krystallen 
waren  nun  eine  Anzahl  concentrisch  gruppirter  feiner  und  mehr  weiss 
erscheinender  Krystallmassen  vorhanden,  ganz  vom  Aussehen  des  äthyl- 
diacetsauren  Natrons.  Als  darauf  das  Rohr  auf  100^  erhitzt  wurde 
waren  sehr  bald  die  wenigen  farblosen  langen  nadeiförmigen  Krystalle 
in  Lösung  gegangen,  die  anderen  kleinen  weissen  kugligen  Aggregate 
aber  nicht.  6ie  waren  also  gewiss  nicht  mehr  Aethernatron ,  sondern 
ein  Umsetzungsproduct  und  wahrscheinlich  äthyldiacetsaures  Salz.  Es 
wurden  nun  die  beiden  Röhren  auf  128^  während  21/2  Stunden 
erhitzt.  Nach  dem  Erkalten  hatten  boidedasgleicheAussehcn,  sie  waren 
nur  mit  den  letzteren  Krystallen  erfüllt,  welche  den  flüssigen  Inhalt  voll- 
kommen einschlössen,  ohne  dass  er  sich  von  ihnen  auch  durchschütteln 
oderKlopfen  hätte  trennen  lassen.  Die  Röhren  wurden  geöffnet  (es  war 
kein  Druck  im  Innern]  und  jedes  mit  verdünnter  Essigsäure  (von  je 
8  grm.  Eisessig  bereitet)  fast  vollkommen  angefüllt.  Als  die  Salzmasse 
sich  gelöst  hatte ,  war  eine  beträchtliche  leichtere  Schicht  erschienen, 
die  eine  Lösung  von  Aethyldiacctsäure  in  unverändertem  Essigäther  dar- 
stellte.   Der  Inhalt  beider  Röhren  wurde  in  einen  Gylinder  gegeben  und 


248  ^       ^*  Geutlier, 

mit  Aeiher  wiederholl  geschüUelT^,  Nach  dem 'Abdesüllireu  der  äthe- 
rischen Lösung  im  Wasserbade  und  Rectification  des  Rückstandes  wur- 
den iO  grm.  AethyldiacetsUure  erhallen,  cKJi.  '^i  Proc.  der  mög- 
iicher  Weise  entstehen  könnenden  Menge,  also  nahezu  dreimal  mehr,  als 
im  sechsten  Versuche. 

Die  grössere  Menge  Säure  erlaubte  eine  öftere  Rectification  und 
völlige  Reinigung  derselben,  wie  die  mit  ihr  vorgenommene  Analyse 
zeigt. 

0,2281  grm.  derselben  lieferten  0,4621  grm.  Kohlensäure,  entspr. 
0,12603  grm.  =  55,2  Proc.  Kohlenstoff  und  0,1 6i 4  grm.  Wasser, 
entspr.  0,018267  grm.  =  8,0  Proc.  Wasserstoff. 

Die  Aethyldehydracetsäure  erfordert:  55,4  Pröc.  Kohlenstoff  und 
7,7  Proc.  Wasserstoff. 

Ausser  der  Acthyldiacetsäure  wurde  eine  kleine  Menge  höher 
siedender,  beim  Erkalten  krystallisirender  Säure  erhalten,  die  auch  bei 
den  früheren  Versuchen  beobachtet  worden  war  und  die  nichts  anderes 
alsDehydracetsäuro  ist.  Aus  Alkohol  krystallisirt  zeigte  die  farb- 
lose, leicht  sublimirende  Säure  den  Schmolzpunct  der  Dehydracetsäure : 
109«. 

Die  Anwesenheit  von  Acthylessigsäure  oder  Diäthylessigsäure  oder 
Diäthyldiäcetsäure  habe  ich  nicht  beobachten  können. 

Aethernatron  und  Ameisensäureäther. 

Zu  dem  mit  3  grm.  Natrium  in  einem  Glasrohr  bereiteten  Aether- 
natron wurden  25  grm.  Ameisensäureäther  (5  grm.  mehr  als  2  Mgtn. 
entspricht}  gefügt  und  darauf  das  Rohr  zugeschmolzen.  Es  trat  sofort, 
indem  sich  das  Aethernatron  löste,  eine  gelbbräunliche  Färbung  und  Ab- 
scheidung einer  ansehnlichen,  wenn  auch  nicht  gerade  verhältnissmässig 
bedeutenden  Menge  eines  Salzes  ein,  das  sich  bei  späterer  Untersuchung 
als  ameisensaures  Natron  erwies.  Zugleich  war  eine  gelinde  Gasent- 
wicklung bemerkbar.  Deshalb  wurde  das  Rohr  sofort  in  Eiswasser  ge- 
stellt und  so  lange  durchgeschüttelt,  bis  sich  das  Aethernatron  gelöst 
hatte,  was  in  kurzer  Zeit  geschehen  war.  Als  darauf  die  Spitze  des 
Rohrs  in  die  Flamme  gehalten  wurde,  zeigte  sich  Druck  im  Innern,  das 
Rohr  wurde  aufgeblasen  durch  ein  mit  blauer  Farbe  brennendes  Gas. 
Das  Letztere  wurde  gesammelt,  es  zeigte  alle  Eigenschaften  das  Kohlen- 
oxyds, indem  es  mit  rein  blauer  Flamme  nach  dem  Anzünden  brannte, 
dabei  Kohlensäure  bildend  und  von  einer  Lösung  des  Kupferchlorürs  in 
Salzsäure  vollkommen  und  unter  Bildung  der  für  das  Kohlenoxyd  cha- 
rakteristischen  blättrigen   farblosen  Krystalle  absorbirt  wurde.     Das 


üeber  die  Eiuwirkuiig  des  AetheriiHtroiis  iiul'  die  Aeüi^einitfer  Kolilenstoflfsitaren.  249 

r 

Rohp  wurde  nun,  nachdem  es  mit  einiÄiumgckehrten  Kühler  verbunden 
war  in  ein  Wasserbad  gebracht,  dessen  Temperatur  der  Gasentwicklung 
entsprechend  langsam  von  40«  bis  7()0  gesteigert  wurde,  wobei  das  Vo- 
lumen des  Röhreninhalts  sich  beständig  verminderte.  Als  die  Gasent- 
wicklung, welche  stetig  vor  sich  gegangen  war  und  zu  keiner  Zeit  der 
Geruch  des  gewöhnlichen  Aethers  entdeckt  werden  konnte ,  sich  be- 
trächtlich vermindert,  ja  fast  ganz  aufgehört  hatte,  wurde  die  Temperatur 
bis  80  0  gesteigert.  Dabei  trat  im  Rohr  Kochen  ein  *  ohne  dass  die  Gas- 
entwickelung reichlicher  geworden  wäre.  Nach  einiger  Zeit  wurde  der 
Kühler  umgedreht  und  das  aus  dem  Wasserbado  Destiliirende  aufge- 
sammelt. Es  betrug  I6V2  g"n.  und  war  reiner  Alkohol,  der  bei  der 
Rectification,  wobei  das  Thermometer  sofort  bis  78<>,5  stieg,  zwischen 
dieser  Temperatur  und  80»  überging.  Der  zurückbleibende^braun  ge- 
färbte Röhreninhalt  erstarrte  beim  Erkalten  strahlig  krystallinisch,  wie 
Aethernatron.  Er  wurde  mit  wasserfreiem  Aether  behandelt,  worin 
sich  die  Krystalle  lösten,  während  das  anßinglich  ausgeschiedene  Salz 
ungelöst  blieb.  Dasselbe  stellte  ein  krystallinisches  Pulver  dar,  welches 
bei  no^  getrocknet  eine»  Natrongehalt  von  45,4  Proc.  ergab,  also 
ameisensaures  Natron  war,  welches  45,6  Proc.  Natron  enthält.  Seine 
Gesammtmenge  betrug  nahezu  2  grm.  Die  ätherische  Lösung  hinterliess 
nach  dem  Abdestilliren  des  Aethers  im  Wasserbade  einen  Rückstand, 
welcher  wieder  in  nadeiförmigen  Krystallen  erstarrte.  Er  wurde  in 
Wasser  gelöst  und  aus  dem  Wasserbade  alles  Flüchtige  abdestillirt. 
Das  Destillat  lieferte  nach  mehrmaliger  Rectification  aus  dem  Wasser- 
bade zuerst  für  sich,  dann  über  gebranntem  Kalk  und  zuletzt  mit  ein- 
gesenktem Thermometer  wieder  für  sich  dcstillirt  1772  g^m.  Alkohol. 
Der  Rückstand  reagirte  stark  alkalisch  und  bedurfte  zur  Neutralisation 
eine  beträchtliche  Monge  von  Eisessig. 

Aus  diesen  Resultaten  folgt,  dass  der  angewandte  Ameisen- 
säureäther  durch  dasAethernatron  vollständig  in  Kohlen- 
oxyd und  Alkohol  zerlegt  worden  ist,  ohne  dass  dieses  eine 
wesentliche  Veränderung  erfahren  hat,  denn  die  25  grm.  Ameisen- 
säureäther hätten  dabei  15,5  grm.  Alkohol  liefern  müssen,  erhalten 
wurden  46,5  grm.,  während  das  mit  3  grm.  Natrium  erzeugte  Aether- 
natron bei  seiner  Zersetzung  mit  Wasser  18  grm.  Alkohol  geben  musstc, 
erhalten  wurden  17,5  grm. 

Da  nun,  wie  oben  erwähnt,  mehr  als  2  Mgte  Ameisensäureäther 
angewandt  wurden  und  wie  die  eben  angeführten  Zahlen  zeigen,  doch 
die  ganze  Menge  eine  vollkommene  Zersetzung  erfahren  hat,  so  ist  es 
selir  wahrscheinlich,  dass  auch  noch  eine  grössere  Menge  des  Aethers 
durch  das  Aethernatron  zersetzt  werden  kann,  ja  dass,  wenn  nicht  die 


•250  ^  A,  Geuther, 

t 

grössere  Menge  des  sich  bildendeifAlkohols  und  die  in  Folge  davon  ein- 
tretende  VerdUnAung  des  Aethernatrons  der  Rcaction  Grenzen  setzt, 
dieselbe  unbegrenzt  verlaufen  und  durch  eine  lieliebige  Menge  Aether- 
natron  eine  sehr  grosse  resp.  unendliche  Menge  von  Ameisensäureälber 
in  Kohlenoxyd  und  Alkohol  zerlegt  werden  Rann. 

Nicht  so  einfach  als  die  Reaction  an  sich  ist,  wird  es  sein  sich  von 
dem  Grunde  derselben  Rechenschaft  zu  geben.  Welche  Affinitäten, 
muss  man  fragen,  nöthigen  den  Ameisensäureäther  zu  einem  Zerfallen, 
wenn  keines  seiner  Zersetzungsproducte  von  dem  einwirkeniden  Körper, 
dem  Aethernatron ,  zu  einer  Verbindung  oder  Umsetzung  verwandt 
wird?  Warum  entsteht  nicht  ameisensaures  Natron  und  gewöhnlicher 
Aether?  Vielleicht  liegt  im  Folgenden  der  Schlüssel  zur  Erklärung  dieser 
Verhältnisse.  Denkt  man  sich ,  dass  Aethernatron  sich  mit  Ameisen- 
säureäther analog  umsetzt,  wie  mit  Essigäther,  also  damit  erzeugt  Al- 
kohol und  Aothyl-di-ameisensaures  Natron,  ferner  dass  dieses  Salz  von 
geringer  Beständigkeit  ist  und,  vorzüglich  bei  etwas  höherer  Temperatur, 
sich  in  Kohlenoxyd  und  Aethernatron  zerlogt,  vielleicht  unter  Mitwir- 
kung des  in  Freiheit  gesetzten  Alkohols ,  so  würde  die  Reaction ,  bei 
welcher  dann  die  folgenden  zwei  Phasen  zu  unterscheiden  sein  würden, 
verständlich  werden: 

^  L       |HO€2fl4j  ■*•  L         JNaO '  -^  **^  J  =  €04v  n  +  4€2fl602 

und. 

€0^1 


€02 
€2fl4 


Die  Zersetzung;  welche  der  Ameisensäureäther  durch  Aethernatron 
erfahrt,  wirft  ein  neues  Licht  auf  die  Vorgänge,  welche  bei  der  Einwir- 
kung von  Natrium  auf  den  Ameisensäureäther  vor  sich  gehen  :  letzlere 
können  durch  orstere  nun  genügend  aufgeklärt  werden.  Löwig  und 
WEmMANH^]  fanden,  dass  bei  der  Einwirkung  des  Natriums  auf  diesen 
Aether,  wenn  es  in  genügender  Menge  angewandt  wird,  ausser  ameisen- 
saurem Natron  und  wenig  eines  braunen  Natronsalzes,  Kohlenoxyd  und 
Alkohol  gebildet  wird.  GasiNBa^)  zeigte  später,  dass  neben  jenen  Pro- 
(luden  noch  Wasserstoff  und  Aethernatron  erzeugt  werden.  Die  Ersteren 
beobachteten  ferner  als  besonders  erwähnenswerth,  dass  die  Blasen  des 
sich  entwickelnden  Gases  »gleichzeitig  in  der  ganzen  Flüssigkeit,  sowohl 


4)  Pogg.  Annal.  Bd.  50    p.  f  M. 
%)  Diese  Zettschiift  Bd.  Hl.  p.  41. 


mm 


Ueber  die  Einwirkung  des  Aetbernatrons  auf  die  m\iai  einiger  KohleustoflTs&ureu.  251 

an  den  Stellen ,  weiche  mit  dem  ffatrium  in  Berührung  sind ,  wie  an 
denen,  wo  sich  kein  Natrium  befindet«  erscheinen,  während  Letzterer 
die  Anwesenheit  dlä  'Wasserstoffs  in  dem  sich  entwickelnden  Gase 
nachwies. 

Besonders  merkwürdig  war  bei  dieser  Reaction  die  Bildung  von 
Alkohol  neben  der  Bildung  von  Aethernatron  und  Wasserstoff,  denn 
wenn  das  Natrium  den  Ameisensäureäther  unterBildung  von  Aether- 
natron  und  Kohlenoxyd  zerlegte: 

wie  es  Greinbr  nachwies,  wo  kam  dann  noch  Alkohol  her.  Derselbe 
verdankt,  wie  wir  im  oben  Hitgetheilten  nachwiesen,  seine  Ent- 
stehung einer  secundären  Wirkung,  der  desAethematrons  auf  den  noch 
unzersetzten  Ameisensäureäther.  Die  angeführte  Beobachtung  von  Lö- 
wig und  Wbu)Hann,  im  Betreff  der  Art  der  Gasentwickelung ,  sowie  die 
von  Greinsr  gefundene  Thatsache,  dass  auf  1  M^i.  sich  entwickelnden 
Wasserstoff  mehr  al5  i  Mgt.  Kohlenoxyd  (=€0^)  kommt,  finden  jetzt 
ebenfalls  ihre  Erklärung. 

Aethernatron  und  Oxaläther. 

Erster  Versuch:  Zudem  mitHülfe  von  2grm.  Natrium  in  einem 
Rohr  dargestellten  Aethernatron  wurden  13  grm.  Oxaläther  gegossen 
(i  Mgt.  auf  i  Mgt.)  und  dann  zugeschmolzen.  Das  Aethernatron  löst 
sich  nach  Verlauf  von  einigen  Tagen  unter  öfterem  Umschütteln  bei  ge- 
wöhnlicher Temperatur  vollkommen  auf.  Es  scheidet  sich  dabei  nur 
sehr  wenig  Salz  (oxalsaures  Natron)  ab  und  es  tritt  nur  eine  ganz  ge- 
ringe gelbliche  Färbung  ein  ^) .  Als  das  Rohr  darauf  in  einen  Raum  von 
etwa  50<^  gebracht  wurde  fand  allmähliche  Bräunung  des  Inhalts  unter 
bemerkbarer  Gasentwickelung  statt.  Nach  dem  Abkühlen  auf  0®  wurde 
dessen  Spitze  in  der  Flamme  leicht  aufgeblasen  und  es  strömte  unter 
ziemlichem  Druck  ein  mit  rein  blauer  Flamme  brennendes  Gas  (Kohlen- 
oxyd) aus.  Die  geöffnete  Spitze  wurde  sofort  mit  einem  Kühler  umge- 
kehrt verbunden  und  das  Rohr  im  Wasserbade  allmählich  erwärmt.. 
Das  Gas  entwickelt  sich  reichlicher,  es  enthält  keine  Kohlensäure  und 
wird  von  einer  Kupferchlorürlösung  in  Salzsäure  unter  Bildung  der  für 


1)  Bbilstbin  fü hrt darüber  (a.  a.O.)  folgendesan  :  »Setzt  man  oxalsaures  Aetbyl  zu 
einer  Lösung  von  Aethernatron,  su  scheidotsich  nach  einigen  Augenblicken  ein  gelber 
gelatinöser  Niederschlag  ab,  welcher  vermuthiich  eine  Verbindung  jener  beiden 
Körper  ist;  da  ich  indessen  nicht  hoffen  durfte,  die  Verbindung  zu  isoiiren,  habe 
ich  die  Untersuchung  dieser  Einwirkung  nicht  weiter  verfolgt.« 


252  *      A.  fieullier, 

das  Kohlenoxyd  charakteristischen  trystalle  absorbirl,  wahrend  der 
braune  Röhreninhalt  immer  dicker  und  schliesslich  beinahe  fest  wird. 
Gleichzeitig  konnte,  als  das  Gas  in  ein  stark  abgekühltes  Rohr  treten 
gelassen  wurde  sehr  wenig  einer  ätherartigen  Flüssigkeit  verdichtet 
werden,  die  leichter  als  Wasser  war  und  ihrem  Geruch  nach  wenigstens 
zum  Theil  aus  gewöhnlichem  Aelher  bestand.  Als  die  Reaction  beendet 
war,  das  Wasser  längere  Zeit  schon' kochte  und  die  Gasenlwickelung 
aufgehört  hatte,  wurde  der  Kühler  umgedreht  und  das  bis  100®  flüch- 
tige aus  dem  Rohr  abdestillirt.  Dabei  ging  nur  sehr  wenig  vom  Geruch 
des  Alkohols  über ;  es  wurde  erkalten  gelassen  und  dann  der  Röhreninhalt 
mit  Wasser  übergössen.  Während  das  Feste  im  Rohr  sich  mit  dunkel - 
braui;.er Farbe  löste,  schied  sich  eine  farblose  Oelschicht  ab,  welche  voll- 
kommen den  Geruch  desKohlensäureäthers  besass.  Dergesammte 
Röhreninhalt  wurde  nun  in  eine  Kochflasche  gespült,  mehi*  Wasser  zu- 
gegeben und  über  freiem  Feuer  destillirt.  Die  Oelschicht  geht  sehr  leicht 
über,  mit  ihr  destillirt  gleichzeitig  viel  Alkohol,  der  sie  anfangs  aufge- 
lost halt;  nach  dem  Zusatz  von  Wasser  scheidet  sie  sich  aber  ab.  Um  diess 
vollständig  zu  erreichen,  wurde  in  der  wilssrigen  unteren  Schicht  Chlor- 
calcium  gelöst  und  diese  dann  durch  Abheben  entfernt  Das  Oel  wurde 
über  geschmolzenem  Chlorcalcium  entwässert  und  rectificirt.  Es  wog  3  gr. 
und  bestand  fast  nur  aus  bei  127®  Destillirendem;  Höbersiedendes  war 
nichjt  vorhanden.  Es  l)csitzt  also  ausser  dem  Geruch  auch  den  Siedepunct 
des  Kohlensäureäthers  und  ist,  wie  die  folgende  Analyse  und  die 
weiter  damit  angestellten  Versuche  zeigen  in  derThat  diese  Verbindung. 

0,2482  grm.  gaben  0,4559  grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,124336 
grm.  ==  50,1  Proc.  Kohlenstoß*  und  0,1939  grm.  Wasser,  entspr. 
0,021544  grm.  =  8,7  Proc.  Wasserstoff'.  —  Der  Kohlensäureäther  ver- 
langt: 50,8Proc.  Kohlenstoff*  und  8,5  Proc.  Wasserstoff*.  Mit  einer  alko- 
holischen Kalilösung  vermischt  scheidet  die  Verbindung  bei  gelindem 
Erwärmen  sofort  kohlensaures  Kali  ab. 

Durch  Destillation  der  abgehobenen  Chlorcalciumlösung ,  wieder- 
holtes Rectificiren  des  Destillats  aus  dem  Wasscrbade  erst  für  sich  und 
dann  über  gebranntem  Kalk  konnte  viel  Alkohol  (crc.  15  grm.)  er 
halten  werden. 

Die  erst  zurückgebliebene  wässrige  braune  Salzlösung,  welche  die 
andern  bei  der  Einwirkung  oder  nachher  durch  Zersetzung  entstandenen 
Producte  enthalten  musste,  wurde,  da  sie  stark  alkalisch  reagirte,  mit 
Essigsäure  angesäuert,  wobei  eine  reichliche  Kohlensäureentwickelung 
auftrat,  und  mit  Cl)lorcalcium  versetzt.  Es  entstand  ein  Niederschlag 
von  oxalsaurem  Kalk,  dessen  Menge  nach  dem  Abfiltriren,  Aus- 
waschen  und  Trocknen  in  gelinder  Wärme  3  grm.  betrug ,  was  einer 


üeber  die  EinwirkuDg  des  Aetheroatrons  auf  die  OTlier  einiger  Kohleostoffsllnren.  253 


Zi^rseUuDg  Von  2,7  grm.  OxalSither^^fitspricht.  Das  braune  Filtrat  war 
vollkommen  klar,  erst  auf  Zusatz  von  Salzsäure  scheidet  sich  ein  Theil 
der  die  braune  FMrbiHig- bedingenden  Substanz  allmählich  als  dunkel- 
braune Flockep  ab.  Ich  werde  später  auf  diese  Substanz  wieder  zurück- 
kommen; von  Wichtigkeit  ist  zunächst,  dass  unter  dem  Einfluss 
des  Aethernatrons  Oxalätherin  Kohlenoxyd  undKohlen- 
Säureäther  zerlegt  wird. 

Die  bei  dem  eben  beschriebenen  Versuch,  bei  welchem  auf  i  Mgt. 
Aethernatron  nur  t  Met.  Oxaläther  angewandt  wurde,  beobachtete  stark 
alkalische  Roaction  der  wässrigen  Lösung  des  Röhreninhalts,  sowie  die 
nach  dem  Kochen  beim  Ansäuern  auftretende  reichliche  Kohlensäure- 
entwickelung, neben  der  beträchtlichen  Menge  mit  destillirenden  Alko- 
hols Hessen  mich  vermuthen,  dass  ein  Theil  des  Aethernatrons  unzer- 
setzt  geblieben  und  eine  theilweise  Zersetzung  von  gebildetem  Kohlen- 
sltureäther  bewirkt  haben  mochte.    1<  hliabe  deshalb  einen 

Zweiten  Versuch  angestellt,  bei  welchem  auf  \  Mgt.  Aether- 
natron etwas  mehr  als  2  Mgte.  Oxaläther  (3  grm  Natrium  und  45  grm. 
Oxaläther)  angewandt  und  die  Reaclion  in  einem  Kochfläschchen  vor 
sich  gehen  gelassen  wurde.  Das  Letztere  war  mit  einem  doppelt  durch- 
bohrten Kork  versehen ;  das  Rohr  der  einen  Durchbohrung  führte  das 
Wasserstoflgas  während  der  ganzen  Operation  zu ,  während  das  Rohr 
der  andern  Durchbohrung  mit  der  Spitze  eines  Kühlers  verbunden  war. 
Das  andere  Ende  dieses  Letzteren  stand  mit  dem  längeren  Rohr  eines 
leeren  Waschcylinders  in  Communication,  der  in  Eiswasser  stand.  Nach- 
dem  bei  gewöhnlicher  Temperatur  die  Lösung  der  Aethematronkry stalle 
fast  völlig  unter  nur  schwacher  Gelbfärbung  und  Abscheidung  von  nur 
sehr  wenig  oxalsaurem  Natron,  ganz  wie  im  ersten  Versuch ,  vor  sich 
gegangen  war,  wurde  das  Kochfläschchen  im  Wasserba^e  langsam  er- 
wärmt, Ret  40<>  wurden  die  ersten  Gasbläschen  an  den  noch  ungelösten 
Stückchen  Aethernatrons  bemerkbar,  bei  weiterem  Erwärmen  und  lang- 
samen Stetgen  der  Temperatur  tritt  bald  gelbe  und  schliesslich  braune 
Färbung  ein,  ohne  dass  eine  so  reichliche  Gasentwickelung  als  im  ersten 
Versuch  sich  bemerkbar  machte  Im  abgekühlten  Cylinder  beginnt  eine 
farblose  Flüssigkeit  sich  zu  verdichten ,  welche  ,  da  sie  schwer  durch 
den  mit  kaltem  Wasser  gefüllten  Kühler  ging,  zum  Füllen  des  Letzteren  mit 
Wasser  von  50— C0<)  veranlasste.  Darnach  destillirte  sie  in  reichlicher 
Menge.  Als  die  Reaction  nach  etwa  1 72Sl'^i^^i6^°^  Kochen  des  Wassers 
beendet  erschien,  der  Inhalt  des  Kölbchens  halb  fest  geworden  und  keine 
EntWickelung  von  Gas,  das  während  der  ganzen  Operationkohlensäurc- 
frei  befunden  wurde,  mehr  sichtbar  war,  wultie  der  gekühlte  Cylinder 
entfernt,  der  Kühler  richtig  mit  dem  Kölbchen  verbunden  und  das  aus 


254  A.  Geiitber, 

dem  Wassefbad  Flüchtige  abdestlfelM..  Es  bestand  hauptsächlich  aus 
Alkohol,  dem  etwas  Koblensäureäther  beigemengt  war.  Der  leichter 
flüchtige  Inhalt  des  Gylinders,  4  0  grm.  betragMfd^ -besass  nicht  den  Ge- 
ruch des  gewöhnlichen  Äethers,  sondern  den  von  Ameisrensäure- 
äther.  Bei  seiner  Rectification  stieg  das  Thermometer  sdfort  auf  55®, 
von  wo  an  eine  grössere  Menge  Überdeslillirte,  zuletzt  war  das  Thermo- 
meter bis  79^  gestiegen.  Er  bestand  nur  aus  einem  Gemisch  von  Al- 
kohol und  Ameisensäureäther,  von  welch  letzterem  nach  wiederbelten 
Rectificationen  6  grm.  erhalten  wurden. 

Der  Rückstand  im  Kochfläschchen  wurde  nach  dem  Erkalten  mit 
viel  kaltem  Wasser  übergössen,  dabei  löste  ^r  sich  analog  wie  im  ersten 
Versuch  mit  dunkelbrauner  Farbe  völlig  klar  unter  Abscheidung  von 
viel  farblosem  sich  auf  der  Oberfläche  sammelnden  Oel.  Es  wurde  nun 
bis  zur  schwachsauren  Reaction  verdünnte  Essigsäure  zugefügt,  von 
welcher,  um  diess  zu  erreichen,  nur  wenig  nöthig  war,  sehr  viel  weniger 
als  im  ersten  Versuch ,  und  darauf  das  Ganze  der  Destillation  unter- 
worfen. Das  Destillat  wurde  mit  einer  verdünnten  Ghlorcaiciumlösung 
geschüttelt,  letztere  vom  abgeschiedenen  Oel  weggehoben  und  aus  dem 
Wasserbade  destillirt.  Das  Destillat  lieferte  nach  mehrmaligen  Rectifi- 
cationen etc.  noch  18  grm.  Alkoliol,  von  dem  also  im  Ganzen  17  grm. 
erhalten  wurden.  Die  ölige  Flüssigkeit  wog  nach  dem  Entwässern  20 
grm.  und  ging,  bis  auf  eine  Y2  grm.  betragende  Menge  früher  Siedendes 
(Alkohol)  beim  Siedepunct  des  Koblensäureäthers  über.  Höher  siedendes 
war  nicht  vorhanden. 

In  der  braunen  essigsauren  Salzlösung  wurde  auf  Zusatz  von  Chlor- 
c^Icium  oxalsaurer  Kalk  gefällt.  Die  Menge  desselben  betrug  nach  dem 
Abfiltriren  und  Trocknen  in  gelinder  Wärme  4%  grm.,  was  einer  Zer- 
setzung von  4,2  grm.  Oxaläther  entspricht. 

Das  Resultat  dieses  zweiten  Versuchs  unterscheidet  sich  von  dem 
des  ersten  Versuchs  wesentlich  darin,  dass  die  Menge  des  gewonnenen 
Kohlensäureäthers  eine  sehr  viel  grössere,  nahezu  die  doppelte,  war, 
denn  hier  wurden  58  Proc.  der  sich  aus  dem  angewandten  Oxaläther 
berechnenden  Menge  an  Kohlensäureäther  erhalten ,  während  dieselbe 
dort  nur  28  Proc.  davon  betrug,  und  ausserdem  wurden  hier  6  grm. 
Ameisensäuieäther  gebildet,  deren  Anwesenheit  dort  gar  nicht  wahr- 
genommen werden  konnte.  Der  Unterschied  im  Retreff  des  Letzteren, 
sowie  die  reichere  Kohlenoxydentwickelung  im  ersten  Versuche  wird 
verständlich,  wenn  noch  unverändertes  Aethematron  vorhanden  war, 
da  wir  wissen ,  dass  Ameisensäureälher  neben  Aethernatron  gar  nicht 
bestehen  kann,  sondern  in  Kohlenoxyd  und  Alkohol  zerfällt  und  der 
Unterschied,  den  beide  Versuche  im  Retreff  des  ersteren,  des  Kohlen- 


\i0fmm 


lieber  die  CiDwlrkonK  des  Aethernatrons  »nf  die  Aeth|Peukiger  KobleDStoffsanren.  255 

Säureäthers  iteigen,  wird  gleichfalls  voltiändlich,  wenn  wir,  wie  weiter 
unten  gezeigt  wird,  bedenken,  dass  durch  dasAethernatron  auch  dieser 
Aether  schon  bei  100  <>«CSl8eCtang  erleidet. 

Um  eine  völlige  Sinsich^  in  den  Verlauf  der  Reaction  zu  gewinnen, 
war  die  Untersiibhung  von  noch  zwei  Puncten  nöthig ,  einmal ,  ob  der 
Kohlensäureäther  als  ein  unmittelbares  Umsetzungsproduct  anzusehen 
sei  oder  erst  auf  Zusatz  von.  Wasser  aus  der  zurückbleibenden  braunen 
li^lbfesien  Masse  entsl^e  und  dann ,  welcher  Natur  die  förbende  Ma- 
terie sei,  die  in  nicht  unbeir^btlicher  Menge  entsteht  und  offenbar  einen 
sauren  Charakter  besitzen  muss.  Zu  diesem  Zwecke  habe  ich  noch  den 
folgenden  Versuch  angestellt. 

Dritter  Versuch.  Angewandt  wurden  sy,  grm.  Natrium  auf 
46  grm.  Oxaläther  [\  Yt  grm.  mehr  als  2  Mgte.)  und  im  Uebrigen  sowie 
im  zweiten  Versuch  verfahren.  Im  abgekühlten  Cylinder  hatten  sich 
condensirt  5  grm.  Ameisensäureäther  und  3  grm.  Alkohol,  im  Wasser- 
Stoffstrom  gingen  darauf  von  letzterem  noch  42  grm.  über  und  später 
durch  Destillation  der  Chlorcalciumlösung  3  grm. ,  so  dass  im  Ganzen 
18  grm.  davon  erlialten  wurden. 

Die  im  Kochfläschchen  enthaltene  braune  Salzmasse  wurde  nun 
mit  wasserfreiem  Aether  übergössen j  um  den  Kohlensäureäther,  wenn 
er  ein  unmittelbares  Product  der  Reaction  ist,  daraus  durch  Lösung 
zu  entfernen.  Da  indessen  der  zugefügte  Aether  mit  der  Substanz  eine 
breiartige  Masse  bildete,  die  sich  nicht  absetzte  und  schlecht  filtrirte, 
so  wurde  nicht  die  ganze  Menge,  sondern  nur  eine  Probe  abfiltrirt  und 
darin  nach  Verflüchtigung  des  Lösungsmittels  die  reichliche  Anwesen- 
heit von  Kohlensäurcäther  festgestellt,  so  dass  über  dessen  unmittel- 
bare Entstehung  bei  der  Reaction  kein  Zweifel  obwalten  kann. 

Es  wurde  nun  zur  mit  Aether  versetzten  Hauptmenge  Wasser  ge- 
fügt," bis  alles  Feste  iil  Lösung  gegangen  war,  tüchtig  durchgeschüttelt 
und  die  farblose  ätherische  Lösung  von  der  braunen  wässrigen  durch 
Abheben  getrennt.  Letztere  wurde  nun  mit  Essigsäure  schwach  ange- 
säuert, wobei  eine  geringe  Kohlensäureentwickelung  auftrat  und  dann 
destillirt.  Der  übergehende  Alkohol  mit  etwas  Kohlensäureäther  wurde 
zu  dem  Rückstand  gegeben ,  welcher  nach  vorsichtigem  Abdestilliren 
der  ätherischen  Lösung  blieb  und  beide  wie  früher  mittels  Chlorcalcium- 
lösung  und  Destillation  getrennt.  Erhalten  wurden  im  Ganzen  Kohlen- 
säureäther 19  grm. 

Die  braune  wässrige  Lösung  wurde  nun  mit  Chlorcalcium  versetzt, 
um  die  Oxalsäure  zu  entfernen.  Das  Fil trat  vom  Oxalsäuren  Kalk,  dessen 
Letzteren  Menge  nach  dem  Trocknen  in  gelinder  Wärme  4  grm.  (entspr. 
1,0  grm.  Oxalather)  betrug,  wurde  nun  mit  Salzsäure  im  Ueberscbuss 


256  ^        A«  Genther, 

vermischt.  Es  schied  sich  nur  w^nig  einer  braunen  flockigen  Substanz 
aus,  die  abfiltrirl  wurde.  Da  eine  Probe  des  ziemlich  verdünnten  Fil— 
trals  mit  Aelher  geschüttelt  die  Flüssigkeit  nMit  entföi'bte ,  so  wurde 
alles  zur  Trockne  gebracht  und  die  zerriebene  Masse  mit  Aether  über- 
gössen. Derselbe  blieb  fast  farblos,  in  ihm  hatte  sich  eine  geringe  Menge 
einer  kleinkrystallinischen  farblosen  Säure  gelöst,  welche 
nach  dem  Abdestilliren  des  ersteren  zurückblieb.  Sie  bildet  mit  Am- 
moniak, sowie  mit  Kalk  leicht  lösliche  amorphe  Salze.  Ihre  MeOge  wtfr 
zu  gering  um  weitere  Versuche  mit  ihr  vornehmen  zu  können. 

Zu  dem  Rückstand  wurde  nun  so  viel  Wasser  gegeben  ,  dass  eine 
concentrirte  Salzlösung  entstand.  Dabei  blieb  eine  schwarzbraune  Sub 
stanz  ungelöst,  welche  aus  zwei  sauren  Körpern  besteht,  von  denen  der 
eine  in  Wasser  leicht  löslich  ist  und,  sobald  nach  dem  Ablaufen  der 
Salzlösung  reines  Wasser  aufs  Filter  gegeben  wird,  mit  ganz  dunkel- 
brauner Farbe  in  Lösung  geht,  während  der  andere,  welcher  nur  schwer 
in  Wasser  sich  löst  auf  dem  Filter  zurückbleibt.    Sie  sind  beide  starke 
Säuren,  Wjßlche  sogar  die  Essigsäure  aus  ihren  Salzen  auszutreiben  ver- 
mögen ;  es  entsteht  nämlich  sofort  eine  dunkelbraune  Salzlösung,  wenn 
man  sie  mit  essigsaurem  Natron  zusammenbringt,  ganz  entsprechend 
der,  welche  sich  bei  Anwendung  von  Natronlauge  bildet.  Sie  sind  beide 
in  Alkohol  leicht  löslich  mit  schwarzbrauner  Farbe.    Die  in  Wasser  fast 
unlösliche  Säure  wurde  mehrmals  in  Natronlauge  gelöst  und  durch 
Salzsäure  gefällt,  getrocknet,  dann  mit  Aether  übergössen,  so  lange  sich 
derselbe  nach  kürzerer  Zeit  noch  färbte  (nach  längerer  Zeit  tritt  immer 
eine. bräunliche  Färbung  ein,  was  eine  langsame  geringe  Löslichkeit 
dieser  Säure  im  Aether  anzeigt),  dann  in  Alkohol  gelöst  und  im  Wasser- 
bade zur  Trockne  gebracht.     Die  in  Wasser  leicht  lösliche  Säure 
wurde  zur  Trockne  gebracht,  in  absolu((em  Alkohol  gelöst  und  die  ßltrirte 
Lösung  im  Wasserbade  wieder  zur  Trockne  verdampft. 

I.  0,1380  grm.  der  Ersteren  gaben  0,3060  grm  Kohlensäure, 
entspr.  0,083455  grm.  =  60,5  Proc.  Kohlenstoff  und  0,0565  grm. 
Wasser,  entspr.  0,006278  grm.  =4,6  Proc.  Wasserstoff. 

II.  0,1138  grm.  der  Letzteren  gaben  0,2404  grm.  Kohlensäure, 
entspr.  0,065482  grm.  =  57,5  Proc.  Kohlenstoff  mit  0,0574  grm. 
Wasser,  entspr.  0,006378  grm.  =5,6  Proc.  Wasserstoff. 

Aus  diesen  Resultaten  berechnet  sich  für  die  erstere  Säure  die 
Formel  €'flßO^,  welche  verlangt  60,9  Proc.  Kohlenstoff  und  4,4  Proc. 
Wasserstoff  und  für  die  letztere  Säure  die  Formel:  C^^HUO*^,  welche 
verlangt:  57,1  Proc.  Kohlenstoff  und  5,7  Proc.  Wasserstoff. 

Die  erstere  dieser  beiden  Säuren  stimmt  ihren  Eisjenschaften 
nach  überein  mit  dem  braunen  Körper,  der  bei  der  Einwirkung  von 


die  Einwirkung  des  Aetheniatrons  aof  die  AAher  einiger  KohlenstoffsUnren.  257 

Natrium  auf  Oxalatber  entsteht  UDjjKrelcher  von  Löwig  *)  »Nigrinsäure« 
genannt  worden  ist.  Auch  in  der  Zusammensetzung  weicht  sie  nicht 
wesentlich  von  ihm  €b.  Aus  der  Analyse  des  bei  ^lOO^  getrockneten 
Bleisalzes  (eine  Analyse  der  freien  Säure  liegt  nicht  vor)  leitete  Löwig 
für  sie  die  Formel:  €^«^0^  ab.    Das  ist  =  G^U^O^  -h  2A0. 

Nimmt  man  an,  dass  das  Bleisalz  bei  100^  noch  S  Mgte.  Wasser 
enthalten  bat,  die  bei  hölierer  Temperatur  hätten  ausgetrieben  werden 
können,  so  würde  man  zu  unserer  Formel  gelangen.  Die  Entstehung 
der  Verbindung  kann  durch  die  Gleichung : 

3€02  +  2€2|i4  —  2H  =  €7fl606 

veranschaulicht  werden. 

Die  Entstehung  der  anderen  braunen  Säure  lässt  sich  gleichfalls 
aus  €0^  und  &H*  unter  gleichzeitiger  Mitwirkung  von  Wasserstoff 
denken : 

6€02  4-  3€2fl4  4-211  =  €»2HUOt2, 

so  dass  sur  Entstehung  beider  Säuren  neben  einander  nur  GO^  und 
€'^H^  nöthig  sind,  denn: 

Ausser  den  seither  angeführten  Zersetzungsproducten ,  welche  der 
Oxaläther  unter  dem  Einfluss  des  Aethernatrons  liefert,  ist  noch  eines 
zu  erwähnen,  dessen  Anwesenheit  in  der  festen  Salzmasse  mit  Sicherheit 
angenommen  werden  kann,  das  ätherkohlensaure  Natron  nämlich, 
denn  dasselbe  entsteht  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden  beim  Zu- 
sammenkommen vonAethernatron  und  Kohlensäureäther  in  der  Wärme. 
Das  sich  während  der  |Jmselzung  stets  entwickelnde  Rohlenoxydgas 
vordankt  seine  Entstehung  offenbar  der  Einwirkung  des  Aethernatrons 
auf  einen  Theil  des  gebildeten  Ameisensäureäthers. 

Was  nun  den  Hergang  bei  der  Zersetzung  selbst  anlangt,  so  lä.sst 
sich  derselbe  dem  Vorhergehenden  zufolge  so  verlaufend  auffassen,  dass 
sich  der  Oxaläther  seiner  Hauptmenge  nach  in  Kohlensäureäther  und 
Kohlenoxyd  umsetzt,  welches  letztere  mit  dem  Leuchtgas  von  Aether- 
natron  die  beiden  braunen  Säuren  resp.  deren  Natronsalze  bildet,  wäh~ 
rend  das  dadurch  entstehende  Natronhydrat  resp.  Wasser  mit  einer 
anderen  Menge  Oxaläther  und  Aethornatron  die  übrigen  Zerselzungs- 
producte,  als  Ameisensäureäther,  oxalsaures  Natron,  ätherkohlensaures 
Natron  und  Alkohol  liefert. 

Ein  nahezu  richtiges  Bild  des  Hergangs  wird  die  folgende  Re- 
actionsgleichung  geben : 


4)  P«gK.  Annal.  Bd.  60  p.  420. 
Band  IV.    2.  47 


12  [€»0*,  mCß.  Ä*  »]  -»-  8  €^B* 


990 
iXaO 


=  ^  fco«,  IPO^,  C^IH,  ^1  -I-  €^50*,!WI  -I-  €«H»0«*  XaX>» 

WrningliHcb  die  beiden  braanen  Säorefi  nur  in  verfaältnissmässi^ 
(geringer  Menge  gebildet  werden,  so  ist  ihre  Entstebmig  dodi  offinibar 
vrni  der  gr&ssten  Bedeatong  für  den  Veiiaaf  derReaction,  weicher  dnrcb 
sie  gewiss  bestimmt  wird. 

Die  eben  erläuterte  Einwirkung  des  Aetbematrons  liefert  den 
Hchlttssel  zur  Erklärung  der  so  sonderbaren  und  bis  jetzt  nnerUäneo 
Einwiriiang  des  Natriums  auf  den  Oicalsäureätber.  DerLetztere 
wird,  wie  man  weiss ,  durdi  Ersteres  unter  Kohlenoxydentwickelimf 
in  Kohlensäureäther  verwandelt.  Gleichzeitig  entstehen,  wie  Uomm^ 
gezeigt  hat  Ameisensäure,  Alkohol  und  »Nigrinsäure«.  Das  EigentfaOm- 
liehe  hiH  der  Einwirkung  des  Natriums,  als  eines  kräftig  reduciren- 
den  Agens  ist  immer  die  Bildung  des  Aethcrs  der  Kohlensäure  ge- 
wesen, einer  Häure,  die  kein  Rcductionsproduct  der  Oxalsäure,  im 
(iegentheil,  ein  Oxydationsproduct  derselben  darstellt.  Der  Vorgang 
ist  oflVfnbar  bei  dieser  Einwirkung  der  folgende :  Aus  Oxalsäureäther 
wird  durch  Natrium  Kohlenoxyd  und  Aethematron  gebildet,  nach  der 
Gleichung : 

€20»«202  (€2H4)2  ^  2Na  =  2€02  ^  2€2fl4)HO 

JNaO, 
welch  letzteres  seinerseits  auf  die  oben  erörterte  Weise  von  Neuem  auf 

Oxaläther  einwirkt.  Also  nicht  das  Natrium  als  solches  ver- 
anlasst die  Bildung  von  Kohlensäureäther  aus  dem  Oxal- 
äthor,  sondern  dai^  erst  durch  dasselbe  gebildete  Aether- 
natron.  Die  Bildung  dos  Kohlensäureäthers  bei  dieser  Einwirkung  ist 
also  vollkommen  secundärer  Art. 

Darnach  bedarf  es  wohl  kaum  noch  der  Erwähnung,  dass  die  beste 
Methode  zur  Darstellung  des  Kohlcnsäurcäthers  aus  dem  Oxaläther  in 
der  Einwirkung  von  Aothornalron  auf  deViselben  besteht. 

Aothcrnalron  und  Kohlensäureäther. 

Zu  dem  mit  i  y^  grm.  Natrium  in  einem  Glasrohr  dargestellten 
Aolhomnlron  wurden  15  grm.  KohlensHurellther  gegossen  (1  Mgt.  Na- 


Ueber  die  Einwirkung  des  Aetbernatrons  auf  die  A()|i(Sreiniger  KohlenstoffsRnren.  259 


trium  und  2  Mgt.  Kohlensäureäther^^^ird  das  Rohr  zugescbmolzen.  Das 
AethernatroD  lOst  sich  bei  gewöl^Bficher  Temperatur  kaum  auf,  bei  mas- 
siger Warme  mehr,  beioi  nachhengen  Erkalten  aber  wieder  auskrystal- 
lisirend.  Als  das  Rohr  im  Wasserhade  erhitzt  wurde ,  schied  sich  ali- 
mählich ein  l^j^ystallinisches  Salz  aus,  dessen  Menge  nach  einem  5stün- 
digen  Erhitzen  auf  1 00®  sieh  nicht  weiter  vermehrte.  Die  Krystalle 
waren  zum  Theil  von  bedeutender  Grösse ,  die  Menge  derselben  ver- 
mehrte sich  beim  Erkalten  nur  wenig,  die  Flüssigkeit  hatte  eine  schwach 
gelbliche  Färbung.  Zur  sicheren  Vollendung  der  Reaction  wurde  noch 
2  Stunden  auf  120®  erhitzt.  Beim  Oeffnen  des  Rohrs  zeigte. sich  kein 
Druck  im  Innern ,  es  war  aber  der  Geruch  von  gewöhnlichem  Aether 
bemerkbar.  Im  Wasserbade  erhilzt ,  destillirte  gew.  Aether  und  Al- 
kohol über.  Der  zurückbleibende  Röhreninhalt  wurde  mit  wasserfreiem 
Aether  gewaschen,  worin  sich  das  auskrystallisirteSalz  nicht  löste.  Nach 
dem  Verdunsten  desselben  blieben  7  grm.  unveränderter  Kohlensäure- 
äther übrig. 

Das  über  Schwefelsäure  getrocknete  Salz  gab  bei  der  Analyse  fol- 
gende Zahlen : 

0,191  grm.  lieferten  nach  dem  Glühen,  wobei  zuerst  ohne  Schmel- 
zung nur  geringe  Schwärzung  eintrat  0,0915  grm.  geschmolzenes  koh- 
lensaures Natron,  entspr.  0,0535  grm.  =  28,0  Proc.  Natron. 

Daraus  folgt,  dass  dasselbe  nicht  kohlensaures,  sondern  äther- 
kohlensaures Natron  war,  welches  27,7  Proc.  Natron  enthält. 
Damit  stimmt  auch  sein  übriges  Verhalten  vollkommen  überein.  Es 
löst  sich  in  kaltem  Wasser  unter  schwacher  Erwärmung  und  Bildung 
von  Alkohol  zu  doppelt  kohlensaurem  Natron,  das  bei  genügender  Gon- 
centration  auskrystallisirt;  in  siedendem  Wasser  unter  Kohlensäureent^ 
Wickelung  und  Bildung  von  neutralem  kohlensaurem  Natron.  Wird  die 
in  der  Kälte  bereitete  Lösung  mitChlorcalcium  im  Ueberschuss  versetzt, 
so  entsteht  nur  ein  geringer  Niederschlag ,  wird  die  davon  abßltrirte 
klare  Flüssigkeit  aber  stehen  gelassen,  so  entsteht  nach  einiger  Zeit  ein 
neuer  Niederschlag,  der  sofort  in  reichlicher  Menge  erscheint,  wenn  die- 
selbe gekocht  wird.    Dabei  verflüchtigt  sich  Alkohol. 

Die  Einwirkung  des  Aethematrons  auf  den  Kohlensäureäther  ver- 
läuft demnach  so,  dass  aetherkohlensaures  Natron  und  Aether 
gebildet  wird  nach  der  Gleichung : 

JNaO"~  NaOJ^"   -h  Xi.  «^. 

Nach  diesem  Verhalten  des  Kohlensäureäthers  schien  es  mir  ge- 
boten die  Einwirkung  des  Natriums  auf  den  Kohlensäureäther  zu  unter- 
suchen. 


iJ^wHi  fdbt  an ,  iUn»  K;ilialPtien  Koh!<>nsäarcätber  unter  Bfldnng 
vmt  KMewnjd  nnd  etnpr  weissen  iMimasse  zersetzt,  die  ans  Aether- 
kali  und  kohlensanrem  Kali  bestehen  soll.  Es  aduen  mir  dem  Torfaer- 
gellenden  zufolge  nicht  zweifelhaft ,  dass  die  letztere  der  Hanpfsacfae 
naeh  Sitherkohlenfiaures  Kali  war.  Der  Versuch  mit  Nabripm  hat  diess 
bestätigt. 

Als  zo  ftberschflssigem  Kohlensäareäther  Natrium  gefügt  wurde 
war  In  der  Kälte  nur  geringe  Gasenl%\icke1ang  bemeribar,  dieselbe 
warvle  beim  gelinden  Erwärmen  bedeutender  und  zuletzt  unter  Auf- 
blähen und  Zertheilen  des  Natriums,  itothfärben  der  FIflssigkeit  und 
Abscheidung  eines  weissen  Salzes,  sehr  lebhaft.  Nach  Beendigung  der 
Reactfon  wurde  die  Masse  mit  absolutem  Aether  versetzt,  worin  sich  der 
meiste  rothe  Farbstoff  mit  gelblicher  Farbe  löste ,  wahrend  eine  etwas 
gefärbte  Salzmasse  (ibrig  blieb.  Dieselbe  löste  sich  nicht  in  neuen  Men- 
gen Aethers,  war  also  kein  Aelhematron.  Auf  die  1,2  gnn.  derselben 
waren  i  gnn.  Kohlensäureäther  verbraucht  worden.  War  sie  äther- 
kohlensaures Natron,  so  hätten  .1,8  grm.  des  letzteren  zu  ihrer  Bildung 
verwandt  werden  müssen.  Sie  verhielt  sich,  wie  ein  durch  kohlensaures 
Natron  veranreinigtes  ätherkohlensaures  Natron,  vne  ihr  Verhalten  gegen 
Chlorcaiciumlösung  zeigte  <].  0,1 97  grm.  derselben  über  Schwefelsäure 
getrocknet  gaben  nach  dem  Glühen  0,1 15  grm.  kohlensaures  Natron, 
was  0,06726  grm.  =  34,1  Proc.  Natron  entspricht. 

Aetherkohlensaures  Natron  enthält  27,7  Proc.  und  kohlensaures 
Natron  58,5  Proc.  Natron. 

Das  während  der  Einwirkung  entbundene  Gas  war  Kohlenoicyd. 

Die  Einwirkung  des  Natriums  auf  den  Kohlensäureäther  verläuft 
also  in  der  Hauptsache  nach  der  Gleichung: 

3  [cos «202,  (€2H<]  21  ^  2Na  =  €02  +  2r^^**]^^2j€0*]H-4G2MH). 


Aethernatron  und  Benzoäsäureäther. 

Das  mit  Hülfe  von  1  grm.  Natrium  in  einem  Glasrohr  bereitete 
Aethernatron  wurde  mit  13  grm.  Benzoösäureälher  (1  Mgl.  auf  2Mgte.) 
Übergossen.  Bei  gewöhnlicher  Temperatur  findet  keine  Einwirkung, 
auch  nicht  Lösung,  statt,  bcilOO«  entsieht  allniHhlich  eine  gelbliche  gal- 
lertartige Masse,  welche  bei  120<>  nach  demDurchi^chütteln  den  Röhren- 


4)  Es  muBS  hier  noch  angeführt  werden,  dass  in  dem  Salz  auch  eine  kleine, 
nb6r  deutlich  nachweinbare  Menge  von  Oialstture  enthalten  war,  welche  nur 
durch  Reduction  hua  dor  Kohlensäure  entstanden  sein  kann. 


Ueber  die  Einwirkung  des  AelheruatroHS  mi  di^^ttier  einiger  KobienstoiTsäureu.  261 

inhalt  breiig  erscheinen  iassl.  K^iMt  das  Rohr  ab,  so  krysiallisirt  aus 
dem  flüssigen  Theil  des  Röhreninhalls  eine  grosse  Menge  in  farblosen 
nadeiförmigen  Krystallen  vom  Ansehen  des  Aetbernatrons.  Wird  wieder 
auf  1 SO^  erhitaU>  so  verschwinden  diese  Krystalle  wieder  unter  Verfltts- 
sigung.  Nach  dem  Erkalten  erscheint  der  Röhreninhalt  fast  ganz  zu 
diesen  Krystallen  erstarrt,  es  ist  nur  sehr  wenig  Flüssigkeit  zu  be- 
merken. Nachdem  das  Rohr  während  6  Stunden  auf  \iO^  erhitzt  wor- 
den war  wurde  es  geöffnet,  wobei  kein  Druok  und  nur  der  Geruch  des 
Renzoeäthers  zu  bemerken  war.  Der  Inhalt  des  Rohrs  wurde  mit  abso- 
lutem Aether  Übergossen,  in  eine  Kochflascfae  gespült  und  darin  mit 
Aether  im  Ueberschuss  stehen  gelassen ,  bis  alles  Lösliche  gelöst  war. 
Darauf  wurde  das  Ungelöste  abfiltrirt  und  mit  Aether  gewaschen.  Es 
war  fast  weiss  und  nichts  als  benzoösaures  Natron,  wie  eine  Natron- 
bestimmung zeigte.  Seine  Menge  betrug:  3  grm.  Die  Ursache  der  Bil- 
dung dieses  Salzes  ist  zum  Theil  wohl  in  Feuchtigkeit ,  zum  TheU  in 
freier  im  Benzoöäther  erhaltener  Benzoösäure,  die  bei  der  Destillation 
desselben  in  geringer  Menge  entsteht,  zu  suchen. 

Die  klar  filtrirende  ätherische  Lösung  schied  noch  während  des 
Filtrirens  ein  krystallinisches  Salz  aus.  Dasselbe  wurde  wieder  abfiltrirt, 
mit  Aether  gewaschen,  getrocknet  und.analysirt.  Es  wog  \  V2grm.  und 
war  gleichfalls  reines  benzoösaures  Natron.  Da  dieses  Salz  in  Aether 
unlöslich  ist,  so  musste  es  erst  imFiltrat  gebildet  worden  sein,  was  ein- 
treten konnte,  wenn  das  Filtrat  Aethernatron  enthielt  und  dieses  wäh- 
rend des  Fibrirens  Feuchtigkeit  aus  der  Luft  angezogen  hatte.  Das  neue 
Filtrat  davon,  welches  rascher  durchs  Filter  gelaufen  war,  als  das 
erstere,  indem  die  abzufiltrirende  Salzmasse  viel  geringer  als  im  ersten 
Fall  war,  schied  wieder  etwas  Salz  ab,  aber  viel  weniger.  Es  wurde 
der  Aether  aus  dem  Wasserbade  abdestillirt  und  der  ziemlich  beträcht- 
liche mit  Flüssigkeit  durchtränkte  grosskrystallinische  Salzrück&tand 
vom  Aussehen  des  Aetbernatrons,  da  derselbe  mit  Wasser  eine  stark 
alkalisch  reagirende  Lösung  lieferte,  zur  Bestimmung  des  noch  unver- 
ändert vorhandenen  Benzoöäthers  in  verdünnter  überschüssiger  Salz- 
säure gelöst  und  das  sich  abscheidende  Oel  mit  Aether  ausgezogen.  Die 
ätherische  Lösung  hinterliess  nach  dem  Verdunsten  eine  Flüssigkeit,  der 
durch  Schütteln  mit  einer  Lösung  von  kohlensaurem  Natron  Va  g>*m- 
Benzoesäure  entzogen  werden  konnte.  Der  Rest  wog  8  grm.  und  de- 
stillirte  zwischen  200  und  24  5  ^ 

Es  entsprechen  nun 

8    grm.  Benzoöäther 8    grm.  Benzoöäther 

4,5     n    benzoösaures  Natron  4,6     »  » 

0,5     »     Benzoösäure 0,6     » » 

13^2  grm. 


262  NA.  Geuther, 


VeMicrn 


Daraus  folgl  also,  dass  das  AeMicrnairoD  auf  reinen  Ben- 
zol ätfa  er  bei  120^  nicht  einwirkt. 

Um  zu  sehen,  ob  bei  höherer  Temperatur  eine  Umsetzung  zu  er- 
reichen sei  wurde  der  Versuch  mit  Anwendung  von  f,tt  grm.  Natrium 
und  i  6  grm.  Benzoääther  wiederholt.  Das  Rohr  wurde  erst  5  Stunden 
auf  HO^  und  dann  weitere  5  Stunden  auf  160®  erhitzt.  Dass  hierbei 
Umsetzung  eintrat,  zeigte  die  allmählich  sich  vergrössernde  Menge  des  in 
der  Hitze  f.  st  bleibenden  Salzes.  Beim  Oeffnen  des  Rohrs  in  der  Flamme 
wurde  dasselbe  aufgeblasen  und  es  strömte  eine  massige  Menge  eines 
mit  leuchtender  Flamme  brennenden  Gases  aus.  Der  Röhreninhalt  zeigte 
deutlich  den  Geruch  von  gewöhnlichem  Aether.  Das  Rohr  wurde  mit 
einem  Kühler  verbunden  und  aus  dem  Wasserbade  das  Flüchtige  ab~ 
destillirt.  Dasselbe  bestand  aus  einem  Gemisch  von  Aether  und  Al- 
kohol. Der  Rückstand  im  Rohr  wurde  darauf  mit  absolutem  Aether 
ausgewaschen.  Das  klare  Filtrat  reagirte  nicht  alkalisch  und  blieb  auch 
beim  Stehen  an  der  Luft  klar.  Der  vollkommen  weisse  Salzrückstand 
wog:  8  grm.  Bei  der  Analyse  ergab  er  22,8  Proc.  Natron,  benzoös. 
Natron  verlangt:  21,5  Proc.  Er  verhielt  sich  sonst  wie  benzoösaures 
Natron,  auch  die  daraus  abgeschiedene  Benzoösäure  hatte  den  richtigen 
Schmelzpunct  i  20®.  Kohlensaures  oder  oxalsaures  Natron  konnte  nicht 
nachgewiesen  werden.  Ich  vermag  vorläufig  nicht  anzugeben,  welche 
Substanz  den  etwas  zu  hoch  gefundenen  Natrongehalt  verursacht  hat. 

Nach  .dem  Abdestilliren  der  ätherischen  Lösung  im  Wasserbade 
blieben  an  gelb  gefärbter  Flüssigkeit  übrig:  7,5  grm.  Bei  der  Destilla- 
tion zeigte  sich,  dass  ein  geringer  Theil  höher  siedende  Substanz  vor- 
handen war,  die  diesmal  nicht  Benzoesäure  sein  konnte.  Um  sie  frei 
von  Benzoöäther  zu  erhalten,  wurde,  da  dieselbe  durch  verdünnte  Na- 
tronlauge auch  in  der  Siedehitze  keine  Veränderung  erfuhr,  die  Gesammt- 
menge  der  aus  der  ätherischen  Lösung  erhaltenen  Flüssigkeit  wiederholt 
mit  Natronlauge  im  Ueberschuss  in  ein  Rohr  eingeschlossen  und  wäh- 
rend giehrerer  Tage  auf  i06^  erhitzt.  Der  Benzoöäther  verschwand. 
Das  übrigbleibende  Oel  wurde  nach  Entfernung  der  Natronlauge  in 
Aether  gelöst,  derselbe  entwässert  und  dann  abdestillirt. 

Die  Menge  gelblichen  öligen  Rückstandes  betrug  4,5  grm.  Bei  der 
Destillation  zeigte  sie  sich  aus  2  Substanzen  bestehend,  einer  nämlich, 
welche  zwischen  200  und  210®  destillirte  und  einer,  welche  bei  360^ 
noch  nicht  überging.  Erstere  stellte  eine  farblose  Flüssigkeit  dar  von 
an  Benzoöäther  erinnerndem  aber  mehr  kratzendem  Geruch,  letztere  war 
eine  fast  feste  gelbe  terpentinähnliche  Masse. 

Die  Erstere  gab  bei  der  Analyse:  77,3  Proc.  Kohlenstoff  und  8,9 
Proc.  Wasserstoff,  was  der  Zusammensetzung :  C^fi^^O^,  welche  76,4 


Araer  mim 


Geber  die  Eiuwirkung  des  Aetheniatrous  auf  die  Araer  einiger  Kohleostoffs&aren.  263 

Proc.  EohleDstoff  uDd9,1  Proc.  Wasserstoff  verlangt,  entsprechen  würde ; 
die  Letztere,  undestillirt ,  ergab:  84,4  Proc.  Kohlenstoff  und  7,9  Proc 
Wasserstoff,  welche  Zahlen  auf  die  Formel:  €^^fli*02  führt,  welche 
84,0  Prcc.  Kohlenstoff  und  8,0  Proc.  Wasserstoff  fordert. 

Von  diesen  Substanzen  lässt  sich  vorläufig  nur  sagen ,  dass  sie 
keine  Sätren  und  keine  Aetherverbindungen  sein  können ,  sie  können 
aber  zur  Hasse  der  Alkohole  oder  zur  Klasse  der  Ketone  gehören.  Ob 
ihre  Entstehung  mit  der  Thatsache  zusammenhängt,  dass  das  bei  ihrer 
Bildung  zurückbleibende  benzo^saure  Natron  einen  um  1,3  Proc.  zu 
hohen  Natrmgehalt  ergeben  hat,  sowie  mit  der  Entstehung  des  beim 
Oeffnen  des  Rohrs  ausströmenden  brennbaren  Gases,  kann  ich  bis  jetzt 
nicht  angeben. 

Benzoisäureäther  gibt  mit  Aethernatron  also  bis  460  ^ 
erhitzt  dei  Hauptsache  nach  benzoösaures  Natron  und 
Aether.  

Aus  dem  Mtgetheilten  ergibt  sich  somit  als  Gesammtresultat,  dass 
Aethernatron,  w^nn  es  auf  die  Aether  der  Essigsäure,  Ameisensäure, 
Oxalsäure  und  hohlensäure  einwirkt,  die  nämlichen  Producte  bildet, 
wie  das  Natrium,  indem  die  Entstehung  der  Letzteren  durch  die  Ent- 
stehung des  Ersteim  bedingt  ist. 

Jena,  Mitte  M.rz  1868. 


Von 

Dr.B«Th6ile, 

AA»ute«l  «B  laB4viftk*chafliiclwni  Iscütat  za  Jeu. 


Im  ADsehluss  an  eine  in  einem  frtthcVen  Hefte  dieser  Zeilschrifil 
verdATentiicbte  Ari>eit  ^  über  das  Albumin,  sein  Verhalfen  g^en  Kali, 
sowie  seine  chemische  Gonslilution  betreffend«  sind  aiUi  die  nun  fol- 
genden Untersuchungen  Ober  Legumin  von  mir  durch(efuhrt  worden. 

Die  Anregung  dazu  gab  die  Frage ,  wie  viel  Amnoniak  sich  ent- 
wickle, wenn  Legumin  andauernd  mit  concentrirter  Kalilauge  behandelt 
wird,  da  sich  die  bei  analoger  Behandlung  des  Th^r-  und  Pflanzen- 
ei  weisses  erhaltenen  Resultate  nicht  wohl  ohneWeil^es  auch  aufCas^in 
und  Legumin  übertragen  Hessen. 

Darstellung  des  reinen   Lcgimins. 

Als  Rohmaterial  dienten  fein  gestosseno  Krisen.  Das  Erbsenmehl 
wurde  mit  Wasser  auf  einem  Drahtsiebe  ausgclaigt,  immer  in  kleineren 
Portionen. 

Die  Behandlung  mit  Wasser  wurde  jedoA  nicht  bis  zum  Durch- 
laufen einer  klaren  Flüssigkeit  fortgesetzt ,  d;  sonst  die  zu  stark  ver- 
dünnte Lösung  die  Gewinnung  des  Lcgumins  *^esentlich  erschwert  hätte. 

Die  durchgelaufene  Flüssigkeit  wurde  $  lange  stehen  gelassen,  bis 
sich  das  Stärkemehl  vollständig  abgesetzt  btto. 

Die  übenitohende  klare  Flüssigkeit  wu4e  mitdem  Heber  abgehoben. 
Probon  davon  iHngero  Zeit  erhitzt  zei^n  auch  nicht  die  geringste 
flockigo  Abscheidung,  nur  eine  geringe /milchige  Trübung  trat  mit  der 
Zeit  ein,  sowie  die  Bildung  dünner  ÜAifi^en  auf  der  Oberfläche. 

Albumin  konnte  demnach  in  dery'üssigkeit  nicht  zugegen  sein. 

4)  Diese  Zeitschrift  Band  III.  i.  u.  8.  ^^7. 


/ 


/ 


Ueber  Legumio.       ^  265 

Die  mikroskopische  Tniersuchuq^  auf  Amylum  Hess  keine  Spur 
davon  in  der  Flüssigkeit  erkennen. 

Die  so  als  vonAlbinnin  und  Amylum  frei  erkannte  Flüssigkeit  wurde 
mit  absolutem  Alkohol  versetzt,  wobei  sich  das  Legumin  in  dichten 
Flocken  abschied. 

Die  verdünnte  alkoholische  Flüssigkeit  Hess  sich  schnell  und  voll- 
kommen  ßltriren ,  so  dnss  das  auf  dem  Filter  bleibende  Legumin  nur 
kurze  Zek  mit  der  Luft  in  Berührung  kam. 

Nach  und  nach  wurden  nach  obiger  Methode  2  Pfund  gestossener 
Erbsen  behandelt  und  die  gefaUten  und  abfiltrirten  Mengen  Legumin 
sogleich  in  einem  mit  absolutem  Alkohol  gefüllten  Sammeigefasse  zu- 
sammengebracht. Die  Gesammtmasse  wurde  einige  Tage  unter  öfterem 
Umschütteln  mit  Alkohol  in  Berührung  gelassen,  um  Wasser  und  fär- 
bende Substanzen  zu  entfernen,  hierauf  filtrirt,  mit  absolutem  Alkohol 
ausgewaschen  und  dann  auf  ganz  ähnliche  Weise  mit  Aether  behandelt, 
um  das  Fett  zu  entfernen. 

Das  vom  Aether  befreite  Legumin  wurde  dann  mit  Hülfe  eines  Aspi- 
rators  und  bei  einer  durch  warmes  Wasser  erzeugten,  höchstens  5.0<^C. 
betragenden  Temperatur  einem  andauernden,  über  Chlorcalcium  ge- 
trockneten Luftstrome  ausgesetzt  und  schliesslich  unter  der  Luftpumpe 
getrocknet. 

Nach  längerem  Stehen  unter  der  Luftpumpe  (8  Tage)  erhielt  ich 
eine  gelbe,  vollkommen  spröde  Masse,  die  zerrieben  ein  feines  weisses 
Pulver  gab. 

Charakteristisch  ist,  dass  Legumin  bei  ganz  analoger  Behandlung 
viel  mehr  Zeit  erfordert,  um  in  eine  spröde  trockne  Masse  überzugehen, 
als  Albumin. 

Die  Ausbeute  des  so  gewonnenen  Legumins  war  eine  sehr  geringe, 
was  in  dem  Bestreben ,  jedo  mögliche  Verunreinigung  zu  vermeiden, 
Erklärung  findet. 

Aus  den'S  Pfund  Erbsen  erhielt  ich  19  grm.  Legumin. 

Analyse  des  Legumins. 

Bestimmung  des  Aschengehaltes. 
0.355  grms.  Substanz  hinterliessen  0.085  grms.  Asche  s  7.047o* 
0.936      »  »  »  0.062      »  »      «  6.720/^. 

Eine  nähere  Untersuchung  der  Asche,  deren  specielle  Resultate  ich 
im  Vereine  mit  mehrfachen  anderen  mit  Aschen  von  Eiweisskörpem 
ausgeführten  Analysen  in  einer  späteren  Arbeit  mittheilen  werde,  ergab 
unter  anderen  die  vöUige  Abwesenheit  von  Schwefelsäure. 


266  -      Dr.  R.  Theilc, 

£s  isl  diess  insofern  inlcresmit,  als  daraus  erhellt,  dass  der  im 
Legiunin  enthaltene  Schwefel,  der,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden, 
0.7%  beträgt,  beim  directen  Verbrennen  entweicht  und  nicht  in  der 
Form  von  Schwefelsäure  deplacirend  auf  Salze  der  Asche  einwirkt. 

Der  weit  überwiegende  Theil  der  Asche  besteht  aus  phosphorsauren 
Alkalien  und  phosphorsauren  alkalischen  Erden. 

Wasserbestimmung. 

Zur  Bestimmung  des  Wassergehaltes  wurde  Legumin  in  einem 
Röhrchen,  durch  das  sich  ein  Luftstrom  ziehen  und  der  Charakter  der 
entweichenden  Dämpfe  durch  angefeuchtetes  Reagenspapier  erkennen 
Hess,  lange  und  anhaltend  einer  allmählich  gesteigerten  Temperatur  aus- 
gesetzt. 

Von  den  25  hinter  einander  angestellten  Trockenversuchen  war 
jeder  das  Resultat  einer  mindestens  viertelstündigen  Einwirkung  der 
entsprechenden,  allmählich  gesteigerten,  Temperatur. 

Ich  hebe  aus  der  langen  Reihe  dieser  Versuche  nur  diejenigen  her- 
vor, die  für  die  daran  anzuknüpfenden  Berechnungen  unbedingt  nö- 
thig  sind. 

Die  Wägungen  1—V.   (bei  90  0C.— lOO»)  ergaben  5.55— 8. 687o Wasser. 
r>  »       VI.  VII.  u.  VIII.   (bei  400«)  ergaben  aUe  9.377o       » 

»  »       IX— XII.  (bei  i  000— ^  4  5»)  ergaben  9. 37  %— 1 0. 76 %  ^ 

»  »       XIII— XV.  (bei  \  20  <>)  ergaben  alle  <  0 .  76  %  Wasser. 

j>  »       XVII— XX.  (bei  4  30»)  ergaben  alle  12.03%      » 

»  »       XXI.  u.  XXII.  (bei  i  30»- 1 50^)  gaben  beide  1 2.737o  » 

»  »       XXUI.  (1 60  0)  gab  1 3. 42  %  Wasser. 

Die  letzte  Wägung  XXV.  (ISO»)  gab  45.62%  Wasser. 

Von  XXUI.  an  trat  aber  auch  schon  allmähliche  Zersetzung  der 
Substanz  ein. 

Ueberblickt  man  die  Reihe ,  so  findet  bei  allmählichem  Steigen  der 
Temperatur  selbstverständlich  auch  eine  steigende  Abnahme  des  Wasser- 
gehaltes der  Substanz  statt,  aber  diese  Abnahme  findet  nicht  ganz  will- 
kürlich und  gesetzlos  statt,  sondern  es  treten  ganz  positive  fixe  Puncte 
auf,  wo  bei  längerem,  oft  stündlichem  Trocknen  der  Wassergehalt  nicht 
abnimmt,  dann  aber  plötzlich  wieder  bis  zu  einem  nächsten  stationären 
Puncte  sinkt. 

Bei  460  0  trat  ein  schwach  brenzlicher  Geruch  auf,  der  die  begin- 
nende Zersetzung  andeutet,  bei  170^  trat  alkalische  Reaction  ein,  die 
»ch  bei  iSQ^  intensiv  steigerte,  bei  welcher  Temperatur  auch  schon  in 
der  Röhre  eine  starke  Nebelbildung  die  Zersetzung  erwies. 

440^G.  ist  als  die  Temperatur  hinzustellen,  bei  der  Legumin,  ohne 
ich  zu  zersetzen,  sein  gebundenes  Wasser  vollständig  abgibt. 


Ueber  Leguniii.    .  267 

Der  Gehalt  des  Legumins  an  Wasser  berechnet  sich  demnach  zu 
12.73%.  > 

Wirft  man  einen  Blick  auf  obige  Reihe,  so  sieht  man,  dass  erst  bei 
Temperaturen  über  i  00  ^  eine  wiederkehrende  Rcgelmässigkeit  sich  gel- 
tend macht.  Diess  Verhalten  spricht  jedenfalls  dafür,  dass  hier  nicht 
hygroskopisch  adhärirendes,  sondern  nach  festen  Verhältnissen  chemisch 
gebundenes  Wasser  ausgetrieben  wird. 

Schon  Andere  haben  bei  .der  Aufstellung  von  Formeln  für  die  Ei- 
wei^skörper,  in  erster  Linie  aber  namentlich  für  Albumin,  auf  chemisch 
gebundenes  Wasser  Rücksicht  genommen. 

LiBBKREüHN  beispielsweise  schreibt  dem  Albumin  die  Formel  C^^^ 
H110X18S2O44+  2aqzu. 

Diese  Annahme,  zu  der  Libbbrkühn  durch  das  Studium  der  Metall- 
verbindungen mit  Albumin  bewogen  wurde,  glaube  ich  bei  meinen 
Untersuchungen  dos  Albumins  durch  den  directen  Versuch  bestätigt  zu 
haben,  nur  dass  ich  dahin  geführt  wurde  4  Aeq.  Wasser  annehmen  zu 
müssen. 

Auch  im  vorliegenden  Falle  weist  das  Verhalten  des  Legumins  dar- 
auf hin. 

Wie  später  folgen  wird,  ergibt  sich  nach  meinen  Untersuchungen 
für  das  Aequivalent  des  bei  140^  getrockneten,  also  wasserfreien  Legu- 
mins die  Zahl  1713. 

Berechnet  man  den  Procentgehalt  an  Wasser,  wenn  zwei,  vier  und 
sechs  Aequivaiente  HO  hinzutreten,  so  erhält  man: 

4713  -h  2H0  =  4.039 o/oHO. 
4713  4-  4 HO  =»  2.058%  HO. 
4713  -4-  6H0  =  3.087  o/o  HO. 

Vergleicht  man  die  Resultate  der  Wägungen  XXI  u.  XXU.  sowie 
der  Wägungen  XllI — XV.,  die  beide  Ruhepuncte  bilden,  so  ergibt  sich 
eine  Differenz  von  2.03%  im  Wassergehalt,  welcher  bei  der  angegebenen 
Aequivalentenzahl  4  Aeq.  Wasser  entsprechen,  dies  entspricht  bei  400® 
=  4743  -h  6H0. 

Vergleicht  man  die  Resultate  der  Wägungen  XXL  und  XXIL  mit 
denen  der  Wägungen  VL  bis  VHL,  so  ergibt  die  Differenz  3.36  %. 
Die  Wägungen  (XVH— XX.)  repräsentiren  die  Substanz 

4743  +  HO. 

Es  scheint  mir  desshalb  nach  den  vorliegenden  Untersuchungen 
wahrscheinlich,  dass  auch  Legumin,  ebenso  wie  Albumin  Wasser  in 
festen  Verhältnissen  chemisch  gebunden  enthält  und  dass  die  Menge 
6  Aequivaiente  beträgt. 


268  Dr.  R.  Tlwile, 

Bestimmung  des  Seh wfif elgehdlies. 

Die  Substanz  wurde  mit  kohlensaurem  N^ron  und  Salpeter  im 
Tiegel  geschmolzen,  um  S  in  Schwefelsaure  Uberzimlhren.  Eine  Correction 
der  hierbei  gefundenen  Schwefelsäure  war  nicht  oothwendig,  da  die 
Asche  keine  Schwefelsäure  enthält. 

I.  0.834  grms.  Subst.  gaben  0.041  BaOSO^  =  0.68%  S. 
11.  0.787       »  »  »      0.045     »      »     =0.78%S. 

Es  ergibt  sich  hieraus  im  Mittel  ein  Gehalt  von  0.74  %  ^• 

Die  in  analoger  Weise  ausgeführte  Prüfung  auf  Phosphor  erwies  die 
vollständige  Abwesenheit  desselben. 

Norton^)  hat  in  demLegunün  aus  Erbsen  und  Mandeln  bedeutende 
Mengen  Phosphor  gefunden,  von.  2  %  bis  2.4%. 

Diesen  schon  von  Anderen  bezweifelten  hohen  Gehall  an  Phosphor 
muss  auch  ich  entschieden  in  Abrede  stellen. 

Eine  nach  Norton  5.2%  Phosphorsäure  entsprechende  Menge 
Phosphor  kann  unmöglich  übersehen  werden,  sie  liegt  weit  ausserhalb 
der  Grenzen  möglicher  Versuchsfehler. 

Bestimmung  des  Stickstoffs. 
I.  0.325  grms.  Substanz  mit  Natronkalk  geglüht  und  den  Stickstoff 
nach  Varrentrapp  und  Will  bestimmt  ergaben : 

0.04376  grms.  =  43.46  7o  Stickstoff. 

II.  0.328  grms.  ebenso  behandelt: 

0.04464  grms.  =  13.607o  Stickstoff. 

III.  0.379  grms.  nach  Varrentrapp  : 

0.05499  grms.  *=  43.72  0/^  Stickstoff. 

IV.  Eine  Bestimmung  des  Stickstoffs  in  Gasform  lieferte  bei  2t^C.  und 
747  Mm.  Barometerstand  49.7  CG.  Gas. 

Es  entspricht  dies  0.055H  grms.  =  U.82%  Stickstoff. 
>  Die  letztere  Bestimmung  gibt  den  Gehalt  offenbar  zu  hoch  an,  wie 
auch  die  Entdecker  der  Methode  zugeben. 

Im  Mittel  ergibt  sich  nach  den  3  ersten  Analysen  ein  Gehalt  des 
Stickstoffs  von  4  3.60%. 

Bestimmung  von  Kohlenstoff  und  Wasserstoff. 
I.  0.444  grms.  Substanz  mit  chromsaurem  Bleioxyd  und  vorgeschla- 
genem metallischen  Kupfer  behandelt  gaben  r 

0.264  grms.  HO  =  0.02933  grms.  H  =  7.4  %  H. 
11.  0.304  grms.  Substanz  ebenso  behandelt  lieferten  : 

0. 450  grms.  CO2  =  0.12273  grms.  C  =  40.40%  C. 
0.207      »     HO   =  0.023  »      H  =  7.5%  H. 

1)   Pbarniac.  CcDtralbiaU  1848.  S.  244. 


Ueber  Legumin.       ^  269 

HL  0.33i5  grms.  Substanz  bei  analog0F Behandlung : 

0.507  grms.  CO2  =  0.13827  grms.  C  =  41.33%  C. 
0.231       »      HO    =  0.02566      »      n=    7.60  7oH. 

IV.  0.310  grms.  Substanz  ergaben: 

0.469  grins.  CO2  =  0.12791  grms.  C  =  41.26%  C. 
0.247      »      HO    =  0.024H       »      H=     7.757o  H. 

V.  0.371  grms.  Substanz  wurden  mitRupferoxyd  und  vorgeschlagenem 
metallischem  Kupfer  verbrannt;  ich  fand: 

0.552  grms.  'COj  =  0.15055  grms.  C  =  40.6  %C. 
0.242      »       HO    =0.02688      »      H=    7.3«/oH. 

Nach  den  Analysen  HI.  und  IV.  ist  demnach  ein  Kohlenstoffgehalt 
von  41.3%  (inzunehmen. 

Die  Verbrennung  V.  mit  Kupferoxyd,  statt  chromsaurem  Bleioxyd, 
also  mit  einem  minder  kräftig  wirkenden  Oxydationsmittel,  wurde  des- 
halb ausgeführt,  weil  ich  bei  Albumin  ^)  die  Erfahrung  gemacht  hatte, 
dass  je  nach  der  Verbrennung  mit  Kupferoxyd  allein,  oder  mit  Kupferoxyd 
und  durchgeleiletem  S;iuerstoff,  oder  endlich  mit  chromsaurem  Bleioxyd, 
der  gefundene  Kohlenstoff  ein  verschiedener  war  und  dass  er  nur  bei 
derVefbrennunp:  mit  chromsaurem  Bleioxyd  vollstHndig  erhalten  wurde, 
dagegen  bei  der  Verbrennung  mit  Kupferoxyd  mit  oder  ohne  Sauerstoff 
ein  verschiedener  und  zwar  ein  constant  verschiedener  war. 

Mit  Kupferoxyd  allein  wurden  1 1  %  Kohlenstoff  weniger  erhalten  • 
beim  Verbrennen  mit  Kupferoxyd  bei  durchgeleitctem  Sauerstoff  unge- 
fähr 6%  weniger. 

Hier  beim  Behandeln  des  Legumins  mit  Kupferoxyd,  wurde  selbst 
ohne  Durchleiten  von  SauerstolT  der  enthaltene  Kohlenstoff  so  gut  wie 
vollständig  zu  CO2  verbrannt. 

Ich  muss  dieses  Verhalten  des  Legumins  dem  Albumin  gegenüber 
als  etwas  für  dasselbe  charakteristisches  betonen,  jedenfalls  scheint  der 
Kohlenstoff  in  ihm  leichter  verbrennlich  zu  sein,  wie  im  Albumin. 

Was  den  Gehalt  an  Wasserstoff  betrifft,  so  ergibt  sich  aus  den 
5  Analysen  ein  mittlerer  Gehalt  von  7.45%. 

Bestimmung  des  relativen  Verhältnisses  zwischen 

Kohlenstoff  und  Stickstoff. 

Die  Bestimmung  wurde  nach  der  bekannten  LiEBiG^schen  Methode 
ausgeführt  und  stelle  ich  kurz  die  Besultate  zusammen,  die  6  nach  ein- 
ander gefüllte  Röhren  ergaben : 


4)  DteAP  Zeitüchrin  Band  III.  2  Hea.  Seite  15«. 


270 


^-^  ^        Dr.  R.  Theile, 

1. 

-X                    NN:   CO2. 
CO2  -h  N  =  27.5C.C.  darin  5.3C.C.  1 :  4.00. 

II. 

»     4-  »  =  28.65  » 

»     4.75   »  1  :   5.03. 

III. 

»     +  »  =  33.10  » 

»     5.5     »  1 :   5.02. 

IV. 

»     -f.  »  =  34.9    » 

»     4.9     »  41,6.12. 

V. 

»     -1-  »  =s  35.0    » 

»     4.5     »1:   6.77. 

VI. 

»-!-»=  34.3     » 

i>     4.2     »1:   7.1. 

Legt   man  bei  obigen  Versuchen  das  letzte  Verhältniss,    als  der 

Wahrscheinlichkeit  am  nächsten  kommend  zu  Grunde,  so  ergibt  sich 

das  Verhältniss : 

N*:  C7-1  s=  14:  42.6. 

Geht  man  von  41.3  %  Kohlenstoff  aus,  so  ergibt  sich  ein  Gehalt  von 
13.570/0  Stickstoff,  was  allerdings  mit  dem  directen  Versuche  überein- 
stimmt. 

Nähme  man  ifach  Liebig  die  Gesammtvolume  in  den  6  Röhren  zur 
Grundlage  der  Berechnung,  so  erhielte  man : 

164.3:  29.15  =  1  :  5.6. 
Fährt  man  dagegen  nach  Rose  so  lange  mit  der  Verbrennung  fort, 
bis  2  Röhren  dasselbe  Verhältniss  ergeben ,  so  wäre  in  unserem  Falle 
schon  nach  der  dritlen  Röhre  der  Versuch  beendet  gewesen,  denn : 

II.  CO2  :  N  =  5.03  :  1 . 
in.  CO2  :  N  =  5.02  :  1 . 
Wie  ich  schon  bei  derÄnalyse  des  Albumins  betont  und  wie  es. von 
andern  namhaften  Chemikern  ausgesprochen  wurde,  sind  die  Resultate 
dieser  relativen  Bestimmung  nicht  immer  brauchbar. 

Die  directe  Untersuchung  des  Legumins  hat  demnach  folgende  Re- 
sultat« ergeben : 

Asche  =  6.71  %. 
Wasser  =  12.73%. 
C  =  41.30%. 
H=  7.45%. 
N  =  13.60%. 
S  =    0.74  Vo- 

Zieht  man  von  dem  Gesammtgehalt  an  Wasserstoff  den  auf  das  bei 
1 40®  ausgetriebene  Wasser  entfallenden  Antheil  ab  (1.41  %)  und  be- 
rechnet auf  Wasser-  und  aschenfreie  Substanz ,  so  ergibt  sich  für  Le- 
i^umin,  bei  140®  getrocknet,  folgende  Zusammensetzung: 

Berechnet : 


C  =  51.30 
H  =  7.51 
N  =  16.88 


6    8.55     147.4     C  148     51.83  7o- 

1     7  51      129.5     H  129       7.53% 

14    1.20       20.6     N     20     16.40%. 


Ueber  legumin .      y  27 1 


.     s     1     0.930/0. 

0  =  23.39:     8    §.94       50.1     0     50     23.350/o. 

Wir  stellen  somit  nach  den  Ergebnissen  der  Analyse  für  Legumin 
die  Formel  C148  Hf29  N20  SO50  -«-  6  HO  auf. 

Abstrahirt  man  von  den  6  Aeq.  Wasser,  so  ist  das  Aequivalent  des 
Legumins  1713. 

Ich  füge  hier  noch  die  Analysen  anderer  Chemiker  kurz  bei,  theils 
um  den  Vergleich  mit  meinen  Resultaten  zu  erleichtern,  theils  um  auch 
im  Folgenden  mich  noch  speciell  darauf  beziehen  zu  können. 


u 

Dumas 
.  Cahocks. 

SCHKBEKR. 

ROCHLBDBB. 

RÜUHO. 

LÖWBMBBBO. 

NOBTOK. 

Theilk. 

Kohlenstoff 

50.53 

53.7 

54.3 

50.68 

53.9 

50.72 

51.:J0 

Wasserstoff 

6.91 

7  2 

7.4 

6.74 

7.2 

6.58 

7.51 

Stickstoff 

18.15 

15.7 

14.6 

16.50 

— 

15.77 

16.88 

Schwefel 

— 

— 

— 

0.48 

0.3 

0.77 

0.92 

Sauerstoff 

— 

— 



— 

23.39 

Phosphor 

« 

V 

— 

— 

2.31 

Diese  sUmmtiichen  Analysen  wurden  ebenfalls  mit  Legumin  aus 
Erbsen  ausgeftlhrt  • 

In  Betreff  des  Schwefelgehaltes  sei  kurz  erwähnt,  dass  Schwarzen- 
BACH^)  denselben  im  Cas^in  stets  halb  so  gross  gefunden  hat  als  im  Al- 
bumin und  dies  Verhalten  als  charakteristisch  hinstellt.  Er  fand  im 
Albumin  stets  zwischen  1.85  bis  2.2%  Schwefel. 

Ich  fand  den  S  -Gehalt  im  Albumin  1 .98%  \  ^i^i*  im  Legumin  0.92, 
also  gerade  die  Hälfte.  Es  scheint  demnacA  das  Legumin  sich  hierin 
dem  Cas^in  analog  zu  verhalten. 

Einwirkung  von  Kali  auf  Legumin. 

Bei  Aufstellung  dieser  Frage  kam  es  mir  darauf  an,  in  Erfahrung 
zu  bringen,  ob  sich  Fflanzenlegumin  dabei  dem  Pflanzenalbumin  analog 
verhalte,  überhaupt  den  Fehler  kennen  zu  lernen,  der  bei  der  Bestim- 
mung des  Ammoniaks  in  Leguminosen  dadurch  entsteht,  dass  Legumin 
durch  die  Einwirkung  des  ätzenden  Alkalis  zersetzt  wird. 

Die  ganze  Anordnung  des  Versuches  war  ähnlich  der  beim  Albumin 
eingehaltenen  und  verweise  ich  auf  das  betreffenden  Orts  mitgetheille  ^j . 

Das  Legumin  wurde  mit  der  zehnfachen  Menge  Aetzkali  und  ver- 


4)  Anoalen  der  Chemie,  Februarheft  4865. 

i)  Stöckhardt,  Zoilschrin  fUr  deutsche  Landwirthe  XXII.  Jahrgang  Seile  SOS. 
Chemisches  Centrnltdntl  1866. 


272  "^        Dr.  R.  Theile, 

dUnnlem  Alkohol  in  einem  GlaHtolben  zusammengebracht  und  durch 
vs  iedei  holteDeslillationen  das  entwickelte  Ammoniak  in  eine  mit  Normal- 
schwefelsaure  versehene  Vorlage  tibergetrieben  und  durch  Titriren  be- 
stimmt. 

I  CG.  neutralisirter  Flüssigkeit  entspricht  Vio-ooo  Aeq. ,  oder 
0.0021256  grms.  Ammoniak,  wenn  0=10. 

Bei  ier  folgenden  Versu^chsreihe  wird  immer  nur  kurz  angegeben 
wie  viel  Cubikcentiriieter  durch  Ammoniak  neutralisirt  waren. 

In  der  Vorlage  waren  bei  sämmtlichen  Versuchen  je  öC.C.Normal- 
sJture,  welche  vor  derTitrirung auf  50 G.G.  verdünnt  wurden.  Es  wurden 
gleichzeitig  2  Versuche  durchgeführt. 

I.  1.505  und  II.  1.468 
grms.  Legumin  wurden  mit  je  15  grms.  Aetzkali  und  80  G.G.  CO  %  Al- 
kohols eine  Stunde  lang  destillirt.  Gleich  Anfangs  schieden  sich  in  dem 
noch  sehr  hochgradigen  Destillate  der  Vorlage  deutlich  sichtbare  Kry- 
stalle  von  H4NO,  SO3  aus,  die  sich  mit  der  Zeit  wieder  lösten.  Nach 
Beendigung  der  Destillation  wurde  der  Destillalionskolben  durch  einen 
Quetschhahn  abgesperrt  und  die  Flüssigkeit  in  der  Vorlage  titrirt.  Hier- 
auf wurde  die  Vorlage  mit  neuer  ^ormalsaure  und  der  Destillations- 
kolben niögliohst  schnell  wieder  mit  Alkohol  vorsehen,  von  Neuem  de- 
stillirt und  titrirt  und  so  in  fortlaufender  Reihe  weiter  verfahren. 

I.  11. 

1)   Neutralisirl  waren: 
1'?.25G.G.  =  0.026038  grms.  H3N         13G.G.  =  0.027638  grm».  H;,N 

1.730%.  1.882%. 

2j  Die  unmittelbar  folgende  Destillation  ergab : 
2.:)G.G.  =  0.005314  grms.  H3N  1  G.G.  =  0.002125  grms.  H3N 

0.352  0/^,.^  0.151%. 

3)  Desgleichen: 

1.5G.G.  =  0.0031876  grms.  H^N  O.öG.G.  =  0.00106  grms.  H^N 

0.2120/0.  0.072  0/0. 

4)  Desgleichen: 

1  G.G.  ==  0.0021256  grms.  H^N  0.25 G.G.  =  0.00053  grms.  H3N 

0.141%.  0.036%. 

Ich  Hess  nun  den  Versuch  vier  Tage  ruhen  ,  wobei ,  wie  auch  bei 
den  folgenden  Versuchen,  die  vorgelegte  Schwefelsaure  von  der  äusseren 
Atmosphäre  abgesperrt  wurde,  um  eine  mögliche  Aufnahme  von  Am- 
moniak aus  dieser  zu  verhindern. 

ö)  Nach  4  Tagen  waren  neutralisirt : 
0.75G.G.  =  0.00159  grms.  II3N  1.2G.G.  =  0.00276  grms.  H^N 

0.1050/0.  0.181  0/^,. 


Oeber  Legnmio.       *'  273 

6)  Nach  weiteren  8  Tagen :  '^ 

0.75C.C.  =  0.00659  gnns.  H3N  1  C.C.  =  0.002425  grms.  H3N 

0.405 7o-  0,454  Vp. 

7)  Nach  weiteren  6  Tagen : 

4. 5 G.G.  =  0.00318  grms.  H3N  OG.G   Kein  Ammoniak. 

0.242%. 

8)  Nach  4  0  Tagen : 

4. 25 G.G.  ^  0.0025  grms.  H3N  4. 5 G.G.  =  0.00348  grms.  H3N 

0.227%.  0.232  0^. 

9)  Nach  6  Tagen : 

OG.G.  Kein  Ammoniak.  4.8G.G.  =  0.00382  grms.  H3N 

0.260  0/0.      . 
4  0)  Nach  7  Tagen : 

OG.G.  Kein  Ammoniak.  OG.G.  Kein  Ammoniak. 

4  4)  Der  Versuch  wurde  7  Wochen  lang  ruhen  gelassen,  die  darauf  fol- 
gende Titrirung  ergab  in  beiden  Fällen  die  Abwesenheit  von  Am- 
moniak. 

Stellt  man  die  erhaltenen  Resultate  zur  besseren  Uebersicht  noch- 
mals  kurz  neben  einander : 

II. 

4.8820/oHjN 


I. 

«) 

1.730' 

VoH^ 

2)  0.358 

» 

» 

3) 

0.212 

» 

» 

4) 

0.141 

» 

0 

5) 

0.105 

» 

n 

«) 

0.105 

0 

» 

7) 

0.212 

» 

» 

^} 

0.227 

» 

0 

9 

— 

9 

» 

10 

» 

» 

11 

— 

» 

9 

3.084  • 

y«i 

HjN 

0.454  » 
0.072  » 

;  hinter  einander 

0.036  » 

» 

) 

0.484  » 

9 

4' 

rage  gestanden 

0.454  » 

» 

2 

»           » 

—      » 

» 

6 

»           » 

0.232  » 

D 

40 

D                   » 

0.260  » 

» 

6 

»                   » 

—      » 

P 

7 

P                   P 

—      » 

P 

7  Wochen    » 

2.965V0H3N 

so  sieht  man  vor  allem,  der  ttber  ein  Vierteljahr  ausgedehnte  Ver- 
such beweist,  dass  auch  bei  Legumin  Ammoniak  keineswegs  in  so 
grosser  Menge  als  Zersetzungsprodnct  auftritt,  als  wohl  bislang  vermuthet 
wurde. 

Die  I  ersten,  schnell  hinter  einander  ausgeführten  Destillationen 
zeigen  die  rasche  Abnahme  von  Ammoniak ;  es  tritt  hier  jedenfalls  als 
directes  Zerseltungsproduct  auf,  während  die  später  entwickellen 
Mengen  wohl  von  der  Einwirkung  des  Kalis  auf  gebildete  Zersetzungs- 
producte  herrtthren. 

Berechnet  man  die  im  Mittel  3  %  betragende  Menge  Ammoniak  auf 
StlcksfofT,  und  zwar  in  hei  4  40<>  getrockneter  und  aschenfreier  Sub- 

BmuIIV.  2.  48 


274  Pr.  B-  Tk^Mf^ 

stanz,  so  ergibt  sich,  dass  durob^li  nur  3.07%  Stickstoff  in  der  Form 
von  Ammoniak  ausgetrieben  worden  sin4;  dieser  Antheii  verbäU  3icb 

zum  Gesammtgehall  wie  5.5  :  4 . 

3  07 
Es  wurden  nur  .-^^^^  =  0.482  des  Gesammtgehaltes ,  ataa  noch 

4  6.88 

nicht  ganz  y^Q  ausgetrieben. 

Hierin  unterscheidet  sich  Legumin  wesentlich  von  ThievaU^funin, 
wo  0.304  also  beinahe  eni  Drittheil  des  Slickgtofis  ausgetrieben  wird. 

MitPflanzeneiweiss  wurden  von  mir  keine  so  anhaltenden  Versuche 
angestellt,  sondern  nur  so  lange  stetig  hinter  einander  destillMTt,  bis 
keine  weitere  Ammoniak-Entwickelung  eintrat,  das  beißfil,  9S.  wurde^ 
nur  das  als  directes  Zersetzungsproduct  auftretende  Ammoniak  bestimm 
und  diese  Versuche  stimmen  allerdings  auch  mit  den  jetzt  vorliegenden. 

Die  vier  ersten  Destillationen  unsers  Versuches  11;  ergaben  S.444  % 
Ammoniak.   Bei  Kartoffeleiweiss  fand  ich  2.022%.  ^ 

Trotzdem  also  Legumin  einen  höheren  Gehalt  an  Stickstoff  besitzt, 
wie  Pflanzeneiweiss ,  wird  doch  nicht  mehr  Ammoniak  direct  ausge- 
trieben, im  Gegentheil  tritt  bei  Pflanzenalbumin  relativ  m^r  StkdLStoff 
in  Form  von  Ammoniak  aus.  ^ 

DasVerhültniss  ist  hier  wie  4  :  5.76,  bei  Legumin  dagegen  nur  wie 
4  :  6.76. 

Es  lässt  sich  somit  kurz  wie  folgt  resttmiren : 

Bei  der  Einwirkung  concentrirter  Kalilauge  auf  Legumin  wird  Stick- 
stoff in  Form  von  Ammoniak  ausgetrieben ;  die  Menge  ist  geringer  als 
bei  dem  stickstoShrmeren  Albumin,  sie  beträgt  noch  nicht  ^^o  ^^  ^^~ 
sammtgehaltes. 

Das  austretende  Ammoniak  ist  einestheils  directes,  andemtheils 
secundäres  Zersetzungsproduct.   Jenes  überwiegt  bedeutend. 

In  Betreff  der  zuerst  als  Zersetzungsproduct  auftretenden  Mengen 
scheint  Uebereinstimmung  mitPflanzenalbumin  w  herrschen,  die  Menge 
ist  bei  beiden  Eiweissarten.  ein^  übereinstijpmeade. 

Sollen  demnach  bei  Leguminosen  Bestimmungen  ihres  Gehaltes  an 
Ammoniak  durch  Austreiben  mit  Kali  yo^enqmmen  werdei^^,  90  mtls^te 
eine  2  %  ihres  Legumingehaltes  entsprechende  Correction  angebrapht 
werden. 

Was  den  bd  der  Beha]l|41^Dg  dos  (.egumin  thii  Kali  im  Entwick- 
lungskolben  zurückgebliebene});  Rückstand  betrifil,  so  war  er  beträcl^t- 
lieber  alsi  bei  Albumii^;  das  I^egumiu  iQ^te  sich,  nur  theilwejb^e  und 
schwierig,  auch  zeigte  die  alkalische  Flüssigkeit  nicht  die.l^9i.4))^i>Wi^ 
so  bald  eintretende  und  eine  Zersetzung  andeutende  ro.lhe  Fäjrbupg. 

Diese  Flüssigkeit,  das  Product  einer  vierteljährlichen  Einwirjliimg 


Dtber  Leimiilii.  275 

von  Kbli'auf  Legumin,  wurde  filtrirt  «nd  der  Rückstand  ausgewaschen) 
er  bestand  grSsstentheils  aus  phosphorsauren  Erden. 

'  Des  geibeFiltrat  wuvii»  verdünnt  und  mit  SO3  das  Kali  nentralisirtv 
Bb  war  dabei  kein  besonderer  Geruch  wahrzunehmen  wie  bei  Albumin. 
Nach  längerem  Süehen  schied  sich  aus  der  stark  verdünnten  Plüssilgkeit 
^11  flockiger  K^er  ab;  er  erwies  sich  als  Rieselsäure,  wahrscheinlich 
von^  einer  Verunreinigung  des  Kali  herrührend. 

Die  von  der  KieselsäiAire  abfiltrirte  Flüssigkeit  wurde  zur  Trockne 
emgedampft  und  die  Masstß  mit  absolutem  Alkohd  extrahirt.  Ich  erhielt 
einen  brafunen)  klebrigen  Körper.  Es  gelang  nicht,  mikroskopisch  eine 
dett4»Rdie  Krystaliisation  eu  erkennen,  nur  einzelne  Nadelchen  zeigten 
Siob^  aber  Aussehen  undGrernch,  sowie  die  durch  Aether  bedingte  weisse 
Fällung  erinnerten  an  den  bei  Albumin  gefundenen  Kdrper. 

Leuoin  und  Tyrosin  Hessen  sich  durchaus  nicht  nadiweisen. 


Vergleichen  wir  nun  die  Resultate  und  Methode  vorliegender  Arbeit 
mit  den  Ergebnissen  der  von  Anderen  ausgeführten  Analysen. 

Wie  schon  bei  der  Darstellung  des  Albumins,  war  auch  hier  die 
leitende  Idee,  die  Anwendung  jeder  höheren  Temperatür ,  jedes  mög- 
licherweise energischer  wirkenden  Fällungs-  oder  Reinigungsmittels 
zu  vermeiden,  ausserdem,  den  Reinigungsprocess  auf  die  kürzeste  Dauer 
zu  beschränken,  da  ja  bekanntlich  Luft  und  Wärme  auf  Eiweisskörper, 
in  flüssigem  oder  feuchtem  Zustande  sehr  schnell  einwirken. 

Die  bekannten  Methoden  laufen  sämmtlich  darauf  hinaus ,  das  Lo- 
gumin  namentlich  von  seinen  anorganischen  Begleitern  zu  befreien ; 
hierbei  liegt  aber  die  Gefahr  nahe,  dass  durch  das  Reinigungsmittel  die 
Substanz  selbst  angegriflibn  wird  und  man  so  hier  wieder  einbüsst,  was 
man  dort  zu  bessern  meint. 

Dumas  und  Caroues  ^)  digeriren  die  gepulverte  Erbsenmasse  2  oder 
3  Stunden  lang  mit  lauwarmem  Wasser,  zerquetschen  dann  im  Mörser 
und  setzen  kaltes  Wasser  zum  Brei.  Nach  stündigem  Stehenlassen  wird 
durch  Leinwand  gepresst  und  zum  FäHen  der  Stärke  stehen  gelassen. 
Aus  der  klaren  Flüssigkeit  wird  mit  verdünnter  Essigsäure  dasLegumin 
gefällt.  Der  flltrirte  Niederschlag  soll  sich  nur  langsam  und  nicht  ohne 
Schwierigkeit  auswaschen  lassen.  Die  weitere  Behandlung  mit  Alkohol 
und  Aether  bleibt  dieselbe. 

Die  so  erzielten  Producte  enthalten  noch  meist  gegen  2%  Asche 
und  kann  es  auch  füglich  nicht,  anders  sein,  denn  die  Löslichkeit  des 


1)  Annales  d.  Ghim.  et  Phys.  [8]  VI.  4t8. 

<8* 


276  ^^'  R*  Theile, 

Legumins  in  geringem  Uebersdmßse  von  Essigsäure,  sowie  die  Unlös— 
lichkeit  der  phosphorsauren  Erden  in  zu  wenig  Essigsaure,  lassen  den 
Process  nicht  in  der  erstrebten  Weise  verlankCen ,  einestheils  wird  der 
Aschengehalt  nur  etwas  herabgedrttckt,  anderntheils  aber  die  Substanz 
der  Einwirkung  einer  Säure  ausgesetzt. 

Bedenkt  man,  dass  sich  Legumin  in  geringem  Ueberschuss  von 
Essigsäure  vollkommen  und  leicht  wieder  löst,  und  ferner ,  dass  durch 
Essigsäure  od^  eine  andere  Säure  gefälltes  Legumin  selbst  nach  fort- 
gesetztem Waschen  mit  Wasser  und  Alkohol  Lackmus  stets  röthet,  wo- 
gegen frisch  bereiteter  wässriger  Auszug  aus  Leguminosen  vollkommen 
indifferent  gegen  Pflanzenfarben  ist,  so  wird  man  darauf  hingeführt, 
dass  die  Niederschläge  des  Legumins  aus  einer  Verbindung  von  Legumin 
und  Säure  bestehen  und  die  Lösung  im  Ueberschuss  der  Säure  einfach 
auf  der  Bildung  eines  an  Säure  reicheren  Salzes  beruhe ,  eine  Ansicht, 
die  schon  Braconnot  ^)  aussprach. 

RocHLBDER^)  geht  iu  seiner  Reinigungsmethode  noch  weiter.  Er 
fand,  dass  nach  obiger  Methode  dargestelltes  Legumin  nicht  rein  sei.  Er 
behandelt  es  daher  nochmals  mit  concentrirter  Kalilauge,  worin  es  sich 
unter  flockiger  Abscheidung  der  fremden  Substanzen  leicht  lösen  soll. 
Er  lässt  zum  klaren  Absetzen  längere  Zeit  stehen,  behandelt  die  abge- 
hobene Flüssigkeit  mit  Essigsäure,  löst  die  Fällung  abermals  in  Ammo- 
niak, um  schliesslich  nochmals  mit  Essigsäure  zu  fällen.  Von  dieser 
Methode  der  Reinigung  kann  nun  aber  freilich  nach  den  vorliegenden 
Untersuchungen  nicht  genug  abgerathen  werden ;  selbst  wenn  die  Dauer 
der  alkalischen  Einwirkung  nur  eine  kurze  ist,  muss  sie  doch  nothwen- 
digerweise  Verluste  an  Stickstoff  bedingen.  Man  vergleiche  die  oben 
mitgetheilte  Analyse  von  Roghlbdbr,  die  als  das  Mittel  seiner  Analysen 
von  auf  diese  Art  gereinigtem  Legumin  angeführt  ist,  mit  meinen  Re- 
sultaten. 

Der  Kohlenstoffgehalt  beträgt  um  3%  mehr,  der  Stickstoffgehalt 
dagegen  volle  2  %  weniger. 

Die  erste  Destillation  des  Legumins  mit  concentiirter  Kalilauge  er- 
gab 1.8%  Ammoniak,  was  auf  aschen-  und  wasserfreie  Substanz  be- 
zogen einen  Verlust  von  1.8%  Stickstoff  ergibt,  also  beinahe  genau 
das,  was  Roghlrder  zu  wenig  gefunden  hat. 

Selbstverständlich  muss  dann  auch  der  Gehalt  an  Kohlenstoff  höher 
ausfarllen. 

LöWBprBBRG  nimmt  an ,  der  kalte  wässrige  Auszug  aus  Erbsen  sei 


4)  Ann.  d.  Chim.  et  Phys.  XXXIV.  68. 
2)  Annalen  der  Chemie  und  Pharm. 


Debtr  Leguilii,  277 

• 
eine  Mischung  von  Albumin  und  Legumin.     Er  behandelt  das  gefällte 

Gemenge  mit  Ammoniak,  dessen  Ueberschuss  er  durch  Verdunsten  aus- 
treibt und  erhitzt  dann  unter  Zusatz  von  Kochsalz  zum  Sieden,  filtrirt, 
tälM  im  Filtrate  durch  Essigsäure,  wäscht  dann  mit  kaltem  Wasser  aus 
und  behandelt  sehliesslich  mit  kochendem  Alkohol  und  mit  Äether. 

Was  vor  allen  Dingen  das  Vorhandensein  eines  Gemenges  von  Al- 
bumin und  Legumin  betrifft,  so  muss  ich  dies  bei  meiner  Untersuchung 
leugnen. 

Einestheils  hätte  ich  im  wässrigen  Auszuge  beim  Erhitzen  irgend 
welche  Abscheidung  erhalten  müssen,  dem  war  nicht  so.  Aber  selbst 
zugegeben,  dass  durch  die  Gegenwart  von  Legumin  vielleicht  Albumin 
an  der  Fällung  verhindert  werde,  so  spricht  doch  eine  andere  Thatsache 
entschieden  dagegen,  nämlich  das  Verhalten  der  Asche. 

Die  Asche  von  Albumin  enthält  bedeutende  Mengen  von  SO3 ;  ich 
fand  stete  zwischen  9  und  IS  Vo* 

In  der  Asche  des  nach  meiner  Methode  dargestellten  Legumins, 
war  es  mir  nie  möglich  ai^h  nur  eine  Spur  von  Schwefelsäure  zu  ent- 
decken. 

Ich  habe  mir  zur  genauem  Untersuchung  der  Asche  des  Legumins 
gegen  i  grms.  Asche  dargestellt;  SO3  war  jedoch  nicht  vorhanden. 

Ich  bediente  mich  stets  ganz  reifer  Erbsen.  Vielleicht  hat  Löwbn- 
BBtG  mit  jungen  Erbsen  operirt,  wo  ein  Gehalt  an  Albumin  eher  denkbar. 

Es  scheint  mir  demnach  die  LöWBNBstG^sche  Annahme  an  und  für 
sich  nicht  stichhaltig. 

Aber  geradezu  schädlich  für  das  Legumin  muss  die  Methode  der 
Trennung  erscheinen. 

LöwKNBBRG  wendet  dazu  Ammoniak  an,  dessen  Ueberschuss  er 
durch  Verdunsten  austreibt,  er  bringt  somit  das  Legumin  längere  Zeit 
mit  einer  stark  alkalischen  Flüssigkeit  zusammen. 

Nach  den  Erfahrungen  mit  Kali  ist  es  jedenfalls  nicht  ungereimt, 
auch  dem  Ammoniak  eine  ähnliche  Einwirkung  zuzuschreiben.  Wohl 
mag  es  paradox  klingen,  dass  Ammoniak  durch  Ammoniak  ausgetrieben 
werde,  aber  die  Sache  steht  einfach  so,  dass  hier  eine  Flüssigkeit  von 
stark  alkalischem  Charakter  auf  eine  leicht  zersetzbare  Substanz  ein-^ 
wirkt.  Auch  bei  der  Einwirkung  von  Kali  wissen  wir  ja  nicht,  ob  nur 
Ammoniak  als  kohlensaures  Ammoniak  austritt,  sondern  dasAmnioniak 
ist  uns  als  der  einzig  fassbare  und  leicht  bestimmbare  Körper  ein  Maass- 
stab dafür,  dass  Kali  überhaupt  zersetzend  eingewirkt  hat.  Leider 
liegen  von  Löwbubbbo  keine  StickstofFbestimmungen  vor. 

LöWBNfeBRG  gibt  selbst  an,  das  nach  seiner  Methode  gereinigte  Le- 
gumin gebe,  mit  Wasser  gekocht,  einen  kohlenstoffreicheron  in  Wasser 


278  ^-'^  Theite, 

tosli<^en  und  einen  kohlenstofförmeren,  in  Wasser  unlöslichen  iM^r. 
LoiTBNBBRG  beweist  somit  selbst,  dass  sein  gepeinigtes i^dguminkeia 
Legumin,  sondern  ein  Gemenge  ist. 

Diese  3  Methoden  sind  es ,  welehe  bislang  in  Uebung  Maaren  und 
die  alle  3  nicht  geeignet  erschienen,  wirUidi  su  erzielidn ,  was  «ie  be- 
zwedLen,  das  heisst,  dasLegumin  frei  von  anorganischen  BesCandtfaeilen 
und  anderen  vermutheten  Begleitern,  aber  auch  zugleich  in  üozerssiiter 
Form  zu  erhalten. 

Bei  diesen  sämmtlicben  Methoden,  und  ähnliches  gilt  auch  von  Al- 
bumin und  den  meisten  ttbrigen  Eiweissk^rpem,  ist  das  Hauptaugen- 
merk darauf  gerichtet,  die  unorganischen  BestandUiefle  fortzuschaflfoii, 
wobei  die  Substanz  selber  s<^hädlichen  Einflttssen  ausgeselzt  wird. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  steten  anorganischen  Begleiter  wirklich 
nur  so  schlechthin  als  Verunreinigung  anzusehen ,  oder  ob  sieniobt  or- 
ganisch mit  einander  verbunden  sind,  so,  dass  die'Lostrennuiig  dieser  S»- 
standtheile  auöhden  Zusammenhang  des  Bestes  weläentlich  aHerirt. 

]>er  Mangel  an  genaueren  und  oft  zu  wi^erholenden  Analysen  der 
Aschen  von  Eiweisskörpern  ist,  wie  ich  glaube,  eine  vor  Allem  ausfeu* 
fÜHende  Lücke. 

Wenn  ich  bei  meinen,  ohne  Anwendung  von  Stfure,  Alkalien  oder 
höherer  Temperatur  dargestellten  Eiweisskörpern,  fortwährend  constante 
Gehalte  an  Asche  erhalte,  z.  B.  bei  Kartoffdeiweiss  in  3  Versuchen 
6. 64  %,  6. 63  %  und  6. 58  %  Asche  bekomme,  bei  Albumin  S.3  %,  S.2  % 
und  2.2%)  bei  Legumin  endlich  6.62%  und  6.780/a,  so  ist  dies  wohl 
kaum  ein  Zeichen  blosser  Verunreinigung. 

Ich  habe  mich  der  oben  angedeuteten  Aufgabe  uhierzogen  und 
werde  die  ertEielten  Resultate  seiner  Zeit  mitlheilen. 

Schon  derUmständ,  dass  dieAschö  stets  einen  bedeutenden  Gehah 
von  phosphorsauren  Erden  aufweist,  spricht  dafdr,  dass  diese  in  einem 
innigeren  Zusammenhang  mit  der  organischen  Substanz  stehen  mttssen, 
sonst  könntön  sie  nicht  ihre  ünlöslichkeit  in  Wasser  so  vollständig  ein- 
büssen.  ^ 

Nach  wochenlanger  Behandlung  des  Albumins  mit  Kalilauge  ^- 
hielt  ich  aus  der  FHlssigkeit  nach  dem  Neutrelisiren  mit  SO3  und  Ver- 
dünnen init  Wasser  einen  flockigen ,  eiweissartigen  Körper  mit  gegen 
i  %  Asohe,  die  fast  ausschliesslich  aus  phosphorsauren  Erden  bestand. 
Es  spricht  dies  entschieden  dafür,  dass  die  phosphorsaurm  Erden  der 
ursprünglichen  Substanz  sehY  fest  mil  ihr  verbunden  waren,  so  dass 
sie  selbst  bei  deren  vollständiger  Zersetzung  nicht  als  sc^be  heraus- 
fielen, sondern  mit  dem  zersetzten  Eiweisskörper  vereinigt  blid>eh. 


Üeber  Legoinin.  279 

So  viel  zur  Rechtfei^tigung  der  yth  mir  befolgten  iteUlode  znr  Dar- 
stellung von  Legumin. 

Scliliesslich  mnss'ifeli  noch  eine  andere  I^rage  betuhren,  zu  deren 
Beantwortung  vorliegende  Untersuchungen  M^rial  liefern.  Es  handelt 
sich  nämlich  um  äen  Zusammenhang  zwischen  Albumin  und  Legumin. 

Fttr  Albumin  wurde  von  mir  die  Formel  CJ48H124N17  8204^  -^  4  HO 
aufgestellt,  fllr  Legumin  ergibt  sich:  'C148H129N20SO50  -f-  6H0.  Die 
Annahme  der  Physiologen ,  dass  das  Legumin  sich  alhndhMch  aus  dem 
Albumin  bilde,  lässt  Sich  leicht  aus  diesen  Formeln  entwickeln.  Ver- 
gleicht man  dieselben ,  so  sieht  man ,  dass  der  Uebergang  nur  durch 
Aufnahme  von  Stickstoff,  Sauerstoff  und  Wasserstoff,  so\tie  durch  Ab^ 
gäbe  von  Schwefel  mo^ch  ist. 

Stickstoff  und  Sauerstoff  sind  wahrscheinlich  in  der  Form  Voft  Am- 
moniak und  Wasser  aufgenommen  worden ;  zugleich  gewinnen  die  vier 
AequiValente  chemisch  gebundenes  Wasser  des  Albumins  ihre  Bedeu- 
tung, sie  treten  in  innigere  Verbindung  mit  der  Substanz  und  werden 
ferner  3  Aequivalente  Ammoniak  gebunden. 

Albumin  G^g  Ht24  N17  S2  O^ß 
4-  4H0          H4  O4 

+  3  Ammoniak          Hg     N3 
—  Schwefel — S 

geben:    C^g  H137  N20  S  O50 

Man  sieht,  die  Formel  fttr  Albumin  geht  in  die  des  Legumin  über ; 
die  Differenz  im  Wasserstoff  liegt  innerhalb  der  Grenze  der  Versuchs- 
fehler. 

Cl48  H129  N20  SO50  s=  7.63^011. 

Cu8  H137  N20  SO50  =  7.95  0/0 H. 

Nimmt  das  Albumin  nach  unserer  Annahme  wirklich  3  Aequi  val.  Am- 
moniak auf,  um  in  Legumin  überzugehen,  so  werden  sich  diese  3  Aeq. 
H3N  bei  der  Einwirkung  von  Kali  auf  Legumin  vielleicht  auch  leichter 
wieder  lostrennen  lassen. 

Die  Einwirkung  des  Kali  auf  Legumin  liegt  vor  und  lassen  sich  da- 
bei zwei  Momente  des  Processes  unterscheiden,  das  erste  Moment,  wo  Am- 
moniak als  directes  Zersetzungsproduct  auftritt  und  das  später  folgende, 
wahrscheinlich  mit  weiteren  Zersetzungen  verbundene. 

Wirft  man  einen  Blick  auf  die  oben  übersichtlich  zusammengestellten 

Resultate  der  Einwirkung  von  Kali,  so  sind  es  die  vier  ersten  Versuche, 

die  dem  ersten  Momente  entsprechen ;  es  ergaben  sich  darnach 

L  II. 

8.43670H3N.  2.U<7oH3N. 


280  Dr.  R.  Theile,  Ueber  LegmniD. 

auf  aschen-  und  wasserfreie  Substanz  beredinei  gibt  dies  3.02%  und 
2.65%,  also  im  Mittel  2.83 7o  Ammoniak. 

Berechnet  man  aus  der  Formel  0^4^  Ht^^  Ntö-SO^  den  Procentgehalt 
von  3  Aequiv.  Ammoniak,  so  entspricht  dieser  2.96%. 

Wie  man  sieht,  spricht  der  directe  Versuch  in  dieser  Richtung 
genau  für  meine  Annahme. 

Gestutzt  auf  das  vorliegend  Mitgetheilte  glaube  ich  mich  berechtigt 
die  Bildungsweise  des  Legumin  aus  Albumin  dahin  zu  erklären,  sie 
erfeige  unter  Abgabe  eines  Aequivalentes  Schwefel  und 
unter  Aufnahme  von  4  Aeq.  Wasser,  welch*  letztere  als 
Begleiter  des  Albumins  von  mir  schon  erwiesen  wurden, 
sowie  unter  weiterer  Bindung  von  3  Aequivalenten  Am- 
moniak. 


r 


Vdbcr  eiiei  mmi,  iitm  Tyrwii  hi4  leacn  ähaliclira  Körper. 

Von 

Dr.  HI  Theile, 

AMiiUni  wm.  Uadwirtk8ch«ftli6li«B  Inttitiit  sv  J«m. 


Mit  t  Figaren  in  Holuohnitt. 

Vor  geraumer  Zeit  theilte  ich  in  dieser  Zeitschrift  ^)  die  Resultate 
von  Arbeiten  mit,  welche  bezweckten,  die  Zersetzungsproducte  des  Ei- 
weisses  durch  einen  Ueberschuss  von  Kali  genauer  zu  studiren. 

Wie  betreffenden  Orts  genauer  einzusehen,  fand  ich  damals  ausser 
einigen  nicht  weiter  untersuchten  flüchtigen  Körpern  als  Hauptrepräsen* 
tanten  der  Zersetzung  zwei  syrupartige ,  schwerkrystallisirbare  braun- 
rothe  Körper,  einen  eiweissartigen,  noch  schwefelhaltigen  unkrystallisir- 
baren  elastischen  Ktfrper,  sowie  Leucin  und  Tyrosin. 

Auch  weiterhin  beschäftigte  ich  mich  mit  der  Lösung  dieser  Frage 
lind  da  hierbei  absichtlich  kleine  Modificationen  des  ursprunglichen 
Verfahrens  stattfanden,  gelangte  ich  zu  Resultaten,  welche,  wenn  auch 
im  Ganzen  von  den  ursprünglich  erzielten  nicht  abweichend,  doch 
manches  Neue  boten. 

Vorläufig  eine  dieser  neuen  Thatsachen  mitzutheilen  ist  der  Zweck  ^ 
vorliegender  Arbeit. 

Bei  meinen  ersten  Untersuchungen  wurde  Vitellin  mit  der  doppel- 
ten Menge  Kali  vier  Wochen  lang  unter  öfterem  Umschütteln  in  Berüh- 
rung gelassen  und  hierauf  die  braunrothe  klare  Flüssigkeit  filtrirt. 

Es  bleiben  nur  geringe  Mengen  ungelöster  Substanz  zurück,  die 
sich  grösstentheils  als  phosphorsaure  Erden  erweisen. 

Bei  zwei  so  ausgeführten  Versuchen  wurden  je  40  grms.  Vitellin 
mit  80  grms.  Aetzkali  behandelt. 


4)  Band  HI.  Seite  46«. 


282  Dr.  R.  Thelle, 

Ein  dritter,  zu  demselben  Zwtcke  wiederholter  Versuch  wurde  mit 
454  grms.  Vitellin  und  400  grms.  Aetzkali  ausgeführt. 

War  daher  das  Verhältniss  des  Viteliins  zu  Kali  früher  wie  2  zu  4 , 
so  war  es  nun  wie  3  zu  2 ;  die  Substanz  wurde  demnach  einer  3mal 
schwächeren  Einwirkung  ausgesetzt,  auch  wurde  der  Versuch  nicht 
auf  4  Wochen  ausgedehnt,  sondern  schon  nach  4  4  Tagen  zur  Unter- 
suchung geschritten. 

Beioi  Abfiltrir^n  dbar  aU^aUscheaLQsunB  war.  diesmal  der  BttdiakNid 
weit  beträchtlicher;  er  bestand  wiederum  zumTheil  aus  phosphorsauren 
Erden ,  femer  aber  aus  einem  blendend  weissen,  schon  auf  dem  Filter 
fUr  das  blosse  Auge  sich  als  krystallinisch  erweisenden  Körper. 

Meine  erste,  naheliegeniteVehnuflluil^  war,  dass  hier  wahrschein- 
lich Leucin  oder  Tyrosin  vorläge. 

Die  Masse  wurde  mit  absolutem  Alkohol  unter  Erwärmen  behandelt, 
wobei  der  fragliche  Körper  leicht  in  Lösung  überging,  beim  Erkalten 
aber  theilweise  wieder  heraiusflel. 

Unter  dem  Mikroskop  zeigte  der  Körper  eine  vollkommen  wasser- 
hclle,  überaus  schöne,  aus  sichelförmigen  Nadeln  arabeskenartjg  zu- 
saibmengcsetzte  Krystallisation. 

Durch  abermaliges  Umkrystallisiren  des  Körpers  aus  heissem  AUcohoi 
einhielt  ich  eine  zur  weiteren  Untersuchung  dienende,  blendend  weisse, 
im  Acusscren  von  Tyrosin  und  Leucin  nicht  zu  unterscheidende  Masse, 

Die  damit  angestellte  nähere  Untersuchung  lieferte  folgende  Re- 
sultate: 

Auf  Platinblech  vorsichtig  erhitzt,  scbmolz  der  Körper  zu  einer 
rothbraunen  Flüssigkeit  und  verbrannte  mit  dem  den  stidustoffbaltig^n 
Körpern  eigenthümlichon  Geruch  ohne  Hinterlassung  eines  ftUckatande»; 

1}  0.0850  grms.  Suhltanz  mit  Natronkalk,  verbrannt  gaben: 

0.00747  grms.  N  =  8.44%. 

8)  OifSI  gnaos.  Subdtailz  gaben  bei  analoger  Behandlung 

0.0098  grms.  N  =  8.18%. 

3)  0.1 835  grms.  Substanz  mit  Kupferoxyd  und  vorgelegtem  metallischen 
Kupfer  verbrannt  gaben : 

0.4«7  grms.  CO2  =  0.0540  grms.  C  =  36.82  o/oC 
0.485      »      HO    =n  0.0f388    »     H  =  lO.OJo/^ii. 

4)  0.446  grms.  Substanz  ebenso  behandelt: 

0.499  grms.  COj  =»  0.05427  grms.  C  =s  37.47 o/qC. 
Daraus  berechnet  sich  die  Formel 

Cjo  H16  NO9. 


Ueber  eiiMD  oeaen,  den  Tyrosio  and  Leuciu  ihnUehen  Körper.  283 

Berechnel :  QefundeM : 

< 0  Aeq,  Kohlenstoff    60       37.03%.  36.82%.     37.47. 

16    D      Wasserstilff  f6        ^.87  »  10.0SI  »  -- 

h     «      Stickstoff      U         8.65  »  8.14  «         8.4t. 

9    »      Sauerstoff    78      44.45  » — ^ 

4  Aeq^  462     400.00%. 

Schon  vor  der  genaueren  Untersnohnng  ^ambte  ich ,  der  K6rper 
sei  vielleicht  Batalanin,  ein  dem  Leuoin  homologer  und  von  Oorup- 
BsBANBZ ')  in  der  Bauchspeicheldrttse  des  Ochsen  gefundener  und  von 
ihm  näher  untersuchter  Stoff.  Ich  gelangte  jedoch  .duroh  nXberes  Stu- 
dium zu  der  Ueberzeugung,  dass  hier  kein  Butalanin  vorliege. 

Goftup-BESANBZ  gibt  dem  Butalanin  die  Formel  C^q  Hu  NO4. 

Schreibt  man  die  Formel  des  von  mir  untersuchten  Körpers 
C|oHi|N04-f-5HO,  so  war  es  denkbar,  dass  mit  Wasser  inniger  verl^un- 
denes  Butalanin  vorläge,  weshalb  der  Best  meiner  Substanz  wieder  anhal- 
tend bei  1 20  ^  G.  getrocknet  und  nochmals  der  Analyse  unterworfen  wurde. 

0.495  grms.  Substanz  gaben  mit  Natronkalk  geglüht: 

0.01794  grms.  N  «  9.27o. 

0.1205  grms.  Substanz  mit  Kupferpxyd  und  metallischem  Kupfer 
verbrannt  gaben : 

0.477  grms.  CO]  9  0.04827  grms.  G  «  40.05%. 
0.H1      »      HO   «0.01233      »      H  =  40.23%. 

Berechnet :  Gefunden : 

Gio     39.2  40.05. 

Bi5      9.8  10.23. 

N        J».15  9.20. 

Die  Zahl  des  Kohlensloflfes  ist  zu  hoch ,  jedoch  sieht  man,  dass  nur 
4  AequivalentWasser^dweh  das  Trocknen  bei  4  20  <>  ausgetrieben  worden 
war,  weshalb  die  Formel  Ciq  H15  NOg  -1-  HO  gegeben  werden  muss. 

In  kaltem  Wasser  tost  aich  der  Kdrper  nur  schwierig ,  leichter  in 
heissem,  aus  den  er  beim  Erkalten  theilweise  wieder  herausfallt. 

Leuoin  lOst  sieh  leicht  in  Wasser,  Butalanin  und  Tyrosin  schwierig. 

fan  absolttten  Alkohol  ist  der  Kdrper  leicht  Itfslieb,  noch  leichter, 
wenn  dabei  Erwärmung  stattfindet. 

Leucin  ist  in  kochendem  Alkohol  schwer  iösUoh,  Butalanin  nodi 
schwieriger,  Tyrosin  milOslich. 

In  Aether  Mst  sich  der  Kilrper  vollsUlndig ,  nameotlich  befan  Er-- 
wärmen. 


4)  Annalen  d.  Ghem.  BAnd  98.  Seile  f6. 


284  ^''  R-  1'b>l1e, 

Leucin  und  Tyrosin  sind  in  Aether  vollkommen  unlöslich ,  ebenso 
Butalanin. 

Charakteristisch  ist  vor  Allem  die  RryslaUisalion. 

Fig.  I.  zeigt  den  aus  wSssriger  Lösung  krystallisirtcn  KOrper.  Die 
Krystallisation  bildet  ein  zusammenhängendes  Netz  von  wasserklaren, 
arabeskenartigen  Verschlingungen. 

Fig.  11.  gibt  einen  Theil  dieser  Krystallisation  etwas  vergrösserl. 

Die  Krystallisation  aus  ätherischer  Lösung  ist  zarter  und  feiner, 
sie  besteht  aus  einem  regellos  ausgebreiteten  Netze  mondsicheirörmig 
gekrümmter  Nädelcfaen,  die  oft  farrenkmutartig  zusammengefügt  sind, 
doch  auch  der  Typus  von  Fig.  II.  ist  vorhanden. 


Hf-I.  Fic.O. 

Fig.  ül.  zeigt  eine  Krystaliisationsfonn, 
wie  sie  öfters  aus  alkoholischer  Läsung 
erhalten  wurde.  Sie  trfigt  genau  das 
Gepräge  eines  maschenförmigea  Gebildes. 
Die  voi^efuhrlen  KrystaUisatioDen  er- 
hielt idi  jedesmal  ohne  Hübe  schön  und 
klar,  nur  muES  mit  verdünnten  Lösungen 
operirtwerden.  Sie  weichen  vollkommen 
nt.m  von  denen  des  Leucin  und  Tyrosin  ab, 

niemals  zeigte  sich  auch  nur  eine  Spur  jener   meist  kugeligen  oder 
bUschelfttrmigen  G^ilde. 

Von  Butalanin  liegt  keine  Abbildung  vor.  GoRUP-BxsAnz  schildert 
die  aus  kochendem  Alkohol  erzielte  Krystallisation  als  aus  breiten  rhom- 
bischen Tafeln  und  Prismen  bcslehend,  meist  slernfürmig  gruppirt. 

Die  wässrige  Lösung  kryslallisirt  in  farrnkrautähnlichen,  zuweilen 
auch  in  garbenfUrmig  gruppirten  feinen  Nadeln. 


gl^nlii 


Oeber  eineD  neuen,  dem  Tyiosin  nnd  LeucirUmlichen  Körper.  285 

LeacinundTyrosiDstimmeiidari|HiAdein  neuen  Körper ttberein^dass 
sich  alle  3  bei  geringer  Menge  durch  ausserordentliches  Volum  auszeichnen. 
Man  hat  dies  bei  derQantellung  mikroskopischer  Objecte  zu  beherzigen. 

Beim  vorsichtiifen  Erwärmen  sdimilzt  der  Körper  erst  zu  einer 
rotbbraunen  Flüssigkeit  und  sublimirt  dann  in  weissen  Flocken.  Der 
Versuch  wurde  in  einer,  beiderseits  offenen  Röhre  angestellt.  Erst  bei 
einer  Temperatur  von  490<^G.  fing  die  rothbraune  Flüssigkeit  an,  Nebel 
zu  bilden,  dichte  weisse  Nebel  lagerten  sich  unmittelbar  neben  der  er- 
wärmten Stelle  ab  und  konnten  bei  vorsichtigem  Erwärmen  der  ganzen 
Röhre  entlang  getrieben  werden.  Diese  Dämpfe  reagirten  nicht  alkalisch. 

Bei  Leucin  tritt  kein  Schmelzen  ein,  sondern  schon  bei  470^  eine 
directe  Sublimation.  Tyrosin  schmilzt,  ohne  zu  sublimiren,  Butalanin 
schmilzt  und  sublimirt  hierauf  in  gelben  Flocken,  wobei  deutlich  alka-* 
lisehe  Readion  auftritt. 

Verdampft  man  den  Körper  auf  dem  Platinblech  vorsichtig  mit  einem 
Tropfen  Salpetersäure,  so  wird  die  Masse  intensiv  citrongelb. 

Leucin  bleibt  dabei  ungefärii>t,  Tyrosin  dagegen  gibt  ebenfalls  eine 
gelbe  Verbindung. 

Bei  nachheriger  Behandlung  der  gelben  Verbindung  mit  einen 
Tropfen  Natronlauge  tritt  eine  intensiv  braunrothe  Färbung  ein,  gerade 
wie  bei  Tyrosin. 

Mit  einer  wässrigen  Lösung  des  Körpers  wurden  folgende  Reactionen 
angestellt : 

Ammoniak  bewirkte  keine  FäUang,  die  damit  versetzte  Flüssig- 
keit zeigte  die  Krystalllsation  des  ursprünglichen  Körpers. 

Natron  bewiriite  keine  Fällung,  doch  zeigte  sich  unter  dem  Mikro- 
skope eine  von  der  des  reinen  Körpers  abweichende  KrystaUisalion.  Zur 
Gontrole  liess  ich  das  angewandte  Natron,  sowie  kohlensaures  Natron 
fUr  sich  krystallisiren  und  überzeugte  mich,  dass  die  KrystaUisalion 
durch  diese  allein  nicht  bedingt  sein  konnte.  Es  dürfte  demnach  eine 
Natron  Verbindung  vorgelegen  haben. 

Die  Verbindung  war  in  Wasser  sehr  leicht  löslich,  was  der  Körper 
an  und  für  sich  bekanntlich  nicht  ist. 

Barythydrat  bewirkte  keine  Fällung. 

Die  mit  Salzsäure  versetzte  wässrige  Lösung  krystallisirte  in 
schönen  verfilzten  Nadeln,  nach  längerem  Auswaschen  mit  Aether,  um 
alle  überschüssige  Salzsäure  zu  entfernen,  trat  bei  Zugabe  von  salpeter- 
sau^m  Silberoxyd  eine  deutliche  Reaction  auf  Chlor  ein,  so  dass  jeden«- 
falls  eine  Verbindung  des  Körpers  mit  Ghlorwasserstoffsäure  vorlag. 

Dieselbe  Verbindung  existirt  bekanntlich  auch  von  Leucin.  Ein 
Theil  der  wässrigen  Lösung  wurde  mit  Salpetersäure  im  Wasserbade 


286 


Dr«  R.  Tbaile, 


verdaffüpft.  DieiKryslattMation  eWiides  sieh  iheiiweisei  ateiiÜB  de»  riinen 
Körpers,  theilweiee  traten  gerade  Nadel«  auf,  es  zeigleB  siah  aber  attoh 
an  vielen  Stelten  citiretiengeiw  Partieen,  die  'anuk  keuleiittraiig  rasa»- 
mengesetzten  Masaen*  kleiner  geraden  Nädelehen  beatandea. 

Dieser  gelbe  KOrper  dttrfte  wohl  a«f  eine  denv  NitrotypssiD  enW 
spreehende  Verbiadsng  hitiweiseov 

P  le  t  i  n  c  hl  o  ri  d  bewirkte  auch  nach  längerem  Sieben  keine  Flllung. 

Ess>igsaures  Kupferosyd  bedingte  weder  eine  Fällung  nocsh 
eine  Färbung;  unter  dem  Hiknaskope  Hessen  sich  die  Krystalle  des  ur- 
sprOngllohen  reinen  Körpers  und  die  des  essigsauren  Kupfsrozydes 
genau  erkennen  und  trennen. 

Quecksilberehloriid  gabaMeh-  nacü  Zugabe  von  Aether  keine 
Fällung.   Leucm  Terbält  sieb  ebenso. 

Salpetersaures  Quecksilberoxyd  bewirkte  eine  starke, 
weisse,  floebige  FäHung,  diellberstebende  Plttssigkeie  aeigie  eine  deut- 
liche rosenvelbe  Färbungi 

Lewin  wird  daduroh  weder  geftii4)t  nocb  geAlllt. 

Bei  Tyrosin  tritt  eine  rothe  Fällung  ein  und  auch  die  Überstehende 
PttlBsigkeit  aeigt  eine  intensive  Päibungi 

Pfaospher^Bfolybdänsänre,  lodkalinm,  salpetersaures  QuecksiH>er- 
oxydul  sowie  schwefelsaures  Zinkoxyd  bewirkten  weder  in  der  Kälte 
noch  in  d^r  ¥iliäfrme  eine  Fällung. 

Soweit  in  Kürze,  was  ich  von  dem  neuen  Körper  ermittelt  habe. 

Im>  Folgenden*  stelle*  ich  die  haaptaäeblkhsten  Reaotionen  und 
Eigenschaften  pavallel  mitLeuoin;,  Tyroein  und'Butalanin  zusammen^ 
es  wird  daduroh  da»  Verschiedene'  und  Gemeinsame  dieser  4  Körper  am 
besten*  und:  deut{ichslen>  charahterisirt. 

Bei  Bntalanin  konnte  sellMitverständUeh  nor  das  bis  jetsl  Ober  das- 
sdbe  Bekannte  mit  auf|genommen  werden. 


.  Löslichkeit  in  Wasser 


Lettcin 
Leicht  löslich 


TjroBin 
Schwer  löslich 


B»t«lmsiD 
Schwer  löslich 


Schwer  löslioli 


Lösllchkeii  in  Alkohol 
»         »  Aether 


Schwer  löslich 
Unlöslich 


Unlöslich 


Sehr  schwer 

löslich 

Unlöiliah 


Leicht  löslich 


V^Jialteo  bei .  höhpf er, 
Temperatur 


Auf  I^^tinblech 

mit  Ssipeiersaure 

behandelt : 


Bei  4700  sobli- 

mirbar  oloie  zo 

schmelzen 


Nach  Zugabe  von 
Natron 


farbioseillasaa 


**«iMaü«B<a«B^M 


Schmilzt  oboe 
zu  sublimiren 


Schmtbct  und 
sablimirt'  dann 
io'gelb.  Flocken 


Gelbe  Ifaasa. 


Braunrothe 

flBB88e 


Unter  4  900 

schmelzbar, 

bei  4eo  0  in 

weissenFlocken 

sublim  irbar 


Gelbe  Masse 


■*«4> 


Bleibt  ferblos 


Braunrothe 
Masse 


Salpetersaures 

Quecksilberoxyd 

bewirkt : 


Keine  Fällung, 

Flüssigkeit 
Bleibt  ungefärbt 


RoMn  nockig» 

FttUung 

Flüssigkeit 

stark  rosa 

gefärbt 


Weisse  flockige 

Fällung, 
Schwach  rosa 

gefärbte 
Flüssigkeit. 


»iirahnlieli 


Geber  einen  nenen,  dem  Tyroein  und  Leneiii^hnliehen  Körper.  287 

Bopp  *)  erwähnt  in  seinen  Untenrffäungen  »lieber  Albumin,  GaseYn 
und  Fibrinc,  dass  er  beim  Schnrthen  des  Albumin  mit  Aetzkali  neben 
Leucin  und  Tyrosin  naelr  mnen  dritten  Körper  in  sehr  geringen  Mengen 
gefunden  habe,  der  fan  äussern  Ansehen  dem  Tyrosin,  in  einigen  Eigen- 
schaften dem  Letfcin  gleiche.  Die  erhaltene  Menge  war  so  gering,  dass 
es  bloss  möglich  war  zum  Zweck  seiner  Wiederauffindung  seine  äusseren 
Eigenschaften  kennen  zu  lernen. 
•     Bwr^oharakUiririM  dieilea  Stfrper  kurz  wief  folgt  r 

h)  Sublimirbar  und  hierbei  baumwollenartige  Flocken  bildend  ohne 
Hinterlassung  eines  Rückstandes. 

2)  Schwer  löslich  in  Wasser« 

3)  Leichtlöslich  in  absolutem  Alkohol. 

4)  Nadeln,  die  keinen  besonderen  Glanz  haben  und  sich  beim  Aus- 
kl^t^lUsiraD  ans  absolutem  Alkohol  gerade  so  durch  das  ausser- 
ocdenldiche  Volum  bei  geringer  Menge  auszeiobnen,  wie  dasTy«^ 
roßip  beim  Auskrystallisiren  aua  Wasser, 

\^  £ jgßuscbaflen  stimmen  soweit  mit  denjenigen  unsers  Körpers 

ttborei». 

I0. eitlem  Harne,,  der  aus  dem  hiesigen  Krankenbause  zur  Unter- 
suduii^  imfLeueiii  und  Tyrosin  emgesohickt  worden  war,  fand  ich  den 
einea  l^ag  Lewin ,  die  beiden  folgenden  Tage  aber  zeigte  sich  weder 
leucin  Mch  Tyrosin,  .wohl  aber  ganz  deutlich  die  Krystallisation  des 
fragUeh^n  Körpers. 

Dtor  Kranke  litt  an  einer  aHmäyicfaen  Zersetzung  der  Muskeln.  Es 
soheinialso  dieser  Körper  auch  wie  Lenciii^  Tyrosin  und  Botalanin  im 
Udniaufzutceten. 

FuiaiGiis  und  Stäsuba^)  haben  einmal  im  Harne  neben  dem  Tyro- 
sinieieon  dem  letzteren  adw  ähnlichen  und  wie  si^  aus  einer  Stiokstofl^ 
bettimmungisobliessen,  ihm  wahrsoheinlioh  homolegen  Körper  gefunden; 
der  Stiokslo^gehalt  betrug  nach  ihren  Angaben  8.83%.  Die  hier  ge- 
fundene Formel  GioHisNO^  4-  HO  entspricht  einemOehah  von  8.64% 
Stickstoff. 

Fhbughs  und  StXdblhi  theilen  nichts  Näheres  Über  ihre  Nachweis 
sung  mit)  die  Vermuthiuig  liegt  aber  nahe^  dasf  der  gleiche  Körper  vor- 
gelegen habe. 


4)  Agnaten  der  Gh.  u.  Pb.  LXtX.  S.  18  o.  lt. 

ft)  FiOiurHs,  Deat8oheKlJoUL4865.  Nr.  81.  p.  848. 


"  y 


llBtersnchmg  Aber  suerstoffreiclie  K^hfeistoffsävMk 

Von 

A.  Oeuther. 


Schon  seit  längerer  Zeit  habe  ich  die  Einwirkung  der  SaksSure  in 
höherer  Temperatur  auf  verschiedene  Kohlenstoffsäuren,  namentlich 
solche,  in  denen  sich  eine  grössere  ^nzahl  von  €0^  Gruppen  vermuthen 
lässt,  Studiren  lassen  in  der  Erwartung ,  es  würde  dadurch  ein  Theil 
dieser  Gruppen  einfach  abgetrennt,  ein  anderer  unter  gleichzeitiger 
Wassensersetzung  und  Bildung  eines  Reductionsprodactes  als  Kohlen- 
säure entfernt  und  so  neue  Anhaltspuncte  für  die  Constitution  dieser 
Säuren  gewonnen  werden  können.    Ich  habe  dabei  die  Bildung  chlor- 
haltiger Säuren,  analog  der  Bildung  bromhaltiger  Säuren ,  welche  von 
Kbkulb^)   bei  der  Einwirkung   von  Bromwasserstofl^ure  beobachtet 
worden  ist,  wenn  auch  nicht  für  unmöglich ,  doch  als  in  den  meisten 
Fällen  nicht  eintretend  erachtet  und  zwar  einmal,  da  schon  lodwasser- 
stoffsäure  und  Bromwasserstoffsäure  sich  in  ihrer  Wirkung  wesentlich 
unterscheiden ,  welche  letztere  offenbar  von  der  geringeren  oder  grös- 
seren Festigkeit  mit  der  der  Wasserstoff  in  ihnen  gebunden  ist,  aUiängt, 
sodann  aber,  weil  bei  der  höheren  Temperatur,  welche  zur  Einwirkung 
der  Chlorwasserstoffsäure  erforderlich  ist,  manche  der  möglicherweise 
entstehen  könnenden  chlorhaltigen  Säuren  unter  den  vorhandenen  Um- 
ständen nicht  mehr  bestehen ,  also  auch  nicht  entstehen  können.     So 
z.  B.  beginnt  die  Einwiriiung  der  Salzsäure  auf  Glycolsäure  erst  bei 
450^,   bei  dieser  Temperatur  wird  aber  Monochloressigsäure  durch 
Wasser  schon  vollständig  in  Glycolsäure  und  Salzsäure  zerlegt. 

Die  Versuche  haben  bereits  ergeben,  dass  ohneBildungchlor- 
haltiger  P r od ucte  zersetzt  werden  die  Weinsäure,  Trauben- 
säure und  Citronensäure.  Die  ersteren  beiden  liefern  Pyrowein- 
säure,  die  letztere  eine  neue  Reihe  von  Säuren,  welche  sich  von  2  Mgte. 


i)  Annal.  d.  Cbem.  u.  Pharm.  Bd.  480.  p.  46.  a.  s.  w. 


EiDwirk.  cotic.  Salzsllure  »uUiMnB&ure.  289 

Giironensäure  resp.  Aconilsäure  — y^on  in  diese  geht  die  Gitronen* 
stture  zundchsi  über  —  ableiteo'/  Zwei  von  ihnen,  welchen  die  Zusam- 
mensetzung £^^  H^^  Q^'^'WA  €»810  012  zukommt/ sind  bereits  näher 
untersucht.  Untejr  Bildung  chlorhaltiger  Producte  werden 
zersetzt  dieAep^IsäureundChinasäurc.  Erstere,  welche  zunächst 
in  Fumarsliurey  übergeht,  liefert  bei  höherer  Temperatur —  bei  160^ 
bleibt  der  ^ssleTheil  der  Fumarsäure  noch  unverändert  —  eine  in 
WlMMerleicht  losliche  chlorhaltige  Säure,  letztere  liefert  ausser  Hydro* 
chinon  und  zwei  braunen  harzartigen  Substanzen  ein  chlorhaltiges  Oel, 
das  seiner  Zusammensetzung  nach  als  ein  Abkömmling  derCarbolsäure 
angesehen  werden  könnte. 

Mit  dem  Folgenden  beginnt  die  Mittheilung  dieser  Versuche  und 
Resultate. 


L  Abhandlung. 

lieber  die  Einwirkung  eonceiitrirter  Chlorwasserstoffsänre  anf 
Weinsftnre  und  Traubens&ure  In  höherer  Temperatur. 

Von 

Dr.  H«  Biemann. 


1.  Weinsäure. 

Gepulverte,  käufliche  Weinsäure  wurde  mit  dem  dreifachen  Volu- 
men reiner  concentrirter  Salzsäure  in  Röhren  eingeschlossen  und  im 
Oelbad  vob  ISO^G.  an  erhitzt.  Nach  je  zehnstündiger  Einwirkung 
wurde  das  Oelbad  erkalten  gelassen  und  die  Röhren  geöflfhet.  Nach 
abermaligem  Verschluss  wurden  sie  während  der  gleichen  Zeit  von 
Neuem  um  5<>  höher  erhitzt  und  so  fortgefahren.  Beim  Oeffnen  der 
Röhren  zeigte  sich  je  nach  den  Temperaturen,  denen  sie  ausgesetzt 
waren,  eine  mehr  oder  minder  starke  Gasentwickelung,  welche  nach 
dem  Erhitzen  bei  4  45  <^  so  stark  war,  dass  beim  Oeffnen  des  Rohrs  nur 
mit  der  grösslen  Vorsicht  das  Herausschleudern  des  Inhalts  vermieden 
werden  konnte.  Bei  125o  beginnt  die  Zersetzung,  von  1iS<^  an  nimmt 
der  Druck  in  den  Röhren  wieder  ab  und  ist  erst  bei  480®  gleich  Null. 

Die  Gase  wurden  nach  jedesmaligem  Oeffnen  der  Röhren  unter- 
sucht. Sie  erwiesen  sich  als  ein  Gemisch  von  Kohlensäure  und  Kohlen- 
oxyd.   Kohlensäure  war  stets  im  Ueberschuss.     Nach  beendigter  Ein- 

OMd  IV.  2.  10 


290  ^^  H.  Rietiiititf),  ^ 

Wirkung  wurde  der  stark  gehrdiiAi  und  eine  koHlige  MateHe  fSbrefide 
Ri5hreninhalt  zur  Trockne  im  Wassermd  gebracht  und  die  i^ässrige 
Lösung  des  Rückstands  müThierkohle  entfSHfHr^e  entfärbte  und  eiii*^ 
gedunstete  Flüssigkeit  ergab  nach  längerem  Stehen  ^ber  Scbwefelsätife 
kleine  farblose  Krystalle.  Dieselben  lösten  sich  sehr  leicht  in  Wasser, 
auch  in  Weingeist  und  Aether.  Ihre  wfissrige  Lösudg  reagrrte  stark 
sauer  und  fällte  weder  Kalksalze,  noch  Kalkwasser.  Der  Sehmehpünci 
lag  bei  \\\^.  Die  lufttrockne  Säure  verlor  kein  Wasser  über  ScbwiMI^ 
säure. 

0,2331  grm.  geschmolzene  Säure  ergaben  0,3873  grtn.  Kohlen- 
säure und  0,1313  grm.  Wasser,  aus  welchen  ResuHaten  sich  dieFormri 
Qfi  H»  O»  ableitet 


ber. 

gef. 

€&  =  60 

45,4 

45,3 

H8=    8 

6,1 

6,8 

09  =  64 

48,5 

132  100,0 

Die  erhaltenen  Krystalle  besitzen  demnach  die  Zusammensetzung 

and  den  Schmelzpunct  der  Pyroweinsöure.  Ihre  Identität  damit  wird 
durch  die  daraus  erhaltenen  Salze  erwiesen,  welche  mit  denen  von 
Arppb  ^)  dargestellten  übereinstimmen.  Ich  habe  mir  zur  besseren  Ver- 
gleichung  der  Salze  die  gleichen  aus  Pyroweinsäure ,  welche  durch 
trockne  Destillation  erhalten  war ,  dargestellt.  Die  Darstellung  dieser 
Säure  anlangend  erwähne  ich,  dass  man  eine  grössere  Ausbeute  erhält, 
wenn  man  die  mit  Bimsstein  gemischte  Weinsäure  aus  dem  Oelbad 
bei  200— 21 0  0  langsam  destillirt,  als  wenn  man  die  Destillation  über 
freiem  Feuer  ausführt.  Ich  erhielt  an  Pyroweinsäure  10%  der  ange- 
wandten Weinsäure  (während  Arppb  nur  7%  erhielt)  und  fast  gar  keine 
Brenztraubensäure. 


Saures  Ammoniaksalz. 

Von  zwei  gleich  grossen  Mengen  Säure  wurde  die  eine  in  Wasser 
gelöst,  mit  Ammoniakflüssigkeit  genau  neutralisirt  und  der  Lösung  die 
andere  Hälfte,  zugefügt.  Das  Salz  kam  beim  Verdunsten  in  schönen, 
blättrigen,  farblosen  Krystallen.  Sie  verwittern  nicht  an  der  Lufl  und 
verlieren  weder  über  Schwefelsäure  noch  beim  Trocknen  bei  100^ 
Wasser.    Ueber  130<>  erhitzt  scheint  die  Zersetzung  zu  beginnen. 

Das  Salz  ist  also  wasserfrei  wie  das  pyroweinsäure  Salz. 

K)   A.  E.  AnfPE,    De  acido  pyrotartarico.   SpecimeA  academicam.   Helsiag- 
forsiae  f  S47. 


Eiuwirk.  couc.  S«lisiliiTe  auf  Vmns&ure.  291 


IK«  wassrig^  t^sone  dbMMure  wurde  daroh  IdDgcres  Kocbeo  mii 
kbbtetiMttrdm  Baryt  i^€an*aiisin  und  cKe  fiitririe  Lösung  »ir  Kryatalli- 
saiioti  bingesteHl. 

Das  Salz  krystallisirte  in  kleinen  kömigen ,  glänzenden  KrystaUen, 
belebe  sich  leiebt  in  Wasser,  ■teht  in  Alkohel  lösten. 

0,659^grin;  hifttrookTie  KrystaUe  verloren  nach  Hftngerem  Sieben 
über  Schwefelsäure  0,0309  grm.  und  bis  ISO»  erbttot  0,0546  grifi.  = 
19,9%  Wasser.  Darüber  hiDaiisi  bis 200 o  erwärml  fand  keiftGewicbts- 
Verlust  mebr  statt.  Sie  binterKesaeb  nach  dem  Glttben  0,4tS5.grm. 
BaO,  GO^  entspr.  0,3235  grau  BaO «»  i9,6  %. 

BaO    50,5  49,6 

HO      41,0  42,2 

Es  entsprechen  diese  Zahlen  der  Zusammenselzung 

2 BaO,  €öH«0«  +  4  HO, 
weiake  tecb  Aarr»  gefuden  bat. 

>  <• 

Saures  Barytsalz. 

Von  2  gleichen  Mengen  Säure  wurde  die  eine  in  Wasser  gelöst, 
mit  kohlensaurem  Baryt  neutralisift  und  der  filtrirten  Lösung  die  andere 
Portion  zugefügt.  Das  Salz  kryslatlisirt  aus  der  bei  gelinder  Wärme 
dMilioh  weit  abgedampften  LösuQg  in  wanenförmi^  gmppirtenKry- 
siiiKchen.  Wege«  der  gana  gfeiehoD  Gestalt  dieser  KrystaUe  mit  den  von 
Aarrs  «rhahene«  habe  ieb.  nur  eine  BarytbestioiDUUig  ausgeführt. 

0,4515  gns.  lufUrocknen  Sal&ea  gaben 

0,81  Vd    »    BeO,  G02,  enfeapreohead 

0,164»    »    BaO  «  U,i%. 

bareohn.  get 

BaO  «B  35,44  36,5. 

Die  von  den  Krystallwarzena):)gegossene  Flüssigkeit  gab  beim  wei- 
teren Abdunsten  über  Schwefelsäure  krystallinische  Krusten,  deren 
Analyse  fplgendc  Zahlen  lieferte : 

0,1462  grm.  lufttrocknes  Salz  verloren  bei  105  <>  0,0137  grm.  und 
bei  1250  noch  o,0047grm.,  zusammen  0,0184 grm.  ss  12,6%Was8er. 

Nach  dem  Glühen  hinterblieb  0,0630  grm.  BaO,  GO^  entspr. 
0,0497  grm.  BaO  «  33,4  «/o- 

Danach  enthält  dieses  Salz  3  Mgte.  Krystallwasser. 

her.  gef. 

HO       11,9  12,6 

B|«)     »3,8  34,0 

I»* 


292  \,    H.  Rteimiiii, 

Bei  eiDor  anderen  Darsiellung^t'hieii  ich  dadurch,  dass  ich  die  noch 
aiieviKch  verdtliinte  Salzlösung  ohne  Anwendung  voa  Wärme,  soildeiti 
niar  über  Schwefelsäure  eindunsten  liess,  dfe  Er^tallwarzen  gar  nicbli 
sondern  nur  krystaliinische  Krusten ,  deren  Analyse  folgendes  Besullat 
ergab : 

I.  0,3H5grm.[uftir.  Substanz  verloren  bei  4  05  <^  0,0 4&$gnB.  Wasser» 
bei  weiterem  Erhitzen  niohts  mehr.  Sie  lieferten  0,4534  grm. 
daO,  SO'  entspr.  0,4005  grm.  BaO  s  32,3%. 

II.  0,4810  grm.  lufttr.  Salz  gabm  beim  Glühen  0,0778  grm.  BaO, 
GO^  entspr.  0^0608  grm.  BaO  »  3S,7  %. 

Es  entspricht  dies  der  Zusammensetzung 

BaO,  €»H7  0»-|.  4  HO. 

b^rechn.  gef. 

I.  a. 

BaO     38,5        38,3         32,7 

HO      45,3         44,6 

• 

Demnach  existiren  also  ausser  dem  von  A Vfts  eriialtönto  Baryitelt 
mit  8  Mgtn.  Krystallwasser  noch  solche  mit  3  und  4Mgtn.  Wasser.  Ihre 
Bildung  hängt  wahrscheinlich  ab  von  der  Temperatur  und  von  derCon- 

centration  der  Lösung. 

.  ■         .1  ' 

Neutrales  Bleisalz. 

1      d 

'  Es  wurde  dui^h  Umsetzung  äquivalenter  Mengen  des  neutralen 
fVdtronsalzes  mit  neutralem  essigsaurem  Bleioxyd  dargestellt.  3  bis  4 
Stunden  nach  dem  Mischen  der  beiden  Salzlösungen  war  das  Sali  in 
farblosen  glänzenden  Nadeln  abgeschieden,  genau  wie  das  pyrowein- 
saure  Bleioxyd  von  Aippb.  Die  Rrystalle  lösen  sich  in  heissem  Wasser 
und  scheiden  sich  beim  Erkalten  als  solche  wieder  aus.  Weingeist  ßillt 
aus  ihrer  Lösung,  das  Salz  amorph. 

I.  0,7578  grm.  lufttrocknes  krystallisirtes  Salz  verloren  beim  Erhitzen 

auf  4  40—1450  0,0733  grm.  sx  9,7%  Wasser  und  gaben  0,6094 
grm.  PbO,  S03  entspr.  0,4488  grm.  PbO  =  59,2%. 

II.  4,4  576  grm.  des  durch  Weingeist  gefällten  lufttrocknen  Salzes  gaben 

0,9440  grra.  PbO,  S03  entspr.  0,6947  grm.  PbO  =  60,0%. 

berechn.  gef. 

I.  II. 

PbO         60,0         59,2         60,0 

HO  9,6  9,7  — 

Es  hat  demnach  das  Salz  auch  die  gleiche  Zusammensetzung  wir 

das  von  Aeppr  untersuchte,  nämlich 

2  PbO,  €*H«0«+  4wi. 


ßiiiwkk.  eouo.  S«tu&afe  u^raobeosliire.  %%d 

11.  Tre^ub%nsäure. 

DieVeränderung^inF«lohe  die  Traubensäure  erleidet  ist  der,  welche 
bei  der  Weinsäure  ^Kbaehtet  wurde,  gleich,  nur  beginnt  die  Zersetzung 
erst  bei  höherer  Temperatur,  nämlich  130^,  und  ist  frtlher,  schon  bej 
160<),  beendet.  Die  stärkste  Zersetzung  findet  auch  hier  zwischen  HO 
bis  450<>C:LSlatt.  Die  entwickelten  Gase  waren  auch  hier  Kohlensaure 
und  Kohfenoxyd.  Nach  dem  Erhitzen  auf  160  0  wurden  die  Bohren  ent- 
leert, da  die  Reaction  beendet  war  und  der  Inhalt  wie  oben  angegeben 
behandelt.  Es  wurden  farblose  Ki^stalle  erhalten  von  gleichem  Aus- 
sehen wie  bei  der  Weinsäure.     Ihr  Schmelzpunct  lag  bei  4H  — HS"». 

0,2447  grm.  geschmolzener  Säure  geben  bei  der  Verbrennung 
0,4011  grm.  Kohlensäure,  entspr.  0,1094  grm.  Kohlenstoff  =  44,9% 
und  0,1349  grm.    Wasser,    entsprechend   0,01499   grm.   Wasserstoff 

Das  entspricht  der  Zusammensetzung  der  Pyroweinsäure ,  mit 
welcher  die  Krystalle  auch  in  ihren  sonstigen  Eigenschaften  überein- 
stimmten. 


berechn. 

gef. 

€»  >B  60 

45,4 

44,9 

HS  -1     8 

6,< 

6,1 

0»  s  64 

48,5 



432       100,0 

Die  Bildung  der  Pyroweinsäure  aus  Weinsäure  und  Traubensäure 
durch  Einwirkung  von  Salzsäure  scheint  der  durch  trockne  Destillation 
analog  zu  sein  ^) . 

Nach'VöLKBL^)  erleidet  die  Weinsäure  bei  der  trocknen  Destillation 
zwei  von  einander  unabhängige  Zersetzungen 

4^4H4  0io  »  €2H*0*  -+-  €0*  -i-  €0^ 
und 

2(€3H4öe)  s  €«H8  0«  -h  €0* 

Die  erstere  Zersetzung  scheint  bei  der  Einwirkung  von  Salzsäure 
auf  Weinsäure  nicht  stattzufinden,  wenigstens  konnte  ich  keine  Essig- 
säure beobachten,  hingegen  wird  die  Bildung  der  Pyroweinsäure  wohl 
nach  der  zweiten  und  dritten  Formel  vor  sich  gehen.     Es  gelang  mir 


i)  Diese  Analogie  hat  Grabe  (Annal.  d.  Cbem.  u.  Pharm.  Bd.  189  p.  484] 
auch  für  die  Salioylsäure,  Oxybenzoäsäure,  Paraoxybenzot^tire  and  Carbohydro- 
chinonsttnre  beobachtet. 

i«  Annnl.  d.  Cham.  u.  Phnrm.  R«1.  89.  S.  57. 


■-^ 
indess  nicht,  das  Zwischenglied , '\iift  BrenztraubensSure   zu  isoliren. 

Ich  unterbrach  einmal  die  Einwirkung  sdhonjjei  140^,  da  es  v^ahr- 
scheinlich  schien,  dass  bei  dieser  Temperatur  d)^  Brenztraubensäure 
noch  nicht  zersetzt  sei,  dasselbe  vielmehr  erst  zwischen  \  40 — 1 45  ®  ge- 
schehe, als  der  Temperatur,  bei  welcher  die  grOssteKohlensäureentwicke- 
lung  beobachtet  worden  war.  Nach  dem  Abdampfen  des  Röhreninhalts 
erhielt  ich  aber  auch  da  einen  Krystallbrei,  der  fast  nur  auMrenzwein- 
säure  und  unzersetzter  Weinsäure  bestand. 

Die  bei  längerem  Stehen  über  Schwefelsäure  noch  vorhandene  ge- 
ringe Menge  einer  nicht  krystallisirenden ,  syrupförmigen  Substanz, 
welche  den  Brei  durchtränkte ,  kann  wohl  Brenztraubensäure  gewesen 
sein.  Ihre  Menge  war  aber  so  unbedeutend ,  dass  eine  Trennung  und 
weitere  Untersuchung  nicht  möglich  war. 

Das  Auftreten  von  Kohlenoxyd  neben  Kohlensäure  ist  wohl  durch 
eine  secundäre  Wirkung  bedingt ,  welche  auch  die  Ursache  der  Ent- 
stehung der  kohligen  Materie  sein  kann. 

Von  chlorhaltigen  Producten  hat  sich  nirgends  etwas  wahrnehmen 
lassen.  Die  Einwirkung  der  Chlorwasserstoffsäure  verläuft  also  anders, 
wie  die  der  Brom wasserstoffsäure^). 

Jena,  im  März  4868. 


4;  V«rgl.  Kbkole.  Annal.  d.  Cbem.  «.  Pharm.  M.  ISO.  p.  B*. 


i«. 


r 


IM^r  Eeimg  der  Hwkelfascr  darck  dei  MMtaitei  StMii. 

Von 

Dr.  Th.  W.  Engelmann 

io  Utrecbt. 


Ein  Versuch  am  Froschsartorius,  den  ich  zur  Entscheidung  der  Frage 
nacb  dem  Ort  der  Reizung  in  der  Muskelfaser  bei  Schliessung  undOeff- 
nung  eines  constanten  Stromes,  ira  vorigen  Jahr  anstellte  und  in  dieser 
Zeitsdirift  ^)  publioirle,  hat  Abbt  veranlasst,  eine  längere  Untersuchung 
über  denselben  Gegenstand  vorzunehmen.  Die  Resultate  seiner  Unter- 
suchiing  sind  im  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie  von  4867.  p.  688 
flg.  Baitgetheilt.  Es  sei  mir  erlaubt,  zu  dieser  Arbeit  einigeBemerkungen 
zu  machen. 

Der  erste  Punct  betrifft  die  Beweiskraft  meines  Versuchs.  Abby  ist 
durch  einiges  Nachdenken  zu  der  Ueberzeugung  gekommen ,  dass  der^ 
selbe  das  nicht  beweise,  was  er  solle.  Der  Versuch  um  den  es  sich 
bandelt,  besteht  darin ,  dass  ein  Froschsartorius  frei  aufgehängt,  nahe 
seinem  obem  Ende,  am  rechten  und  linken  scharfen  Rand ,  mit  zwei 
Blekirodeii  berührt  und  nun  durch  Schliessen  oder  Oefffaen  einer 
aohwacfaen  constanten  Kette  gereizt  wird.  Es  zeigt  sich  dann,  dass  der 
Muskel  bei  der  Schliessongszuckung  conoav  nach  der  Seite  der  nega- 
tiven Elektrode,  bei  derOefihungszuckung  ooncav  nadi  der  der  positiven 
sich  krttanrnte. 

Abby  meint,  hieraus  kttnne  man  nur  folgern,  dass  bei  der  Schlies- 
sung die  an  der  negativen  Elektrode  gelegenen  Fasern  stärker  als  die 
an  der  positiven  gelegnen  zuckten. 

Ich  habe  hiergegen  nidits  einzuwenden.  Dass  der  Versuch  in  der 
erwlthnten  Form  in  der  That  nicht  mehr  beweisen  konnte,  das  lag  so 
sehr  auf  der  Hand,  dass  ich  es  der  Erwähnung  nicht  für  werth  hielt  und 
es.  war  mir  um  so  besser  bewusst,  als  ich  nicht  durch  ein  Spiel  des 
ZufaDs,  seodem  durch  Ueberlegung  auf  den  Versuch  gdiiommen  war. 


%)  Btl    III    last  pag  44 S. 


296  mjh.  W.  EngeloftRU,   ^ 

Ich  musste  den  Versuch  deshalb  inodifipiren,  damit  er  wirklich  den  Satz 
bewies  oder  widerlegte,  dass  Schliessihigsreizung  nur  am  negativen, 
OeShungsreizung  nur  am  positiven  Pol  statthabt  piese  Modificaiion, 
welche  einfach  darin  bestand,  dass  der  Muskel  der  Länge  nach  in  zwei 
nur  oben  zusammenhängende  Hälften  gespalten  wara^  von  denen  nun, 
wie  sich  zeigte,  die  eine  bei  Schliessung ,  die  andre  bei  Oefihung  des 
Stromes  zuckle,  —  diese  Modißcation  des  Versuchs,  deren  strengere 
Beweiskraft  ich  allerdings  nicht  genug  hervorgehoben  habe,  wird  von 
Aebt  ignorirt.  Dasselbe  thut  Adolf  Figk  in  Ganstatts  Jahresbericht  für 
1867  (Abschnitt:  physiologische  Physik,  pag.  94).  Auch  Pick  hat  nur 
den  Versuch  am  ungespalt^nen  Sartorius  vor  Augen,  meint  aber,  die 
Krümmung  des  Muskels  könne  »höchstens  zeigen,  dass  die  verschie- 
denen Fasern  desselben  Muskels  sich  nicht  gleichzeitig  contrahiren, 
sondern  die,  aus  denen  der  Strom  in  den  Draht  austritt,  zuerst.«  Wie 
das  aus  dem  Versuch  hervorgehen,  ja  nur  wahrscbeinlieh  werden  kttnne, 
ist  mir  nicht  verständlich. 

Alles  was  aus  dem  Versuch  geschlossen  werden  darf,  ist,  so  viel 
ich  sehe,  nur :  dass  bei  Schliessung  die  Reizung  an  der  Kathode  stärker 
als  an  der  Anode,  bei  Oefihung  das  Umgekehrte  der  Falhist.  Dass  aber 
bei  Schliessung  eines  schwachen  Stromes  in  der  Tfaat  an  der  positiven 
Elektrode  keine,  beiOefi'nung  an  der  negativen  Elektrode  keine  Erregung 
zu  Stande  kommt,  das  beweist  erst  die  beschriebene  Hodification  des 
Versuchs,  welche  von  beiden  Forschern  nicht  berücksichtigt  wird. 

Um  weiteren  Missverständnissen  vorzubeugen ,  gebe  ich  hier  die 
Erklärung  des  Versuchs.  Sie  setzt  nur  voraus,  dass  man  erstens  den 
Bau  des  Sartorius,  zweitens  die  Vertheilung  des  elektrischen  Stromes 
im  Muskel  bei  der  gegebenen  Versuchsanordnung,  und  endlich  den  Satz 
kenne,  dass  sehr  geringe  Diditigkeitsscbwankungen  des  elektrischen 
Stromes  die  Muskelsubstanz  nicht  mehr  erregen. 

Ueber  den  Bau  des  Sartorius  brauchen  wir  kein  Wort  zu  verlieren, 
wohl  aber  erfordert  der  zweite  in  Verband  mit  dem  dritten  Punct  eine 
kurze  Betrachtung.  In  unserm  Versuche  wird  der  Muskel  nur  in  sehr 
geringer  Ausdehnung,  nämlich  an  zwei  kleinen ,  einander  gegenüber«- 
liegenden  Stellen  seiner  beiden  scharfen  Ränder,  von  den  Elektroden 
berührt.  Hieraus  ergibt  sich  mitfierücksichtigung  der  Gesetze  der  Strom- 
vertheilung  Folgendes.  Der  Strom  tritt  bei  Schliessung  der  Kette  mit 
grösser  Dichtigkeit  in  die  von  der  An  o  d  e  berührten  Fasern  e  i  n  und  ver- 
lässt  jede  von  diesen  Fasern  mit  geringerer  Dichtigkeit  auf  ihrer  der  nega- 
tiven Elektrode  zugekehrten  Seite,  um  mit  lioch  etwas  geringerer  Dioh*- 
tigkeit  in  die  nächsten  Muskelfasern  einzutreten.  Umgekehrt  besitzt  der 
Strom  da,  wo  er  aus  den  von  der  Kathode  berührten  Fasern  in  die 


üeber  Reiioug  der  Muskelfaser  duroUiB  constaDten  Strom.  297 

negative  Etekirode  aus t  ritt ,  ejpe  Jr^ssere  Dichtigkeit  als  da,  wo  er  in 
diese  Fasern  eintritt.  In  di£|/9(ligen  Fasern  aber,  welche  genau  in  der 
Mitte  zwischen  beid^^TSlectroden  liegen,  wird  der  Strom,  —  vollkom- 
mene Symmetrie  drt*  Anordnung ,  wie  sie  in  unserm  Versuch  nahezu 
hergestellt  ist,  v0*ausgesetzt — ,  mit  derselben  Dichtigkeit  eintreten,  mit 
der  er  sie  wieder  verUsst,  und  zwar  wird  der  Strom  an  dieser  Stelle 
die  geringrte  Dichtigkeit  im  Muskel  haben.  Unter  allen  Umstanden  ^ird 
alMi  die  reizende  Stromschwankung  am  steilsten  sein  da,  wo  der  Strom 
in  die  von  der  Anode  berührten  Fasern  eintritt  und  da  wo  er  aus  den 
von  der  Kathode  berührten  Fasern  austritt.  An  beiden  Stellen  wird  die 
Dichtigkeitsschwankung  unter  den  angegebenen  Versuchsbedingungen 
nahezu  gleidi  gross  sein.  —  Findet  nun  bei  Schliessung  eines  constanten 
elektrischen  Stromes  Erregung  sowohl  an  der  Eintrittsstelle  desselben 
in  die  Muskelfaser,  als  an  seiner  Austrittsstelle  statt,  so  müssen. sich  so*- 
wohl  die  an  der  Anode  wie  die  an  der  Kathode  gelegenen  Muskelfasern 
zusammenziehen.  Der  Versuch  lehrt  aber,  wie  wir  gesehen,  dass  nur 
die  an  der  Kathode  liegenden  Fasern  bei  der  Schliessung  zucken.  Dass 
der  Versooh  nur  bei  Anwendung  schwacher  Ströme  gelingt,  versteht 
si(A  von  selbst.  Ueberschreitet  die  Stromstärke  ein  gewisses  Maass,  so 
werden  beim  Schliessen  der  Kette  auch  die  an  der  positiven  Elektrode 
gelegenen  Fasern  zucken  müssen ;  denn  hier  ist  dann  die  Dichtigkeits- 
schwankung des  Stromes  audi  an  den  Stellen,  wo  er  aus  den  von  der 
Anode  berührten  Fasern  austritt,  noch  gross  genug,  um  erregend  zu 
wiriLOA.  Immerhin  werden  aber  diese  Fasern  schwächer  zucken,  als  die, 
welche  an  der  negativen  Elektrode  liegen.  Darum  gelingt  der  Versuch 
am  ungespaltenen  Sartorius  innerhalb  weiterer  Grenzen  der  Strom- 
starke.  Für  die  Richtigkeit  unserer  Ecklärung  spricht,  dass  man 
den  Versuch  auch  in  folgender  Weise  so  einrichten  kann,  dass  bei  der 
Schliessung  eines  schwachen  Stromes  nur  die  an  der  positiven  Elektrode 
gelegenen  Fasern  zucken  und  erst  bei  AAvendung  stUrkeret  Ströme 
auch  die  an  der  negativen  Elektrode.  Dazu  braucht  man  nur  die  nega- 
tive Elektrode  mit  sehr  breiter  FUche ,  die  positive  aber  mit  scharfer 
Spitze  an  den  Muskel  anzulegen.  Hier  ist  dann  die  Dichtigkeit  des 
Stromes  da,  wo  er  aus  den  von  der  Anode  berührten  Muskelfasern  aus- 
tritt,  grösser  als  an  den  Stellen,  wo  er  die  von  der  Kathode  berührten 
Fasern  verlflsst.  Bei  schwachen  Strömen  geben  deshalb  allein  die  an 
der  positiven  Elektrode  gelegenen  Fasern  Schliessungszuekung.  —  In 
umgekehrtem  Sinn  wirkt  natürlich  Verbrriterung  der  positiven.,  bei 
spitzer  negativer  Elektrode.  —  Man  stellt  diese  Versuche  am  bequemsten 
mit  den  unpolarisirbaren  Thonstiefelelektroden  von  vst  Bois  an.  — 
Wir  kommen  nun  zu  den  Vorsueben ,  welche  Akby  angestellt  hat. 


298  Vtaif  b.  W.  EiigeliHftiin, 

Mit  Vet*gnttgen  oonstattren  wir  zuerst^  dass  A»ir  auf  anderem  We^ 
sich  davon  Qbereeugt  und  bewiesen  hat,  dass  bei  ScMiessung  schwacher 
Ströme  die  Erregung  nur  an  der  negativen  Elekl?l|de,  bei  Oefibnng  nur 
an  der  positiven  stattfindeit.  Die  Versuche  von  Abkt  sollen  aber  noch 
mehr  beweisen.  Sie  sollen  beweisen,  dass  bei  Schliessung  st&krkerer 
Strome  die  Erregung  auch  an  der  Eintrittsstdle  des  Stromes  in  die 
Üfuskelfaser  stattfindet,  wenn  schon  im  Allgemeinen  sehwäclier  als  an 
der  Austrittestelle.  Es  wtlrde  demnach  nur  ein  quantitativer  Unterschied 
zwischen  der  Grösse  der  Erregung  an  den  beiden  Polen  bestehen.  — 
Eine  nähere  Betrachtung  der  AKBt'schen  .Versuche  zeigt  indessen ,  dass 
sie  diesen  Beweis  keineswegs  Hefem. 

AsBT  suchte  zuerst  festzustellen,  ob  »ei«  Unlersdiied  in  der 
Stärke  der  Zuckung  vorhanden  sei,  je  nadidem  sie  im  Gebiete  des 
einen  oder  des  andren  der  beiden  f  oie  auftrete.«  Er  klettinvte  dam 
die  beiden  (H>erscbenkel  etnes  *  curarisirten  Prosdhes ,  nach  Ent^ 
femuog  des  grössten  Theils  der  feroora  dnrch  eine  subeulane  Ope- 
ration ,  mittelst  des  Beckens  fest  and  bracbte  sie  mit  den  beiden  He* 
be^  eines  Myographion  in  Verbindung.  An  dieunteren  Endender  beiden 
Schenkel  wurden  die  beiden  Drähte  einer  galvanischen  Batterie  geleitet. 
Im  Kfeis  befand  sich  ein  Stromwender.  Es  zeigte  sich  nun,  dass  im 
frisehen  Pritparat  stets  der  Schenkel,  an  dessen  unterem  Ende  derStrooi 
austrat^  bei  Schliessung  viel  starker  als  der  andere  zuekle.  Jedenfalls 
zuckte  auch  der  Schenkel,  durch  den  der  Strom  in  das  Prttparat  eintrat 
und  Aeby  glaubt  hiemach  annehmen  zu  dürfen,  dass  in  diesem  Schenkel 
die  Sehliessung-sreizung  an  der  positiven  Elektrode  stanigefunden  habe. 
Eine  sehr  einfache  Uebertegong  aeigt  al»er,  dass  dieser  Beweis  durchaus 
nicht  geliefert  ist. 

Offenbar  kemmt  es  fttr  unsere  Frage  daranrf  an,  au  wissen, 
wo  der  Strom  in  die  zu  erregenden  Muskelfasern  ein-*  und  wo 
er  aus  ihnen  austritt.  Acsf  scheint  zu  meinen ,  dass  fttr  alle  Muskel- 
fasern des  IVSpartfts  der  positive  Pol  an  dem  unteren  Ende  des  einen, 
der  negalrve  Pol  am  unteren  Ende  des  anderen  Schenkels  Hege.  Diess 
kitoiite  aber  offenbar  höchstens  dann  der  Fall  sein,  wenn  das  Prttpavat 
«in  einziger,  tmieisenformiger  Muskel  wXre,  dessen  Fasern  alle  paralld 
durch  die  ganse  LHnge  des  Muskels  verliefen,  in  dem  AEST'schen  Pr^ 
parat  hat  man  aber  zwei  grosse ,  voükommen  von  einander  getrjennte 
Muskelmassen.  Der  Einfachheit  halber  ktonen  wir,  ^me  dadurch  am 
Wesentlicben  etwas  zn  verändern ,  jeden  Schenkel  «Is  einen  einzigen 
Mnskel  auffassen,  dessen  Fasern  a^He  parallel  durch  die  ganze  Länge  des 
Muskels  gehen.  Beide  Muskeln  sind  an  ihrem  oberen  Ende,  am  lecken, 
durdi  emen  feuchten  Leiter  von  ziemlich  grossem  (j^rschnitt  verbunden. 


Ueber  Reiiung  der  Ma&ikclfaser  durcytln  eoustanten  Strom.  299 

Oflki^bar  Hegt  nän  für  den  Scheakrfran  dessen  unterem  Ende  der  elek-v 
irische  Strom  ins  PräparaL  'eintritt ;  die  negative  Elektrode  am  obern 
Ende,  da  wo  die  Fasern  am  Becken  enden.  Für  den  Schenkel  aber, 
durch  den  der  Strc^  aus  dem  Präparat  austritt,  liegt  am  Becken  die 
positive  Elektrode.  An  den  unteren  Enden  beider  Schenkel  hatte  Aeby 
die  Reizungsdrstite  angebracht,  biese  Anordnung  musste  es  mit.  sieb 
bringen,  dass  an  diesen  Stellen  die  Stromdichte  imPrUparatam  grössten 
war.  Nahezu  am  kleinsten  wird,  des  grossen  Querschnitts  wegen,  die 
Stromdichte  —  und  demzufolge  auch  jede  Schwankung  derselben  — 
am  Beckenpole  jedes  Schenkels  gewesen  sein.  Die  Resultate  der  Akbt- 
sehen  Versuche,  sow^eit  sie  den  frischen  Muskel  betreffen,  erklären  sich 
biernach  vollständig  unter  der  Voraussetzung,  dass  auch  bei  Schliessu];ig 
stärkerer  Ströme  die  Erregung  nur  am  negativen  Pole  stattfinde.  Denn 
dass  der  Sehiehkel,  an  dessen  unterem  Ende  der  positive  Strom  eintrat, 
viel  scbwSicher  zucken  musste  als  der  andere,  ist  dann  selbstverständ- 
lich, weil  der  Strom  da,  wo  er  am  Becken  aus  dem  Schenkel  austrat, 
wo  also  der  negative  Pol  fUr  die  Fasern  dieses  Schenkels  lag ,  eine  viel 
rifringiere  t)ichtigkeitsschwankung  ausführte,  als  an  der  Stelle,  wo  er 
aus  Attti  zweiten  Schenkel  in  die  Drahtleitung  austrat. 

Die  erwähnten  Versuche  von  Akbv  sind  also  principiell  falsch ,  da 
Hl  ihnen  irrthtlmHcherwcise  vorausgesetzt  wird,  dass  Anode  und  Ka- 
thode für  den  Muskel  da  Hegen,  wo  dor  Strom  das  Präparat  und  nicht 
da,  wo  er'die  Muskelfasern  betritt  und  verlässt.  Sorgt  man  dafür,  dass 
der  Querschnitt  derStrombafan,  also  die  Dichtigkeit  an  der  Eintrittsslelle 
in  die  Fasern  derselbe  sei ,  wie  an  der  Austrittstelle ,  dann  zucken  na- 
tüHich  beide  Schenkel  sowohl  bei  Schliessung  als  beiOeffnung  ungefähr 
gleichstark.  Selbstverständlich  ist  aber  an  einem  solchen  Präparate 
nMbre  Streitfrage  niöht  zu  entscheiden. 

Nicht  besser  steht  es  mit  den  anderen  Versuchen  von  Aeby.  Um 
d^  Einfluss  des  Kettenstromes  auf  die  einfache  Muskelfaser  zu  prüfen, 
fikirte  er,  ^e  dies  v.  Bfizotn  früher  schon  gethan,  die  Mitte  des  Sarto- 
rhis  durch  Einklemmen  und  brachte  an  die  Enden  des  Muskels  die  Lei- 
tungsdrähte der  Kette.  »Bei  dieser  Anordnung  bildete  der  Muskel  in 
seiner  ganzen  Lunge  die  intrapolare  Strecke ;  in  ihrer  Bewegung  war 
xKese  Vollkommen  frei,  nur  dass  durch  die  Klemme  die  Verschmelzung 
der  Zuckung  der  einen  Hälfte  mit  derjenigen  der  andern  verhindert 
wurde.«  «Aus  verschiedenen  Gründen  erschien  es  zweckmässig,  blos 
die  eine  Muskelhälfte  zum  Aufschreiben  zu  verwenden  und  ihr  ver- 
mittelst des  Gyrotropa  abwechselnd  die  positive  und  die  negative  Elek<- 
triciUit  zuzuleiten.  Der  Erfolg  entsprach  auch  hier  vollständig  den  Er- 
wartungen. Bei  derSchlit'ssungszuckung  entwickelte  Im  frischen  Muskel 


Nn^h.  W.  Miij 


300  ^^^![^•  ^^*  (''Ugelmaiin, 

der  negative  Pol  ausnahmslos  elte  .viel  grössere  Energie  als  der  po- 
sitive.« 

Wie  aus  diesem  Versuch  hervorgehen  soTfTNiass  am  positiven  Pol 
Schliessungserregung,  wenngleich  in  geringerem  Gcade  als  an  der  ne- 
gativen Elektrode  stattgefunden  habe,  ist  vollkommen  unbegreiflich- 
Denn  lag  die  positive  Elektrode  am  unteren  Ende  der  schreibenden 
Muskelhälfte,  so  musste  natürlich  letztere  bei  der  Schliessung  auch 
zucken,  wenn,  wie  ich  annehme,  die  Erregung  am  negativen  Pol  statt- 
fand, der  jenseits  der  eingeklemmten  Stelle  lag.  Die  Zuckung  musste 
aber  schwächer  sein,  weil  die  Erregung  sich  durch  die  eingeklemmte 
und  dadurch  offenbar  alterirte  Stelle  fortpflanzen  musste.  —  Vielleicht  war 
aber  der  Muskel  an  der  geklemmten  Stelle  todtgequetscht.  Dann  konnte 
natürlich  eine  in  der  oberen  Muskelhälfte  stattfindende  Erregung  sich 
nicht  bis  in  das  schreibende  MuskelstUck  fortpflanzen.  Offenbar  wird 
aber,  sowie  die  geklemmte  Stelle  zerquetscht  und  dadurch  ip  einen  ein- 
fachen Leiter  der  ElektriciUit  verwandelt  wird,  an  dieser  Stelle  die  eine 
Elektrode  für  das  zeichnende  Muskelstück  liegen.  Hier  besass  aber  der 
Strom,  wegen  des  grösseren  Querschnitts,  eine  geringere  Dichtigkeit} 
als  am  unteren  Ende,  wo  der  Leitungsdraht  den  Muskel  berührte  und 
dann  war  dies  der  Grund,  weshalb  die  Zuckung  schwächer  ausfiel, 
wenn  die  positive  Elektrode  an  dem  unteren  Ende  lag  >] .  Auch  in 
diesem  Falle  idt  also  dieser  Versuch  von  Aebt  principiell  falsch. 

In  einem  andern ,  auf  pag.  699  beschriebenen  Versuche  vermied 
Aeby  die  Einklemmung  und  hing  den  zeichnenden  Apparat  an  einer 
quer  durch  die  Mitte  des  Muskels  gestochenen  Nadel  auf,  während  alles 
Uebrige  unverändert  blieb.  Es  ergab  sich  dasselbe  Resultat.  —  loh 
muss  fürchten,  den  Versuch  falsch  zu  verstehen ,  denn  ich  sehe  aus  der 
kurzen  Schilderung  desselben  nicht,  wie  er  in  unserer  Frage  etwas  eat- 
scheiden  kann.  Jedenfalls  ist  er  unbrauchbar,  da  auch  in  ihm  nicht 
Rücksicht  genommen^ist  auf  den  Einfluss  der  Stromdichte  auf  die  Grösse 
der  Erregung.  Dasselbe  gilt  von  den  auf  pag.  701  beschriebenen  Ver- 
suchen und  von  den  Versuchen  am  Gastrocnemius  (pag.  703  flg.).  Hier 
werden  wiederum  die  Stellen ,  wo  der  Strom  au9  der  Drabtleitung  in 
den  Gastrocnemius  eintritt  oder  aus  ihm  in  den  Draht  austritt,  telschlich 
für  die  Anode  und  Kathode  aHer  Muskelfasern  angesehen  und  auf  Grund 


1  ]  Hieraus  erklären  sieb  aucli  die  von  Akbv  an  demselben  Präparate  gefun- 
denen  Thatsachen  ttber  den  Einfluss  verschiedener  Stromstärken ,  vor  allem  die 
Tbatsache,  dass,  nach  der  Ausdrucks wefise  von  Aebt,  bei  Zuoabme  der  Strom- 
stärke sich  der  Gegensatz  zwischen  positivem  und  negativem  Pole  immer  mehr 
verwischt. 


Ueb«r  Reisung  der  Mnskelfaser  dnith  dsjmnslauteii  Strom.  HO  I 

dieses  MissverstHndnisses  eine  RejbtMin richtiger  Betrachtungen  ange- 
stellt, die  einsein  zu  widerlegen 'wir  uns  ersparen  können. 

Endlich  hat  Akbt  |fRh  zeitmessende  Versuche  angestellt.  Die  einen 
dieser  Versuche  w'uj;den  an  dem  oben  beschriebenen  Präparate  ange-' 
stellt,  welches  aqs  zwei  durch  das  Becken  verbundenen  Oberschenkeln 
bestand.   Es  zeigte  sich,  wie  nach  dem  oben  Gesagten  auch  gar  nicht 
anders  zu  erwarten  war.  dass  beide  SebenM  genau  gleichzeitig  zu  zucken' 
Iftogamien.  —  Eine  zweite  Reihe  von  zeitmessenden  Versuchen  wurde 
im  Wesentlichen  nach  der  BszoLB'schen  Methode  angestellt.    Doch  be- 
nutzte AiBT  statt  eines  Muskels  zwei:   es  waren  die  Adductoren  des 
Frosches  oder  die  Schulterblattheber  des  Kaninchens.  Sie  wurden  »frei 
prflparirt  und   vermittelst  des  zwischen  ihnen   liegenden  Skeletab- 
schnittes  durch  eine  Klemme  befestigt.     Jedem  der  beiden  Muskeln 
wurde  einer  derMyographionhebel  angehängt  und  am  freien  Ende  einer 
der  Leitungsdrähte  zugeführt.     Dadurch  wurde  das  untere  Ende  des 
eiaen  Muskels  positiv,  das  des  andern  negativ,  während  das  obere  Ende 
natttrlich  entgegengesetzte  Verhältnisse  darbot.«    Hier  verwechselt  abo 
Abbt  die  Pole  des  Präparates  nicht  mehr,  wie  in  den  früheren  und  den 
eben  vorausgegangenen  Versuchen ,  mit  den  Polen  der  Muskelfasern. 
Beide  Muskeln  wurden  durch  eine  Klemme  dergestalt  in  zwei  Hälften 
zerlegt»  dass  nur  die  untere  Hälfte  ihre  Thätigkeit  auf  den  Apparat  zu 
tibertragen  vermochte.    Aus  leicht  ersichtlichen  Gründen  musste  sich 
nun  ein  zeitlicher  Unterschied  im  Anfang  der  Zuckungen  beider  zeich- 
nenden Muskelhälften  ergeben,  wenn  bei  Schliessung  und  Oeffnung  des 
Stromes  die  Reizung  nur  an  einem  Pole  stattfand.     »Das  Resultat  war 
in  zahlreichen  Versuchen  ein  durchaus  constantes.  Bei  keiner  Reizungs- 
grösse  Hess  auch  nur  der  geringste  Unterschied  in  dem  zeitlichen  Beginn 
der  beiden  Zuckungen  sich  wahrnehmen.«  —  Wir  heben  zunächst  her- 
vor, dass  dieser  letzte  Satz  mit  Abbv^s  eigenen  Angaben  in  Widerspruch 
steht.    Denn  Azby  gibt  selbst  zu ,  dass  bei  schwächeren  Strömen  die 
Schliessungserregung  nur  von  der  negativen  Elektrode  ausgehe.     Er 
hätte  also  wenigstens  bei  kleineren  »Reizungsgrössen«  einen  zeitlichen 
Unterschied  wahrnehmen  müssen.    Vielleicht  war  aber  auch  in  diesen 
Versuchen  der  Muskel  an  der  eingeklemmten  Stelle  todtgequetscht  und 
damit  der  obere  Pol  jedes  Muskels  vom  Becken  nach  der  Klemme  ver- 
legt.  Auch  wenn  nur  ein  Theil  der  Fasern  dui'ch  die  Klemme  todtge- 
quetscht war,  musste  für  diese  Fasern  wenigstens  der  obere  Pol  an  der 
Klemme  liegen,  und  es  hing  von  der  Grösse  der  reizenden  Dichtigkeits- 
schwankung des  Stromes  an  dieser  Stelle  ab ,  ob  hier  Erregung  statt- 
fand.    Falls  die  Fasern  aber  hier  erregt  wurden,  mussten  natürlich 
beide  Schreibhebel  sich  gleichzeitig  zu  lieben  beginnen.  —  Man  könnte 


302  ^  --Uf-Th.  W.  K 

auch  darao  denken,  dass  dicMus^lnoichlsUrk.  genug  oitlCurflre  ver- 
giftet waren,  i^m  so  mehr,  als  Aebv  vot^iiler,  allordiogs  sttlbstverEUnKt- 
liehen  Vergiftung  nichls  cr%väiint.  Wio  dem  aMt)  sei ,  wir  sehen ,  dass 
auch  durch  dio^  Vt^rsucho  der  Beweis  nicht  slröug  geliefert  ist,  des 
Aebv  geben  wollte,  und  dass  ihre  Resultate  d>enso  wi«,die  der  anderen, 
auf  falschen  Voraussetzungen  fussenden  Experiment«  von  Aebt  sieb 
unter  der  Annahme  erklären  Ivsen,  dass  im  frischen  Muskel  die  Sahlies* 
sungserreguDg  nur  an  der  negativen,  die  Oeffnungscrregang  —  vrm-der 
wir,  da  sich  alles  darauf  BeBÜglicho  von  selbst  ergibt,  nicht  weiter  ge- 
redet haben  —  nur  an  der  positiven  Elektrode  stattfiode'}.  —  Die 
Fr^e,  wie  sich  beim  ermüdeten  und  absterbenden  Muskel  diesaV«^ 
himnisse  ändern,  muss  weiteren  Untersuchungen  zugewiesen  wafden. 
Es  bleibt  iws  nur  noch  übrig,  einige  neue  Versuche  zum  Beweise 
des  von  uns  vcrtheidigten  Satzes  mitzutheilen.  Das  Princip  dieser  Ver- 
miede ist  nicht  neu.  Es  ist  im  Wesentlichen  dasselbe,  welches  von  Bb- 
lOLD  zar  Entscheidung  unserer  Frage  angewendet  wurde.  Docbbrancti- 
ten  wir  nicht  das  HBLMHOLTS'sche  Hyographion ,  sondern  ein  gewOhn- 
Hches  Kymographion  in  Verband  mit  der  Stimmgabel  als  Chronoskop. 
Beifolgender  Holzschnitt  wird  die  Versucbaanordnung  am  Besten  er- 
tantern. 


■■      Kg.  I. 

I)  Die  Versuehe  von  Csidybad,  aaf  wtlche  Atit  an«pifll(,  ««rea  mir  uaia- 
kannl  geblieb«»  Mod  erst  Herr  Cbiiivkau  «elbsl  oiBchte  mich  bei  «eimm  Beiacli 
Id  ütrecbl  imSeplember  1867  auf  sie  eurmerksam,  als  ich  ihm  m  einen  SfrtotiuS' 
versuch  zeigte.  Die  GHAii?E*D'9ciien  Versuche,  unter  denen  mehrere  sehr  iDstru"- 
tive  sich  boflnden,  leiden  an  denselben principiellenFehiern  wie  die  vonAEii^  leip 
einziger  von  ihnen  bewtisl,  dass  bei  starken  StrCmen  die  SchHessungsorregoW 
BQcb  BD  der  Eintritlsstolle  des  Stroms  in  die  Husfcel-  oder  Nervsabwr  gtattbriie' 


Ueber  Reiiung  der  Muskelfusrr  diircMairtonstaiiteD  Strom.  303 

CO  ist  der  mil  einem  bef usstoo^apierbogen  Überzogene  GyHnder 
des  Kymographions.  Der  Cylilfider  ist  ausser  Verband  mit  dem  Uhr- 
werk gesetzt  und  kani^öH  der  Hand  gedreht  werden.  Aufderberussten 
Papierfläehe  werden  von  drei  feinen  Spitzen  dicht  Übereinander  drei 
Gurven  gezeiehnet.    Die  oberste  Spitze  gehört  zum  Muskelbebel  h  und 

verzeichnet  die  Zuckungscurve.   Auf  der  mittleren  Gurve ,  zum  Inter- 

* 

ruptor  I  gehörig,  wird  der  Moment  der  Reizung  verzeichnet.  Die  untere 
VäUr,  an  einem  Arm  der  Stimmgabel  s  befestigt,  registrirt  die  Zeit; 

Die  Reizung  geschieht  in  folgender  Weise.  Von  der  Kette  K  führt 
ein  dicker,  kurzer  Kupferdraht  zur  Sflule  a  eines  Unterbrechers,  wie  sie 
an  den  Schlittenapparaten  von  dc  Bois  9ich  befinden.  Von  hier  geht 
der  Strom  durch  die  Feder  t  nach  der  Ptatinspitze  6  und  von  da  durch 
emen  dicken,  kurzen  Rapferdraht  nach  dem  QuedLsiibemäpfchen  c,  von 
wo  der  Strom  nach  der  Kette  zurOckkebrt.  ^  Der  Strom  kann  nur  bei 
b  udterbrocben  werden,  indem  die  Feder  t  niedergedrückt  wird.  Dies 
kann  in  bekannter  Weise  geschehen ,  indem  man  das  weiche  Eisen  m 
durch  den  Strom  einer  starken  Kette  magnetisch  macht.  Es  genügt  aber 
auch,  die  Feder  t  mit  dem  Pinger  oder  einem  Stäbchen  rasch  nach  unten 
zu  drücken.  Im  Moment,  wo  dies  geschieht,  und  damit  der  Gontact  von 
b  und  t  aufhört ,  ergiesst  sich  der  Strom  in  die  Nebenschliessung ,  in 
welcher  sich  der  Muskel  befindet.  Der  Strom  geht  dann  von  a  durch 
die  Wippe  IV  zum  Muskel  if,  durchfliesst  diesen  in  seiner  ganzen  Lange, 
geht  zurück  zur  Wippe  und  durch  das  Quecksilbernäpfchen  wieder 
zur  Kette.  Der  Muskel  ü,  der  Sartorius  eines  mit  starkor  Dosis  Curare 
vergifteten  Frosches  —  wird  am  oberen  Ende  d  durch  die  breile  Klemme 
meines  Muskelhalters  ^)  fixirt.  An  einer  bestimmten  Stelle  seiner  Länge 
wird  er  durch  die  schmale  Klemme  AT  desselben  Instrumentes  vorsichtig 
soweit  eingeklemmt,  dass  bei  alleiniger  Zuckung  des  oberen  Muskel- 
stücks der  Hebel  h  sich  nicht  bewegen  ,*  die  Erregung  sich  aber  durch 
die  eingeklemmte  Stelle  fortpflanzen  kann.  Das  untere  Muskelstück  zieht 
an  einem  leichten  Schrolbbebel  von  Holz,  der  sich  bei  x  um  eine  feste 
horizontale  Axe  dreht.  Ein  dünner  Kautschukstreifen,  der  dicht  bei  x 
quer  über  den  Hebel  ausgespannt  wird,  in  der  Figur  aber  nicht  ange- 
deutet ist,  sucht  den  Hebel  nach  abwttrts  zu  drücken  und  erlaubt  so, 
das  schreibende  Muskelstück  d«rch  Heben  oder  Senken  der  Klemme  k 
bis  auf  seine  normale  Länge  aussudebnen. 

1)  Eine  Beschreibang  und  Abbildung  diesfs  kleinen  lostnimeDtes  findet  sich  io 
der  Arbeit  von  Dr.  T.  Pucb,  de  contractiegolf  der  willekeuiige  Spieren.  Nederl. 
Archief  voor  genees-en  naCuurk.  D.  Hl.  ISST.  p.  989.  —  S.  auch:  Onder- 
zoekiogen,  gedaan  in  betphysiologMcb  lahoratorium  der  Utrecht'aehe  hoogeschool. 


;$U4  "ftk  Tli*  W.  Engelmaim, 


Vor  Beginn  des  Versuchs  soi^Lpiaii,  dass  die  drei  flicbretbenden 
Spitzen  bei  ruhendem  Cylinder  genau  In  ejner  vertikalen  Linie  über- 
einander stehen.  Ist  dies  der  Fall,  so  wirdlÜ^  Stimmgabel ^  durch 
rasches  Hervorziehen  eines  zwischen  ihre  Arme  gehemmten  HohklOtz- 
chens,  in  Schwingung  versetzt,  der  Cylinder  rasch  um^etwa  90  bisi80<) 
gedreht  und  während  der  Bewegung  des  Gylinders  der  Strom  bei  6 
unterbrochen.  Nun  wird  die  Wippe  umgelegt,  Stimmgabel  und  Cylinder 
wieder  in  Bewegung  versetzt  und  die  Feder  t  wieder  niedergedfttidce: 
Man  erhält  so,  rasch  nach  einander,  zwei  Zuckungscurven .  Bei  der  zweiten 
Reizung  fiiesst  der  Strom  in  entgegengesetzter  Richtung  als  bei  der 
ersten  durch  den  Muskel.  Findet  nun  die  Erregung  bei  Schliessung  des 
Stromes  auf  der  ganzen  intrapolaren  Strecke  statt,  so  muss  in  beiden 
Fällen  cUe  Zeit  zwischen  Moment  der  Reizung  und  Beginn  der  Zuckung 
des  schreibenden  MuskelstüdLS  gleichlang  sein,  nicht  aber,  wenn  die 
Erregung  nur  von  einem  Pole  ausgeht.  Liegt  der  positive  Pol  am  un-» 
teren  Ende  des  zeichnenden  Muskelstucks,  dann  moss  die  Schlies^ungs-- 
Zuckung  selbstverständlich  später  kommen,  wenn  die  Erregung  nur  am 
negativen. Pol  geschieht.  Denn  sie  muss  sich  dann  durch  die  ganze 
Länge  des  zwischen  den  Klemmen  befindlichen  Stückes  und  durch  die 
untere  Klemmstelle  ^bst  fortpflanzen,  ehe  sie  zum  schreibenden  Muskel- 
stUck  kommt. 

Die  Versuche,  welche  ich  hierüber  angestellt  habe,  beweisen,  dass 
selbst  bei  Schliessung  starker  Ströme  die  Erregung  in  der  frischen 
Muskelfaser  nur  an  der  negativen  Elektrode  geschieht.  Zum  Beweise 
dafür  habe  ich  hier  die  Anfangsstücke  von  vierCurven  abdrucken  lassen, 
welche  von  ein  und  demselben  Sartorius  rasch  nach  einander  gezeichnet 
sind.  Der  erregende  Strom  ward  von' drei  hinter  einander  verbundenen 
kräftigen  DANiBLL^schen  Zellen  geliefert,  und  gab  maximale  Schliessungs- 
zuckung.  Das  zwischen  den  Klemmen  befindliche  Stück  war  7  Mm. 
lang.  Bei  der  ersten  und  dritten  Reizung  lag  die  positive  Elektrode,  bei 
den  beiden  anderen  Reizungen  die  negative  Elektrode  am  unteren  Ende 
des  schreibenden  Muskelstücks.  Die  Stimmgabel  machte  250  Schwin- 
gungen in  der  Secunde. 

Wasilehren  nun  die  Gurven?  Bei  Curve  L  liegen  zwischen  Mo- 
ment der  Reizung  und  Beginn  der  Zuckung  5.7  Stimmgabelschwingungea 
=  0.023Secunden,  bei  Curve  IL  nur  4.3  =  0.04  7  Secunden,  bei  Curve 
m.  6.5  =  0.026  Secunden,  bei  IV.  wieder  nur  4.3  =  O.OH  Se- 
cunden.  —  Diese  Zahlen  bestätigen  vollkommen  das  von  uns  ver- 
theidigle  Gesetz.  Denn  wenn  in  Curve  I.  die  Erregung,  wie  wir  an- 
nehmen, am  oberen  Ende  des  nicht  schreibenden  Muskelstücks  stattfand, 


Ueber  Reboog  der  Huskelfitscr  durdf den  fonstnnleti  Slrom.  30^ 

dann  masste  sie  ein  7  Mm.  langes 
Muskelsttlck  durcblat^fan ,  bevor  sie 
sich  am  Hebel  verratben  konnte.  In 
ilerTbat  beginnt  d(e Zuckung  in  I,  um 
(I.OOSSecuniJen  spölerals  fnCurvell., 
wo  die  ReiMing  nach  unserer  Vorslel- 
lung-rilein  von  dem  unteren  Ende  des 
schreibenden  Muskelstücks  ausging'). 
In  Curve  III.,  wo  die  Reizung  wieder 
am  oberen  Ende  des  nicht  zeichnenden 
Huskelabschnilts  geschah ,  dauert  e.« 
noch  0.003  Secunden  langer  als  bei  I., 
also  0.009  Secunden  länger  als  bei  II., 
ehe  die  Zudiung  beginnt.  Diese  gros- 
sere Verzt^erung  ist  offenbar  denVer- 
ünderungen  des  Muskels  an  der  ein- 
geklemmten Stelle  k  zuzuschreiben. 
In  Folge  der  fortdauernden  Quetschung 
wird  das  Leitungsvermtigen  für  die 
Erregung  an  der  geklemmten  Stelle 
verschlechtert:  die  Erregung  braucht 
längere  Zeit  um  sich  durch  eine  ge- 
quetschte, als  um  sich  durch  eine  gleich  p,  j 
lange,  normale  Muskelstrecke  hindurch 

fortzupflanien.  In  IV.  dagegen  beginnt  die  Zuckung  wieder,  wie  in  II., 
0.017  Secunden  nach  der  Reizung;  denn  hier,  wo  die  Erregung,  nach 
unserer  Annahme,  wieder  am  unteren  Ende  des  schreibenden  Muskel- 
stUcks  stattfand ,  konnte  sich  der  schHdIi'che  Einfluss  der  Klemmslelle 
nicht  mehr  äussern. 

Wir  lassen  uns  an  diesem  einen  Beispiel,  dem  wir  leicht  weitere 
beifügen  kttnnten  genügen.  Was  unser  Versuch  am  gespaltenen  Sarlo- 
rius  fUr  schwache  Strome  bewies,  gilt  nach  diesen  zeitmessenden  Ver- 
suchen auch  für  starke  StrOme.  Wir  halten  den  Satz,  dass  im  frischen 
Muskel  Schliessungscrregung  nur  am  negativen,  OefiTnungserregung  nur 
an)  positiven  Pole  stattfinde,  um  so  strenger  aufrecht,  als  es  immer  wahr- 
scheinlicher wird,  dass  dieser  Satz  nur  ein  specieller  Fall  eines  allge- 


I]  Am  der  Zelt  von  0.40S  SecuDdea  ergibt  sich  zugleich  die  FortpOanzungs- 
Eeschwindigkeit  der  Erregung  Im  Muskel,  unter  den  geicbilderten  Versuchsbedin- 
guogeD  lu  1.17  Meter  io  derSecunde.  Diess  Btiiuml  mit  den  Angaben  vonAikv  und 
V.  Bezold  gut  Uberein. 

Bind  IV.  a.  30 


^6  Dr.  Tlu  W.  £ngeiai%,  Ueber  Reis.  d.  HnakelEiw  «to, 

V 

-— X 

meinen  Gesetzes  ist,  welches  für  dlle  reizbaren  Elemente  4eD  Ort  der 
Scdiliessungs-  nnd  <Mh«S|[Serregung  an  9io>^n-  und  Austritlsstelie 
des  Stroms  verlegt.  Wir  ernuiern  hier  an  die  Beobachtungen  von  Kühmb  i) 
über  den  Einfliiss  oenstanMr  Ströme  auf  gewisse 'C^rotoplasmaki^rper 
(Aotinopbrys  s.  B.),  iHidfl^cai  hinzu,  dass  auch  für  die  Flimmorzellen 
einige  Tbatsaohen,  die  neoendings^]  an  das  Licht  gekomcoftn  sind,  es 
in  bobem  &ade  wabradheinKch  maaben,  dass  diese  Elemente  demselbfiO 
Gesetz  gehorchen.  Schickt  man  nämlich  durch  Flimmerzellen  einen 
constanten  Strom,  so  besdileunigt  sidh  bei  der  Schliessung  and  bei  der 
Oeflfhung  des  Stroms  die  Bewegung  der  Giben.  Sohliesst  man  nun  un- 
mittelbar nach  der  Oefikiung  den  Strom  in  umgekehrter  Richtung  durdi 
die2ellen,  so  beschleunigt  sich  die  Bewegung  viel  starker  als  wenn  man 
den  Strom  in  der  ^dien  Richtung  wie  vorher  wieder  sohliesst.  Diese 
Thatsache  erklärt  sich  sehr  einfach,  wenn  man  annimmt,  dass  jede  Zelle 
da,  wo  der  Strom  in  sie  eintritt ,  in  einen  Zustand  von  herabgesetzter 
Erregbarkeit  (Anelektrotonus],  da  wo  er  sie  veriässt,  in  einen  Zustand 
eili^hterErregbai^eit  (Katel^trotonufi)  versetzt  wird ') ,  und  wenn  man 
weiter  annimmt,  dass  die  Schliessungserr^ung  auf  dem  Entstehen  des 
Katel Atrotonus ,  die  OeSnungserregu^g  auf  dem  Verscbwinden  des 
Anelektrotonus  beruhe. 

Da  es  jetst  möglich  ist^),  unter  den  verschiedensten  Bedingungen 
am  Mikro^op  mit  unpolarisirbaren  Elektroden  zu  reisen,  wttrde  es  eine 
lohnende  und  nicht  schwere  Aufgabe  sein.,  auch  andere  reizbare  Ele^ 
mentarorganismen  der  Untersuchung  ua  unierwerfen. 


'4)  (Jntersuckungeo  üft»er  das  Protoplasma  nod  die  ContractiliUit.  IS64. 

t)  Over  de  triibeweging.  II.  In  Nederl.  Arcbief  voor  genees-^ea  natuark.  H. 
IV.  4868.  p.  407  flgde. 

8)  Natürlich  könnte  auch  die  Rolle  der  Pole  die  umgekehrte  sein. 

4)  Vergi.  Centralblatt  f.  d.  med.  Wiss.  4  868.  Nr.  S8.  —  Over  de  trilbewegiog. 
In:  Nederl.  archief  voon  genees-en  natmti^k.  D.  IH. '4867.  p.  307.  —  lbid.D.  IV- 
4  86«.  p.  60  flgde. 


/ 


Zar  Lekre  toi  der  NerveBdignng  m  Hnskel. 

Von 

Dr.  Tb.  W.  Bngelmasin 

in  Utrecht. 


Vor  ejoigen  Jabrea ')  machte  ich  darauf  aufmerksam,  dass  gewisse 
Muskeh;!  der  Kiffer  Trichodeß  apiarius  und  alvearius  Nervenendplatten 
voD  Überraschender  Grösse  und  Zahl  besitsen,  und  dass  man  an  diesen 
mit  grösster  Leichtigkeit  den  Uebergang  des  Neurilemms  ins  Sarkolemm, 
d.  h.  die  iou^amuscuiftre  Lage  der  Endplatte  demonstrifien  könne.  Da 
die  genannten  Käfer  aber  nicht  überall  leicht  xu  beschaffen  sind ,  halte 
ich  es  <]er  MOhe  nicht  für  unwerth ,  hier  auf  andere  Objede  die  Auf- 
inerksainkeit  Jsu  lenken,  welche  die  erwähnten  Verhältnisse  wenigstens 
ebensogut  «eigen  und  zugleich  vom  Frühling  bis  zum  Herbst  Überall  in 
Menge  zu  haben  sind«  £s  sind  die  Raupen  vieler  Schmetterlinge ,  so- 
wohl die  von  Tag^  and  Nachtfaltern  als  die  von  Mikrolepidoptern.  Fast 
alle  Amen  von  Raupien  sind  günstige  Olij^te ;  bei  weitem  am  besten 
spheinen  aber  die  glatten,  unbehaarten  Baupen  kleinerer  Nadits<dunetr- 
tertinga  (Noctua  und  viele  andere  Gattungen)  lu  sein.  Hier  sind  die 
Esdplptlton  an  der  ganzen  RumpC-  und  Extremitätenmusculatur  enorm 
entwiekelt.  Die  einfachste  Art,  ein  gutes  Präparat  zu  bekommen ,  be- 
steht darin,  dass  man  der  Raupe  ein  Bein  (am  besten  eins  der  stumpfen 
HinAerbeine)  abschneidet  und  dasselbe  in  einem  Tropfen  Kochsalzl<teung 
V9D.4-^1y5%  vait  sweiNadeln  in  kleine  Stückchen  zerzupft.  Bringt  man 
das  Präparat  nun  unter  das  Mikroskop,  so  sieht  man  sogleich  die  quer- 
gestreiften Muskelfasern,  die  nur  von  ihren  Nerven ,  hie  und  da  auoh 
von  Traoheenästchen  zusammengehalten  werden.  Nicht  selten  ist  das 
Erste,  was  man  siebt,  ein  prächtiger  Nervenbflgel ;  immer  aber  findet 
man  wenigstens  nach  kurzem  Suchen  dann  eine  grosae  Anzahl  von 
NervenbügiBb)  in  den  veraohiedenatenLagen,  darunter  stets  gute  Flächen- 

.■■■■Hill      1^  ■■■■■» 

I)  Vergl.  diese  Zcitschrir.t  48««.  Bd.  I.  p.  Sil. 

40  • 


30S  \^*-T\i.  W.  Bngelmann, 

und  Proßlansichten.  Da  das  AüfSHigen  des  Präparats  bei  einiger 
Uebung  nicht  mehr  als  10  bis  15  SecundeirZeit  nimmt,  bekommt  man 
Nervenhügel  immer  zur  Ansicht,  wenn  die  Muskelfasern  noch  zucken, 
oder  wenigstens  zuckungsfähig  sind.  Dieser  Umstapd  in  Verband  mit 
der  ausserordentlichen  Grösse  der  intramusculären  Nerv^ndigung  machen 
unser  Object  besonders  geeignet  zu  Reiz  versuchen.  Wir  finden  vielleicht 
später  Gelegenheit,  hierüber  Einiges  mitzutheilen.  Hier  möge  nur  eini- 
ger anatomischer  Verhältnisse  Erwähnung  geschehen. 

Wenn  es  gleich  der  Mühe  nicht  mehr  werth  erscheint ,  neue  Be- 
weise für  die  intramusculäre  Lage  der  Nervenendigung  beizubringen, 
möchte  doch  der  folgende  Versudi,  der  diesen  Beweis  in  einer  beson- 
ders sprechenden  Weise  führt,  Mittheilung  verdienen.  Untersucht  man 
ein  auf  die  eben  geschilderte  Weise  hergestelltes  Präparat  von  Raupen- 
muskeln, so  findet  man  stets  eine  Anzahl  Muskelfasern,  welche  nur  an 
einem  Ende  noch  auf  der  chitinisirten  Grundlage  festsitzen ,  mit  dem 
andern  Ende  aber,  das  durch  Schneiden  oder  Reissen  geöffnet  ist,  frei 
in  die  Flüssigkeit  hineinragen.  Der  Inlialt  dieser  Muskelfasern  ist  meist 
geronnen.  Man  sieht  den  Gerinnungsprocess  von  derRissstelie  aus  nadi 
dem  andern  Ende  der  Muskelfaser  zu  fortschreiten.  Zum  Versuch  wählt 
man  eine  dieser  Pasern,  welche  einen  Nervenhügel  im  Profil  zeigt,  und 
bringt  diesen  in  den  Focus  des  Mikroskops.  Nun  iässt  man  piötzllch 
einen  starken  Strom  Salzsäure  von  0,1  %  unter  das  Deckglas  fliessen. 
Im  Moment,  wo  die  Salzsäure  die  Muskelfaser  erreicht,  erblasst  diese 
(nachdem  sie  vorher  durch  Gerinnung  dunkler  geworden  war} ,  scbwilli 
ungemein  stark  auf,  der  ganze  Inhalt  des  Muskelrohrs  strömt  aus  dem 
offnen  Ende  des  Sarkolemmaschlauchs  und  reisst  die  Endplatte  mit  sich 
heraus.  Nach  einigen  Secunden  liegt  der  ganze  Muskelinhalt,  ein  quer—  * 
gestreifter  geschwollner  Gylinder  vor  der  Oeflnung  des  leer  zurück- 
bleibenden  Sarkolemmaschlauchs ;  auf  dem  ausgeflossenen  Gylinder  reitet 
die  gleichfalls  etwas  geschwollene  und  erblasste  Endplatte.  Zuweilen 
sitzt  an  dieser  noch  ein  Stück  der  Nervenfaser  an,  das  durch  die  Gewalt 
des  Stroms  aus  seiner  Scheide  herausgerissen  ward  und  nun  gleichfalls 
den  Weg  durchs  Muskelrohr  machte.  <  Besassen  die  Flüssigkeiten  die 
richtige  Concentration,  so  erfolgt  das  Ausfliessen  des  Muskelinhalts  und 
der  Endplatte  so  rapid,  dass  man  an  daä  Abschiessen  eines  Gesobtitzes 
erinnert  wird.  In  andern  Fällen,  besonders  wenn  die  Säure  ein  wer.ig 
zu  stark  ist,  strömt  der  Inhalt  langsamer  aus.  Man  kann  dann  oft  den 
ganzen  Process,  vom  Losreissen  der  Endplatte  von  ihrem  Nerven  an 
bis  zum  Austritt  derselben  aus  dem  offnen  Muskelrohr  verfolgen«'  Ani-^ 
fangs  wird  die  Endplatte  durch  den  stärker  schwellenden  Muskelinhalt 
etwas  abgeplattet  und  gegen  die  Hügelmembran  angedrückt.    Ist  die 


Zur  Lehre  von  der  Nervendigtif^ln  Maskel.  309 

m 

Nervenfaser  gerade  an  der  EintnlBRälle  in  den  Hügel  abgerissen  und 
hierdurch  in  der  HOgelmiernbAn  ein  Loch  entstanden,  so  kann  ein  Thei^ 
der  Eadplatte  dorch  dieses  Loch  ausgetrieben  werden ,  ja ,  wenn  das 
Muakelrohr  an  beiden  Enden  geschlossen  ist  oder  nur  einen  kleinen 
RisebesHit,  kann  es  geschehen,  dass  die  gesammte  Endplatte  und  hinter 
ihr  her  ein  grosser  Theil  derHuskelsubstanz  durch  das  Loch  im  Nerven- 
hügel heraustritt.  Gewöhnlich  reisst  aber  der  Nerv  in  einiger  Entfer- 
nung vorn  Nervenhügel  ab  und  dann  vermögen  die  elastischen  Kräfte 
des  Sarkolemms  bei  geschlossenem  Huskelrohr  nicht,  den  geschwollenen 
Inhalt  der  Faser  durch  die  enge  Nervenröhre  herauszutreiben.  Die  End- 
platte  wird  dann  nur  an  die  Hügelmembran  angepresst.  Wenn  aber 
die  Muskelfaser  am  einen  Ende  ofiTen  ist,  beginnt  derMuskelinhalt  lang- 
sam auszufliessen.  Die  fliessende  Masse  zerrt  an  der  Endplatte  und 
sucht  sie  mit  sich  zu  nehmen.  Die  Platte  wird  dadurch  gedehnt  und 
reisst  endlich  ab,  entweder  oben  an  der  Eintrittsstelle  des  Nerven,  oder 
unten,  wo  sie  auf  dem  Muskelinhalt  aufliegt.  Zuweilen  reisst  sie  auch 
mehr  in  der  Mkte  durch.  Reisst  sie  vom  Nerven  ab,  so  sieht  man  sie 
Qogleich  ans  dem  Nervenhttgel  in  das  Mnskelrohr  und  hier  dicht  unter 
dem  Sarkolemm  hingleiten ,  bis  sie  zum  offnen  Ende  des  Sarkolemma- 
sehlauchs  heraustritt.  —  Fliesst  der  Muskelinhalt  sehr  langsam  aus, 
dann  bleibt  die  Endplatte  in  der  Regel  am  Nerven  hängen  und  tritt  nicht 
aus  dem  Nervenhttgel  heraus.  —  Der  Sarkolemmaschlauch  zieht  sich» 
indem  der  gequollene  Muskelinhalt  herausfliesst,  vermöge  seiner  Elasti- 
citttt  stark  zusammen  und  bildet  dann  eine  ziemlich  dicke,  glashelle, 
gefaltete  Röhre,  deren  offene  Communication  mit  dem  gleichfalls  dicken 
Nervenrobr,  selbst  bei  ganz  schwachen  Yergrösserungen,  (^^/i),  auf 
Profilansichten  in  unübertrefflicher  Klarheit  zu  übersehen  ist.  Kommt 
es  bloa  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  die  Membran  des  Nervenhügels  und 
die  Nervenscheide  gleichsam  nur  Ausstülpungen  des  Sarkolemms  sind, 
so  nimmt  man  statt  der  Salzsäure  verdünnte  Kalilauge.  Hier  bleiben 
nur  die  leeren  Scheiden  zurück.  Leicht  würden  sich  von  solchen  Prä- 
paraten überzeugende  Photograpl^ien  anfertigen  lassen. 

Beim  Herstellen  des  Präparats ,  durch  Zerzupfen  mit  Nadeln ,  ge- 
schieht es  zuweilen,  dass  der  ganze  Nervenhügel  von  der  Muskelfaser 
abreisst  und  vsie  eine  Glocke  am  Ende  der  Nervenfaser  ansitzt.  Hier  ist 
das  Sarkolemm  also  in  dem  Umfang  durchgerissen,  wo  es  zur  Membran 
des  Nervenhügels  wird.  Wenn  man  sieht,  dass  so  etwas  selbst  bei  einer 
so  dicken  Haut  wie  dem  Sarkolemm  der  Raupenmuskeln  geschehen 
kann,  wird  man  steh  nicht  wundem,  wenn  dasselbe  auch  bei  Wirbel- 
Ihierrouskeln  zuweilen  vorkommt ;  man  wird  sich  dadurch  aber  nicht 


310  D^h.  W.  RiigetmAiin, 

« 

wie  eiT)  neuerer  Schriftsteller  zÜ  9§f)knnBhme  verleiten  laisseii ,  dass 
der  KerveAkttgel  bk>s  aussen  auf  das  SaTÜMbmQd  auf^AM^i  sei;  t)ä89 
auch  die  Endplatten  der  Re|>ti'lfeii ,  Vögel  und  H^ugetMere*  uaiev  deei^ 
Sarkol^mm  Kegen,  davon  wird  man  sich  alliDX61i<$h^ltgbmein  Überiett«- 
geti^  ^erni  mate  gamz  frische,  möglichst  gut  isolirte  Mnskelfaserfr  unstet-« 
sucht  eder  sie  \tenigstens  nicbl  hyit  FlttsMgkeiten  behandelt,  die  dM 
Mtlstelinhalt  fest  tind  dunkel  und  damit  9^rfe  Gontouren  maeh^  A?0 
während  db«  Lebens  keine  sind. 

Bin  i^eiler  Punct ,  der  hier  noch  zvtr  Sprache  koim»eiil  soll ,  ist 
d^r  feinere  Bauf  des  NervenbOgels.  Wir  atie  hatten,  von  der  ganz  ab-* 
weichendefh  Auffassung  Kkaüsb's  abgesehen,  bei  der  eisten  Untei^ 
suchung  angeüiommen,  dass  dieBndplatte,  eine  protoplasmaartige  MasMi, 
die  nttmittelbaro  VdrbreiteruEig  des  Axeneylinders  sei.  Erst  Kvmm 
fand  bei  wiederholter  Untersuchung,  dads  man  an  derEndplalte  zweierM  , 
untersoheidefn  könne :  eine  verästelte ,  oft  netz-  oder  plattenförmig« 
Attsbreituäg  des  AxencyKnders  und  eine  granuMrte,  gleichsam  als  Sohlo 
für  diese  dienende  Miaisser  mft  Kernen. 

Nui^  wenige  Be^acbter  haben  seitdeln  ihre  AufmerksamlLeit  dieser 
A«ist)Veitung  des  A^encyKVMiers  ifn  Protoplasma  des  Nervenhttgels  zuge- 
wa^dti  Einzelne  scheinet!  sie  gar  nicht  gefunden  zu  haben,  andere  wie 
RouGBf  und  HdLLiitZA  erklaren  sie  für  ein  Kunstproduct.  Ich  kann  mich 
in  dieser  Frage  tiur  auf  S^te  Kühns^s  stelten.  Am  besten  eignen  sieb 
die  grossen  Nervenhttgel  der  Schlangen  und  Eidechse  zu  einer  enl-^ 
scheidenden  Untersuchung.  An  ganz  f riechen  Muskelfasern  eben  ge-- 
tödieter  thiere  sieht  man  indessen  -^  worin  ich  im  Widerspruch  mit 
Kchnb  bin  —  b^i  keiner  Art  der  Beleuchtung  die  Verttskilung  des  Axen- 
öyliuders  itn  Nervenhttgel  deutlich ,  mag  man  auch  die  stärksten  Im-^ 
inersionssy steifte  gebrauehen .  Zu weileot  nur  erkennt  man  die  erste  G^bel- 
theilung  des  Atencylinders  in  der  Nähe  der  Eintrittsstelle ;  der  flbrige 
liihali  des  tlügels  etischeint  matt,  kaum  kömig.  Darin  liegen  einige 
mattglanzende,  ellipsoidisehe  Bläschen  mit  centralem  Kernkörperdien, 
die  Kerne  des  Protoplaidme  utid  in  der  Membran  des  NervenhOgels 
einige  kleinere,  ebenfalls  matte  Kerne,  in  der  Regel  ohne  Kernkörper- 
oben.  Nach  einiger  Zeit,  oft  erst  nach  Stunden  tritt  die  baumförmiga 
Ausbreitung  desAxedcylinders  im  Hügel  deutüchar  hervor;  sie  erscheint 
anfangs  ohne  Varioositäteh  und  Ausbuchtungen,  nur  als  ein  inatiglän- 
zendes  Astwerk  dichotomiseh  veilheiiter  Streifen  von  ziemlich  ver- 
schlutigenem  Veriauf ,  die  sich  rückwärts  bis  in  den  Axenoy linder  der 
markhaltigeh  Nervenfaser  verfolgen  lassen.  Nach  dem  Ende  zu  werden 
sie  feiner  und  scheinen  ohne  Grenze  in  das  Protoplasma  des  Hügela 
überzugehen.     Wartet  man  noch  länger,    dann  verlieren  die  blassen 


Zur  Lebra  von  der  Nerveudiggy»<h  Muskel.  3 1 1 

Fasern  ihre  parallelen  Contourej^^^^clmüren  sich  vielfach  ein,  bilden 
später  Tropfen,  auch  Schleifen  und  dann  ähnelt  das  Bild  im  Nerven- 
hUgel  einer  vielfach  dordibrochenen  und  ausgebuchteten  Platte.  In 
diesem  Zustand  ist  das  ganze  Gebilde  am  Deutlichsten.  Lasst  man  eine 
Schlange  [Tropidonotus  natrix]  oder  Eidechse,  nachdem  man  sie  durch 
Zerstörung  des  Gehirns  getodtet  hat,  einen  Tag  lang  liegen ,  so  zeigen 
dann  fast  aUe  Nervenhügel,  wenn  man  sie  in  Kochsalz  von  0,5%  unter- 
sucht, die  Ausbreitung  des  Axencylinders  in  der  letzterwähnten  Form. 
Später  unterliegt  die  letztere  nodi  weiteren  Veränderungen :  die  Fasern 
schnüren  sich  mehr  und  mehr  ein  und  zerfallen  endlich  in  einen  Haufen 
Tropfen,  aus  dem  die  ursprüngliche  Form  des  Organs  nicht  mehr  heraus- 
zukönnen ist.  Diese  Tropfen  können  auch  unter  sich  wieder  zum  Theil 
verschmelzen  und  grössere  Vacuolen  bilden.  —  Nach  der  Untersu- 
chung möglichst  frischer  Präparate  kommt  es  mir  demnach  nicht  wahr- 
sckeioUcb  v€r,  dass  die  Ausbreitung  des  Axencylinders  jemals  die 
Form  einer  durchbrochenen  ausgebuchteten  Platte  besitze;  Ich  halte 
diese  Form  fUr  ein  Kunstproduct ,  entstanden  aus  theilweiser  Ver- 
klebung, Verschmelzung  und  Abschnürung  einzelner  Zweige  der 
baumartigen  Verästelung  des  Axencylinders.  Diese  Zweige  gehen 
wahrsoheinlidb  ohne  Grenze  in  das  Protoplasma  des  Hügels  über;  doch 
lässt  sich  das  mit  den  jeteigen  Mittehi  nicht 'entscheiden.  —  Auch  an 
den  grossen  Nervenhügeln  der  Raupenmuskeln  kann  man,  wie  ich  mich 
vor  längerer  Zeit  schon  überzeugte,  eihe  Fortsetzung  des  Axencylinders 
in  der  kömigen  Masse  des  Hügels  unterscheiden.  Oft  treten  zwei,  ja  drei 
Ax/eacylinder  mit  der  Nervenfaser  in  den  Hügel  und  laufen  nun ,  was 
man  an  frischen  in  möglichst  iDdifTerenten  Flüssigkeiten  liegenden 
Präparaten  sehen  kann,  erst  im  oberen  oder  mittleren  Theil  des  Hügels 
eine  Strecke  weithin.  Dann  theilen  sie  sich  ein  oder  einige  Male  nach 
einander  in  kleine  Zweige,  die  gewöhnlich  nach  unten  laufen  und  sich 
im  Protoplasma  des  Hügels  verlieren.  Nach  längerem  Liegen  zerfallen 
auch  diese  Fasern  in  Tropfen.  Sie  sind  übrigens  viel  dünner  als  die  ent- 
sprechenden Fasern  im  Nervenhttgel  der  Schlangen  und  nehmen ,  wie 
es  scheint,  ein  relativ  kleineres  Volum  der  im  Hügel  liegenden  Masse  ein. 


\ 


Kleinere   Mittheiluiigeii. 


Iir  foreuischeM  Blagiose  des  flescUeckts. 

« 

Von 
B.  S.  Sohultse. 

Bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  hat  wohl  keine  Branche  des  tnedicinisohen  Wis- 
sens so  zahlreiche  Irrthümer  mit  sich  geschleppti  als  die  gerichtliche  Medicin» 
So  traurig  die  Thatsache,  so  plausibel  die  Gründe  derselben. 

Keine  Branche  der  Medicin  weiset  in  ihrer  praktischen  Ausübung  den  Einzelnen 
in  gleichem  Grade  auf  subjective  Kritik  an,  und  bei  Ausübung  seines  medicinischen 
Specialfaches  ist  der  Praktiker,  wegen  des  enormen  Urafanges  der  Disciplin ,  so 
oft  darauf  angewiesen,  sein  Urtheil  auf  Beobachtungen  Anderer  zu  basiren.  Nun 
ist  aber  drittens  —  und  das  Ist  weniger  in  der  Natur  der  Sache  begründet  —  gegen 
allen  sonstigen  Gebrauch  in  der  gerichtlichen  Medicin  zum  Theil  noch  heute  üblich, 

I 

Urtheile  für  Beobachtungen  zu  registriren ;  da  kann  sich  natürlich  einlrrthum  lange 
halten. 
>  Von  dieser  sehr  allgemeinen  Einleitung  zu  meinem  ganz  speciellen  Thema. 
J.  L.  Ca  SP  ER,  welcher  bekanntlich  gerade  um  Ausmerzung  von  Irrthümern 
aus  der  gerichtlichen  Medicin  sich  bedeutende  Verdienste  erworben  hat,  sagt  im 
zweiten  Theik  seines  praktischen  Handbuches  (Teratologischer  Theil)  im  Capitel 
von  der  äusseren  Besichtigung  der  Leiche  (Seite  101  der  vierten  Auflage  von  4864). 
»Das  Geschlecht.     Dass  dasselbe  bei  ganz  von  der  Verwesung  zerstörten 
»Leichen  nicht  mehr  zu  erkennen,  ist  bekannt.    In  etwas  niedrigerem  Fiiulniss- 
»grade  ist  es  zuweilen  noch  möglich,  wenn  auch  die  sexuellen  äusseren  Weich- 
»theile  verschwunden,  aus  dem  geschlechtlichen  Haarwuchs  noch  das  Geacbleoht 
»des  Individuums  zu  erkennen,  insofern  der  umschriebene  Kranz  von  Haaren  auf 
»dem  Schamberg  das  Weib,  die  wenn  auch  noch  so  geringe  Fortsetzung  des 
»Haarwuchses  vom  Schamberg  bis  au  den  Nabel  hinauf  den  Mann  erweist.« 
Ich  weiss  nicht,  und  halte  es  auch  für  belanglos,  es  zu  ermittelu,  ob  diese  dia- 
gnostische Notiz  mit  dieser  Bestimmtheit  zuerst  von  Caspes  oder  von  einer  ttiteren 
Autorität  herrührt ;  wichtig  aber  ist  es,  dass  dieselbe  vollständig  irrig  ist. 

Unter  etwa  100  Schwangern  und  Wöchnerinnen,  welche  im  ersten  Halbjahr 
4867  von  mir  inspicirt  wurden,  habe  ich  5  notirt,  bei  welchen  der  Haarwuchs  vom 
Schamberg  bis  an  den  Nabel  sich  fortsetzte.  Die  Weiber  waren  it,  fS,  25,  28—28 
Jahre  alt  und  konnte  über  ihren  Charakter  als  Weiber,  da  sie  gebärend  von  mir 
beobachtet  wurden,  kein  Zweifel  sein;  auch  spreche  ich  natürlich  nicht  von  einem 
Haarwuchs,  wie  ihn  die  Haut  au  vielen  Stellen  zeigt,  sondern  von  einem  aus  starken, 


Ueber  die  Constitution  einiger  Siligmi^ibindnngen  ete.  3I3 

pigroentirteii  Haaren  bestehenden  HaMm^ch»,  der  auf  40  Schritt  als  solcber  zu 
erkennen  sein  wtirde.  Unter  SS  Weib^R,  welche  am  1.  d.  M.  in  meinem  Institut 
als  Pfleglinge  sich  befanden^  waren  vier,  von  SO,  SO,  S4  und  SS  Jahren,  bei  denen 
starke,  pigmenti rte  Haare,, Aei  zweien  derselben  etwas  entfernt  sjbehend,  bei  zweieii 
ziemlich  dicht,  vom  Schamberg  bis  zum  Nabel  hinauf  «ich  erstreckten.  Dagegen 
zeigten  ^on  440  kräftigen  jungen  Männern  (Soldaten) ,  welche  heut  auf  die  obere 
Grenze  des  Hsarwuchses  am  Schamberg  untersucht  wurden,  S4,  von  4  9— 18  Jahren, 
eine  rundlich  umschriebene  Grenze  des  Haarwuchses,  ohne  jede  Fortsetzung  gegen 
den  Nabel  hinauf.  Sehr  wohl  möglich,  dass  bei  Mttnnern  in  vorgerückterem  Alter 
sehr  viel  häufiger  als  bei  den  hier  untersuchten  die  Behaarung  vom  SchaiAberg  bis 
an  den  Nabel  sich  erstreckt. 

Es  bleibt  ja  ttberhaupt  ausser  Zweifel,  dass  beiden  meisten  Weibern  der  Haar- 
wuchs des  Schamberges  rund  endet,  wahrend  er  bei  den  meisten  Männern  bis  zum 
Nabel  sich  fortsetzt,  aber  die  Häufigkeit  der  Ausnahmen  verbietet,  wo 
das  Geschlecht  eines  vorliegenden  Körpers  zweifelhaft  ist,  aus 
der  genannten  Differenz  irgend  ein  diagnostisches  Motiv  zu  ent- 
nehmen. 

Ob  gar  am  Lebenden  bei  mangelhaft  ausgeprägtem  Geschlechtscharakter  die 
permanente  FormdilTerenz  des  Haarwuchses  zur  Diagnose  des  Geschlechts  ver<- 
werthet  werden  dürfe,  wie  Caspbb-  am  genannten  Orte  Th.  1.  pag.  S6  meint,  bedarf 
hiemach  keiner  Besprechung. 

Jena,  den  4S.  Februar  4SS8. 


lieber  4ie  CeMÜtaÜMi  eUget  SUicimf  erbMOTRea  Mdl  BMges,  was  siel  Mf 

las  liichaagsgewicht  4es  SlllclaMS  besieht 

Von 
A.Gettth«r. 

Die  Untersuchungen  vonFaisDEL  und  Grafts  M  und  von  Fribdbl  und  Ladskjcsg") 
haben  eine  grössere  Anzahl  neuer  Vorbindungen  des  Slliciuros  kennen  gelehrt  und 
auf  einige  dervon  Wöblkr  entdeckten  Verbindungen  dieses  Elements  ein  neues  Licht 
verbreitet. 

In  der  Einleitung  der  ersteren  Abhandlung,  in  welcher  vorzüglich  die  Producte 
beschrieben  werden,  welche  bei  der  Einwirkung  von  Siliciumchlorid  auf  normale 
Kieselsäureäther  entstehen  und  deren  Wirkung  auf  verschiedene  Alkohole,  sagen  Fa. 
und  Gr.,  nachdem  sie  ScBBsaEa's  neuerer  Begründung  der  Kieselsäuroformel » SiO' 
gedacht  haben,  dass  sie  nicht  gesonnen  seien,  sich  bei  der  Discussion  dieser  Argu- 
mente auficuhalten,  glaubend,  man  werde  vielleicht  eine  hinreichende  Antwort  in 


4)  Annal.  de  Chim.  et  de  Phys.  S.  IV.  T.  IX.  p.  S. 

5)  Compt  rend.  T.  LXI.  p.  79t ;  T.  LXIV.  p.  S4 ;  p.  S59 ,  p.  4108  u.  T.  LXVI. 
p.  SSO;  p   840. 


314  '^  AiGeullicr^ 

der  MHthi^lung  von  Thatsacheo  fiaden,  ^fSlche  mit  der  Meipun^  ScHE£aER's  schyver 
ra  vereinigen  seien.  Sie  erklären  sich  dannS^dtter  dabin,  dass  bei  der  Frage  i|ach 
diem'Mischmigsgewicht  eines  Elementes  zunächst  den'  Ch  e  m  i  s  c  h  e  n  BetracbtuQgen 
der  Vorrang  gebüftre,  und  dass  diess  eben  es  gewesen  sei ,  welches  sie  veranlasst 
habe  die  Versucbe  2tt  unternehmen,  in  der  Hoffnung  sie  würden  einigen  Verbin- 
dttikgen  begegnen ,  welche  durch  rein  chemische  Betrachtungen  die  Mischungs« 
gewicfatsfrage  des  Siliciums  zu  entscheiden  vermöchten.  »Wir  glauben«  fahren  sie 
dann  am  Schlüsse  fort,  »dass  es  uns  gelungen  ist  zu  zeigen ,  dass  die  einCacbsten 
Formell,  welche  der  t^iesersäure  und  dem  normalen  Kieselsäureäther  beigelegt 
werden  können,  sind:  SiO*  und  Si  4(€'M'0),  und.demgemäss  das  Atomgewicht  des 
Siliciums  Si  ss  28  ist.« 

£s  haben  dann  ferner  durch  weitere  Versuche  mit  dem  Siliciumchlorür  ver- 
anlasst, pRiEBEL  und  Ladenburg  die  Meinung  Wöbler's'j,  dass  das  Silicon  »als  eine 
nach  Art  der  organischen  Körper  zusammengesetzte  Verbindung  betrachtet  werden 
Rönne,  in  welcher  das  Silicium  die  Rolle  des  Kohlenstoffs  in  den  organischen  Kör- 
pern spielt«,  nicht  bloss  so  angenommen,  sondern  sind  so  weit  gegangen,  in  manchen 
Siliciumverbindungen  eine  wirkliche  Vertretung  von  Kohlenstoff  durch  Silicium, 
von  C  durch  Si,  zu  finden  und  demgemäss  diesen  Namen  beizulegen,  welche  den 
ihrer  Ansicht  nach  diesen  entsprechenden  reinen  Kohlenstoffverbindungen  nach- 
gebildet sind  (SiKcichlorororm ;  dreibas.  Siliciameisensäureäther ;  Silicononyl- 
alkohol  etc.). 

So  vollkommen  einverstanden  ich  damit  bin ,  dass  bei  der  Feststellung  des 
Miscbungsgewichts  eines  Elementes  den  chemischen  Betrachtungen  der  Vorrang 
gebührt,  ja  noch  mehr,  dass  ihnen  ganz  allein  die  endgültige  Entscheidung  darüber 
zukommt,  so  entschieden  muss  ich  bestreiten : 

4)  dass  in  der  Zusammensetzung  von  all  den  beschriebenen  Siliciumverbin- 
dungen irgend  ein  Moment  enthalten  ist ,  welches  die  Silicium  miscbungsgewichts- 
Um^  Ob  U  odarJN.  (ölte«  #ii.lMlipliin«40voA)  mm  im-  taoligitMi  lin^  UMng 

näher  zu  führen  vef;ntictkte.uA4 

5)  dass  die  Annahme  einer  Vertretung  des  Kohlenstoffs  durch  das  Silicium  in 

den  vorliegenden  Verbindungen  eine  gerechtfertigte  sei. 

Denn  es  lässtsich  einmal  zeigen,  dass  die  Zusammensetzung  all  der  betreffenden 
Siliciumverbindungen  durch  Formeln  mitSf^Sl  in  gleicb  einfacher  Weise  aussu- 
drücken  sind  und  dann,  dass  die  Verbindungen ,  in  denen  eine  Substitution  des 
Kohlenstoff^  durch  Sificium  stattfinden  soll  als  nichts  anderes  erscheinen  wie  die 
UblM^en,  nämlich  als  einfache  Abkömmlinge  einer  Siiiciumverbindung. 

bevor  ich  diess  näher  zu  zeigen  unternehme,  muss  ich  mir  gestatten  ein  Wort 
über  die  Bedeutung  der  oben  angeführten  Ansicht  Wöhlee's  zu  sagen ,  dass  das 
Silicium  nach  Arider  organischen  Körper  zusammengesetzte  Verbindungen  zu  bilden 
vermöge.  Vom  gegenwärtigen  Standpunct  der  Chemie  aus  kann  dies  weiter  nichts 
heissen,  als  dass  ein  Zusammenhang,  wie  Qr  bei  den  Kohlenstoffverbindungen  zwi- 
schen den  heterologen  oder  genetischen,  den  homologen  und  isologen  Reihen  existirt 
in  gleicher  oder  ähnlicher  Weise  auch  bei  den  Siliciumverbindungen  sich  findet. 
Da  nun  die  genetischen  Reihen  eines  jeden  Elementes  sicb^uf  ganz  gleiche,  von 
diesem  aber  völlig  unabhängige  und  nur  durch  die  mit  ihm  sich  verbindendeo  anderea 
Elemente  bedingte  Weise  ableiten,  so  ist  klar,  dass  die  Formgleichheit  in  dieser 


*■  i  <#  I    "   )i 


1)  AnnaU  d.  Chem.  u.  Pharm,  Bd.  It7  p.  S68, 


Ceber  die  Gonstitiiiioo  «Mger  SUiiMniTerbiDdungen  etc. 


315 


Reihe  nlHils  iürar  AebnlMlikeit  oder  Udtlittlfcbkeit  verschiedener  Elemente  aussagt. 
Dies  vermögen  nur  die  her m otogen  und  in  noch  bestimmterer  Weise  die  i so- 
lo gen  R0lJwtt  zu  thun.  l^iiSit«  wenn  man  für  den  Kohlenstoff  und  dasSUiciam'  anck 
die  (^leichbeit  dieser  nachgewiesen  hat,  wird  man  berechtigt  sein  sie  als  c  h  e  m  i  s  c  h 
ähnlioh^»  in  eineGrupiK}  gehörende,  gleichwerthige  Elemente  wnmmimü> 
welche,  wenn  n(ithig  die  Annahme  einer  Vertretung  zulassen.  Bi&  jetsk  aber.  iMoiii 
man'  Itekie  homologe  Reihe  von  Siliclumverbindungen  and  von  einer  isologen  Reihe 
nicht  mehr  als  Andeutungen,  die  ihrerseits  aber  nicht  geeignet  sind  jene  voraus- 
gesetste  Gleichheit  zu  bestütigen. 

Mit  Ausnahme  des  SfAcons  lassen  sich  alle  hier  in  Betracht  kommenden  Sili- 
ciumverbindungen  ableiten  von  einem  Silicium Wasserstoff  n  Sii  ff*  oder  n  Si  ti\ 
nilmliah  Sii^li*  odw  Sl*l^'')  und  zwar  in  gleicher  Wef^e,  wie  es  sonst  auch  ge- 
schieü:  der  Wasserstoff  kann  nämlich  zu  gleichen  liiscbungsgewicbten  ersetzt 
gedaoAt werden  4)dtirclt  diehalogenen  Körper,  i)  durch  Sauerstoff,  Schwefel^;  etc., 
3)  durch  die  Hydroxyl-Uydrosulfi-Gruppe :  liOMlS",  4)  durch  andere  einwertbige 
zusamnltfDgesetzteRadicafe^,  so  dass  auf  diese  Weise  entstehe«  4.  die  cllWr-,<  brop^ 
etc.  haltigeo,  S.  die  Oxy-Sulfl  etc.,  S  die  Hydroxy-Hydrosulfi  etc.  AbkOmmtinge 
und  4)  die  Aethyl-  etc.  Verbindungen. 


Genereller  Typus: 


«U8 


Sii^H 


oder  Si^H» 


Siliciumwasserstoff: 

Aetherveilyfndung : 

Siliciumaethyl: 
etc. 

Monochlorsiliciumeethyl: 

Siliciumchlorid: 
etc. 

Kiesetsttureanhydrid  etc. 
Normales  Kieselstturehydrat: 

etc. 

Aetherverbindungen : 

KieselsVurettther: 
etc. 

Gemischte  Aether : 
KieselsäureaethylmethyUther: 


etc. 
Es^lgkieselsäureanhydrid: 
E  SS  i  gkfesel  Silur  elf  ther: 


Si,*»» 


Si*H« 


Sil*  (€•»•)»  8fr«(€»lfl« 

g.  ,  (€2*4»)«  si«f^'***)' 


(€SM«€1) 
Si,«€18 

Sii^O» 
Sit«  (itö')^ 


(€SM«€1)3 
Si«  €113 

Si4(l40>}U 


Sit«  (€>iPO^s       Si«  («t|l»OS)<t 


.  o5  4{€«44»0«j« 
^^  ^^**  (Wo«)« 

Si,«(€2|«»0«)« 
«.«(€«M«0«)« 


Si4(^««0«)» 

*'  (€H»0«)« 

gj4(€«ipo«|« 
*^(€*J>0«)» 

Si«(€««*0«)« 

«(€«ll<0«)» 
**'  (€«»0«)» 


u^~ 


4)  Sil  -  44;Si  »  S4. 
^Q  iti8;8m  4«« 


316 


A.  Geotlier, 


I.   Specieller  Typus: 


Sil* 


#) 
IP 


oder  Si* 


M» 


»3 


Unbekannt : 

ü  abrannt : 
Aetherverbhidung : 
Triaethylsilictumoxyd: 

etc. 
Unbekannt : 
Aetberverbindung : 
S.  g.  Silicononylalkohoi: 

5.  g.  Essigs.  Silicononylalkohoi: 


6 


Siliciamhydrocbiorür: 

(Siliciumchlorür) 
(Siliciumchloroforme) 

Siliciumbromochlorür: 
Siliciumoxycblorür: 


Si4»« 


^H  (€2  «8  04)2 


si  4O* 

Si.4»0')' 


€1« 


Unbekannt : 

Aetberverbindung: 

S.g.TrichlorhydrinvomKieselsäureälher:  Sii4^^*^^^^ 

Siliciumhydrosülfochlortir:  S'i*'^'* 

(Siliciumcblorosulfh  drat) 
SiliciumbydrooxydfweissesOxydausChlorür):  Sh^^ 

Unbekannt :  S*»*qb* 

Sii*(g2U5Q2|6 
,  .(€««5)2 


Niedrigstes  Kieseisäurebydrat: 


Unbekannt i 

Aetberverbindung: 

&  g.  dreibasischer 
Kieselameisensftureäther: 

S.  g.  dreibasischer 
K  ie sei propion Säureäther: 

Unbekannt : 

Aetberverbindung : 

S.  g.  Monochlorhydrin 

vom  Kieselsäureäther: 

Mittleres  Kieselsäureh)  drat 

Aetberverbindung : 

6  od.  9  b9s.  Kiesel  Säureäther: 


Sil* 


Si  4€i* 


Sil* 


(€2«802j« 

€12 
€12 

(€2«ß02)« 


..02 


Sil* 


{H02) 


6 


Si4Ö« 

^*1  (€2«»02}« 


^ 


S**€l« 

^*  o» 

^*      0« 


Si* 


(H02)i 


^*  (€2||»0«)3 
^*  (€2H804)3 


SH 


H3 

€1« 


Si* 


Bl>3 

€1» 


si*^ 

^*  €1» 
^'€1« 


a 


ö»»  €1« 


SK 


Si* 


0« 

€13 
0» 


Si*(**^^* 
>»•   0« 


^'  («402)0 


Si* 
Si* 


»3 

(€2HSO2)0 

(€2Hfi)3 

(€2g502)ö 


Si*  ^*' 


€I3 

(€2H502)» 

03 


Si* 
Si*^ 


*•  ie«H»o«)» 


II.    Specieller  Typus: 


lieber  fll»€Mslitiitiiu  emiier  SUkiqiAierbittilttQgea  ete. 


»17 


Sil* 


M« 


Unbekannt : 
etc. 

Unbekannt : 

Aetber  Verbindung : 

S.  g.  Dicblorbydf in 
vom  K  ieselsfiureaiber 
etc. 


Sil* 


HA 

€1« 


oder   SH 
Si« 


MB 


si.4(»9^* 


Sil* 


»   €1* 


ei* 


Si4(**02;« 


Unbekannt : 

Aetberverbindung : 

9.  Prod.  aus  Monochlorbydrin  v.  Kieselstturetftber  ^.  ^(CSHA)« 

iinH  ZinkAPthvl  V  ^'<   (CS IIA 02. 4 


SI* 


und  Zinkaetbyl: 


Unbekannt : 


Unbekannt 


Si,* 


H* 
0* 


AetUerverbindung : 

Proil.  aus  d.  s.  g.  Kieselpropionsäuretither  und 

Kallhydral : 


Sli*(MO>)S 

e* 

Sii*(€2M6  0S|8 
0* 


HS 

Sl*(IIO«)3 

0« 

HS 

Si*{€24P02|a 

0« 


Diese  Zusammenstellung  und  Formulirang  zeigt,  wie  unnöthig  die  Annahme 
einer  Vertretung  des  KoblenstoflTs  durch  das  Silicium  oder  umgekehrt  bei  eiaiges 
dieser  Verbindungen  ist,  die  sich  alle  höchst  einfach  und  loh  denke  auch  natur- 
gemttss  in  einen  Typus  zasammenfassen  lassen.  Mit  der  Nothwcuüigkeit  der  An- 
nahme einer  solchen  Vertretung  fillt  aooh  ihre  Berechtigung,  da  Letztere  durch 
Nichts,  als  durch  den  Hinweis  auf  einige  Kohlenstoffverbind nngen ,  die  sich  den 
Körpern  hier  chemisch  analog  verhalten  sollen,  bis  jetst  begründet  wordan  ist. 

Dem  Typus  Sil* H»  oder  Si*His  gehört  aber  nicht  an  das  Silicon  Wöblbs's, 
für  das  ich  früher  i)  die  Zusammensetzung  SiSO,HO  »  Si*H>()*  wahrscheinlich  zu 
machen  gesucht  habe  und  welchen  Wöaler  neuerdings  die  Formel :  Sii^SH^O^  bei- 
legt >).  Die  erstere  Formel  wird  Sil  ■■  44  angenommen  zu  Sil  iSH*  OS.  Wllre  Wöa- 
Lza's  Formel  die  richtige,  so  würde  die  Verbindung,  von  welcher  das  Silicon  deri- 
virte  Siii^Hi*  Stii^Hi^  oder  SiilSH»  sein  können: 

Si,WHi4        Sii<SH»        Sil«» 


S««^S 


^^  Qi  14**^ 

Si,t«HOS       ^*»   (HO»)* 
0« 
Wäre  meine  Formel  die  richtige,  so  würde  das  Silicon  am  einfachsten  als  eio 

114 

AbkömmUngvonSiii^Ht^nämlichSii«^  betrachtet  werden  können. 

Beide  Annahmen  der  Zusammensetzung  fuhren  also  zu  Formeln  mit  4tSii  oder 
vvoun  man  die  mögliche  Division  mit  i  ausführt,  wenigstens  zu  solchen  mit  6  $i]. 
Da  in  den  oben  angeführten  Verbindungen  aber  4  Sii  ausreichen,  so  bliebe  für  das 
Silicon  nur  die  Annahme  Übrig,  es  sei  der  Abkömmling  eines  siliciumreicheren 


4)  Diese  Zeitschrift  Bd.  II.  p.  t47. 

2)  Grundrissd.  unorgan.  Chemie  44.  Aufl.  4868.  p.  4t4. 


3  i  8  A«  «Cjeattiet,  (Ub^r  4.  ComIH.  Bin.  iSilNteimil), 

und  wai9er8fcQffärmeren  «n^ll^icbt  mll  Sf^H^  boroologen  Kies^was^eretoffs  oder 
doch  das  isologe  Glied  eines  solchen. 

Ue^ersetzt  man  aber  flie  von  Wöblbi  aufgestditle  Formel  in  eine  solclie  mU 
Si  »  »I,  so  hat  man,  da  dii^HAQS  zu  Si«li3(H  wird : 

WöHLBR         GSÜTBia 

Silicon  St«li80«  Si^H^O« 
In  diesem  Falle  kommt  man  also  zu  Formeln  mit  4  Si  d.  h.  der  gleichen  Ancahl, 
wiei>ei  den  oben  angeführten  Verhindungen/und  zwar  wttre  dann  das  Silicon  ein 
Abkömmling  von  Si^lT  oder  Si^H^.  Der  letztere  KieselwasserstofT,  auf  welchen  zu- 
rück meine  Formel  filhrt  ift  aber  ein  Glied  der  isologen  Reihe  von  Si^M^^^  welche 
nach  äer  aus  der  Zusammensetzung  der  Verbindungen  abstrahirten  und  in  den  spe- 
ciellen  Typen  ausgedrückten  Art  der  WasserstoffdifTerenzirung  sich  offenbar  so 
formirt : 

Sil««»     oder  Si«»» 
Sil«»»  Si«li» 

Sii«ft«  SHH« 

Sii«IP  Si«<P 

allgemeiB :  Sii«ttSn.in.2      si«H8ii.m.8t) 

Wäre  diese  Bntwicklungsforro  der  isologen  Reihe  die  einzige^  so  könnte  das 
Silicon,  obwohl  es  als  ein  Derivat  von  Si«H®  erschiene  und  obwohl  dieser  Kiesel- 
WBssei«k)<r  ein  Glied  der  Isologen  Reihe  ist,  doch  kein  Abkömmling  von  Si^H^^  sein, 

weil  die  Differenzirung  des  Wasserstoffs  darin  nicht  nach  der  Form  Si^,  sondern 
j^urnach  der  Form  .$i«|^fl»ög|ioh  wlkne.,  di^.Silicoa  ab^r  der  ersteren  Form  ent- 
sprechen würde. 

Diese  Ycrhllltnisie  zusammengenommen  mit  derExIsieai  von  einigen SilleiiiiD- 
verbtndungeui  diegleiohfaMs  nicht  als  Abk#miiillttge4ieaer  isologen  Reihe  eraofael- 
nen,  wie«UiS'kr>sl.SilioiiiiiimagnefittmHg(€iSS)  und  .das  daraus  entstehende  weisse 
Oxyd :  Si^Wfi-  ^  UMsen  an  die  Bttlslenz  «z  w  eie  r  fintwtokkingsiiermen,  zweier  iso* 
logen  'Reüwn  >denrken«  Die  zweite,  nor  bei  8i « «ftt  mttgliolie  form  wttre : 

SiMP« 

Si«H8 
Si««« 
SHM« 

allgemei»:  ^(H^n-mtS 
Beiden  Reihen  ist  aviper  I9i«iii3<||ttr  poch  dfs  Glied  Si«ii6  gemeinschaaiicb. 
Von  diesem  Glied  dieser  1,. Reihe  wür^  dann  dasjSillcen,  wenn  seine  Zusammen- 
setzung durch  Si«tt20«<aiisgedrückt'«aM,  deriviraft.  Desgleichen  würde  das  aus 

US 

^em  Siliciunwnf^nesium  h^rvorgetiende  O^yd  in  diese  Reihe  gehören  Si«IJ^und  das 

Siliciummagnesium  selbst  3i^Mg^?f  ^ttbrend  4as  SiliciumcAlQinm,  aus  dem  das  Si- 
licon sich  bildet:  Si«Ca3  oderSii«Ca>  der  ersteren  isologen  Reihe  angehören  würde. 
Ausser  dem  von  Fsibdel  und  Ladsnbuso  durch  die  Einwirkung  von  Natrium 
auf  den  sog.  dretbas    Kieselameisensanretfther  erhaltenen  Stlleium Wasserstoff: 


tu  i«<n  nnm  II  mii 


4)  Vergl.  diese  Zeitschr.  Bd.  t.  p.  494. 

5)  Ebend.  Bd.  11.  p.  108. 
S)  Ebend.  p.  141. 


r 


Aouige.  J  319 


Sii«li8  oder  SHIiV,  welcher  in  reinem  Mbünde  an  der  Luft  sich  nicht  selbst  ent- 
xttodet,  eiistirt,  wie  ich  früher  w^lirscheinlich  gemacht  habe,  noch  ein  zweiter  im 
freien  Zastande  von  der  Zqiibmmensetzung :  Sii*M*  oder  Si^iP,  der  sich  bei  der 
Zersetzung  des  Siliciummagnesiams  |>ildeti). 

Dem  oben  Mitgetbeiftten  zufolge  würde  Si  ■-  i1,  das  Normalhydrat  der  Kiesel- 
saure Si«0i2,  IS  HO,  die  Kieselsäure  also  eine  K%  basische  Säure  sein  Ob  diese 
Form  alle  Silicate  umfassen  kann,  wird  einer  näheren  Prüfung  |)edürfen. 


4)  Vergl.  diese  Zeitschr.  Bd.  II.  p.  S18. 


A  n  8  6  i  g  6, 

VonViacHow's  Handbuch  der  specteilen  Pathologie  und  The- 
rapie ist  in  t.  Auflage  auch  die  S.  Abtheilung  des  S.Bandes  erschienen, 
die  Kranicheiten  des  Herzensvon  Prof.  Priedrkicb  und  die  Kranlc- 
heiten  der  Blut-  und  Lymphgefässe  von  Prof.  Lbbzrt.  Fribdrbich  hat 
mit  genauer  Berüclisichtigung  der  zahlreichen  Arbeiten,  die  auf  dem  von  ihm  be- 
handelten Gebiete  seit  der  ersten  Auflage  publicirt  wurden ,  diese  S.  Auflage  er- 
gänzt und  vermehrt.  Irgend  erhebliche  Aenderungen  in  den  Anschauungen  des 
Verfassers  und  in  der  ganzen  Darstellung  sind  nicht  eingetreten. 

Eine  vollständige  Umarbeitung  hat  die  zweite  Hälfte  des  Bandes  erfahren  und 
zwar  sind  es  specieller  die  Krankheiten  der  Blutgefässe ,  deren  Darstellung  das 
Doppelte  des  Raums  der  ersten  Auflage  einnimmt.  Lbbbit  hat  zum  Theil  nach 
geinen  eigenen  monographischen  Arbeiten  die  früher  etwas  knrz  dargestellten  Aneu- 
rysmen besonders  ausftthrlich  dargestellt.  Auch  die  Beschreibung  der  Erkran- 
kungen der  Venen  hat  nicht  unwesentliche  Erweiterungen  und  Umänderungen  er- 
fahren. So  dankenswerth  nun  auch  das  Bestreben  des  Verfassers  ist,  seine  Dar- 
stellung zu  einer  möglichst  vollständigen  zu  machen,  so  lässt  sich  doch  kaum 
verkennen,  dass  seine  Bearbeitung  die  Grenzen,  innerhalb  deren  das  Gesammtwerk 
angelegt  ist,  erheblich  überschreitet.  Bei  sachgemässem  Zusammenfassen,  prä- 
ciserer  Darstellung  und  Meidung  mannichfach er  Wiederholungen  wäre  es  unsersBr- 
achtens  nach  möglich  gewesen  unbeschadet  der  Klarheit  und  AusfllhrlichkBit  auf 

viel  geringerem  Räume  das  Gleiche  zu  leisten. 

Seidel. 


^ 


"\ 


I 


,{ 


Jenahcha  Zeitschrift 


V 


\ 


\ 


f 

{ 

p 


^..>^ 


-f. 


UV. 


Pi|.16 


> 


r 


lieber  die  FlinnerbewegaHg. 

■ 

Von 

Th.  W.  Engelmann 


in  Utrecht. 
Mit  Tafelt. 


Einleitung. 

Pie  Bedingungen  zu  untersuchen,  unter  welchen  die  Flinimer- 
bewegung  zu  Stande  kommt,  und  die  Veränderungen  zu  ermitteln, 
welche  dieselbe  bei  Aenderung  dieser  Bedingungen  erleidet,  war  die 
Aufgabe  der  folgenden  Arbeit.  Es  war  wttnschenswerth,  diese  Aufgabe 
in  möglichst  weitem  Umfang  anzufassen.  In  der  letzten  Zeit  hat  sich 
die  Ansicht  immer  mehr  befestigt,  dass  alle  die  sogenannten  Contracti- 
littftserseheinungen,  unter  ihnen  auch  die  Flimmerbewegung,  im  We- 
sentlichen unter  gleichen  Bedingungen  stattfinden,  alle  im  Wesentlichen 
durch  dieselben  Einflüsse  begünstigt,  durch  dieselben  Einflüsse  ge- 
hemmt werden.  Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  vorausgesetzt,  bot  sich 
somit  die  Aussicht,  durch  möglichst  genaue  Ermittelung  dieser  Bedin- 
gungen für  eine  der  genannten  Erscheinungen,  auch  auf  die  andern 
einiges  Licht  zu  werfen.  Zur  Lösung  dieser  Aufgabe  schien  nun  die 
Flimmerbewegung  vor  allen  verwandten  Bewegungen  geeignet,  weil 
sie  in  der  Weite  der  Excursionen ,  in  der  Frequenz ,  mit  welcher  die 
Schwingungen  der  Flimmerhaare  erfolgen,  und  in  den  mechanischen 
Leistungen  der  thtttigen  Flimmerhaare  messbare  Grössen  an  die  Hand 
giebt.  Die  Amplitude  der  Schwingungen  lässt  sich  unter  dem  Mikroskop 
messen,  die  Schwingungen  lassen  sich  zählen.  Der  Grad  der  Beschleu- 
nigung oder  der  Verlangsamung  der  Flüssigkeitsströmung  an  der  flim- 
mernden Oberfläche  kann  wenigstens  in  den  meisten  Fällen  in  Zahlen 
ausgedillckt  werden.  Dieser  Vortheil,  zusammengehalten  mit  dem  re- 
gelmässigen Rhythmus  der  Bewegungen  ,*  welcher  dem  Auge  verhält- 
nissmässig  feine  Aenderuogen  der  Bewegung  im  Mikroskop  zu  bemer- 
ken gestattet,  ist  nicht  hoch  genug  zu  schätzen,  wenn  mau  weiss,  wie 
schwierig  es  ist,  bei  andern  ^Bewegungen,  z.  B.  denen  des  Protoplasmäi' 

Bd.  IV.  3.  14 


h^. 


322  Th.  V.  EogelinaDn, 

zu  entscheiden,  ob  eine  kleine  B^Ateunigung  oder  Yerlangsamung 
vorhanden,  und  wenn  sie  vorhanden,  ol^sie  dem  Einfluss  des  ange- 
wandten Agens  zuzuschreiben  sei  oder  noch  mtk  Bereich  der  normalen 
Schwankungen  falle. 

Trotz  dieser  Umstände  nun,  welche  die  Flimmetbewegung  als  ein 
so  besonders  günstiges  Untersuchungsobject  erscheinen  lassen  und  trotz 
des  Umstandes ,  dass  das  Phänomen  dieser  Bewegung  nun  schon  s^t 
langen  Jahren  bekannt  ist,  kann  man  doch  nicht  sagen ,  dass  lOil  der 
Lösung  unserer  Aufgabe  bisher  viel  mehr  als  der  Anfang  gemacht  wor- 
den sei.   —   In  der  bekannten  Schrift  von  Purkinje  und  Valentw^j, 
welche  sich   besonders  über  das  Vorkommen  der  Flimmerbewegung 
sehr  ausführlich  verbreitet,    findet  man  eine  Aufzählung  von  vielen 
Stoffen,  von  denen  angegeben  wird,  in  welcher  Verdünnung  sie  noch 
schädlich  auf  die  Flimmerbewegnng  wirken.   Diese  Angaben  sind  in- 
dess  ziemlich  unbrauchbar,  da  die  Abstufung  der  Concentrationsgrade 
eine  sehr  rohe  war:   es  ist  nur  von  10-,  100-,  lOOOfacher  Verdünnung 
u.  s.  f.  die  Rede.    Es  gelten  femer  alle  Angaben  nur  für  Flimmerbaare 
von  Unio  und  Anodonta.    Die  Verfasser  beschränken  sich  auf  diese 
Muscheln,  weil  sie  in  der  auch  jetzt  noch  hie  und  da  auftauchenden 
irrthümlichen  Meinung  befangen  waren,  dass  es  für  solche  Versuche 
gleichgültig  sei,  ob  man  das  Flimmerepithel  von  der  Schleimhaut  eines 
V^irbelthieres  oder  von  den  Kiemen  einer  Muschel  oder  sonst  woher 
nehme.   Sie  hätten  überlegen  sollen,  dass  die  Bewegung  von  Flimmer- 
haaren,   von  denen  die  Einen  während  des  Lebens  von  alkalischer 
Feuchtigkeit;  andere,  wie  die  der  SüsswassermoUusken ,  von  beinahe 
reinem  Wasser ,  wieder  andere  —  die  von  Seethieren  —  von  starker 
Kochsalzlösung  umspült  werden ,  sie  hätten  überlegen  sollen ,  dass  die 
Bewegungen  dieser  verschiedenen  Arten  von  Flimmerhaaren  nicht  in 
allen  Fällen  durch  dieselben  Einflüsse  in  derselben  Weise  verändert 
werden  können.  So  erwähnt  denn  auch  schon  Valenthi  2)  selbst,  dass  das 
Blut  von  Wirbelthieren,  welches  »das  beste  Erhaltungsmittel  der  Flim- 
>)merbewegung  der  gleichartigen  Geschöpfe  sei«,   auf  die  Flimmer- 
bewegung von  Muscheln  vernichtend  wirke. 

Aus  den  Angaben  von  Purkinje  und  VALBifTiif  verdient  ferner  Er-  " 
wähnung,  dass  die  verlangsamte  Flimmerbewegung  durch  mechanische 
Erschütterung  verstärkt  werden  könne,  eine  Thatsache,  die  schon  im 


4)  PuBKiNjR  et  VALENtiN,  De  phaenoioeDo  generali  et  fondameniali  motus  vibra- 
torii.  Wratislaviae  1835.  —  VaUntin  ,  Artikel  Füinmerbewegung  in  R.  W.  H.  I. 
pag.  484—516*   184i. 

2)  a.  a.  0.  p.  512. 


iMvegnn^ 


Deber  die  PlunnMvegQnf;.  323 

Anfang  dieses  Jahrhunderts  vf«>6TEmBUGH  ^)  beobachtet  worden  ist. 
Dass  bei  höheren  Warmej^iiaiten  die  Bewegung  erlischt,  erwähnen 'die 
genannten  Forscher  glqi^falls.  Sie  konnten  Flimmerhäute  von  Säuge- 
thieren  und  Vögel«  »ohne  Störung  des  Phänomens a  momentan  in  Was- 
ser von  Si^  Celsius  tauchen.  »Kiemenstücke  von  Unio  konnten  ohne 
»Nachtheil  eine  halbe  bis  zwei  Minuten  in  Wasser  von  44^  bis  44  <^  Gel- 
»sius  gehalten  werden.«  Zwischen  6^  bis  12^  Celsius  soll  die  Bewe- 
gung bei  warmblütigen  Thieren  in  der  Begel  aufhören ;  vor  Kälte  er- 
starrte Frösche  und  eingefrorene  Muscheln  sollen  dagegen  »das  Phä- 
»nomen  ungestört  bewahren.«  Ein  vor  Kälte  erstarrtes  Flimmerepithe- 
lium  könne  in  der  Begel  durch  Wiedererwärmung  nicht  wieder  zum 
Leben  gebracht  werden.  —  Leiteten  Purkinje  und  ViULSNUN  mit  Hülfe 
einer  Leydener  Flasche  starke  elektrische  Schläge  durch  eine  Muschel, 
so  ward  die  Plimmerbewegung  nicht  im  Geringsten  verändert.  —  »Der 
Galvanismus  hat«  nach  ihnen  »nur  in  so  fern  Effect,  alis  er  mit  ther- 
»mischen  und  elektrolytischen  Wirkungen  verknüpft  ist 2].«  Schliess- 
lich erwähnen  die  Verfasser  noch,  dass  es  nicht  gelinge,  die  Flimmer- 
bewegung wieder  zu  erregen,  wenn  sie  einmal  vollständig  durch  Ein- 
trocknen^ Kälte,  chemische  Beagentien  zur  Buhe  gebracht  worden  sei. 
Bald  nach  der  Arbeit  von  Purkinje  und  Valentin  erschien  der  erste 
Band  von  Todd's  Cyclopaedia  of  Anatomy  and  Physiology,  für  welchen 
SüARPET^]  den  Artikel  Cilia  bearbeitet  hatte.  Ein  Abschnitt^)  dieses 
Artikels  ist  den  Einflüssen  äusserer  Agentien  auf  die  Flimmerbewe- 
gung gewidmet.  Im  Allgemeinen  werden  Purkinje^s  und  Valbntin^s  Er- 
fahrungen bestätigt,  insbesondere  was  den  Einfluss  der  Spannungs- 
elektricität  und  des  galvanischen  Stromes  angeht.  Erwähnung  verdient 
aber,  dass  Sharpby  ausdrücklich  auf  den  Unterschied  aufmerksam 
macht,  welchen  dieselben  Substanzen  in  ihrer  Wirkung  auf  Flimmer- 
haare von  verschiedenen  Thieren  zeigen.  Er  beobachtete  beispiels- 
weise, dass  süsses  Wasser  augenblicklich  die  Bewegung  bei  Seewasser- 
mollusken aufhob,  dass  schwache  Lösung  von  salzsaurem  Morphium 
wohl  die  Bewegung  bei  der  Plussmuschel,  nicht  aber  bei  Froschlarven 
vernichtete,  dass  Blut  von  Wirbelthieren  sogleich  die  Flimmerbewe* 
gung  der  Wirbellosen  hemmte.  Von  der  Beschleunigung  durch  mecha- 
nische Erschütterung  bemerkt  er,  ob  sie  nicht  vielmehr  auf  Wegräu- 


4)  StbinbücHi  Analekten  neuer  Beobachtongen  u.  ÜntersuchtiDgen  zur  Natur- 
kunde. Fürth,  4802. 

2)  Valentin,  a.  a.  0.  544. 

8)  Sbaxpet,  Art.  Cilla  hi:  Tonn,  Cyclop.  of  Anat.  and  Physiol.  Vo!.  1.  4885  — 
M.  pag.  006  —  638. 

4}  a.  a.  0.  pag.  684. 

«4* 


324  Tb.  m  Kngflnianu, 


mung  eines  Hindernisses,  als  auf  iamrAor  Reizung  beruhe.  Endlich 
erwähnt  er,  dass  das  Flimmerphänomen  Tm(^den  Riemen  von  Frosch- 
larven ungehindert  fortbestehe  in  ausgekochteitL,  in  destillirtem  und  in 
kohlensäurehaltigem  Wasser. 

Die  nächste  wichtige  Bereicherung  erfuhr  die  Lekfc  von  der  Fliro- 
merbewegung  durch  die  Entdeckung  des  Einflusses  von  Kali  und  Na- 
tron durch  YiacHOw*).  Dieser  fand  bei  Untersuchung  einer  Menschli- 
chen Trachea,  dass  diese  beiden  Stoffe  die  zur  Ruhe  gekommene' FliAi— 
merbewegung  wieder  erwecken  können.  Als  er  zu  einem  Objecto ,  an 
dem  die  anfangs  sehr  lebhafte  Bewegung  zum  Theil  nachgelassen  hatte^, 
zum  Thei]  sehr  schwach  geworden  war,  Kalilauge  hinzufügte,  sah  er 
»an  allen  Stellen  die  Bewegung  sich  wieder  beleben  und  so  lange  an- 
ndauern, bis  eine  Zerstörung  der  Theile  selbst  durch  (Korrosion  eintrat.« 
Ebenso  wie  das  Kali  verhält  sich  nach  Yirchow  das  Natron;  Ammoniak 
soll  dagegen  die  Bewegung  sofort  zum  Stillstand  bringen.  Letzteres 
stimmte  mit  der  älteren  Beobachtung  von  Purkinje  und  Valentin  über- 
ein,  welche  fanden,  dass  kaustisches  Ammoniak  noch  in  1000-facher 
Verdünnung  die  Bewegungen  hemmte.  —  Zwei  Jahre  später  theilte 
KöLLWBR^)  im  Anhang  zu  einer  umfassenden  Untersuchung  über  die 
Sainenflüssigkeit  einige  Beobachtungen  über  Flimmerbewegung  mit. 
Er  fand,  dass  die  Flimmern  der  Froschzunge  »in  NaCl  von  1%  und 
»2NaO,  HO,  PO5  von  5%  und  10%  in  lebendigster  Action  bleiben, 
»dass  dagegen  NaCl  von  5%  i^i*^  Bewegung  aufhebt,  welche  jedoch 
»durch  nachherige'n  Zusatz  von  Wasser  wiederkommt.«  Aehnliches 
fand  er  für  die  Bewegungen  von  Opalina  und  von  der  kleinen  Flagellate 
aus  dem  Mastdarm  der  Frösche.  — ^ 

So  waren  erst  wenige  Mittel  gefunden,  welche  die  erschlaffte  Be- 
wegung wieder  zu  beleben  im  Stande  waren.  Dass  man  denselben 
Effect  durch  Temperatursteigerung  erreichen  könne,  ward  bald  darauf 
durch  GALUBURCfes  ^) ,  einen  Schüler  Claude  Bernard^s  gezeigt.  Derselbe 
construirte  einen  Apparat ,  welcher  aus  einem  oben  durch  einen  Me- 
talldeckel  verschlossenen  Glasgefäss  bestand,  in  welchem  auf  einer  in 
verticaler  Richtung  verstellbaren  Platte  die  Rachenschleimhaut  eines 
Frosches  horizontal  ausgespannt  war.  Durch  Verstellung  einer  Schraube 


4)  ViRCHOW,  üebcr  die  Erregbarkeit  der  FUmmerzcIlen.  In:  Arch.  f.  path. 
Anat.  Bd.  ^11^854.  pag.  183. 

2)  Kölliker/  Pbysiol.  Studien  über  die  Samenflüssigkeit.  Ztschr.  f.  wiss.  Zool. 
4856.  Bd.  VII.  pag.  i54. 

3)  J.  Callibürc^s,  Recberches  exp^rim.  sui*  l'influence  exerc^e  par  la  chaleur 
sur  les  manifestations  de  la  contractilitä  des  organes.  In :  Compt.  rend.  Vol.  XLXII. 
4858.  pag.  838. 


Ueber  dif»  FlimmAM^uK.  325 

konnte  die*  Platte  mit  der  RnchenscMeimbaut  so  eingestellt  werden, 
dass  letztere  mit  einem  sehr  dtftaniii  horizontal  gelagerten  Glascylinder, 
dessen  Axe  ein  feiner Mluminiumdraht  bildete,  in  Berührung  kam. 
Durch  die  ThMtigHurtTder  Flimmerhaare  ward  das  Glascylinderchen  in 
Umdrehung  yers^zt.  An  dem  einen  Ende  des  die  Axe  des  Glascylin- 
derchens  bildenden  Aluminiumdrahtes,  welches  eine  der  Wände  des 
Glasgefitss^9~durchbohrte,  war  ein  dünner  Glasfaden  befestigt,  welcher 
äUb  ails  Zeiger  über  eine  aussen  auf  dem  Glasgefass  eingeritzte  Kreis- 
theilung  hinbewegte.  Die  Bewegungen  des  Glascylinderchen  im  Innern 
der  Flasche  konnten  somit  aussen  in  vergrössertem  Maassstabe  abgele- 
sen und  gemessen  werden.  Aus  Versuchen,  die  Callibubc^s  an  52 
Schleimhäuten  anstellte,  ging  nun  hervor,  dass  bei  einer  Temperatur 
von  280  C.  die  Bewegung  des  Zeigers  im  Mittel  etwa  sechs  Mal  schnel- 
ler war,  als  bei  einer  Teihperatur  von  42®bis  49<^C.  —  Bbrnabd^); 
der  diese  Beobachtungen  erwähnt,  fügt  hinzu,  dass  die  Intensität  der 
Bewegung  »va  en  augmentant  jusqu^a  HO  ou  ()0  degr^s,  point  ä  partir 
y>duquel  le  mouvement  commence  h  diminuer,  pour  cesser  complöte- 
»ment  ä  80  degr^s.«  — 

In  den  im  Sommer  186i  von  Claude  Bbbnabb  gehaltenen  Vorle- 
sungen über  die  Eigenschaften  der  lebenden  Gewebe,  worin  die  Flim<^ 
Mierbewegung  ausführlich  behandelt  wird,  finden  sich  einige  bemer- 
kenswerthe  Beobachtungen  mitgetheiH.  Bringt  man,  nachBBBNABD,  den 
Oesophagus  eines  Frosches  unter  eine  Glocke,  unter  welcher  ein  mit 
Aether  getränkter  Schwamm  liegt,  so  sieht  man  bald  die  Bewegung 
vollständig  aufhören,  nach  dem  Abheben  der  Glocke  aber  sogleich  wie- 
der beginnen.  Bbbnabd  bestätigt  den  wiederbelebenden  Einfluss  der 
Alkalien  und  fügt  die  interessante  Thatsache  bei,  dass  auch  der  durch 
Säuren  herbeigeführte  Stillstand  durch  Alkalien  aufgehoben  werden 
kttnne.  Die  Gase  sollen  gar  keinen  Einfluss  ausüben,  wovon  man  sich 
leicht  tf>erzeugen  kOnne,  wenn  man  nach  einander  den  Oesophagus 
eines  Frosches  in  den  luftleeren  Raum,  in  Kohlensäure,  in  Sauerstoff, 
in  Stickstoff  und  in  die  andern  Gase  bringe :  die  Flimmerbewegung 
bestehe  darin  genau  so  fort  wie  in  atmosphärischer  Luft. 

lieber  den  Einfluss  der  Elektricität  wurden  im  Jahre  1 865  neue 
Untersuchungen  durch  Kistiakowskt^)  im  Grazer  physiologischen  Labo- 
ratorium angestellt.   Derselbe  mass  die  Stärke  der  Flimroerbewegung, 


4;  (Claude  Bernard,  Legons  sur  les  propri(^(es  des  tissus  vivants.  Paris  1866. 
p.  146. 

T  KisTiAKOwsiY .  Ueber  die  Wirkung  des  conslanten  und  Indnctionsstromes 
auf  die  Flimmerbe^egung.   In:  Wiener  Sitzungsber.  Bd.  LI.  1865.  pag.  968 — 279. 


326  TMiL  Engelmann, 

indem  er  die  Geschwindigkeit  eines  durch  die  Bewegung  der  Härdien 
über  die  Rachenschleimhaut  des  Fro«^'^  geführten  Signals  bestimmte. 
Das  Signal  bestand  aus  einem  kleinen  an  einelli  Goconfaden  hangenden 
Siegellacktropfen.  Die  Geschwindigkeit  der  Aswii^ung  des  Signals 
ward  durch  die  Schläge  eines  Pendels  gemessen.  Die  n^it  Humor  aqueus 
eben  bedeckte  Raohenschleimhaut  wurde  in  einem  flaciien  viereckigen 
Glastroge  der  Länge  nach  ausgespannt  zwischen  zwei  obenmnd  unten 
durch  Blasenstücke  geschlossenen  und  mit  Hühnereiweiss  gefüUteti 
Glasröhren.  Diese  tauchten  mit  ihren  unteren  Enden  in  mit  Zinkvitriol 
gefüllte  Gefässe,  aus  welchen  Elektroden  von  amalgamirtem  Zink  zur 
Kette  führten.  Bei  Anwendung  eines  Constanten  Stromes  von  6  Chrom- 
säure-Kohle-Elementen  erhielt  nun  Kistukowskt  folgende  Resultate. 
Bei  geschlossener  Kette  bewegte  sich  das  Signal  schneller  als  bei  geöff- 
neter, zuweilen  um  das  Zwei-  bis  Dreifache.  Nach  Oeffnüng  des  Stro- 
mes zeigte  sich  eine  allmählich  verschwindende  Nachwirkung:  die 
Geschwindigkeit  des  Signals  nahm  allmählich  wieder  ab ,  so  dass  nach 
einigen  Hinuten  die  anfängliche  Schnelligkeit  ungeföhr  wieder  erreicht 
war.  In  den  meisten  Fällen  verminderte  sich  die  Schnelligkeit  des 
Signals  allmählich  in  den  späteren  an  ein  und  derselben  Membran  an- 
gestellten Versuchen  (»Ermüdung«  Kistukowskt).  Ein  Einfluss  der 
Stromesrichtung  war  nicht  wahrzunehmen.  »Dagegen  zeigte  es  sidi  in 
»Versuchen,  die,'  unmittelbar  auf  einander  folgend,  mit  derselben  Stro- 
»mesriohtung  angestellt  wurden,  dass  die  anfängliche  Beschleunigung 
»allmählich  abnimmt;  wird  dann  umgelegt,  so  tritt  mandimal  eine 
»neue  Beschleunigung  ein,  die  wieder  allmählich  abnimmt,  ein  neues 
»Wenden  des  Stromes  beschleunigt  dann  wieder  u.  s.  f.a  Doch  soll  die 
Beschleunigung  beim  Umlegen  des  Stromes  oft  sehr  gering  sein,  oft 
auch  ganz  fehlen.  —  Der  Einfluss  von  Inductionsschlägen  eines  du  Bois- 
schen  Schlittenapparates  (ohne  HsLMHOLTz'sche  Abänderung)  bestand 
ebenfalls  iu  Beschleunigung  der  Bewegung  des  Signals ;  in  d^i  ange- 
führten Versuchen  erreichte  die  Schnelligkeit  der  Bewegung  während 
des  Einflusses  der  Inductionsströme  zuweilen  die  dreifache,  ja  fünf- 
fache Höhe.  Eine  deutliche  Nachwirkung  war  vorhanden.  —  Für 
die  Beobachtung  des  Einflusses  elektrischer  Ströme  unter  dem  Mikro- 
skop giebt  Kistukowskt  einen  Objectträger  mit  unpolarisirberen  Elek- 
troden an  und  erwähnt,  dass  es  auch  hier  gelinge,  »eine  sichtliche  und 
»nicht  zu  verkennende  Beschleunigung  an  Präparaten,  deren  selbstän- 
»dige  Bewegung  sich  nach  längerem  Liegen  in  Humor  aqueus  bedeu- 
»tend  verlangsamt  hata,  wahrzunehmen.  —  Kistukowskt  zieht  aus 
diesen  Beobachtungen  den  Schluss,  dass  der  constante  wie  der  In- 
ductionsstrom  eben  so  wie  die  Wärme  und  wie  Kali  und  Natron  erre- 


Ueber  die  FUnmerbfj^cfMi-*  327 

gead  auf  die  FlimmerbewegUDg  wirken.  Ob  dieser  Einfluss  der  Elektri- 
ciUii  nicht  vielleicht  auf  Erw^Maung  des  einen  starkeq  Widerstand 
bietenden  PrSIparates  zu  setzen  sei,  wird  nicht  in  Erwägung  gezogen. 
Die  näohsle  aiJ|,MHMeren  Gegenstand  bezügliche  Arbeit  ward  von 
M.  Roth  geiieferU    Nachdem  derselbe  in  einer  kurzen  Mittheilung  >) 
darauf  aofinerksam  gemacht  hatte,  dass  alle  »protoplasmaartigen  Be- 
wegungsersol^pinungena  (Protoplasma-,  Flimmer-,  und  Spermabewe- 
'^(uikg)  in  schwach  alkalischen,  niemals  in  sauren  Flüssigkeiten  statt- 
finden, wendet  er  sich  in  einem  zweiten  Artikel  ^)  der  Flimmerbewe- 
gung  speciell  zu.   Er  beobachtete  vorzugsweise  Flimmerzellen  aus  den 
Eileitern  von  FrOschen  und  von  den  Kiemen  von  Anoden ta.   Letztere 
wurden  in  Wasser,  erstere  in  lodserum,   Kochsalz  von  0,5%  oder 
phosphorsaurem  Natron  von  2%  bis  S,5%  untersucht.    Roth  bestä- 
tigte den  beschleunigenden  Einfluss  der  Wärme.    Er  findet  die  obere 
Temperaturgrenze  für  die.  Bewegung  der  Flimmerzellen  des  Frosches 
bei  440  bis  45<>  C.  Nur  kurze  Zeit  auf  diese  Temperatur  erwärmt,  kto- 
nen  die  Flimmerzellen  beim  Abkühlen  wieder  erwachen;  bei  längerer 
Einwirkung  tritt  Tod  ein.  Dieser  erfolgt  meist  erst  bei  48^,  »unter  un- 
günstigen Bedingungen«  aber  schon  früher.    Aehnliches  gilt  für  die 
Flimmerzellen  von  Anodonta  und  vom  Kaninchen.  —  Die  Erfahrungen 
von  PoRUNiB  und  VALENTiif ,  über  den  Einfluss  niederer  Temperatur- 
grade, werden  bestätigt.    Bei  Zellen  von  Anodonta  konnte  die  Bewe- 
gung noch  nach  kurz  dauernder  Abkühlung  auf  ^3^  bis  — -i^^C.  wieder 
erweckt  werden.    »Bei  —  6^  G.  war  immer  Tod  eingetreten.«  —  Roth 
fand  femer,  dass  durch  Aenderung  der  Gonoentration  des  Mediums 
eine  zur  Ruhe  gekommene  Bewegung  wieder  hergestellt  werden  könne. 
War  die  Flimmerung  (beim  Frosch)   durch  Kochsalz  von  i%  abge- 
schwächt, so  erschien  sie  beim  Verdrängen  mit  Kochsalz  von  0,5% 
wieder  in  der  alten  Lebhaftigkeit.    Nachdem  Roth  noch  den  günstigen 
Einfluss  der  Alkalien,   den  schädlichen  der  Säuren  und  Metallsalze  be- 
stätigt hat,   gedenkt  er  schliesslich  noch  der  Wirkung  mechanischer 
Reize.   Er  konnte  die  stillstehende  Bewegung  durch  Klopfen  auf  das 
Deckgläschen ,  durch  mehrmaliges  Lüften  desselben,  am  besten  aber 
durdi  einen  Flüssigkeitsstrom  (von  derselben  Gonoentration)   wieder 
erwecken,  den  er  unter  dem  Deckglase  durchgehen  Uess.    Diese  Ver- 
suche reichen  für  Roth  aus,  eine  »mechanische  Reizbarkeit«  der  Flim- 
merhaare zu  beweisen.  •' 


4)  Roth,  Ueber  die  ReActionen  der  Gewebe  mit  protoplasmaartigen  Bewe- 
gungserscheinungen.  Virchow's  Arch.  Bd.  XXXYI.  4866,  p.  445  —  447. 

t)  Roth,  Deber  einige  Beziebuogen  des  Flimmerepithels  zum  contractilen  Pro- 
toplasma. Ib.  Bd.  XXXVU.  pag.  4S4  — 495. 


328  — Wk.W.  Bngelmann, 

Fast  gleichzeitig  mit  der  RoTn'scben  Arbeit  erschien  ein  Aubatz 
von  KüBNE^),  in  welchem  der  wichtiga  Nachweis  geliefert  wurde,  dass 
die  Flimmerzellen  zu  ihrer  Thatigkeit  Sauet^toff  bedürfen.    Verdrängte 
KüHNB,  der  an  Flimmerzellen  von  Anodonta  exptrifpentirte ,  die  atmo- 
sphärische Luft  in  der  feuchten  Kammer  durch  reinen  Wasserstoff,  so 
hörte  die  Bewegung  nach  einiger  Zeit  auf,  um,  bei  Zumischung  sclKm 
äusserst  geringer  Sauerstoffmengen,  sofort  wieder  zu  heginnen.  Kühüb 
überzeugte  sich  mittelst  des  Spectroskops  bei  Flimmerzellen-yi  die^jir 
Hämoglobinlösung  lagen,  dass  der  Stillstand  erst  dann  eintrat,  wenn 
aller  Sauerstoff  verschwunden  war.   Auf  demselben  Wege  überzeugte 
er  sich,  dass  die  Flimmerzellen  der  Muschel  nicht  bloss  der  Luft,  son- 
dern auch  dem  Oxyhämoglobin  den  Sauerstoff  entziehen  können.  — 
Kohlensäure  bewirkte,  selbst  wenn  sie  in  nur  sehr  kleinen  Mengen 
einem  sauerstoffhaltigen  Gasgemisch  beigemengt  war,  sofort  Stillstand, 
der   durch   reine  atmosphärische   Luft    aufgehoben   werden   konnte. 
Brachte  Kühnb  die  Bewegung  durch  Dämpfe  von  kohlensaurem  Ammo- 
niak zur  Ruhe,  so  konnte  er  sie  durch  Essigsäuredämpfe  wieder  er^ 
wecken  und  umgekehrt  den  Säurestillstand  durch  Ammoniak  aufhe- 
ben.   Merkwürdigerweise  gelang  es  ihm  aber  nie,  einen  Ammoniak- 
Stillstand  durch  Kohlensäure  zu  beseitigen,  woraus  er  auf  eine  specifisch 
schädliche  Wirkung  der  Kohlensäure  schliesst.    Von  Kohlenoxyd  sah 
Kühne  keine  Wirkung. 

Eine  kurze  Erwähnung  verdient  die  Beobachtung  von  HuiziifGA^), 
dass  Ozon  erst  beschleunigend,  dann  hemmend  auf  die  Flimmerbewe- 
gung von  Opalina  ranarum  wirke;  femer  die  vor  Kurzem  erschienene 
Arbeit  von  A.  Stuart  3),  worin  in  Bezug  auf  Temperatur  die  Erfah- 
rungen von  Purkinje  und  Valentin,  und  von  CaluburgI(9,  in  Bezug  auf 
Elektricität  die  von  Kistiakowsky,  ebenso  der  von  Virchow  entdeckte 
Einfluss  der  Alkalien,  die  schädliche  Wirkung  der  Säuren,  endlich  der 
schon  von  Purkinje  und  Valentin  und  unlängst  von  Roth  beobachtete 
Einfluss  verschieden  concentrirter  Lösungen  von  chemisch  indifferen- 
ten Substanzen  bestätigt  werden. 

Meine  eigenen  Versuche  wurden  Ende  März  4867  begonnen.  Ein 
Theil  der  Resultate,  zu  weichen  ich  bis  Mitte  Juni  gelangt  war,  findet 


i)  W.  Kühne,  lieber  den  Einfluss  der  Gase  auf  die  FUmmerbewegung.  Arch. 
f.  mikr.  Anat.  1866.  U,  p.  872  —  878. 

2)  HuifeiNGA,  Chemisch^biologische  Notizen  über  Ozon.  Centralbl.  f.  d.  med. 
V^iss.   4867.  pag.  823. 

8]  Alex.  Stuart,  Ueber  die  Flimmerbewegung.  Diss.  inaug.  Porpat4867.  — 
S.  a.  Ztschr.  f.  rat.  Med.  4867. 


r 

lieber  dt«  riiinnerbew«i«l||F,  ;)29 

^ch  pubticirt  in  einer  vdrlfiußgen  Mitibeilung  ^)  und  .ausführlich  im 
Archiv  von  Doicdbr»  und  Ko8tbrj^7-  Die*  Versuche  waren  meist  an  Flini- 
meneNen  der  Radienschlwinhaut  vom  Frosch^  angestellt  und  ich  be- 
diente mich  bei  vieLBtTSerselhen  einer  feuchten  Kammer  eigener  Gon- 
struction,  welche  aas  Durchleiten  von  Gasen,  elektrische  Reizung  mit 
unpolarisirbaren (Elektroden,  und  die  Anwendung  auf  dem  heizbaren 
Objecttiscb  gestattete.  Die  Hauptergebnisse  waren  folgende.  In  Was- 
OTPratoff  erfischt  die  Bewegung.  Der  WasserstoffistiUstand  kann  durch 
Sauerstoff  aber  auch  ohne  Sauerstofiäßutritt  durch  Säuren  und  Alkalien 
aufgehoben  werden,  falls  er  nicht  zu  lange  Zeit  bestanden  hat.  —  Rei- 
ner Sauerstoff  beschleunigt  im  Allgemeinen  die  Bewegungen.  —  Die 
verschiedensten  Säuren,  wie  Kohlensäure,  Milchsäure,  Essigsäure, 
Salasäure,  Schwefelsäure,  erwecken  die  in  atmosphärischer  Luft  oder 
reinem  Sauerstoff  in  sogenannten  indifferenten  Flüssigkeiten  erloschene 
Bewegung  wieder,  und  bewirken  erst  nach  längerer  Einwirkung  Still- 
stand unter  Trübung  der  Zellen.  Der  Kohlensäurestillstand  kann  durch 
einen  Strom  Luft,  Sauerstoff  oder  Wasserstoff,  der  durch  andere  Säu- 
ren herbeigeführte  Stillstand  aber  in  der  Regel  nur  durch  Alkalien  auf- 
gehoben werden.  Ammoniak,  Kali  und  Natron  erwecken  die  in  Sauer- 
stoff, unter  Umständen  auch  die  in  Wasserstoff  erloschene  Bewegung 
ohne  vorherigen  Sauerstoffzutritl.  Im  Ueberschuss  bewirken  sie  Still- 
stand, welchen  Säuren  ^  auch  Kohlensäure  —  beseitigen  können.  — 
Durch  Temperaturerhöhung  kann  die  in  Luft,  Sauerstoff,  für  kurze 
Zeit  oft  auch  die  in  Wasserstoff  zur  Ruhe  gekommene  Flimmerung  wie- 
der angefacht  werden.  —  Die  Bewegungen  der  Spermatbzöen  des 
Frosches  verhalten  sich  unter  dem  Einfluss  der  hier  genannten  Agen- 
tien  im  Wesentlichen  ebenso  wie  die  Flimmerbewegung.  —  Zugleich 
wurden  einige  Beobachtungen  über  Richtung,  Frequenz  und  Form  der 
Bewegungen  der  Flimmerhaare  mitgethcilt.  Die  Thatsache,  dass  die 
Plimmerhaare  nach  einer  Richtung  —  vorwärts  —  schneller  als  nach 
der  entgegengesetzten  sch^pgen ,  wurde  erklärt  durch  den  Nachweis 
besonderer  elastischer  Kräfte,  welche  an  der  Basis  jedes  Flimmerhaars 
wirken,  das  Haar  in  vorwärts  geneigter  Lage  zu  halten  bestreben,  sich 
der  Rückwärtsbewegung  des  Haars  widersetzen.  Endlich  wurde,  zur 
Erklärung  der  n unter  gewöhnlichen  Bedingungen«  nach  Entfernung 
aus  dem  Organismus  eintretenden  Starre  der  Flimmerhaare ,  die  An- 


4)  Ueber  die  Flimmerbewegung.  —  Centralbl.  f.  d.  med.  Wissensch.  1867. 
Nr.  41. 

i)  Over  de  trilbeweglng.  —  Nederl.  Archlcf  voor  Genees-en  Natuurkunde. 
Deellll.  4887.  p.  804  —  356.   M.  K  Plaat. 


330  "  '  Ih.  W.  ÜDgelmann, 

nähme  herbeigezogen ,  dass  diese  Starre  auf  Bildung  eines  Gerinnsels 
(etwa  Myosin)  in  der  contractilen  Substanz  des  Haares  beruhe,  und  die 
Verrouthung  ausgesprochen ,  dass  die  belebende  Wirkung  der  Säuren 
und  Alkalien  möglicherweise  der  Verflüssigung  dfoses  Gerinnsels  zuzu-* 
schreiben  sei.  —  Im  October  vorigen  Jahres  nahh  ich  die  Versuche 
wieder  auf  und  untersuchte  zunächst  den  Einfluss  von  Wasser,  von 
verschieden  concentrirten  Salzlösungen,  von  Aether,  Alkohol,  Schwe- 
felkohlenstoff, Chloroform  und  von  verschiedenen  Giften.  'Eine  kuroe 
Notiz  <)  hierüber  wurde  durch  Professor  Donders  der  k.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Amsterdam  mitgetheilt. 

Inzwischen  ist  noch  eine  unseren  Gegenstand  «betreffende  Arbeit 
von  HciziNGA^)  erschienen.  Derselbe  stellte  seine  Versuche  an  Opalina 
Ranarum  an.  Dabei  fand  er  die  Angaben  von  Kühnb  und  mir  über 
Säure-  und  Alkalistillstand  bestätigt;  unter  dem  Einfluss  von  Gbioro- 
form,  Aether-  und  Schwefelkohlenstoffdämpfen  sah  er  die  Bewegun- 
gen erlöschen,  bei  Aether  zuweilen  erst  nach  20  Minuten.  Bei  einmal 
durch  Aether  oder  Chloroform  bewegungslos  gewordenen  Opalinen  er- 
wachte nach  Zufuhr  reiner  Luft  die  Bewegung  nicht  wieder.  Beim 
Schwefelkohlenstoff  gelang  diess  vorübergehend.  Schweflige  Säure 
tödtete  schon  in  äusserst  kleinen  Mengen,  und  weder  Luft  noch  Ammo- 
niak konnten  diese  Wirkung  aufheben.  In  Schwefelwasserstoff  lebten 
viele  Opalinen  noch  nach  5  Minuten.  Chlor,  Ozon  und  salpetrige  Säure 
bewirkten  schnell  Stillstand,  den  weder  Luft  noch  Ammoniak  besei- 
tigten. 


4)  TrHhaar-en  protoplasmabeweging  onder  d.  invioed  v.  verschill.  agentia.  — 
Process  verbaal  d.  k.  Akad.  v.^wetensch.  —  Vergadering  SO  November  4867. 

9)  HüiziRGA,  lieber  die  Einwirkung  einiger  Gase  auf  Flimmer-,  Blat-,  und  Ei- 
ierzellen.  —  Gentralbl.  f.  d.  med.  Wiss.  25.  Jan.  4868. 


Ueb«r  die  FlüiiMrbewefi^Di^  33  t 


Besohreibung  einer  Gaskammer  für  mikroskopische 

UnlersuchÜDgen. 


Bei  den  meisten  der  folgenden  Versuche  brauchte  ich  einen 
Apparat,  der  die  Einwirkung  von  Gasen  auf  das  im  Gesichtsfeld  des 
Mikroskops  befindh'che  Object  zu  beobachten  gestattete.  Hierzu  liess 
ich  eine  Gaskammer  verfertigen,  die  so  eingerichtet  ist,  dass  sie  sowohl 
allein,  als  in  Verbindung  mit  dem  heizbaren  Objecttisch  von  Max 
ScHULTZE  gebraucht  werden  kann,  und  zu  gleicher  Zeit  die  Anwendung 
der  elektrischen  Reizung  in  verschiedenen  Gasen  erlaubt.  Es  können 
dabei  die  stärksten  Objectivsysteme  angewendet  werden,  und  weil  der 
Apparat  klein  ist,  kann,  man  ihn  ohne  Weiteres  bei  Jedem  Mikroskop 
gebraucjien.  Seine  Dauerhaftigkeit  und  die  Bequemlichkeit  mit  der  er 
sich  handhaben  lässt,  möchten  ihn  vor  ahnlichen,  früher  beschriebenen 
Apparaten  empfehlen.  Man  kann  ihn  vom  Mecbanikus  Herrn  Oll  and  in 
Utrecht  beziehen. 

Die  Gaskammer  (s.  Tafel  VI.  Pig.  1 — 3)  besteht  aus  einen  Käst- 
chen von  80 Mm.  Lange,  42 mm.  Breite  und  6 Mm.  Hohe.  Die  Seiten- 
wände sind  von  Messing ;  den  Boden  bildet  eine  mittelst  eines  schwer 
schmelzbaren  Kittes  luftdicht  eingekittete  Glastafel  (/*)  von  1  Mm.  Dicke, 
80  Mm.  Länge  und  36  Mm.  Breite.  Der  Deckel  des  Kästchens  (oa)  ruht 
auf  einem  1  Mm.  tiefen  stufinartigen  Ausschnitt  der  Seitenwände  und 
ist  abhebbar.  Beim  Gebrauche  wird  dieser  Ausschnitt  der  Gaskammer, 
in  welchen  der  Deckel  eingelegt  wird ,  oder  die  Ränder  des  Deckels 
selbst  mit  etwas  Fett  bestrichen,  und  der  Deckel  fest  aufgedrückt.  Diess 
reicht  bei  weitaus  den  meisten  Versuchen  zu  einem  völlig  luftdichten 
Verschluss  hin.  Nur  wenn  der  Druck  im  Innern  des  Gaskammer  auf 
eine  bedeutende  Hohe  steigen  sollte ,  kommt  es  vor,  dass  die  blosse 
Adhäsion  nicht  mehr  genügt,  und  der  Deckel  dann  von  Innen  gelüftet 
wird.  In  diesen  Fällen  kann  man  den  Deckel  durch  eine  oder  zwei 
Messingklammem  {cc  Figg.  1,  2,  3)  in  angepresster  Lage  flxiren. 

Für  gewöhnlich  dient  ein  Messingdeckel  von  76,5  Mm.  Länge, 


332  Th.  Wi  Ktigelmann; 

86  Mm.  Breite  und  1  Mm.  Diol^e,  der  in  seiner  Mitte  ein  Loch  (6  Fig.  I 
u.  2),  von  etwa  4  5  Mm.  Durchmesser  hat.  Diese  Oeffnung  wird  ver- 
schlossen durch  ein  auf  der  innern  Seite  des  Deckels,  mittelst  irgend 
eines  in  Wasser  unlöslichen  Kittes  befestigtes  -di^kglas  von  beliebiger 
Dünne,  Die  Ränder  der  Oeffnung  sind  nach  unlen  keilförmig  zuge— 
schärft ,  so  dass  die  Oeffnung  auf  der  äusseren  Seiie  einige  Millimeter 
weiter  ist  (etwa  i  7  Mm.  im  Ganzen]  als  auf  der  inneren  Seite.  Diese 
Einrichtung  gewährt  den  Vortheil ,  dass  man  mit  breitgefaesten  ,  star«^ 
ken  Objectivsystemen  das  Präparat  in  grösserer,  namentlich  seitlicher 
Ausdehnung  untersuchen  kann  als  es  bei  einer  cylindrischen  Form  des 
Loches  möglich  sein  würde.  —  Das  Object  kommt  in  einem  Tropfen 
Flüssigkeit  auf  die  Seite  des  Deckgläschens,  welche  beim  Auflegen  des 
Deckels  dem  Inneren  der  Gaskammer  zugekehrt  wird.  Der  Deckel  lässt 
sich,  wie  man  schon  aus  der  Beschreibung  sieht,  ganz  wie  ein  gewöhn- 
licher Objectträger  handhaben.  Man  vermeidet  hierbei  den  Uebelstand, 
welcher  die  neuerdings  von  Böttcher,  Stricker,  IIuizinga  angegebe- 
nen Apparate  kennzeichnet,  dass  nämlich  da3  Deckglas  selbst,,  auf 
welchem  das  Präparat  liegt,  auf  den  mit  Fett  bestrichenen  Rand  auf- 
gedrückt wird.  —  Der  verticale  Abstand  des  Objects  von  der  Ober- 
fläche des  Objecttiscbes  beträgt  im  Mittel  nur  etwa  4  Mm.  Die  Hellig- 
keit des  Gesichtsfeldes  nimmt  hierbei  so  wenig  ab ,  dass  bei  nur  eini- 
germassen  erträglichem  Himmel,  selbst  bei  Immersionslinsen  wie  Nr.  1 0 
von  Hartnack  noch  ziemlich  enge  Diaphragmen  im  Objecttisch  benutzt 
werden  können.  —  Will  man  die  Gaskammer  auf  dem  heizbaren  Ob- 
jecttisch  von  Sghultze  benutzen,  wdcher  nur  ein  dünnes  Slrahlen- 
bündel  durchlässt,  so  kann  es  bei  ungünstigem  Himmel  wünschens- 
werth  werden,  das  Object  in  eine  grössere  Nähe  zum  Spiegel  zu  brin- 
gen. Man  kann  dann  einen  gläsernen  Deckel  von  deoselben  Dimensio- 
nen wie  der  erstere ,  aber  mit  weiterer  Oeffnung,  benutzen,  auf  dessen 
innere  Seite  ein  etwa  2 Mm.  hoher,  unten  durch  das  Deckglas  ver- 
schlossener Glasring  aufgekittet  ist.  Dan% befindet  sich  das  Object  nur 
etwa  2  Mm.  über  der  Oberfläche  des  ObjecttLsqhes.  Wenn  man  mit 
schwächerer  Vergrösserung  untersuchen  will ,  kann  man  den  Tropfen 
mit  dem  Object  auch  unmittelbar  auf  die  Glasplatte  bringen ,  welche 
den  Boden  der  Gaskammer  bildet.  Auch  könnte  man,  obschon  weniger 
praktisch,  Glasring  und  Deckglas  w  eglassen^  am  Tubus  des  Mikroskops 
eine  feuchte  Kammer  der  RECKLLXGHAUSEN^schen  Construction  anbringen 
und  diese  aussen  auf  den  Deckel  der  Gaskammer  aufsetzen.  Das  Object 
würde  dann  auf  denBoden  der  Gaskammer  kommen.  In  diesem  Falle 
befände  sich  das  Qbjectiysystem  in  einem  mit  der  Gaskammer  commu- 
nicirenden  Raum.  Es  kann  durch  die  Oqffnung.im  Deckel  beliebig  weit 


Debet  die  FlüDiierbeweguDgk  333 

in  die  Gaskammer  hinabgesenkt  werden.  Der  grössere  Durchmesser 
der  Oeffnung  im  Deckel  erlaubt  sMbst  bei  tiefem  Stand  des  Qbjectivs 
genügende  seitliche  Excursj6nen.  Für  Obj^ctivsysteme,  deren  Fassung 
nicht  ftUzubreit  ist,  'teicht  ein  Durchmesser  der  Oeffnung  von  20 Mm. 
aus.  Auf  die  Zuvedässigkeit  der  Thermometerangaben  bei  Anwendung 
der  Gaskammer  auf  dem  heizbaren  Objecttisch  kommen  wir  sptlter 
zurück. 

Um  in  der  Gaskammer  elektrisch  zu  reizen ,  kann  man  sich  eines 
giHsemen  Deckels  (Fig.  4  u.  5)  von  den  oben  angegebenen  Dimensio- 
nen bedienen,  welcher  in  der  Mitte  eine  oben  17,  unten  15  Mm.  weite, 
unten  durch  ein  Deckglas  verschlossene  Oeffnung  besitzt.  Unweit  die- 
ser Oeffnung  ßndet  sich  zu  beiden  Seiten  je  eine  kleine  cylindrische 
Durchbohrung  im  Deckel ,  durch  welche  die  Elektroden  in's  Innere  der 
Kammer  gelangen.  Auf  die  Einrichtung  der  Elektroden  komme  ich  bei 
Besprechung  des  Einflusses  elektrischer  Reizung  zurtick.  —  Das  Object 
befindet  sich  auch  hier  in  einem  an  der  Unterseite  des  Deckgläschens 
hängenden  Tropfen.  Reizt  man  auf  dem  heizbaren  Objecttisch,  so  be- 
nutzt man,  falls  die  Beleuchtung  nicht  gtlnstig  genug  sein  sollte,  besser 
einen  Glasdeckel  mit  weiterer  Oeffnung,  und  kann,  wie  oben,  entwe- 
der das  Deckglas  durch  Vermittlung  eines  Glasringes  herabrttcken,  oder 
man  setzt  eine  RECKLiNGHAtssN'sche  Kammer  auf  und  bringt  das  Object 
und  die  Elektroden  auf  den  Boden  der  Gaskammer. 

Um  die  Gase  in  den  Apparat  ein-  und  auszuführen,  ist  in  der  Mitte 
von  jeder  der  zwei  kürzeren  Seitenwinde  eine  Messingröhre  von  4  Mm. 
Dicke  und  2  Mm.  Lumen  eingeschraubt ,  über  welche  der  Kautschuk- 
scblauch  gezogen  wird.  Bei  Anwendung  auf  Schultzens  heizbarem  Ob- 
jecttisch ist  es ,  der  Erhitzung  der  Kautschukschiäuche  halber,  nölbig, 
dass  die  Enden  dieser  Röhren  über  die  Ränder  des  Tisches  herausra- 
gen. Eine  Länge  von  36 Mm.  ist  hierzu  ausreichend.  —  Wie  man  sieht, 
kann  die  Gaskammer  auch  als  gewöhnliche  feuchte  Kammer  benutzt 
werden.  Sollten  die  langen  Ansatzröhren  beim  gewöhnlichen  Gebrauche 
unbequem  werden ,  so  schraubt  man  sie  ab  und  verschliesst  die  Oeff- 
nungen  mit  nassen  Papierpfröpfen  u.  dgl.,  oder  schraubt  kurze  Röhr- 
chen an.  Man  hat  hier  den  Yortheil  vor  der  RECELmcHACSEN^schen  Kam- 
mer, dass  Mikroskop  und  Object  sich  nicht  in  fester  Verbindung  mit 
einander  befinden. 


334  ^  Tb«  W.  fiügeliMAis 


Untersuchung. 


Bei  der  mikroskopischen  Beobachtung  der  Schwingungen  von 
Flimmerhaaren  hat  man  vor  Allem  auf  Form  und  Geschwindigkeit  der 
Bewegungen  zu  achten.  Aendert  sich  die  Bewegung,  so  hätte  man 
jedesmal  zu  untersuchen,  ob  und  wie  sich  jeder  Einzelne  dieser  Facto- 
ren  ändere.  Ehe  wir  jedoch  diese  Aenderungen  betrachten,  mögen  der 
Flimmerbewegung,  so  wie  sie  unter  normalen  Verhältnissen  von  Statten 
geht,  einige  Worte  gewidmet  werden.  Wir  haben  hierbei  nur  flim- 
mernde Epithelzellen  im  Auge ,  besonders  die  der  Bachenschleimhaut 
des  Frosches,  nehmen  also  keine  BUcksicht  auf  unter  dem  Einfluss  des 
»Willens«  stehende  Wimpern,  welche  z.  B.  bei  den  Infusorien  in  so 
grosser  Verbreitung  vorkommen. 

Die  normalen  Schwingungen  der  Flimmerhaare  erfolgen  in  einer 
senkrecht  auf  der  Oberfläche  der  Zelle  stehenden  Ebene.  Davon  über- 
zeugt man  sich  leicht  —  z.  B.  an  den  Fühlern  lebender  Süsswasser- 
schnecken ,  an  den  Kiemen  von  Muscheln ,  an  quer  herausgeschnittenen 
Streifen  der  Bachenschleimhaut  vom  Frosch  —  wenn  man  in  der  Bich- 
tung  dieser  Schwingungsebene  auf  die  Zellen  sieht.  Blickt  man  tan- 
gential zur  Oberfläche  der  Zelle  in  der  Schwingungsebene ,  so  erkennt 
man,  dass  diese  Letztere  genau  senkrecht  auf  der  Oberflache  der  Zelle 
steht.  Blickt  man  vertical  von  oben  auf  die  Zelle ,  so  scheint  sich  jeder 
Punct  eines  Haares  in  einer  geraden  Linie  hin  und  her  zu  bewegen. 
Zugleich  bemerkt  man,  dass  benachbarte  Fiimmerhaare  in  parallelen 
Bichtungen  schwingen.  Diese  Bichtungen  sind  constant  und ,  wie  sich 
schon  aus  den  gröberen  mechanischen  Wirkungen  der  Flimmerthätig- 
keit  auf  thierische  Oberflächen  leicht  ergiebt,  im  Allgemeinen  der  Langs- 
ame des  betreffenden  Organs  (Mund-  und  Bachenhöhle ,  Oesophagus, 
Luftwege,  Tuben  etc.)  parallel. 

Zur  Untersuchung  des  Verlaufs  der  Bewegung  innerhalb  der 
Schwingungsebene,  zur  Ermittelung  der  verschiedenen  Lagen,  welche 
das  Haar  während  eines  Hin-  und  Hergangs  nacheinander  annimmt,  ist 
es  nöthig ,  senkrecht  zur  Schwingungsebene  auf  die  Flimmerzellen  zu 
blicken ;    man  muss  also  die  Zellen  so  lagern ,  dass  die  Schwingungs- 


Deber  i\»  Flimmerbewegi^.  335 

ebene  der  Oberfläche  des  Objecttisches  parallel  ist.  Diess  erreicht  man 
z.  B.  bei  thierischen  Schleimhäuten,  wie  der  Rachenschleimhaut  des 
Frosches,  leicht,  wenn  mipr schmale  Längsstreifen  der  Haut  genau  in 
der  Richtung  der  Biegung  herausschneidet.  Dann  hat  die  Schwin- 
gungsebene von  selbst  die  gewünschte  Lage. 

yALBifTm  >) ,  dessen  Angaben  in  die  Lehrbücher  der  Physiologie 
übergegangen  sind ,  unterscheidet  nun  vier  Typen  der  Bewegung  :  die 
bakenförmige,  die  trichterförmige,  die  schwankende  (pendeiförmige) 
und  die  wellenförmige  Bewegung.  Von  diesen  soll  die  hakenförmige 
bei  weitem  die  häufigste  sein  (bei  allen  Wirbelthieren,  Gastropoden, 
Muscheln  etc.).  Die  schwankende  Bewegung  soll  sich  nur  finden,  wo 
die  Flimmerbewegung  schwächer  wird  und  auch  dann  nur  ausnahms- 
weise. Gleichfalls  ausnahmsweise  und  nur  wenn  das  Phänomen  im 
Erlöschen  begriffen  war,  glauben  Purkinjb  und  Valentin  die  wellenför- 
mige Bewegung  bei  einaselnen  Wirbelthieren  bei  ihren  ersten  Unter- 
suchungen gesehen  zu  haben.  Später  ist  sie  Valsntin  nicht  mehr  vor- 
gekommen. Die  trichterförmige  Bewegung  soll  bei  den  «mehr  rund- 
lichen Haaren«  nicht  selten  wahrgenommen  werden.  —  Die  Annahme, 
dass  die  hakenförmige  Bewegung  die  normale  Form  sei ,  setzt  voraus, 
dass  das  Plimmerhaar  im  normalen  Znstand  nur  auf  bestimmten  Stre- 
cken seiner  Länge  activ  beweglich  sei.  In  den  häufigsten  Fällen  haken- 
förmiger Bewegung  würde  ein  der  Basis  anliegendes  Stück  des  Haars 
active  Beweglichkeit  besitzen,  der  übrige  Theil  bis  zur  Spitze  aber  steif, 
nur  passiv  beweglich  sein.    Das  passiv  bewegliche  Spitzenstück  kann 


i)  H.  Waoner's  Handwörterbuch  der  Physiologie.  Bd.I.  pag.  502.  4848.  —  Hier 
heisst  es:  »Die  Bewegungsart  der  Wimpern  ....  kann  auf  folgende  vier  Typen  re- 
ducirt  werden :  4)  dier  hakenförmige  Bewegung  (motas  uncinatus).  Hier  macht  jedes 
einzelne  Haar  Bewegungen  gleich  einem  Finger,  welcher  abwechselnd  gebeugt  und 
gestreckt  wird.  Bei  kürzeren  Haaren  oder  Läppchen  zeigt  sich  bei  dieser Bcwegungs- 
weise  nur  eine  einfache  Entwicklung ,  bei  längeren  dagegen ,  z.  6.  an  denen  der 
Kiemen  von  Anodonta  bisweilen  auch  eine  doppelte ,  ganz  wie  bei  einem  mit  drei 
Phalangen  versehenen  Finger.  Die  Realisation  dieser  Bewegung  scheint  nur  denk- 
bar, Indem  wir  uns  eine  contractile,  In  dem  Haare  gelegene  Substanz,  oder  indem 
wir  eine  analoge  Einrichtung,  wie  durch  Fingersehnen  realisirt  wird,  uns  vorstellen. 
a)  Die  trichterförmige  Bewegung  (motus  infundibuliformis).  Hier  dreht  sich  das 
Haar  um  seine  Basis  als  den  Mlttelpunct  und  beschreibt  mit  der  Spitze  einen  voll- 
ständigen Kreis,  so  dass  es  im  Ganzen  eine  Kegeloberfläche  bei  Jeder  einmali- 
gen Drehung  durchläuft.  8)  Die  schwankende  Bewegung  (motus  vacillans).  Hier 
schwankt  das  Haar  nur  mehr  pendelartig  von  einer  Seite  zur  andern.  Endlich  4) 
die  wellenförmige  Bewegung  (motus  undulatus).  Hier  schlängelt  sich  das  Haar, 
ungefähr  wie  ein  im  Wasser  schwimmender  Vibrio  oder  wie  der  Faden  eines  Sper- 
matozoon.« 


33Ö  Th.  W.  LAgelmunn, 

nun  aber,  wie  die  Beobachtung  zeigt,  selbst  bei  Wimpern  benachbarter 
Zellen  sehr  verschieden  lang  sein.  Zuweilen  ist  nur  die  äusserste  Spitre, 
zuweilen  das  Haar  fas)  in  seiner  ganzen  Lmge  steif.  Es  kommen  nach 
Valentin  auch  Fälle  vor,  in  denen  ein  Haar  dSymelte  Hakenbiegung 
zeigt,  etwa  wie  bei  einem  mit  drei  Phalangen  versenenen  Finger.  Hier 
würde  man  von  der  Basis  des  Fingers  ausgehend  erst  ein  bewegliches, 
dann  ein  steifes,  dann  wieder  ein  bewegliches  und  nach  diesem  wieder 
ein  steifes  Stück  haben  ^j . 

Alles  diess  beobachtet  man  aber  an  Wimpern,    die  sich  nicht 
mehr  unter  normalen  Bedingungen  befinden.    Nimmt  man  an ,   dass 
alle  Flimmerhaare  von  ein  und  derselben  Localität  in  allen  wesent- 
lichen Puncten  gleichgebaut  seien,  gegen  welche  Annahme  wol  Nie- 
mand etwas  Stichhaltiges   wird   einwenden  können,    so  muss   man 
aus  obigen  Thatsachen  schliessen,   dass  unter  normalen  Verhältnis- 
sen jedes  Flimmerhaar  an  allen  Stellen  seiner  Länge  active  Beweg- 
lichkeit besitzt,  dass  aber  unter  noch  näher  zu  ermittelnden  Einflüssen 
bald  die  eine  bald  die  andere,   bald  eine  kürzere  bald  eine  längere 
Stredie  eines  Haares  diese  active  Beweglichkeit  verliert,   starr  wird. 
Diess  zugegeben  darf  man  .auch  behaupten ,  dass  unter  normalen  Ver- 
hältnissen auf  allen  Strecken  der  Haarlänge  wirklich  eine  active  Bewe- 
gung stattfinde  und  es  fragt  sich  nur ,   ob  diese  Bewegung  auf  allen 
Stellen  der  Länge  gleichzeitig,  oder  ob  sie  an  verschiedenen  Stellen  zu 
verschiedenen  Zeiten  und  dann  in  welcher  Reihenfolge  sie  stattfinde.  — 
Die  Beobachtung  entscheidet  für  ein  wellenförmiges  Fprtschreiten  der 
Bewegung  von  der  Basis  des  Haars  nach  der  Spitze  zu.  Man  sieht  diess 
oft  genug  an  Flimmerhaaren  von  Wirbelthieren  oder  Mollusken,  wenn 
die  Schwingungen  langsamer  werden ;  insbesondere  wenn  die  Verlang- 
samung in  sehr  verdünnten  Lösungen  kaustischer  Alkalien  stattfindet. 
Dasselbe  gilt  von  Samenfäden,  %.  B.  des  Frosches,  die  sich  in  Samen- 
flüssigkeit bewegen.  Dasselbe  habe  ich  oft  beobachtet  an  Flimmerzellen 
vom  Frosch,  wenn  sie  durch  Kohlensäure  oder  andere  Säuren  aus  dem 
Wasserstoffstillstande  erweckt  wurden.    Es  begann  dann  die  erste  Be- 
wegung —  die  Rückwärtsbeuguhg  des  Haars  —  mit  einer  bogenför- 
migen Krümmung  desselben  an  der  Basis ,  welche  wie  eine  Welle  an 
einem  Seil  nach  der  Spitze  zu  fortlief.  Aus  der  Form  der  Krümmungen, 
welche  hierbei  das  ganze  Flimmerhaar  nacheinander  annahm,  Hess  sich 
schliessen^  dass  der  Bewegungsvorgang  ungefähr  in  dem  Momente  die 
Spitze  des  Haars  erreicht  hatte ,  wo  ein  an  der  Basis  gelegener  Punct 


4)  Aehnliches  sieht  man  bekanntlich  bei  Samenftiden ,  wo  oft  nur  ein  Spitzen- 
Ktüek  oder  nur  der  Danaltheil  des  Fadens  schwingt. 


Ueber  die  FUfflnierbewegiiug.     '^  337 

zum  ersten  Maie  wieder  in  seiner  Gieichgawichtslage  angekommen  war. 
Die  Länge  des  Haars  war  also  ungefähr  gleich  der  halben  Wellenlänge. 
In  dem  Moment,  wo  die  Welle  an  der  Spitze  ankommt,  beginnt  sich 
das  Haar  an  der  Basi^von  Neuem  bogenförmig  zu  krümmen  und  zwar 
nach  der  entgegengesetzten  Seite  als  vorher ,  also  mit  der  Conca vität 
nach  vorn.  Auch  diese  Krümmung  schreitet  wie  eine  Welle,  deren 
JLänge  etwa  der  doppelten  Lange  des  Haares  gleich  ist,  nach  der  Spitze 
zu  fort,  jedoch,  wie  die  Beobachtung  lehrt,  mit  grösserer  mittlerer  Ge- 
schwindigkeit als  die  erste  ^) .  Somit  setzt  sich  jede  vollständige  Schwin- 
gung eines  Flimmerhaares  aus  zwei  halben  Schwingungen  zusammen, 
deren  erste  eine  längere  Dauer  besitzt  als  die  zweite. 

Die  beschriebenen  Krümmungen  des  Haares  können  nur  zu  Stande 
kommen ,  indem  das  Haar  sich  abwechselnd  in  der  einen  und  in  der 
andern  Längshälfte  verkürzt  und  wieder  streckt ,  und  zwar  muss  der 
Vorgang  der  Verkürzung  bei  Rückwärtsbeugung  des  Haares  sich  in  der 
hinteren ,  bei  Vorwärtsbeugung  sich  in  der  vorderen  Längshälfte  des 
Haares  von  Querschnitt  zu  Querschnitt  von  der  Basis  bis  zur  Spitze 
wellenförmig  fortpflanzen. 

Durch  directe  Beobachtung  kann  man  sich  wegen  der  grossen 
Schnelligkeit  der  Bewegungen  nicht  davon  tiberzeugen ,  dass  die  wel- 
lenförmige Bewegung  die  normale  sei.  Doch  ist  sie  bei  verlangsamter 
Flimmerthätigkeit,  wie  schon  erwähnt,  oft  wahrzunehmen.  Die  anderen 
Formen  der  Bewegung,  wie  die  hakenförmige,  die  pendelnde,  die  trich- 
terförmige ,  entstehen  aus  der  Wellenform  dadurch ,  dass  das  Haar  an 
gewissen  Stellen  steif,  starr  wird,  seine  active  Beweglichkeit  verliert. 
Welche  Theile  des  Haares  bei  jeder  einzelnen  der  genannten  Formen 
steif  sind  lässt  sich  leicht  schliessen  und  bedarf  keiner  näheren  Erwäh- 
nung. Ebensowenig  die  Thatsache ,  dass  auch  viele  Uebergänge  zwi- 
schen den  genannten  Formen  der  Bewegung  vorkommen. 

Es  fragt  sich  nun,  warum  alle  Flimmerhaäre  gerade  nach  der 
einen  Richtung  normal  mit  grösserer  Geschwindigkeit  schwingen ,  als 
nach  der  entgegengesetzten ;  warum  die  Rückwärtsbeugung  langsamer 
als  die  Vorwärtsbeugung  geschieht?  Hierüber  vermag  die  Unter- 
suchung matt  schlagender  oder  bereits  ruhender  Wimpern,  einigen 
Aufschluss  zu  geben.    Man  schneide  aus  einer  flimmernden  Schleim- 


\)  Nimmt  man  an,  ein  im  Maximum  der  Bewegung  befindliches  Flimmerhaar 
von  0,01  Mm.  Länge  mache  \%  ganze  Schwingungen  in  der  Secunde,  so  ergiebt  sich 
daraus  für  die  mittlere  Fortpflanzungsgeschwindiglteit  des  Bewegungsvorgangs  im 
Fliminerhaar  der  Werth  von  0,S4  Mm.  in  der  Secunde.  Dieser  Werth  kann  beim 
Erlahmen  der  Bewegung  durch  alle  Zwischenwerthe  bis  auf  0,005  Mm.und  tiefer 
herabsinken. 

Bd.  IV.  3.  iS 


338  Th.  W,  Ehgelmanu, 

haut,  z.  B.  des  Oesophagus  vom  Frosch  einen  schmalen  Längssireifen 
heraus ,    bringe  ihn  in  Kochsalzlösung  von  1 7o  ^^  ^^^  feuchte  Kam- 
mer und  warte  bis  die  Bewegung  nachlasst.    Nach  kurzer  Zeit,    oft 
schon  unmittelbar  nach  Anfertigung  des  Prapsrm^s,  findet  man  beim 
Untersuchen  des  flimmernden  Randes  unter  dem  Mikroskop  Zellen- 
reihen,  deren  Wimpern  theils  nur  noch  langsame  und  kleine  Schwin- 
gungen ausführen,  theils  schon  zu  schlagen  aufgehört  haben.  Betrachtet 
man  die  noch  in  massiger  Bewegung  befindlichen  Wimpern  bei  stär- 
kerer Vergrösserung ,   so  erkennt  man ,   dass  in  weitaus  den  meisten 
Fällen  die  Haare  fast  in  der  ganzen  Länge  steif  sind,  nur  passiv  bewegt 
werden,  und  nur  ihre  Basalstücke  sich  verkürzen  und  strecken.    Die 
Excursionsweite  der  Schwingungen  ist  hierbei  mehr  oder  minder  be- 
trächtlich verringert,    in  der  Regel  bei  allen  Haaren  derselben  Zelle 
gleichmässig.    Während  eine  in  lebhafter  Bewegung  befindliche  Wim- 
per, als  Radius  gedacht,  einen  Kreisausschnitt  von  90^  bestreichen 
kann ,  misst  hier  beispielsweise  die  Schwingungsweite  nur  noch  SO  <^ 
Sogleich  fällt  auf,  dess  alle  Haare  nach  einer  Seite  geneigt  sind  und  nur 
in  dem  auf  dieser  Seite  gelegenen  Quadranten  ihre  Schwingungen  aus- 
führen.   Sie  vermögen  sich  nicht  mehi^  vertikal  aufzurichten,  oder  gar 
in  den  anderen  Quadranten  hinüberzuschwingen.    Sie  oscilliren  um 
eine  schiefe  Gleichgewichtslage.    Diese  ist,  wie  die  Beobachtung  zeigt, 
nach  der  Seite  geneigt,  nach  welcher  die  Strömung  gerichtet  ist. 

Betrachtet  man  nun  die  bereits  völlig  zur  Ruhe  gekommenen  Wim- 
pern ,  so  fällt  auch  hier  sofort  auf,  dass  dieselben  nicht  vertikal  gerade 
gestreckt  dastehen,  sondern  alle  nach  einer  und  derselben  Seite  geneigt 
sind,  und  zwar  ergiebt  sich  auch  hier,  dass  die  Spitzen  der  Haare  nach 
der  Seite  zu  geneigt  sind ,  wohin  während  des  Lebens  die  Strömung 
auf  der  flimmernden  Oberfläche  gerichtet  ist.  Auf  der  Mundschleim- 
haut vom  Frosch  sind  also  beispielsweise  alle  ruhenden  Wimpern  schief 
nach  der  Seite  des  Oesophagus  zugeneigt.  Die  Abweichung  des  Plim- 
merhaares  von  der  Vertikalen  kann  über  35  ^^  betragen.  Meist  fand  ich 
25  .  300.  £^  ist  bei  diesen  Messungen  natürlich  noth wendig,  dass  die 
Schwingungsebene  der  Haare  senkrecht  zur  Axe  des  Mikroskops  gela- 
gert sei.  — ^  Man  beobachtet  dieselbe  schiefe  Lagerung  bei  den  ver- 
schiedensten Formen  der  Flimmerruhe,  z.  B.  bei  Wimpern,  welche  in 
einer  Wasserstoff-  oder  Kohlensäureatmosphäre  zur  Ruhe  gebracht 
worden  sind.  An  einen  Tetanus  ist  also  nicht  zu  denken. 

Durch  mechanische  Mittel,  z.  B.  mit  Hülfe  eines  mikroskopisch  fein 
zugespitzten  Glasstäbchens  kann  man  die  schief  stehenden  Wimpern 
unter  dem  Mikroskop  aufrichten  und  rückwärts  umbeugen.  Sowie  man 
loslässt,   fahren  sie  in  ihre  erste  schiefe  Stellung  zurück.     Offenbar 


Deber  die  Ftimmerbewegung,  339 

sind  also  elastische  Kräfte  thstig,  welche  die  Haare  in  schräger  SteUung 
festzuhalten  streben ;  und  zwar  wirken  diese  Kräfte  bei  allen  Haaren  in 
gleichem  Sinne,  und  in  ungefähr  gleicher  Stärke.  —  Dass  der  Sitz  die- 
ser elastischen  KräfM'  an  der  Basis  der  Haare  ist ,  ergiebt  sidi  aus  dem 
Umstände,  dass  die  ruhenden  Wimpern  in  ihrer  schiefen  Lage  vollkom- 
men gerade  gestreckt  und  nicht  etwa  bogenförmig  gekrümmt  sind.  Es 
kann  also,  mit  Ausnahme  an  der  Basis,  kein  merkliches  Uebergewicht 
der  elastischen  Kräfte  der  einen  Längshälfte  des  Haares  über  die  der 
andern  bestehen  *) . 

Die  Beobachtung  in  »pendelnder«  Bewegung  begriffener  Wimpern 
lehrt  nun  ferner,  dass  die  an  der  Basis  des  Haares  wirkenden  elasti- 
schen Kräfte,  und  nicht  etwa  ein  auf  allen  Puncten  der  Haarlänge  vor- 
handener Unterschied  in  der  Schnelligkeit  des  Verlaufs  von  Verkürzung 
und  Streckung  es  ist,  welcher  verursacht,  dass  die  Vorwärtsbeugung 
des  Haares  schneller  als  die  Rückwärtsbeugung  verläuft.  Bei  der  pen- 
delnden Bewegung,  welche  unter  verschiedenen  Umständen,  jedoch 
im  Ganzen  selten,  bei  nachlassender  Bewegung  eintritt,  ist  nämlich  das 
Basalstück  starr,  und  nur  ein  kürzeres  oder  längeres  Stück  des  Haares, 
von  der  Spitze  an ,  beweglich.  Hier  verlaufen  nun  Rück-  und  Vor- 
wärtsbeugung gleich  schnell,  wie  man  schon  daraus  folgern  kann,  dass 
an  der  Oberfläche  der  Zellen  keine  continuirliche  Strömung ,  sondern 
nur  ein  schwaches  Hin-  und  Her-Oscilliren  der  Flüssigkeit  zu  Stande 
kommt.  Verkürzung  und  Streckung  müssen  also  auf  jedem  einzelnen 
Puncto  der  Länge  des  Haares  mit  Ausnahme  des  Basalstücks  unter  sich 
gleich  schnell  verlaufen.  —  Beobachtet  man  dagegen  die  sogenannte 
hakenförmige  Bewegung,  welche  die  weitaus  häufigste  Form  beim 
Nachlassen  der  Bewegungen  und  dadurch  charakterisirt  ist ,  dass  nur 
das  Basalstück  noch  activ  beweglich,  das  Haar  in  seiner  übrigen  Länge 
aber  st^  ist,  so  findet  man  selbst  bei  langsamen  Tempo  und  äusserst 
geringer  Excursionsweite  der  Schwingungen  (5^)  die  Flüssigkeit  an 
der  Oberfläche  der  Zellen  stets  in  continuirlicher,  immer  gleich  gerich- 
teter Strömung  begriffen.  Die  Strömung  geht  stets  nach  der  Seite,  wo- 
hin die  Haare  in  der  Ruhelage  geneigt  sind.  —  Nach  alledem  darf  man 
nur  in  den  an  der  Basis  der  Haare  wirkenden  elastischen  Kräften  die 
Ursache  des  Unterschieds  suchen ,  welcher  zwischen  der  Geschwindig- 
keit der  Rückwärts-  und  der  Vorwärtsbeugung  der  Haare  besteht.  Da 
nun  die  elastischen  Kräfte  bei  allen  Flimmerhaaren  aller  Zellen  in  glei- 


4)  Diess  Letztere  gilt  jedoch  nicht  für  Wimpern  aller  Localitttten,  sondern  zu- 
nächst nur  für  die  der  Schleimhäute  von  Wirbelthieren.  Bei  Mollusken  sind  die 
Wimpern  in  der  Ruhelage  hiiuflg  stark  bogenförmig  gekrümmt,  mit  derConcavität, 
oder,  was  nicht  selten,  sogar  mit  der  Convexität  nach  vorn. 


340  l'h»  W.  Engelmann, 

cbem  Sinne  wirken,  muss  eine  coniinuirliche  Strömung  der  Flüssigkeit 
auf  der  flimmernden  Oberfläche  zu  Stande  kommen. 

Ein  anderer  wichtiger  Punct ,  der  bei  Untarsuphung  der  Flimmer- 
bewegung beachtet  werden  muss ,  ist  die  Geschwindigkeit  der  Bewe- 
gungen. Ich  verstehe  hierunter  den  Weg ,  oder  den  Plächenraum,  den 
das  ganze  Flimmerhaar  in  der  Zeiteinheit  zurücklegt,  also  das  Product 
aus  Frequenz  (Schwingungszahl)  und  Schwingungsweite.  Diess  ist 
offenbar  das  Maass  für  die  Grösse  der  Bewegung ;  nicht  aber  die  Schnel- 
ligkeit der  Flüssigkeitsströmung  an  der  Oberfläche  der  Zellen  oder  gar 
die  Schnelligkeit  des  Tempo  allein.  Der  bisherige  Sprachgebrauch  un- 
terschied hier  nicht  scharf :  man  findet  meist  nur  gesagt,  dass  die  Be- 
wegung schnell  oder  langsam  gewesen  sei ,  sich  beschleunigt  oder  ver- 
zögert habe.  Damit  kann  aber  einmal  —  und  ist  es  wol  meist  —  die 
Schnelligkeit  der  durch  die  Wimperthätigkeit  hervorgebrachten  Strö- 
mung, zweitens  aber  die  Schnelligkeit  des  Tempo,  d.  h.  die  Frequenz, 
und  endlich  die  wahre  Geschwindigkeit,  in  dem  oben  bezeichneten 
Sinne  gemeint  sein. 

Dass  die  Schnelligkeit  der  durch  die  Wimperthätigkeit  hervorge- 
brachten continuirlichen  Flüssigkeitsströmung  nicht  ein  Ausdruck  für 
die  Geschwindigkeit  und  Grösse  der  Flimmerbewegung  ist,  ergiebt  sich 
aus  der  Ueberlegung,  dass  jede  ganze  Schwingung  eines  Flimmerbaares 
aus  zwei  halben  Schwingungen  von  verschiedener  Dauer  und  einander 
entgegengesetzter  Richtung  sich  zusammensetzt.  Die  Grösse  des  Unter- 
schieds zwischen  den  lebendigen  Kräften  dieser  beiden  halben  Schwin- 
gungen ist  es  offenbar,  von  welcher  die  Geschwindigkeit  der  Strömung 
abhängt.  Diese  Grösse  könnte  aber,  wie  eine  einfache  Rechnung  zeigt, 
gewaltige  Veränderungen  erleiden ,  während  die  Geschwindigkeit  un- 
verändert bleibt,  oder  sich  sogar  im  entgegengesetzten  Sinne  ändert. 
Die  Differenz  der  genannten  lebendigen  Kräfte  muss  z.  B.  grösser  wer- 
den, wenn  die  erste  halbe  Schwingung  des  Haares  (die  Rückwärtsbeu- 
gung) um  ebensoviel  an  Dauer  zunimmt  als  die  zweite  halbe  daran 
verliert.  Und  umgekehrt  muss  eine  Abnahme  der  Differenz  der  leben- 
digen Kräfte  eintreten,  wenn  die  erste  halbe  Schwingung  an  Dauer  ab, 
die  zweite  daran  zunimmt.  Hier  könnte  es  kommen,  dass  der  Unter- 
schied der  lebendigen  Kräfte  null  wird.  Letzterer  Fall  ist  in  der  pen- 
delnden Bewegung  verwirklicht.  —  Aus  diesen  Gründen  sind  die  oben 
beschriebenen  Methoden  von  CALLnuRCfes  und  Kistiakowskt,  mit  denen 
man  nur  für  den  Unterschied  der  genannten  lebendigen  Kräfte  ver- 
gleichbare Maasse  gewinnt ,  für  die  Bestimmung  der  Geschwindigkeit 
der  Flimmerbewegung  streng  genommen  unbrauchbar:  der  Zeiger  auf 


Ueber  di«  Flimmerbeweguug.  341 

dem  Zifferblait  des  Apparates  von  Calliburc^s,  des  Siegellacktropfen 
von  KiSTiAKOWsKT  Werden  bei  der  lebhaftesten  pendelnden  Bewegung 
der  Fliromerhaare  stillstehen.  Nur  in  den  Fällen,  wo  die  Zu-  oder  Ab- 
nahme der  Differeox- der  lebendigen  Kräfte  auf  einer,  beide  halbe 
Schwingungen  gldchmassig  und  gleichzeitig  betreffenden  Zu-  oder 
Abnahme  der  verschiedenen  Geschwindigkeiten  beruht,  würde  man 
aus  der  Schnelligkeit  der  Strömung  einen  Schluss  auf  die  Schnelligkeit 
der  Bewegung  der  Flimmerhaare  ziehen  dürfen.  Diese  Bedingungen 
scheinen  in  der  That  meist  erfüllt  zu  sein. 

Selbstverständlich  ist,  dass  die  Bestimmung  des  Tempo  (das  heisst 
der  Frequenz ,  der  Schwingungszahlj  allein  nicht  zur  Bestimmung  der 
Geschwindigkeit  der  Bewegung  ausreicht,  da  die  Letztere  das  Product 
aus  Schwingungszahl  und  Schwingungsweite  ist.  Die  Geschwindigkeit 
kann  zunehmen,  wenn  bei  gleichbleibender  oder  sogar  abnehmender 
Frequenz  die  Schwingungsweite  grösser  wird,  sie  kann  zunehmen 
durch  Steigerung  der  Frequenz  bei  gleichbleibender  oder  abnehmender 
Excursionsweite,  sie  muss  endlich  zunehmen,  wenn  sowol  Schwin- 
gungsweite als  Frequenz  wachsen.  Alle  diese  Fälle  kommen  in  Wirk- 
lichkeit vor,  und  es  sind  durchaus  nicht  die  seltensten,  in  welchen  sich 
die  beiden  Factoren ,  Frequenz  und  Amplitude,  in  entgegengesetztem 
Sinne  ändern.  Es  ist  desshalb  nolhwendig,  zur  Ermittelung  der  Ge- 
schwindigkeit der  Bewegung ,  Frequenz  und  Schwingungsweite  zu- 
gleich zu  messen.  Dieser  Forderung  kann  man  innerhalb  weiter  Gren- 
zen ziemlich  gut  nachkommen,  wenn  man  nur  sorgt,  dass  die  Schwin- 
gungsebene der  Flimmerhaare  der  Oberfläche  des  Objecttisches  parallel 
sei.  Die  Bestimmung  der  Frequenz  durch  Zählen  der  Schläge  unter  dem 
Mikroskop  und  die  Messung  oder  Schätzung  der  Excursionsweite  ist  nur 
dann  nicht  mehr  möglich,  wenn  die  Geschwindigkeit  eine  sehr  bedeu- 
tende Höhe  erreicht.  In  diesem  Falle  sind  die  Wimperschläge  einzeln 
nicht  mehr  zu  unterscheiden. 

Unter  normalen  Bedingungen  scheint  die  Geschwindigkeit  der  Be- 
wegungen nun  wirklich  meist  eine  solche  Höhe  zu  haben ;  wenigstens 
habe  ich  diess  bei  lebenden  kleinen  Batrachierlarven  und  Schnecken 
(Planorbis,  Paludina)  beobachtet,  die  in  demselben  Wasser,  in  welchem 
sie  gelebt  hatten  in  toto  untersucht  wurden.  Aber  auch  an  frisch  und 
vorsichtig  herausgeschnittenen  und  in  Froschblutserum  liegenden  Stück- 
chen von  der  Mund-  oder  Rachenschleimhaut  des  Frosches  kann  man 
dasselbe  unmiilelbar  nach  dem  Anfertigen  des  Präparats ,  bei  gewöhn- 
licher Zimmertemperatur  sehen.  Die  Angaben  von  Kbausb,  der  die  Fre- 
quenz der  Wimperschläge  (beim  Menschen?)  auf  490  bis  320  in  der 
Minute  angiebt,  und  die  von  VALBimn ,  welcher  bei  Anodonta  nur  auf 


342  Tb.  W.  BngelnaiiD, 

400  bis  450  kam,  und  ausspriobt,  »dass  jedes  Haar  bei  normaler  Be- 
»wegung  2  bis  '),  seltner  wie  es  scheint,  mehr  vollendete  Bewegungen 
»in  der  Secunde  vollenden  dürfte,«  —  diese  Angaben  gelten  im  Allge- 
meinen nur  für  eine  beträchtlich  abgeschv^achte  Bewegung.  Untersucht 
man  die  Bewegung  beim  Frosch  unter  den  eben  angegebenen  Bedin- 
gungen ,  so  erscheint  der  Wimpersaum  im  Profil  als  ein  zarter,  Überall 
gleich  hoher  Schattenstreif,  welcher  über  die  äussere  Oberfläche  der 
Epithelzellen  hinzieht.  Er  selbst  scheint  vöUig  ruhig  zu  stehen  und 
verräth  seine  Bewegung  nur  durch  die  reissende  StrOmung  in  welche 
er  die  ihn  bespülende  Flüssigkeit  mit  den  darin  suspendirten  festen 
Theilchen  versetzt.  Die  Verlangsamung  der  Bewegung  macht  sich  zu- 
erst bemerkbar  durch  kleine  streifige  Schatten  und  Lichter,  welche  von 
Zeit  zu  Zeit  blitzschnell  in  dem  homogen  scheinenden  Sauoa  auftauchen. 
Anfangs  kommen  sie  nur  selten  und  an  wenig  Stellen,  allmählich  fol- 
gen sie  sich  schneller  und  an  mehr  Ortön,  und  endlich  zeigt  der  grOsste 
Theil  des  Flimmersaumes  jenes  flimmernde  Wogen  und  Wellenrieseln, 
welches  der  Flimmerbewegung  eigenthümlich  ist.  Noch  kann  man  aber 
weder  die  einzelnen  Wimpern  unterscheiden ,  noch  gar  ihre  Schwin- 
gungen zählen.  Der  vorher  scheinbar  continuirliche  Gesichtseindruck 
ist  nur  deutlich  zu  einem  intermittirenden  geworden.  Bald  verlang- 
samen sich  aber  die  Sdiwingungen  mehr  und  werden  nach  einiger  Zeit 
zählbar.  Ich  kann  sie  mit  Sicherheit  erst  zählen ,  wenn  die  Sohwin- 
gungszahl  ungefähr  auf  acht  in  der  Secunde  herabgesunken  ist.  So 
weit  diese  Zahl  die  von  den  oben  genannten  Beobachtern  angegebene 
übersteigt,  gilt  sie,  wie  aus  dem  eben  Gesagten  hervorgeht,  doch  nur 
für  eine  bereits  beträchtlich  verlangsamte  Bewegung.  —  Wie  schnell 
das  Tempo  und  wie  gross  die  Schwingungsweite  bei  noch  nicht  ver- 
langsamter Bewegung  sei,  lässt  sich  nicht  genau  angeben,  doch  möchte 
nach  einer  Schätzung  die  Schwingungszahl  im  Maximum  mindestens 
4  2  sein.  —  Die  Schwingungsweite  kann  im  Maximum  über  90  ^  be- 
tragen (so  häufig  in  schwach  alkalischen  Flüssigkeiten) ;  wie  gross  sie 
aber  im  normalen  Zustand  sei,  lässt ^ich  ebenfalls  wegen  der  zu  gros- 
sen Geschwindigkeit  nicht  ermitteln.  Die  Veränderungen,  welche 
Frequenz  und  Amplitude  unter  verschiedenen  Einflüssen  erleiden, 
sollen  später  näher  geschildert  werden.  Das  mag  aber  schon  im  Vor- 
aus bemerkt  werden,  dass  schon  sehr  geringe  Aendeningen  der  äusse- 
ren Bedingungen ,  Aendeningen ,  denen  die  Zellen  auch  im  lebenden 
Organismus  normal  ausgesetzt  sind,  genügen,  um  Tempo  und  Schwin- 
gungsweite in  kurzer  Zeit  erheblich  zu  ändern. 

Wir  gehen  nun  zur  Schilderung  des  Einflusses   verschiedener 
Agenüen  auf  die  Flimmerbewegung  tä>er.  Da  dieser  Einfluss  bei  Wim- 


Ueber  dis  FUmnerbew^gnng.     ^  343 

perhaaren  Yersobiedener  Localitäten  und  Thiere  nicht  immer  derselbe 
ist,  beschreiben  wir  erst  die  Versuche,  welche  mit  Flimmerzellen  von 
Wirbeltbjeren  —  vor  Allem  von  der  Rachenschleimhaut  des  Frosches  — , 
dann  die,  welche  an  Süss-  und  Seewassermollusken  angestellt  wurden. 
Endlich  widmen  wir  der  Bewegung  der  Samenfäden,  die  nur  ein  spe- 
cieller  Fall  der  Flinomerbewegung  ist,  einige  Worte. 


A.  Yersnehe  an  FlimmerzeUeii  ron  Wlrbelthleren. 

1.    Einfluss  dos  Wassers  auf  die  Flimmerbewegung. 

Der  Einfluss  des  Wassers  auf  die  Bewegungen  der  Flimmerhaare 
ist  bisher  nicht  ausreichend  untersucht  worden ;  dodi  erwähnen  ein- 
zelne Untersuchungen  schon ,  dass  reines  Wasser  wenigstens  auf  die 
Plimmcrzelien  der  Schleimhaute  von  Wirbelthieren  sehr  schädlich  wirkt. 
Und  hiermit  stimmen  auch  KOlliur's  Erfahrungen  an  Spermatotoen 
ttberein.  tch  untersuchte  zuerst,  welche  Veränderungen  die  Flimmer- 
bewegung  in  reinem  Wasser  erleidet 

Bringt  man  ein  kleines  Stück  der  Raohenschleimhaut  eines  eben 
getödteten  Frosches  in  einen  Treten  dostillirten  Wassers ,  so  zeigt  die 
Flimmerbewegung  in  der  ersten  Minute  ausserordentliche  Schnelligkeit 
und  Stärke  ^) ;  aber  nodi  im  Laufe  der  ersten  oder  in  der  zweiten  H^ 
mite  lassen  die  Bewegungen  sowol  an  Frequenz  als  an  Amplitude  merk^ 
lieh  nach,  und  während  die  Zellen  und  Flimmerhaare  stark  quellen, 
erstere  sich  von  der  bindegewebigen  Grundlage  abheben  und  die  Kerne 
zu  grossen  belion  Blasen  mit  deutlich  vergrOssertem  Kemkörperchen 
aufschwellen ,  tritt  Stillstand  der  Haare  in  schräg  nach  vorn  geneigter 
Lage  ein.  Innerhalb  fünf  bis  zehn  Minuten  stehen  meist  alle  Wimpern 
still.  Auch  bei  Frdsohen  die  bereits  zwei,  drei,  ja  sieben  Tage  todt  und 
bei  gewöhDlichcr  Zimmertemperatur  unter  einer  mit  Wasserdampf  ge- 
füllten Glasglocke  aufbewahrt  worden  waren,  zeigte  sich  derselbe  Ein^- 
fluss  des  Wassers :  anfangs  sehr  verstärkte,  dann  langsam  nachlassende 
Bewegungen.  Noch  vier  Tage  nach  dem  Todo  des  Frosches,  als  die 
Schleimhaut  schon  mit  Millionen  von  Vibrionen  bedeckt  war,  konnten 
durch  reines  Wasser  die  Bewegungen  vorübergehend  unzählbar  schnell 
gemacht  werden.    Die  Zellen  sind  zu  dieser  Zeit,  wie  auch  schon  am 


1)  Unter  Stärke  verstehen  wir  hier  und  in  der  Folge  immer  die  Schnelligkeit 
der  dorch  die  Flimmerbewegang  verursachten  continuirllchen  Flttssigkeitsstrtfmung. 
S.  oben. 


344  1*^'  ^*  Gngelmannf 

dritten  Tage  trübe,  isoliren  sich  ungemein  leicht,  quellen  aber  in  Was- 
ser nicht  so  stark  wie  frische  Zellen ,  und  werden  hierbei  auch  nicht 
mehr  durchsichtig.  Auch  tritt  der  Wasserstillstand  die  ersten  Tage  nach 
dem  Tode  nicht  so  schnell  ein,  wie  bei  ganz  frischen  PlimmerzeUen. 

Auf  sehr  verschiedene  Weisen  kann  man ,  besonders  bei  frischen 
Flimmerzellen  den  Wasserstillstand  aufheben.  Vor  Allem  durch  was— 
serentziehende  Mittel,  wie  durch  Lösungen  vonKochsalz,  Zucker, 
durch  Glycerin  u.  a.  m.  Welche  Höhe  die  Bewegungen  hierbei  erreichen, 
hängt  von  der  Goncentration  der  Lösung,  von  der  Dauer  der  Wasser- 
einwirkung und  von  dem  Zustande  ab ,  in  welchem  die  Flimmer2ellen 
sich  vor  dem  Zutritt  des  Wassers  befunden  haben.  Schon  nach  5  Mi- 
nuten langer  Dauer  des  Wasserstillstandes  können  die  Bewegungen 
für  immer  erloschen  sein.  Von  einem  nur  wenige  Secunden  lang  an- 
gehaltenen Wasserstillstand  kann  dagegen  durch  Kochsalzlösung  z.  B. 
die  Thätigkeit  der  Cilien  bis  fast  zur  anfänglichen- Höhe  wieder  gestei- 
gert werden,  und  sich  dann  lange  so  erhalten. 

Ebenso,  wenn  gleich  minder  nachhaltig  kann  ein  kurzer  Wasser- 
stillstand durch  Säuren,  z.  B.  Kohlensäure  oder  Essigsäure- 
dämpfe aufgehoben  werden.  Die  wiedererwachenden  Bewegungen  sind 
aber  klein,  nicht  frequent  (selten  mehr  als  3  in  derSecunde)  und  stehen 
bei  weiterer  Säurezufuhr  sehr  bald  wieder  still.  Die  in  den  gequollenen 
Zellen  auftretende  Trübung  und  massige  Schrumpfung  verräth  deutlich 
die  Anwesenheit  der  Säure.  Dieser  Säurestillstand  kann  durch  Luft  (bei 
Kohlensäure),  oder  durch  Ammoniak  (bei  Essigsäure)  aufgehoben  werden. 

Von  Aether,  Alkohol  und  Schwefelkohlenstoff  gilt  ungefthr 
dasselbe  wie  von  Säuren.  Namentlich  unter  Einwirkung  von  Aether- 
dämpfen  kann  die  in  reinem  Wasser  erloschene  Thätigkeit  frischer 
Flimmerzellen  wieder  eine  beträchtliche  Höhe  erreichen.  Leicht  tritt  bei 
etwas  längerer  Einwirkung  Aetherstillstand  ein,  der  durch  Lufl  wieder 
aufgehoben  werden  kann ,  dann  aber  schnell  vöUigetti  Stillstände  Platz 
macht. 

Anders  als  die  bisher  genannten  Stoffe  verhalten  sich  die  Alkalien. 
Ich  benutzte  meist  Ammoniakdämpf e.  Liess  ich  diese  in  der  Gas- 
kammer auf  frische,  soeben  in  destillirtem  Wasser  zur  Ruhe  gekommene 
Flimmerzelleii  einwirken,  so  erwachte  die  Bewegung  nicht  wieder;  die 
Zellen  und  Haare  quollen  vielmehr  stärker  und  lösten  sich  leicht  ganz 
auf.  Waren  die  Bewegungen  durch  das  Wasser  noch  nicht  völlig  zur 
Ruhe  gebracht ,  so  beschleunigte  Ammoniak  unter  plötzlicher  Zunahme 
der  Queliung  den  Eintritt  des  Stillstandes,  der  dann  durch  Säuren  noch 
vorübergehend  aufgehoben  werden  konnte.    Durch  Kali  und  Natron 


IJpber  die  Flimmerbewegiing.  345 

kann  man  den  Wasserstillstand  ebensowenig  als  durch  Ammoniak  be- 
seitigen. 

Aach  die  Warme,  sonst  ein  mächtiges  Mittel  zur  Beschleunigung 
erschlaflter  Bewegung,  versagt  ihre  Dienste,  und  befördert  nur  den 
Eintritt  der  Flimmerruhe.  Bei  frischen  Plimmerzellen  vom  Frosch, 
deren  Bewegungen  sich  in  destillirtem  Wasser  vermindert  haben ,  tritt 
der  Wanmestillstand  schon  viel  früher  als  sonst ,  und  ohne  vorausge- 
gangene Beschleunigung,  häufig  schon  bei  30^  bis  35<^  C.  ein.  Kühlt 
man  gleich  nach  dem  Eintritt  des  Wärmestillstandes  das  Präparat  wie- 
der ab,  so  erwachen  die  Bewegungen  wieder,  und  dann  tritt  nach  eini- 
gen Minuten  wie  gewöhnlich  der  Wasserstillstand  ein.  Selbstverständ- 
lich wird  ein  einmal  eingetretener  Wasserstillstand  durch  Temperatur- 
erhöhung nicht  aufgehoben. 

Auch  elektrische  Reizung  beschleunigt  nur,  unter  Steigerung 
der  Quellung,  den  Eintritt  des  Wasserstillstands  und  ist  niemals  im 
Stand,  einen  bereits  ausgebildeten  Wasserstillstand  aufzuheben. 

Untersuchen  wir  nun ,  unter  welchen  Umständen  reines  Wasser 
im  Stande  ist,  die  durch  andere  Agentien  zur  Ruhe  gebrachte  Flimmer- 
bewegung wieder  zu  erwecken.  Wir  beginnen  mit  der  Schilderung  des 
Einflusses,  den  destillirtesWasseraufFlimmerzellen  vom  Frosch  ausübt, 
welche  in  sogenannten  indifferenten  Flüssigkeiten  wie  Serum, 
Amniosflüssigkeit  (mit  oder  ohne  lod)  ihre  Thätigkeit  vermindert  haben. 
In  den  meisten  dieser  Fälle  beruht  der  Stillstand ,  wie  aus  gleich  zu 
erwähnenden  Thatsachen  folgt,  darauf,  dass  die  betreffende  Flüssigkeit 
in  Wahrheit  nicht  vollkommen  indifferent ,  sondern  etwas  zu  concen- 
trirt  ist ,  oder  dass  sie  es  im  Lauf  der  Beobachtung  durch  Wasserver- 
dunstung geworden  ist.  Diess  geschieht  ja  leicht ,  wenn  das  Präparat 
nicht  in  einem  beständig  mit  Wasserdampf  gesättigten  Räume  liegt. 
Wenn  auch  der  Salzgehalt  der  Lösung  den  Indifferenzpunct  nur  sehr 
wenig  überschreitet,  so  tritt  nach  einiger  Zeit,  oft  freilich  erst  nach 
einigen  Stunden  Stillstand  ein.  Dieser  stimmt  vollkommen  überein, 
wird  durch  dieselben  Mittel  aufgehoben ,  wie  der  Stillstand  in  etwas 
concentrirteren  Lösungen  von  reinem  Kochsalz  z.  B.,  von  dem  weiter 
unten  die  Rede  sein  wird.  —  In  seltneren  Fällen  beruht  die  Flimmer- 
ruhe, welche  man  in  den  oben  genannten  und  den  ihnen  verwandten 
indifferenten  Flüssigkeiten  eintreten  sieht,  auf  einer  etwas  zu  geringen 
Concentration  der  letzteren.  Hier  hat  dann  der  Stillstand  die  Kennzei- 
chen des  Wasserstillstands,  selbst  wenn  er  erst  nach  Stunden  eintritt. 
—  Aehnlich  wie  ein  etwas  zu  grosser  Wassergehalt  der  »indifferenten« 
Flüssigkeit  kann  auch  ein  zu  grosser  Gehalt  an  Alkali  wirken,  wo  dann 


346  Tb.  W.  £ngelinaDn, 

der  Stillstand  im  Wcscntiicben  dem  später  zu  beschreibenden  Alkali— 
stillstand  gleicht.  Wir  berücksichtigen  hier  die  beiden  letzteren  Fälle 
nicht,  dagegen  verdient  der  erstgenannte  eine  nähere  Betracht^ing. 

Hat  sich  die  Bewegung  bei  einem  z.  B.  in  Serum  liegenden  Sdileim— 
hautstttckchen  so  verlangsamt  y  dass  die  einzelnen  Wimperschläge  müBe— 
quemlichkeit  zu  zählen  sind  —  was  bei  einem  Tempo  von  fünf  Schwin— 
gungen  in  der  Secunde  schon  der  Fall  ist  —  so  erreicht,  wenn  man 
nun  das  Serum  durch  reines  Wasser  verdrängt,  die  Bewegung  sogleich 
eine  ausserordentliche  Schnelligkeit  und  Stärke.  Binnen  wenigen  Se- 
cunden  werden  die  Schwingungen  unzählbar.  Ein  vorher  träge  und  in 
wirrem  Durcheinander  flimmernder  Saum  erscheint  auf  einmal  als  ein 
matter,  bewegungsloser  Schattenstreif,  an  dessen  Oberfläche  die  Flüs- 
sigkeit in  reissend  schnellem  Strome  vorbeifliegt.  In  dieser  Stärke  er- 
hält sich  die  Bewegung  »eine  oder  ein  Paar  Minuten  und  nimmt  dann 
ab,  um  nach  wenig  Minuten  dem  Wasserstillstand  Platz  zu  mactien.  — 
Ganz  ähnlich  verhielt  sich  die  Bewegung  bei  Flimmerzellen  die  914  Stun- 
den oder  mehrere  Tage  nach  dem  Tode  von  Fröschen  entnommen  wur- 
den und  in  frischem  Amnioswasser  zur  Ruhe  gekommen  waren.  Das- 
selbe gilt  auch ,  wenn  statt  des  Amnioswassers  Blutserum  oder  Humor 
aqueus  benutzt  wird.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  b^*  diesen  Ver^ 
suchen  das  Präparat  in  der  feuchten  Kammer  lag,  so  dass  der  erst 
eingetretene  Stillstand  nicht  auf  eine  durch  Verdunstung  herbeigeführte 
Goncentrationszunahme  der  Zusatzflüssigkeit  zurückgeführt  werden 
konnte.  —  Es  gelingt  nun  freilich  auch,  die  in  einem  Serumtropfen  zur 
Ruhe  gekommene  FUmmerbewegung  dadurch  wieder  anzufachen,  dass 
man  durch  Neigen  des  Präparates  den  Serumtropfen  ein  paar  Mal  hin— 
und  herfliessen  lässt  und  dadurch  die  Flimmerzellen  mit  neuen  Flüs- 
sigkeitsschichten in  Berührung  bringt.  Diess  ist  von  Roth  schon  beob- 
achtet und  zu  Gunsten  einer  mechanischen  Reizbarkeit  der  Flimmer— 
haare  gedeutet  worden.  Die  mechanische  Erschütterung  der  Flimmer— 
haare  ist  hierbei  aber  ohne  allen  Einfluss^).    Die  Beschleunigung  tritt 


4)  Der  Erfolg  scheint  vielmehr,  \vie  schon  Sharpey  vermutheie,  auf  der  Weg- 
raumung  eines  Hindernisses  der  Bewegung  zu  beruhen.  Die  voriiberströmende 
Flüssigkeit  nimmt  die  Producte  der  Epitholzellen  mit  weg,  die  sich  in  der  Ober- 
fläche der  Schleimhaut  ansammeln.  Hier  hat  man  namenUich  an  die  von  den  so- 
genannten Becherzellen  gelieferten  Producte  zu  denken.  Die  genannten  Zellen, 
welche  oft  in  ungeheurer  Zahl  zwischen  den  Flimmercylindem  zerstreut  sitzen, 
sondern  Tröpfchen  einer  hellen ,  ziemlich  zähen  Flüssigkeit  ab.  Diese  kann  durch 
ihre  allmähliche  Anhäufung  ein  mechanisches  Hinderniss  für  die  Bewegung  abgeben 
und  somit  den  Eintritt  des  Stillstands ,  der  in  dem  Serumtropfen  (wegen  der  nicht 
vollkommenen  Indifferenz  desselben)  auch  (Arne  diess  zu  Stande  kommen  würde, 
l»esohleunigen. 


üeber  dw  FUnDefbewegniig,  347 

eben  so  schön  ein,  wenn  das  Präparat  äusserst  langsam  aber  etwas  lan- 
ger geneigt  wird  — ,  wobei  die  Flimmerhaare  fast  gar  nicht  oder  höch- 
stens sehr  langsam  bewegt  werden  — ,  als  wenn  man  das  Präparat  ein 
paar  Mal  rasch  hin-  und  herschttttelt.  Die  Beschleunigung  hält  bei  die- 
sem Verfahren  in  der  Regel  einige  Minuten  an  ;  dann  lassen  die  Bewe- 
gungen wieder  nach  und  werden  so  langsam  als  sie  vorher  waren. 
Neues  Neigen  des  Tropfens  belebt  sie  wieder  und  dies  kann  man  meh- 
rere Male  hinter  einander  wiederholen.  Allmöhlich  wird  aber  der  Erfolg 
der  Wiederbelebung  schwächer  und  hält  immer  kttrzere  Zeit  an :  end- 
lich ändert  sich  auch  bei  dem  stäriisten  Schütteln  und  Neigen  des 
Tropfens  die  Bewegung  nicht  mehr.  Setzt  man  dann  einen  neuen  Tro- 
pfen Serum  zu,  so  verstärkt  sich  in  der  Regel  die  Bewegung  fittr  einige 
Minuten  und  lässt  dann  wieder  nach.  Wäscht  man  nun  das  Präparat 
immer  wieder  mit  frischem  Serum  aus,  bis  ein  neuer  Serumtrq>fen  die 
verlangsamte  Bewegung  nur  wenig  mehr  beschleunigt ,  dann  ruft  doch 
ein  Tropfen  destillirten  Wassers  sofort  die  heftigsten  oft  unzählbar 
schnellen  Bewegungen  hervor,  die  Minuten  lang  anhalten  und  endlich 
dem  Wasserstillstande  Platz  machen.  Hat  man  Serum,  das  mit  etwas 
Wasser  verdünnt  war,  zum  Auswaschen  des  Präparats  benutzt,  so  wird 
natürlich  nachher  die  Wirkung  des  reinen  Wassers  weniger  deutlich 
und  kann  selbst  fehlen. 

Aehnlich  belebend  wirkt  das  Wasser  auf  Flimmcrzellen,  die  in  einer 
Atmosphäre  von  reinem  Wasserstoff  in  indifferenten  Lösungen  zu 
schlagen  aufgehört  haben.  Ich  brachte  ein  kleines  Stttek  der  Rachen- 
schleimhaut  in  einem  Tropfen  Kochsalz  von  0,5  %  auf  die  untere  Fläche 
des  Deckglases  der  beständig  mit  Wasserdampf  gefüllten  Gaskammer, 
und  dicht  neben  diesen  Tropfen  einen  zweiten  Tropfen  von  destillirtem 
Wasser,  so  nahe,  dass  bei  einer  bestimmten  Neigung  der  Gaskammer 
beide  Tropfen  zusammenfliessen  mussten.  Zuerst  wurde  nun  wie  ge- 
wöhnlich die  FUmmerbewegung  in  dem  Kochsriztropfen  beobachtet, 
während  die  Kammer  mit  Luft  gefüllt  war.  Zeigte  sie  sich  nach  fünf 
oder  zehn  Minuten  noch  eben  so  schnell  als  zu  Anfang,  so  ward  reiner 
Wasserstoff  eingeleitet ,  bis  die  meisten  Wimpern  stillstanden.  Liess 
ich  nun  den  Tropfen,  in  dem  das  Präparat  lag,  vorsichtig  hin-  und  her- 
fliessen ,  so  dass  die  Flioimerfaaane  mit  neuen  Flttssigkeitsschichten  in 
Berührung  kamen,  so  beschleunigte  sich  die  Bewegung  etwas;  nach 
einigen  Secunden ,  höchstens  einer  Mimite  war  aber  die  frühere  Rahe 
wieder  hergestellt,  und  bei  noch  etwas  längerer  Dauer  des  Wasser- 
stoffstillslandes half  dann  auch  das  Neigen  des  Tropfens  nicht  mehr. 
Alles  blieb  still.  Neigte  man  nun  —  während  natürlich  der  Wasser- 
stoffstrom ununterbrochen  durch  die  Kammer  ging  —  das  Präparat  so, 


348  Th.  W«  KiigeliiMttn, 

dass  der  Wassertropfen  mit  dem  Tropfen,  in  welchem  sich  die  Flimmer- 
Zellen  befanden,  zusammenfloss,  so  erwadite  alsbald  an  den  Stellen, 
wo  das  Wasser  hindrang ,  die  Bewegung  wieder.  Zugleidi  begannen 
die  Zellen  deutlich  zu  quellen.  Ich  sah  noch  nach  mehr  als  halbstttn— 
digem  Wasserstoffstillstand  die  Bewegungen  beim  Zutritt  des  Wassers 
eine  Schnelligkeit  von  6  Schlägen  in  der  Secunde  und  darüber  errei- 
chen. Der  Effect  ist  am  schlagendsten ,  wenn  man  den  Tropfen  Koch- 
Salzlösung  klein ,  den  Wassertropfen  aber  gross  genommen  hat ;  denn 
je  verdünnter  die  aus  der  Mischung  beider  Tropfen  resultirende  Lösung 
ist,  um  so  mehr  kommt  der  Einfluss  dem  des  reinen  Wassers  gleich. 
War  der  Wassertropfen  klein ,  so  sieht  man  die  Zellen  nur  wenig  auf- 
quellen und  die  Bewegungen  auch  nur  wenig  beschleunigt.  —  Einige 
Zeit  nach  der  Vereinigung  beider  Tropfen  tritt  wieder  Stillstand  ein 
und  diesen  kann  man  dann,  falls  die  Zellen  nicht  durch  Quellung  zer- 
stört sind,  aufheben,  indem  man  atmosphärische  Luft  in  die  Kammer 
dringen  lässt. 

Vom  Einfluss  des  Wassers  auf  den  durch  concentrirtere  Salz- 
lösungen herbeigeführten  Stillstand  wird  weiter  unten  die  Rede  sein. 
Hier  sei  erwähnt,  dass  unter  Umständen  auch  der  durch  Säuren,  z.  B. 
sehr  schwache  Essigsäuredämpfe  bei  in  lodserum  liegenden  Zeilen  her- 
beigeführte Stillstand  durch  ein-  oder  mehrmaliges  Auswaschen  mit 
destillirtem  Wasser  aufgehoben  werden  kann.  Die  wiedererwachen- 
den Bewegungen  sind  immer  sehr  schwach.  Bei  etwas  stärkerer  Es- 
sigsäureeinwirkung geschieht  es  dann  leicht,  dass  Auswaschen  mit 
reinem  Wasser  die  Bewegungen  nicht  wieder  erweckt,  wohl  aber 
Wasser,  dem  etwas  Alkali  zugesetzt  ist. 

Machte  ich  frische  Flimmerzelleu  vom  Frosch  in  Serum  durch  Am- 
moniak scheintodt,  so  begannen  die  Bewegungen  beim  Auswaschen 
mit  Wasser  bei.  den  meisten  Zellen  wieder,  darauf  trat  dann  sehr 
schnell  unter  Zunahme  der  Quellung  Stillstand  mit  den  Eigenthüm- 
lichkeiten  des  Wasserstillstandes  ein.  —  Stillstand  durch  Aether, 
Alkohol  oder  Chloroform  in  indifferenten  Lösungen  herbeigeführt , 
konnte,  wenn  er  durch  Luft  allein  nicht  mehr  beseitigt  wurde,  auch 
durch  Auswaschen  mit  destillirtem  Wasser  nicht  aufigehoben  werden. 
Ebensowenig  Wärmestarre,  wenn  sie  auch  sonst  beim  Abkühlen 
bestehen  blieb,  oder  Stillstand,  den  Tetanisatipn  mit  starken  Induc- 
tionsschlägen  veranlasst  hatte.  — 


üeber  die  Fliamerbeweguug.  '    349 

II.   Einfluss  von  Kochsalzldsungen  verschiedener  Gon- 
ceniration  auf  die  Flimmerbewegung. 

Dass  man  durch  concentrirtere  Kochsalzlösungen  die  Flimmer- 
bewegung aufheben  könne,  haben  schon  Purkinje  und  Valentin  gezeigt ; 
dass  man  die  Bewegung  durch  Verdünnen  der  Lösung  wieder  erwecken 
könne,  wird  von  Kölliker  ^)  zuerst  erwähnt  und  von  Roth  und  Stuart 
bestätigt.  Ich  habe  untersucht,  wie  sich  die  Flimmerbewegung  gegen 
Salzlösungen  von  verschiedenem  Concentrafionsgrade  verhält,  welche 
Mittel  den  durch  concentrirtere  Salzlösungen  herbeigeführten  Stillstand 
aufheben,  und  unter  welchen  Bedingungen  stillstehende  Wimpern 
durch  Salzlösungen  wieder  in  Bewegung  gebracht  werden  können. 
Alle  Angaben  beziehen  sich  auT  die  Rachenschleimhaut  des  Frosches. 

Wie  bei  anderen  chemisch  indifferenten  Substanzen  giebt  es  auch 
beim  Kochsalz  eine  Concentrationsstufe ,  bei  welcher  die  Bewegung 
sich  Stunden,  ja  Tage  lang  erhält.  Diese  Concentrationsstufe  liegt 
für  Kochsalz,  wie  auch  Roth  findet,  bei  etwa  0,5%.  Auch  in  Lösun- 
gen von  0,67o  ^^T^^  die  Flimmerung  noch  Tage  lang  fortbestehen; 
ebenso  in  solchen  von  0,4%.  Vermindert  man  aber  den  Salzgehalt 
noch  weiter,  so  tritt  allmählich  der  Einfluss  des  Wassers  deutlicher 
zum  Vorschein.  Bringt  man  z.  B.  Stückchen  der  Rachenschleimhaut 
in  Kochsalz  von  0,3%  oder  0,25%,  so  beschleunigt  sich  anfangs  die 
Bewegung  bedeutend,  die  Schwingungen  bleiben  Minuten  lang  sehr 
frequent  und  gross,  und  nehmen  dann  ab,  um  bald  unter  Quellung  der 
Zellen  zum  Stillstand  zu  führen.  Dieser  Stillstand  zeigt  alle  Eigen- 
schaften des  Wasserstillstands.  Wendet  man  noch  schwächere  Salz- 
lösungen an ,  so  wird  natürlich  derselbe  Effect  schneller  erreicht.  — 
Auf  der  andern  Seite  genügt  schon  eine  geringe  Steigerung  des  Salz- 
gehaltes über  0,6%,  um  die  Bewegung  beträchtlich  abzuschwächen. 
In  Lösungen  von  1  %  verlangsamt  sich  beispielsweise  die  Bewegung 
innerhalb  der  ersten  Minuten  bedeutend,  hält  sich  dann  aber  oft  Stun- 
den lang  auf  niedriger,  sehr  langsam  abnehmender  Höhe.  Die* Bewe- 
gungen werden  klein,  hakenförmig  und  langsam.  Selten  geschehen 
mehr  als  zwei  bis  drei  Schläge  in  der  Secunde,  meist  weniger.  Viele 
Flimmerhaare  stehen  schon  nach  wenig  Minuten  ganz  still.  In  Lösungen 
von  1,25%  tritt  der  Stillstand  noch  merklich  schneller  ein ;  und  wenn 
man  ein  frisches  Stückchen  Schleimhaut  direct  in  eine  Lösung  von 
2,5%  bringt,  so  stßhen  die  meisten  Wimpern  fast  augenblicklich  still. 
Immerhin  findet  man  auch  hier  fast  stets  eine  Anzahl  Flimmerhaare, 

4)  KOlliks«,  Phy§iol.  Studien  tib.  d.  SamenflÜssigkeU.   Ztschr.  f.  wiss.  Zool. 
4856.  Bd.  VU.  p.  tSt. 


350  Tk.  W.  N^HniB, 

welche  ihre  Bewegungen,  wenn  adion  äusserst  scfawadi  und  langsam, 
noch  einige  Zeit,  so  weilen  eine  halbe  Stunde  und  länger  fortsetsen. 
Man  beobachtet  diess  sogar  noch  in  Lösungen    von  5®yQ  Salzgehalt. 
Roth  hat  also  ganz  Recht  wenn  er  sagt,  »dass  die  Flimmerhaare  in  re— 
olaliv  weiten  Grenzen  der  Concentration  ihre  Bewegungen  oonservi— 
»reo.«  Freilich  gUt  diess  nicht  von  der  Grösse  der  Amplitude  und  Fre— 
quenz  der  Bewegungen.  —  Idi  fand  keine  deutlichen  Unterschiede  in 
der  Wirkung  starker  Salzlösungen,  wenn  ich  in  dem  einen  Falle  ein 
frisches  Präparat  direct  in  die  starke  Lösung  versetzte,  in  dem  andern 
die  Stärke  der  Lösung,  von  0,5%  ausgehend,  allmählich  bis  zur  selben 
Höbe  steigerte.    Jedem  bestimmten  Goncentrationsgrade  scheint  somit 
eine  l)estimmte  mittlere  Stärke  und  Schnelligkeit  der  Bewegungen  zu 
entsprechen  und  es  wird  nicht  erlaubt  sein,  eine  Accommodation  der 
Bewegungen  an  starke  Goncentrationsgrade  bei  sehr  langsamer  Stei- 
gerung des  Salzgehaltes  der  Lösung  anzunehmen,  wie  diess  Roth  thut. 
—  Die  Veränderungen  9  welche  man  unter  dem  Einfluss  stärkerer  Koch- 
salzlösungen (von  4  %  aufwärts]  im  Aussehen  der  Flimmerzellen  ein- 
treten sieht,  beruhen  auf  Flttssigkeitsentziehung.    Die  Zellen  schrum- 
pfen zusammen,  erscheinen  stärker  glänzend,  mehr  homogen,  bei  stär- 
keren Graden   der  Einwirkung  dunkler  und   die   Intercellularräume 
erweitem  sich  zu  hellen,  messbar  breiten  Spalten.    Die  Flimmerhaare, 
welche  deutlich  an  Volum  vermindern  und  dunkler  aussehen,  stehen, 
wie  bei  früher  beschriebenen  Arten  des  Stillstands,  steif  und  schräg 
nach  vorn  geneigt,  meiist  alle  unter  demselben  Winkel  von  30  —  35<^, 
zuweilen  selbst  45^. 

Unter  den  Mitteln,  welche  die  durch  stärkere  Kochsalzlösungen 
herbeigeführte  Flimmerruhe  beseitigen  können,  steht  das  Wasser 
obenan.  So{;»ald  es  in  solcher  Menge  zugesetzt  wird,  dass  die  Concentra- 
tion der  Lösung  auf  etwa  4<^/oUnd  weniger  sinkt,  zuweilen  schon  früher, 
beginnen  die  Bewegungen,  während  die  Zellen  ihr  normales  Aussehen 
mehr  oder  minder  wieder  erhalten.  Die  Salzlösung  darf  aber  eine  ge- 
wisse Concentration  nicht  überschritten  haben,  wenn  Wasser  noch 
wieder  beleben  soll,  Lösungen  von  1 0  %  und  mehr  tödten  die  Zellen 
selbst  bei  einer  Einwirkungsdauer  von  nur  wenigen  Minuten.  Die 
Flimmerhaare  lösen  sich  bei  Wasserzutritt  dann  schnell  auf,  noch  bevor 
die  Concentration  unter  0,5%  gesunken  ist.  Selbst  wenn  man  die 
Zellen  eine  oder  mehrere  Minuten  in  Salzlösungen  'von  nur  5  %  gehal- 
ten hat,  erwachen  beim  Verdünnen  mit  Wasser  nicht  alle  Zellen  wie- 
der, keinesfalls  aber  erreichen  die  Bewegungen  ihre  normale  Stärke 
und  Schnelligkeit.  Diess  gelingt  nur,  wenn  der  KochsalzstiUstaad  durch 


Ueber  die  Flimmerbewegiing.  351 

noch  schwächere  Lösungen  (4%  bis  2,5%  circa)  herbeigeftthrt  war.  — 
Auch  wenn  nach  nur  kurzer  Einwirkung  die  starken  Lösungen  (5  % 
und  höher)  ganz  allmählich  durch  immer  schwächere  Lösungen  ver- 
drängt wurden,  stieg  die  Bewegung  beim  Wiedererreichen  der  günsti- 
gen Concentrationsstufe ,  wenn  sie  überhaupt  wieder  erwachte ,  doch 
nie  über  eine  äusserst  geringe  Höhe.  Es  kann  also  auch  hier  von  einer 
Accommodation  nicht  die  Rede  sein. 

Das  Wasser  ist  nun  aber  keineswegs  das  einzige  Mittel,  welches 
den  Kochsalzstillstand  aufhebt.  Waren  die  Lösungen  nicht  zu  concen- 
trirt,  z.  B.  nur  1,5%?  so  erwacht  die  Bewegung  auch  wieder,  wenn 
man  Ammoniak  in  Gasform  dem  Präparate  zuführt.  Die  Bewegungen 
beginnen  hier  aber  meist  erst,  nachdem  man  die  stark  mit  Ammoniak- 
gas beladene  Luft  ein  bis  zwei  Hinuten  lang  durch  die  Gaskammer 
geführt  hat;  nicht  schon  nach  wenigen  Secunden  wie  beim  Stillstand 
in  indifferenten  Lösungen^).  Je  stärker  die  Concentration,  um  so  län- 
ger dauert  es  im  Allgemeinen,  ehe  die  belebende  Wirkung  des  Ammo- 
niaks sichtbar  wird.  Die  ersten  Bewegungen  sind  oft  klein  und  lang- 
sam, können  aber  (bei  1,5%igen  Lösungen)  in  einer  halben  Minute 
gross  und  rasch  (5  bis  8  in  1 ")  werden.  Führt  man  ununterbf ochen 
Ammoniak  durch  die  Kammer,  so  stehen  sie  endlich  still ;  aber  auch 
dieser  Stillstand  tritt  im  Allgemeinen  viel  langsamer  ein,  als  bei  Flim- 
merzellen, die  in  Kochsalzlösung  von  0,5%  Hegen.  Betrug'  der  Salz- 
gehalt der  Lösung  2,5%  und  mehr,  so  konnte  durch  Ammoniak  die 
Bewegung  nicht  mehr  hervorgerufen  werden. 

Auch  durch  Säuren,  z.B.  durch  Kohlensäure,  durch  Dämpfe 
von  Essig-  oder  Salzsäure  kann  der  Stillstand  beseitigt  werden,  der 
in  massig  concentrirten  Kochsalzlösungen  (1%  bis  8%)  eintritt.  Auch 
hier  dauert  es  in  den  meisten  Fällen  eine  oder  mehrere  Minuten  ehe 
die  Bewegungen  wieder  beginnen.  Sie  können  sehr  schnell  und  gross 
werden  und  halten  sich  bei  fortdauernder  Zufuhr  von  Säuredämpfen 
auch  länger  als  gewöhnlich.  Sie  hören  nämlich  erst  auf,  wenn  die 
Reaction  schon  Minuten  lang  stark  sauer  ist;  ja,  ich  sah  die  Bewegun- 
gen sogar  erst  nach  mehr  als  viertelstündiger  Anwesenheit  der  sauren 
Reaction  erlöschen. 

Wie  Ammoniak  und  Säuren  heben  auch  Dämpfe  von  Aether,  Al- 
kohol und  Schwefelkohlenstoff  den  Stillstand  in  Kochsalzlösungen 
auf,  wenn  der  Salzgehalt  8%bisS,5%  nicht  überschreitet.  Auch  diese 
Körper  bedürfen  längere  Zeit  als  bei  indifferenteren  Lösungen,  um  ihren 
anfangs  I^eschleunigenden,  später  hemmenden  Einfluss  geltend  zu  ma- 

4)  Diess  beruht  zum  Theil  vermulhlich  auf  der  geringeren  Grösse  des  Ab- 
sor|>tionscoeff)cienten  stärkerer  Salzlösungen  für  die  betreffenden  Gase. 


352  Th.  W.  EiigeliBanii, 

eben.  Endlich  wirkt  auch  Wärmesteiger ung  und  elektrische 
Reizung  wieder  belebend ,  wenn  die  Concentration  nicht  über  2  ^o 
steigt.  Hierüber  wird  in  den  Abschnitten  über  Wärrae  und  Eiektricität 
ausführlicher  gehandelt  werden.  — 

Alle  diese  Mittel,  welche  den  durch  concentrirtere  Salzlösungen 
hervorgerufenen  Stillstand  aufheben,  beseitigen  auch  die  in  sogenannten 
indifferenten  Lösungen  nach  einiger  Zeit  eintretende  Flimmer— 
ruhe.  Man  darf  desshalb  wohl  annehmen  —  wie  wir  schon  oben  ge— 
than  —  dass  die  letztere  Art  der  Flimmerruhe  gleichfalls  darauf  zu 
schieben  sei ,  dass  die  Qoncentrationsstufe  nicht  die  richtige ,  die  U^ 
sung  also  streng  genommen  nicht  indifferent  war. 

Wir  kommen  nun  zu  der  Frage,  unter  welchen  Umständen  still- 
stehende Wimpern  durch  Salzlösungen  wieder  in  Bewegung  versetzt 
werden  können.  Concentrirtere  Lösungen  können,  soviel  mir  bekannt, 
nur  zwei  Arten  der  Flimmerruhe  aufheben,  nämlich  denWasserstill- 
stand  und  den  Alkalistillstand.  Ich  brachte  Flimmerzellen  vom 
Frosch,  die  in  einem  Tropfen  Kochsalzlösung  von  0,5%  i^  derGaskanri- 
mer  lagen ,  durch  Ammoniakdämpfe  zur  Ruhe ,  wobei  die  Zellen ,  wie 
früher  erwähnt,  etwas  aufzuquellen  beginnen.  Nun  legte  ich  einen  klei- 
nen Kocbsalzkrystall  in  die  Nähe  der  Zellen  in  den  Tropfen.  Alsbald  be- 
gann die  Bewegung  bei  den  dem  Krystall  zunächst  liegenden  Zeilen 
und  mit  fortschreitender  Diffusion  des  Salzes  allmählich  auch  bei  den 
weiter  abgelegenen  Zellen  wieder.  War  der  Krystall  so  gross,  dass  der 
Tropfen  eine  starke  Concentration  annehmen  konnte,  so  trat  später  na- 
türlich Stillstand  unter  Schrumpfung  der  Zellen  ein.  —  Säurestillstand, 
Stillstand  durch  Metallsalze,  durch  Aether  oder  Chloroformdämpfe,  lässt 
sich  auf  diese  Weise  nicht  aufheben.  Ebensowenig  Wärmestillstand 
oder  Stillstand  durch  elektrische  Schläge. 

Dass  es  möglich  ist,  durch  Auswaschen  der  Zellen  mit  indifferenten 
Salzlösungen  einen  durch  Säuren  oder  durch  Alkalien  herbeige- 
führten Stillstand  aufzuheben,,  davon  kann  man  sich  leicht  überzeugen. 
Roth  hat  schon  erwähnt,  dass  es  ihm  gelungen  sei,  Wimpern,  die  vor- 
sichtig durch  Chromsäure  von  0,27o  — 0,027o  *ür  Ruhe  gebracht 
waren,  durch  Auswaschen  mit  halbprocentiger  Kochsalzlösung  wieder 
zu  erwecken.  Den  AmmoniakstilLstand  kann  man,  wenn  dabei  die  Zel- 
len nicht  sehr  gequollen  waren,  selbst  durch  schwach  alkalisches  lod- 
serum  so  vollkommen  beseitigen,  dass  die  Bewegung  ihre  normale  Höhe 
wieder  erreicht.    Ebensogut  wirkt  Chlomatrium  von  0,5  %. 

Minder  gut  wird  der  durch  Essigsäure,  Salzsäure,  Chromsäure  oder 
andere  Säuren  veranlasste  Stillstand  durch  Auswaschen  mit  Kochsalz 


Ueber  die  FUmmerbewogung.  353 

der  angegebenen  Conoenlration  aufgehoben.  Die  Bewegungen  können 
zwar  wieder  eine  Frequenz  von  i  —  3  Schlägen  in  der  Secunde  errei- 
chen, das  trttbe  Ansehen  der  Zellen  bleibt  aber  bestehen.  Erst  wenn 
diess  durch  Zufuhr  von  Alkali,  am  besten  von  etwas  Ammoniakgas, 
dem  normalen  Ansehen  wieder  Platz  gemacht  hat,  erreichen  die  Be~ 
wegungen  die  normale  Höhe  wieder,  iodserum,  welches  schwach  alka- 
lisch ist,  beseitigt  desshalb  den  Säurestillstand  viel  schneller  und  voll- 
kommener als  die  indifferentesten  Kochsalzlösungen. 

Ganz  ähnlich  wie  Kochsalz  verhalten  sich  andere  neutrale  Salze 
und  auch  Zucker,  Kroatin  und  andere  neutrale  Stoffe  gegen  die  Flim- 
merbewegung. Doch  sind  die  Concentrationsgrade,  in  denen  man  diese 
Stoffe  anwenden  muss,  um  einen  bestimmten  Effect  zu  erreichen,  an- 
dere als  beim  Kochsalz,  und  im  Allgemeinen  für  jeden  Körper  beson- 
dere, vom  endosmotischen  Aequivalent  des  Körpers  abhängige.  So  fand 
ich  beim  Rohrzucker  Lösungen  von  1  %  noch  schädlich ;  sie  bewirkten 
binnen  wenigen  Minuten  Stillstand  unter  Quellung  der  Zellen  und 
Kerne,  wie  bei  Einwirkung  von  reinem  Wasser.  Ziemlich  indifferent 
sind  Lösungen  von  2,5%,  und  selbst  bei  einem  Zuckergehalt  von  5% 
steht  die  Bewegung  nicht  gleich  still,  sondern  verlangsamt  sich  ganz 
allmählich.  Man  findet  zuweilen  noch  nach  zehn  Minuten  die  meisten 
Wimpern  in,  freilich  sehr  matter  Bewegung.  Das  Aussehen  der  Zellen 
verräth  hier  die  Folgen  der  Wasserentziehung:  Schrumpfung  und  stär- 
kere Lichtbrechung.  Die  Wiederbelebung  aus  dem  Stillstand  in  stärker 
concentrirten  Lösungen  anderer  indifferenter  Körper,  Zudier  z.  B.,  wird 
durch  dieselben  Mittel  erreicht  wie  beim  Kochsalz. 

HL  Einfluss  von  Säuren  auf  die  Flimmerbewegung. 

a,  Kohlenfl&ure. 

Nach  älteren,  oben  schon  citirten  Angaben  von  SHAmpsT^),  deren 
Richtigkeit  Valbrtin  ^)  bestätigt,  soll  das  Flimmerphänomen  der  Kiemen 
der  Proschiarven  in  Wasser,  welches  mit  Kohlensäure  gesättigt  ist,  un- 
gestört fortdauern.  Neuere  von  Kühne  s)  an  dem  Flimmerepithel  der 
Kiemen  von  Anodonta  angestellte  Beobachtungen  ergaben,  dass  die 
Bewegung  nicht  nur  in  reiner  Kohlensäure,  sondern  auch  in  einer  nur 
massig    mit   Kohlensäure  vermischten  Atmosphäre    schnell  erlischt. 


4)  Sharpbt  in  Tood's  Cyclop.  l,  p.  686. 

t)  Valimtin,  Artikel  Plimmerbewegung  in  R.  Waorih's  Handwörterbuch  der 
Pbytiologie.  Bd.  I.  p.  54t. 

5)  L.  c.  pag.  S74. 

B4.  IV.  3.  it 


554  Tb.  W.  EiH^ttiarin, 

Dasselbe  hatte  RüHNri  früher  für  die  ProloplasttiabcrwdgHngeii  verschie- 
dener Organismen  gefunden. 

Ich  theile  hier  die  Versuche  mit,  Welche  ich  an  Fiimmerzellen  todi 
Frosche  angestellt  habe.  Die  Zellen  wurden  2unädist  in  Koobsahlösuiig 
von  0,5%  in  Blut,  Blutserum  oder  anderen  der  oben  aufgefiodinen  ver«- 
haltnissmSlssig  indifferenten  Flüssigkeiten  untersucht.  Die  An- 
fertigung des  Präparates  geschah  in  derselben  Weise  wie  früher.  Das- 
selbe schwebte  während  d^  Versuchs  in  dem  Tropfen  an  der  Unter- 
seite des  Deckglases  der  Oaskammer.  Einzelne  Zellen  zeigen  bereits 
unmittelbar  nach  der  P^äparation,  während  noch  die  Gaskammer  mit 
reiner  atmosphärischer  Luft  gefüllt  ist,  keine  oder  doch  eine  sehr  ver- 
langsamte Bewegung ,  ohne  dass  ihr  äusseres  Ansehen  sich  verändert 
hStte.  Bei  den  meisten  tritt  aber  erst  nadi  längerem  Liegen  in  der 
»indifferenten«  Lösung  Stillstand  oder  Verlangsamung  aus  früher  an- 
gegebenen Ursachen  ein.  Wenn  man  nun  über  solche  Zellen  einen 
raschen  Strom  reiner  Kohlensäure  durch  die  Rammer  schickt,  ist  bin- 
nen wenigen  Secunden  die  Flimmerbewegung  im  ganzen  Präparat  im 
schnellsten  Gange.  Flimmerhaare,  die  vorher  ganz  stillstanden,  kön- 
nen nach  einer  Viertelminute  schon  mit  einer  Frequenz  von  acht  und 
ihehr  Schlägen  in  der  Secunde  schwingen.  —  Schon  ein  kleiner  Koh- 
lensäunegehalt  der  Luft  genügt,  alle  Bewegungen  wieder  zu  erwecken 
und  zu  beschleunigen.  Nimmt  man  das  eine  Ende  des  zur  Gaskammer 
führenden  Kautschukschlauchäs  in  den  Mund ,  während  man  zugleich 
id's  Mikroskop  bildet,  so  braucht  man  nur  langsam  durch  die  Kammer 
zu  exspiriren,  um  überall  die  Bewegung  sich  auFs  deftigste  beschleu- 
nigen zu  sehen.  Auch  mit  ziemlich  stark  abgekühlter  Exspirationsluft 
gelingt  der  Versuch,  un4  am  besten,  wenn  man  den  Athem  etwas 
lange  angehalten  hat.  —  Inspirirt  man  darauf  durch  die  Kammer,  saugt 
man  also  die  Kohlensäure  zurück,  so  hört  die  Bewegung  nach  einigen 
Minuten  wieder  auf,  oder  verlangsamt  sich  wenigstens.  Ein  neuer 
Exspirationsstrom  ruft  sie  wieder  hervor  und  so  kann  man ,  je  nach— 
dem  ein-^  oder  ausgeathmet  wird,  Verlangsamung  und  Beschleunigung 
miteinander  wechseln  lassen.  — ^ 

In  einer  Atmosphäre  vdn  reiner  Kohlensäure  erlischt  die  Flimmer^ 
bewegung  in  kurzer  Zeit.  Bringt  man  frische  Flimmerzellen  in  Koch-» 
Sählosung  von  0,5  %  oder  Serum  in  die  Gaskammer  und  verdrängt  die 
atmosphärische  Luft  durch  einen  Strom  reiner  Kohlensäure,  so  vermin- 
dert sich  nach  ein  oder  zwei  Minuten  die  Bewegung  im  ganzen  Präpa- 
rate ;  das  Tempo  wird  langsamer  und  die  Amplitude  der  Schwingungen 
bei  den  meisten  Wimpern  kleiner.  Fast  alle  zeigen  die  bakenfürmige 
Bewegung.  Nach  etwa  zehn  Minuten  stehen  alle  Flimmerhaare  still  und 


Ueber  4ie  FHininerbeweguDg.  355 

zwar  in  derselben  schräg  geneigten  Stellung^  wie  im  Rochsalz-,  im  Was- 
serstoffsttllstande  u.  a.  Dabei  haben  die  Zellen  ein  gelbliches,  trübes 
Ansehen  gewonnen,  die  Zellenkerne  treten  mit  dunkelen  Gontouren 
hervor,  auch  die  Wimpern  scheinen  gelblich  und  weniger  durchscbei*- 
nend  geworden  zu  sein.  Diese  Veränderungen  sind  meist 
schon  einige  Zeit  vor  dem  völligen  Stillstande  ganz  ausge*- 
bildet.  —  Wie  in  reiner  Kohlensäure  tritt  auch  der  Stillstand  ein  in 
einer  stärk  mit  Kohlensäure  beladenen  Atm(^phäre,  doch  um  so  spXter, 
je  geringer  der  Kohlensäuregehalt  derselben  ist.  Bei  sehr  geringem 
Kohlensäuregehalt  der  atmosphärischen  Luft  erhält  sich  dagegen,  wie 
schon  erwähnt,  die  Bewegung  viel  länger  als  in  reiner  Luft. 

Frisch  präparirte  Flimmerzellen ,  in  Kohlensäure  zur  Ruhe  ge* 
bracht,  fangen  beim  Verdrängen  der  Kohlensäure  durch  atmosphä- 
rische Luft  langsam  wieder  an,  sich  zu  bewegen,  und  die  Bewegung 
kann,  falls  der  Kohlensäur^stiilstand  nicht  zu  lange  angehalten  hatte, 
nach  einigen  Minuten  wieder  so  lebhaft  sein,  wie  vor  dem  Einleiten 
der  Kohlensäure.  Sie  erhält  sich  dann  bei  genügendem  Sauerstoffzu- 
tritt lange  Zeit  und  es  scheint  nicht,  dass  der  vorübergehende  Kohlen-  . 
säurestillstand  erhebliche  bleibende  Störungen  hinterlassen  habe.  — 
Der  Wiederbeginn  der  Bewegungen  bei  dem  Verdrängen  der  Kohlen- 
säure durch  atmosphärische  Luft  erfolgt  nie  so  plötzlich,  wie  z.  B.  das 
Erwachen  der  Bewegung  aus  dem  später  zu  schildernden  Wasserstoff- 
stillstande durch  Kohlensäurezufuhr.  — 

Es  ist  nun  sehr  bemerkenswerth,  dass  die  oben  erwähnten  Ver- 
änderungen im  Aussehen  der  Zellen,  welche  beim  Herannahen  des 
Kohlensäuresillstandes  eintreten,  beim  Verdrängen  der  Kohlensäure 
durch  atmosphärische  Luft  wieder  verschwinden.  Sobald  die  Bewe^ 
gung  wieder  beginnt,  verlieren  die  Zellen  ihr  trübes,  gelbliches  Aus- 
sehen ,  die  Kerne  werden  wieder  undeutlich  oder  ganz  unsichtbar  und 
auch  die  Wimpern  scheinen  heller  zu  werden.  Dieser  Wechsel  im  Aus- 
sehen der  Zellen  wiederholt  sich ,  so  oft  man  Bewegung  und  Kohlea- 
säurestillstand  miteinander  abwechseln  lässt.  Nach  allzuhäufiger  oder 
allzulanger  Kohlensäureeinwirkung  stellt  sich  indessen  das  frühere  An- 
sehen der  Zellen  durch  Luft  nicht  wieder  her.  —  Auf  entsprechende 
Veränderungen  an  den  rothen  Blutkörperchen  des  Frosches  madiie 
mich  Herr  Doxdbrs  gelegentlich  aufmerksam.  Hier  treten  ebenfatls  bei 
Zutritt  von  Kohlensäure  die  Kerne  plötzlich  scharf  hervor  und  werden 
wieder  unsichtbar,  oder  doch  äusserst  blass,  wenn  die  Kohlensäure 
durch  Wasserstoff  oder  atmosphärische  Luft  ausgewaschen  wird.  In 
jedem  Präparat  von  Flimmerzellen  finden  sich  nun  rothe  Blutkörper« 
chen  in  genügender  Menge.   Die  Beobachtung  lehrt,  dass  die  unter  deo 

i3* 


356  Tfc.,W. 

oben  erwähnleD  BeiiingongfD  eHoi^eade  BescfaleaDigang  der  nimmer- 
bewegODg  dnrdi  Kohlensäure  in  der  Begel  etwas  froher  ^ntritl  als  das 
Sichtbarwerden  der  Kerne  in  den  rolhen  BhilkOrperchen.  Diess  ist  am 
besten  tu  eonstatiren,  wenn  (üe  beireifenden  ro4hen  Elalkdrperdien 
dicht  neben  der  beobachteten  Flimmerzelle  liegen.  Der  Zeitnnterscfaied 
beträgt  oft  nur  wenige  Seconden,  zuweilen  mehr.  Bei  manchen  Zeilen 
tritt  aber  anch  die  Bescfaleunigong  der  Bewegung  erA  aal,  wenn  schon 
die  Kerne  der  benachbarten  Blntkörpercfaen  zom  Vorschein  glommen 
sind. 

Untersacht  man  die  Reaction  des  Präparats  während  der  verschie- 
denen Stadien  der  Kohlensäarednwirkong,  z.  B.  mittels  eines  in  den 
Tropfen  gelegten  Stttcks  blauen  Lakmaspapiers  oder  fein  in  der  Flüs- 
sigkeit vertheilter  Lakmaskömchen ,  so  ergiebt  sich  Folgendes.    Das 
Wiedererwachen,  respective  die  Beschleunigung  der  Bewegung  durch 
Kohlensäure  beginnt  in  den  meisten  Fällen  früher  als  die  rothe  Fär- 
bung des  Lakmus  eintritt.    Doch  erreicht  die  Bewegung  oft  dann  erst 
ihr  Maximum,  wenn  das  Lakmuspapier  im  Tropfen  bereits  eine  stark 
rothe  Farbe  angenommen  hat,  und  jedenlalls  kann  der  Tropfen  schon 
mehrere  Minuten  lang  sauer  reagiren,  ehe  die  letzte  Bewegung  erlischt. 
Der  Wiederbeginn  der  Bewegungen   nach  dem  Kohlensäurestilistand 
findet  selten  statt,  bevor  die  neutrale  Beaction  wieder  hergestellt  ist. 

Wie  durch  einen  Luftstrom  kann  auch ,  und  in  der  Begel  noch 
schneller,  durch  reinen  Sauerstoff  der  Kohlensäurestillstand  aufge- 
hoben werden.  Ganz  ähnlich  wirkt  Verdrängen  der  Kohlensäure  durch 
reinen  Wasserstoff  oder  andere  indifferente  Gase.  Immer  ver- 
liert sich  beim  Wiedererwachen  der  Bewegung  das  trübe  gelbliche 
Ansehen  der  Zellen. 

Die  Wirkung  der  Kohlensäure  kann  aber  eine  solche  Höhe  errei- 
chen, dass  es  nicht  mehr  möglich  ist,  durch  indifferente  Gase  den 
Stillstand  zu  beseitigen.  Wie  lange  man  aucfi  Sauerstoff  oder  Wasser- 
stoff über  das  Präparat  fuhren  möge —  die  Zellen  bleiben  trübe,  die 
Wimpern  steif  und  still.  In  diesen  Fällen  beleben  Alkalien  die  Bewe- 
gungen wieder.  Eine  Spur  Ammoniakgas,  der  Luft  oder  dem  Wasser- 
stoff beigemischt,  reicht  in  der  Begel  dazu  aus.  Ebenso  wirkt  Aus- 
waschen mit  äusserst  verdünnten  Lösungen  von  Natron  oder  Kali  oder 
auch  alkalisches  Serum. 

Von  den  Fällen,  in  denen  die  Kohlensäure  belebend  wirkt,  haben 
wir  bereits  einen  ervvähnt,  den  wo  die  Bewegung  in  indifferenten 
Flüssigkeiten  bei  alleiniger  Gegenwart  von  atmosphärischer  Luft 
erlahmt  ist.    In  den  Abschnitten  über  Wasser  und  Kochsalz  wurde 


Ueber  die  Flimmerbewegang.  357 

gleichfalls  schon  die  Thalsnchc  mitgetheilf^  dass  sowol  der  Wasser- 
stillsiand,  als  der  Stillstand  in  concentrirteren  Salzlösun- 
gen (bis  %  %)  durch  Kohlensäure  aufgehoben  worden  können.  Weiter 
unten  wird  der  Wiedererweckung  der  Bewegung  aus  dem  Alkali- 
still  sta  n  d  durch  Kohlensäure  gedacht  werden.  — 

Interessant  ist  das  Erwachen  der  Bewegung  aus  dem  Wasser- 
stoffstillstand bei  Zutrijlt  reiner  Kohlensäure.  —  Leitet  man  reines 
Wasserstoffgas  so  lange  über  Flimmerzellenf  die  in  neutralen  Salzlösun- 
gen passender  Goncentration  oder  in  Serum  liegen,  bis  die  Bewegung  an 
den  meisten  Stellen  zur  Ruhe  gekommen  ist,  sperrt  dann  dem  Wasser- 
stoff den  Zutritt  zur  Gaskammer  ab  und  lässt  nun  aus  einer  Zweiglei- 
tung plötzlich  einen  Strom  reiner  Kohlensaure  einfliessen,  so  f^ngt 
nach  wenigen  Secunden  die  Bewegung  im  ganzen  Präparate  wieder  an. 
Am  schönsten  zeigt  sich  das  bei  Anwendung' von  Blut  oder  Blutserum. 
Hier  erwacht  die  Bewegung  oft  bei  allen  Zellen  gleichzeitig ,  wie  mit 
einem  Zauberschlage.  Die  ersten  Bewegungen  zeichnen  sich  meist 
schon  durch  grosse  Excursionsweite  aus  und  das  Tempo  beschleunigt 
sich  so  rasch ,  dass  fünf  bis  zehn  Secunden  nach  dem  Erwachen  die 
Schwingungen  unzählbar  sind.  Das  im  Tropfen  hängende  Schleim- 
hautstttck  wird  durch  die  Schläge  seiner  Wimpern  fortbewegt;  isolirte 
Gruppen  von  Flimmerzellen  gerathen  fast  plötzlich  in  wirbelnde  Dreh- 
bewegungen. 

Die  Bewegung  erwacht  um  so  zeitiger  und  erreicht  um  so  schnei  - 
1er  ihr  Maximum,  je  grösser  die  eingedrungene  Kohlensäuremenge, 
je  flacher  der  Tropfen  ist,  in  dem  das  Präparat  schwebt,  und  je  kür- 
zere Zeit  der  Wasserstoffstillstand  angehalten  hat.  Standen  die  Zellen 
erst  kurze  Zeit  still,  so  reicht  die  Beimischung  einer  sehr  kleinen  Menge 
Kohlensäure  zum  Wasserstoffstrom  zur  Wiederbelebung  aus,  und  selbst 
nach  mehrstündiger  Dauer  des  Wasserstoffstillstandes  bedarf  es  nicht 
immer  grosser  Kohlensäuremengen ,  um  dasselbe  Resultat  zu  errei- 
chen. —  Wie  man  nun  den  bereits  eingetretenen  Wasserstoffstillstand 
durch  Kohlensäure  aufheben  kann ,  so  kann  man  auch  seinen  Eintritt 
verzögern,  indem  man  dem  Wasserstoffstrome  etwas  Kohlensäure  bei- 
mengt. In  einem  Gemisch  von  5  Volumprocent  Kohlensäure  und  95  % 
Wasserstoff  erhält  sich  beispielsweise  die  Flimmerbewegung  wol  drei- 
und  mehrmal  so  lange  als  in  reinem  Wasserstoff.  Es  dauert  nicht  sel- 
ten mehrere  Stunden,  ehe  hier  Jdie  Bewegung  der  meisten  Zellen  auf- 
gehört hat. 

Auch  Witnpern,  die  in  reinem  Sauerstoff  in  möglichst'indifferen- 
ten  Lösungen  zu  schlagen  aufgehört  haben,  werden  durch  Kohlensäure 
wieder  erweckt  und  in  der  Regel  sehr  schnell,  binnen  einigen  Secun- 


deo.  Sor^  fliaD  dma  dttlk'.  dass  deoi  rmir  itgiiniMi  ^  oder  lier 
»UDo«pkäradMii  Luft  tot  ärai  Eintritt  in  die  Gaifca— ncr  beständig 
eme  kfef oe  Men^  EoUensäare  beisemisckt  wird,  so  daBerl  die  Bewe— 
gunir  Tiele  Stondeo  lang  fort  imd  ersi  die  Fäoliiiss  nachft  ihr  ein  Ende. 
—  Eheoso  Eangen  FUmnieriiaare,  weldie  so  ian^  in  einer  Wasserstoff^ 
stUaasfhäfe  Terweflt  baben^  dass  sie  dnnck  reinen  Sanersloff  nicfai  ^«^ie— 
der  enredLi  werden,  sofkiA  wieder  an,  sieb  u  bewegen,  wenn  dem 
Sanerstoff  Kohlensäure  beigoniscfat  wvd,  und  können  dann  fthi»nfpip^ 
in  einem  Gemisch  von  atmosphärisdier  Lnft  und  elwas  Eohlensünre 
Um^e  Zeit  in  Bewegung  erhallen  werden« 

Ober  die  Form  der  Bewegungen  beim  Wiedererwacben  aus  dem 
WasserstoflF-  oder  SauersloffisUlistaDde  durch  Kohlensaure  ist  nur  we- 
nig zu  bemerken.    In  mandien  Fällen  sind  ^ieh  die  ersten  Bewegun- 
gen weilenfdrmig  und  die  feigenden  bleiben  es  dann.    Tide  Flimmer— 
haare  beginnen  aber  mit  hakenförmigen  Bewegungen ,  welche  entw^e— 
der  zu  Anfang  schon  sehr  gross  sind,  oder  es  doch  bald  werden.    Sie 
kleinen  allmählich  zu  wellenförmigen  Bewegungen  übergehen.  Wieder 
andere  FKmmerfaaare  madien  nur  kleine  hdienfönnige  Bewegungen, 
weiche  nie  eine  grosse  Amplitude  erreichen.    Das  Tempo  der  Bewe- 
gungen beim  Wiedererwachen  ist  ebenfalls  versctueden.    In  der  Regel 
geschehen  die  ersten  Sdiwingungen  langsam  und  folgen  sich  <lanii 
immer  schneller,  so  dass  nach  5  bis  1 0  Secunden  schon  das  Maximum 
erreicht  sein  kann.    Zuweilen  beginnt  die  Bewegung  schon  in  einem 
Tempo  von  zwei  oder  drei  Schlägen  in  der  Secunde.  — 

im  äusseren  Anseh^i  der  Zellen  ändert  sich  beim  WTedereintreten 
der  Bewegung  nichts.  Weder  trttbt  sich  das  ZellproUq>lasma,  noch 
werdto  die  Zelienkeme  sichtbar,  noch  auch  macht  sich  eine  Quellung 
oder  Schrumpfung  der  ganzen  Zelle  bemerklieb.  Bald  treten  dagegen, 
wenn  grössere  Koblensäuremengen  längere  Zeit  über  das  Präparat  ge- 
leitet werden,  die  oben  beschriebenen  Veränderungen  ein,  die  mit 
einer  Abnahme  der  Bewegungen  Hand  in  Hand  gehen.  — 

Hat  man  die  Flimmerzellen  durch  Wasserstoff  zur  Bube  gebracht 
und  durch  Kobionsäure  wieder  in  Bewegung  versetzt,  so  kommen  sie 
bei  foitgesetetem  Durohleiten  reiner  Kohlensäure  oder  in  einer  Mischung 
von  Wasserstoff  mit  sehr  viel  Kohlensäure  schneller  zur  Ruhe,  als  wenn 
statt  des  Wasserstoffs  atmosphärische  Luft  eingewirkt  hatte.  In  der 
Regel  verstärkt  und  besoUeunigt  sich  beim  Wiedererwachen  aus  dem 
Wasserstoffstillstande  durch  Kohlensäure  die  Bewegung  in  der  ersten 
halben  bis  ganzen  Minute  bedeutend,  nimmt  aber  schon  in  der  zweiten 
Minute  wieder  langsam  ab,  so  dass  dann  nach  drei  Minuten,  oft  etwas 
spüier,  die  meisten  Zellen  wieder  in  Ruhe  sind.    Auch  hier  werden  die 


Deber  4Ue  FUiweiieweinng.     ^  359 

Mkn  iPttbe,  4ie  Ker^e  deutlich.  —  Verfangt  man  nun  die  Kohlen- 
säiyure  wieder  durofc  reinen  Wasserstoff,  so  erwachen  nadi  etwa  einer 
bfiibw  IKnute  oder  etwas  spSUter  bei  vielen  Zellen  wieder  Iangsd9)e, 
xxmsX  Ueine  Bewegungext,  die  sich  anfangs  eijo  wenig  beschleunigen 
und  versiärk«^,  aber  bald  wieder  nachlassen.  Nach  drei  Minuten  pflegt 
in  den  meisten  Falten  wieder  vollkommener  Stillstand  dur^  den  Was- 
setrstoff  berbepgefuhrt  zu  sein.  —  Neue  Zufuhr  von  reiner  S>)hlenstore 
erweokt  sofort  wieder  heftige  Bewegungen,  die  ebenfalls  ungefähr 
gegen  das  Ende  der  ersten  oder  im  Laufe  der  ^eweiten  Minjote  ihr  Ma- 
ximuaa  erreichen.  £ine  <od^  zwei  Minuten  später  steht  Alles  wieder 
still.  Abermaliges  Verdrängen  der  Kohlensäure  durch  jreioen  Wasser- 
stoff ruft  von  Neuem  einige  schwache,  bald  wieder  auflU^jrende  Bewe- 
gaxigen  hervor  und  neue  Kohlensäure  bewirkt  auch  biersaaf  Wieder- 
er wachen  starker  Bewegungen.  So  kann  man,  indem* man  Kohlensäure 
u^  reinen  Wasserstoff  abwechselnd  durch  die  Kammer  fuhrt,  Still- 
stand und  Wiederbelebung  oft  miteinander  wechseln  lassen.  Je  öfter 
man  den  Versi^Gh  an  derselben  Zelle  wiederholt  hat,  um  so  schwächer 
pflegen  dann  die  Bewegungen  beim  Wiedererw^chen  durch  Kohlen- 
säure zu  sein  und  um  so  rascher  tritt  sowohl  der  Wasserstoff-  als  der 
KeblensäuresliUstand  ein.  Doch  habe  ich  Zellen,  4ie  binnen  einer 
Stunde  acht  Mal  den  Wechsel  durchgemacht  hatten,  ngch  aus  dem 
Wasserstoffstillstande  erwecken  käanen,  als  ich  zum  neunten  Mal  reine 
Kohlensäure  zuführte.  Um  den  Versuch  so  oft  an  einer  und  derselben 
Zelle  wiederholen  zu  k4ni9W)  darf  man  aber  jeden  einzelnen  Wasser-r 
siqff-  und  KohlensäureaUUs^nd  nicht  läi^ger  als  etwa  Ya  bis  2  Minu- 
ten anhalten  lassen.  —  Wcnü  endlich  in  diesen  Versuchen  die  Bewe- 
gung weder  bei  Wasserstoff-  noch  bei  Kobiensäurezufuhr  wieder  erwa- 
chen will ,  bedarf  es  nur  einas  Stromes  atmosphärischer  Luft  oder 
Sauerstofis,  um  sie  wieder  hervorzurufen,  und  zwar  wird  sie  hier,  wo 
man  längere  Zeit  zwischen  Zufuhr  von  reinem  Wasserstoff  und  von 
reiner  Kohlensäure  abgewechselt  hatte,  durch  reine  Luft  oder  Sauer- 
stoff aus  dem  Kohiensäurestilistande  viel  sicherer  erweckt  aU  aus  dem 
Wassersteffstillstande,  wenn  bei  letzterem  jede  Spur  von  Kohlensäure 
aus  der  Gaskammer  verdrängt  war. 

b.  Andere  Säuren. 

Es  Hess  sich  erwarten,  dass  der  Einäuss  anderer  Säuren  in  allem 
Wesentlichen  derselbe  sein  würde,  wie  der  der  Kohlensäure,  insbeson- 
dere dass  der  unter  so  vielen  Umständen  gefundene  belebende  Einfluss 
der  Kohlensäure  auch  den  anderen  Säuren  zukommen  würde.  In  den 
bisherigen  Arbeilen  ist  immer  nur  von  der  Schädlichkeit  der  3äpren 


360  '^'  ^*  EDgelm&nn* 

die  Rede,  und  in  dem  einzigste  Falle,  in  welchem  man  von  SHnren  eine 
belebende  Wirkung  sah  y  beruhte  diese  auf  Neutralisation  von  über- 
schüssigem Alkali.  —  Purkinje  und  Valentin^)  haben  schon  über  den 
Einfluss  verschiedener  organischer  und  anorganischer  SHuren  Mitlhei— 
lungen  gemacht.    Sie  fanden,  dass  die  von  ihnen  untersuchten  Säuren 
die  Flimmerbewegung  zum  Stillstand  brachten.     Essigsäure  hemmte 
noch  in  lOOOOfacher,  Salzsäure,  Salpetersäure  in  lOOOfacher,  Ben— 
zoesäure,  Oxalsäure,  verdünnte  Schwefelsäure  der  preussischen  Phar- 
makopoe noch  in  lOOfacher  Verdünnung.     In  lOOOOOfacher  Wasser— 
Verdünnung  wirkte  keiner  der  geprüften  Körper.  —  Neuere  Beobadi— 
tungen  von  M.  Roth  3)  bestätigen  diese  Angaben.  Erwähnung  verdient, 
dass  Roth  den  durch  äusserst  verdünnte  Essigsäure  oder  Chromsäure 
bewirkten  Stillstapd  aufheben  konnte,  wenn  er  einen  Strom  von  Tod— 
serum  oder  Kochsalzlösung  von  0,5%  durch  das  Präparat  fliessen  Hess. 
Roth  widerspricht  einer  früheren  Behauptung  von  HAmfOVKR^),  d^s 
in  verdünnter  Chromsäure  Flimmerbewegung  sich  erhalten  könne.  — 
KüHPTB^}  endlich,  der  an  Anodonta  experimentirte,  theilt  mit,  dass  man 
die  mittels  Ammoniakdämpfen  zur  Ruhe  gebrachte  Flimmerbewegung 
durch  Essigsäuredämpfe    wiedererwecken  könne.     Ein  Ueberschuss 
der  letzteren  bewirke  dann  Stillstand,   den  man  durch  Alkalien  wieder 
aufzuheben  vermöge. 

Stuart  kommt  zu  demselben  Resultat  an  Essigsäure ,  Oxalsäure^ 
Phosphor-,  Salz-,  Salpeter-  und  Chromsäure,  die  er  in  tropfbar  flüs- 
siger Form  den  Zellen  von  der  Rachenschleimhaut  des  Frosches  zu- 
führte. Auch  er  erwähnt  nichts  von  einer  erregenden  Wirkung  der 
Säuren. 

Meine  eigenen  Versuche,  die  wiederum  hauptsächlich  an  den  Flim- 
merzellen der  Mundschleimhaut  des  Frosches  angestellt  wurden,  er- 
strecken sich  auf  den  Einfluss  der  Salzsäure,  der  Chromsäure,  der 
Oxalsäure,  der  Essigsäure  und  der  Milchsäure.  Salz-  und  Essigsäure 
führte  ich  meist  in  Dampfform  dem  in  der  Gaskammer  befindlichen 
Präparate  zu.  —  Die  betreffenden  Versuche  kann  man  am  schnellsten 
und  einfachsten  so  anstellen,  dass  man  über  die  eine  Ausftthrungs- 
röhre  der  Kammer  einen  Kautschukschlauch  zieht  und  dessen  freies 


1)  Purkinje  et  Valentin,  De  phaenomeno  generali  et  fundamentali  moius  vi- 
bratorii  4885.  pag.  74—76.  —  Valentin,  Art.  Flimmerbewegung  in  R.  Wagnkr's  H. 
d.  Pli.  Bd.  1.  pag.  54a. 

S)  Roth,  Ueber  einige  Beziehungen  des  Flimmerepithels  zum  conlractilen  Pro- 
toplasma. In  ViRCHOw's  Archiv  Bd.  37.  4  866.  pag.  4  84. 

3)  Hannover  in  Müller's  Archiv.  4840.  pag.  557. 

4)  Kühne  in  M.  Schultze's  Archiv.  4866.  p.  875. 


lieber  die  Flinmerbewegimg.  36 1 

Ende  in  den  Mund  nimmt.  Vor  die  andei%  Ocffnung  der  Rammer,  aus 
der  man  die  Röhre  herausschrauben  kann,  hält  man  einen  mit  der  SHure 
befeuchteten  Glasstöpsel  oder  Glasstab.  Die  in  die  Kammer  herein- 
gesaugte  Luft  ist  dann  mit  Süuredampten  beladen  ^). 

Die  Ergebnisse  waren,  bei  Anwendung  von  Salzsäure-  wie  von 
EssigsSuredämpfen,  im  Wesentlichen  dieselben  wie  bei  Kohlen- 
säure. 

Hat  sich  die  Bewegung  in  indifferenten  Lösungen  verlang- 
samt, so  beginnen  nach  wenig  Secunden  an  allen  Stellen  des  Präpara- 
tes die  Bewegungen  sich  in  hohem  Maasse  zu  beschleunigen  und  zu  ver- 
stärken. Vorher  stillgewesene  Wimpern  schlagen  nach  einer  Viertel- 
minute mit  einer  Frequenz  von  mehr  als  acht  Schwingungen  in  der 
Secunde,  und  an  vielen  Stellen  erfolgen  die  Bewegungen  so  rasch,  dass 
selbst  der  Eindruck  des  Flimmems  nicht  mehr  zu  Stande  kommt.  Die 
Bewegungen  haben  beim  Wiedererwachen  oft  JVellenform ;  auch  vor- 
her hakenförmige ,  kleine  Bewegungen  gehen  beim  Beginn  der  Salz- 
säurewirkung nicht  selten  rasch  in  grosse  wellenförmige  über.  — 

Wenn  nur  eine  äusserst  geringe  Menge  Säure  der  Luft  beigemischt 
bleibt,  kann  sich  die  Bewegung  sehr  lange  erhalten,  auch  wenn  sie  vor 
dem  Zutritt  der  Säure  schon  stillgestanden  hatte.  Bei  Ueberschuss  der 
Säure  tritt  meist  sehr  schnell  Stillstand  ein.  Beim  Uebergang  in  den 
Stillstand  verlangsamt  sich  nicht  nur  das  Tempo,  sondern  es  werden 


i)  Leitet  man  die  Sttaredi&mpfe  vor  dem  Eintritt  in  die  Gaskammer  durch 
Kautschukschläuche I  so  hat  man  auf  einen  Umstand  zu  achten,  der  zu  groben  Tttu  • 
schungen  Veranlassung  geben  kann.  Es  fiel  mir  im  Anfang  meiner  Versuche  wie- 
derholt auf,  dass  ich  beim  Durchsangen  von  starken  Essigsäuredtfmpfen  durch 
Schläuche  von  nicht  vulkanisirtem  Kautschuk,  keinen  Säuregeschmack  im  Munde 
bekam.  Die  Schläuche  waren  nicht  länger  als  0,5  Meter  und  ihr  Lumen  8  Mm. 
weit.  Selbst  als  ich  das  eine  Ende  des  Schlauchs  in  eine  mit  concentrirter  Essig- 
säure halbgefüllte  Flasche  hängen  Hess  und  am  andern  Ende  mit  dem  Munde  kräf- 
tig sog,  schmeckte  ich  anfangs  nichts  von  Säure.  Erst  nach  längerem,  oft  minuten- 
lang fortgesetztem  Saugen  machte  'sich  Säuregeschmack  bemerkbar.  Bei  näherer 
Untersuchung  zeigte  sich ,  dass  die  Essigsäuredämpfe  von  den  Kautschukschläu- 
chen verschluckt  waren.    In  der  That  hauchten  diese  Kautschukschläuche  nun  be- 

* 

ständig  Säuredämpfe  aus  und  zwar  in  so  hohen\Maa8se ,  dass  noch  Wochen  nach- 
her alle  atmosphärische  Luft,  die  durch  die  Schläuche  gesaugt  wurde,  stark  sauer 
herauskam.  Und  diess  war  selbst  dann  noch  der  Fall,  als  die  Schläuche  einige  Tage 
lang  in  ammoniakhaltigcm  Wasser  gelegen  hatten.  Man  thut  darum  besser,  solche 
Schläuche  überhaupt  nicht  zu  gebrauchen.  Bei  Schläuchen  von  vulkanisirtem 
Kautschuk  ist  mir  der  genannte  Uebelstand  nicht  aufgefallen.  Doch  prüfe  ich  der 
Sicherheit  halber  die  Reinheit  aller  Schläuche,  indem  ich  längere  Zeit  Luft  hindurch- 
leite und  diese  einmal  in  eben  blauer,  einmal  in  schwach  rother  Lakmustinctur  auf- 
fange. Letzteres  ist  nöthig,  weil  auch  Ammoniakgas  von  manchen  Schläuchen  in 
grossen  Quantitäten  verschluckt  und  dann  ausgehaucht  wird. 


362  Th.  W.  Eugelvniuin, 

auch  die  Excursionen  in  der  fiegel  viel  kleiner  JüooA  die  Jhal^^iörau^D 
Bewegungen  werden  vorwiegend.  Zugleich  werden  die  l^len  gelblich, 
feinkörnig  getrübt,  die  Kerne  erscheinen  mit  dunklen  unregetoäfisigen 
Contouren,  auch  die  Wimpern,  acheinen  dunkler  contouriri  ¥ud  gelb- 
lich und  steheji  endlich  schräg  und  gestreckt  still,  ebenso  wie  daß  frü- 
her scboQ  beschrieben  wurde.  —  Die  Beschleunigung  der  Bewegung 
tritt  ein,  noch  bevor  die  Kerne  der  im  Präparate  befindlichen  rathen 
Blutkö^rpercben  durch  die  Säure  sichtbar  gemacht  werden.  Ebenso 
tritt  sie  früher  ein,  als  sich  ein  im  Tropfen  befindliches  Stück  blaues 
Lakmuspapier  reihet.  Auch  der  Stillstand  pflegt  schon  da  zu  sein,  wenn 
die  rotbe  Färbung  eintritt. 

Um  nicbtflUchtige  Säuren,  wie  Cbromsäure,  Oxalsäure  u,  a.  schon 
im  ersten  Stadium  zu  beobachten,  zog  ich  es  vor^  die  säurehaltige  Flüs- 
sigkeit nicht  von  der  Seite  her  unter  dem  Deckgl9se  durchfliessen  zu 
lassen,  wie  man  das  sonst  wol  mit  Hilfe  von  Fliesspepier  z.  B.  tbui. 
Hierbei  ist  es  aus. vielerlei  Gründen  unmögUeh,  den  Moment  zu  bestim- 
men, in  welchem  die  beobachteten  Zellen  mit  der  Säure  in  Berührung 
kQiXtmen,  namentlich  ist  die  Schleimhaut  oft  mit  einer,  nicht  öelten 
ziemlich  weit'  von  der  Oberfläche  der  Zellen  abstehenden  ScUeimsobicki 
Überzogen,  an  weddaer  sich  der  Säurestrom  bridit,  und  im  Vordringen 
zu  den  Zellen  behindert  wird.  Aus  diesen  Gründen  schlug  iqh  folg^- 
des  Verfahren  ein.  Ein  Glasröhrchen  wurde  in  eioe  etwa  2  Gent,  lange, 
sehr  feine  capillare  Spitze  ausgezogen,  und  mittels  einer  nach  allen 
Richtungen  frei  beweglichen  Klemme  so  fixirt,  dass  die  Mündung  die- 
ser Spitze  (die  eine  Weite  von  etwa  0,06  Mm.  besass)  in  der  Mitte  des 
Gesichtsfeldes  vom  Mikroskop  dicht  vor  den  zu  beobachtenden  Flim- 
merzellen im  Focus  sich  befand.  In  das  GlaiSrohr  war  nun  vorher  die 
säurehaltige  Flüssigkeit  so  gefüllt  worden,  dass  sie  bis  ungefähr  ^4  Mm. 
weit  von  der  capillaren  Oeffoung  stand.  Hierdurch  wird  erreicht,  dass 
beim  Eintauchen  der  Spitze  des  capillaren  Glasrohrs  in  den  Tropfen, 
in  welchem  sich  die  Flimmerzellen  befinden,  eine  Luftblase  von  Y4Mm. 
Länge  die  Mündung  des  Röhrebens  verschliesst  und  verhindert,  dass 
die  Säure  sich  ohne  Weiteres  mit  der  Flüssigkeit  misofae,  in  der  das 
Object  liegt.  Ist  das  Glasröhrchen  in  der  richtigen  Einstellung  fixirt, 
so  treibt  man  durch  Blasen  in  einen  über  das  weitere  Ende  des  Glas- 
rohrs gezogenen  Kautschukschlauch  erst  die  in  der  Mündung  steckende 
kleine  Luftblase  heraus ,  der  sogleich  die  saure  Flüssigkeit  folgt.  Je 
nachdem  man  stärker  oder  schwächer  bläst,  geht  die  Flüssigkeit  sohnel- 
er  oder  langsamer  heraus  und  kann  auch  durch  Saugen  sofort  wieder 
in  das  Capillarrohr  zurückgebracht  werden,  falls  sie  nicht  zu  weit  aus- 
getreten war.    Auf  diese  Weise  kaiin  man  den  Zutritt  der  Flüssigkeit 


üeber  4ie  FUBneiiew«|UDg.  363 

aemlich  genau  loealisiren  und  reguüren'  und  alle  Stadien  der  fiia- 
Wirkung  bequem  beefcacblen. 

loh  brachle  nun  die  Mündung  des  Capillarrohns  vor  eine  Gruppe 
vea  Zellen,  deren  Bewegung  eich  in  Kochsalz  vcm  0,5%  oder  Serum 
iheils  verlangsamt  hatte,  4heils  schon  stiUsiand.  Trieb  ich  halbprooen- 
tige  Rochsalztosung  oder  Serum  durch  das  R((hrchen  auf  die  ZdUen,  so 
beschleunigte  sich  die  Bewegung  nicht  oder  nur  wenig.  Anders,  wenn 
ich  mit  Chromsilure.von  0,f  %  versetztes  Serum  in  die  hühre  gefüllt 
hatte.  Im  Moment,  wo  die  schwach  gelbliche  Flüssigkeit  aus  der  Mün-* 
düng  des  Böhrchens  austrat,  beschleunigte  und  verstärkte  sich  die  Be-* 
wegung  bei  den  vor  der  MUiodung  liegend^i  Zdlen  erheblich,  einzelne 
erwachten  aus  dem  Stillstande.  Hiernach  trat  unter  gelblicher  Fär- 
bung und  Trübung  der  Zelle»  StiHsUuid  ein.  Saugte  ich  die  kleine 
Meng0  der  ausgetretenen  Chromsäure  in  die  Glasröhre  zurück,  so  be- 
gann die  Bewegung  wieder,  doch  nicht  ^tark  und  nicht  schnell.  Zu- 
gleich nahm  die  gelbliche  Fürbung  der  Zellen  etwas  ab.  — 

Wurde  statt  der  Chromsaare  Oxalsäure  oder  Milchsäure  be- 
nutfiEt,  so  traten  ganz  dieselben  Aenderungen  der  Bewegung  ein :  erst 
Beschleunigung,  dann  Veriangsamung  uimI  Stillstand  unter  Trübung  der 
Zellen  und  Siahtbarwenden  der  Kerne.  —  JNimmt  man  die  Säuren  zu 
ooneentrirt,  oder  treibt  man  sie  sehr  raseh  aus  der  Mündung  heraus, 
so  kann  das  Stadiiw  der  Beschleuniguiig  unterdrückt  werden  und  man 
erhält  segleioh  Stillstand.  — 

In  der  hier  angegebenen  Weise  kann  man  sich  auch  von  der  be- 
schleunigeoden  Wirkung  der  Kohlensäure  überzeugen.  Man  beobach- 
tet eine  auffidUge  Beschleunigung  und  Verstärkung  der  Bewegungen, 
wenn  man  eine  mit  Kohlensäure  geftUlte  Luftblase  aus  der  Mündung 
des  Capillarrohrs  an  die  Zellen  treten  lässt. 

Der  belebende  und  erst  bei  fortgesetzter  Einwirkung  hemmende 
Ei^oss  der  erwähnten  Säuren  zeigte  sich  auch  femer  unter  ganz  den- 
selben Verhältnissen  wie  bei  der  Kohlensäure :  bei  dem  Stillstande  durch 
Wasser,  durch  zu  stark  verdünnte  und  zu  stark  concentrlrte 
Salzlösung,  beim  Stillstande  in  reinem  Wasserstoff  (wenigatens 
in  der  ersten  Zeit  desselben)  oder  in  reinem  Sauerstoff  in  indiffe- 
renten Flüssigkeiten Y  endlich  beim  Alkalistil I stände.  —  Niemals 
gelang  es,  durch  eine  der  genannten  Säuren  einen  durch  Luft  nicht 
mehr  zu  beseitigenden  Aethe-r-  oder  Chloroformstillstand  zu  he- 
ben; ebensowenig  einen  Wärmestillsiand  in  Serum,  der  beim 
blossen  Abkühlen  nicht  weiohen  wollte,  oder  einen  durcii  elektrische 
Schläge  herbeigef ahnen  StiUstand . 

Wie  endlich  zu  erwarten  war,  ist  es  selbst  bei  grösstar  Versieht 


364  'Tb.  W.  Engelinauin, 

nicht  möglich,  einen  durch  eioe  Säure  berbeigeftthrien  Stillstand  durch 
Zufuhr  einer  anderen  Säure  aufzuheben.  Hat  maii  aber  z.  B.  einen 
Kohlensäurestillstand  durch  atmosphärische  Luft  aufgehoben  und  be- 
ginnen nach  einiger  Zeit  die  Bewegungen  sich  in  atmosphärischer  Luft 
zu  verlangsamen,  so  ruft  dann  Zufuhr  von  Salzsäure  oder  Essigsäure 
ebensogut  Beschleunigung  und  Verstärkung  hervor^  wie  Kohlensäure. 

Gedenken  wir  noch  mit  einigen  Worten  der  Mittel,  welche  die 
durch  Säuren  vorsichtig  zur  Ruhe  gebrachte  Flimmerung  wieder  erste- 
hen lassen.  Wir  berücksichtigen  hier  nur  solche  Fälle ,  in  denen  die 
Zellen  zu  Beginn  der  Säureeinwirkung  in  indifferenten  Flüssigkeiten 
lagen.  Hat  man  den  Stillstand  durch  Salz-  oder  Essigsäuredämpfe  äus- 
serst vorsichtig  herbeigeführt  und  lässt  man  sofort  nach  seinem  Eintritt 
reine  atmosphärische  Luft  in  starkem  StroroQ  durch  die  Gaskam- 
mer gehen,  so  erwachen  mitunter  nach  einiger  Zeit  (nach  einer  halben 
bis  mehreren  Minuten)  die  Bewegungen  wieder.  Doch  ist  es  viel  häu- 
figer, dass  der  Stillstand  fortbestehen  bleibt.  Auch  bleiben  die  Bewe- 
gungen im  ersten  Falle  kldn ,  nicht  frequent  und  erlöschen  in  der  Re- 
gel bald  wieder.  Auch  durch  wiederholtes  Auswaschen  mit  reinem  Wa  s- 
ser,  noch  besser  mit  Kochsalz  von  0,5%  ^^^^  man,  freilidi  oft  erst 
nach  Minuten,  die  Bewegungen  wieder  in^s  Leben  rufen.  Aber  auch  in 
diesen  Fällen  bleiben  die  wieder  erwachten  Bewegungen  klein,  haken- 
förmig, wenig  frequent.  Vielleicht  beruht  diess  Wiedererwachen  nur 
darauf,  dass  die  Säure  nicht  weiter  als  bis  in  die  oberflächlichsten  Par- 
tien der  Zellen  eingedrungen  war  und  hier  dann  nach  dem  Auswaschen 
der  Säure  dadurch  neutralisirt  wurde,  dass  schwach  alkalische  Flüs- 
sigkeit aus  den  von  der  Säure  nicht  erreichten  tieferen  Partien  der 
Schleimhaut  langsam  nach  der  Oberfläche  zu  diffundirte.  — 

Das  Hauptmittel  gegen  den  Säurestillstand  sind  die  Alkalien,  von 
(}cren  Einfluss  sogleich  weiter  die  Rede  sein  wird.  —  Liess  ich  Flim- 
merzellem  durch  Salz-  oder  Essigsäuredämpfe  sehr  vorsichtig  bei  ge- 
wöhnlicher Zimmertemperatur  zur  Ruhe  kommen,  und  brachte  ich  dann 
die  feuchte  Kammer  auf  den  stark  geheizten  Objecttisch  von  Scbultkb, 
dann  erwachten  die  Bewegungen  niemals  wieder,  wohl  aber  (falls  die 
Erwärmung  nicht  zu  weit  getrieben  war) ,  sobald  etwas  Ammoniak 
durch  die  Kammer  geführt  wurde. 

Taucht  man  frische  Flimmerzellen  in  verdünnte  oder  concentrir- 
tere  Lösungen  von  reinen  Mineralsäuren  (Schwefelsäure,  Salzsäure. 
Salpetersäure  von  0,IS%  und  mehr),  so  steht  die  Flimmerbewogung 
augenblicklich  und  für  immer  still.  Die  Zellen  werden  dabei  undurch- 
sichtig und  bräunlich. 


lieber  die  Flimmerbeweguog.  365 

IV.  Einfluss  von  Alkalien  auf  die  Fliromerbewegung. 

Die  güpstige  Wirkung  alkalischer  Flüssigkeiten  ist,  nachdem  wie 
oben  schon  erwähnt,  Yirghow  den  erregenden  Einfluss  von  Kali  und 
Natron  entdeckt  hatte,  von  vielen  Seiten  bestätigt  worden.  Dodi  sind 
die  Bedingungen ,  unter  denen  die  Alkalien  ihren  belebenden  Einfluss 
äussern ,  nicht  näher  untersucht.  Nur  für  den  Säurestillstand  haben 
Gl.  Bernar]>  und  W.  Kühnb  gezeigt,  dass  er  durch  Alkalien  aufgehoben 
werden  kann,  und  letzterer  Autor  meint,  dass  wol  auch  in  den  andern 
Fällen  die  günstige  Wirkung  des  Alkali  auf  Neutralisation  einer  Säure 
in  den  Flimmerzellen  beruhen  möge.  —  Ich  untersuchte  wie  die  Alka- 
lien auf  Flimmerzellen  wirken ,  deren  Thätigkeit  unter  verschiedenen, 
bestimmten  Bedingungen  nachgelassen  hat,  und  dann,  welche  Mittel 
einen  unter  verschiedenen  Umständen  eingetretenen  Alkalistillstand 
aufzuheben  im  Stande  seien. 

Sind  Flimmerzellen,  die  in  Kochs aljc  von  0,5 — 0,6%  oder  in 
Serum  liegen,  bei  Anwesenheit  von  atmosphärischer  Luft  oder  in  einer 
Atmosphäre  von  reinem  Sauerstoff  zur  Ruhe  gekommen,  so  erweckt 
Zusatz  von  Kali-  oder  Natronlauge  die  Bewegungen  wieder  und 
wenn  diese  Flüssigkeiten  in  äusserst  hoher  Verdünnung  benutzt  wer- 
den, kann  sich  die  Bewegung  dann  lange  erhalten.  Beim  Erwachen 
sind  die  Bewegungen  fast  ausschliesslich  wellenförmig  und  von  sehr 
grosser  Amplitude,  ihr  Tempo,  anfangs  meist  langsam,  kann  sich  bald 
zu  derselben  Höhe  erheben , .  wie  wir  das  für  die  Kohlensäure  und  an- 
dere Säuren  fanden.  Je  weniger  Veränderungen  man  beim  Wieder- 
erwachen der  Bewegung  im  Aussehen  der  Zellen  bemerkt,  um  so  län- 
ger dauert  dann  die  Bewegung.  Wird  aber  das  Kali  oder  Natron  nicht 
in  äusserst  geringer  Menge  der  indifferenten  Flüssigkeit,  in  der  das 
Präparat  liegt ,  zugesetzt,  so  bemerkt  man  theils  beim  Wiederbeginn 
der  Bewegung,  theils  bald  nachher,  unter  gleichzeitiger  Verlangsamung 
der  Bewegungen  eine  erhebliche  Quellung.  Die  Zellen  schwellen  auf^ 
werden  ganz  durchscheinend;  ebenso  werden  die  Flimmerhaare. deut- 
lich dicker  und  blasser,  endlich  können  die  Zellen  platzen  und  Alles 
wird  aufgelöst.  —  Ganz  ebenso  wirkt  nun  das  kaustische  Ammoniak 
auf  die  in  Sauerstoff  oder  atmosphärischer  Luft  zur  Auhe  gekommene 
Bewegung,  Saugt  man  einen  Luftstrom,  dem  Ammoniakdämpfe  beige- 
mischt sind,  durch  die  Gaskammer,  so  gerathen  alle  Zellen  im  Präparat 
in  die  heftigste  Bewegung  i).  Der  Tropfen  nimmt  zugleich  eine  deutlich 

4)  Zum  Ueberfluss  kann  man  sich  auch  hier  vor  dem  Anstellen  des  Versuchs 
Überzeugen ,  dass  das  Durchsaugen  eines  Stromes  reiner  atmosphärischer  Luft  die 
Bewegungen  nicht  wieder  anfacht. 


366  Th.  W.  RngebDanir, 

alkalische  Reaction  an.  Die  Fonn  und  das  übrige  Verhaltep  der  Bewe— 
gung  beim  Wiedererwachen  durch  Ammoniak  sind  ganz  ebenso  wie 
behn  Erwachen  durch  die  fixen  Alkalien.  Bei  längerem  Durchführen 
des  Ammoniakgases  trili  dann  Stillstand  ein,  zuweilen  noch  bevor  die 
Zellenkdrper  erbeblich  gequoHeii  sind.  Endlich  können ,  wie  in  Kali 
ond  Natron  die  Zellen  zerfliessen,  die  Wimpern  sich  auflösen. 

Wie  wir  früher  gesehen  haben ,  beruhte  der  Stillstand  in  indiffe- 
renten Lösungen  wie  Serum ,  Humor  aqueus  u.  s.  w.  darauf,  dass  Xe 
Lösungen  nicht  indifferent,  sondern  in  den  allermeisten  Fällen  etwas 
zu  concentrirt  waren.  Es  Hess  sich  desshalb  erwarten  ,  dass  auch  der 
durch  stark  concentrirte  Salzlösungen  herbeigeführte  Still- 
stand durch  Alkalien  aufzuheben  sein  würde.  Dass  diess  in  der  That 
möglich  ist,  haben  wir  schon  bei  Besprechung  des  Einflusses  der  Salz- 
lösungen angegeben.  Wir  fügen  hier  noch  bei,  dass  durch  eine  sehr 
geringe  Zumischung  von  Kali ,  Natron  oder  Ammoniak  ziemlich  con- 
centrirte und  für  sich  schädliche  Lösungen  nahezu  indifferent  gemacht 
werden  können.  So  ist  z.  B.  eine  Traubenzuckerlösung  von  3  % ,  der 
eine  Spur  äusserst  verdünnter  Kalilauge  zugesetzt  wurde,  viel  günsti- 
ger als  reine  Traubenzuckerlösung  von  derselben  Concentration. 

Es  wurde  gleichfalls  oben  schon  mitgetheilt,  dass  die  Alkalien  ihre 
belebende  Wirkung  vollständig  versagen,  wenn  die  Fliramerung  durch 
Einfluss  von  reinem  Wasser  verlangsamt  oder  zur  Ruhe  gekommen 
ist.  Die  durch  Wasser  verlangsamten  Bewegungen  werden  z.  B.  durch 
etwas  Ammoniak  sofort  unter  plötzlicher  Zunahme  der  Quellung  zum 
Stillstand  gebracht,  der  bereits  eingetretene  Wasserstillstand  niemals 
durch  Alkalien  aufgehoben.  Dasselbe  gilt  natürlich,  wenn  statt  reinen 
Wassers  äusserst  verdünnte  neutrale  Salzlösungen ,  wie  Kochsalz  von 
0,3%  und  darunter  zur  Lähmung  der  Wimperthätigkeit  benutzt  wor- 
den waren.  Zu  den  Fällen,  wo  Aether,  Alkohol,  Schwefelkoh- 
lenstoff oder  Chloroformdämpfe  den  Stillstand  veranlasst  hatten 
und  wo  dann  ein  Luftstrom  allein  die  Bewegungen  nicht  wieder  an- 
fachen konnte,  helfen  Alkalien  auch  nichts  mehr.  —  Wo  dagegen  durch 
überschüssige  Säurezufuhr  dem  Spiel  der  Wimpern  ein  Ende  ge- 
macht war,  können  Alkalien  eine  fast  specifische  belebende  Wirkung 
entfalten.  Am  schönsten  sieht  man  diess  bei  Zellen,  die  in  einer  un- 
schädlichen Flüssigkeit  in  der  Gaskammer  liegen  und  durch  schwache 
Essigsäure-  oder  Salzsäuredämpfe  scheintodt  gemacht  sind, 
wenn  ein  wenig  Ammoniakgas ,  mit  Luft  gemischt  über  das  Präparat 
geleitet,  oder  —  was  unbequemer  —  wenn  letzteres  mit  alkalischer 
Flüssigkeit  ausgewaschen  wird.  Die  Veränderungen ,  welche  die  Säu- 
ren im  Aussehen  der  Zellen  hervorgerufen  hatten ,  verschwindeo  unter 


^ 

^ 


(Jeber  die  Plimmerbewegui^'^  367 

dem  Einduäfi  der  Alkalien ,  und  es  iom&t  meist  ein  Zeiipanct,  wo  die 
Zellen  ihr  normales  Ansehen  wieder  haben.  Sehr  leicht  überschreitet 
jedoch  die  Säurewirkung  die'Grenze,  wo  eine  Wiederbelebung  durch 
Alkalien  noch  möglich  ist.  Bei  längerem  Durchleiten  von  Ammoniak 
oder  Auswaschen  mit  Kali-  oder  Natronhahigen  Lösungen  werden  in 
diesem  Fall  die  Zellen  schliesslich  aufgelöst ,  ohne  dass  ein  Zeitpunct 
kommt,  wo  die  Bewegung  wieder  erwacht. 

Ebenso  wie  die  in  atmosphärischer  Luft  oder  in  Sauerstoff  zum 
Stillstand  gekommene  Bewegung,  kann  in  vielen  Fällen  auch  der  Was- 
serstoffs tillstand  ohne  vorherigen  Sauerstoffzutritt  durch  Alkalien 
aufgehoben  werden.  Ich  brachte  neben  den  Tropfen  halbprocentiger 
Kochsalzlösung  oder  Serum,  welcher  die  Flimmerzellen  enthielt,  einen 
Tropfen  Serum  dem  eine  Spur  Kali-  oder  Natronlösung  zugesetzt  war, 
so  dicht,  dass  die  Ränder  beider  Tropfen  sich  beinah  berührten.  Nun 
wurde  Wasserstoff  durch  die  Gaskammer  geleitet  bis  die  Bewegung 
überall  oder  doch  an  den  meisten  Orten  stillstand.  Hierauf  neigte  ich 
das  Mikroskop  mit  der  Gaskammer  etwas ,  so  dass  der  Kalitropfen  mit 
dem  andern  zusammenfloss.  Sofort  zeigte  sich  an  allen  den  Stellen,  wo 
die  Kalilauge  hindrang  Wiederbeginn  der  Bewegung ,  und  wenn  nur 
die  Lauge  genügend  schwach  gewesen  war,  dauerte  es  dann  lange,  ehe 
der  Wasserstoffstillstand  wieder  eintrat.  Lässt  man  unter  gleichen  Um- 
ständen einen  Tropfen  Serum  oder  Kochsalzlösung  ohne  Alkali  zu  dem 
Präparate  fliessen,  so  tritt  in  der  Regel  keine  Spur  von  Beschleuni- 
gung ein. 

Auch  durch  Beimischen  von  Ammoniak  zum  Wasserstoff  kann  man 
den  bereits  eingetretenen  Wasserstoffstillstand  schnell  aufheben  und 
wenn  die  beigemischte  Menge  Ammoniak  klein  genug  ist,  kann  der 
Eintritt  des  Wasserstoffstillstands  bedeutend  verzögert  werden,  gerade 
wie  diess  eine  Beimischung  von  etwas  Kohlensäure  zum  Wasserstoff 
thut.  — 

Beim  Erwachen  aus  dem  Wasserstoffstillstand^  durch  Alkalien  ha- 
befi  die  Bewegungen  meist  Wellenform  und  sind  gross.  Das  Tempo 
kann  binnen  fünf  Secunden  schon  beträchtlich  schnell  geworden  sein. 
—  Hat  der  Wasserstoffstillstand  schon  sehr  lange  angehalten ,  bevor 
das  AlkaH  zugesetzt  wird,  so  erwacht  die  Bewegung  in  der  Regel  nicht 
wieder,  wenn  nicht  auch  Sauerstoff  zugeführt  wird.  In  letzterem  Falle 
kann  dann  die  Bewegung ,  wenn  auch  nicht  die  normale ,  doch  eine 
bedeutende  Höbe  erreichen. 

Von  grossem  Interesse  ist  der  Einfhiss  der  Alkalien  auf  Flimmer- 
•reHen  die  durch  kurzdauernde  Erwärmung  auf  etwa  W^  in  Läh- 


368  ,,  Tb.  W,  EngeiiuaaD, 

mung  versetzt  sind.   Hierauf  '^ommen  wir  weiter  unten  ausführlicher 
zurück.  . 


Es  fragt  sich  nun,  welche  Mittel  den  Alkalisiillstand  aufbeben. 
Wir  denken  hier  zunächst  an  den  Stillstand,  der  durch  überschüssige 
Alkalizufuhr  zu  möglichst  indifferenten  Flüssigkeiten  herbeigeführt 
wurde.  Man  braucht  nicht  lange  Zeit  Ammoniakdämpfe  über  em  in 
Serum  oder  noch  besser  Kochsalz  von  etwa  0,5,%  liegendes  frisches 
Präparat  zu  leiten,  um  die  Bewegung  überall  aufhören  zu  sehen.  Sie 
steht  oft  schon  still,  ehe  die  Zellen  bedeutend  gequollen  sind  und  die 
Lage  der  Wimpern  ist  dieselbe  schräg  nach  vom  geneigte,  wie  bei  den 
andern  Formen  des  Stillstands.  In  solchen  Fällen  giebt  es  nun  verschie- 
dene Mittel  der  Wiederbelebung.  Eins  der  schwächsten  ist  Wasser 
oder  äusserstverdünnte  neutrale  Salzlösungen.  Hier  tritt  näm- 
lich sehr  bald  nach  der  Wiederbelebung  Wasserstillstand  ein.  Besser 
wirken  indifferente  Salzlösungen\oder  überhaupt  unschädliche 
Flüssigkeiten,  auch  wenn  sie,  wie  Serum,  schwach  alkalisch  sind. 
Lässt  man  den  Alkalistillstand  nicht  zu  lange  dauern  und  sind  die  Zellen 
nicht  durch  zu  starke  Einwirkung  des  Alkali  getödtet,  dann  kann 
nach  dem  Auswaschen  die  Flimmerung  ihre  anfängliche  Schnelle  wie- 
der erlangen.  Da|ss  die  Wiedererweckung  auch  durch  Einlegen  eines 
Kochsalzkrystalles  in  die  Nähe  der  Stillstehenden  Wimpern  ge- 
lingt, haben  wir  oben  erwähhnt.  —  Aether  und  Alkohol  können, 
wenn  nur  der  Ammoniakstillstand  sehr  vorsichtig  eingeleitet  war, 
schwache  Bewegungen  wieder  hervorrufen. Hiervon  später.  Die  Säu- 
ren aber  sind  es,  welche  am  schnellsten  und  sichersten  den  Alkali- 
stilistand  beseitigen,  und  zwar  thun  sie  diess  nicht  nur,  wenn  die  Zellen 
sich  anfangs  in  indifferenten  Lösungen  befanden,  sondern  auch  wenn 
die  Bewegungen  durch  sehr  kurze  Einwirkung  von  reinem  Wasser  eben 
verlangsamt  und  dann  durch  wenig  Ammoniakgas  völlig  still  gemacht 
worden  waren.  Auch  wenn  die  Zellen  in  etwas  stärker  concentrirten 
Salzlösungen  lagen,  und  durch  überschüssiges  Alkali  gelähmt  wurden, 
können  Säuren  noch  wiederbeleben. 

Man  stellt  diese  Versuche  am  bequemsten  in  der  früher  beschriebe- 
nen Weise  mit  Dämpfen  von  Essigsäure  oder  Salzsäure  an  oder  führt  Koh- 
lensäure durch  die  Gaskammer.  Immer  aber  muss  darauf  geachtet  wer- 
den, dass  die  Alkalieinwirkung  nicht  zu  weit  getrieben  wird.  Auch  ohne 
dass  die  Zellen  aufgelöst  werden,  können  sie  solche  Veränderungen  da- 
durch erleiden,  dass  Säuren  dann  nicht  wieder  erwecken.  Experimen- 
tirt  man  vorsichtig,  so  kann  man  dieselben  Zellen  wol  fünf  und  mehrmal. 


lieber  die  Flimmerbewegiiff:  369 

abwechselnd  durch  Alkalien  (am  besten  Ammoniak)  und  durch  Säuren  zur 
Kühe  bringen  und  wieder  erwecken  ond  zwar  scheint  es  gleichgültig 
zu  sein ,  ob  man  immer  diesAbe  Säure  wieder  wählt  oder  ob  jedesmal 
eine  andere  Säure  zurBeaettigung  des  Älkalistillstandes  verwendet  wird. 

V.    Einfluss  von  Wasserstoff  und  Sauerstoff  auf  die 

Flimmerbpwegung. 

Die  in  der  Einleitung  citirten  Versuche  von  Kühne  an  Anodonta 
sind  die  einzigen ,  welche  wir  über  den  Einfluss  von  Wasserstoff  und 
Sauerstoff  auf  die  Flimmerbewegung  besitzen.  Kühne  zog  aus  ihnen 
den  Schluss,  dass  der  bei  längerem  Verweilen  in  reinem  Wasserstoff 
eintretende  Stillstand  nicht  auf  einer  giftigen  Wirkung  des  Wasserstoffs, 
sondern  auf  dem  Verdrängen  des  Sauerstoffs  beruhe.  Beimischung  von 
nur  wenig  Sauerstoff  reichte  aus^  den  Stillstand  aufzuheben.  Versuche 
bei  denen  die  Zellen  in  HämogbbinlOsung  lagen ,  zeigten ,  dass  die  Be- 
wegung von  dem  Moment  an  stillstand  wo  alles  Oxyhämoglobin  durch 
den  Wasserstoffstrom  reducirt  war.  Versuche,  welche  ich  über  den 
Einfluss  vQn  Wasserstoff  auf  die  Flimmerbewegung  bei  Wirbelthieren 
anstellte,  haben  in  einigen  Puncten  andere  Resultate  ergeben. 

Der  zu  den  Versuchen  benutzte  Wasserstoff  wurde  durch  Einwir-- 
kung  von  verdünnter  Schwefelsäure  auf  Zinkblechstücke  dargestellt, 
vor  seinem  Eintritt  in  die  Gaskammer  in  salpetersaurer  Silberoxyd- 
lösung ,  in  Kalilauge  und  Wasser  gewaschen  und  nach  seinem  Austritt 
aus  der  Kammer  von  Zeit  zu  Zeit  auf  seine  Reinheit  geprüft.  Vom  luft- 
dichten Verschluss  der  Gasleitungsröhren  und  der  Gaskammer  über- 
zeugte ich  mich  jedesmal  durch  Zudrücken  des  AusfÜhrungsschlauchs 
der  Kammer  :  die  Flüssigkeit  der  Entwicklungsflasche  stieg  sofort  em- 
por und  in  den  Waschflaschen  stiegen  keine  Gasblasen  mehr  auf. 

Meist  wurden  die  Flimmerzellen  in  der  früher  angeführten  Weise 
der  Rachenschleimhaut  eines  eben  getödteten  Frosches  entnommen, 
und  in  einem  Tropfen  Blut,  Serum ,  oder  Kochsalz  von  0,5%  der  Ein- 
wirkung des  Wasserstoffs  ausgesetzt.  Zur  Beobachtung  wurden  meist 
solche  Zellen  im  Präparate  ausgesucht,  welche  eine  zwar  verlangsamte 
aber  doch  noch  lebhafte  Bewegung  zeigten.  Die  ausgesuchten  Zellen 
wurden  stets  erst  fünf  Minuten  bis  eine  Viertelstunde  lang  beobachtet, 
während  die  Gaskammer  mit  atmosphärischer  Luft  gefüllt  war.  Hatte 
sich  dann  ihre  Bewegung  nicht  merklich  verändert ,  so  wurde  mit  der 
Einleitung  des  Wasserstoffgases  begonnen. 

Wie  sich  herausstellte ,  war  der  Erfolg  der  Behandlung  mit  Was- 
serstoff im  Wesentlichen  derselbe ,  ob  nun  die  Flimmerzellen  in  Blut 
^ Oller  Blutserum,  in  Humor  aqueus  oder  in  Kochsalzlösung  von  0,5% 

Bd    IV.  3.  24 


370  "  s  Th.  W.  EflgetnMiD, 

lagen.  In  allen  Fällen  tritt  eine  Abnahme  der  Bewegung,  nach  längerer 
Einwirkung  des  Gases  Stillstand  ein.  In  der  Regel  iindert  sich  die  Be- 
wegung innerhalb  der  ersten  Minuten  nicht.  Der  Moment  des  Wasser- 
Stoffzutritts  verräth  sich  weder  durch  eine  Beschleunigung  noch  durch 
eine  Verlangsamung  der  Bewegung.  Nach  drei  Bis  fUnf  Minuten ,  oft 
auch  erst  nach  einer  Viertelstunde  oder  später ,  im  Allgemeinen  um  so 
früher,  je  schneller  der  Wasserstoffstrom  die  atmosphärische  Luft  aus 
der  Gaskammer  verdrängt,  beginnt  die  Bewegung  nachzulassen.  Dieser 
Nachlass  erfolgt  nie  plötzlich,  sondern  allmählich  und  geht  ebenso 
allmählich  in  den  Stillstand  über.  Oft  vergeht  eine  halbe  bis  ganze 
Stunde  und  mehr  Zeit,  ehe  der  grösste  Theil  der  Zellen  zur  Ruhe  ge- 
bracht ist.  —  Die  Abnahme  der  Bewegung  erfolgt  nicht  bei  allen  Zellen 
in  derselben  Weise.  Bei  der  Mehrzahl  verlangsamt  sich  das  Tempo, 
während  zugleich  die  Amplitude  der  Schwingungen  abnimmt.  Die  mei- 
sten zeigen  die  hakenförmige  Bewegung  mit  immer  kleiner  werdenden 
Excursionen.  In  der  Regel  bewegen  sich  hier  die  Haare  einer  und  der- 
selben Zelle  bis  zu  Ende  synchronisch  und  in  parallelen  Richtungen. 
Eine  kleine  Anzahl  von  Flimmerhaaren  nimmt  eine  mehr  pendelftfrmige 
Bewegungen,  bei  der  sich,  wie  oben  auseinandergesetzt  wurde,  das 
Basalstück  der  Wimper  nicht  betheiligt.  Die  Schwingungen  beschrän- 
ken sich  auf  ein  immer  kleiner  werdendes  Stück  der  Haarspitze,  wobei 
die  Excursionsweite  abnimmt ,  das  Tempo  aber  nicht  selten  schneller 
wird.  Die  Schwingungen  benachbarter  Haare  erfolgen  hier  nicht  mehr 
in  parallelen,  sondern  in  mannichfach  sich  durchkreuzenden  Richtun- 
gen, und  geschehen  auf  einer  und  derselben  Zelle  nicht  mehr  synchro- 
nisch. Endlich  sieht  man  nur  noch  die  äussersten  Spitzen  der  Haare 
sehr  kleine,  zitternde  Bewegungen  ausführen.  Diese  werden  bald  un- 
messbar  klein,  endlich  nicht  mehr  wahrnehmbar.  —  Eine  sehr  geringe 
Anzahl  von  Flimmerhaaren' behält  bis  zu  Ende  die  wellenförmige  Be- 
wegung. Hier  schwingen  alle  Haare  derselben  Zelle  bis  zuletzt  synchro- 
nisch und  in  parallelen  Richtungen.  Das  Tempo  verlangsamt  sich  aber 
allmählich ,  so  dass  kurz  vor  dem  Aufhören  vielleicht  nur  von  fünf  zu 
fünf  Secunden  eine  Schwingung  ausgeführt  wird.  Dann  treten  noch 
grössere  Pausen  ein,  von  einer  Viertdminute  und  darüber,  es  erfolgt 
noch  ein  einzelner  Schlag,  endlich  nichts  mehr. 

Wo  schon  vor  dem  Einleiten  des  Gases  Verlangsamung  der  Bewe- 
gung bemerkbar  war ,  beschleunigt  der  Wasserstoff  den  Eintritt  des 
Stillstandes.  Mitunter  hört  bei  einzelnen  Zellen  die  Bewegung  selbst 
dann  nicht  völlig  auf,  wenn  der  Wasserstoffstrom  eine  Stunde  und 
länger  in  unverminderter  Stärke  die  Kammer  passirt  hat  und  wenn  an 
den  benachbarten  wie  den  entfernteren  Stellen  des  Präparates  die  Be— 


Oeber  die  PILmnerbewegnn^'  37  \ 

wegung  schon  lange  stillsteht.  Diess  sjfiid  meist ,.  doch  durchaus  nicht 
immer,  solche  Zellen,  welche  zu  Anfang  des  Versuches  eine  sehr  starke 
und  schnelle  Bewegung  zeigten.  Man  trifft  sie  namentlich  bei  Anwen- 
dung von  Blut  oder  Blut^arum  als  Untersuchungsflttssigkeit,  doch  im- 
merhin selten.  Stetv  ist  ihre  Bewegung  wenigstens  sehr  beträchtlich 
verlangsamt,  und  kommt  nach  mehrstündigem  Verweilen  in  der  Atmo- 
sphäre von  reinem  Wasserstoff  endlich  auch  zur  Ruhe. 

Liegen  die  Zellen  nicht  in  den  obengenannten  »indifferenten  Flüs- 
sigkeiten,a  sondern  in  etwas  concentrirterer  Kochsalzlösung 
(z.B.  4%),  so  tritt  der  Wasserstoffstillstand  noch  viel  eher  ein  und  zwar 
viel  früher,  als  er  bei  Anwesenheit  von  Sauerstoff  in  der  letzteren  Lö- 
sung zu  Stande  gekommen  sein  würde. 

Verschiedene  Versuche,  bei  denen  die  Zellen  in  OxyhUmoglobin- 
lösung  oder  reinem  Blut  lagen ,  ergaben  das  constante  Resultat ,  dass 
die  Bewegung  noch  lange  (eine  Stunde  und  mehr)  fortbestehen  blieb, 
nachdem  alles  Sauerstoffhämoglobin  durch  den  Wasserstoffstrom  redu- 
cirt  schien.  Es  wurde  bei  diesen  Versuchen  regelmässig  erst  längere  Zeit 
(eine  Vieitelstunde  und  länger)  Wasserstoff  durch  die  vor  der  Gaskam- 
mer gelegenen  Theile  des  Apparates  geführt,  ehe  die  Gaskammer  selbst 
in  den  Wasserstoffstrom  eingeschaltet  ward.  Der  Druck  im  Innern  der 
Gaskammer  war  immer  ansehnlich  höher  als  der  der  Atmosphäre.  Unter 
diesen  Umständen ,  wo  von  Anfang  an  reiner  Wasserstoff  in  die  Kam- 
mer eintritt,  brauchte  man  in  der  Regel  nicht  mehr  als  40  — 15  Minuten 
lang  Wasserstoff  durchzuführen  um  alles  Sauerstoffhämoglobin  zu  re- 
duciren ,  das  sich  in  dem  1  wie  gewöhnlich  unbedeckt ,  an  der  Unter- 
fläche des  Deckglases  schwebenden  Tropfen  befand.  Schon  für  das 
blosse  Auge  war  zu  dieser  Zeit  deutlich  die  bekannte  Farbenverände- 
rung eingetreten  und  mittelst  des  Mikroskops  konnte  man  sich  an  den 
einzelnen  Blutkörperchen  von  derselben  überzeugen.  Die  Untersuchung 
mit  dem  Spectralapparat  zeigte ,  dass  die  beiden  anfangs  sehr  deutlich 
wahrnehmbaren  Absorptionsbänder  des  Sauerstoffhämoglobins  ver- 
schwunden waren.  Dennoch  hatte  zu  dieser  Zeit  die  Stärke  und  Schnel- 
ligkeit der  Bewegung  nur  wenig  oder  gar  nicht  abgenommen.  Als  etwas 
atmosphärische  Luft  in  den  Apparat  gelassen  wurde,  erschienen  die 
Absorptionsbänder  des  Sauerstofihämoglobins  sehr  schnell  wieder. 

Zur  Wiederbelebung  aus  dem  Wasserstoffstillstand  reicht  Zufuhr  von 
Sauerstoff  in  vielen  Fällen  aus.  Hat  man  durch  einen  Strom  reinen 
Wasserstoffgases  die  Flimmerbewegung ,  in  Serum  z.  B. ,  verlangsamt 
und  mischt  nun  dem  Wasserstoff  plötzlich  Sauerstoff  bei ,  so  beginnt 
bald  an  allen  Stellen  die  Bewegung  sich  zu  beschleunigen  und  die  Am- 


372  s  'rh.  W.  KiigelmaHUt 

plitude  der  Schwingungen  sidh  zu  vcrgrössern.  [st  die  zugeführte 
Sauerstoffmenge  sehr  gering,  so  dauert  es  oft  eine  halbe  Minute  und 
länger ;  ehe  die  Beschleunigung  sich  bemerkbar  macht.  Auch  tritt  sie 
dann  nicht  mit  einem  Schlage,  sondern  alknählich  ein.  Eine  Minute 
und  mehr  Zeit  kann  verstreichen ,  ehe  die  Wimpeln  wieder  so  schnell 
schlagen,  wie  vor  dem  Einleiten  des  Wasserstoffs.  —  Ist  die  zugeftthrte 
Sauerstoffmenge  gross,  so  kann  schon  nach  zehn  Secunden  eine  ziem- 
lich plötzliche  Beschleunigung  und  Verstärkung  der  Bewegungen  be- 
ginnen. Wenige  Secunden  später  kann  die  Bewegung  ihr  Maximum 
erreicht  haben,  und  hält  sich  nun,  wenn  fortdauernd  genügende  Sauer— 
stoffmengen  zugeführt  werden,  lange  Zeit  auf  dieser  Höhe.  —  Im  Beginne 
der  SauerstoflTeinwirkung  beobachtet  man  gleichzeitig  eine  Vergrösse- 
rung  der  Excursionsweile  und  eine  Steigerung  der  Frequenz.  Wim- 
pern, die  bei  der  Verlangsamung  in  Wasserstoff  eine  hakenförmige 
Bewegung  zeigten,  nehmen  dann  zuweilen  wieder  die  normale  wellen- 
förmige Bewegung  an.  Im  Aussehen  der  Zellen  ändert  sich  nichts. 

Ist  die  Flimmerbewegung  durch  einen  Wasserstoffstrom  in  Serum 
oder  Kochsalz  von  0,5%  völlig  zur  Buhe  gebracht,  so  hängt  die  Schnel- 
ligkeit der  Wiederbelebung  durch  Sauerstoff  von  mehreren  Umständen 
ab.  Einmal  nämlich  von  der  Zeit,  welche  der  Wasserstoffstillstand  be- 
reits gedauert  hat  und  dann  von  der  Menge  des  zugeführten  Sauer- 
stoffs.   Stehen  die  Wimpern  erst  kurze  Zeit  (einige  Minuten  bis  eine 
halbe  Stunde)  im  Wasserstoffstrom  slill,   so  genügt  eine  sehr  kleine 
Menge  Sauerstoff,  um  sie  wieder  in  Bewegung  zu  bringen.    Sie  er- 
wachen um  so  später  und  um  so  langsamer,   je  länger  sie  schon  im 
Wasserstoff  stillgestanden  haben  und  je  geringer  die  Sauerstoff'mengo 
ist.   Führt  man  den  Sauerstoff  erst  zu,  nachdem  der  Wasserstoffstill- 
stand mehrere  Stunden  lang  gedauert  hat,  so  muss  man  oft  einige  Mi- 
nuten warten,  ehe  die  Bewegung  wieder  beginnt.    Ja,  wenn  nur  sehr 
wenig  Sauerstoff  zugeleitet  wird,  kann  es  vorkommen,  dass  die  Bewe- 
gung innerhalb  der  ersten  Viertelstunde  und  vielleicht  überhaupt  nicht 
mehr  erwacht.  —  Verdrängt  man  plötzlich  den  Wasserstoff  durch  rei- 
nen Sauerstoff,  so  kann  man  w^enigstens,  wenn  die  Zellen  in  Blut  oder 
Blutserum  liegen ,  sicher  sein ,  selbst  nach  langer  Dauer  des  Wasser- 
stoffstillstandes ,  die  meisten  Zellen  wieder  in  Bewegung  zubringen. 
Doch  muss  man  auch  hier  mitunter  Minuten  lang  warten.    Nicht  alle 
Wimpern  fangen  dann  zu  gleicher  Zeit  an,  sich  wieder  zubewegen. 
Einzelne  beginnen  mit  einer  sehr  langsamen ,   grossen  Schwingung, 
andere  mit  sehr  kleinen ,  hakenförmigen  Bewegungen ,  die  allmählich 
grösser  und   frequenter  werden.     Selten  erreichen  die  Bewegungen, 
wenn  sie  längere  Zeit  in  Wasserstoff  stillgestanden  haben,  eine  bedeii- 


üeber  die  Flimmerbewegung;^'^  373 


tondo  Geschwindigkeit.  Bei  nicht  weniysfi' Zellen  steht  schon  ein  paar 
Minuten  nach  dem  Zutritt  des  Sauerstoffs  die  Bewegung  wieder  still. 
Regelmässig  erwacht  bei  einzelnen  Zellen  die  Bewegung  selbst  in  rei- 
nem Sauerstoff  nicht  wieder.  Ebenso  wie  der  Sauerstoff  wirkt  auch 
kohlensUurefreie  atijiofiphärische  Luft  auf  den  Wasserstoffstillstanll. 
Noch  häufiger  misslingt  die  Wiederbelebung  der  Bewegung  durch 
Sauerstoff,  wenn  die  Zellen  in  etwas  zu  concentrirten  Kochsalzlösungen 
(fA^  etwi^  gelegen  und  schon  längere  Zeit  im  Wasserstoffstrom  still- 
gestanden haben.  Da  man  hier  ausser  dem  hemmenden  Einfluss  des 
Wasserstoffs  noch  die  schädliche  Wirkung  einer  zu  stark  concentrirten 
Flüssigkeit  hat ,  nimmt  es  nicht  Wunder,  dass  Sauerstoffzufuhr  allein 
zur  Wiederbelebung  nicht  immer  ausreicht.  Und  dasselbe  gilt  auch 
von  den  angeblich  indifferenten  Lösungen,  wie  Serum,  Humor  aqueus 
u.  s.  f.,  da  diese,  wie  wir  oben  zeigten,  fast  immer  etwas  zu  concen- 
trirt  sind.  Auch  wenn  in  diesen  Flüssigkeiten  die  Flimmerzellen  in  rei- 
nem Wasserstoffstrom  zur  Ruhe  kamen ,  ist  dieser  Stillstand  nicht  dem 
Wasserstoff  allein  zuzuschreiben.  Diess  geht  daraus  hervor,  dass  in  den 
Fällen ,  wo  Verdrängen  des  Wasserstoffs  durch  Sauerstoff  allein  nicht 
ausreicht,  die  Bewegung  wieder  zu  erwecken ,  diess  doch  sofort  ge- 
schieht, wenn  man  einen  Tropfen  Wasser,  den  Dampf  von  einer  Säure, 
von  Ammoniak ,  von  Aether,  Wärme,  kurz  irgend  eins  der  Mittel  dem 
Präparat  zuführt,*  welche  den  in  indifferenten  oder  zu  concentrirten 
Lösungen  »von  selbst«  eintretenden  Stillstand  aufheben.  Ja,  wenn  der 
Wasserstoffstillstand  nicht  schon  Stunden  lang  angehalten  hatte ,  rei- 
chen in  der  Regel  sogar,  wie  früher  schon  erwähnt,  die  letztgenannten 
Mittel  allein  zur  Wiederbelebung  aus,  ohne  dass  es  der  Zufuhr  von 
Sauerstoff  bedürfte.  Hierauf  beruht  es  denn  auch,  dass  der  Wasserstoff- 
stillstand später  eintritt  in  alkalischem  Serum  als  in  den  günstigsten  Koch- 
salzlösungen, später  in  dreiprocentiger  Zuckerlösung  der  eine  Spur  Alkali 
zugesetzt  wurde  als  in  roiner  Zuckerlösung  von  3  % ,  später  wenn  dem 
Wasserstoffstrom  beständig  eine  Spur  Kohlensäure  beigemischt ,  wird, 
u.  s.  L  Das  Nähere  hierüber  wurde  schon  in  früheren  Abschnitten  mit- 
getheilt.  Die  Flimmerbewegung  kann  sich  also  in  einer 
sauerstofffreien  Atmosphäre  noch  einige  Zeit  (bis  mehrere 
Stunden)  erhalten,  wenn  nur  die  Flüssigkeit  in  der  die  Zel- 
len liegen  eine  passende  Concentration,  Reaction  und 
Temperatur  besitzt. 

Ganz  ähnlich  wie  in  Wasserstoff  verhalten  sich  die  Zellen  in  einer 
Atmosphäre  von  kohlensäurefreiem  Leuchtgas.  Allmählich  — 
meist  im  Verlauf  einer  oder  mehrerer  Stunden  —  tritt  Stillstand  ein, 
den  Sauerstoffzufuhr  aufhebt. 


374  -v      Th.  W.  Engelmftnn, 

Lässt  man  den  WasserstMTstillstand  bei  Zellen  die  in  Serum  oder 
Kochsalz  von  0,5%  liegen,  sehr  lange,  etwa  mehrere  Stunden  dauern, 
so  gelingt  die  Wiederbelebung  durch  Wasser,  Säuren,  Alkalien  , 
Wärme  u.  s.  f.  nicht,  wenn  Sauerstoff  abgeschlossen  bleibt,  unter- 
bricht man  dann  aber  den" Wasserstoffstrom  und  lässt  Luft  in  die  Gas- 
kammer eintreten,  so  erwacht  die  Thätigkeit  der  Zellen  wieder. 

Mischt  man  dem  Wasserstoffstrom  vor  seinem  Eintritt  in  <lie  Gas- 
kammer beständig  eine  Spur  Sauerstoff  bei,  so  erhält  sich  die  Bewe- 
gung viel  länger  als  in  reinem  Wasserstoff.  Die  Menge  des  beigemisch- 
ten Sauerstoffs  ist  auf  die  Dauer  der  Bewegung  von  merklichem  Ein  - 
fluss.  Im  Allgemeinen  hält  die  Bewegung  um  so  länger  an,  je  mehr 
Sauerstoff  beigemischt  wird ,  doch  reichen  schon  kleine  Mengen  dieses 
Gases  aus,  um  den  Eintritt  des  Stillstandes  lange  hinauszuschieben. 
Ist  die  Menge  des  Sauerstoffs  im  Yerhältniss  zu  der  des  Wasserstoffs 
sehr  klein,  so  tritt  der  Stillstand  bei  weitaus  den  meisten  Zellen  früher 
edn,  als  er  unter  übrigens  gleichen  Umständen  bei  alleiniger  Anwesen- 
heit von  atmosphärischer  Luft  eingetreten  sein  würde.  Man  kann  schon 
nach  ein  paar  Stunden,  bei  Anwendung  von  halbprocentiger  Kochsalz^ 
lösung ,  die  Mehrzahl  der  Zellen  in  Ruhe  finden.  Doch  ist  es  mir  nie 
gelungen  alle  Zellen  still  zu  machen,  wenn  überhaupt  noch  etwas  Sauer- 
stoff in  die  Gaskammer  gelangte. 

Der  günstige  Einfluss  des  Sauerstoffs  kann  sich  selbst  dann  noch 
äussern ,  wenn  die  Flimmerbewegung  in  indifferenten  Lösungen  in  at- 
mosphärischer Luft  sich  zu  verlangsamen  beginnt.  Schickt  man  einen 
Strom  reinen  Sauerstoffgases  durch  die  bis  dahin  mit  atmosphärischer  Luft 
gefüllte  Kammer,  so  beschleunigen  und  verstärken  sich  binnen  wenigen 
Secunden  alle  Bewegungen  und  können  sich  dann  lange  auf  einer  be- 
trächtlichen Höhe  erhalten.  Auch  bei  Zellen ,  welche  unmittelbar  nach 
dem  Anfertigen  des  Präparates  schon  eine  verlangsamte  Bewegung  zei- 
gen ,  bewirkt  das  Verdrängen  der  atmosphärischen  Luft  durch  reines 
Sauerstoffgas  eine  Beschleunigung,  oder  falls  schon  Stillstand  eingetre- 
ten war,  ein  Wiedererwachen  der  Bewegung.  Doch  erlischt  bei  ihnen 
nach  einiger  Zeit  auch  in  reinem  Sauerstoffgase  die  Bewegung. 

Auch  der  Stillstand,  welchen  etwas  zu  concentrirte  Koch- 
salzlösungen herbeiführen,  ebenso  der  Wasserstillstand,  wenn 
er  erst  seit  sehr  kurzer  Zeit  besteht ,  kann  durch  einen  Strom  von-  rei- 
nem Sauerstoffgas  für  kurze  Zeit  gehoben  werden. 

In  einer  Atmosphäre  von  reinem  Sauerstoff  scheint  die  Bewegung 
zuweilen  etwas  früher  zu  erlösclien  als  untor  sonst  gleichen  Bedingun- 
gen bei  Anwesenheit  von  Luft.    Der  einmal  in  reinem  Sauerstoff  ein- 


lieber  die  Fliamerbewegung.  ^  375 

/^ 
getretene  Sliilstand  kano  aber  niemals  juitti  Luft  oder  irgend  ein  in- 

diflEerenies  Gas  beseitigt  werden ;  es  hängt  nur  von  der  Beschaffenheit 
der  Uniersuchungsflttssigkeit  ab ,  wdehe  Mittel  man  zur  Wiederbele- 
bung wählen  muss ;  bei  inj£fferenten  oder  etwas  zu  concentrirten  Lö- 
sungen also  Wasser,  Alkalien,  Säuren,  Wärme  u.  s.  f. 

Die  in  reinem  Sauerstoff  zur  Ruhe  gekommenen  Flimmerhaare  ha- 
ben dasselbe  Aussehen,  wie  die  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  in 
'Wasserstoff  oder  in  atmosphärischer  Luft  zur  Ruhe  gebrachten  Zellen. 
Die  Cilien  stehen  schräg  nach  voni  geneigt. 

Dasselbe  Verhalten  gegen  Wasserstoff  und  Sauerstoff,  welches  hier 
für  die  Flimmerzellen  der  Mund-  und  Rachenschleimhaut  des  Frosches 
geschildert  wurde,  zeigte  auch  die  Flimmerbewegung  vom  Oesophagus, 
vom  Herzbeutel  des  Frosches,  die  der  Tracheal-  und  der  Nasenschleim- 
haut des  Kaninchens. 

Ueber  den  Einfluss  von  Ozon  habe  ich  keine  Versuche  angestellt. 

VI.    Einfluss  von  Aether,  Alkohol  und  Schwefelk.ohlen- 

stoff  auf  die  Flimmerbewegung. 

Nach  den  Angaben  von  Pürktnb  und  Valentin  ^)  hebt  Schwefel- 
ätber  in  hundertfacher,  Alkohol  in  zehnfacher  Wasserverdttnnung  die 
Flimmerbewegung  »in  kürzerer  oder  längerer  Zeit«  auf.  In  Ueberein- 
siimmung  hiermit  fand  später  Köllikbr^],  dass  Alkohol  und  Aether 
auch  auf  die  Bewegungen  der  Spermatozoon  schädlich  wirken.  Claude 
Bkrkabb  ^)  endlich  brachte  den  Oesophagus  eines  Frosches  unter  eine 
mit  AethM'dämpfen  gefüllte  Glasglocke  und  sah,  dass  die  Bewegung 
bald  aufhörte,  beim  Aufheben  der  Glocke  aber  wieder  begann.  Diess 
Wenige  ist,  soviel  ich  weiss,  Alles,  was  über  die  Einwirkung  der  ge- 
nanaten  Stoffe  auf  die  Flimmerbewegung  bekannt  ist. 

Es  lohnte  sich,  zu  untersuchen ,  wie  diese  Körper  wirken ,  wenn 
man  sie  als  Gase  den  Flimmerzellen  zuführt.  Ich  benutzte  dazu  wieder 
die  früher  beschriebene  Gaskammer.  Das  Object  hing  auf  der  untern 
Fläche  des  Deckglases  im  Innern  der  Kammer.  Mittelsteines  capillar  aus- 
gezogenen Glasröhrchens  ward  ein  Aether-  oder  Alkoholtropfen  durch 
eine  der  seitlichen  Mündungen  auf  den  Boden  der  Gaskammer  gebracht. 
Um  das  Einführen  der  Flüssigkeit  durch  die  Mündung  zu  erleichtem,  war 
eine  der  messingenen  Ansatzröhren  abgeschraubt  worden.  Ueber  diean- 


1)  P.  et  V.  De  phaenomeno  generali  etc.  p.  74.  ~  R.  W.  U.  Bd.  I.  pag.  541. 

2)  Ztschr.  f.  wiss.  Zoologie  Bd.  VII.  pag.  348. 

8)  Le^ons  sur  les  propri^t^s  des'tissus  vivants.  pag.  187.  Paris  1866. 


376  *  "V        Th.  W.  Engelmann, 


dere  war  ein  Kautschukschtau^h  gezogen,  dessen  freies  Ende  ioh  in  der 
Regel  während  der  Beobachtung  im  Munde  hielt,  um  —  worauf  es  in 
diesen  Versuchen  oft  ankommt  — jederzeit  einen  beliebig  starken  Luft— 
Strom  durch  die  Kammer  saugen  zu  kOnnen.  Durch  ein  paar  Tropfen 
Wasser  wurde  der  Raum  feucht  gehalten. 

Lässt  man  in  dieser  Weise  Aether  auf  Flimmersellen  wirken,  die 
der  Rachenschleimhaut  eines  eben  getOdteten  Frosches  entnomiq/BA 
wurden,  so  beobachtet  man  Folgendes. 

War  die  Flimmerbewegung  in  Serum  oder  in  indifferenten 
Kochsalz- oder  Zuckerlösungen  langsamer  geworden,  stellenweise 
vielleicht  ganz  ausgelöscht,  so  erwacht  sie  beim  Zutritt  der  Aether— 
dämpfe  und  kann  zuweilen  die  normale  Höhe  fast  wieder  erreichen. 
Schon  zehn  bis  zwanzig  Secunden  nach  dem  Einführen  des  Aethers  be- 
ginnt, wenn  der  Aethertropfen  gross  war,  die  Bewegung  mit  starken, 
wellenförmigen  Schlägen  und  in  raschem ,  schnell  das  Maximum  errei- 
chenden Tempo.  Wurde  nur  wenig  Aether  eingeführt,  dann  können  die 
ersten  Bewegungen  sehr  langsam  sein ,  sind  aber  auch  meist  gross  und 
wellenförmig  und  nehmen  allmählich  an  Schnelligkeit  zu.  Im  Aussehen 
der  Flimmerzellen  selbst  ändert  sich  hierbei  nichts.  —  Bringt  man  nun 
mehr  Aether  ein,  so  dass  die  Kammer  beständig  mit  Aetherdampf  gefüllt 
ist,  so  verlangsamt  sich  die  Bewegung  bald  wieder,  wobei  aber  die 
einzelnen^  Bewegungen  meist  gross  und  wellenförmig  bleiben ;  schon 
nach  zwei  bis  drei  Minuten  kann  Stillstand  im  ganzen  Präparat  sein. 
Zugleich  entsteht  eine  feinkörnige  Trübung  im  Innern  der  Zellen  und  oft 
quellen  dann  hyaline  Tröpfchen  an  der  Oberfläche  des  Epithels,  na- 
mentlich aus  den  sogenannten  Becherzellen  heraus.  —  Die  Wimpern 
stehen  in  der  Aetherruhe  alle  schräg  nach  einer  Seite  geneigt ,  ebenso 
wie  das  früher  für  andere  Arten  des  ^Stillstandes  beschrieben  wurde. 

Je  langsamer  der  Aether  still  stand  eingetreten  ist,  und  je  kür- 
zere Zeit  er  angedauert  hat,  um  so  leichter  ist  es,  ihn  zu  beseitigen.  Man 
braucht  dazu  nur  einen  starken  Strom  atmosphärischer  Luft  durch 
die  Kammer  zu  saugen :  allmählich  fangen  dann  die  meisten  Wimpern 
wieder  an  zu  schlagen ;  erst  sehr  langsam,  dann  schneller.  Die  Trübung 
der  Zellen  nimmt  hierbei  wieder  ab.  Die  Bewegungen  erreichen  aber, 
namentlich  wenn  sie  schon  einige  Minuten  lang  still  gestanden  hatten, 
selten  wieder  eine  bedeutende  Grösse  und  Schnelligkeit.  Sic  bleiben 
oft  hakenförmig.  — 

War  die  Aethereinwirkung  so  stark ,  dass  Durchsaugen  von  Luft 
die  Bewegung  nicht  wiedererweckt,  so  ^stehen  die  Zellen  für  immer 
still.    Weder  Säuren  noch  Alkalien ,  weder  reines  Wasser  noch  Salz- 


Ueber  dieFlünmerbewegung.^^  377 


lösungen  beleben  sie  wieder.  Säuren  u|drAlkalien  befördern  vielmehr 
den  Eintritt  des  Aetherstillstandes ,  wenigstens  bei  Zellen  die  in  lod- 
seruro  oder  indifferenten  Salzlösungen  liegen.  Liess  ich  z.  B.  so  lange 
Aether  einwirken,  bis  die  Bewegung  auf  etwa  5  —  8  Schläge  in  5  Se- 
ounden  verlangsamt  war,  so  trat  momentan  Stillstand  ein,  als  eine 
Spur  von  Ammoniakgas  in  die  Kammer  gesogen  wurde.  Dasselbe  ge- 
schah, wenn  staitt  des  Ammoniaks  schwache  Essigskuredämpfe  ange- 
wendet wurden. 

Hat  man  die  Flimmerbewegung  durch  schwach  wasserentzie- 
hende Mittel,  z.  B.  Kochsalzlösung  von  ^,5%  bis  2%,  Zucker  von 
3  %  oder  verdünntes  Glycerin  verlangsamt  oder  zum  Stillstand  gebracht, 
so  wirkt  der  Aether  ebenfalls  erst  beschleunigend  und  wieder  erweckend, 
bei  längerer  Einwirkung  dann  hemmend.  Die  Beschleunigung  sowol 
als  der  darauf  folgende  Stillstand  treten  hier  aber  langsamer  ein ,  als 
bei  den  ganz  indifferenten  Lösungen.  Wie  bei  letzteren  kann  der  Still- 
stand, wenn  er  vorsichtig  herbeigeführt  wurde ,  durch  Verdrängen  des 
Aetherdampfes  mittelst  atmosphärischer  Luft  aufgehoben  werden.  Ge- 
lingt diess  nicht,  dann  können  weder  Säuren  noch  Alkalien,  auch  Was» 
ser  nicht  die  Bewegung  wiederbeleben.  —  Erreicht  die  Concentration  der 
Kochsalzlösung  2,5%  und  mehr,  so  vermag  Aether  nicht  zu  beleben. 

Von  Belang  ist  es ,  dass  der  Aether  ebenso  wie  auf  FUmmerzellen 
die  durch  wasserentziehende  Mittel  zur  Buhe  gebracht  wurden,  auch  auf 
solche  Zellen  wirkt,  welche  durch  Behandlung  mit  destillirtem  Was- 
ser, also  unter  Quellung  still  geworden  sind.  Auch  im  letzteren  Falle 
belebt  Aether  die  Bewegung  wieder,  wenngleich  nicht  so  stark  als  un- 
ter den  obengenannten  Umständen.  Bei  fortdauernder  Einwirkung  tritt 
dann  Stillstand  ein ,  der  gleichfalls  durch  einen  starken  Luftstrom  zu- 
weilen aufgehoben  werden  kann. 

Minder  deutlich  ist  das  Stadium  der  Beschleunigung,  wenn  die  Flim- 
merbewegung (in  iodserum)  durch  Ammonia k gas  verlangsamt  ist. 
Lässt  man  die  Ammoniakdämpfe  so  lange  einwirken,  bis  die  Haare  nur 
noch  ungefähr  drei  bis  fünf  Schwingungen  in  fünf  Secunden  ausfüh- 
ren, und  bringt  man  dann  ein  wenig  Aether  in  die  Kammer,  so  tritt  eine 
höchst  unbedeutende  Beschleunigung  ein ,  der  sehr  schneU  Stillstand 
folgt.  Letzteren  kann  man  durch  einen  Luftstrom  wieder  aufheben.  — 
Waren  die  Zellen  durch  das  Ammoniak  schon  völlig  zur  Buhe  gekom-' 
men,  so  gelingt  eine  Wiederbelebung  durch  Aether  selten  und  auch 
dann  sind  die  Bewegungen  nur  sehr  klein,  mehr  zitternd  und  von  sehr 
kurzer  Dauer.  Nach  Durchsaugen  von  Luft  kann  man  dann  durch  Säu- 
ren den  Stillstand  fast  ebenso  leicht  wieder  aufbeben ,  als  wenn  kein 


378  ^        Th.  W.  £Dgelinann, 

/  Aether  eingewirkt  hätte;    vdipusgesetzt ,  dass  man  nieht  viel  Aeiher 

hatte  einwirken  lassen.  — 

Ebenso  wie  auf  die  durch  Ammoniak  wirkt  nun  der  Aether  auf 
die  durch  Säuren  verlangsamte  Flimmerbewegung:  äusserst  schwache 
Beschleunigung  anfangs,  die  auch  ganz  fehlen  kann,  hierauf  Stillstand, 
der  durch  Luft  aufzuheben  ist.  Säurestillstand  konn  nur  selten  und 
immer  nur  sehr  vorübergehend  durch  Aether  beseitigt  werden ;  meist 
aber  durch  Alkalien  nach  Verdrängung  des  Aethers  durdli  Luft.  —  iUe 
durch  schwere  Metallsalze  vorsichtig  erzeugte  Flimmerruhe  bleibt  bei 
Zufuhr  von  Aether  bestehen.  — 

Ganz  übereinstimmend  mit  dem  Aether  wirken  nun  Alkohol  und 
Schwefelkohlenstoff.  Sie  beschleunigen  unter  densdbenBedingun* 
gen  wie  der  Aether  die  erlahmte  Bewegung.  Bei  längerer  Einwirkung 
machen  sie  Stillstand.  Auch  dieser  Stillstand  kann  unter  Umständen  selbst 
nach  Minuten  langer  Dauer  durch  einen  l.uftstrom  aufgehoben  werden. 
Vermag  Luft  allein  nicht  mehr  diess  zu  thun,  so  helfen  auch  Säuren, 
Alkalien  und  reines  Wasser  nichts;  ebenso  wenig  natürlich  Aether. 
Die  Veränderungen  der  Zellen  bei  der  Einwirkung  des  Alkohols  und 
des  Schwefelkohlenstoffs  sind  gami  ähnlich  denen ,  welche  unter  dem 
Einfluss  des.  Aethers  entstehen ,  Schwefelkohlenstoff  macht  die  in  lod- 
serum  liegenden  Zellen  etwas  glänzend ;  zugleich  isoliren  sioh  die  Zel- 
len von  einander. 


VII.   Einfluss  des  Chloroforms  auf  die  Flimmer- 
bewegung. 

Die  Wirkung  des  Chloroforms  unterscheidet  sidi  wesentlich  vod 
der  der  drei  ebenerwähnten  Stoffe :  es  fehlt  nämlich  das  Stadium  der 
Beschleunigung.  Unter  allen  Umständen  beginnt  die  Bewegung  sogleich 
sich  zu  verlangsamen,  und  sehr  wenig  Chloroformdampf  genügt 
schon ,  um  selbst  eine  vorher  äusserst  lebhafte  Bewegung  völlig  zur 
Ruhe  zu  bringen.  Beim  Eintritt  der  Chloroformnarkose  bildej.  sich  in 
den  (in  lodserum  liegenden)  Zellen  eine  äusserst  feinkörnige,  allmäh- 
lich zunehmende  Trübung.  Die  Kerne  erscheinen  als  matte,  pralle 
Bläschen  mit  deutlichem  Kernkörperchen.  Während  der  Narkose  stec- 
hen die  Wimpern,  wie  bei  andern  Formen  des  Stillstandes,  alle  schräg 
vom  übergeneigt. 

Ebenso  leicht  wie  die  Bewegung  durch  Chloroform  einschläft,  ebenso 
leicht  —  schon  naob  ein  paar  Secunden  —  erwacht  sie  auch  wieder, 
wenn  man  einen  Strom  reiner  atmosphärischer  Luft  durch  die 


,  Ueber  die  FUnmerbewvgnng./^  379 

Gaskammer  saugt.  Die  Zellen  nehmen^werbei  das  normale  Aussehen 
allm^hlidi  wieder  an.  Man  kann  bei  einiger  Vorsicht  die  Narkose  ohne 
Gefahr  fttr  die  Zellen  eine  Vierielslunde  und  länger  anhalten  lassen. 
An  lodserumpräparalen  habe  ich  den  Ghloroformstillstand  noch  nach 
einer  Dauer  von  20  Mkititen  durch  einen  Luftstrom  aufheben  können. 

Die  Bewegungen  sind  beim  Wiedererwachen  von  kurzem  Still- 
stande erst  sehr  langsam  ( —  die  erste  Schwingung  dauert  zuweilen 
9l^Seo«Bden  — ),  aber  fast  immer  sind  sie  gross  und  welleiiförmig. 
Sie  können  binnen  einer  halben  Minute  ihre  anfängliche  Schnelligkeit 
wieder  erreichen.  —  Man  kann  auch  die  Zellen  wohl  fünf-  und  mehr- 
mal  nacheinander  chloroformiren  und  wieder  erwedien,  ohne  dass  die 
Bewegung  dadurch  bleibend  geschwächt  wird.  Hierin  unterscheidet 
sidi  die  Ghloroformnarkose  vom  Aether;  nach  mehrmals  wiederholtem 
Aetherstillstande  erreichen  die  Bewegungen  keine  grosse  Höhe  mehr.  — 

So  leicht  nun  ein  massiger  Grad  von  Ghloroformnarkose  durch 
Verdrängen  des  Giftes  mittels  atmosphärischer  Luft  aufgehoben  wer- 
den kann,  so  unmöglich  ist  es,  einen  Ghloroformstillstand  zu  beseiti- 
gen, der  durch  Luft  allein  nicht  gelöst  wird.  Hier  helfen  weder  Alka- 
lien noch  Säuren,  weder  Wasser  noch  Salzlösungen.  Auch  Aether, 
Alkohol  und  Schwefelk4»Menstoff  versagen  ihreu  belebenden  Einfluss. 

VIII.   Einfluss  einiger  Gifte  auf  die  Flimmerbewegung. 

Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  giebt  es  kein  Gift  fttr  die  FHm- 
merbewegung.  Die  furchtbarsten  Gifte  sind  nach  PcitttNjB  und  Valbn- 
TiN  selbst  in  starken  Goncentrationsgraden  unschädlich :  Blausäure  und 
salpetersaures  Strycbnin  z.  B.  haben  nach  den  genannten  Autoren  we- 
der in  den  gesättigtesten  noch  in  der  verdünntesten  Lösung  einen  Ein- 
fluss auf  die  Bewegung  bei  Unio  und  Anodonta.  Morphium  aceticum 
und  Extractum  belladonnae  ebensowenig.  In  gesättigter  Lösung  von 
salzsaurem  Veratrin  soll  die  Bewegung  erst  nach  4  0  Minuten  aufgehört 
und  in  verdttnnteren  Lösungen  sich  unverändert  erhalten  haben.  Die 
Anführung  dieser  Angaben,  welche  zum  Theil  auch  von  Sbarpey  bestä- 
tigt wurden,  und  denen,  so  viel  mir  bekannt,  bisher  nicht  widerspro- 
chen worden  ist^  mögen  hier  genügen. 

Meineeigenen  Versuche,  welche  mit  Veratrin,  Gurare,  Strycb- 
nin, Atropin,  Galabarextract  an  dem  Flimmerepithel  derRachen- 
schleimbautdes  Frosches  angestellt  wurden,  zeigten  gleichfalls,  dass  diese 
Stoffe  keine  Gifte  für  die  Plimmerbewegung  sind.  Hat  man  mit  einem 
der  genannten  Körper  —  gleichviel  in  welcher  Dosis  —  einen  Frosch 
vergiftet ,  so  bleibt  die  FKmmerbewegung  unverändert  bestehen ,  und 


380  ^v       Th.  W.  Engelmaun, 


rcagiri  gegen  alle  äusseren  Ei)B}üsse  wie  die  normale  Bewegung.  —  An- 
ders ist  es  natürlich,  wenn  man  die  Flimmerzellen  direct  in  Lösungen 
der  Gifte  bringt.  Aber  auch  hier  zeigt  sich,  dass  minimale  Dosen  ohne 
Einfluss  sind.  Die  reinen  Alkaloide  verhalten  sich  wie  andere  alkalisch 
reagirende  Stoffe,  ihre  Salze  sich  wie  andere  Salze.  Concentration  und 
Reaction  bestimmen  den  Erfolg. 

Bei  einem  bestimmten  Concentrationsgrade ,  der  sich  von  dem 
nicht  giftiger  neutraler  Salze  nicht  entfernt,  sind  neutrale  LösungBfl 
jener  giftigen  Salze  indifferent  für  die  Flimmerbewegung.  Concentrir- 
tere  Lösungen  wirken  wasserentziehend,  schrumpfend,  verdttnnlere 
zeigen  die  Wirkungen  des  Wassers  um  so  deutlicher,  je  geringer  der 
Salzgehalt  wird.  In  sehr  kleinen  Mengen  indifferenten  Flüssigkeiten, 
wie  lodserum  beigemischt,  äussern  die  giftigen  Salze  keinen  Einfluss. 
Diejenigen  unter  ihnen,  deren  wässerige  Lösungen  sauer  reagiren,  ver- 
halten sich  wie  andere  saure  Salze.  So  z.  B.  das  essigsaure  Veratrin  ; 
diess  bewirkt  in  einprocentiger  wässeriger  Lösung  sofort  Stillstand 
unter  allen  Erscheinungen  der  Essigsäure-Einwirkung.  Die  Zellen 
werden  trübe,  die  Kerne  deutlicher,  die  Wimpern  stehen  steif  und 
schräg  nach  vom  geneigt.  Führt  man  Ammoniakdämpfe  über  das  Prä- 
parat, so  erwacht  die  Bewegung  wieder.  —  Neutralisirt  man  .eine  fünf— 
procentige  Lösung  von  reinem  essigsaurem  Veratrin  so  weif  mit  Am- 
moniak, dass  die  Lösung  nur  noch  kaum  bemerkbar  sauer  reagirt,  und 
bringt  man  dann  ein  Stückchen  von  einer  frischen  Rachenschleimhaul 
hinein,  so  erhält  sich  die  Bewegung  40  Minuten  lang  und  länger,  bis 
schliesslich  Stillstand  mit  den  Zeichen  des  Essigsäure-Stillstandes  ein- 
tritt. 

Reagirt  die  wässerige  Lösung  des  Giftes  alkalisch,  so  verhält  sie 
sich  auch  gegen  die  Flimmerbewegung  genau  so ,  wie  Lösungen  von 
andern  alkalisch  reagirenden  Stoffen  in  entsprechender  Concentration. 
Hat  man  z.  B.  frische  Flimmerzellen  in  Kochsalz  von  1  %  Hegen  lassen 
bis  die  Bewegungen  sich  bedeutend  verlangsamt  haben  und  bringt 
man  dann  in  unmittelbare  Nähe  der  Zellen  in  den  Tropfen  einige  Krü- 
mel von  reinem  Veratrin,  so  bemerkt  man  nach  einigen  Secunden  bis 
Minuten,  dass  auf  den  dem  Gifte  zunächst  liegenden  Zellen  die  Furo- 
merbewegung  sich  beschleunigt  oder  wiedererwacht.  Allmählich  ei^ 
wachen  bei  weiterem  Fortschreiten  der  Diffusion  des  Giftes  auch  wei- 
ter abgelegene  Zellen  wieder.  Einen  Veratrinstillstand  konnte  ich  in- 
dessen auf  diese  Weise  nicht  erhalten,  was  bei  der  sehr  geringen  Lös- 
lichkeit des  Giftes  begreiflich  ist.  Auch  die  Beschleunigung  war  meist 
nur  massig ;  die  Frequenz  der  wieder  erwachten  Bewegungen  stieg  in 
vielen  Fällen  nur  auf  zwei  bis  drei  Schläge  in  der  Secunde. 


üeber  die  Flininerbeweguiif;. .-  3gi 


IX.  Einfluss  der  Wärme. 


Die  über  den  Einfluss  der  Wärme  auf  die  Flimmerbewegung  bis- 
her gesammelten  Erfahrungen  wurden  bereits  in  der  Einleitung  er- 
wähnt. Ich  habe  zunächst  untersucht,  welchen  Einfluss  Tempera- 
turerhöhung auf  die  Bewegung  hat.  wenn  diese  bei  gewöhnlicher 
Temperatur  in  verschiedenen  Flüssigkeiten  verlangsamt  ist.  —  Die 
Yeftangsamung)  die  in  sogenannten  indifferenten  Flüssig- 
keiten allmählich  eintritt,  kann  immer  durch  Wärmesteigerung 
gehoben  werden ,  gleichviel  «>b  diess  Letztere  schnell  oder  langsam 
erfolgt.  Man  beobachtet  diess  am  besten  mit  Hilfe  des  heizbaren  Ob- 
jecttisches  von  Sghultzb.  Der  Tropfen,  in  dem  das  Präparat  liegt, 
muss  natürlich  vor  jeder  Aenderung  der  Concentration  geschützt  wer- 
den. Diess  geschieht  am  besten,  wenn  das  Präparat  in  einem  möglichst 
grossen  Tropfen  und  mit  einem  Deckglase  bedeckt,  in  einer  feuchten 
Kammer  untersucht  wird.  Man  kann  hierzu  die  BBciLiNGHAUScN'sche, 
bequemer  noch  die  oben  beschriebene  Gaskammer  benutzen.  Die  Be- 
deckung mit  einem  Deckglase  ist  desshalb  wünschenswerth,  weil  bei 
Erwärmung  der  mit  Wasserdampf  gefüllten  Rammer  sich  leicht  Wasser- 
dämpfe auf  dem  Präparate  niederschlagen  und  den  Tropfen  verdünnen. 
Das  Präparat  ist  nämlich,  worauf  ich  an  einem  andern  Orte  >)  aufmerk- 
sam gemacht  habe,  wegen  der  beständigen  Abkühlung  durch  das  Ob- 
jectiv,  kälter  als  die  übrigen  Stellen  der  Kammer.  Schützt  man  sich 
gegen  diese  Abkühlung  z.  B.  durch  Einschalten  eines  Elfenbeinstücks 
zwischen  Tubus  des  Mikroskops  und  Objectiv,  so  wird  die  Bedeckung 
des  Objects  mit  einem  Deckgläschen  unnöthig. 

Erwärmt  man  mit  Beachtung  dieser  Vorsichtsmaassregeln  das  Prä- 
parat allmählich  auf  dem  heizbaren  Objecttisch,  so  bemerkt  man  bald 
eine  Beschleunigung  der  verlangsamten  Bewegungen.  Diese  beruht 
vorzugsweise  auf  einer  Verschnellung  des  Tempo's ,  weniger  auf  Ver- 
grösserung  der  Excursionsweite.  Die  Bewegungen  können  unzählbar 
schnell  werden  und  so  bleiben,  bis  bei  weiter  fortgesetztem  Heizen  (4<^ 
in  einer  halben  Minute)  die  Temperatur  des  Präparats  eine  Höhe  von 
etwa  iO^  erreicht.  Hier  verlangsamt  sich  die  Bewegung  wieder,  indem 
das  Tempo  langsamer,  die  Excursionsweite  meist  kleiner  wird.  End- 
lich stehen  die  Wimpern  still  in  derselben  schräg  nach  vom  geneigten 
Lage  wie  beim  Stillstände  in  Wasserstoff,  in  Kohlensäure  u.  a.    Die 


1}  Over  warmtemetingen  met  Max  Schul tkb's  voorwerptafel.  Zu:  Nederl.  ar- 
dilof  voor  gences-on  natuurk.  D.  Ifl.  «867.  pag.  506.  —  S.  auch:  Üeber  Wärme- 
inf>s8ungen  am  Mikroskop.   In  Mhx  SctirLTtR'«t  Arrhiv  für  mlkr.  Anal.   Bd.  4.  4868. 


oft  ein  wenig  geschrumpften  ZellenkOrper  zeigen  deutlicli  eine  schwache 
Trübung,  auch  wohl  gelbliche  Färbung. 

Zu  genaueren  Bestimmungen  der  Temperatur,  bei  welcher  der 
Wärmestillstand  der  Flimmerbewegung  in  indifferenten  Lösun- 
gen eintritt,  benutzt  man,  wegen  der  zahlreiohen  Fehlerquellen  des 
heizbaren  Objecttisches  besser  ein  Luft-  oder  Wasserbad.  Man  bemerkt 
bald,  dass  ausser  dem  Temperaturgrade ,  welchem  das  Präparat  aus- 
gesetzt wird,  auch  die  Dauer  der  Einwirkung  von  grossem  Einfhiss  Ml : 
denselben  Effect,  den  man  bei  höheren  Wärmegraden  binnen  einer  oder 
weniger  Minuten  erhält,  erreicht  man  bei  etwas  niedrigeren  Wärme- 
graden in  längerer  Zeit.  Wird  die  Temperatur  sehr  hoch,  oder  dauert 
die  Einwirkung  der  Wärme  sehr  lange,  so  bleibt  die  Wärmestarre 
beim  Abkühlen  des  Präparates  bestehen.  Bei  schwächeren  Graden  der 
Einwirkung  erwacht  die  Bewegung  beim  Abkühlen  wieder. 

Der  erste  Grad  der  Wärmeslarre,  welcher  dadurch  charak- 
terisirt  ist,  dass  die  Bewegung  beim  blossen  Abkühlen  wiedererwacht, 
wird  erreicht ,  wenn  die  Flimmerzellen  einige  Minuten  oder  länger  auf 
40^ G.  erwärmt  werden.  Er  tritt  aber  schon  bei  einer  Temperatur  von 
37<^ — 38<^  ein,  wenn  dieselbe  15 — 90 Minuten  oder  noch  länger  auf  die 
Zellen  einwirkte.  Bei  höheren  Wärmegraden  tritt  der  erste  Starregrad 
schneller  ein ,  bei  42<^bis  44^  schon  in  wenigen  Secunden  bis  Hinuten.  — 

Der  zweite  Grad  der  Wärmestarre,  aus  welchem  die  Zel- 
len beim  blossen  Abkühlen  nicht  wieder  erwachen,  wird'  beobachtet, 
wenn  das  Präparat  nur  eine  oder  wenige  Minuten  auf  45^  und  darüber 
erwärmt  wird^).  Etwas  niedrigere  Temperaturen  führen  erst  nach 
länger  fortgesetzter  Einwirkung  zum  zweiten  Starregrad.  So  erwach- 
ten noch  Zellen  beim  Abkühlen  wieder,  wenn  sie  in  dem  gebeizten  Luft- 
bade, die  einen  eine  Stunde  lang  auf  35^—40^  C,  andere  20  Minuten 
auf  H%  wieder  andere  10  Minuten  auf  43 — 44^  erwärmt  wurden.  Alle 
Zellen  lagen  bei  diesen  Versuchen  in  Kochsalzlösung  von  0,5%  oder 
in  Serum.  Oft  genug  erwacht  nur  bei  einer  kleinen  Anzahl  Zellen  die 
Bewegung  beim  Abkühlen  wieder;  die  andern  Zellen  des  nämlichen 
Präparates  befinden  sich  im  zweiten  Grade  der  Wärmestarre. 

Die  Sdmelligkeit  des  Wiedererwachens  ist  sehr  versdiieden :  die 
Bewegungen  kehren  um  so  später  zurück,  je  höher  die  Temperatur 
war  und  je  länger  sie  eingewirkt  hatte.  Schnelles  Abkühlen  wirkt  im 
Allgemeinen  günstig.    Zuweilen  kehren  aber  auch  hierbei  die  Bewe- 


4)  Die  in  der  Einleitung  citirten  Angaben  von  Clavdb  Bkrhaiu»,  wonach  die 
Flimmerbewegnng  bis  50  oder  600  zunehmen  und  erst  bei  80<>  ganz  aufhören  «toll, 
können  nur  aur  ganz  groben  Versuchsfeblem  beruhen. 


Ueber  die  Fluuiierbeweftang^  ^  383 

gangen  sehr  langsam,  erst  nach  5  h\s4h  Minuten  zurück.  Hatte  die 
Erwärmung  nur  kurze  Zeit  gedauert,  und  war  die  erreichte  Tempera- 
tur nicht  hoch  (nicht  über  44^)  gewesen,  so  erhalten  die  Bewegungen 
im  Beginn  der  Abkühlung ,  besonders  während  die  Temperatur 
von  40®auf350siQkt,  wieder  eine  höchst  bedeutende  Schnelligkeit 
und  Stärke.  Diese  kann  je  nach  der  Schnelligkeit  des  Äbkühlens  mehr 
oder  weniger  lange  bestehen  bleiben.  Sinkt  die  Temperatur  schnell 
weiter  auf  die  Höhe  der  Zimmertemperatur  herab,  so  verlangsamen 
sich  dann  die  Schwingungen  wieder  und  sind  schliesslich  kleiner  und 
schwächer,  als  sie  zuvor  bei  der  gleichen  Temperatur  waren.  Macht 
man  dieselben  Zellen  mehrmals  hintereinander ,  aber  jedesmal  nur  für 
sehr  kurze  Zeit,  durch  schnelles  Steigern  der  Temperatur  wärmestarr, 
so  wird  die  Bewegung  in  den  meisten  Fällen  merklich  geschwächt  und 
erreicht  dann  beim  Abkühlen  keine  bedeutende  Schnelligkeit  mehr. 

Das  Wiedererwachen  aus  dem  ersten  Grade  der  Wärmestarre  in 
indifferenten  Flüssigkeiten  wird  befördert,  wenn  man  Dämpfe  von  Am- 
moniak oder  kohlensaurem  Ammoniak  über  das  Präparat  strei- 
chen oder  verdünnte  Kali  lösung  zufliessen  lässt.  Zuweilen  gelingt 
es  auf  diese  Weise  noch ,  Zellen  wieder  zu  beleben ,  die  bereits  seit 
einer  Viertelstunde  auf  die  Zimmertemperatur  abgekühlt  und  stillge- 
blieben waren ;  aber  niemals  werden  dann  die  Bewegungen  gross  und 
frequent.^  Wasser,  Säuren  und  Aether  waren  in  diesen  Fällen 
erfolglos.  Sie  brachten  in  der  Regel  die  bereits  wieder  erwachten  Be- 
wegungen sofort  zur  Ruhe. 

Liegen  die  Zellen,  während  sie  der  Einwirkung  höherer  Tempera- 
turgrade ausgesetzt  werden,  nicht  in  indifferenten  Lösungen,  so  ver- 
hält sich  Manches  anders.  Hatte  die  Bewegung  z.  B.  in  stärkeren 
Kochsalzlösungen  (4%  ^'^  ^%)  nachgelassen  oder  aufgehört,  so 
beschleunigt  sie  sich  bei  Steigerung  der  Wärme  oder  erwacht  wieder. 
Die  Wärmestarre  tritt  hier  aber,  wenn  die  Concentralion  die  angege- 
benen Grenzen  nicht  überschreitet,  bei  derselben  Temperatur  ein,  wie 
in  indifferenten  Lösungen.  Abkühlung,  unterstützt  durch  Verdünnung 
der  Lösung,  ruft  die  Cilienthättgkeit  unter  denselben  Umständen  wie- 
der hervor  wie  da.  —  Anders  ist  es,  wenn  die  Zellen  in  reinem  Was- 
ser oder  in  äusserst  verdünnten  Salzlösungen  liegen.  Hier 
tritt  die  Starre  viel  früher,  zuweilen  schon  unter  35^  ein,  auch  wenn 
rasch  erwärmt  wurde.  Beim  Abkühlen  erwacht  die  Bewegung  für 
einige  Zeit  wieder.  Haben  sich  die  Bewegungen  in  reinem  Wasser 
schon  merklich  verlangsamt,  was  stets  innerhalb  der  ersten  \  0  Minuten 
zu  geschehen  pflegt ,  so  bewirkt  schnelle  Erwärmung  keine  Bescbleu- 
"^B^^^B)   sondern  führt  den  Stillstand  nur  noch  schneller  herbei.  — 


384  ^     Tb.  W.  KngeluiHon, 

Verlangsamung  durch  Alkalien  (Amrooniakdifmpfe  t.  B.)  wird  durch 
schnelle  Erwärmung  nicht  selteti  aufgehoben  und  macht  einer  ansehn- 
lichen Beschleunigung  Platz.  Niemals  aber  konnte  durch  Erwärmen 
ein  Süurestillstand  gehoben,  oder  auch  nur  der  von  der  Säure  he— 
wirkten  Verlangsamung  Einhalt  gethan  werden. 

Die  meisten  dieser  Thatsachen  können,  wie  auch  das  Meiste  von 
dem,  was  in  den  vorigen  Kapiteln  über  den  Einfluss  anderer  Agenfl&n 
mitgetheilt  ist,  auch  ohne  Hilfe  des  Mikroskops  constatirt  werden.  Ich 
benutze  dann  die  ausgeschnittene  und  mit  vier  Stecknadeln  auf  einem 
kleinen  Korkplattchen  aufgespannte  Rachenschleimhaut  des  Frosches 
in  toto  und  überzeuge  mich  von  dem  Vorhandensein  und  der  Stärke 
der  Flimmerbewegung  durch  die  Beobachtung  kleiner,  auf  die  Ober- 
fläche der  Schleimhaut  gebrachter  Partikelchen.  Am  besten  eignet  sich 
zu  letzterem  Zwecke  ein  mit  Serum  oder  halbprocentiger  Kochsalz- 
lösung angerührter  feinkörniger  Farbstoff,  Zinnober  z.  B.,  von  dem 
man  einen  kleinen  Tropfen  auf  die  Schleimhaut  bringt  und  nun  die 
Schnelligkeit  misst,  mit  der  die  Farbstoffkörnchen  sich  fortbewegen. 
Will  man  genauer  messen,  so  verftihrt  man  nach  der  im  nächsten  Ab- 
schnitt ausführlicher  zu  besprechenden  Methode.  —  Wenn  sich  auch 
auf  diese  Weise  der  völlige  Stillstand  der  Wimperbewegung  nicht  sicher 
nachweisen  lässt  (s.  oben),  so  sind  doch  im  Allgemeinen  Aenderungen 
in  der  Stärke  der  Bewegung  leicht  nachzuweisen  und  zu  messen.  — 
Taucht  man  nun  die  erst  mit  Kochsalz  von  0,5%  —  ^%  abgespülte 
Membran  einige  Secunden  oder  Minuten  lang  in  eine  gleichstarke  Koch- 
salzlösung, die  auf  35^  —  40^  C.  erwärmt  ist,  so  bemerkt  man  unmit- 
telbar nach  dem  Herausheben  der  Membran,  dass  die  Stärke  der  Be- 
wegung gewaltig  zugenommen  hat ,  und  nun  beim  Abkühlen  wieder 
auf  die  anfängliche  Höhe  herabsinkt.  —  Taucht  man  die  Membran  einige 
Minuten  lang  in  halbprocentige  Kochsalzlösung  von  40  —  44^,  so  fin- 
det man  unmittelbar  nach  dem  Herausheben  der  Membran  an  ihrer 
Oberfläche  keine  Strömung.  Nach  einigen  Secunden  beginnt  dieselbe 
aber,  erreicht  vorübergehend  eine  bedeutende  Stärke  und  sinkt  weiter, 
gewöhnlich  bis  unter  die  anfängliche  Grösse.  —  Wird  die  Schleimhaut 
nur  eine  halbe  Minute  lang  in  Kochsalz  von  45<)  oder  darüber  versenkt, 
so  sind  die  Zellen  todt.  —  Taucht  man  die  Flimmerhaut  anstatt  in 
Kochsalzlösung  in  erwärmtes  Wasser,  so  zeigt  sich,  dass  schon  bei 
einer  Temperatur  von  30^  —  35^  C.  die  Strömung  aufhört.  Hatte  die 
Einwirkung  nur  wenige  Minuten  lang  gedauert,  so  stellt  sich  die  Be- 
,wegung  beim  Abkühlen  wieder  her;  nicht  aber,  wenn  die  Erwärmung 
in  Wasser  länger  fortgesetzt  wurde. 


Ueber  die  PUnmerbewegni^  3g5 

f 

X.   Einfluss  der  Elektricität  a^f  die  Flimmerbewegung, 

In  der  Einleitung  wurde  bereits  erwähnt,  wie  Kistiakowskt,  ent- 
gegen den  alteren  Angaben  von  Purkinje  und  Valentiit,  fand,  dass  so- 
wol  der  constante  elektrische  Strom  als  abwechselnd  gerichtete  In- 
ductionsschlage  eines  du  Bois^schen  Schlittenapparates  (ohne  Helm- 
HOLTz'sche  Ifodification)  die  Flttssigkeitsströmung  an  der  Oberfläche  der 
ntenernden  Rachenschleimhaut  vom  Frosch  beschleunigten.  Die  Be- 
dingungen, unter  welchen  die  Elektricität  einen  beschleunigenden  Ein- 
fluss ausüben  könne,  wurden  jedoch  nicht  weiter  untersucht;  nicht 
einmal  der  Versuch  wurde  gemacht,  zu  ermitteln,  ob  der  erregende 
Einfluss  nur  von  Dichtigkeitsschwankungen  des  Stromes  oder  auch 
vom  Strome  in  beständiger  Dichte  ausgeübt  werde ;  ebenso  blieb  eine 
Reihe  anderer  wichtiger  Fragen  späterer  Beantwortung  überlassen.  Im 
Folgenden  soll  diesem  Mangel  wenigstens  einigermaassen  abgeholfen 
werden. 

Um  den  Einfluss  der  Elektricität  am  Mikroskop  beobachten  und 
gleichzeitig  das  Präparat  der  Einwirkung  beliebiger  anderer  Agentien 
aussetzen  zu  können,  bediene  ich  mich  wieder  der  Gaskammer,  indem 
ich  dieselbe  in  der  Weise  mit  den  durch  du  Bois  eingeführten  unpola- 
risirbaren  Elektroden  in  Verbindung  bringe,  dass  die  Thonspitzen  der 
letzteren  durch  den  Deckel  der  Kammer  hindurch  bis  zum  Präparat 
verlängert  werden.  Anstatt  des  für  gewöhnlich  gebrauchten  Messing- 
deckels wird  der  auf  pag.  333  erwähnte  gläserne  Deckel  (Fig.  4  u.  5) 
angewendet.  Die  beiden  seitlichen  Durchbohrungen  desselben,  von 
denen  jede  einen  Durchmesser  von  2  —  3  Mm.  besitzt,  werden  ausge- 
ftlllt  mii  Thon,  der  mit  Kochsalzlösung  von  h  Yq  getränkt  ist.  Von  jeder 
dieser  OefiTnungen  führt  auf  der  inneren  Seite  des  Deckels  eine  durch 
zwei  schmale  gläserne  Schutzleisten  gebildete  Rinne  in  gerader  Rich- 
tung bis  an  den  Rand  des  Deckglases.  Diese  Rinnen  werden  gleichfalls 
mit  Thon  ausgefflUt,  die  Thonstreifen  nach  Belieben  noch  ein  Stück 
weit  auf  die  untere  Seite  des  Deckglases  verlängert  und  dann  der  zwi- 
schen beiden  auf  dem  Deckgläschen  bleibende  Raum  mit  der  Kochsalz- 
lösung oder  dem  Serum  gefüllt,  in  welches  das  Präparat  zu  liegen 
kommt. 

Zur  Beobachtung  wähle  ich  meist  einen  4  —  6  Mm.  langen,  4  —  2 
Mm.  breiten  Lttngsstreifen  der  Rachenschleimhaut  vom  Frosch,  der 
senkrecht  zur  Richtung  des  elektrischen  Stromes  in  der  Mitte  zwischen 
beiden  Elektroden  gelagert  wird.  Nachdem  Letzteres  geschehen,  wird 
der  Deckel  auf  die  durch  ein  paar  Tropfen  feucht  gehaltene  Gaskammer 
aufgelegt  und  kann  zur  besseren  Fixirung.noch  durch  eine  der  früher 

Bd.  IV.  3.  S5 


386  "S     l*^*  W.  Engelmann, 

>  • 
erwähnten  Klammern  angedrückt  werden.  Nun  wird  die  Kammer  un- 
ter das  Mikroskop  gebracht,  so  dass  ein  Stück  des  flimmernden  Saumes 
im  Gesichtsfeld  ist.  Hierauf  werden  die  Thonspitzen  der  dü  Bois\scbeiv 
Elektroden  auf  die  aus  den  zwei  seitlichen  Durchbohrungen  des  Glas- 
deckels hervorragenden  Thonpfröpfchen  fest  aufgesetzt  und  für  gute 
Verbindung  beider  gesorgt.  Die  Drähte  der  Elektroden  führen  rück* 
wUrts  zu  einem  du  Bois'schen  Schlüssel,  von  da  durch  eine  Wippe  zur 
secundären  Spirale  eines  Induclionsapparates ,  oder  zur  constailföii 
Kette. 

Eine  zweite  Methode,  nach  welcher  sich  der  Einfluss  der  Elektri— 
cität  auf  die  Flimmerbewegung  makroskopisch  sehr  bequem  untersu- 
chen und  demonstriren  lässt,  besteht  darin,  dass  man  die  Flimmerhaut 
horizontal  ausspannt  und  die  Schnelligkeit  der  Strömung  an  ihrer  Ober- 
fläche mit  Hilfe  eines  durch  die  Strömung  fortbewegten  Signals  missi. 
Diese  Methode  gestattet  eine  Reihe  der  wichtigsten  Erscheinungen  zu 
beobachten  und  giebt  zugleich  bequem  in  Zahlen  ausdrückbare  Resul- 
tate. Sie  wurde  schon  von  Kistiakowskt  bei  den  meisten  seiner  Ver- 
suche benutzt,  und  ich  habe  mich  ihrer  gleichfalls  häufig  bedient.  Von 
der  ziemlich  umständlichen  Einrichtung ,  die  Kistukowset  seinen  Ver-- 
suchen  gab,  habe  ich  indessen  keinen  Gebrauch  gemacht,  sondern  ver- 
fuhr folgendermaassen.  Auf  einem  grösseren  Objeotiräger  von  Spie- 
gelglas war  durch  Aufkleben  von  Glasstreifen  ein  kleiner  viereckiger 
Trog  errichtet,  der  40  Mm.  lang,  20  Mm.  breit  und  4  Mm.  tief  war.  In 
die  beiden  äusseren  Viertel  dieses  Raumes  wurden  Korktäfelchen  von 
i  Mm*  Dicke  und  10  Mm.  Breite  eingelegt.  Auf  den  Boden  der  beiden 
mittleren  Viertel  kam  eine  kleine,  nur  2  Mm.  dicke  Glasplatte.  Nach- 
dem man  nuti  den  Trog  mit  Kochsalzlösung  oder  Serum  bis  zum  Rande 
gefüllt  bat^  wird  die  Raohenschletmhaut  eines  Frosches  herausgeschnit- 
ten und  mit  HlUe  von  vier  Stecknadeln  zwischen  den  zwei  Korktäfel- 
chen im  Glaatroge  der  Länge  nach  ausgespannt.  Man  sorgt  dafür,  dass 
die  Hsiut  ungefcibr  ku  ihrer  normalen  Länge  ausgedehnt  werde,  und 
wenigstens  in  dem  gröasten  Theile  ihrer  Breite  glatt  und  eben  liege. 
Letzteres  erreicht  man  am  leichtesten,  wenn  man  in  den  mittleren 
Raum  unter  die  Schleimhaut  noch  ein  8  Cent,  langes ,.  4  Cent,  breites 
und  etwa  2  Mm.  hohes  Glasplättchen  schiebt.  —  Nun  bringt  man  die 
Elektroden  an.  Auch  hier  bediene  ich  mich  ausschliesslich  der  unpo- 
larisirbaren  Elektroden  von  du  Bois,  welche  vor  den  unpolarisirbaren 
Elektroden  von  Kistukowset  und  Stuart  den  grossen  Vorzug  haben, 
dass  man  den  elektrischen  Strom  durch  beliebig  gelegene  und  beliebig 
ausgedehnte  SteUen  der  Schleimhaut  und  in  jeder  Richtung  schidnen 
kann  welche  man  will.    Soll  der  Strom  in  der  Längsrichtung  durch  die 


Ueber  die  FiimmerbeweguBg;^^  387 

Schleimhaut  gehen,  sq  worden  die  Th9ifl|)itzen  auf  die  beiden  an  den 
Korkplätichcn  festgesteckten  Enden  der  Schleimhaut  aufgesetzt.  Man 
sorgt,  dass  sie  gut  mit  Salzlösung  (Von  0,5  —  0,75%)  getrfinkt  seien 
und  knetet  die  Spitzen  recht  fest.  Letzteres  muss  wenigstens  bei  der 
oberen  Elektrode  immer  der  Fall  sein,  weil  von  dieser  leicht  durch  die 
Thtttigkeit  der  Wimperhaare,  aber  auch  unter  dem  Einfluss  starker 
elektrischer  Entladungen  Thonbröckel  abgelöst  und  dann  in  schmutzi- 
fMQ -iSirome  über  die  Oberfläche  der  Schleimhaut  nach  der  unteren 
Elektrode  fortgeführt  werden.  Man  kann  sich  dagegen  auch  wohl 
schützen,  indem  man  im  Umkreise  der  oberen  Elektrode  das  Flimmer- 
epithel mit  einem  Glassläbchen  wegkratzt,  und  wenn  man  die  Thon- 
spitze  nach  dem  Aufsetzen  auf  die  Schleimhaut  wieder  so  weil  hebt, 
dass  sie  nur  durch  einen  etwa  i  Mm.  hohen  Flttssigkeitskegel  mit  der- 
selben noch  in  Verbindung  bleibt.  Sind  die  Elektroden  vorläufig  an- 
gebracht, so  regulirt  man  den  Stand  der  Flüssigkeit  im  Glastroge  durch 
Zufügen  oder  Wegsaugen  so,  dass  die  Oberfläche  der  Schleimhaut  mit 
einer  äusserst  dünnen  Flüssigkeitslage  eben  bedeckt  bleibt.  Ist  die 
Flüssigkeitslage  dicker,  so  treten  leicht  Unregelmässigkeiten  in  der  Be- 
wegung des  Signals  ein. 

Als  Signal  benutze  ich  ein  1,5  Mm.  langes,  0,5  Mm.  breites,  an 
einem  i  5  Cent,  langen  Goconfaden  genau  vertical  über  der  Mitte  der 
Schleimbaut  aufgehängtes  Lacktröpfchen.  Der  Goconfaden  wird  von  einer 
Klemme  gehalten,  die  an  eibem  Träger  auf  und  nieder  bewegt  werden 
kann.  Beim  Aufsetzen  des  Signals  senkt  man  die  Klemme  so  weit, 
dass  das  Signal  auf  die  Schleimhaut  aufstösst;  hierauf  hebt  man  dann 
die  Klemme  wieder  so  weit,  dass  nur  die  Spitze  des  Lacktröpfchens 
noch  die  Oberfläche  der  Schleimbaut  berührt,  diese  aber  nicht  drückt. 
In  dieser  Stellung  wird  die  Klemme  fixirt.  Man  kann  dann  das  Signal, 
indem  man  den  Goconfaden  mit  einer  trocknen  Pincette  anfasst,  ohne 
Nacbtheil  für  die  Zellen  von  der  Schleimhaut  abheben  und  wieder  auf- 
setzen. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  die  Lage  und  Länge  der  Bahn  zu  be- 
stimmen, welche  das  Signal  durchlaufen  soll.  Diese  Bahn  muss  in  allen 
zu  einer  Reihe  gehörenden  Versuchen  genau  dieselbe  sein.  Man  be- 
merkt nämlich  sogleich,  dass  die  Schnelligkeit,  mit  .der  das  Signal  fort- 
bewegt wird,  selbst  auf  einer  ganz  horizontal  und  faltenlos  ausge- 
spannten Schleimhaut  an  verschiedenen  Stellen  ziemlich  verschieden 
ist.  Denkt  man  sich  die  Schleimhaut  der  Länge  nach  in  parallele  Strei- 
fen von  0,5  Mm.  Breite  getheilt,  so  beträgt  der  Unterschied  in  der 
Sdinelligkeit  der  Strömung  an  der  Oberfläche  zweier  benachbarti^r 
Streifen  zuweilen  iO%  bis  80%.    Ebensowenig  ist  an  allen  Stellen 

23* 


388  ^'*       Th.  W.  engelmahn, 

desselben  Streifens  die  Bewe^ng  immer  gleich  schnell.  Man  muss 
desshalb  noch  genauer  verfahren  als  Ristiakowsky,  der  durch  zwei  quer 
ttber  die  Schleimhaut  gelegte  Glasßlden  die  Lunge  der  zu  durchlaufen- 
den Bahn  abgrenzte.  Bei  der  Rana  tempofaria ,  welche  ich  fast  aus- 
schliesslich benutzte,  bietet  die  Durchsichtigkeit  der  Rachenscbleim- 
haut  zur  Erreichung  des  genannten  Zweckes  die  besten  Mittel.  An  den 
verschiedensten  Stellen  der  Membran  sieht  man  nämlich  äusserst  kleine 
Gruppen  von  Pigmentzellen ,  Blutgefösschen ,  auch  Nervensläfmuehe»^ 
durchscheinen 4  Ich  setze  nun  genau  über,  oder  dicht  oberhalb  einer 
solchen  Stelle  —  die  kaum  einen  halben  Millimeter  im  Geviert  messen 
darf,  und  ^enau  gemerkt  werden  muss  —  das  Signal  auf,  und  messe 
mit  Hilfe  eines  MXLZL'schen  Metronoms  die  Zeit,  welche  dasselbe  braucht, 
um  bis  zu  einem  zweiten  charakteristischen  Puncto,  etwa  dem  Rande 
eines  Blutgefässes,  zu  gelangen.  Hier  angekommen,  wird  das  Signal 
sogleich  abgehoben  und  an  die  erste  Stelle  zurückversetzt.  Mittels 
eines  Zirkels  misst  man  die  Entfernung  der  beiden  Puncte.  Zu  ge- 
nauerer Beobachtung  des  zeitlichen  Verlaufs  der  Veränderungen,  wel- 
che die  Sdinelligkeit  der  Bewegung  an  einer  bestimmten  Stelle  erlei- 
det ,  muss  man  die  vom  Signal  zu  durchlaufefnde  Strecke  klein,  nur 
wenige  Millimeter  lang,  nehmen  und  das  Signal,  so  wie  es  am  End- 
puncte  der  Bahn  angelangt  ist,  schnell  wieder  an  den  Anfangspunct 
versetzen.  Die  Länge  der  Bahn  betrug  bei  den  meisten  der  folgenden 
Versuche  nicht  mehr  als  3  —  i  Mm.,  und  diese  Strecke  war  durch  eine 
unter  die  Membran  geschobene,  mit  Bleistift  auf  einen  weissen  Papier- 
streifen gezeichnete  Scala  noch  in  einzelne  Millimeter  eingetheilt.  Diese 
Scale  war  auf  dem  unter  die  Membran  geschobenen  Glasplättchen  auf- 
geklebt und  mit  einem  dünnen  Streifen  Deckglas  bedeckt.  Die  Durch- 
sichtigkeit der  Membran  erlaubt  die  einzelnen  Theilstriche  scharf  zu 
sehen,  und  somit  die  Zeit  zu  messen,  welche  das  Signal  zum  Durch- 
laufen jedes  dnzelnen  Millimeters  braucht.  Das  Glasplättchen  mit  der 
Scala  wird  unter  der  Schleimhaut  so  verschoben ,  dass  der  Anfangs- 
punct der  Bahn  —  etwa  eine  6ruppe  Pigmentzellen  —  gerade  auf  einen 
Theilstrich  zu  stehen  kommt.  Findet  man,  dass  das  Signal  in  einigen 
unmittelbar  hintereinander  angestellten  Proben  genau  dieselbe  Bahn 
beschreibt,  so  kann  der  Versuch  anfangen. 

Bevor  man  indess  mit  der  elektrischen  Reizung  beginnt,  ist  es 
nölhig,  die  Schnelligkeit  des  Signals  eine  Zeit  lang  zu  messen.  Diese 
Schnelligkeit  ist  nämlich,  trotz  der  erwähnten  Vorsichtsmaässregeln, 
in  der  ersten  Zeit  ziemlich  wechselnd,  gleichviel  ob  man  den  Trog  nnt 
Kochsalzlösung  oder  mit  Serum  gefüllt  hat.  Anfangs  pflegt  sie  am. 
grv5ssten  zu  sein,   nimmt  im  Verlauf  einiger  Minuten  allmählich  ab. 


Ueber  die  Flimmerbewegiul^  3g9 


beschleunigt  sich  hierauf  wieder,  verlangsamt  sich  von  Neuem ,  wird 
wieder  schnell  und  diese  Unregelnotfssigkeiten  wiederholen  sich  nicht 
selten  innerhalb  der  ersten  Stunden  fortwährend.  Es  ist  sehr  leicht, 
die  Ursache  dieser  Störungen  zu  finden:  sie  liegt  in  der  Schleim- 
production  der  Hembran.  Die  zahlreichen  Becherzelien,  welche 
zwischen  den  Fiimmerzellcn ^)  zerstreut  sitzen,  entleeren  bestlindig 
ihrcU'lBhali  in  Form  von  Tröpfchen  einer  schleimig  klebrigen,  zuweilen 
auch  kömigen  Masse.  Diese  Tröpfchen  quellen  auf  und  bilden  in  kur- 
zer Zeit  einen  dünnen  membranartigen  Ueberzug  über  die  ganze  Flim- 
merhaut. Hierdurch  wird  der  Bewegung  der  Flimmerhaare  ein  bedeu- 
tendes mechanisches  Hinderniss  gesetzt.  Wie  man  unter  dem  Mikroskop 
leicht  constatircn  kann,  reiben  sich  die  Spitzen  der  Flimmerhaare  an 
dem  sie  bedeckenden  schleimigen  Ueberzuge,  und  werden  an  grossen 
und  raschen  Excursionen  verhindert.  Anfangs  zwar,  wenn  die  Schleim- 
lage noch  sehr  dünn  ist,  wird  sie  durch  die  Thatigkeit  der  Cilien  ziem- 
lich rasch  nach  abwärts  getrieben ;  am  unteren  Ende  der  Schleimhaut 
häuft  sich  dann  schon  innerhalb  einiger  Minuten  ein  dicker  Wall  von 
Schleim  auf.  Je  mehr  sich  aber  der  schleimige  Ueberzug  der  Membran 
verdickt  —  und  das  findet  natürlich  dicht  am  unteren  Ende  der 
Schleimhaut  am  schnellsten  statt  —  um  so  mehr  wird  die  Bewegung 
verlangsamt.  Reisst  dann  die  Schleimlage  an  einer  Stelle  ein,  so  be- 
schleunigt sich  die  Bewegung  vorübergehend,  bis  eine  neue  Schleim- 
decke da  ist.  Man  kann  die  Bewegung  willkürlich  beschleunigen^  wenn 
man  z.  B.  mit  einer  spitzen  Nadel  oberhalb  quer  über  die  Schleimhaut 
wegföhrt,  und  so  den  schleimigen  Ueberzug  zerreisst.  Sogleich  sieht 
man  den  Schleim  wie  einen  zarten  Schleier  an  der  Oberfläche  der  Mem- 
bran nach  abwärts  treiben.  Oft  kann  man  auch  diesen  Schleier  ge- 
radezu mit  der  Pincette  wegziehen  und  abheben.  Dass  die  hiemach 
eintretende  Beschleunigung  der  Bewegung  nicht  etwa  Folge  einer  me- 
chanischen Reizung  der  Membran  durch  den  Druck  der  Nadel  sei,  er- 
giebt  sich,  von  anderen  Gegengründen  zu  schweigen,  schon  daraus, 
dass  die  Beschleunigung  auch  noch  eintritt,  wenn  man  den  physiolo- 
gischen Zusammenhang  der  von  der  Nadel  berührten  Stellen  mit  den 
unterhalb  gelegenen  vorher  durch  Schnitt  oder  Quetschung  mit  der 
Schärfe  eines  Messers  aufgehoben  hat. 


4)  Versuche,  die  ich  bald  weiter  auszudehnen  und  mitzutheilen  hoffe,  erge- 
ben, dass  die  Absonderung  der  Becherzellen  unter  gewissen  Bedingungen  durch 
elektrische  Stromschwankungen  bedeutend  angeregt  wird.  Namentlich  bei  Reizung 
mit  stärkeren  Inductionssch lägen  wird  ein  Theil  der  Zellmasse  oft  plötzlich  aus- 
gestossen.    Bei  wiederholter  Reizung  erschöpfen  sich  die  Zellen  aber  rasch. 


390 


Jh.  W.  Ei«ciMu, 


In  der  folgaiden  Tabelle  I  sind  einige  Messongen  der  Veränderun- 
gen ao^ezeichnei,  welche  die  Schnelligkeii  der  Strömung  an  der  Ober— 
flädie  der  frisch  präparirien  Sdileimhaat  untergeht.    Die  vom  Signal 
durchlaufene  Bahn  war  3  Mm.  lang;  die  Zeit,  in  weldier  dieser  Weg 
zurflckgel^  wurde,  ist  in  der  zweiten  Colunme  in  Secunden  angege— 
ben;   zwischen  je  zwei  aufeinanderfolgenden  Beobachtungen  liegen 
nur  wenige  Secunden ,  zwischen  Nr.  4  und  Nr.  2  jedoch  mehrsPQ  Mi- 
nuten.   Unmittelbar  vor  jeder  der  mit  einem  Stern  versehenen  Be— 
obaditungen  wurde  der  schleimige  Ueberzug  der  Membran  oberhalb 
der  beobachteten  Strecke  mit  einer  sdiarfen  Nadel  durchgeschnitten ; 
vor  Nr.  61  wurde  der  Schleim  ausserdem  noch  mit  einer  Pincette  weg^ 
gezogen. 


« 

Tabelle  I. 

Nr.  der 

Zeit  in 

Nr.aer 

Zütim 

Nr.  dar 

Zeit  in 

Beobac]itiiii(^ 

Seeanden. 

Beokuktaog. 

SacandeB. 

BMbMhtang. 

Seeanden. 

4 

12 

27 

18 

•53 

12 

8 

15 

28 

17 

54 

14 

3 

16 

89 

18 

55 

16- 

4 

16 

30 

18 

56 

18 

5 

17 

31 

20 

57 

18 

6 

17 

32 

21 

•58 

14 

7 

18 

33 

18 

59 

13 

8 

18 

34 

18 

60 

14 

9 

18 

35 

18 

61 

15 

»0 

18 

•36 

12 

62 

18 

11 

19 

37 

13 

63 

18 

12 

22 

38 

15 

•64 

9 

13 

21 

39 

15 

65 

9 

U 

22 

40 

15 

66 

8 

15 

21 

41 

19 

67 

10 

16 

23 

42 

20 

68 

13 

17 

16 

43 

20 

69 

16 

18 

16 

44 

16 

70 

18 

19 

19 

45 

17 

71 

18 

SO 

16 

46 

18 

•72 

10 

S1 

17 

47 

19 

73 

12 

22 

19 

•48 

•13 

74 

15 

23 

16 

49 

14 

75 

17 

24 

17 

50 

15 

76 

17 

25 

18 

51 

17 

77 

20 

26 

18 

52 

17 

78 

20 

Ueber  die  FKnaierbeweguuii»  39  t 

Der  Einfiuss,  welchen  die  Durchs^mieidung  der  Schleimdecke  auf 
die  Geschwindigkeit  des  Signals  ausübt,  springt  deutlich  in  die  Augen. 

Bei  Membranen,  die  mehrere  Stunden  ausgespannt  gelegen  haben, 
und  wiederholt  vom  Schleim  befreit  wurden,  wird  die  Schnelligkeit 
der  Strömung  allmähUdi  ziemlich  constant;  die  reiche  Schleimproduo- 
iion  hört  auf:  die  Becherzellen  erschöpfen  sich.  Nicht  alle  SchleimhSlute 
verhalten  sich  übrigens  gleich.  Manche  ^)  produciren  von  Anfang  an 
afztfallend  wenig  Schleim ,  und  die  mikroskopische  Untersuchung  zeigt 
dann  auch,  dass  die  Anzahl  der  Becherzellen  auffallend  gering  ist. 
Solche  Membranen  eignen  sich  am  meisten  zu  Versuchen.  Bei  reich- 
licher Production  von  Schleim  muss  man ,  um  brauchbare  Zahlen  zu 
gewinnen,  bestündig  für  Entfernung  desselben  sorgen,  oder  warten  bis 
die  Schleimbildung  nachlüsst.  Noch  nach  zwei  Tage  langem  Liegen  und 
später  sind  die  ausgespannten  und  während  dieser  Zeit  vor  Verdun- 
stung geschützten  Schleimhäute  zu  Versuchen  brauchbar. 

Ausser  den  Veränderungen ,  welche  in  Folge  der  Schleimproduc- 
tion  in  der  Schnelligkeit  der  Bewegung  eintreten,  scheinen  nun  häufig 
noch  andere  vorzukommen,  deren  Ursache  nicht  nachweisbar  ist.  Bei 
der  Beobachtung  im  Mikroskop  sieht  man  nämlich,  wenn  die  Bewegung 
schon  nachgelassen  hat,  deutlich,  dass  auf  einer  einzelnen  Zelle  oder 
auf  einer  kleinen  Gruppe  von  Zellen  die  Bewegung  sich  periodisch  ver- 
schnellt. Die  Perioden,  in  denen  dieses  geschieht,  sind  zu  weiten  ziem- 
lich regelmässig,  von  mehrere  Secunden  bis  mehrere  Minuten  langer 
Dauer;  die  Verschnellung  hält  aber  in  der  Regel  nur  einige  Secunden 
an,  und  ist  selten  bedeutend.  Niemals  scheinen  diese  Schwankungen 
isoclironisch  auf  einer  grösseren  Strecke  der  Schleimhaut  vorzukom- 
men, und  dicss  ist  wahrscheinlich  der  Grund,  dass  sie  sich  nicht  deut- 
lich bemerkbar  machen,  wenn  man,  wie  nach  der  zweiten  der  oben 
beschriebenen  Methoden  die  Schnelligkeit  der  Strömung  makroskopisch 
untersucht.  Nur  bei  elektrischer  Reizung  unter  dem  Mikroskop  könnte 
ihre  Nichtbeachtung  zu  Irrthümorn  Veranlassung  geben. 

Endlich  ist  bei  diesen  Versuchen ,  ganz  besonders  bei  denen ,  die 
nach  der  zweiten  Methode'angestellt  werden,  auf  die  Zimmertemperatur 
zu  achten.  Es  ist  wünschenswerth,  dass  die  Temperatur  während  jeder 
Versuchsreihe  constant  bleibe.    Aendert  sich  die  Zimmerwärme  inner- 


t)  Diess  sebeincn  besonders  die  Schleimbfluto  von  iiolchen  Fröschen  zu  sein, 
die  unter  den  günstigsten  Bedingungen  gelebt  und  frisch  eingefangen  sind.  Bei  Frö- 
sehen  dagegen,  die  lungere  Zeit  in  der  Gefangenschaft,  in  schlechtem  Wasser,  oder 
zu  trocken  aun)e\vahrt  waren,  fand  ich  meist  enorme  Massen  von  Bccherzellen,  ofl 
in  Gruppen  von  3  bis  5  dicht  beieinander.  Sie  übertrafen  zuweilen  die  Flimmcr- 
zellen  an  Zahl. 


392  ^  Th.  W.  EflgelmaDD, 

halb  kürzerer  Zeit  um  einige  ^rade ,   so  macht  sich  diess  fast  immer 
durch  eine  entsprechende  Yerändening  in  der  Schnelligkeit  der  Be^ve— 
gung  bemerkbar.  Ja ,  anfangs  schien  ed  mir  sogar  fraglidi,  ob  nicht  in 
den  Versuchen   von  Kistiakowskt  die  während  des  Tetanisirens  mit 
abwechselnd  gerichteten  Inductionsschlägen  und  während  des  Durch- 
führens eines  starken  constanten  Stroms  beobachtete  Beschleunigung 
der  Bewegung  nur  auf  Erwärmung  der  einen  starken  Widerstand  bie— 
tenden  Membran  durch  den  Strom  beruht  habe.    In  der  ThatfinAet 
hierbei  eine  schon  mit  groben  Hilfsmitteln  nachweisbare  Erwärmung 
statt.   Man  braucht  nur  die  Kugel  eines  gefühligen  Quecksilberthermo— 
meters  auf  die  ausgespannte  Rachenschleimhaut  zu  legen :  beim  Teta— 
nisiren  der  Membran  steigt  das  Quecksilber  sofort.    Abwechselnd  ge- 
richtete Inductionsschläge  eines  von  2  DANiELL'schen  Elementen  getrie— 
benen  Schlittenapparats  du  Bois'scher  Construction  (ohne  Hblhholtz'— 
sehe  Abänderung)  bewirkten  bei  OMm.  Rollenabstand  und  möglichst 
raschem  Gang  des  Unterbrechers ,  dass  das  Quecksilber  innerhalb  der 
ersten  Minute  um  etwa  ,1^G.  und  innerhalb  der  nächsten  drei  Minuten 
noch  um  weitere  ä  ^  stieg ;  bei  langsamerem  Gang  des  Hammers  oder 
bei  grösserem  Rollenabstande  betrug  natürlich  die  Erwärmung  in  glei- 
cher Zeit  weniger.    Hört  man  auf  zu  tetanisiren,  so  sinkt  das  Queck- 
silber im  Lauf  einiger  Minuten  wieder  auf  die  anfängliche  Höhe  zurück. 
Diesen  TemperaturVeränderungen  der  Membran,   welche,  vor  Allem 
wegen  der  ungünstigen  Lagerung  des  Thermometers ,  durch  letzteren 
offenbar   viel   zu  klein   angegeben  werden,    mussten   natürlich  Ver- 
änderungen in  der  Stärke  der  Flimmerbewegung  entsprechen.     Sie 
Hessen  sich  auch  leicht  durch  Beobachtung  des  Signals  nachweisen. 
Die  gefundenen  Zahlen  stimmten  mit  den  von  Kistiakowskt  angegebe- 
nen sehr  gut  überein.    Weder  aus  ihnen  noch  aus  denen  von  Ristu- 
KOWSKY  liess  sich  aber  entscheiden,  ob  die  beobachteten  Veränderungen 
der  Bewegung  ausser  auf  thermischen  auch  noch  auf  anderen  Wirkun- 
gen der  Elektricität  beruhten.    Eben  so  wenig  bewiesen  die  Zahlen  in 
KistiakowskVs  Versuchen  über  die  Einwirkung  des  constanten  Stroms 
einen  specifischen  Einfluss  der  Elektricität.  *  Man  sah  aus  denselben 
nicht,  ob  die  Erregung,  deren  Ausdruck  die  Verstärkung  der  Bewegung 
ist,  allmählich  oder  plötzlich  eintrat,  ob  sie,  so  lange  der  Strom  durch- 
ging zunahm,  gleichblieb,  oder  sich  verminderte.    Die  während  der 
Dauer  des  Durchströmens  gefundene  Zunahme  der  mittleren  Schnellig- 
keit des  Signals  konnte  auf  allmählicher  Erwärmung,    die  nach  der 
Oeffnung  beobachtete  Abnahme  auf  allmählicher  Abkühlung  der  Mem- 
bran beruhen.      Nur  die  auf  Tab.  III  von  Kistiakowskt  zusammen- 
gestellten. Versuche ,  bei  denen  der  constante  Strom  während  mehrerer 


Ueber  die  Flimmerbeweguqfr^  393 

aufeinanderfolgender  Beobachtungen  gespilossen  blieb,  sprechen  dafür, 
dass  nicht  der  ErwSrmung  allein  dys-  beobachtete  Beschleunigung  zu- 
zuschreiben sei.  Auf  diese  Versuche,  deren  Werth  Kistukowskt  über- 
sehen tu  haben  scffeint,  kommen  wir  indessen  später  zurüd:. 

Obschon  sich  nun  im  Verlauf  dieser  Untersuchung  bald  eine  Reihe 
von  Thatsachen  herausstellte ,  aus  denen  ein  specifischer  Einfluss  der 
Elektricität  klar  hervorging ,  unterliess  ich  doch  nicht,  einige  Versuche 
über  den  Einfluss  der  Erwärmung  auf  die  Schnelligkeit  der  Bewegung 
des  Signals  anzustellen.  Ich  bestimmte  die  Beschleunigung  der  Bewe- 
gung,, welche  eintrat,  w^enn  die  Membran  einmal  durch  Tetanisiren  mit 
Inductionsströmen  und  dann  wenn  sie  mit  Hilfe  eines  untergeschobe- 
nen Platin-  oder  Kupferstreifens  erwärmt  wurde.  Der  Grad  der  Er- 
wärmung wurde  nach  derselben,  freilich  sehr  rohen  Methode  wie  oben, 
mit  Hilfe  eines  an  die  Schleimhaut  angelegten  Quecksilberthermometers 
gemessen.  Die  Kugel  desselben  lag  auf  der  intrapolaren  Strecke  und 
zwar  so ,  dass  sie  bei  Erwärmung  der  Membran  durch  den  unterge- 
schobenen Metallstreifen  von  der  kühlsten  Stelle  des  letzteren  noch  um 
einen  halben  Gentimeter  entfernt  war,  während  die  vom  Signal  durch- 
laufene Strecke  gerade  über  dem  Metallstreifen  lag,  also  der  Erwärmung 
viel  mehr  ausgesetzt  war.  Es  zeigte  sich,  dass  bei  gleich  hoher  und 
gleich  schneller  Temperatursteigerung  die  Beweg\ing  viel  mehr  be- 
schleunigt wurde  wenn  die  Temperaturerhöhung  der  Membran  durch 
elektrische  Ströme  als  wenn  sie  durch  Erwärmen  des  Metallstreifens  zu 
Stande  gebracht  worden  war.  Dieselbe  Beschleunigung  des  Signals 
welche  eintrat,  als  beim  Erwärmen  des  Mctallstreifcns  der  Thermometer 
in  den  ersten  drei  Minuten  um  5  ^  stieg ,  wurde  in  dem  unmittelbar 
vorausgehenden  und  dem  darauf  folgenden  Versuche  beobachtet ,  als 
die  Temperatur  unter  dem  Einfluss  abwechselnd  gerichteter  Inductions- 
schläge  in  der  gleichen  Zeit  nur  um  0,2  ®  stieg.  Waren  die  Inductions- 
schläge  so  schwach  oder  folgten  sie  sich  so  langsam ,  dass  das  Queck- 
silber im  Thermometer  nicht  stieg,  so  konnte  doch  gleichzeitig  sehr 
starke  Beschleunigung  der  Bewegung  vorhanden  sein.  Auf  der  andern 
Seite  konnte  durch  schnelles  oder  langsames  Erwärmen  des  Metallstrei- 
fens  die  Temperatur  der  Membran  merklich,  wenn  schon  wenig,  erhöht 
werden  ohne  dass  die  Bewegung  verstärkt  wurde.  Hiemach  scheint 
nur  bei  Anwendung  von  starken ,  rasch  aufeinander  folgenden  Indoc- 
tionsschlägen  oder  nach  längerem  Durchfliessen  eines  starken  constan- 
ten  Stromes  eine  Einmischung  der  thermischen  Wirkungen  der  Elek- 
tricität zu  fürchten. 


394  'A  Th.  W.  Bngefananof 

Nachdem  ich  mich  durch  diese  vorläufigen  Versuche  überzeugt 
hatte,  dass  die  Elekiricität,  auch  abgesehen  Ton  der  Erwärmung,  einen 
erregenden  Einfluss  auf  die  Flimmerhewegung  ausüben  könne,  schien 
es  vor  Allem  nötbig,  zu  untersuche^  ob  nm*  Dichti^eitsschwankungen 
des  elektrischen  Stroms  oder  ob  auch  der  Strom  in  beständiger  Dichte 
erregend  wirke.   Die  weiteren  Fragen  ergaben  sieh  dann  von  selbst. 

Wir  beginnen  mit  der  Schilderung  des  Einflusses ,  welchen  ein 
einzelner  Indu et ionsschlag  auf  die  Flimmerbewegung  ausübt. 

Schickt  man  durch  Flimmerzellen,  deren  Bewegung  sich  nach  län- 
gerem Liegen  in  Serum,  Humor  aqueus  oder  Kochsalzlösung 
von  0,5%  bis  i%  verlangsamt  hat,  einen  einzelnen  kräftigen  In- 
ductionsschlag ,  so  findet  Erregung  statt.  Diese  äussert  sich  als  eine 
anfangs  zunehmende ,  dann  langsam  wieder  abnehmende  Beschleuni- 
gung und  Verstärkung  der  Bewegung.  Standen  die  Cilien  vorher  ganz 
still,  so  kann  in  Folge  der  Reizung  die  Bewegung  wieder  erwachen ;  es 
folgt  dann  eine  Reihe  von  Schwingungen ,  deren  Frequenz  und  Grösse 
anfangs  zu-  und  später  wieder  abnimmt.  Der  einzelne  Reiz  löst 
also  nicht,  wie  man  etwa  hätte  erwarten  können ,  eine  einzelne 
Schwingung  oder  Zuckung  des  Flimmerhaars  aus,  son- 
dern erhöht  nur  die  rhythmische  Thätigkeit  derCilien, 
wenn  sie  in  Abnahme  begriffen,  oder  erweckt  sie  für 
einige  Zeit  wieder,  wenn  sie  bereits  erloschen  war.  Grösse 
und  Verlauf  der  Erregung  hängen ,  wie  sich  aus  den  sogleich  zu  be- 
schreibenden Versuchen  ergiebt,  von  der  Grösse  und  Scbnelh'gkeit  der 
Dichtigkeitsschwankung  des  reizenden  Stromes,  und  ausserdem  von 
dem  Zustand  der  Flimmerzcllen  vor  der  Reizung  ab. 


Tersueh  L  Die  Reizung  geschieht  innerhalb  der  Gaskammer  unter  dem 
Mikroskop.  Von  den  Elektroden  führen  Drähte  zu  den  Polen  der  secund'aren 
Spirale  eines  dv  Bois^schen  Schlittcnapparats.  In  den  Kreis  des  primären 
Stroms,  der  von  vier  DANiBLL'schen  Elementen  erzeugt  wird ,  ist  ein  Qucck- 
Silbernäpfchen  eingeschaltet,  in  welchem  mit  Hilfe  eines  an  der  Spitze  amal- 
ßamirten  Kupferdrahts  4ßr  Strom  geschlossen  und  unterbrochen  wird.  Ein 
dünner  Streifen  der  Rachenschleimhaiit  eines  eben  getödteten  Frosches  liegt 
in  Kochsalzlösung  von  1%  zwischen  den  Elektroden.  Nach  viertelstundigeih 
Liegen  sind  die  Bewegungen  bedeutend  kleiner  nnd  langsamer  geworden. 
An  der  zur  Beobachtung  ausgesuchten  Stelle  machen  die  Cilien  1 2  Schwin- 
gungen in  5  Secunden.  Es  wird  nun  der  Einfluss  des  Schliessungs-  und 
Oelfnungsschlags  bei  verschiedenen  Rollenabsländen  untersucht. 

a.   0  Gent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Nach  einigen  Secunden  deutliche,  obschon  geringe 


lieber  die  Flifflmerbewegnigv  395 

r 

Yerschnellung ,  die  anfangs  zunimmt ,  nach  5 — 10  Secunden  allmählich 
wieder  nachlässt. 

Oeffnung.  Innerhalb  der  ersten  Secunde  keia  Einfluss  bemerk- 
bar. Hierauf  ziemlich  plötctfch  starke»  rasch  zunehmende  Beschleunigung, 
verbunden  mit  Vergrösserung  der  Excursionen.  Am  Ende  der  zweiten 
Secunde  sind  die  einzelnen  Schwingungen  nicht  mehr  zu  unterscheiden ; 
sie  bleiben  etwa  K  0  Secunden  lang  unzählbar,  verlangsamen  und  verklei- 
nern- «ich  hierauf  allmählich  und  haben  nach  Verlauf  von  einer  Minute 
ungefähr  die  anfängliche  Frequenz  wieder  erreicht. 

6.    \  Cent.  Rollenabstand. 
Alles  ebenso  wie  bei  a. 

c.   t  Gent.  Rollenabstand. 

Schliessung  wirkt  sehr  wenig. 

Oeffnung.  Erst  in  der  dritten  Secunde  merkbare  Beschleunigung. 
Noch  innerhalb  der  dritten  Secunde  werden  die  Bewegungen  unzählbar 
schnell.  Nach  Verlauf  von  einer  halben  Minute  (vom  Moment  der  Oeff- 
nung an)  hat  die  Bewegung  wieder  die  anfängliche  Grösse.  \ 

c/.   3  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Rein  deutlicher  Erfolg. 

Oeffnung.  Beginn  der  Beschleunigung  in  der  vierten  Secunde.  Im 
Lauf  der  nächsten  Secunden  werden  die  Bewegungen  zwar  unzählbar 
schnell,  sind  aber  noch  einzehi  zu  unterscheiden.  Nach  20  Secunden 
wieder  die  anfängliche  Frequenz. 

e.  3,6  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Kein  Einfluss. 

Oeffnung.  Wie  in  d\  doch  ist  die  Gesammtdauer  der  Erregung 
kürzer,  etwa  15- Secunden. 

f,  i  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Kein  Effect. 

Oeffnung.  Nach  i  Secunden  erst  deutliche  Beschleunigung  und 
Verstärkung.  Nach  K  0  Secunden  wieder  wie  zu  Anfang. 

Q.  d,5  Cent.  Rolienabstand. 

Schliessung.  Kein  Erfolg. 

Oeffnung.  In  den  ersten  fünf  Secunden  keine  deutliche  Verände- 
rung. Darauf  eine  geringe  anfangs  wachsende,  dann  wieder  abnehmende 
Beschleunigung.  Gesammtdauer  der  Erregung  höchstens  1 0  Secunden. 

A.   0  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Nach  einigen  Secunden  deutliche  Beschleunigung, 
die  binnen  4  0  Secunden  wieder  aufhört. 

Oeffnung.  In  der  zweiten  Secunde  plötzlich  starke  Beschleuni-* 
gung.  In  der  dritten  Secunde  sind  die  einzelnen  Schläge  schon  nicht 
mehr  zu  unterscheiden.  Im  Laufe  einer  Minute  kelirt  allmählich  die  an- 
fängliche Schnelligkeit  zurück. 

t.    4  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Kein  Erfolg. 

Oeffnung.  Erst  nach  4 — 5  Secunden  geringe  Beschleunigung; 
nach  1 0  Secunden  wieder  wie  zu  Anfang.  —  Hierauf  wird  bei  demselben 


396  "^      Tb.  W,  Engelmann, 

Rollenabstand  dreimal  rasch  hintereinander  geschlossen  und  geöfifnel: 
.starke  Beschleunigung.  Nach  5 — ^6  Secunden  sind  einzelne  Schläge  nicht 
mehr  zu  unterscheiden.  Im  Lauf  der  nächsten  Minute  allmähliche  Ab- 
nahme. 

k.   0  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Nach  einigen  Secunden  geringe  aber  deutliche  Be- 
schleunigung ,  die  sich  im  Lauf  von  4  5  Secunden  wieder  verliert. 

Oeffnung.  Noch  innerhalb  der  ersten  Secunde  starke  Bosolüeuni- 
gungy  die  fast  eine  Minute  anhält. 

L   4  Cent.  Rollenabstand. 

Schliessung.  Kein  Erfolg. 

Oeffnung.  Nach  etwa  5  Secunden  deutliche ,  ziemlich  starke  Be- 
schleunigung, die  i  0  —  i  ö  Secunden  lang  anhält. 

m.   0  Cent.  Rollenabstand. 

Wie  in  Ar,  die  Beschleunigung  nach  der  Oeffnung  hält  jedoch  länger, 
fast  zwei  Minuten  lang  an. 

n.    4  Cent.  Rollenabstand. 

Wie  in  / ;  doch  ist  die  Gesammtdauer  der  Erregung  nach  der  Oeff- 
nung etwas  länger. 


Aus  diesem  Versuche  geht  hervor,  dass  mit  der  Stärke  der  Induc— 
tionsschliige  die  Grösse  und  Dauer  der  Erregung  zunimmt.  Wie  man 
sieht,  dauerte  es  merkliche  Zeit,  ehe  eine  Beschleunigung  bemerkbar 
wurde.  Diese  Zeit,  die  man  als  Zeit  der  latenten  Erregung  be- 
zeichnen kann,  ist  um  so  kürzer,  je  stärker  der  Inductionsschlag  war. 
Sie  kann  bei  sehr  starken  Reizen  für  die  Wahrnehmung  zu  klein  wer- 
den. Als  ich  mit  dem  Oeffnungsschlag  eines  grossen  RuHMKORFF^schen 
Apparats  reizte,  dessen  primäre  Spirale  mit  4  grossen  GROVB'schen 
Elementen  in  Verbindung  stand,  schien  die  Beschleunigung  im  Moment 
der  Reizung  einzutreten.  Dasselbe  kann  man  auch  bei  Gebrauch  eines 
kleinen  Ruhmkorff^s  oder  eines  du  Bois'schen  Schlittcnapparats  beob- 
achten, wenn  man  den  primären  Strom  stark  genug  macht.  Wie  kurz 
die  Dauer  der  latenten  Reizung  werden  könne ,  lässt  sich  wegen  der 
UnvoUkommenheit  unserer  Hilfsmittel  nicht  entscheiden.  Aus  demsel- 
ben Grunde  lässt  sich  ^uch  nicht  mit  Bestimmtheit  behaupten ,  ob  die 
Erregung  bei  Reizung  von  noch  in  Bewegung  begriffnen  Gilicn  in  der 
ersten  Zeit  wirklich  latent ,  oder  ob  sie  nur  ftir  die  grobe  Wahrnehmung 
zu  gering  sei.*  Ich  möchte  auf  Grund  von  Versuchen  mit  schwachen 
Oefinungsschlägen  das  Erstere  annehmen.  Stuft  man  die  Stärke  der 
Schläge,  z.  B.  durch  Entfernen  der  secundärcn  Spirale  von  der  primä- 
ren, mehr  und  mehr  ab ,  so  wird  auch  das  Stadium  der  latenten  Rei- 
zung immer  länger,  und  es  kann  endlich  7  Secunden  und  mehr  dauern. 


Ueber  die  FUnmeHtevegun^T^  '  397 

ehe  man  eine  Aenderüng  der  Bewegung  ^hrnimmt.  In  verschiedenen 
Versuchen,  wo  später  deutliche  Beschleunigung  eintrat,  fand  ich  die 
Frequenz  der  Schwingungen  ia  den  ersten  fünf  Secunden  nach  der 
Beizung  eben  so  gross  als  m  den  fünf  vorangegangenen.  Auch  eine 
Aenderüng  in  der  Grösse  der  Excursionen  war  nicht  wührzunebmen. 
Standen  die  Gilien  vor  der  Beizung  ganz  still ,  so  konnten  mehrere 
Secunden  verfliessen  ehe  merkbare  Bewegungen  begannen,  und  bei 
Reizung  mit  noch  schwächeren  Schlägen  blieben  die  Cilien  in  Buhe 
stehen. 

Auf  das  Stadium  der  latenten  Beizung  folgt  ein  Stadium ,  in  wel- 
chem die  Schnelligkeit  und  Stärke  der  Bewegung  bis  zu  einem  Maximum 
zunimmt.  Es  kann  als  Stadium  der  steigenden  Energie  be- 
zeichnet  werden.  Das  Maximum  bis  zu  welchem  die  Schnelligkeit  steigt, 
liegt  bei  starken  Beizen  höher  als  bei  schwachen.  Die  Zunahme  der 
Schnelligkeit  erfolgt  um  so  rascher  je  stärker  der  Beiz  war.  Nur  bei 
schwachen  Induclionsschlägen  lässt  sich  indess  durch  Beobachtung  mit 
dem  Mikroskop  bestimmen ,  wann  ungefähr  die  Bewegung  das  Maxi- 
mum der  Schnelligkeit  eiu*eicht  habe.  Sie  bedarf  hierzu  immer  einer 
Beihe  von  Secunden.  Bei  starken  Schlägen  werden  binnen  einer  oder 
zwei  Secunden  die  Schwingungen  so  schnell,  dass  sie  einzeln  nicht 
mehr  zu  unterscheiden ,  eine  weitere  Zunahme  der  Schnelligkeit  also 
nicht  zu  erkennen  ist.  —  Ebenso  kann  man  nur  in  den  Fällen,  wo  wäh- 
rend der  Dauer  des  Maximums  der  Schnelligkeit  die  einzelnen  Schläge 
noch  sichtbar  bleiben,  also  im  Allgemeinen  bei  schwächeren  Reizen, 
mit  dem  Mikroskop  entscheiden ,  wann  die  Schnelligkeit  abzunehmen 
beginnt,  und  wie  lange  etwa  das  Stadium  —  es  möge  das  Stadium 
der  sinkenden  Energie  heissen  —  dauert,  in  welchem  die  Bewe- 
gung vom  Maximum  bis  auf  ihre  anfängliche  Höhe  zurückkehrt.  Dass 
alle  diese  Zeitbestimmungen  noch  ziemlich  ungenau  sind,  ist  selbstver- 
ständlich. So  viel  lässt  sich  aber  feststellen ,  und  geht  aus  Versuch  I 
schon  hervor,  dass  die  Dauer  des  Stadiums  der  sinkenden  Energie  bei 
schwachen  Beizen  kürzer  ist  als  bei  starken.  Auch  die  Gesammtdauer 
der  Erregung  beträgt  um  so  weniger,  je  schwächer  der  Beiz  war.  Ist 
die  Schnelligkeit  auf  der  anfänglichen  Höhe  wieder  angekommen ,  so 
pflegt  sie ,  falls  die  übrigen  Bedingungen  sich  tezwischen  nicht  ver- 
ändert haben,  zunächst  nicht  weiter  zu  sinken. 

Der  grösste  Theil  der  durch  Beobachtung  im  Mikroskop  gewonne- 
nen Besultate  lässt  sich  bestätigen,  wenn  man  nach  der  zweiten  der 
oben  beschriebenen  Methoden  die  Geschwindigkeiten  eines  Über  die 
flimmernde  Schleimhaut  geführten  Signals  misst.  Diese  Methode  giebt 
ausserdem  über  die  Grösse,  über  die  Gesammtdauer  und  über  einzelne 


398 


Tb.  W.  Eigelmim, 


Puncte  des  Verlaufs  der  Erni|aDg  genaoere  Anskatift.    Ich  lasse  hier 
einen  Versuch  folgen. 


feisach  II.  Frische  Rachenschleimbaut  vom  Frosch,  in  dem  mit  haU>- 
procentiger  Kochsalzlösung  gefüllten  Glastrog  ausgespannt.  Die  vom  Signal 
durchlaufene  Bahn  ist  2  Mm.  lang  und  liegt  ungefähr  in  der  Mitte  zwischen 
beiden  Elektroden.  Die  Zeit,  welche  zum  Durchlaufen  des  ersten  und  des 
zweiten  Millimeters  gebraucht  wird ,  ist  mit  Hilfe  eines  MALZL'schen  lletro- 
noms  gemessen,  welcher  Drittelsecunden  angiebt.  Die  Thonspitzen  der  nn- 
polarisirbaren  Elektroden  sind  in  einem  Abstand  von  1,6  Cent,  oben  und 
unten  auf  die  Schleimbaut  aufgesetzt.  Sie  sind  in  Verbindung  mit  der  se- 
condären  Spirale  des  Schlittenapparats.  Der  primäre  Strom  wird  von  4 
grossen  Gbove's  geliefert.  Schliessung  und  Oeffnung  geschehen  mit  Hilfe 
eines  Quecksilbernäpfchens  und  zwar  in  dem  Moment,  wo  das  Signal  vom 
Anfangspunct  seiner  Bahn  abgebt. 


Tabelle 

iH. 

ÜBrnmei 

der 

'BcobMiiting. 

Z«it  dar 
BtotaeUnag. 

• 

Beiz. 

fioUenaSstand. 

Zeit  in  DrittelMCoadea 

flkr  den           flkr  den 

antra           iwaitaa 

Wllinietar.      Hillimetar. 

* 

11h.  52' 

_ 

^^ . 

8 

7 

2 

— 

— 

— 

8 

7 

3 

— 

— 

— 

8 

7 

4 

^^ 

— 

_ 

8 

7 

5 



— 

8 

8 

6 

— 

— 

_ 

8 

8 

7 

— 

— 

8 

8 

8 

— 

— 

9 

8 

9 

— 

— 

— 

9 

9 

10 

— 



— 

9 

9 

44 

— 

.— 

— 

9 

9 

4S 

— 



..^ 

9 

9 

.     43 

11h.  57'. 

Schliessung 

OMm. 

9 

7 

44 

— 

— 

7 

7 

45 

— 

8 

8 

46 



•  — . 

9 

8 

47 

—i. 

— ~ 

— 

8 

8 

18 

— 

_ 

.— . 

8 

8 

49 

i 

— 

— 

9 

9 

20 

42  h. 

OefTnung 

0  Mm. 

8 

5 

21 

— 

— 

5 

5 

22 

— 

— 

6 

6 

23 

.^^ 

— 

— 

7 

7 

24 

— 

— 

"— 

7 

7 

25 

— 

• 

8 

8 

Ueber  dn  Fltnmerbeweganfl^ 


399 


Kummer 

der 

Beobaclitun^. 

Zeit  der 
Beobachtung. 

Heiz. 

• 

r 

Bollenabstand. 

Zeit  in  DritteUecnnden 

für  den          fftr  den 

ersten           zweiten 

Millimeter.     MilUmeter. 

26 

' 

8 

8 

27 

8 

*      8 

28 

— 

9 

9 

29 

— 

9 

10 

SO 

— 

9 

9 

31 

— 

9 

8 

32 

— 

8 

8 

33 

— ~ 

8 

9 

3i 

42h.  5' 

Schliessung 

0  Mm. 

9 

7 

35 

-.^ 

_ 

7 

7 

36 

— _ 

7 

7 

37 

— — 

% 

7 

8 

38 

8 

8 

39 

— 

8 

8 

40 

-~ 

.— 

._ 

8 

8 

44 

12h.  9' 

— 

_- 

9 

9 

42 

..— 

_ 

9 

9 

43 

__ 

..— 

9 

10 

44 

— 

... 

— 

9 

9 

45 

— 

— 

^  — 

9 

9 

46 
47 

12h.  12' 

OefTnung 

0  Mm. 

8 
5 

5 
5 

48 

— ^ 

— 

5 

5 

49 

— 

... 

5 

5 

50 

-~ 

... 

6 

6 

51 

'  — 

... 

7 

7 

52 

•~^ 

... 

7 

7 

53 

— 

_ 

^^ 

7 

8 

54 

m.m. 

... 

^.. 

8 

8 

55 

..._ 

^. 

8 

9 

56 

— 

._ 

9 

9 

57 

— _ 

._ 

... 

9 

10 

58 

.~- 

__ 

... 

9 

9- 

59 

_.. 

_ 

9 

8 

•60 



__ 

.... 

9 

9 

61 
62 

12h.  25' 

Schliessung 

30  Mm. 

9 

7 

7 
7 

63 

— 

~^ 

_ 

7 

7 

64 

.— 

.—. 

.^ 

8 

8 

65 

— . 

..- 

... 

8 

9 

66 

—— 

_» 

— . 

9 

9 

67 

— 

.... 

... 

10 

10 

08 

— 

— 

... 

10 

40 

69 

-^ 

— 

— 

9 

10 

400 


>^   Tb.  W,  Bngelmann, 


Nammer 

der 

Beobachtung. 


Zeit  der 
Beobachtung. 


Bollenabstand. 


Zeit  in  DrittelMemiden 


fbr  den 

ersten 

Millimeter. 


fbr  den 

iweiten 

Millimeter. 


70 

71 

72 

73 

74 

75 

76 

77 

78 

79 

80 

81 

82 

83 

84 

85 

86 

87 

88 

89 

90 

91 

92 

93 

94 

95 

96 

97 

98 

99 

100 

101 

102 

103 

104 

105 

106 

107 

108 

109 

110 

111 

112 

113 


12h.  30' 


OelTnung 


30  Um. 


12h.  35' 


12h.  38' 


12h.  45' 


Schliessung       30  Mm. 


Oeffnung 


12h.  48' 


Schliessung 


30  Mm. 


50  Mm. 


OefTnung 


50  Mm. 


8 

5 

5 

6 

i 

6 

7 

8 

"8 

8 

8 

8 

9 

9 

9 

9 

9 

9 

9 

9 

9 

9 

7 

7 

6 

7 

7 

7 

8 

8 

8 

9 

9 

9 

10 

40 

10 

9 

7 

6 

6 

7 

7  . 

7 

7 

8 

8 

8 

9 

9 

9 

9 

10 

10 

10 

10 

11 

11 

11 

11 

10 

10 

11 

10 

7 

8 

7 

8 

8 

8 

9 

9 

9 

10 

fO 

11 

11 

ii 

13 

10 

7 

7 

7 

7 

8 

8 

8 

Ueber  di«  Plimmerbewegu 


r 


401 


NnmiB«r 

Zeit  d«i 

1 

Zeit  in  DrittalMcanden 

der 

Beiz. 

BoUenabatand. 

nr  dni 

fftr  den 

BeobMhtang. 

iSMoaeatang. 

«nten 

nraiUn 

MUlimatar, 

MilUmetor. 

114 

__- 

9 

9 

H5 

_ 

9 

9 

416 

^- 

— 

10 

M 

117 

_ 

11 

12 

418 

# 

— 

12 

12 

119 

— 

11 

12 

120 

— 

— 

— 

11 

11 

121 

— 

— 

10 

11 

122 

— 

— 

12 

12 

123 

— 

12 

13 

124 

— 

12 

13 

125 

12h.  56' 

Schliessung 

70  Mm. 

12 

11 

126 

— 

— 

— . 

10 

9 

127 

^— 

_ 

9 

10 

128 

— 

— 

10 

10 

129 

■— 

— > 

—^ 

11 

11 

130 

— 

— 

~~ 

12 

13 

131 

— 



12 

12 

132 

Ib. 

OeffnuDg 

70  Mm. 

12 

10 

133 

— 

— 



8 

8 

134 

— 

.... 

... 

9 

9 

135 

• 

— 



10 

10 

136 



>— 

11 

11 

137 



-— 

— 

12 

12 

138 



— 

13 

14 

139 



— 

-^ 

14 

14 

140 



— 

— 

13 

14 

141 



-» 

— 

14 

14 

142 

1h.  7' 

Schliessung 

80  Mm. 

14 

12 

143 



— 

12 

11 

144 



— 

— - 

13 

13 

145 



— 

— 

14 

14 

146 



— 

• 

13 

14 

147 



— 

13 

13 

148 

— 

/ 

— 

13 

13 

149 

4h.  <3' 

OeffiAung 

80  Mm. 

12 

10 

160 

— 

_ 

9 

9 

151 

— 

_ 

10 

11 

152 

— 

— 

— 

12 

18 

153 

— 

— 

.1. 

12 

12 

154 

— 

-^ 

~* 

12 

12 

155 

1h.  24' 

Schliessung 

70  Mm. 

12 

11 

156 



—^ 

-^ 

10 

10 

167 

• 

— 

— 

11 

42 

Bd.  IV.  3. 


26 


402 


4  mw. 


Züt  ia  DritUlMCvadea 

ZeiidOT 

Beis. 

BoUaubitaad. 

ftl  4.B 

fix  den 

B«#toc1iinV. 

ottoa 

sireitea 

BeabaektvBg. 

MlUimeter. 

Ifaiinefeer. 

458 

_- 

43 

43 

159 

«— 

— 

— 

14 

16 

160 

— 

— 

— 

16 

46 

161 

"^ 

— 

48 

48 

162 

^ 

— 

48 

48 

163 

— 

— 

20 

20 

164 

1  h.  35 ' 

OeffnuDg 

70  Mm. 

46 

42 

165 

— 

— 

42 

15 

166 

—- 

— 

— 

44 

16 

167 

— 

46 

46 

168 

— 

47 

47 

169 

Ih.  40' 

-—' 

— 

47 

47 

170 



— 

— 

48 

48 

171 

— 

— 

48 

20 

-    172 

Ih.  45' 

Schliessang 

0  Hm. 

45 

H 

173 

— 

— 

42 

42 

174 



— 

44 

45 

175 

47 

48 

176 

— 

— 

48 

47 

177 

— -> 

— 

— 

48 

20 

178 

— 

20 

20 

179 

1  h.  53 ' 

OeifDung 

0  Mm. 

46 

40 

180 

— 

— 

4^ 

42 

181 

43 

43 

482 

— 

— 

44 

45 

483 

_ 

— 

— 

47 

49 

484 

_— 

— 

—  . 

20 

90 

185 

4  h.  57 ' 

SchliessuDg 

0  Mm. 

45 

42 

486 

_- 

42 

42 

487 

— 

— 

42 

42 

488 

— 

— 

43 

43 

189 

_ 

— 

— 

45 

46 

490 

.^ 

— 

46 

47 

191 

_^-«. 

% 

— 

47 

47 

492 

— 

— 

46 

46 

193 

—m 

' 

46 

46 

494 

2h.  5' 

Oeflhung 

OMm. 

42 

8 

495 

_ 

— 

— 

8 

8 

496 

— 

8 

9 

197 

mm^ 

— 

9 

9 

498 

^^^^ 

— 

44 

43 

499 

44 

45 

900 

, 

, — 

48 

48 

901 



— 

48 

47 

U«b«r  die  FliMMitwwagDii^r 


304 


- 

Mniuur 

Sait  Arn» 

Zdt  1b  Orittelueandtn 

d«r 

Sei«. 

RolleubsUad. 

Ar  l«n 

Ar  den    • 

BMbMhtncL 

• 

•otaa 
imUmtter. 

iwaitaB 
HUHmetor. 

SOS 

_ 

20 

20 

203 

— . 



20 

20 

S04 

2h.  43' 

Schliessung 

0  Mm. 

46 

48 

805 



— 

— 

43 

48 

«06 

_ 

— 

-— 

44 

44  ■ 

207 



— 

45 

45 

208 



— 

46 

46 

209 



, 

46 

46 

210 

48 

80 

241 



— 

— 

20 

48 

849 

— 

• 

— 

48 

48 

943 

2h.  20' 

OeffnuDg 

OMm. 

43 

9 

244 

— 

— 

9 

9 

245 

— 

40 

44 

246 

""" 

— 

48 

43 

847 

— 

— 

43 

45 

848 

_ 

—— 

47 

48 

249 

^•^m 

— 

— 

48 

48 

820 

2h.  25' 

^— 

80 

20 

Ueberblickt  man  die  vorstehende  Tabelle ,  so  sleki  man  zunächst, 
dass  die  mittlere  Geschwindigkeit  des  Signals  nach  dem  Ende  des  Ver- 
suchs SU  ailmlihlich  bis  etwa  auf  die  Hälfte  abnimmt  Da  diese  allmäh- 
liche Veriangsamang  auch  in  Versnchen  ohne  Reizung  mit  ungefähr 
derselben  Schnelligkeit  wie  hier  eintreten  kann,  darf  man  sie  nicht  auf 
Ermttdung  durch  Heizung  beziehen.  Man  sieht  femer  aus  der  Tab^e, 
dass  bei  gleichem  Rollenabstand  die  Erregung  durch  den  Seh  lies- 
snngsindnctionsschlag  weniger  stark  und  von  etwas  kUr- 
zererDauer  ist,  als  die  Erregung  durch  den  Oeflhungsschlag.  Auch  ist 
deutlich ,  dass  mit  zunehmender  Entüemung  der  secundären  von  der 
primären  Spirale,  sowol  bei  Schliessungs-  als  bei  Oeffnungsreizung  die 
Stärke  und  Dauer  der  Erregung  abnimmt  Ueber  die  Dauer  des  Sta- 
diums der  latenten  Reizung  und  deren  Abhängigkeit  von  der  Strom- 
stäAe  giebi  die  Tabelle  nur  wenig  AufsoUuss.  Doch  sieht  man  so  viel, 
dass  der  erste  Millimeter  der  Bahnstrecke  unmittelbar  nach  der  Reizung 
mit  Schliessungsschlag  in  derselbe  Zeit  wie  unmittelbar  vor  der  Rei- 
zung, nach  Reizung  mit  dem  Oeflhungssohlag  dagegen  rascher  als  un- 
mittdbar  vorher  zurückgelegt  wird.  Beim  Verfolgen  des  Signals  mit 
dem  Auge  sieht  man  im  letzteren  Fall  auch ,  dass  erst  nachdem  achon 


404  )  n  W.  E«getaian, 

ein  Theil  des  ersten  Millimet^  der  Bahn  durclilaufen  ist,  eine  deut* 
Jiche ,  fast  plötzliche  Beschleunigung  eintritt.  Was  den  weiteren  Ver- 
lauf der  Erregung  angeht,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Starke  der  Bewe- 
gung im  Allgemeinen  rasch  ihr  Maximum  Erreicht.  Auf  diesem  pflegt 
sie  sich  mehrere  Secunden  lang  zu  halten,  um  dann  langsam  abzunelb- 
men.  Es  wird  aber,  wie  die  Tabelle  zeigt,  das  Stadium  der  steigenden 
Energie  desto  länger,  das  der  sinkenden  desto  kürzer,  je  sdiwäclier 
der  Reiz  war.  Beide  Stadien  können  schliesslich  ungefähr  gleiA  lang 
werden. 

Man  könnte  den  Gang  der  Erregung  durdi  eine  Gurve  ausdrttf&en, 
deren  Abscissen  die  Zeiten  vom  Moment  der  Reizung  an,  deren  Ordi- 
nalen die  entsprechenden  Geschwindigkeiten  des  Signals  an  der  gereiz- 
ten Stelle  darstellen.  Es  geht  dann  aus  Versuch  U  hervor,  daas  die 
Form  und  Ausdehnung  dieser  Curve  wesentlich  abhängt  von  der  Stärke 
des  reizenden  Stromes ,  d.  h.  von  der  Grösse  der  Dichtigkeitsschwan- 
kungen desselben.  Die  Gurve  steigt  am  so  früher  und  um  so  steiler, 
und  sinkt  um  so  langsamer  je  grösser  die  Dichtigkeitsschwankung  war. 
Auch  das  Maximum  der  Erhebung  der  Gurve  liegt  bei  grösseren  Strom- 
schwankungen im  AUgemeinen  höber.  Es  giebt  indessen  du  absolutes 
Maximum ,  welches  bei  weiterer  Steigerung  der  Reizstärke  nicht  td[>er- 
schritten  wird.  Die  Grösse  dieses  Maximums  hängt  von  dem  Zustande 
der  Flimmerzellen  ab.  Schon  vor  der  Reizung  können  nämlich  die 
Flimmerzellen  auf  der  höchsten  Stufe  der  Thätigkeit  sein.  Diese  ist  fast 
bei  jeder  ganz  frischen  Rachenschleimhaut  vom  Froseh  unmittelbar 
nach  der  Präparation  der  Fall,  wenn  man  den  Glastrog,  in  dem  die 
Haut  ausgespannt  wird ,  mit  einer  möglidist  indifferenten  Flüssigkeit 
gefüllt  hatte.  Die  Geschwindigkeit  des  S'ignals  betrug  dann  in  meinen 
Versuchen  oft  einen  Millimeter  In  der  Secunde.  Schickte  ich  nun  in 
einem  solchen  Falle  einen  Inductionsschlag  von  beliebiger  Stärke  durch 
die  Membran,  so  trat  keine  weitere  Beschleunigung  der  Bewegung  ein. 
Würde  die  Membran  vor  der  l^eizung  so  lange  liegen  gelassen ,  bis  die 
Schnelligkeit  der  Bewegung  sich  bis  auf  0,8  Mm.  in  der  Secunde  ver- 
langsamt hatte,  dann  war  das  Maximum  bis  zu  welchem  die  Bewegung 
durch,  einen  einzelnen  Inductionsschlag  wieder  bescUeunigt  werden 
konnte,  0,4 — 0,5  Mm.  in  der  Secunde.  Hierzu  reichte  ein  Oeffnungs- 
schlag  des  mit  4  grossen  Grotb's  in  Verbindung  stehenden  Sdilitten— 
apparats  aus,  als  der  Rollenabstand  30  Mm.  betrug.  Auch  als  die  Rollen 
ganz  aufgeschoben  waren ,  wurde  keine  stärkere  Beschleunigung  er— 
reidit,  und  ebensowenig  vermochten  diess  die  starken  Oefibungs- 
schlüge  eines  kleinen  und  eines  grossen  RuHMXORPF'sdben  Apparats, 
durch  deren  primäre  Spiralen  die  Ströme  von  4  grossen  GROvi'sohen 


Ueber  die  Flwneilewegui^^  405 

Elementolii  igiogen.  Ist  dieiThttUgkeit  d#  GiUen  vor  der  Reizung  noch 
weiter  gesunken,  —  sei  es  nun  durch  längeres  Liegen  in  mehr  indiffe- 
reolen  PHlssigkeMen,  oder  duceb  kürzere  Einwirkung  von  etwas  zu 
slark  ooooentrirten  KochsalsMsungen  — ,  dann  liegt  das  Maximum  bis 
f u  welcbem  die  Schnelligkeit  des*Signals  durch  einen  einzelnen  Induc«- 
tictasschkg  gesteigert  werden  kann,  noch  viel  niedriger  als  bei  frischen 
SchleimhUuten.  Auch  scheint  der  Verlauf  der  Erregung  dann  ein  an- 
derer Sil  sein.  Es  wttre  interessant,  zu  untersuchen,  wie  bei  Zellen, 
deren  Bewegung  durch  verschiedene  chemische  oder  physikalische 
Einflüsse  verlangsamt  oder  zur  Ruhe  gebracht  ist,  die  Erregung  durch 
einen  einzelnen  Induotionsschlag  verltfuft,  und  in  welcher  Weise  sich 
in  diesen  verschiedenen  Fällen  die  Grosse  und  der  zeitliche  Verlauf  der 
Erregung  mit  der  Grösse  der  reizenden  Dichtigkeitsschwankung  ändert. 
Ich  habe  mich  indess  im  Vorstehenden  darauf  beschränkt,  f(ir  Flimmei^ 
zelten  die  sich  unter  verhällnissmässig  normalen  Bedingungen  befinden, 
die  Form  der  Erregungscurve  und  ihre  Abhängigkeit  von  der  Grösse 
der  Stromschwankung  wenigstens  annäherungsweise  zu  bestimmen. 

Es  war  zu  erwarten,  dass  auch  die  Schnelligkeit,  mit  der  die  rei- 
zende Stromesschwailkung  verläuft,  von  Einfluss  auf  die  Erregung  sein 
würde.  Diess  zeigte  sich  deutlich  in  Versuchen  mit  Inductionsschlägen 
von  sehr  verzögertem  Verlauf.  Letztere  wurden  dadurch  erhalten,  dass 
die  secundäre  Spirale  eines  du  Bois'schen  Schlittenapparats*  bei  ge- 
schlossenem primären  Strom  und  feststehendem  Hammer  rasch  auf-^ 
oder  abgeschoben  wurde.  Selbst  als  im  primären  Kreis  vier  grosse 
GROTs'sche  Elemente  sich  befanden  und  das  Verschieben  der  Rollen 
(von  45  oder  40  Cent.  Abstand  auf  0  oder  umgekehrt)  mit  grösslpiüg- 
licher  Geschwindigkeit  (in  höchstens  einer  Viertclsecunde)  ausgeführt 
wurde.,  war  es  nicht  möglich ,  eine  Beschleunigung  der  Bewegung  zu 
erwecken.  Wurde  dann  bei  einem  festen  Rollenabstand  von  8  Cent, 
der  primäre  Strom  plötzlich  geöffnet,  so  trat,  starke  Beschleunigung  ein, 
und  dasselbe,  wenngleich  etwas  schwächer,  bewirkte  die  Schliessung 
bei  dem  nämlichen  Rollenabstand.  Viel  stärker  noch  war  der  Erfolg 
der  plötzlichen  Schliessung  und  Oeffnung  bei  OMm.  Abstand.  Aus  die- 
sen Versuchen,  welche  nach  beiden  oben  beschriebenen  Methoden,  mit 
und  ohne  Mikroskop,  angestellt  wurden,  folgt,  dass  bedeutende 
elektrische  Dichtigkeitsschwankungen  nicht  erregend 
wirken,  wenn  sie  langsam  verlaufen.  Das  genauere  Verhält- 
niss  der  Abhängigkeit ,  welches  besteht  zwischen  Grösse  und  Verlauf 
der  Erregung  und  der  Schnelligkeit,  mit  der  die  reizende  Stromschwan- 
kung abläuft,  ist  durch  weitere  Versuche  erst  zu  ermitteln. 


406 


\  Tli.  W.  BügelBMo, 


Wir  gehen  jetzt  zur  ScbiUerung  des  Einflusses  über,  welehen  der 
constante  Strom  auf  die  FliiDiiierbeweguBg  ausld^t. 

Schickt  man  durdi  eine  ausgespantite  Rachensehtoilnfaaut,   oder 
durch  ein  in  der  Gaskammer  liegendes  Stttck  dei^lben  einea  miasig 
starken,  oder  starken  constanten  Strom  (2  DaKi&li.'s  u.  m.),  so  beginni 
spätestens  einige  Secunden  nach  der  Schliessung  des  Stromes  die 
Bewegung  sich  zu  beschleunigen  und  erreicht  bald  ein  Maximum.  Hier- 
nach sinkt  sie  langsam  auf  die  anfonglicbe  Höhe  surQck  und  \M%  aUk 
auf  dieser  so  lange  der  Strom  geschlossen  bleibt.    Wird  dann  geöffnet, 
so  erfolgt  wieder  eine  anfangs  zundiimende,  bald  abw  nachlassende 
Beschleunigung.    Man  unterscheidet  also  hier  wie  bei  det  Erregung 
durch  einen  elnzdnen  Indüctionsschlag  drei  Stadien :  das  der  latenten 
Reizung,  das  der  steigenden  und  das  der  sinkenden  JE^ergie.  Folgender 
Versuch  diene  zur  Erläuterung. 


Versieh  III.  Racbenscbleimhaut  im  Glastrog  ausgespannt,  der  mit  Koch- 
salz von  0,6  Yo  gefüllt  ist.  Die  Bahnstrecke,  welche  das  Signal  durchläuft, 
ist  4  Mm.  lang  und  genau  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  Elektroden  ge^ 
legen.  Die  Zeit  in  welcher  jeder  einzelne  Millimeter  vom  Signal  zurückge- 
legt wird,  ist  in  Secunden  angegeben.  Die  Elektroden  sind  in  einem  Abstand 
von  i  Cent,  oben  und  unten  mit  breiter  Fläche  auf  die  Schleimhaut  aufge- 
setzt. Die  Reizungsdrähte  führen  rückwärts  zu  einem  Schlüssel ,  zu  einer 
Pom.*schen  Wippe  (mit  eingelegtem  Kreuze]  und  von  da  zu  den  Polen  einer 
Kette  von  8  hintereinander  verbundenen  DANiBLL'schen  Elemeaaten.  SchHes* 
sung  und  Oeffnung  geschehen  stets  iii  dem  Moment,  wo  das  Si^qmI  vom  An- 
fangspunct  der  Bahn  abgeht.  —  Vor  Beginn  der  Reizung  hatte  die  Membran 
über  eine  Stunde  lang  Im  feuchten  Baume  gelegen  und  war  wiederholt  von 
Schleim  befreit  worden.  Die  Geschwindigkeit  der  Sigoalbewegung  war  in 
der  letzten  halben  Stunde  vor  der  Reizung  ziemlich  constant  gewesen ,  hatte 
im  ganzen  jedoch  etwas  zugenommen. 


Tabelle 

»lil. 

• 

Nummer 

der 

BeobaoMnag. 

Zrit4*lr 
BeokMhtuig. 

Reiz. 

4 

ersten 
Millimeter. 

Zelt  ia  See« 

tmtHtm 
Hitlimator. 

iiileBflUd* 

drittmi 
MlUimcter. 

a 

vfierte« 
Millimeter. 

i 

2h.  i8' 

_ 

6 

5 

ö          i 

4 

s 



— 

5,5 

5 

5 

4 

3 



— 

6 

5 

5 

4 

4 



— 

6 

5 

{ 

4 

5 



— 

6 

5 

4,5 

4 

6 

7 

2h.  20' 

Schliessung 

5 
4 

3 
4 

3 

3 

8 

— 

— 

4 

3,5 

3 

3 

lieber  die  Flinnerlyewegii^P^ 


407 


Nomaet 

Z*it  Am 

• 

Z«it  in  8«ea«den  fftr  den 

d«r 
BMteehtaag, 

BeoliMMm 

Reis. 

ersten 

zweiten 

dritten 

Tieiten 

Millimeter. 

Millimeter. 

HUlirntter. 

Millimeter. 

9 

M^ 

_ 

4 

4 

3      . 

3 

40 

-^ 

— 

4,5 

5 

3 

'  fj 

H 

— 

— 

5 

6 

42 

— 

5 

D 

43 

— 

5 

5 

44 

— 

5 

5 

45 

— 

5 

6 

46 

— 

— 

4 

5 

47 

— 

— 

5 

4 

48 

•— 

5 

5 

49 

— 

— 

5 

5 

80 

2h.  25' 

OeRhung 

4 

3,5 

3,5 

84 

-^ 

^» 

A 

88 

—^ 

— . 

4 

83 

— « 

— 

4 

*            •x 

84 

2h.  27' 

—— 

4 

85 

— 

— 

5 

4,5 

& 

86 

— 

— 

5,5 

4,5 

87 

— 

— 

7 

9 

6 

88 

— \ 

— 

6 

6 

89 

— 

6 

6 

4,5 

30 

— 

— 

6 

5 

34 

— 

5,5 

5,5 

38 

— 

— 

5 

5 

33 

— 

— 

4,5 

5 

L 

34 

^^^^^ 

— 

5 

5 

35 

— 

— 

5 

4,5 

36 

— 

— 

5,5 

5 

37 

— 

— 

5,5 

5 

• 

38 

— 

5 

5 

39 

— ► 

— 

5,5 

5 

40 

— 

— 

6 

5 

44 

2h.  35' 

Schliessung 

5 

8 

8 

8 

48 

— 

— 

2 

8,5 

8 

8 

43 

— 

3 

3 

8 

8 

44 

— 

3,5 

3,5 

2,5 

8 

45 

— 

— 

4 

4 

3,5 

3,5 

46 

— 

— 

4,5 

4 

3,5 

3 

47 

— 

— 

5 

4 

3,5 

48 

— 

— . 

5 

4,5 

# 

49 

— 

— 

5 

4,5 

50 

— 

— 

5 

-   *,5 

5t 

— 

5 

4,5 

58 

• 

— 

5 

5 

408 

"%  Th.  W.  Eigdmaa, 

• 

NniBinar 

d«r 

Beobachtung. 

Zalt  der 
BMlMehtang. 

"9 

Bei«.' 

! 
erstMi 

Seit  in  8m» 
nrettm 

BdenfkrdM 
(rittan 

l 

Tiertan 

MflUmeter. 

HUUmeter. 

HUliiMtw. 

MUlimetor. 

t3 

• 

_ 

5 

5 

4 

54 

— 

5 

5 

4 

55 

2h.  40' 

Oefihung 

4 

3 

3 

56 



— 

5 

4 

4 

"" 

67 

— » 

— - 

6 

5 

4 

68 

— 

— 

7 

•   6 

5 

69 

.— 

— 

7 

5 

5 

60 

— 

— 

6 

4,5 

4,5 

61  • 

-— 

— 

5,5 

5 

4,5 

6S 

— 

— 

6 

5     , 

4,5 

63 

... 

— 

6 

5 

4 

64 

^o 

— 

6 

5 

4 

65 

2b.  45' 

Schliessung 

5 

3 

2 

2 

66 



— 

2,5 

2,5 

2 

2 

67 



— 

3 

2,5 

2,5 

2 

68 



— 

4 

4 

2,5 

2,5 

69    . 

— 

4 

4 

3 

3 

70 



— 

4 

4 

3,5 

3,6 

74 



— 

5 

5 

72 



— 

5 

4 

73 



— 

5 

4,5 

^ 

74 



— 

5 

5 

75 



— 

6 

5,6 

4,5 

76 



— 

5 

5 

77 



— 

5 

5 

im 

78 



5,5 

5 

jL 

79 

2h.  50' 

Oefihung 

5 

3 

%ß 

80 

— 

— 

4 

4 

84 

5 

4,8 

82 

— 

— 

5,5 

5 

4,6 

83    - 

— 

— 

6 

5  / 

84 

— 

— 

5,5 

5 

4,5 

85 

— 

— 

5 

5 

86 

— 

— 

5 

5 

m 
k 

87 

— 

— 

5 

5 

A 

88 

— 

— 

5,5 

5 

m^ 

89 

— 

5 

5 

90 

— 

5 

5 

94 

2h.  56' 

Schliessung 

4,5 

2 

4,5 

92 

— 

2 

2 

2 

2 

93 

— 

— 

4 

4 

3,5 

3 

94 

— 

4 

4 

3 

3 

»5 

2h.  Ö8' 

— 

4 

4 

3,5 

3,5 

96 

— 

— 

4 

4 

3,5 

3,5 

Debet  Ha  FüBMibewegB 


409 


NwBmai 

&ita0r 

' 

r^ 

Zeit  iB  SeeudaB  Ar  in 

1 

dar 
BMlMcliiiing. 

BMbMktug. 

Bais. 

•ratam 

nniUB 

«rittaa 

iteitam 

KUIiMtar. 

HUHHatar. 

MUUMtar.  ICffimtar. 

97 

^_ 

>— • 

5 

4,5 

4 

98 

—^ 

— 

5 

4,5 

4 

99 

— 

— 

5 

5 

4 

100 

— 

5 

5 

4 

401 

— 

5    . 

4,5 

4 

102 

— 

— 

5 

5 

4,5 

103 

— 

5,5 

5 

4 

104 

— 

6 

5 

4 

105 

—' 

— 

6 

5 

4 

106 

^ 

5,5 

5 

4 

107 

6 

5 

4 

108 



— 

6 

5 

4,5 

109 

— 

— 

5,5 

5 

4,5 

110 

3h.  3' 

Oefloung 

5 

3 

3 

4 

111 

^— 

4 

5 

5 

4,5 

112 

-^ 

«— 

e 

7 

6 

6 

113 

— 

— 

5 

6 

6 

5 

114 

— 

6 

6 

5 

5 

115 

3h.  6' 

— 

6,5 

6 

5 

5 

116 

— 

_ 

5,5 

5 

5 

5 

117 

— 

— 

5 

5 

4 

4,5 

118 

— 

— 

6 

7 

6 

4 

119 

— 

.— 

6 

6 

6 

4 

120 

— 

5 

5 

4 

4 

121 

— 

6 

5 

5 

4,5 

122 

— 

5,5 

5,5 

♦,5 

4 

123 

3h.  10' 

5,5 

5,5 

4,5 

4,6 

124 

— 

— 

5,5 

5,5 

4,6 

4.» 

125 

3h.  ir 

SchUessong 

4,6 

2 

2 

2 

126 

— 

— 

2,5 

2,5 

«,8 

2 

127 

— 

— 

4 

4 

3 

3 

128 

— 

♦,5 

4,5 

4 

4 

129 

„^ 

— 

6 

6 

4 

4,5 

130 

— 

— 

6,5 

6,6 

5,5 

6,6 

131 

-^ 

— 

6 

5 

6 

6 

132 

— 

""* 

7 

6     . 

6 

6 

133 

3h.  45' 

_ 

7 

6 

6 

6 

134 

— 

— 

8 

7 

6 

6,5 

135 

— 

_ 

8 

7 

6 

6 

136 

3h.  17' 

OeflhoDg 

6 

4 

6 

« 

137 

3h.  85' 

— 

7 

5 

5 

6 

138 

^^■■^ 

.... 

8 

6 

6 

6 

139 

— 

8,5 

6 

5,5 

5 

140 

— 

8,5 

8 

6 

6 

410 


A 


Th.  W.  CAgeKnann, 


\ 

- 

Nrnnmor 

Zeit  der 

Zeit  iA  SMttnden  für  den 

der 
Beobachtaag. 

BeolMtehtang. 

BaU. 

ersten 

vweiten 

drittoB     1     vi6rtra 

Millimeter. 

Millimeter. 

MiUimeter.|MiUim«t«r. 

m 

._ 

9 

7,5 

6 

5,5 

142 

— 

— 

8 

6 

5 

6 

143 

— 

8 

6 

6 

6,5 

144 

3h.  28' 

Schliessung 

5 

2 

2 

2 

145 



•       __ 

3,5 

3,5 

3,5 

3 

146 



— 

5 

5 

4 

4,5 

147 

_ 

^- 

6 

5 

5 

5 

148 



^^^^         • 

6,5 

5 

5,5 

6 

149 

8 

6 

5 

5,S 

150 

— 

8 

7 

6 

5,5 

151 

3h.  32' 

— 

9 

7 

6 

# 

5 

Der  vorstehende  Versuch  bedarf  nur  weniger  Worte  zur  Erläute- 
rung. Deutlich  sieht  man ,  dass  nach  jeder  Schliessung  und  Oeffnung 
eine  auffallende  Beschleunigung  der  Bewegung  eintritt.  Der  Verlauf 
dieser  Beschleunigung  stimmt  ganz  überein  mit  dem  Verlauf  der  Erre- 
gung durch  einen  starken  Inductionsschlag :  erst  rasches  Steigen,  dann 
langsames  Sinken  der  Energie. 

Eine  Vergleichung  der  für  die  Schliessungserregung  gefundenen  mit 
den  für  die  Oeffnung  ermittelten  Zahlen  lehrt,  dass  die  Schliessung 
ein  stärkerer  Reiz  als  die  Oeffnung  ist.    Sowohl  das  Maximum 
der  Schnelligkeit,  welches  im  Verlauf  der  Erregung  erreicht  wird,  als 
die  Dauer  der  Erregung  ist  grosser  nach  der  Schliessungs-  als  nach  der 
Oeflhungsreizung.     Das  Maximum  der  mittleren  Geschwindigkeit  des 
Signals  betragt  im  vorstehenden  Versuch,  nach  der  Schliessung  min- 
destens 0,5  Mm. ,  in  einem  Fall  sogar  1  Mm.  in  der  Secunde,  nach  der 
Oeffnung  höchstens  0,33  Mm.    Nach  der  Schliessung  dauert  es  wenig- 
stens anderthalb  bis  zwei  Minuten ,  ehe  die  anfängliche  Schnelligkeit 
ungefUhr  wieder  erreicht  ist :  nach  der  Oefluung  höchstens  eine  Minute, 
in  der  Regel  etwa  eine  halbe  Minute.    Nachdem  die  Schliessungserre« 
gung  vorbei  ist,  bleibt  die  Schnelligkeit  des  Signals,  so  lange  der  Strom 
durch  die  Membran  fliesst,  ziemlich  constant,  und  zwar  ungefähr  eben 
so  gross  als  «ie  vor  der  Schliessung  war.    Doch  scheint  es  in  einigen 
Fällen  als  ob  auch  noch  eine  schwache  Erregung  durch  den  Strom  von 
beständiger  Dichte  stattfände.    Vergleicht  man  z.  B.   die  Zahlen  der 
Beobachtungen  45-~<9  und  50—54  mit  denen  der  Beobachtungen  36— 
40,  oder  die  von  50—54  und  73—78  mit  denen  von  60—64,  so  zeigt 


Uebeff  &  FUMieiiMwcgu||gr  4 1 1 

sieh  eiD  kleiner  Unlersoliied  xa  G^n^lelilbr  Beobachtungen,  während 
welcher  der  Strom  durch  das  Prüparat  iloss.  Nicht  bemerkbar  ist  die- 
ses Yerbähniss  in  den  Beobachtungen  86  —  90  und  190  —  4  St,  wie 
ein  Vergleich  mit  den  B^obaehtungen  73  --  78  und  105  —  409  Idirt. 

Der  Verlauf  und  gelbst  die  Gri^sse  der  einzelnen  Schliessungserre- 
gungen ist  im  yorliegenden  Versuch  in  den  meisten  Fällen  gleich.  Dodi 
ist  die  erste  Scbfiessungserregung  (Beobachtung  6  u.  f.)  etwas  wenir- 
ger  slaA  und  von  kürzerer  Dauer  als  die  folgenden  (Beobachtung  44 
u.  f.  und  65  u.  f.).  Die  grösste  Schnelligkeit  wird  nach  der  vierten 
Schliessung  erreicht.  Aber  selbst  naoh  der  letzten  Schliessung,  wo 
die  Bewegung  im  Ganzen  schon  langsamer  geworden  ist,  ist  die  Be^ 
schleunigung  noch  etwas  grösser  als  nach  der  ersten  Schliessung.  Auch 
die  Zahlen  fttr  die  Oeffhungserregung  sind  in  den  einzelnen  Versuchen, 
mit  Ausnahme  des  letzten,  ungefähr  dieselben.  Nach  dem  Ablaufe  der 
Oeffhungserregung  «inkt  die  Schnelligkeit  in  einigen  Fällen  tiefer  als 
sie  vorher  war  und  hebt  sich  dann  wieder  auf  etwa  die  anfängliche 
Höhe.  —    ■ 

Die  Erregung  ist  auf  allen  vier  Millimetern  der  Bahn  nach  Schlies- 
sung wie  nach  Oeffnung  nahezu  gleich  gross.  Dass  die  Zeiten  fttr  den 
letzten  und  vorletzten  Millimeter  stets  etwas  kleiner  sind  als  die  fttr  die 
beiden  ersten,  beweist  nicht,  dass  auf  diesen  Strecken  die  Energie  der 
Plimmerhaare  grösser  war,  sondern  -kann  auch  daraus  erklärt  werden, 
dass  das  Signal  mit  sehr  wenig  Widerstand  sich  fortbewegte.  Wenn 
die  Thätigkeit  der  Cilien  auf  allen  Puncten  der  Bahn  gleich  energisch 
war,  musste  sich  das  Signal  dann  doch  mit  beschleunigter  Geschwin- 
digkeit vorwärts  bewegen.  Man  kann  in  allen  ähnlichen  Fällen  durch 
Heben  oder  Senken  des  Signals  den  Widerstand ,  der  namentlich  auf 
der  Beibung  des  Signals  an  der  Oberfläche  der  Zellen  beruht,  so  regu- 
liren,  dass  die  Bewegung  eine  beschleunigte  oder  eine  mehr  constante 
ist.  In  andern  Fällen  ist  aber  wirklich  die  Energie  der  Cilien  auf  ver- 
schiedenen Strecken  der  Bahn  verschieden  gross.  Um  diese  Unter- 
schiede zu  finden,  muss  man  aber  sorgen,  dass  das  Signal  am  Anfang 
jeder  Strecke  die  gleiche  Geschwindigkeit  z.  B.  null  habe. 

Die  Erregung  ist  laut  Versuch  III  in  der  Nähe  der  Elektrode  nicht 
anders,  als  in  einiger  Entfernung  davon,  und  diess  war  immer  der 
Fall,  wenn  die  Elektroden  in  der  ganzen  Breite  der  Membran  aufge- 
setzt waren.  Da  der  Querschnitt  der  intrapolaren  Strecke  auf  allen 
Stellen  ungeftihr  derselbe  war,  musste  dann  auch  die  Dichtigkeit  des 
Stromes  auf  allen  zwischen  den  Elektroden  gelegenen  Puncten  unge- 
fähr gleich  sein.  Anders  ist  es,  wenn  die  Elektroden  die  Membran 
spitz  bertthrten.    Hier  ist  dann  jedesmal  in  der  Nähe  der  Elektroden 


412 


\  Tb.  W.  EftgelnMiin, 


die  Erregung  am  grössten  un^  bei  sdiwachen  SlrOmen  findel  sie  dann 
dort  allein  statt. 

Auch  die  Richtung  des  constanten  Stromes  scheint  nach 
Versuch  ÜIohneEinfluss  auf  die  Grösse  on'd  den  Terlauf  der  Erre» 
gung  zu  sein.  In  den  ersten  Versuchen  floss  der  Strom  gleichsinnig, 
d.  h.  in  derselben  Richtung ,  in  welcher  sich  das  Signal  bewegte ;  in 
den  Beobachtungen  Nr*  144  u.  flg.  floss  er  ungleichsinnig.  Die  Erre- 
gung war  im  letzteren  Falle  ebensogross  und  von  demselben  Verlaufe 
wie  in  den  ersteren. 

Zum  Beweis,  dass  die  Stromesrichtung  ohne  merklichen  Einfluss 
ist,  diene  nodi  der  folgende  Versuch. 

Tersich  IT.  Racbenschteimhaut ,  in  Kochsalz  von  0,5  %  ausgespannt. 
Die  Bahn  ist  t  Mm.  lang  und  liegt  dicht  an  der  miteren  Elektrode,  bei  gleich- 
sinnigem Strome  also  an  der  Kathode,  bei  ungleichslttiigem  an  der  Anode. 
—  Constanter  Strom  von  8  hintereinander  verbundenen  DANiELL*schen  Ele- 
menten. —  Die  Schleimhaut  hatte  vor  Beginn  des  Versuches  zwei  Stunden 
lang  gelegen.  Die  Schnelligkeit  des  Signals  war  in  dieser  Zeit  wegen  reich- 
licher Schleimproduction  ziemlich  unregelmässig  gewesen,  hatte  im  Ganzen 
aber  ungefähr  von  0,1  Mm.  auf  0,05  Mm.  in  der  Secunde  abgenommen.  — 


Tabelle  IV. 


».  tö 

d> 

^    ^ 

li 

.• 

■Sil 

«  ^ 

il 

a  o 

II 

Beii. 

•-^  S   "   B 
S  S  h  ;s 

JA. 

^1 

II 

Beiz. 

:S  g  S  g 

< 

lh.50' 

^.^ 

«7 

48 

.... 

30 

2 

— 

— 

87 

49 

— 

— 

27 

3 

— ^ 

— . 

34 

20 

—- . 

— 

23 

4 

— 

•i.— 

32 

24 



— 

25 

5 

— 

30 

22 

2^h.  8' 

Oeflhung 

48 

6 

4  h.  58' 

. — 

32 

23 



47 

7 

— . 

— 

36 

24 

— 

— 

24 

8 

-— 

— 

34 

25 

-^ 

— 

49 

9 

2  h. 

Scflli  essung 

23 

26 



— 

49 

gleichsinnig 

27 

— 

20 

10 

— 

32 

28 

— 

49 

4t 

— 

— 

33 

29 



20 

42 

— * 

— 

30 

30 



■ 

49 

n 

-^ 

— 

24 

34  i 

-T- 

^— 

24 

44 

— 

— 

22 

32 

— 

— 

,  22 

45 

— > 

..^ 

21 

33 

, 

24 

46 

—— 

21 

34 

22 

47 

« 

_— — 

23 

1 

35 

23 

.^i 


Geber  die  FUwMrhetNgaijf, 


4U 


h   w 

M 

• 

h   tc. 

A      ■ 

1 

«1 

^1 

II 

BeU. 

3|S| 

S  g  "  B 

«leg 

•S  g^ 

«  M 

"1 

Bei«. 

36 

-^ 

26 

79 

_ 

^.^ 

25 

37 



— 

26 

80 

— 

— 

25- 

38 



— _ 

28 

84 

— 

— 

23 

39 

— 

-*^ 

30 

82 

— — 

-^ 

31 

-w 

— 

— 

28 

83 

— 

* 

25 

41 

— 

— 

28 

84 

— 

25 

48 



— 

28 

85 

— 

— 

25 

43 

— 

Schliessung 
gleichsinnig 

15 

86 

—"" 

Schliessung 
gleichsinnig 

14 

44 

—— 

— 

17 

87 

— 

22 

45 



— 

25 

88 

— 

— 

28 

46 

— 

— 

30 

89 

— 

— 

26 

47 

• 

32 

90 

— 

27 

48 

—. 

30 

91 

— 

— 

25 

49 

.— 

— 

31 

92 

— 

— 

25 

50 



— 

28 

93 

2  h.  45' 

— 

25 

51 



- — 

29 

94 

— 

— 

28 

52 



OefTnung 

26 

95 

— . 

30 

53 

— 

— 

22 

96 

— 

—  » 

29 

54 



. — 

21 

97 

2  h.  48' 

Oeffhung 

22 

55 

-— 

— 

20 

98 



19 

56 

• 

• 

18 

99 

— 

«2 

57 

i— * 

^ 

19 

100 

— 

— 

49 

58 

«.. 

19 

101 

— 

— 

20 

59 

«— 

18 

102 

2h.  50' 

— 

22 

60 



— . 

17 

103 

— 

— 

21 

61 

— 

— . 

18 

104 

— 

— 

22 

62 



— - 

19 

'105 

— 

23 

63 

. 

^-. 

20 

106 

^j. 

_ 

21 

64 



-p- 

20 

'l07 

2  h.  52' 

^- 

83 

65 



^— ^ 

20 

1108 

— 

21 

66 

— 

_ 

20 

109 

— 

^^^ 

21 

67 

•    ^^^^* 

— 

20 

110 

— 

— 

23 

68 

_ 

20 

111 

— 

23 

69 

-- 

— 

21 

112 

2  h.  54' 

•  — 

25 

70 

.„^ 

— 

20 

113 

— 

•-+  • 

25 

71 

2  h,  32' 

— 

20 

114 

— 

25 

72 

* 

— 

20 

115 

2h.  55' 

Schliessung 

16 

73 

, 

— - 

21 

ungleich- 

74 

_-. 

— 

22 

p 

sinnig 

75 

. . 

— 

22 

116 

— 

25 

76 

^^ 

. — 

23 

117 

■^ 

.^ 

28 

77 

.— 

— 

23 

118 

— 

— 

30 

>  0 

78 

-^ 

1 

24 

119 

— 

28 

414 


Tht  W.  EngthDWn, 


^1 

B«ol«e1itttiig. 

Beix. 

"leg 

«1 

II 

II 

Reis. 

420 

^ 

,^_ 

27 

135 

^-^ 

25 

181 

..... 

—^ 

27 

136 

— 

— 

38 

122 

_- 

• 

88 

137 

38 

123 

2  h.  59' 

Oeffnung 

24 

138 

— 

— 

35 

124 

.— 

23 

139 

3  h.  6' 

Oeffnung 

80 

125 

— 

23 

140 



— 

35 

126 

'— 

23 

141 



— 

38 

127 

■ 

_ 

25 

142 



— 

36 

128 

... 

— 

24 

143 

3h.40' 

Schliessung 

24 

129 

— 

— 

26 

gleichsinnig 

130 

f 

— 

29 

144 

— 

38 

131 

m^ 

—^ 

30 

145 

•^ 

37 

132 

— i- 

30 

146 

*      — " 

40 

133 

-~ 

30 

134 

3  h.  3' 

Scbliessnng 
ungleich- 
sinnig 

20 

• 

Trotz  der  Unregelmässigkeiten,  welche  die  Zahlen  in  diesem  Ver* 
suche  zeigen  und  deren  Grund  in  der  anhaltenden  Schleimproduction 
der  Membran  gesucht  werden  musste,  offenbart  sich  auch  hier  wieder, 
dass  Schliessung  des  Stromes  starker,  Oeffnung  schwächer  erregt.  Die 
Grosse  der  Erregung  —  durch  den  Schnelligkeitszuwachs  gemessen, 
welchen  die  Bewegung  des  Signals  in  der  ersten  Beobachtung  nach 
der  Reizung  erhält  —  ist  fast  dieselbe  bei  gleichsinnig  gerichtetem  wie 
bei  ungleichsinnigem  Strome.  Der  Unterschied ,  der  zu  Gunsten  des 
gleichsinnigen  Stromes  zu  bestehen  scheint,  ist  so  gering,  dass  er  in- 
nerhalb der  Grenzen  der  Beobachtungsfehler  und  der  normalen  Schwan- 
kungen liegt.  —  Die  Grösse  der  Erregung  nimmt  bei  den  späteren  Rei- 
zungen mehr  und  mehr  ab,  während  zugleich  auch  die  Energie  der 
Bewegung  ausser  der  Reizung  sinkt.  —  Während  des  Geschlossenseins 
des  Stromes  findet  in  Versuch  IV  offenbar  keine  Erregung  statt.  Die 
Zahlen  sprechen  eher  dafür,  dass  hier  die  Energie  der  Cilien  durch  den 
Strom  von  beständiger  Dichte  herabgesetzt  ward.  Doch  ist  auch  diess 
Verhältniss  nicht  constant  und  erklärt  sich  in  der  eben  angeführten 
Weise. 

Es  wurden  nun  auch  Versuche  angestellt ,  in  welchen  der  con- 
stante  Strom  rechtwinklig  und  unter  verschiedenen  schiefen  Winkeln 
zur  Richtung  der  Flimmerströmung  durch  die  Ebene  der  Membran 


lieber  die  Flinnerb6W0goiig.  ^  415 

wurde.  In  «Heo  Fttlleo  leigle  fuitib  Schliessungs-  und  Oeff- 
nungserregung ;  ein  deutlicher  Einfluss  der  Stromrichtung  auf  Grösse 
und  Verlauf  der  Erregung  war  aber  nicht  nachzuweisen.  Allein  die 
Grösse  und  Schnelligkeit  der  Stromschwankung  und  der  Zustand  der 
Flimmersellen  bestimmte  den  Erfolg. 


Bedeutungsvoll  schien  die  Frage  nach  der  Abhängigkeit  der 
Wirkung  des  constanten  Stromes  von  der  Stromstärke. 
Hierüber  wurde  an  Membranen,  die  in  Serum  oder  Kochsalz  von  0,5  — 
1  %  l^S^Q)  Folgendes  ermittelt.  Bei  jeder  Stromstärke  findet  deutliche 
Erregung  nur  durch  die  Schliessung  und  durch  die  Oeffnung  des  Stro- 
mes statt.  Wahrend  des  Durchfliessens  erregt  der  Strom  nicht,  falls 
er  nicht  äusserst  stark  ist.  In  diesem  Falle  beruht  Beschleunigung  der 
Bewegung  auf  Erwärmung  der  Membran  durch  den  Strom.  —  Die 
Grösse  der  Erregung  nimmt  mit  der  Stromstärke  bis  zu  einem  Maxi- 
mum zu,  dessen  Höhe  von  den  gesammten  Bedingungen  abhängt,  un- 
ter welchen  sich  die  Flimmerzellen  befinden.  Das  Stadium  der  latenten 
Reizung  und  das  der  steigenden  Energie  ist  um  so  kurzer,  das  der  sin- 
kenden Energie  um  so  länger,  je  stärker  der  Strom  war.  In  allen 
Fällen  wirkt  die  Schliessung  stärker  als  die  Oeffnung.  Bei  keiner 
Stromstärke  ist  ein  Einfluss  der  Stromesrichtung  deutlich.  Die  Erre- 
gung findet  stets  an  allen  Stellen  der  intrapolaren  Strecke  statt. 

Um  den  Einfluss  der  Stromstärke  zu  untersuchen,  ist  es,  wie 
schon  bei  Reizung  mit  einzelnen  Inductionssdilägen ,  nöthig,  solche 
Membranen  auszuwählen,  deren  Sohleimproduction  gering  ist.  Nur  bei 
diesen  bleibt  die  Schnelligkeit  des  Signals  längere  Zeit  constant  genug, 
um  eine  Entscheidung  darüber  zu  erlauben,  ob  kleine  Aenderungen 
der  Schnelligkeit  wirklich  als  Folgen  schwacher  Reizung  aufgetreten 
seien.  —  Femer  darf  die  Energie  der  Bewegung  beim  Beginn  des  Ver- 
suchs nicht  mehr  gross  sein.  Je  näher  sich  die  noch  nicht  gereizten 
Zellen  schon  am  Maximum  ihrer  Thätigkeit  befinden,  um  so  geringer 
pflegt  die  Beschleunigung  durch  eine  bestimmte  Stromschwankung 
auszufallen.  Bei  einer  Geschwindigkeit  unseres  Signals  von  0,5  bis 
4  Mm.  in  der  Secunde  wurde  weder  durch  schwache  noch  durch  starke 
Ströme  Beschleunigung  bewirkt.  Die  Energie  darf  aber  auch  nicht  zu 
weit  gesunken  sein,  weil  in  diesem  Falle  schwache  Reizung  keine  Be- 
schleunigung mehr  hervorbringt.  Auch  ist  dann  meist  die  Geschwin- 
digkeit des  Signals  ziemlich  unregelmässig.  Am  günstigsten  scheinen 
Membranen  zu  sein,  auf  welchen  die  Geschwindigkeit^  des  Signals  bei 
möglichster  Verringerung  der  Widerstände  ungefähr  auf  0,1  bis  0,15 


416 


Tb.  W.  Eftgelmann, 


Mm.  in  der15eöüode  abgetiemmen  halle.  J^  langsamer  dre  Abnähme 
der  Bewegung  vor  sich  gegangen  war,  um  so  geeigneter  pflegte  das 
Präparat  zu  sein.  Darum  sind  Membranen,  die  in  Serum  oder  Koch- 
salz von  0,57o  liegen,  brauchbarer  als  solche  in  Kochsalz  von  1% 
und  darüber.  Ich  lasse  zur  Erläuterung  des  Einflusses  der  Strom- 
stärke einen  Versuch  folgen. 


,  Vertadi  V.  Kachdnschldmhaut  in  Kochsalz  von  0,5  %  seit  einer  Stunde 
ausgespannt.  Die  vom,  Signal  durchlaufene  Bahn  war  3  Mm.  lang  und  dicht 
an  der  unteren  Elektrode  gelegen.  Die  Elektroden  sind  in  einem  Abstände 
von  I  Cent,  oben  und  unten  breit  auf  die  Schleimhaut  aufgesetzt.  Die  Rei- 
zungsdrähte  fahrten  Von  den  Elektroden  rückwärts  zu  einem  Schlüssel,  einer 
Wippe  mit  eingelegtem  Kreuze  und  von  da  zur  Kette.  Diese  bestand  aus 
einem  oder  mehreren  hintereinander  verbundenen  DANiELL'schen  Ele- 
menten. 


Tabelle  V. 


i 

3 
4 

5 

6 

7 

8 

9 

40 

ii 

12 

13 

U 
45 
46 
M 
18 
19 
2« 
24 
32 


11h.  82' 


1 1  h.  24' 
11h.  25' 


1 1  h.  27' 


1 1  h.  29' 


11h,3r 

1 1  h.  32' 
1 1  h.  35' 


Zeit  in  Secnnden  fftr  flen 


ersten  MilU- 
meter. 


zweiten 
mUiaMter. 


Schliessung  (an- 
gleichsinnig) 


Oeffntmg 


Schliessung 
(gleichsinnig) 


Oefibung 


6 
6 
6 
6 
6 

6 
6 
6 
6 
6 
6 
6 
6 

6 
6 
6 
6 
6 
6 
6 
6 
6 


5 
5 
5 
5 
5 

5 
5 
5 
5 
5 
5 
5 
5 

5 
5 
5 
5 
5 
5 
6 
6 
6 


dritten 
MUliMien 


5 
5 

5 
5 
5 

5 
5 
5 
ö 
5 
5 
5 
5 

5 
5 
5 
5 
5 
5 
6 
6 
6 


Ueb«r  die  FUMMtbeweftoiK^''' 


417 


^1 

§1 

II 

^9 

^1 

Zahl  der     1 
Elemente.  1 

AeU. 

• 

Z.iti 

«nten 
I(imD«ter. 

aBMudaani 

«writni 
MUliiMtn. 

rd.B 

diitttB 
MiUiiMter. 

S3 

4  4  h.  37' 

2 

Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

5 

5 

24 

— 

— 

— 

5 

4 

4 

25 

— > 

— 

—     • 

5 

4,5 

4 

26 

4  4  h.  39' 

— 

5 

5 

5 

27 

— 

— 

5,5 

5 

5 

28 

— ~ 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

29 

— . 

—  * 

— 

6 

5 

5 

30 



6 

5,5 

5,5 

34 

4  4  h,  42' 

— 

Oeffnung 

6 

5,5 

5,5 

32 



— 

— 

6 

6 

6 

33 



— 

— 

6 

6 

6 

34 

— 

— 

— 

6 

6 

6 

35 

— 

— 

— 

6 

6 

6 

36 

— - 

2 

Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

5 

4,5 

37 

4  4  h.  47' 



— 

5 

4,5 

4 

38 

— 

>— — 

— 

5 

4,5 

4,5 

39 

.— 



— 

5,5 

5 

5 

40 

— 

-— 

6 

5,5 

5 

41 





6 

6 

6 

42 



— 

— 

6 

6 

6 

43 

4  4  h.  50' 



Oeffnung ' 

6 

5,5 

5,5 

44 

* 



— 

6 

6 

6 

»5 



6 

6 

6 

46 

^ 

— - 

— 

6 

6 

6 

47 

4  4  h.  52' 

2 

Schliessung 
(ungleichsinnig) 

6 

5,5 

5,5 

48 

— 

— 

— 

5,5 

5 

5 

49 

4  4  h.  53' 

— 

— 

6 

5 

5 

50 

~^ 

— 

— 

5 

5 

6 

54 

. — 

— 

6 

6 

6 

52 

-^ 

... 

6 

6 

6 

53 

4  4  h.  65' 

— 

Oeflhung 

6 

6 

5,5 

54 

~ 

— 

— 

5,5 

5,5 

» 

55 

—^ 

— 

^ 

5,5 

5 

5 

56 

— 

— , 

^■^^ 

5,5 

5,5 

5 

57 

— - 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

58 

— 

— 

6 

6 

6 

59 

12  h. 

2 

Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

5 

4 

60 

— 

— 

— 

5 

4,5 

4 

64 

5 

4 

4 

'62 

— 

— 

5 

4 

4 

M 

.  IV.  3. 

17 

418 


Tk>  W.  fingtiBkna, 


•   1 

si 

Zeit: 

In  Seeanden  £&r  den 

II 

.15   S 

ilemen 

Bei«. 

ersten 

zweiten 

dritten 

S-g 

Millimeter. 

MiUimeter. 

MiUimeter. 

Sg 

& 

>>4 

63 

. 

„— 

8,5 

•      4,8 

4,5 

64 

— 



— 

5,5 

5 

5 

65 

— 

6 

5 

5 

66 

— 



• 

6 

5 

5 

67. 

— 

— 

6 

6 

6 

68 

12h.  5' 

Oeffnung 

6 

6 

6 

69 



— 

7 

6 

6 

70 

12  h.  6' 

7 

6,5 

6,5 

71 



— 

7 

6,5 

6,5 

72 

1ih.15' 

— 

7 

7 

7 

73 

— 

— 

7 

7 

7 

74 

I2h.  16' 

^2 

Schliessung 

7 

6 

5 

(ungleichsinnig) 

75 

— 

— 

5,5 

4,5 

4,5 

76 

— 

— 

— 

5 

4,5 

4 

77 

>— 

— 

—  • 

6 

5 

5 

7a 

— 

— 

— 

6 

5,5 

5 

79 

— 

5,5 

5,5 

5,5 

80 

42h.49' 

— 

5,5 

5,5 

5 

84 



— 

— 

6 

6 

5 

83 



— 

— 

5,5 

5,5 

5 

83 



— 

— 

5,5 

5,5 

5,5 

84 

12h.  21' 

Oeffnung 

5,5 

5 

4,5 

85 



— 

5 

5 

4 

86 

— 

5 

5 

5 

87 

— 

«• 

5,5 

5,5 

5 

88 



— 

— 

6,5 

5 

5 

89 

— 

6 

5,5 

5 

90 

12h.  24' 

— 

6 

6 

6 

91 

•^ 

— 

— 

6 

6 

6 

92 



— - 

7 

6 

6 

93 

— 

— 

7 

6 

6 

94 

42h.  26'. 

— 

— 

6,5 

6 

6 

95 



2 

Schliessung 

6 

5 

4i8 

s 

(uDgteichsinnig) 

96 

— 

6 

5 

5 

97 



— 

— 

6 

6 

6 

98 



— 

-— 

6 

6 

6 

99 

12h.  29' 

— 

Oeffnung 

6 

6 

5,8 

400 

— 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

401 

— 

— 

6 

6 

6 

402 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

403 

42h.  34' 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

404 

42h.  34' 

— 

7 

6 

6 

üeber  4^.|rUiiuieikewfenng. 


419 


^  ^ 

*   " 

- 

II 

'S  i 

B«iz. 

Zeit 
ersten 

Ut  Seonodenn 
■weiten 

x<l*n 
dritten 

*l 

Ä^ 

- 

Millimeter. 

miUmrtw. 

Hillimatw. 

105 

_ 

—m- 

.^ 

7 

6 

6 

106 

42  h.  35' 

4 

.  Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

4 

3,5 

107 

— 

— 

— 

4,5 

4,5 

4 

108 

— 

— 

— 

5 

4,5 

4,5 

109 

— 

— 

5 

5 

5 

110 

— 

— 

— 

5 

5 

6 

111 

— 

— 

— 

6 

5,5 

5 

112 

— 

— 

6 

6 

6 

113 

12h.  39' 

— 

Oeffnung 

6 

5,5 

5,5 

114 

— 

— 

-,- 

6 

6 

6 

115 

— 

— 

— 

7 

7 

7 

116 

— 

— 

"— 

8 

8 

8 

117 

— 

— 

-^ 

8 

8 

8 

j18 

12h.  4r 

4 

Schliessung 
(ungleichsinnig) 

7 

5 

5 

119 

.  — 

— 

— 

5 

4,5 

4,5 

120 

— 

— 

^— 

4,5 

4 

W 

4 

121 

— 

— 

— — 

5 

5 

5 

422 

— 

— 

^— 

6 

6 

6 

123 

12h.  44' 

— 

Oefihung 

6 

5,5 

5,5 

124 

— 

— 

5,5 

5,5 

5,5 

125 

— 

— 

— 

6 

5,5 

5,5 

426 

— 

— 

— 

6 

6 

9 

6 

127 

42h.  46' 

— 

— 

6 

6 

6 

428 

1h.  50' 

— 

6 

6 

6 

129 

— 

— 

^— 

6 

6 

6 

430 

t 

4 

Schliessung 
(ungleichsinnig) 

5 

4 

4 

434 



— 

— 

4 

4 

3,5 

432 



— 

— 

5 

5 

5 

133 



— 

— 

5,5 

5,5 

5,5 

434 

— 

— 

-— 

6 

6 

9 

6 

435 



— 

— 

6 

6 

6 

436 



— 

Oeflhung 

6 

5,5 

5 

437 



— 

— 

8,5 

5,5 

6 

438 



— 

— 

6 

7 

7 

139 



^— 

— 

6,5 

6,5 

6,5 

140 



— . 

-~~ 

7 

7 

9 

7 

141 

1  h.  57' 

4 

Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

5 

5 

442 



— 

— 

5 

4,5 

5 

4  43 



— . 

— r 

5 

5 

5 

444 

•^ 

— 

•— 

6 

5,5 

«7» 

5,5 

420 


n.w. 


ir 

sl 

si 

1 
' 

iMli 

„n„.,„.r,  - 

82 

«ss 

^  s 

—  g 

S  8 

ll 

A 

1 

"™— • 

445 

^_ 

_ 



6 

6 

6 

It6 

— 

i 
„«    1 

1 

_ 

'       6,5 

6,5 

6,5 

U7 

— 

1 





7 

7         1 

7,5 

148 

— 

1 

7 

7      ; 

7 

149 

2  h.  r 

Oefluiing 

7 

6,5 

7 

150 

— 



— 

7 

7 

7 

151 

.— 



— 

8 

8 

7 

152 

— 

— 

^ 

8 

i 

8 

•153 

— 



— 

6,5 

6 

6,5 

154 

— 



— 

6 

6 

7 

155 

— 



— 

6,5 

6,5 

6,5 

156 

2  h.  4' 



— 

6 

6 

6 

157 



-— 

— 

6 

6 

6 

158 

2  h.  8' 



6 

6 

6 

159 

— 

8 

SchliessoDg 
(gleichsinnig] 

5 

4,5 

4 

160 





— 

4,5 

4 

3,5 

161 

— 



— 

5 

5 

5 

162 





— 

5,5 

5,5 

-  6 

163 

— 



— 

6 

7 

6 

164 

— 



— 

7 

8 

8 

165 

— 



— 

9 

10 

10 

166 

— 

—— 

— 

10 

11 

12 

167 

■     — 

<i— 

• 

10 

13 

14 

168 

— 



— 

10 

11 

12 

169 



'~— 

— 

9 

9 

10 

170 

—— 

— 

8 

8 

10 

171 

— 



— 

8 

9 

10 

172 

2  b.  16' 



Oeflfhong 

8 

9 

10 

173 

— . 

— 

— 

10 

13 

12 

174 

— 

— 

— 

10 

13 

13 

•175 

_— 



— 

5 

6 

6 

176 



— 

— 

5 

6 

7 

177 

— 

— 

— 

6 

7 

8 

178 

— - 

— 

— 

6 

7 

8 

179 

2  h.  21' 

8 

Schliessang 
(gleichsinnig) 

6 

6 

6 

180 

— 

— 

-^ 

5 

5 

5 

181 

— 

— 

— 

5 

5 

5 

182 



— 

— 

6 

6 

6 

183 

^— 

— 

— 

6 

6 

7 

184 

— 

._ 

— 

6 

7 

8 

185 

— 

— - 

— 

7 

8 

9 

186 



— 

— 

7 

8 

9 

Geber  4ie  FüMteitewegung. 


421 


&  tS> 

•!l 

l| 

11 

Zeit] 

in  Smunden  Ar  d«n 

gl 

Zahl 

B«U. 

eretan     t 

iw*it*n 

dritten 

MUUmeter. 

JUlUrnttw. 

XiUiiMtw. 

»a 

& 

487 

— . 

„.— 

•_ 

7 

8,5 

9 

488 

— 

— 

— 

7 

8,5 

9 

189 

8  h.  88' 

— 

Oeffiaung 

7 

8 

8,5 

490 



— 

— 

8 

40 

48 

494 

— 

— 

— 

42 

43 

46 

•492 

'— 

— 

■— 

9 

8    . 

7 

493 

2  h.  31' 

— 

— 

7 

7 

8 

494 

2  h.  43' 

— 

— 

7  " 

7 

8 

495 

— 

— 

— 

7 

7 

8,5 

496 

2  h.  44' 

8 

Schliessung 
(ungleichsinnig) 

6 

6 

7 

497 



— 

— 

6 

6 

7 

498 



— 

— 

6 

6 

7 

499 



— 

—  ■ 

6,5 

6,5 

8 

200 



— 

— 

7 

7 

8 

804 

.— 

— 

_ 

7 

7 

8 

802 



— 

.— 

7       • 

7 

8 

803 

8  h.  48' 

— 

Oeffnung 

6,5 

6 

7 

804 



— 

6 

6 

6 

805 

— 

— 

.— 

6 

6 

6 

806 

— 

— 

. — 

6,5 

7 

8 

807 

— 

— 

.— 

7 

8 

9 

808 

.^— 

— 

— 

7 

8 

9 

809 

— 

— 

_^       • 

7 

8 

9 

240 

8  h.  53' 

8 

Schliessung 
(gleiclisinnig) 

6 

6 

7 

844 

^— 

— 

^— 

6 

6 

7 

842 

—~ 

— 

— 

6,6 

7 

8 

843 

— 

— 

— 

7 

8 

9 

84  4 

._ 

.— 

— 

8 

40 

40 

845 

— 

— 

— 

8,5 

40 

.  40 

846 

_• 

— 

•.- 

8,5 

9,5 

40 

247 

2  h.  58' 

— 

Oeflhung 

8 

9 

9 

848 

— 

— 

— 

10 

40 

40 

849 

~- 

— 

«        

9 

40 

9 

880 

~^ 

.i... 

— ~ 

8,5 

9 

9 

884 

— - 

— 

•^ 

8 

8 

8 

888 

•— 

—. 

— . 

8 

8 

8 

883 

— 

— . 

— 

8 

8 

8 

884 

_ 

i— 

— 

8 

8 

8 

885 

3  h.  3' 

2 

Schliessung 
(gleichsinnig) 

6 

7 

7 

886 

— 

— 

..-. 

6 

7 

7 

827 

— 

— 

— 

7 

8 

8 

422 


Th.  W.  Engelffluin, 


b  tb 

• 

■        IIB. 

2  'S 
1  8 

^  i 

Reis. 

Zeit  in  Beonnden  für  den 
ersten             zweitei)      |      dritten 

II 

S 

Millimeter. 

Millimeter. 

Millimeter. 

288 

._ 

^_ 

7,5 

8 

8 

229 

3  h.  5' 



Oeffnung 

7 

7 

7 

230 



— 

— 

7 

7 

8 

234 

i— 

•— 

— 

7 

8 

8 

232 

.i-^ 

— 

— 

8 

8 

8 

233 





— 

8 

8 

8 

234 

3  h.  8' 

8 

Schliessung 
(gleichsinnig] 

6 

7    . 

7 

235 

-— 

— 

— 

6 

6 

6 

236 

^— 

— 

— 

7 

7 

7 

237 



— 

-^ 

8 

8 

8 

238 



— 

- — 

8 

9 

10 

239 

3  h.  iV 

— 

Oeffnung 

8 

8 

10 

240 

— 

— 

— 

8 

8 

9 

241 

-^ 

— 

— 

8 

9 

iO 

242 

—— 

-~ 

9 

9 

10 

243 

— 

« 

s 

— 

9 

9 

9 

Nur  wenige  Worte  Über  die  Tabelle!  Man  sieht  aus  derselben, 
dass  Verlauf  und  Grosse  der  Erregung  bei  verschiedner  Stromstärke, 
bei  Schliessung  und  Oeffnung  verschieden  sind.  Es  f^lt  auf,  dass 
auch  hier  in  einigen  Versuchen,  vor  Allem  nach  Oeffnung  des  ungleich- 
sinnig gerichteten  starken  Stroms  eine  ansehnliche  Verlangsamung  der 
Bewegung  eintritt.  Die  Ursache  hiervon  schien  in  vorübergehend 
stärkerer  Schleimbildung  der  Membran  zu  liegen.  Diess  machte  we- 
nigstens die  starke  Beschleunigung  wahrscheinlich ,  die  sofort  eintrat, 
als  der  Schleim  mit  einem  Pinsel  abgehoben  oder  mit  einer  Nadel  ober- 
halb dupchgeschnitten  wurde.  Die  Beobachtungen,  vor  denen  diess 
geschah,  sind  mit  einem  Sternchen  bezeichnet.  Es  sind  die  Beobach- 
tungen Nr.  153,  175,  192, 

Es  Hess  sich  erwarten,  dass  ebenso  wie  %;hliessung  und  Oeffnung  , 
eines  constanten  Stromes  auch  Verstärkung  und  Schwächung 
desselben  erregend  wirken  würden ,  wenn  die  Stromschwankung  nur 
gross  und  steil  genug  war»  Diese  Erwartung  bestätigte  sich  vollkom- 
men. Wurde  die  Stromdichte  in  der  Membran  plötzlich  durch  Besei- 
tigung einer  Nebenschliessung  bedeutend  vermehrt  oder  durch  Ein- 
schalten einer  Nebenschliessung  plötzlich  vermindert,  so  fand  Erregung 
statt.  Dasselbe  geschah,  als  die  Stromschwankung  nach  der  zuerst  von 
Eckhard  gebrauchten,  Methode,  hervorgebracht  ward  durch  einen  durch 


Ueber  di«  FUuuDeiMwfgiDug./ 


423 


den  Kreis  der  constanten  Kette  geschickten  Inductionsschlag.  In  die- 
sen Kreis  war  die  secundäre  Spirale  eines  du  Bois'schen  Schlitten- 
apparates  aufgenommen.  Durch  Schliessen  oder  Oeffnen  des  primären 
Stromes  konnten  also  im  Kreise  der  constanten  Kette  rasche  Strom- 
schwankungen hervorgebracht  werden ,  deren  Grösse  von  dem  gegen- 
seitigen Abstände  der  beiden  Spiralen  abhing.  Als  Beispiel  fUr  letz- 
teren Fall  möge  hier  ein  Versuch  folgen. 


Versieh  VI.  Rachenschleimhaut  in  Kochsalz  von  0,5%  ausgespannt. 
Länge  der  vom  Signal  durchlaufnen  Bahn  3  Mm.  Constanter  Strom  von 
6  hintereinander  verbundenen  DAMELi/schen  Elementen.  Der  primäre  Strom 
des  Inductionsapparates  wird  von  2  DAKiELL'schcn  Zellen  geliefert  und  mit 
Hilfe  eines  Quecksilbernäpfchens  geschlossen  und  unterbrochen.  Der  Ab- 
stand der  beiden  Spiralen  des  Schlittenapparates  beträgt  0  Mm.  Schliessung 
und  OefTnung  geschehen  stets  in  dem  Augenblick,  wo  das  Signal  vom  An- 
fangspunct  der  Bahn  abgeht. 


Tabelle  VI. 

1 

Zeit  in  Seeonden  f&r  3  Mm. 

Nnmmer  der 
BfobMhtmig. 

Zeit  der 
BeotacUtttiig. 

fieiz. 

bei  geöffneter 
Kette. 

bei  s^c^loB- 
sener  Kette. 

i 

11  b.  10' 

•..» 

30 

^^ 

i 

—. 

— 

30 

— 

3 

11  h.  12' 

^__ 

— 

u 

4 

— 

— 

— 

26 

S 



— 

— 

34 

6 

— 

— 

— 

34 

7 

— 

— - 

^■^-^ 

34 

8 

n  h.  15' 

Schi  iessungsschlag 

— 

33 

9 

— 

Oeffnungsschlag 

— 

?6 

10 

— 

— 

30 

n 

— 

— 

34 

ii 

— — 

— 

— 

32 

13 

— 

Schliessungsschlag 

— 

32 

u 

— 

Oeflhungsschlag 

— 

26 

15 

— 

— 

— 

32 

16 

1 1  h.  20 ' 

— 

— 

36 

17 

— 

S  chliessungsschlag 

— 

36 

48 

Oeffnungsschlag 

— 

30 

19 

..» 

— 

— 

38 

80 

— 

Schliessungsschlag 

— 

36 

31 

— 

Oeffnungsschlag 

— 

32 

ii 



— 

— 

39 

ri 

— 

— 

— 

42 

424 


Th.  W.  Eigttauu, 


Mamo^r  der 
iJeobachtaiig. 

Zeit  der 
Beobaohting. 

Beil/ 

Zait  in  SMudea  ftr  3  Ha. 

bei  geiffnater       kci  geacUo*- 
Kdtt*;              na«r  Kette. 

24 

_ 

._ 

43 

25 

— 

— 

40 



26 

— 

\i  ^"^ 

47 



27 

— 

— 

50 



28 

— 

~^"~   ^ 

54 



29 

— 

— 



40 

30 

— 

— 



46 

3« 

— 

— 



59 

32 
33 
34 

11  b.  40' 

Schliessungsschlag 
Oeffnungsschlag 



64 
47 
58 

35 

-^ 

— 



66 

36 
37 
38 

— 

Schliessungsschlag 
Oeffnungsschlag 

• 

70 
61 
64 

39 

— 

— 

66 

Die  Schwankung,  welche  der  Schliessungsinductionsschlag  im 
Kreise  der  constanten  Kette  hervorbrachte ,  zeigte  sich ,  wie  man  aus 
der  Tabelle  sieht,  wirkungslos.  Der  Oeffnungsschlag  macht  dagegen 
ansehnliche  Beschleunigung.  Somit  ist  es  zum  Zustandekommen  der 
Erregung  nicht  nöthig ,  dass  die  Stromschwankung  von  der  Dichtig- 
keit 0  ausgebe  oder  auf  0  zurücksinke. 

Es  würde  nun  weiter  zu  untersuchen  sein,  wie  Grüsseund  Verlauf 
der  Erregung  durch  eine  bestimmte  Stromschwankung  sich  ändern 
mit  der  Zeit,  während  welcher  der  constante  Strom  durch  die  Zellen 
flpss,  lind  ferner,  nach  welchem  Gesetze  Grösse  und  Verlauf  der  Erre- 
gung durcb  ejne  bestimmte  Stromschwankung  abhängen  von  der  ab- 
soluten Höhe  der  Ordinalen  der  Stromdichten ,  zwischen  welchen  die 
Stromschwankung  vor  sich  geht.  Hierüber  habe  ich  noch  keine  Ver- 
suche angestellt. 

Nach  allem  Vorausgegangenen ,  vor  Allem  auch  nach  dem ,  was 
wir  über  die  Wirkung  langsam  verlaufender  Inductionsströme  mitge- 
theilt  h^ben,  war  es  sehr  wabrßoheinlicb ,  dass  der  constante  Strom, 
wenn  er  nicbt  plötzlich,  sondern  allmählich  auf  seine  volle  Stärke  an- 
wächst, nicht  erregt,  mit  andern  Worten,  dass  beim  Hineinschlei- 
chen in  eine  starke  Kette  keine  Erregung  zu  Stande  kommen 
würde.  Da  ich  nicht  im  Besitz  einer  Vorrichtung  war ,  welche  erlaubt 
hätte,  eine  lineare  Stromschwankung  von  hinreichender  Grösse  und 


lieber  die  FlinMefbewegang.  425 

Langsamkeit .henustellen,  begnttgte  ich  mieh  mit  Versuchen,  in  denen 
die  Stromstärke  rudLweise,  aber  jedesmal  nur  um  eine  massige  Grösse 
gesteigert  wurde.  Es  zeigte  sich,  dass,  wie  hoch  auch  die  Strom- 
starke auf  diese  Weise  wachsen  mochte,  niemals  Erregung  eu  Stande 
kam.    Man  sieht  diess  aus  folgendem  Beispiel. 

Auf  einer  in  Kochsalzlösung  von  0,5%  ausgespannten  Membran 
hatte  sich  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  nach  längerem  Liegen 
bis  auf  etwa  0,1  Mm.  in  der  Secunde  verlangsamt.  Der  Strom  eines 
DANiELL'schen  Elementes  ward  durch  die  Membran  geschlossen:  die 
Bewegung  beschleunigte  sich  nicht.  Nun  wurden  nach  und  nach  im 
Laufe  von  einigen  Minuten  noch  7  Daniells  hintereinander  in  den  Strom- 
kreis eingeschaltet.  Niemals  zeigte  sich  beim  Einschalten  eines  neuen 
Elementes  Yerschnellung  der  Bewegung.  Die  Geschwindigkeit  nahm 
vielmehr  gleichmassig  bis  auf  ungefähr  0,08  Mm.  ab.  Nun  ging  der 
Strom  von  8  Zellen  durch  die  Membran.  Als  er  geöffnet  wurde,  be- 
schleunigte sich  die  Bewegung  des  Signals  sogleich  auf  0,4  4  Mm.,  nahm 
wieder  ab  bis  auf  0,09  Mm.  und  stieg  dann  bei  neuem  plötzlichem 
Schliessen  der  8gliedrigen  Kette  rasch  auf  0, 4  6  Mm.  Das  Präparat  war 
also  bei^  diesem  Versuche  anfangs  ohne  Erregung  in  die  starke  Kette 
eingeschlichen.  —  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  Versuche,  in  denen 
die- Stromstarke  continuirlich ,  nicht  wie  hier  ruckweise  wächst,  da»* 
selbe  Resultat  ergeben  werden. 

Fassen  wir  alle  vorstehenden  Versuche  zusammen,  so  ergiebt  sich 
als  allgemeines  Gesetz  für  die  Erregung  der  Flimmerzellen  durch  den 
elektrischen  Strom  der  Satz :  jede  grössere  positive  oder  ne- 
gative Schwankung  der  Stromdichte  wirkt  erregend, 
wenn  sie  sehr  rasch  verläuft  So  lange  die  Stromdichte  gleich 
bleibt,  findet,  ausser  durch  Wärmeentwickelung,  keine  Erregung  statt. 
Dieser  letztere  Satz  ist  jedoch  durch  unsere  Versuche  nicht  bewiesen, 
sondern  nur  wahrscheinlich  gemacht.  Wären  die  Methoden  zur  Mes- 
sung der  Energie  der  Flimmerbewegung  feiner,  wären  ihre  Fehler- 
quellen leichter  zu  beseitigen,  so  würde  es  vielleicht  möglich  sein,  eine 
schwache  Erregung  auch  durch  den  Strom  von  beständiger  Dichte 
nachzuweisen,  und  dann  wllrde  das  allgemeine  Gesetz  der  elektrischen 
Erregung  fttr  die  Flimmerbewegung  genau  dasselbe  sein,  wie  für  Ner- 
ven und  Muskeln.  —  Es  muss  nochmals  hervorgehoben  werden,  dass 
dieses  Gesetz  nur  für  Flimmersellen  gilt,  deren  Thätigkeit  sich  in  indif- 
ferenten Flüssigkeiten  oder  in  etwas  zu  concentrirtcn  Kochsalzlösungen 
verlangsamt  hat. 


426  Th.  W,  fingeliMtia, 

Nachdem  wir  den  Einfluss  der  eintelnen  Strofusch  wank  fing ,  also 
des  elekiriacben  Reizelements,  betrachtet  haben,  untersuchen  w4r  wei- 
ter, was  geschieht,  wenn  mehrere  Stromschwankungen  nach  einander 
die  Flimmerzellen  treffen.  Die  Versuche,  welche  ich  hierüber  ange- 
stellt habe,  ergeben,  dass  die  Wirkungen  aufeinanderfolgen- 
der Reize  sich  verstärken.  Der  Verlauf  und  die  Grösse  der  Ge- 
sammterregung  durdtk  mehrere  Reize  hängen  ab  von  der  Stärke  und 
Zahl  der  Partialreize,  und  von  der  Schnelligkeit,  mit  dfer 
diese  sich  folgen.  Bei  gleicher  Stärke  der  Partialreize  wächst,  wie  es 
scheint,  die  Err^ung  im  Allgemeinen  um  so  steiler  an,  und  steigt  um 
so  höher,  je  schneller  die  Rei2e  aufeinander  folgen.  Man  kann  diess 
bei  Versuchen  mit  Inductionsschlägen  von  gleicher  Stärke  und  gleichem 
Verlaufe  beobachten.  Entweder  reizt  man  mit  Oeffnungsschlägen  und 
blendet  die  Schliessungsschläge  ab,  o(fer  umgekehrt,  oder  man  tetani- 
sirt  mit  Anwendung  der  HELMHOLTZ^schen  Modification.  Je  schneller 
im  letzteren  Falle  der  unterbrechende  Hammer  schwingt,  desto  rascher 
wächst  die  Geschwindigkeit  des  Signals,  und  desto  frtther  wird  im  All- 
gemeinen das  Maximum  erreicht.  Dasselbe  zeigt  sich  natürlich  auch 
bei  Tetani^iren  ohne  HKiHHOLTz'sche  Modification ,  wo  sich  die  schwa- 
chen Wirkungen  der  Schliessungsschläge  und  die  starken  der  Oeff- 
nuagssehläge  summiren. 

Auf  der  Summation  der  Reize  beruht  auch  die  schon  von  Kistu- 
KowsKT  beobachtete  Tfaatsache,  dass  Beschleunigung  der  Bewegung 
eintritt,  wenn  ein  constanter  Strom,  der  die  Membran  durchfliesst, 
durch  Umlegen  einer  Wippe  plötzlich  unterbrochen,  und  gleich  darauf 
in  entgegengesetzter  Richtung  wieder  geschlossen  wird.  Hier  summi- 
ren sich  die  schwächere  Oeffnungs-  und  die  stärkere  Schliessungsrei- 
zung.  Das  Umkehren  des  Stromes  ist  dabei  nicht  wesentlich,  denn 
Beschleunigung  tritt  auch  ein,  wenn  man  den  Strom  in  jer  gleichen 
Richtung  wie  zuvor  wieder  schliesst.  Doch  war  in  meinen  Versuchen 
die  Beschleunigung  in  der  That  grösser,  wenn  der  Strom  abwechselnd 
in  der  einen  und  der  andern,  als  wenn  er  immer  wieder  in  derselben 
Richtung  durch  die  Membran  geschickt  \^iirde.  Diess  zeigt  z.  B.  fol- 
gender Versuch. 


Versvek  ¥11.  Rachenschleimhaut  in  Kochsalz  von  0,8%.  Bahnlänge 
A  Mm.  Die  Membran  war  seit  einer  Stande  präparirt  und  in  dieser  Zeit 
mehrmals  minutenlang  mit  Inductionsschlägen  behandelt  worden.  Die  mitt- 
lere Geschwindigkeit  der  Bewegung  war  noch  dieselbe  wie  unmitlelhar  nach 
der  PrUparalion.  —  Constanter  Strom  von  acht  hintereinander  verbundenen 
DANiBLL'schen  Elementen.    In  den  Kreis  ist  eine  Wippe  zur  Stromwendung 


üeber  die  Fliniierbewegnug. ' '  427 

eingeschaltet.  IHe  Zeit,  welche  vom  Signal  gebraucht  wird,  ist  in  Secan- 
den  angegebctt.  UmlegeD  der  Wippe ,  sowie  Unterbrechen  und  Schlieasen 
,des  Stromes  in  gleicher  Richtung  geschehen  immer  so  rasch  wie  möglich« 

Tabelle  Vn. 

Vor  der  Reizung.     2  L  S^ 

30.  3f.   33.  34.   35.   35.   35.   33.   33.   35. 

Gonstanter  Strom,  ^eichnnnfg.     S  k  W. 

34.  30.  30.   30.  29.   t9.  30.  3f.   31.   3t.  3S.  39.  39.  3t. 
31.   30.   39.   3i.   3i.   33.   34.   33.  34. 

Wippe  umgelegt.     2  k  22^ 

98.  31.   31.  33.   33.   34.  34.   34.   34.   34.   35. 

Wippe  umgelegt.     2  k  M '. 

99.  99.  39.   34.   36.   38.   35.   35.   36. 

Strom  unterbrochen  und  sogleich  wieder  in  derselben  Richtung  ge- 
schlossen. 

39.   35.   38.   40.   49.   45.   48. 

Strom  unterbrochen  und  In  gleldier  Richtimg  wieder  geschlossen. 
45.   48. 

Wippe  umgelegt. 

98.  46.   45.  45. 

Wippe  umgelegt. 

96.   40.   48.    50.   55. 

Strom  zweimal  rasch  hintereinander  unterbrochen,    und  in  gleicher 
Richtung  wieder  geschlossen. 
50.  55. 

Strom  dreimal  rasch  hintereinander  unterbrochen  und  geschlossen. 
48.   60.  68. 

Strom  ganz  geöffnet. 
65.  60.  75. 

Strom  gleichsinnig,  geschlossen. 
58. 

Wippe  in  jeder  Secunde  zweimal  umgelegt. 
33.   33.   30.   33. 

Strom  ganz  geöffnet. 
48.  45.   65. 


Die  Tha^tsache,  von  welcher  die  vorstehende  Tabelle  Rechenschaft 
giebt,  spricht  für  das  Entstehen  elektrotoniscber  Erregbar- 
keitsänderungen in  den  Zellen.  Nimmt  man  an,  dass  jede  ein- 
zelne Flimmerzelle  da,  wo  der  Strom  in  sie  eintritt,  in  einen  Zustand 
herabgesetzter  Errecbartnii  ^4nelektrotonu8),  wo  der  Strom  aus- 
tritt, ir  -'  Erregbarkeit  (Katolektrotonus) 


428  '      Th.  W.  Engelfflann, 

versetzt  wird  ^j,  und  nimmt  man  weiter  an,  dass  die  Schliessungsei 
gung  auf  dem  Entstehen  von  Katelektrotonus  beruht,  dann  ist  es  — 
aus  denselben  Gründen  wie  bei  Muskeln  und  Nerven  —  vollkommen 
begreiflich ,  dass  eine  stärkere  Erregung  zu  Stande  kommt  wenn  un- 
mittelbar nach  Oefifhung  der  Kette  der  Strom  in  entgegengesetzter 
Richtung ,  als  wenn  er  in  derselben  Richtung  wie  zuvor  wieder  ge- 
schlossen wird.  Hiermit  würde  sich  eine  neue  Analogie  zwischen  Flim— 
merzeilen  und  anderen  reizbaren  Elementen ,  vor  Allem  mit  MuskeTü' 
und  Nerven  ergeben  ^) .  Die  Frage  ist  wichtig  und  fordert  zu  näherer 
Untersuchung  auf. 

Durch  Summation  kann  die  Erregung  selbst  dann  noch  bedeutend 
werden,  wenn  die  Partialreize  einzeln  oder  in  kleiner  Anzahl  zu  schwach 
sind^  um  merkliche  Beschleunigung  hervorzurufen.  Doch  darf  man 
nicht  glauben,  dass  die  Schnelligkeit  der  Bewegung  auf  ihr  Maximum 
steigen  müsse,  wenn  in  letzterem  Falle  nur  die  Reize  rasch  und  lange 
genug  aufeinander  folgen.  Wenige  starke  Reize  bringen  auf  derselben 
Membran  oft  eine  viel  bedeutendere  Beschleunigung  zu  Stande,  ate  un- 
gemein rasch  aufeinander  folgende,  sehr  schwache  Reize.  Man  sieht 
diess  z.  B.  an  folgendem  Versuch ,  aus  welchem  zugleich  der  Einfluss 
erhellt,  welchen  die  Schnelligkeit,  mit  der  die  Reize  sich  folgen,  auf 
die  Erregung  ausübt. 


Tenich  Till.  Rachenschleimhaut  in  Serum.  Die  Membran  lag  seit  drei 
Stunden  ausgespannt  und  war  einige  Zeit  vor  dem  Versuch  minutenlang 
tetanisirt  worden.  Die  mittlere  Schnelligkeit  der  Bewegung  halte  von  0,11 
Mm.  auf  0,06  Mm.  abgenommen.  LSnge  der  Bahn  4  Mm.  —  Reizung  ge- 
schieht durch  abwechselnd  gerichtete  InductionsschlSge  eines  Schlittenappa- 
rates ohne  HsLMHOLTz'sche  Modification,  einmal  bei  langsamem  Gang  (etwa 
50  Schwingungen]  und  dann  bei  raschem  Gang  des  Unterbrechers  (etwa 
300  Schwingungen  in  der  Secundej.  Primärer  Strom  von  4  Daniells  hinter- 
einander. Rollenabstand  bis  zur  Beobachtung  Nr.  22  7  Centim.,  von  da  an 
0  Centim.  Die  Reizung  begann  jedesmal  in  dem  Moment,  wo  das  Signal 
vom  Anfangspunct  der  Bahn  abging  und  wurde  so  lange  fortgesetzt,  bis  die 
ganze  Bahnstrecke  durchlaufen  war. 


4)  Natürlich  würde  auch  die  Rolle  der  Pole  die  umgekehrte  sein  können ;  doch 
ist  diess  weniger  wahrscheinlich. 

2)  Vergl.  das  zweite  Heft  der  Jenaischen  Zeitschrift.  Bd.  IV :  Heber  Reizung 
der  Muskeifäser  durch  den  constanten  Strom. 


Ueber  4i«  FluuMiliewtgaiig.  /• 


429 


Tabell 

e  vin. 

Zeit  in  Seeiud 
beiUuigra- 

len 
iMi  nschein 

1^ 

1^ 

Zeit  in  Beenndea 
iMi  Umir     ^i  »Mliem 

II 

oha« 
Bcix. 

mamOang 

des 
Hamnen. 

€(Mig  des 
Hanmen. 

ohne 
Beis. 

mem  Gang 

des  . 
Hammers. 

Oaagdes 
Hammers. 

1 

68 

^_ 

.^ 

15 

70 

.^ 

.^ 

2 

68 

— 

16 

75 

— 

— 

3 

55  , 

— 

17 

— 

73 

— 

4 

68 



— 

18 

— 

— 

60 

5 





50 

19 

90 

— 

— 

6 

70 





20 



— 

55 

7 

75 



—^ 

31 

— 

85 

—. 

S 

— 

65 



•22 

90 

— 

— 

i) 

85 





23 



25 



10 

— 



60 

24 

55 

— 

^ 

11 

70 

— 

— 

25 

400 

— 

— - 

12 

80 



— 

26 

445 



_ 

13. 

75 



— 

27 

— 



25 

U 

• 



50 

28 

— 

35 

— 

Man  sieht  hier  deoilioh,  dass  bei  schnellerem  Gang  des  Hammers 
die  mittlere  Geschwindigkeit  des  Signals  grösser .  als  bei  langsamem 
war,  und  femer,  dass  stärkere  Reize  (Nr.  23  u.  flg.)  selbst  bei  lang- 
samem Gang  des  Hammers  die  mittlere  Geschwindigkeit  bedeutend 
mehr  steigerten,  als  schwache  bei  schnellem  Gang  des  Unterbrechers. 
Dieser  Unterschied  der  mittleren  Geschwindigkeit  bei  verschieden  star- 
ken Reizen  könnte  auf  mehrere  Weisen  zu  Stande  gekommen  sein. 
Einmal  könnte  die  Geschwindigkeit  in  beiden  Fallen  zwar  dasselbe 
Maximum,  aber  bei  Reizung  mit  schwachen  viel  spater  als  bei  Reisung 
mit  starken  Schlagen  erreicht  haben.  Zweitens  aber  könnte  der  Unter- 
schied darauf  beruhen,  dass  das  Maximum,  welches  die  Beschleunigung 
erreichte,  bei  Summirung  starker  Reize  höher  lag ,  als  bei  Summirung 
schwacher.  Letzteres,  was  aus  der  Tabelle  allerdings  nicht  mit  Noth- 
wendigkeit  folgt,  war  hier  der  Fall  und  schon  für  das  blosse  Auge 
deutlich  zu  bemerken.  Der  Unterschied  der  mittleren  Geschwindigkeit 
wurde  aber  noch  vergrössert  durch  die  grössere  Schnelligkeit,  mit  der 
bei  Reizung  durch  starke  Schlage  das  Maximum  erreicht  ward.  ] 


Schickt  man  sehr  starke  Inductionsschlage,  z.  B.  die 
eines  grossen  RüHMKOEPp'schen  Apparates,  schnell  nacheinander  durch 
di^  Membran,  so  wird  die  Schnelligkeit,  mit  der  sich  das  Signal  be- 
wegt, nicht  höher  gesteigert  als  durch  einen  einzelnen  Inductionsschlag 


X 


4S0 


Th.  W.  EmdüMiii, 


von  derselben  Stärke,  wohl  aber  wird  die  Dauer  der  Erregung  grosser. 
Setzt  man  die  Reizung  längere  Zeit  fort,  so  lässt  allmählich  die  Bewe- 
gung nach,  doch  ist  es  auffallend)  wie  lange  man  die  Flimmerzellen  mit 
starken  Induotionsschlägen  tetanisiren  kann,  ohne  dass  die  Schnellig- 
keit des  Signals  abnimmt  Man  sieht  diess  aus  folgendem  Versuch. 


Versieh  U.  Rachenschleimhaut  in  Kochsalz  von  0,5%.  —  PrimSrer 
Strom  von  8  Daniells  hintereinander.  Rollenabsland  0  Mm.  Der  unter- 
brechende Hammer  macht  etwa  200  Schwingungen  in  der  Seconde. 


Tabelle  IX. 

Zeit  in  Seeanden 

Zeit  der 

mit  Beixung 

Beobachtung. 

ohne  HsLMHOLTz'sche 

mit  HsLMBOLTz'eclier 

olinaBtiz. 

Modification. 

Hodiflostioa. 

4  h.   15' 

32. 

30.  34. 

•_ 

.. 



32. 

31.  S9. 

— 

—— 

—X 

30. 

28.  29. 

— 

— 

1  h.  22' 



17.  U.  15. 

_ 

— 

• 



15.  14.  15. 

^-. 

— . 

- 

w. 

16.  14.  45. 

1 

4  h.  25' 

• 

.— 

44.  14.  15. 

^™^* 

1 

1 

45.  46.  16. 

~.. 

— 

17.  16.  17. 

'     ft                • 

— 

— 

16.  15.  15. 

^-> 

— 

— 

16.  46.  15. 

..^ 

•  .i^ 

- 

— 

15.  45.  46. 

_. 

• 

__       • 

46.  46.  16. 

,». 

* 

— 

16.  45.  16. 

...— 

.—, 

— 

15.  15.  15. 

— 

— 

14.  15.  14. 

— 

'  — 

— 

45.  46.  45. 

— 

....» 

— 

45.  46.  46. 

-^ 

A  h.  40' 

— 

46.  16.  46. 

.— > 

— 

— 

46.  46.  46. 

» 

- — 

^- 

17.  15.  46. 

— 

1 

— 

16.  16. 

— 

h  h.   45' 

<7. 

20.  20. 

<^ 

«^ 

-- 

S4. 

23.  21. 

• 

— 

— 

86. 

30.  30. 

•i— 

— 

— 

30. 

30.  30. 

— 

— 

\  h.  53' 

— 

— 

21.  2k  24. 

— 

^ 

t 

25.  25.  25. 

^ 

— 

t 

26.  26.  26. 

U«bei4ieFliiinwthewtgniig.  /- 


431 


\ 

Zeti  in  S«eiiiiden 

Z«it  der 

mit  Reizung 

Beobachtung. 

ohne  HxLMBOLTz*8che 

mit  HiuiHOLTz'scher 

ohne  Reix. 

Hodificatlon. 

Xodification. 

_- 

26.  26.  26. 

« 

— 

— 

26.  26.  26. 

2  h.  3' 

28.  30.  30. 

— 

— . 

«MM* 

32.  33.  33. 

-  - 

_ 

— 

3i.  35.  35. 

*— 

«-. 

-~ 

i>9.    oO.    v(5. 

— ^ 

— >. 

— 

33.  35. 

^— 

— — 

£eim  Xetanisiren  mit  so  starken  Schlttgen,  wie  im  vorstehenden 
Versuch,  findet  immer  aUoh  Erwärmung  der  Membrdn  statt.  Der 
Antheil,  den  diese  Erwämiung  an  der  BesobleunigaDg  der  Bewegung 
hat,  Ifisst  sich  nicht  genau  bestimmen ,  doch  musste  er  sehr  klein  sein« 
Die  Schnelligkeit  des  Signals  änderte  sich  nämlich  nichts  als  ein  kllhler 
Luftstrom  längere  Zeit  über  das  Präparat  geführt  wurde.  Auch  als  ich 
in  der  Gaskammer  unter  dem  Mikroskop  mit  Inductionsschlägen  reizte, 
konnte  ich  keine  Abnahme  der  besdüeunigten  Bewegung  bemerken, 
wenn  ein  kttUer  Luftstrom  längere  2eit  über  das  Präparat  geleitet 
wurd.  Nur  wenn  die  Schläge  sehr  stark  waren ,  und  sehr  rasch  auf- 
einander folgten,  machte  sich  nach  einiger  Zeit  Verlangsamung  bemerke 
bar*  Diese  trat  aber  ebenso  firtth  ein,  Wenn  ein  JLalter  Luftstrom 
durch  die  Kammer  ging,  als  wenn  diess  nicht  der  Fall  war.  Die 
beobachteten  Yeränderuogen  der  Bewegung  waren  also  der  Elektrici«^ 
tat  direct ,  und  nicht  den  thermisohen  Wirkungen  derselben  zuzu- 
sdireihen. 

Die  Verlangsamung  der  Bewegung,  welche  durch  elek«- 
trischeSohläge  herbeigeführt  wird,  beruht  meist  auf  gleichmässi^ 
ger  Abnahme  der  Frequenz  und  der  Grösse  der  Schwingungen.  Zu** 
weilen  bleiben  die  Bewegungen  noch  ziemlich  longa  wellenförmig ,  oft 
aber  auch ,  besonders  wenn  die  Uatersncbungaflüssigkeit  etwas  ooa-^ 
oentrirter  ist,  werden  sie  kleiner  und  hakenftemig.  Im  Aussehen  der 
Zellen  ändert  sich  wenig  oder  nichts.  Setzt  man  die  Beisung  mit  star«* 
ken  Schlägen  nodi  länger  fort^  so  tritt  endlich  Stillstand  ein. '  Schon 
mit  einem  einzehien  kräftigen  Induetionssohlag  ist  es  möglich,  die  Be- 
wegung EU  sistiren.  Lie(gen  die  Zellen  in  indiflbrenten  Lösungen ,  so 
werden  sie  dabei  etwas  trübe ,  di9  Kerne  meist  deutlicfa,  dunkelran«* 
digi  und  die  GUien  stehen  steif)  entweder  sehittg  nach  vom  geneigt«* 


432  Th.  W.  EügetaiBfi, 

oder  senkrecht  auf  der  Oßbrfläche  der  dann  oft  kugelförmig  gewor- 
denen Zelle. 

Hat  sich  die  Flimmerbewegung  durch  den  Einfluss  elektrischer 
Schläge  in  indifferenten  Flüssigkeiten  verlangsamt ,  so  erholt  sie  sich 
nicht  wieder,  wenn  man  die  Zellen  ruhig  liegen  lässt.  Diess  gilt  we- 
nigstens für  solche  Flimmerzellen ,  die  aus  dem  lebenden  Organismus 
entfernt  sind.  Am  lebenden  Frosch  habe  ich  keine  Versuebe  <Aer 
etwaige  Wiederherstellung  der  Bewegung  vorgenommen. 

Zuweilen  gelang  es,  die  Bewegung,  wenn  sie  durch  elektrische 
Schläge  bloss  verlangsamt  war,  durch  Tetanisiren  mit  noch  stärkeren 
Schlägen  vorübergehend  zu  beschleunigen.  Rasch  folgte  dann  aber 
Yerlangsamung  und  endlich  Stillstand.  Ob  es  möglich  sei,  durch  den 
Constanten  Strom  die  erlahmte  oder  erloschene  Bewegung  wieder  an- 
zufachen, habe  ich  nicht  untersucht.  —  Die  Bewegung  erwachte  nie- 
mals wieder,  wenn  sie  durch  elektrische  Schläge  schon  völlig  zur  Ruhe 
gebracht  war.  Es  ist  ganz  gleicbgiltig ,  mit  welchen  Mitteln  man  die 
Wiederbelebung  versucht:  Wasser,  Salzlösungen,  Alkalien,  Säuren, 
Aether,  Wärme,  alle  helfen  nichts. 

Die  bisher  mitgetheilten  Versuche  bezogen  sich  auf  Flimmerzellen, 
die  von  möglichst  indifferenten  Flüssigkeiten  bespült  waren, 
also  sich  unter  verhältnissmässig  normalen  Bedingungen  befanden.  Es 
war  von  Interesse,  zu  untersudien,  wie  elektrische  Stromschwankun- 
gen auf  Flimmerzellen  wirken,  deren  Bewegungen  sich  unter  dem  Ein- 
fluss anderer  Agentien  verlangsamt  haben.  Was  ich  darüber  ermittelt 
habe,  ist  Folgendes. 

Behandelt  man  Flimmerzellen  in  der  Gaskammer  solange  mit  rei- 
nem Wasser,  bis  'die  Bewegung  unter  Quellung  der  Zellen  verlang- 
samt ist,  und  reizt  man  nun  elektrisch,  sei  es  durch  Schliessung  eines 
Constanten  Stromes  oder  durch  einen  oder  mehrere  kräftige  In- 
ductionsschläge,  so  tritt,  ohne  vorausgegangene  Beschleuni- 
gung, rasch  Stillstand  ein,  oder  es  verlangsamt  sich  wenigstens  die 
Bewegung  plötzlich  stärker.  Man  beobachtet  meist  im  Beginn  der  Rei- 
zung eine  plötzliche  Zunahme  der  Quellung.  Die  Zellen  werden  dann 
etwas  trübe  und  die  Kerne  erscheinen  als  grosse,  pralle  Blasen  mit 
grossem,  rundem  Kemkörperchen.  Dauert  die  Reizung  nur  kurze  Zeit, 
so  dass  sie  nicht  bis  zum  völligen  Stillstand  der  Gilien  führte,  so  kann 
sich  die  Bewegung  nach  dem  Aufhören  der  Reizung  wieder  beschleu- 
nigen, um  später  dann  dem  gewöhnlichen  Wasserstillstande  Platz  zu 
•machen.  Man  kann  die  Verlangsamung  durch  elektrische  Reizung  audi 


Oeber  die  FtinnerbewogiiDg.^  433 

sehr  deutlich  an  der  ausgespannten  Racb/Mischleimhaüt  mit  Hilfe  des 
Signals  beobachten.  Wäscht  man  die  Membran  längere  Zeit  mit  destil- 
Urtem  Wasser  ab  und  schickt  nun  einen  starken  constanten  Strom 
durch  sie,  so  tritt  unmittelbar  nach  der  Schliessung  eine  vorüberge- 
h^ide  Verlangsamung  eis.  So  verlangsamte  sich  beispielsweise  die 
Bewegung  durch  Sohliessen  eines  constanten  Stromes  von  8  hinter- 
einander verbundenen  DA.iaiLL'sohen  Elementen,  von  0,42  Mm.  auf 
QyAO  MUk  in  der  Secunde.  Während  der  Strom  geschlossen  blieb,  stieg 
die  Geschwindigkeit  allmählich  wieder  auf  0,4  und  0,42  Mm.  Noch 
auffallender  ist  die  Verlangsamung  beim  Tetanisiren  mit  Inductions- 
schlagen,  doch  kann  hier  die  Erwärmung  eine  Rolle  spielen. 

Ganz  ähnlich  wie  auf  die  durch  Wasser  verlangsamte  Bewegung 
wirkt  elektrische  Reizung ,  wenn  man  die  Thätigkeit  der  Gilien  zuvor 
durch  Ammoniakdämpfe  in  indifferenten  Lösungen  herabgesetzt 
hat:  unter  plötzlicher  Zunahme  der  Quellung  und  ohne  voraus- 
gegangene Beschleunigung  plötzliche  Zunahmeder  Verlang- 
sam ung,  bei  stärkerer,  oder  länger  dauernder  Reizung  bis  zum  Still- 
stand führend.  Nach  Aufhören  der  Reizung  kann  die  Bewegung  sich  vor- 
übergehend wieder  erholen  und  nach  Neutralisation  des  Alkali ,  durch 
Essigsäure  z.  B.,  sogar  wieder  eine  ansehnliche  Schnelligkeit  erreichen. 

Ebensowenig  wie  einen  Ammoniakstillstand  vermag  elektrische 
Reizung  allein  einen  Säurestillstand  zu  beseitigen .  Hiervon  habe 
ich  mich  öfter  an  Zellen  überzeugt,  die  in  Kochsalz  von  0,5%  ^^  cler 
Gaskammer  lagen ,  und  durch  Essigsäuredämpfe  vorsichtig  zur  Ruhe 
gebracht  waren.  —  Dasselbe  gilt  für  Zellen,  die  durch  Aetber-  oder 
Chloroform  dämpfe  narcotisirt  sind,  und  für  solche,  die  sich  in  der 
Wärmestarre  befinden.  Somit  äussert  sich  die  erregende  Wirkung  der 
Elektricität  nur  bei  Zellen,  die  sich  in  indifferenten  Flüssigkeiten,  wie 
Serum,  oder  in  etwas  zu  concentrirten  Lösungen  neutrtiler  Stoffe,  wie 
Kochsalz,  befinden.  Ueberschreitet  die  Goncentration  der  Kochsalz- 
lösung 2,5%,  so  versagt  auch  die  Elektricität  ihren  belebenden  Ein- 
fluss.  —  Die  Bedingungen,  unter  denen  elektrische  Stromschwankun- 
gen erregend  wirken,  sind,  wie  man  sieht,  fast  genau  dieselben,  unter 
denen  auch  höhere  Wärmegrade  die  Bewegung  beschleunigen. 

Zum  Schluss  sei  noch  bemerkt,  dass  die  WiriLung  der  Elektricität 
sich  ebensogut  an  vollkommen  isolirten,  frei  schwimmenden  Flim- 
merzeUen  äussert,  wie  an  solchen,  die  noch  im  Zusammenhang  auf  der 
Schleimhaut  sitzen. 

Eine  Fortleitung  der  Erregung  in  der  unversehrten  Schleim- 
haut lässt  sich  durch  das  Experiment  nicht  nachweisen.  Zwar  siebt 
man  bei  Anwendung  starker  Ströme  oft,  dass  die  Bewegung  noch  in 

Bd.  IV.  3.  98 


434  Tfa.  W.  Engdmmn, 

ziemlich  grosser  Entfernung  von  der  intrapolaren  Strecke  sidi 
schleunigt.  Diese  Beschleunigung  wird  aber  nachweisbar  immer  direct 
durch  Stromzweige  hervorgebracht.  Sie  nimmt  an  Glosse  mit  der  Bot* 
fernung  von  der  intrapolaren  Strecke  ab  und  bleibt  bestehen,  wenn 
man  den  physiologischen  Zusammenhang  der  betreffenden  Schleim^ 
hautstelle  mit  der  intrapolaren  Strecke  durch  Schneiden  oder  Qnetsehen 
aufhebt.  Bei  schwächeren  Reizen  und  bei  kurzer  intrapolarer  Strecke 
beschränkt  sidi  die  Erregung  auf  die  letztere.  Auch  von  chemioehon 
Agentien ,  wie  Säuren  und  Alkalien ,  habe  ich ,  was  hier  beiläufig  be- 
merkt sei,  niemals  eine  andere  als  rein  locale  Wirkung  selbst  auf  voll— 
kommen  intacten  noch  im  lebenden  Thier  befindlichen  Sdileimhäuten 
gesehen.  Doch  sprechen  einige  Erscheinungen,  auf  die  wir  später  noch 
zurückkommen  werden,  dafür,  dass  vnrklidi  ein  Vorgang ,  analog  der 
Erregung,  auf  unversehrten  Schleimhäuten  von  Zelle  zu  Zelle  sich  fort- 
pflanzen könne.  — 


B.  Tersuehe  an  FlimmerzeUen  wirbelloser  Thlere« 

I.  Einfluss  des  Wassers. 

Die  Flimmerbewegung  der  Süsswassermollusken,  i.  B.  der 
Kiemen  von  Anodonta,  die  der  Fühler  von  Planorbis,  Paludina  u.  a., 
wird  durch  Wasser  viel  weniger  intensiv  als  die  Flimmerbewegung  der 
Wirbeltbiere  beeinfhisst.  In  Brunnen-  und  Flusswasser  können  die 
Gilien  viele  Stunden,  ja  Tage  lang  thätig  bleiben.  Im  Laufe  dieser  Zeit 
losen  sich  die  Zellen  nicht  selten  von  ihrer  Unterlage  ab,  isoliren  sich 
vollkommen,  und  verfallen  dann  unter  Quellung  und  theilweiser  Go- 
agulation  ihres  Protoplasma  allmählich  der  Verwesung.  Auch  auf  den 
isolirten  und  kuglig  gewordenen  Zellen  schwingen  die  Haare  oft  noch 
Stunden  lang ,  doch  lässt  die  Stärke  der  Bewegung  auf  den  isolirten 
Zellen  bald  nach.  In  destillirtem  Wasser  erloschen  die  Bewegungen 
früher,  doch  ebenfalls  erst  nach  Stunden.  Verdrängen  von  Fluas--  oder 
Sumpfwasser  durch  destillirtes  Wasser  bevdrkt  oft  eine  vorüber- 
gehende geringe  Beschleunigung  und  VerstäriLung  der  Bewegung.  In 
viel  stärkerem  Maasse  zeigt  aber  das  Wasser  eine  belebende  Wirkung, 
wenn  die  Zellen  'durch  Salzlosungen  von  massiger  Conoentration 
(Kochsalz  von  0,25%  bis  4%  z.  B.)  ruhig  gemacht  worden  waren. 
Stillstand  durch  Säuren  konnte  durch  Auswaschen  mit  Wassc^ nieht 


Debet  4ie  Fliamerbewegnng.      '  435 

«lilgehobeo  werden,  Wol  aber  der  Ammoniaksttllsiandi  wenn  er 
vorsichtig  herbeigeführt  war. 

Die  ia  deeiilUrtem  Wataer.  zur  Ruhe  gekommenen  Flimmertiaare 
von  AnodoOla,  Paludina  u.  a.  konnte  ich  durch  Ammoniak,  durch  Säu- 
ren, Aether,  Wärme  niefat  wiederbeleben.  Auch  mit  schwächeren 
EaehaaLiU)attngeD  girisiig  diess  nur  selten  und  dann  nur  sehr  vorüber- 
gebetd. 

Ganz  anders  ist  der  Einfluss  des  Wassers  auf  die  Flimmerbewe- 
gung der  in  Salzwasser  lebenden  Mollusken.  Hier  dienten  als  Un- 
tersuchungsobject  die  zwei  Arien  Flimmerepithel  von  den  Kiemen  der 
Auster.  Setzt  man  zu  einem  in  lebhafter  Bewegung  befindlichen  und 
in  Salzwasser  gelegenen  Präparat  reines  Wasser,  oder  Flusswasser, 
so  erlischt  die  Bewegung  in  wenigen  Secunden,  während  sogleich  die 
Flimmerhaare  blitzschnell  aufquellen  und  unsichtbar  werden.  Durch 
wasserentziehende  Mittel,  z.  B.  Kochsalzlösungen  von  2%  bis  3%, 
gelingt  es  .nicht,  die  Wimpern  wieder  zur  Ansicht  «zu  bringen ;  an  ihrer 
Stelle  erscheint  dann  ein  feines  unförmliches  Gerinnsel.  Ebensowenig 
vermögen  andere  Mittel  die  Wimpern  wieder  herzustellen. 

Aehnlich  wie  reines  Wasser,  doch  im  Allgemeinen  langsamer,  wir- 
ken auch  sehr  verdünnte  Salzlösungen,  wie  Kochsalz  von  0,5%  und 
darunter.  Günstig  wirkt  Wasser  wie  es  scheint  nur  dann,  wenn  stär- 
kere Salzlösungen  auf  die  Flimmerzellen  eingewirkt  haben. 

IT.  Einfluss  von  Salzlösungen. 

Schon  sehr  verdünnte  Kochsahüösungen  bewirken  bei  den  Flini- 
morhaaren  der  Sttsswaasermollusken  Stillstand;  Lösungen  von 
0,S57o  bis  0,5%  thun  diess  schon  innerhalb  einiger  Minuten,  höhere 
GoBcoairatMOsgrade  noch  viel  schneller.  Die  Schwingungen  werden 
im  Laufe  der  Verlangsamung  sehr  klein,  fast  immer  hakenförmig.  Die 
GÜien  und  Zellenkörper  schrumpfen  dabei  deutlich  zusammen,  werden 
gläncender,  stärker  liohibrechend.  Verdünnen  mit  Wasser  oder  mit 
äosserei  schwachen  Salzlösungen  kann  die  Bewegungen  wieder  er- 
weeken ,  indem  zugleich  die  Zellen  und  Haare  ihr  normales  Ansehen 
iiahesu  oder  völlig  wiedergewinnen.  Doch  darf  die  erste  Salzlösung 
nifibt  m  eoncentriri  gewesen  sein ,  weil  sonst  beim  Verdünnen  mit 
Waater  die  Flinmerhaare  leicht  zerstört^  scheinbar  aufgelöst  werden. 
Nur  ein  in  äusserst  verdünnter  Kochsalzlösung  eingetretener  Stillstand 
kaBQ  ausser  durch  Wasser  auch  durch  Ammoniak,  durch  Aether, 
Alkohol,  Warme  aufgehoben  werden.  Säuren,  auch  in  noch  so 
kleiner  Menge,  erwiesen  sich  fast  stets  erfolglos.    Nur  in  vereinzelten 

SS* 


436  Th.  W.  EBgefaHBii, 

FsUeD  zeigte  sich  bei  Durdißlbning  von  wenig  Kohlensaure-  oder 
Esslgsäuredämpfen  hier  und  da  eine  sehr  schwache  Beschleu- 
nigung, selbst  ein  Wiedererwachen  eipzelner  Cilien  zu  kleinen  lang- 
samen Bewegungen.  Diesem  folgte  aber  immer  sehr  schnell  Still- 
stand. 

Bei  der  Auster  bedarf  es  starker  KochsaldUtangen ,  um  die  Be- 
wegung zu  sistiren.  In  Lösungen  von  4,5%  ^i^  3%  8^^^^  ^^  Flim- 
merung  sehr  gut  weiter.  Höhere  Goncentrationsgrade  bewifken.Stilk- 
stand  unter  Schrumpfung.  Dieser  kann  durch  vorsichtiges  Verdünnen 
mit  Wasser  wieder  aufgehoben  werden;  aber  immer  scheinen  die 
Wimpern  nach  dem  Kochsalzstillstande  leichter  durch  Wasser  zerstört 
zu  werden  als  vorher. 

Bei  schwächeren  Graden  des  Kochsalzstillstandes  erweisen  sich 
Ammoniak,  Aether,  Wärme,  elektrische  Stromschw^an  — 
kungen  meist  als  Belebungsmittel.  Durch  Säuren  wird  man 
niemals  eine  auffallende  Beschleunigung  oder  ein  Wiedererwachen  leb- 
hafter Bewegungen  erzielen  können. 

in.   Einfluss  von  Säuren. 

Der  belebende  Einfluss,  welchen,  wie  wir  fanden,  alle  Säuren  auf 
die  Flimmerbewegung  der  Wirbelthierschleimhäute  ausüben,  wird  bei 
den  Flimmerzellen  der  Süss-  und  Seewassermollusken  nur  in  wenigen 
Fallen  gefunden.  Wie  wir  sahen,  lösten  Säuredämpfe  bei  jenen  die 
Flimmerruhe,  wenn  sie  durch  Steigerung  der  Concentration  des  um- 
hüllenden Mediums,  durch  Einwirkung  reinen  Wassers  oder  durch 
Alkalien  herbeigeführt  war.  Die  Flimmerzellen  der  Mollusken  werden 
dagegen  nur  dann  durch  Säuren  zu  energischer  Thätigkeit  erweckt, 
wenn  sie  vorher  durch  Beimischung  von  Alkalien  zu  dem  sie  um- 
spülenden Wasser  gelähmt  waren. 

Das  Wiedererwecken  der  Zeihen  durch  Säuren  aus  dem  Alkali- 
stillstände  lässt  sich  an  allen  Flimmerzellen  der  verschiedensten  Wir- 
bellosen mit  grösster  Leichtigkeit  constatiren.  Man  benutzt  natürlich 
die  Gaskammer.  Erst  leitet  man  schwach  mit  Ammoniak  oder  kohlen- 
saurem Ammoniak  geschwängerte  Luft  über  das  Präparat,  das  sich  am 
besten  in  mögßchst  indifTerenter  Flüssigkeit,  also  Fluss-  oder  Seewas- 
ser, befindet.  Sowie  die  Bewegung  dem  völligen  Stillstände  nahe  ist 
oder  eben  still  steht,  was  je  nach  dem  Ammoniakgehalte  der  durch  die 
'Kammer  geführten  Luft  in  Secunden  oder  Minuten  zu  geschehen  pfl^t| 
ässt  man  schwach  mit  Säuredämpfen  (Essigsäure,  Salzsäure)  beladene 
Luft  durch  die  Kammer  streichen.    Es  dauert  nur  wenige  AugenMicke 


üeber  die  FltmmerbewegQng.      ^  437 

und  die  Bewegung  ist  wieder  in  vollem  Gange.  Sie  erreicht  bei  vor- 
sicbfigem  Experimentiren  —  welches  darin  besteht,  dass  man  nur  mit 
eben  ausreichenden  Mengen  von  »Alkali  und  Säure  arbeitet  —  die  nor- 
male Höhe  wieder.  Waren  die  Zellen  vorher  unter  dem  Einfluss  des 
Ammoniak  etwas  aufgequollen  und  blasser  geworden ,  so  nehmen  sie 
nun  unter  Einwirkung  der  Säure  ihr  normales  Ansehen  wieder  an. 
Unterbricht  man,  sobald  diess  erreicht  ist,  die  Säurezufuhr  und  ver- 
drttftgt  dns  Gasgemisch  in  der  Kammer  durch  reine  atmosphärische 
Luft ,  sa  bleibt  die  Bewegung  fortbestehen ,  als  ob  sie  niemals  unter- 
brochen gewesen  wäre.  Nur  ein  geringer  SäureUberschuss  aber  ge- 
nügt, um  unter  plötzlicher  Trübung  der  Zellen  die  Bewegung  wieder 
zu  sistiren.  Auch  die  Flimmerhaare  selbst,  in  normalem  Zustande  voll- 
kommen glashell  und  durchsichtig,  werden  dann  fast  momentan  getrübt 
und  nehmen,  wie  die  Zellen ,  eine  bräunliche  Farbe  an.  Die  Trübung 
in  den  Zellen  ist  ganz  diffus ,  gröbere  Niederschläge  sind  nicht  zu  er- 
kennen, doch  werden  die  Zellenleiber  oft  fast  vollkommen  undurch- 
scheinend und  (bei  durchfallendem  Licht)  dunkelbraun.  Man  sieht 
desshalb  in  vielen  Fällen  die  Kerne  nicht.  Diese  Veränderungen  in  den 
Zellen  der  Mollusken,  welche  der  Säurestillstand  u.  a.  mit  dem  Aether- 
und  Ghloroformstillstande  gemein  hat,  verschwinden  wieder,  sobald 
die  Säure  durch  Ammoniakdämpfe  neutralisirt  wird,  und  in  der  Regel 
erwacht  dann  auch  die  Bewegung  wieder.  Wie  bei  den  Flimmerzellen 
des  Frosches,  ist  es  auch  hier  bei  einiger  Vorsicht  möglich,  Säure-*  und 
Alkalistillstand  vielmal  nacheinander  wechseln  zu  lassen.  Auch  mit 
den  Opalinen  aus  dem  Darmcanale  des  Frosches  gelingt  diess. 

Wie  durch  Essigsäure  und  Salzsäure,  kann  man  den  Ammoniak- 
stillstand auch  durch  Kohlensäure  beseitigen.  Und  zwar  gelingt 
diess  so  leicht  und  an  allen  Flimmerzellen  aller  möglichen  Wirbellosen, 
dass  ich  nicht  begreife,  wie  Kühne  der  Versuch  niemals  glüdien  konnte. 
Man  braucht  gar  nicht  mit  besonderer  Vorsicht  zu  verfahren ;  ein  voll- 
kommener Stillstand ,  durch  Ammoniak  oder  kohlensaures  Ammoniak 
erzeugt,  löst  sich  in  wenigen  Secunden,  wenn  ein  Strom  reiner  Koh- 
lensäure über  das  Präparat  streicht.  Oft  genügt  schon  die  Exspira- 
tionsluft  zum  Wiedererwecken.  —  Auf  der  anderen  Seite  können  die 
Zellen  der  Mollusken  Minuten  lang  in  einer  Atmosphäre  von  reiner 
Kohlensäure  stillstehen  und  bei  Durchsaugen  von  atmosphärischer 
Luft  wiedererwachen.  Hier  wie  bei  den  Zellen  derWirbelthiere  bedarf 
es  keines  Alkali,  um  den  Kohlensäurestillstand  aufzuheben.  Beim  Durch- 
führen von  gewöhnlicher  Luft,  selbst  von  reinem  Wasserstoff,  ver- 
schwindet die  mit  dem  Säurestillstande  einhergehende  Trübung  in  den 
Zellen  und  das  Wimperspiel  beginnt  wieder.     Von  einem  spedfisoh 


433  Th.  W.  Engelmaiin, 

schädlichen  Einfluss  der  KoUensfture,  den  Kühne  ihr  zuschreibt ,  kaim 
also  keine  Rede  sein.  Nur  bei  lange  fortgesetztem  Durchführen  fQ^ner 
Kohlensäure  oder  stark  mit  Kohlensäure  beladener  Luft  kann  es,  unter 
zunehmender  Trübung  der  Zellen ,  so  weit  kommen ,  dass  die  Bewe*- 
gung  beim  Durchsaugen  von  Luft ,  selbst  wenn  dasselbe  lange  forCge-* 
setzt  wird,  nicht  wiederkehrt.'  Auch  die  Trübung  d6r  Zellen  verschwin— 
det  dann  nicht  mehr.  Dann  kann  man  aber  meist  noch  durch  Zufuhr 
VOR  etwas  Ammoniak  den  Stillstand  aufheben  und  zugleich  die  Zrtlen 
wieder  durchsichtig  macheli. 

Während  somit  die  Wirkung  der  Säuren  beim  Alkalistillstande  für 
die  Flimmerzellen  der  Wirbellosen  dieselbe  ist,  wie  für  die  der  Wir* 
belthierschleimhäute ,  zeigt  sich  ein  beträchtlicher  Unterschied ,  wenn 
man  die  Zellen  durch  Steigerung  der  Coneentration  des  Me- 
diums zur  Ruhe  gebracht  hat  und  nun  Säuren  einwiiiLen  lässt.  Weit 
entfernt,  wie  bei  den  Flimmerzellen  des  Frosches  die  Bewegung  wie-- 
der  zu  erwecken ,  scheint  es  auf  den  ersten  Blick ,  dass  Säuredämpfe 
die  Bewegung  der  Flimmerzellen  von  Mollusken,  wenn  dieselbe  in 
etwas  zu  concentrirter  Kochsalzlösung  nachgelassen  hatte, 
nur  noch  schneller  zur  völligen  Ruhe  bringen.  In  der^at,  legi  man 
Zellen  von  den  Kiemen  der  Anodonta,  oder  anderer  SttsswassermoUus-* 
ken  in  Kochsalzlösung  von  0,5  bis  1%  und  wartet  man,  bis  die  Be-* 
wegungen  dem  Stillstande  nahe  sind ,  dann  sieht  man  sofort  überall 
Ruhe  eintreten,  wenn  ein  mit  etwas  Essigsäure-  oder  Salzsäuredampf 
versetzter  Luftstrom  über  das  Präparat  geleitet  wird.  Die  Zellen  wer-* 
den  dabei  trübe ,  die  Gilien  steif  und  ebenfalls  dunkler.  Auch  wenn 
man  der  Luft  nur  sehr  wenig  Säuredampf  beimischt,  und  die  Zellen 
durch  langsame  und  möglichst  geringe  Steigerung  der  Coneentration 
gelähmt  hat,  gelingt  es  doch  nie,  das  Wimperspiel  zu  einer  merklidien 
Lebhaftigkeit  anzuregen,  geschweige  denn  es  zu  dem  hohen  Grade  der 
Energie  zu  erwedien ,  wie  diess  bei  den  Flimmerzellen  von  Wirbd- 
thierschleimhäuten  der  Fall  ist.  Aber  es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass 
bei  so  versichtigem  Experimentiren  oft  eine  Beschleunigung  die  erste 
Wirkung  der  Säurezufuhr  ist.  Ich  habe  mich  hiervon  bei  Süsswasser- 
molittsken  wie  bei  der  Auster  (wo  man  natürlich  stäikere  Sahlösungen, 
4  —  5  7o)  ^^  Medium  gebrauchen  muss)  öfter  überzeugt.  Man  muss 
zu  solchen  Beobachtungen  Zellen  aussuchen,  deren  Gilien  nur  noch 
eine  oder  wenige  Schwingungen  in  der  Seounde  machen,  und  deren 
Sehwingungsebene  parallel  der  Ebene  des  Objectiisches  liegt.  Nur 
dann  kann  man  nämlich  ausser  über  Aenderungen  der  Frequenz  auch 
über  kleinere  Aenderungen  der  Ezcursionsweite  genau  unterrichtet 
werden.    Man  zähh  nun  eine  Zeit  lang  die  Schwingungen  und  führt, 


Deber  die  Fynnerbewegiing.       ^  439 

wenn  die  Frequenz  während  dieser  Zeit  gluich  geblieben  oder  kleiner 
geworden  ist,  äusserst  verdünnte  Säuredämpfe  durch  die  Kammer. 
ZttbU  man  nun  wieder ,  so  wird  in  den  meisten  Fällen  eine  deutliche 
Steigerung  der  Frequenz ,  ohne  Abnahme  der  Excursionsweite  gefun- 
den. Zuweilen  betrug  diese  Stsigerung  das  Doppelte  und  mehr:  z.  B. 
von  4  Schlägen  in  5  Secunden  auf  9,  von  3  auf  7.  Die  Steigerung  trat 
fast  immer  allmählich  ein  und  hatte  etwa  im  Laufe  einer  halben  Minute 
QC8l<den  Höhepunct  erreicht.  Sie  konnte  sich  Minuten  lang  erhalten  ; 
bei  nur  wenig  gesteigerter  Säurezufuhr  trat  aber  Stillstand  ein.  — 

Besser  als  bei  den  Flimmerzellen  der  Mollusken  lässt  sich  die  erre- 
gende Wirkung  der  Säuren  bei  Kochsalzstillstand  an  Opalinen  vom 
Frosch  wahrnehmen.  Hier  ist  es,  namentlich  mittels  Kohlensäure,  nicht 
schwer ,  die  Bewegungen  ziemlich  erheblich  zu  verstärken ,  wenn  sie 
in  Köchsalzlösung,  von  i%  etwa,  nachgelassen  hat.  Ja  sie  kann  selbst 
aus  völligem  Stillstande  wiedererwachen ,  wennschon  niemals  bis  zu 
erheblicher  Höhe.  Auch  hier  tritt  aber  bei  nur  wenig  gesteigerter  Säure- 
zufuhr Stillstand  ein. 

In  den  Fällen,  wo  die  Wimperbewegung  der  Wirbellosen  durch 
Sauerstoffentziehung  (z.  B.  in  einer  Wasserstoffatmosphäre], 
durch  Aether,  Alkohol,  Chloroform,  Metallsalze,  höhere 
Wärmegrade  oder  starke  elektrisöhe  Reize  gelähmt  ist,  ver- 
mögen Säuren  keinen  belebenden  Einfluss  auszuüben.  Sie  beschleu- 
nigen im  Gegentheil  den  Eintritt  des  Stillstandes,  wenn  er  noch  nicht 
völlig  ausgebildet  war. 

Unter  den  Mitteln,  welche  einen  Säurestillstand  aufheben  kön- 
nen, stehen,  wie  schon  erwähnt,  auch  bei  Wirbellosen  die  Alkalien 
obenan.  Leichtere  Grade  des  Stillstandes  können  aber  auch  durch  Aus- 
waschen der  Zellen  mit  Wasser  (bei  Süsswassermollusken]  oder  1  y, 
bis  3Vo>8^^K^^^^^'^'^^^^8  (bei  Seethieren)  aufgehoben  werden. 
Die  Bewegungen  pflegen  aber  dann  niemals  die  Stärke  zu  erreichen, 
wie  nach  Neutralisation  der  Säuro  durch  ein  Alkali.  Bei  Kohlensäure- 
StiUstand  genügt,  wie  oben  gleichfalls  gemeldet,  in  der  Hegel  ein  Luft- 
Strom. 

IV.  Einfluss  von  Alkalien. 

« 

Die  Veränderungen,  welche  die  Flimmerbewegung  unter  dem  Ein--» 
flttss  von  Alkalien  erleidet,  sind  bei  Wirbellosen  im  Wesentlichen 
dieselben,  wie  bei  Wirbelihieren.  Dooh  zeigt  sich  auch  hier  wie  bei 
den  Säuren  eine  grössere  Empfindlichkeit  auf  Seite  der  Flimmertellen 
Wirbelloser.  Es  bedarf  viel  geringerer  Mengen,  Ammoniakgas  z.B., 


440  ^  Th.  W.  Engelfflann, 

um  die  im  adäquaten  Meiijum  (Süss-  oder  Seewasser)  in  köcfaster 
Energie  stattfindende  Bewegung  auszulöschen.  Brauchte  man  bei  Fliiii~ 
merzeilen  vom  Frosch,  die  in  indifferenter  Flüssigkeit  lagen,  eine  halbe, 
ja  mehrere  Minuten,  um  die  Bewegung  vom  Maximum  ihrer  Schnellig- 
keit auf  Null  herabzusetzen ,  so  genügen  hierzu  —  alle  übrige  Bedin*- 
gungen  gleichgesetzt  —  bei  Wirbellosen  (Anodoata,  Paludina  etc., 
Ostrea)  1 0  Secunden.  Derselbe  Unterschied  zeigt  sich  bei  Anwendung 
von  verdünnter  Kali-  oder  Natronlösung.  Der  Alkalistill&tand^UiU 
also  bei  Wirbellosen  leichter  ein.  Auch  hier  begleitet  den  Alkalisiill— 
stand  ein  gleichmässiges  Aufschwellen  und  Erblassen  der  Zellen.  -- 

Belebend  wirken  die  Alkalien  auf  die  Flimmerbewegung  Wirbel- 
loser hauptsächlich  dann,  wenn  vorher  Säure  eingewirkt  hatte.  Beim 
Wiederbeginn  der  Bewegung  verschwindet  die  durch  die  Säure  her- 
vorgerufene Trübung  in  den  Zellen.  War  die  Säurestarre  nur  bis  zu 
einem  leichten  Grad  gediehen,  so  lässt  sich  durch  ausreichende  Ammo- 
niakzufuhr das  Wimperspiel  in  seiner  anfänglichen  Stärke  wiederher- 
stellen.   Ebenso  durch  Kali  oder  Natron. 

Der  Kochsalzstillstand  kann,  wenn  er  vorsichtig  herbeigeführt 
ward,  ebenfalls  durch  Ammoniakgas  gehoben  werden.  Doch  ist  die 
Grösse,  welche  die  Schnelligkeit  der  Bewegung  auf  diese  Weise  wieder 
erreichen  kann,  nie  so  bedeutend,  wie  wir  das  bei  den  Flimmerzelien 
vom  Frosch  sahen.  Der  Ammoniakgehalt  der  durch  die  Kammer  ge- 
führten Luft  muss  sehr  klein  und  die  Bewegung  unter  dem  Einfluss 
der  concentrirteren  Kochsalzlösung  noch  nicht  völlig  erloschen  sein, 
wenn  man  eine  merkliche  und  etwas  anhaltende  Beschleunigung  erzie- 
len will.  Im  andern  Falle,  d.  h.  bei  zu  starker  Ammoniakzufuhr,  wird 
das  Stadium  der  Beschleunigung  unterdrückt  und  man  bekommt  so- 
gleich Ammoniakstillstand,  der  dann  durch  Säuren  gehoben  werden 
kann. 

Einen  entschieden  hemmenden  Einfluss  üben  Alkalien  auf  die 
Flimmerbewegung  der  Mollusken,  wenn  die  Bewegung  durch  ein  Quel- 
lung bewirkendes  Agens  vorher  verlangsamt  war.  Diess  sieht  man 
z.  B.  an  Flimmerzellen  von  den  Kiemen  der  Auster  sehr  gut,  wenn 
man  auf  sie  erst  jeu  verdünnte  Kochsalzlösung  (0,5%  etwa),  bis  zum 
Eintritt  bedeutender  Verlangsamung,  einwirken  lässt  und  nun  schwache 
Ammoniakdämpfe  zuführt.  Sofort  stehen,  unter  Zunahme  der  Quel- 
lung, die  Wimpern  still.  Hier  ist  also  das  Verhalten  das  nämliche,  wie 
bei  den  Flimmerzellen  der  Wirbelthierschleimhäute,  und  dasselbe  gilt 
vom  Einfluss  der  Alkalien  bei  Stillstand  oder  Verlangsamung  durch 
Aether,  Chloroform  oder  Metallsalze.    Auch  in  diesem  Falle 


Ueber  die  Flinnerbew^ni;.  ^  44  ^ 

zagen  die  AlkalieD  sieb  ohne  belebende  Wirkung,  ja  sie  beschleunigen 
sogar  den  Einiriit  des  Stillstandes. 

Der  Wassersioffstillstand  wird,  wenn  er  nicht  in  einer 
etwas  zu  conoentrirten  oder  gar  schwach  sauren  FIttssigkeit  statt- 
findet, durch  Alkalien  ohne  gleichzeitige  Sauerstoffzufuhr  nicht  aul^e- 
hoben.  Die  hierauf  bezüglichen  Versuche  wurden  in  derselben  oben 
besdiriebenen  Weise,  wie  an  den  Fliminerzellen  vom  Frosch  ange- 
stellt — 

Ist  durch  geringen  Ueberschuss  von  Alkali,  z.  B.  Ammoniak,  Still- 
stand eingetreten,  so  erwecken,  wie  schon  erwähnt,  Säuren  —  auch 
Kohlensäure  —  die  Bewegungen  wieder.  In  vielen  Fällen  genügt  selbst 
Auswaschen  des  Alkali  mittels  indifferenter  Flüssigkeiten ,  also  Süss- 
oder  Seewasser. 


V.   Einfluss  vom  Wasserstoff  und  Sauerstoff. 

In  reinem  Wasserstoffgas  erlischt  die  Flimmerbewegung  der  Wir- 
bellosen wie  die  der  Wirbelthiere  viel  früher,  als  in  einem  indifferen- 
ten sauerstoffhaltigen  Gasgemisch,  z.  B.  atmosphärischer  Luft.  Wie 
bei  den  Zellen  des  Frosches  tritt  aber  der  StiUstand  in  einer  Atmo- 
sphäre von  reinem  Wasserstoff  erst  ein,  lange  Zeit  nachdem  schon  aller 
Sauerstoff  aus  der  Flüssigkeit  ausgetrieben  ist.  Bei  Anwendung  mei- 
ner Gaskauimer  waren  zur^ völligen  Ausbildung  des  Stillstandes  immer 
einige  Stunden  nöthig,  während  die  beiden  Absorptionsbänder  des 
Sauerstoffliaemoglobin  regelmässig  schon  nach  1 0  bis  höchstens  1 5  Mi- 
nuten verschwunden  waren.  Ich  bin  hierin  also  in  Widerspruch  mit 
KüHifB,  welcher,  nach  seinen  bereits  erwähnten  Versuchen  an  Ano- 
donta,  die  Anwesenheit  von  freiem  oder  locker  (wie  im  Sauerstofihae- 
moglobin)  gebundenem  Sauerstoff  für  eine  Bedingung  des  Zustande- 
kommens der  Flimmerbewegung  erklärt.  Aus  meinen  Erfahrungen 
folgt  dagegen ,  dass  die  Flimmerbewegung  Stunden  lang  fortbestehen 
kann,  ohne  dass  gleichzeitig  durch  die  Zellen  Sauerstoff  aufgenommen 
wird. 

Bei  der  Wichtigkeit  der  Frage  für  die  Beurtheilung  der  chemischen 
Vorgänge,  welche  der  Flimmerbewegung  zu  Grunde  liegen,  habe  ich 
mir  die  Entscheidung  dieser  Differenz  besonders  angelegen  sein  Jassen. 
Trotzdem  kann  ich  nicht  mit  einiger  Sicherheit  angeben,  woran  es 
gelegen  haben  mag,  dads  Kühnb  den  StUlstand  so  viel  früher  als  ich, 
und  immer  gerade  in  dem  Moment  eintreten  sah,  wenn  alles  Sauerstoff- 
haemoglobin  redudrt  war.  Man  könnte  daran  denken,  dass  geringe 
Verunreinigungen  des  Wasserstoffs ,  mit  Phosp&orwasserstoff ^  Arsen-« 


442  -x      Tb.  W.  fingelniMii, 

Wasserstoffs.  B.,  welche  ättssersi  sdiädiicli  duf  die  Flimmerbewegung 
wirken  y  in  Köhnb^s  Versuchen  den  fitlheren  Eintritt  des  Stillstandes 
bewirkt  hstten ;  oder,  was  vielleicht  eher  anzunehmen,  dass  wahrend 
des  Durchströmens  von  Wasserstoff  durch  die  Gaskammer  die  Gonoen«* 
tration  des  Tropfens,  in  dem  die  Zellen  lagen,  zugenommen  bdbe,  Lets- 
teres  kann  in  der  That  leicht  geschehen ,  wenn  mit  dem  Wasserstoff- 
strome nicht  zugleich  hinreichend  Wasserdampf  zugeführt  wird  und 
vor  Allem  auch,  wenn  das  Präparat  in  einem  flachen  Tropfen  liegt-uod^ 
der  Wasserstoff  darüber  in  starkem  Strome,  wie  der  Wind  über  eine 
Lache  hinstreicht.  Doch  lässt  sich  hierüber  um  so  weniger  etwas  Be* 
sttmmtes  sagen,  als  in  Kdhnb^s  Beschreibung  seiner  Versuche  hierauf 
nicht  Rücksicht  genommen  ist,  und  auch  nähere  Zeitangaben  von  Kühni 
nicht  gemacht  sind. 

Darin  stimme  ich  mit  Kühnb  vollkommen  überein,  dass  sehr  wenig 
Sauerstoff  genügt,  um  den  Wasserstoffstillstand  auf- 
zuheben. Lusst  man  nur  soviel  Sauerstoff  zutreton,  dass  die  Bewe- 
gung eben  wieder  in  Gang  kommt,  und  führt  dann  wieder  reinen 
Wasserstoff  durch  die  Rammer,  so  tritt  der  zweite  WasserstoffistiUstand 
ansehnlich  schneller  als  der  ersto  ein,  oft  schon  nach  einigen  Minuton. 
Läset  man  dagegen  Hinuten  lang  atmosphärische  Luft  über  das  Präparat 
sireicbeD  —  wobei  dann  die  Bewegung  eine  bedeutonde  Höhe  wieder 
erreichen  kann  —  so  bedarf  es  längeren  Durchieitons  (Y,  Stunde  u.  m.) 
von  Wasserstoff,  um  alle  Gilien  wieder  zur  Ruhe  zu  bringen.  Die  Zellen 
scheinen  also  während  des  Durchieitons  von  atmosphärischer  Luft 
Sauerstoff  aufgespeichert  zu  haben. 

Andere  Mittol,  den  Wasserstoffstilistond  —  vorausgesetzt,  dass  die 
ZeUen  dabei  in  indifferenter  Flüssigkeit  lagen  —  zu  beseitigen ,  habe 
iebnicht  gefunden.  Reiner  Sauerstoff  beschleunigt  die  Bewegung  bei 
Wirbellosen  auch,  wenn  sie  sich  bei  Gegenwart  atmosphärischer  Luft 
in  etwas  zu  ooneentrirton  Lösungen  indifferenter  Stoffe,  Kochsalz, 
Zucker  z.  B.,  verlangsamt  hat. 

-  VI.   Einfluss  von  Aether,  Alkohol  und  Chloroform. 

Aether  und  Alkohol  äussern  bei  den  Wirbellosen  fast  unter  den-** 
selben  Umständen,  wie  bei  den  Flimmerzellen  der  Wirbelthierschleim-* 
häute,  einen  erregenden  Einfluss,  nämlich  vor  AUem  dann,  wenn 
die  Bewegung  durch  wasserentaiehende,  übrigens  indifferente  Mittel  ver- 
langsamt war.  ^Doch  wird  man  niemals  eine  so  bedeutende  Beschleu- 
nigung der  Bewegung  erzielen,  wie  bei  Wirbellhieren.  Sehr  leicht  folgt 
auf  da&  Stadium  der  Erregung  Verlangsamung  und  Stillstand;  es 


Deber  die  nnuMrbewegQDg.  ,-  443 

reiehen  hierza  schon  sehr  kleine  Mengen  von  Aelherdampf  aus.  *-*  Die 
Aetherrahe,  in  welcher  die  Zellen  diffus  getrübt  und  dunkel  erscbeinen, 
kann,  wenn  sie  durch  eine  niögiicbst  kleine  Aethermenge  herbeigeführt 
war,  durch  atmosphärische  Luft  wieder  gehoben  werden*  War 
die  Aethereinwirkung  zu  stark  gewesen ,  dann  bleibt  die  Trübung  der 
Zeilen  beim  Durchsangen  von  Luft  bestehen  und  die  Bewegung  erwacht 
iftioht  wieder,  welche  Mittel  man  auch  zu  ihrer  WiederbdebuBg  anwen- 
älenr-viOge.  —  Vom  Alkohol  gilt  dasselbe  wie  vom  Aelher.  — 

Chloroform  bewirkt  auch  bei  den  Wirbdiosen,  utiter  allen  Um*« 
ständen  und  ohne  vorausgehende  Beschleunigung,  Verlangsamung, 
bei  gesteigerter  Zufuhr  Stillstand  unter  Trübung  der  Zellen.  Leiohie 
Grade  der  Ghloroformnarkose  werden  durch  atmosphärische  Luft 
beseitigt,  höhere  Grade  sind  durch  kein  Mittel  aufzuheben.  Also  hierin 
Uebereinstimmung  zwischen  den  Zellen  der  Wirbellosen  und  der  Wir- 
belthiere  I  Im  Allgemeinen  sind  jedoch  die  Zellen  der  Wirbellosen»  be- 
sonders der  Sttsswassermollusken  <} ,  gegen  Aether,  AUiobol  und  Chloro- 
form empfindlicher  als  die  Zellen  der  Wirbelthiere. 


VII.   Einfluss  von  Giften. 

Die  w  enigen  Versuche,  welche  ich  über  den  Einfluss  von  giftigen 
Alkaloideii  auf  die  Flimmerbewegung  Wirbelloser  angestellt  habe,  gaben 
dasselbe  Resultat  wie  die  Versuche  an  den  Flimmersellen  der  Frösche. 
Der  Einfluss  von  Curare,  Stryohnin,  Veratrin,  Morphium, 
Atropin,  Calabarextract,  hängt  nur  von  der  Reaction  und  Gon- 
centratiou  der  Auflösung  ab ;  in  kleinen  Mengen  indifierenlen  Flüssig 
ketten  zugesetzt,  sind  die  genannten  Körper  ohne  Einfluss.  Wahre  Gifte 
sind  dagegen  auch  für  die  Flimmerzellen  der  WirbeUosen ,  die  Salze 
der  schweren  Metalle.  Diese  führen  schon  in  minimalen  Gaben 
Tod  der  Zellen  unter  Trübung  ihres  Inhalts  herbei. 


VIIL  Einfluss  der  Wärme. 

Temperatursteigerung  bewirktauch  bei  Wirbellosen  in  den 
Fällen  Beschleunigung  der  Bewegung,  wo  die  Veriangsamung 
infeige  von  Wasserentziebung  (durch  Einwirkung  concentrirter 
Kochsalzlösungen  z.  B.)  eingetreten  war;  nicht  aber,  wenn  Qaei- 
lung,  Einwirkung  von  Säuren,  Aether,  Chloroform,  Metallsalsen  die 


K)  Hieran  mag  wol  der  grössere  Absorplionsco^fQci^nt^ des  Wassers  ftir  ^ 
naante  Körper  haoptsächKoh  schuld  sein. 


444  Tb.  W.  fingelmann, 

Ursache  der  Verlangsamung  war.    Dann  pflegt  im  Gegentheil  der  Ein- 
tritt des  Stillstandes  beschleunigt  zu  werden. 

Durch  Erwärmung  auf  Temperaturen  von  40  ^  und  mehr  werden 
die  Plimmerzellen  der  Sttss-  und  Seewassermollusken  in  Stillstand 
versetzt.  Man  muss  auch  hier  zwei  Grade  des  Wärmestillstandes  un- 
terscheiden. Der  erste  Grad,  welcher  dadurch  charakterisirt  i^t,  dass 
er  durch  blosses  Abkühlen  wieder  aufgehoben  wird,  tritt  bei  kurzem 
Erwärmen  auf  40  bis  etwa  H^  ein,  oder  nach  längerem  Erwävniaa 
auf  etwas  niedrigere  Grade.  Die  Zellen  müssen  sich  hierbei  aber  in 
indifferenten ,  oder  ein  wenig  zu  concentrirten  Flüssigkeiten  befinden. 
Sind  die  Flüssigkeiten  zu  verdünnt  (bei  der  Auster  z.  B.  Kochsalz  von 
0,5  oder  1%))  so  tritt  der  erste  Grad  des  Wärmestillstandes  schon  bei 
niedrigeren  Temperaturen  ein.  —  Der  zweite  Grad  der  Wärmen- 
starre,  der  durch  Abkühlen  nicht  gehoben  wird,  tritt  beim  Erwärmen 
auf  etwa  45  ^,  wie  es  scheint,  plötzlich  ein.  Aber  auch  bei  länger  fortge- 
setztem Erwärmen  auf  40  ^  wird  der  zweite  Grad  erreicht.  Die  ZeUen, 
deren  Inhalt  getrübt  und  -bräunlich  erscheint,  sind  dann  todt.  —  Ueber 
die  Einwirkung  niederer  Temperaturgrade  sind  die  Angaben  von  Botr 
zu  vergleichen.  — 

IX.   Einfluss  der  Elektricität. 

Die  wenigen  Versuche,  welche  ich  zur  Ermittlung  des  Einflusses 
der  Elektricität  auf  die  Flimmerbewegung  an  Wirbellosen  anstellte; 
ergäben  in  den  Hauptpuncten  vollkommene  Uebereinstimmung  mit 
dem,  was  wir  bei  Wirbelthieren  gefunden  hatten.  Ich  habe  desshalb 
unterlassen,  alle  die  an  der  Rachenschleimhaut  vom  Frosch  angestellten 
Versuche,  welche  mehr  specielle  Fragen  betreffen,  auch  an  Wirbellosen 
M  wiederholen.  —  Als  Versuchsobjecte  dienten  die  Flimmerzellen  von 
den  Kiemen  verschiedener  SüsswassermoUusken  und  der  Auster.  —  Das 
Gesetz,  dass  nur  elektrische  Dichtigkeitsschwankungen, 
nicht  aber  der  Strom  in  beständiger  Dichte  erregend  wirken,  fand 
sich  bestätigt.  Die  Bedingungen,  unter  welchen  Beschleunigung  der  Be- 
wegung durch  elektrische  Reizung  eintreten  kann,  scheinen  dieselben  zu 
^in,  wie  bei  den  Zellen  des  Frosches.  Vornehmlich  dann  ist  die  Erregung 
deutlich,  wenn  die  Thätigkeit  der  Zellen  durch  gelinde  Wasserent- 
ziehung, also  z.  B.  durch  Einwirkung  etwas  zu  concentrirter  Koch- 
salzlösung, vorher  vermindert  war.  —  Die  Erregung  durch  einen  einzel- 
nen Inductionsschlag  äussert  sich  nicht  als  eine  einzelne  Schwingung 
oder  Zuckung  des  gereizten  Haares,  sondern  besteht  in  einer  im  Allge- 
meinen rasch  zunehmenden,  langsamer  wieder  abnehmenden  Be3chleu- 


Uebeifdie  FKnnerbeweguiig.     ^  445 

nigung  der  rhythmischen  Bewegungen  der  Cilie.  Die  Wirkungen  kurz 
aufeinander  folgender  Schläge  summiren  sich.  Durch  einzelne  sehr 
siarke  SohUge  oder  Unger  fortgesetztes  Tetanisiren  werden  die  Zellen 
getödtet.  Ein  dem  Tetanus  vergleichbarer  Stillstand  der  Cilien ,  der 
beim  Aufhören  der  Reizung  der  regelmässigen  Bewegung  wieder  Platz 
machte,  kommt  nicht  vor. 


C.  TersQche  an  SpermatozoSn. 

Die  vielen  Analogien,  welche  die  bisherigen  Untersuchungen  zwi- 
schen Flimmer-  und  Spermabewegung  bereits  aufgedeckt  hatten,  for- 
derten zu  einer  neuen  Vergleiohung  der  Bedingungen  beider  Bewe- 
gungen auf.  Ich  habe  desshalb  einen  grossen  Theil  der  an  den  Flim^ 
merzeilen  angestellten  Versuche  an  den  Spermatozoon  des  Frosches 
wiederholt.  Eine  Anzahl  dieser  Versuche  ist  nicht  neu :  sie  sind  von 
alteren  Untersuchen! ,  vor  Allem  von  Kölliue  ^)  bereits  beschrieben. 
Wir  werden  ihre  Resultate  zum  Theil  nur  zu  bestätigen  haben.  Der 
Besitz  einer  Gaskammer  gab  uns  aber  zugleich  den  Vortbeil,  eine  Reihe 
von  Versuchen  anstellen  zu  können,  die  frtther  unmöglich  waren.  Es 
war  so  möglich,  den  Einfluss  der  Sauerstoffentziehung  und  Sauerstoff- 
zufuhr zu  untersuchen  und  eine  Reihe  von  Stoffen,  wie  Säuren,  Am- 
moniak, Aether,  Alkohol,  Chloroform  nicht  in  wässrigen  Lösungen, 
wie  das  von  den  früheren  Untersuchern  gethan  ist,  sondern  in  Dampf- 
form dem  Objecte  zuzuführen.  Aus  letzterem  Umstände  erklären  sich 
die  abweichenden  Resultate,  zu  denen  wir  in  Betreff  der  Wirkung  jener 
Stoffe  gekommen  sind. 

Die  ausgebreiteten  Untersuchungen  von  Kölliur  haben  in  dem 
Verhalten  gegen  Reagentien  eine  so  grosse  Uebereinstimmung  zwischen 
den  Samenfäden  der  verschiedensten  Wirbelthiere  kennen  gelehrt, 
dass  es  für  upsere  Zwecke  überflüssig  erschien,  an  Spermatozoon  ver- 
schiedener  Thierarten  zu  experimentiren.  Es  wurden  desshalb  fast 
ausschliesslich  die  Samenfäden  des  Frosches  (Rana  temporaria)  zur 
Beobachtung  ausgewählt. 


4)  A.  KöLLiKBR,  Physiologische  Studien  über  die  Samenflüssigkeit.  In  Zeitschr. 
f.  wiss.  Zool.   Bd.  VII.   p.  SOI  — 27S.   4  855. 


/ 


446  ^  Th.  W.  builmMiB» 

1.   Einfluss  des  Wassere. 

Drttckt  man  aus  dem  Testikel  eines  Winterfrosches  ein  Tröpfchen 
der  dickAttssigen  Samenmasse  aus,  so  zeigen  die  Fäden  weder  bei  so- 
gleich angestellter  Untersuchung  noch  später  Bewegung.  Nur  tmt^ 
nahmsweise  sind  einzelne  Fäden,  wie  schon  ANftBftMANrt  ^)  fand,  tn  B^^ 
wegung.  Lässt  man  nun  einen  Tropfen  destillirten  oder  Brunnenwas- 
sers zufliessen,  so  erwachen  an  allen  Stellen,  im  Moment,  wo  ilas 
Wasser  sie  erreicht,  die  lebhaftesten  Bewegungen.  Dieselben  lassen 
jedoch  bald  nach,  und  zwar  hängt  es  von  der  Menge  des  zugeftthrten 
Wassers  ab,  wie  bald  diess  geschieht.  Wird  z.  B.  ein  Tröpfchen  Sperma 
mit  etwa  dem  vierfachen  Volum  Wasser  vermischt,  so  lassen  die  Grösse 
ond  Frequenz  der  Bewegtnigen  nach  einigen  Minuten  nach.  Die  Fäden 
quellen  hierbei  allinählich  auf:  der  Kopf-  und  Sehwanztheil  werden 
blasser  und  dicker.  Fast  bei  allen  tritt  Oesen-^  und  Schlingenbildung 
am  Kopfende  ein.  -^  Nach  zehn  Minuten  findet  man  sohog  sehr  viele 
Fliden  still  und  nach  Verlauf  einer  Stunde  sehen  noch  einen  in  Bew*e- 
gung.  —  Bei  Zusatz  von  weniger  Wasser  bleibt  die  Bewegung  länger 
bestehen,  die  Fäden  quellen  langsamer. 

Sind  anfangs  bewegliche  Samenf£(den  nach  längerem  Liegen  in  so- 
genannten Indifferenten  Flüssigkeiten,  wie  in  Blut,  Blutserum, 
zur  Ruhe  gekommen,  so  erweckt  Wasserzusatz  gleichfalls  meist  hefUge 
Bewegungen.  Wir  müssen  hier  indessen  wie  bei  der  Plimmerbe wegung 
zwei  Fälle  unterscheiden.  Der  Stillstand,  welcher  in  »indifferenten« 
Flüssigkeiten  »von  selbst«  eintritt,  kann  nämlich  einmal  —  und  zwar 
ist  diess  weitaus  am  häufigsten  —  darauf  beruhen,  dass  die  angeblich 
indifferente  Ldsung  in  derThat  etwas  zu  concentrirt  ist,  oder  es  im 
Laufe  der  Beobachtung  durch  Verdunstung  wurde  ^j .  Je  geringer  die 
Ueberschreitung  des  Indifferenzpunctes  der  Concentration  ist,  desto 
später  beobachtet  man  dann  die  Verlangsamung  und  den  Stillstand  der 
Be^vegungen.  ^  Der  Stillstand  kann  aber  zweitens  auch  darauf  beru- 
hen, dass  die  »indiflerentea  Losung  nicht  concentrirt  genug  ist,  dass 


4)  Akkemukm,  De  motu  et  evolutione  Alonim  spermatic.  rananun.  Dias,  inaug. 
Regimonti  4854.  —  S.  auch :  Einiges  über  die  Bewegung  und  Entwicklung  der  Sa- 
menfaden des  Frosches.    In  Zeitschr.  f.  wiss.  Zeel.  VÜI.  4857.  pag.  429. 

2)  Jedenfalls  spricht  für  diese  Auffassung  der  Umstand,  dass  der  Stillstand  in 
den  meisten  der  »indifferenten«  Flüssigkeiten  in  allen  Puncten  dasselbe  Verhalten 
zeigt,  u.  a.  durch  dieselben  Mittel  aufgehoben  wird,  wie  der  Stillstand,  den  schwach 
wasserentziehende  Kochsalzlösungen  herbeiführen.  S.  auch  die  Schlussbetracb- 
tungen. 


Uebtr  üe  Fluuierbew«|toiig.  447 

der  Prooe&tgebah  an  Kochsais ,  Zooker  oder  was  es  gerade  sei,  unier 
dem  Indifferenzpunct  bleibt.  Hier  hat  d^nn  der  Stillstand,  so  spat  er 
auch  eintreten  mdg^,  die  Eigenschaften  des  Wasserstillstandes.  Nur 
im  ersten  Falle  wirkt  Wasser  wiederbelebend,  niemals  im  zwei- 
ten. —  Dass  der  Stillstand,  welchen  man  künstlich  durch  Zusatz  con- 
centrirterer  Kochsalzlösung  hervorrufen  kann,  durch  Wa^er  auf- 
gehoben wird,  ial  eine  schon  von  Köllkkk  wiederholt  betonte  That- 
Sache,  die  sich  leicht  bestätigen  lässt%  Die  Salzlösung  darf  nur  nidht  zu 
hoch  Concentrin  (Ober  10%)  gewesen  sein  oder  zulange  eingewirkt 
haben.  Hierauf  kommen  wir  gleich  zurück. 

Die  Mittel,  welche  den  durch  tlbermässige  Wassereinwirkung  er- 
zeugten Stillstand  aufzuheben  vermögen ,  sind  fttr  Spermatozoon  die- 
selben wie  fttr  die  Plimmerzellen.  Vor  Allem  sind  es,  wie  schon  Köllt- 
UR,  namentlich  für  die  Samenfaden  der  Sauger,  ausführlich  gezeigt 
hat,  chemisch  indifferente  Salzlösungen  verschiedener,  doch  nicht 
zu  geringer,  Goncentration.  Man  kann  diess  leicht  bestätigen.  Hatte  der 
Wasserstillstand  kurz  gedauert  und  ist  die  aus  der  Mischung  der  Salz- 
lösung mit  dem  samenhaltigen  Wassertropfen  resultirende  Lösung  nicht 
zu  concentrirt,  so  können  die  Bewegungen  wieder  schnell  und  stark 
werden.  Dasselbe  lasst  sich,  wie  durch  Kochsalz,  durch  andere  was- 
serentziehende Mittel,  z.  B.  Zucker,  Glycerin,  erreichen.  Auch  Säuren, 
in  Gasform  zugeführt,  heben  den  Wasserstillstand  auf,  und  die  wieder- 
erwachten Bewegungen  sind  zuweilen  sehr  klüftig  und  frequent.  Sie 
hören,  wenn  mehr  Säure  zugeführt  wird,  sehr  bald,  zuweilen  schon 
nach  einer  Viertel-  bis  halben  Minute,  wieder  auf.  Diess  habe  ich 
wenigstens  bei  Kohlensäure  und  Essigsäure  gefunden.  Andere  Säuren 
wurden  nicht  angewendet. 

Auch  durch  Ae  ther  und  Alkohol  konnte  der  Wasserstillstand  für 
kurze  Zeit  (einige  Minuten)  aufgehoben  werden.  —  Dagegen  versagen 
hier  die  A 1  k  a  1  i e  n  ihre  belebenden  Dienste  gänzlich ;  sie  beschleunigen 
den  Eintritt  des  Stillstandes  in  Wasser.  Brachte  ich  z.  B.  ein  wenig 
Sperma  aus  dem  Hoden  des  Frosches  in  einen  verhältnissmässig  gros- 
sen Tropfen  destillirten  Wassers  und  wartete,  bis  die  Bewegungen 
langsamer  geworden  waren,  so  trat  dann  beim  Durchführen  von  etwas 
Ammoniakgas  binnen  wenigen  Secunden  Stillstand,  ohne  vorherige  Be- 
schleunigung ein,  während  aUe  Fäden  plötzlich  stärker  aufquollen  und 
blass  wurden.  Schnelle  Zufuhr  von  etwas  Kohlensäure  konnte  die  Be- 
wegungen für  sehr  kurze  Zeit  wieder  erwecken.  —  Beim  Erwärmen 
tritt  der  Wasserstillstand  schneUer  ein. 

Wie  sehr  nach  alledem  das  Verhalten  der  Samenbewegung  gegen 


44S  Tli«  W.  K^ielBMH, 

Wasser  mit  dem  oben  gesditlderlen  Yerbalteii  der  FBromerbewegOBg 
ttbereinsUmme,  braucht  nicht. weiter  hervorgehoben  za  werden. 


11.   Einfluss  von  Kochsalzlösungen. 

In  Kochsalzlösung  von  0,5%  erhalt  sich  die  Bewegung  der  reifen 
Samenfaden  des  Frosches  lange  Zeit;  in  verdünnt^ren  Lösungen  er- 
lisdit  sie  unter  den  Zeichen  der  Wasseraufnahme  (Quellung),  in  oon- 
centrirteren  unter  den  Zeichen  der  Wasserentziehung  (Schrumpfung) » 
Diess  sind  Angaben  von  Kölliub,  welche  unsere  Versuche  im  Ganzen 
bestätigt  haben.    Wir  fügen  denselben  noch  Einiges  hinzu. 

Nimmt  man  Sperma  aus  dem  Hoden  von  Winterfröschen  und 
mischt  dasselbe  mit  einem  verhaltnissmässig  grossen  Tropfen  Kochsalz 
von  0y57o)  so  bleiben  die  Faden  bewegungslos;  nur  hie  und  da  zei- 
gen sich  einmal  schwache  Bewegungen.  Es  bedarf  verdttnnterer  Lö- 
sungen (0,3%  etwa),  um  die  Bewegung  Überall  zu  erwecken  und  zu 
erhalten.  Sinkt  die  Concentration  auf  0,25%  oder  weiter,  so  trilt  nach 
einiger  Zeit  Stillstand  ein,  der  die  bereits  geschilderten  Zeichen  des 
Wasserstillstandes  hat. 

Steigt  die  Concentration  der  Lösung  noch  höher  als  0,5%,  so 
bleiben  natürlich  die  Faden  bewegungslos;  je  grösser  der  Salzgehalt^ 
desto  starker  schrumpfen  sie.  Doch  ist  es  selbst  nach  längerer  Behand- 
lung mit  Lösungen  von  2,5%  bis  5%  noch  möglich,  die  Bewegung 
durch  Wasserzusatz  wieder  anzufachen.  Auch  diese  Thatsache  hat 
KöLLiKBR  schon  beobachtet.  — 

Für  die  Flimmerzellen  fanden  wir  ausser  dem  Wasser  noch  eine 
Beihe  anderer  Agentien  auf  —  Sauren,  Alkalien,  Aether,  Alkohol, 
Schwefelkohlenstoff,  Warme,  Elektricitat  — ,  welche  im  Stande  waren, 
den  durch  zu  concentrirte  Kochsalzlösungen  veranlassten  Stillstand  auf- 
zubeben. Diese  Agentien  erwiesen  sich  auch  bei  Spermatozoon  im  Gan- 
zen in  demselben  Sinne  wirksam.  Der  Salzgehall  der  Lösung  darf  aber 
auch  hier  eine  bestimmte,  ziemlich  niedrige  Grenze  nicht  überschrei- 
ten, wenn  Wiederbelebung  möglich  sein  soll.  Buhende  Samenfäden  aus 
dem  Hoden  eines  Winterfrosches,  die  in  Kochsalz  von  0,5%  unbeweg- 
lich lagen,  erwachten,  wenn  Kohlensaure,  Essigsaure,  AetheT 
oder  Alkoholdampfe  über  das  Präparat  geführt  wurden,  binnen  we- 
nigen Secunden  bis  Minuten.  Dagegen  konnte  ich  Faden  aus  demselben 
Testikel  durch  die  genannten  Mittel  nicht  mehr  erwedLon,  wenn  sie  in 
Kochsalzlösungen  von  1%  utid  mehr  lagen.  —  Ammoniak,  Kali  und 
Natron  erwiesen  sich  in  vielen  Fallen,  wo  die  Wiederbelebung  aus 
dem  Kochsalzstillstande  durch  Sauren  gelang,    vollkommen  unfähig 


/ 


0^ 

r 

Deberii0  nteaerbew^gang.  449 

daitt.    Diess  sieigle  sieh  oft  bei  unreifen  SamenfiUlen.     Reife  Freien 
stimmten  in  ihrem  Verhalten  mit  den  Fliiiiinerzeilen  üherein. 

Für  andere  neutrale  Salze  als  Kochsalz  gilt,  ebenso  wie  für  Zucker, 
Kreatin  u.  s.  f.,  ganz  dasselbe,  nur  dass  die  sich  in  ihrer  physiologi- 
schen Wirkung  cmtsprecbenden  Gonoentrationsgrade  fflr  jeden  dieser 
Stoffe  andere,  wie  es  scheint  nur  vom  Quellungsco^fficienten  abhängige 
sind. 

IlL   Einfluss  von  Säuren. 

In  den  bisherigen  Angaben  übet  den  Einfluss  von  Säuren  auf  die 
Bewegung  der  Samenfäden  ist  immer  nur  von  einer  schädlichen  Wir- 
kung der  Säuren  die  Rede,  geradeso  wie  das  auch  bei  der  FIfmmerbt  - 
wegung  früher  aligegeben  wurde.  Da  wir  aber  bei  dieser  gefunden 
hatten,  dass  das  erste  Stadium  der  Säurewirkung  fast  immer  ein  Sta- 
dium der  Erregung,  d.  i.  der  Beschleunigung  und  Verstärkung  der  Be- 
wegungen ist,  so  stellte  sich  von  selbst  die  Frage  ein ,  ob  diess  auch 
für  diä  Samenbewegung  gälte.  Eine  Reihe  von  Versuchen ,  an  den 
Spermatozoon  des  Frosches  angestellt,  bewiesen,  dass  diess  in  derThat 
der  Fall  ist.    Die  Säuren  wurden  in  dier  Regel  in  Gasform  zugeftthrt. 

Dass  die  Samenbewegung  selbst  in  sehr,  verdünnten  wässrigen 
Lösungen  von  Säuren  bald  still  steht,  ist  ein  bekanntes  Factum,  wel- 
ches der  Bestätigung  nicht  mehr  bedarf.  Wir  gedenken  desshalb  zu- 
nächst nur  der  Fälle,  in  denen  Säuren  einen  erregenden  Einfluss  äus- 
sern. Diess  sind  nun  dieselben,  wie  bei  der  Flimmerbewegung.  Es  ist 
in  den  vorhergehenden  zwei  Abschnitten  bereits  erwähnt  worden,  dass 
sowohl  der  Wasserstillstand,  als  der  Stillstand,  welcher  in  con- 
centrirteren  Lösungen  neutraler  Salze  eintritt,  durch  Säu- 
ren, z*  B.  Kohlensäure,  Essigsäure,  aufgehoben  werden  kann.  Nur  darf 
im  einen  Falle  der  WassersUHstand  nicht  zu  lange  gedauert,  im  andern 
die  Conoentralion  eine  gewisse,  wenig  über  dem  Indifferenzpunct  gele- 
gene Höhe  nicht  ttberschriiten  haben.  Bei  Zufuhr  von  mehr  Säure  tritt 
bald  Stillstand  ein ,  beim  Wasserstillstand  schneller  (nach  einigen  Se- 
cunden  bis  einer  Viertelroinute  z.  B.),  langsamer  (nach  Minuten]  beim 
Stillstand  durch  Satze.  Im  letzteren  Falle  reagirt  der  Tropfen  oft  schon 
mehrere  Minuten  lang  sauer,  wenn  die  letzten  Bewegungen  erlöschen. 

Hat  man  die  Samenfilden  in  indifferenten  Flüssigkeiten  durch  Am - 
moniakgas  oder  durch  Zusatz  von  etwas  Kali  oder  Natron  vor- 
siühtig  zur  Ruhe  gebracht,  so  wirken  Säuren  —  auch  Kohlensäure  — 
regelmässig  wiederbelebend.  Und  dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  die  Sa-* 
menfäden  in  sogenannten  indifferenten  Lösungen  v^von  selbst« 
zur  Ruhe  gekommen  sind.  Es  scheint  hierbei  gtoiohgUHtg,  ob  der  StlH- 

Bd.  IV.  3.  19 


450  Tb.  W.  E«glüiiMiiit 

stand  einer  etwas  zu  gerin^n,  oder  einer  etwas  zu  starken  Goncentra- 
tion  der  angeblich  indifferenten  Flüssigkeit  sein  Entstehen  verdankte. 
Bei  fortgesetzter  Säurezufuhr  tritt  bald  Stillstand  ein. 

Dieser  Säurestillstand  kann  in  allen  Fällen  durch  Alkalien  auf- 
gehoben werden.  Auch  hier  empfiehlt  sich  zu  schneller  Beobachtung 
die  Anwendung  des  Ammoniak  in  Gasform.  —  Bei  dem  Kohlensäure- 
Stillstande  genügt  in  den  meisten  Fällen  ein  blosser  Luftstrom  und  — 
wenn  die  Zellen  nicht  etwa  schon  seit  längerer  Zeit  in  einer  sauerstoj^ 
freien  Atmosphäre  verweilt  hatten  —  auch  ein  Strom  von  Wasserstoff 
oder  eines  anderen  indifferenten  Gases,  um  die  Bewegungen  wieder 
erstehen  zu  lassen. 

Niemals  sah  ich,  dass  Samenfäden  sich  bei  Säurezufuhr  wieder 
bewegt  hätten,  wenn  sie  so  stark  durch  Aether  oder  Chloroform- 
dämpfe in  indifferenten  Flüssigkeiten  betäubt  waren,  dass  Luft  allein 
sie  nicht  wieder  erweckte. 

Dass  man  einen  Säurestiilstand  nicht  durch  eine  andere  Säure  auf- 
heben könne,  war  vorauszusehen.  Ebenso  traf  die  Erwartung  ein,  dass 
siph  die  Angabe  von  Kölliker,  nach  welcher  saure  Salze  im  Allgemei- 
nen ebenso  wie  Säuren  wirken,  bestätigen  würde. 

IV.    Einfluss  von  Alkalien. 

Der  Einfluss,  den  Alkalien  auf  die  Spermabewegung  ausüben,  ist 
Je  nach  den  Bedingungen,  unter  denen  sich  die  Samenfäden  befinden, 
ein  verschiedener,  und  hängt  auch  von  dem  Grade  der  Reifheit  der 
Samenkörperchen  ab.  In  den  meisten  Fällen,  wo  reife  Samenfäden  in 
»indifferenten  Flüssigkeiten«  ihre  Bewegungen  »von  selbst« 
eingestellt  haben,  ist  der  erste  Erfolg  des  Alkalizulritts  Wiedererwa- 
chen der  Bewegung.  Es  sind  diess  diejenigen  Fälle,  wo  die  angeblich 
indifferente  Flüssigkeit  ein  wenig  zu  concentrirt  ist.  Dasselbe  gilt, 
wenn  die  Bewegung  durch  Zusatz  concentrirterer  Kochsalz- 
lösungen (0,5  bis  1%)  künstlich  gehemmt  ward.  Sind  die  Samen- 
faden nicht  reif,  —  obschon  morphologisch  von  reifen  Fäden  nicht 
zu  unterscheiden  — ,  dann  pflegen  Alkalien  (Ammoniak,  Kali,  Natron) 
unter  den  angegebenen  Umständen  nicht  erregend  zu  wirken,  während 
doch  im  gleichen  Falle  Säuren,  Wasser,  Aether,  Wärme  die  Bewegun- 
gen in's  Leben  zu  rufen  vermögen.  In  wie  schwacher  oder  starker 
Dosis  man  auch  das  Alkali  anwenden  möge:  die  Fäden  bleiben  still 
und  quellen  endlich  bis  zur  Unkenntlichkeit  auf. 

Sind  Samenfäden  durch  Wassereinwirkung  (wozu  auch  die  Wir- 
kung allzu  verdünnter  Salzlösungen  gehört)^  zur  Ruhe  gebracht  worden. 


Ueber  dle^FlInnerbewegn  Dg.  451 


dann  vtersagen  die  Alkalien  ausnahmslos  ihren  belebenden  Einfluss. 
Es  wurde  oben  schon  erwähnt ,  dass  i.  B.  Amnioniakdämpfe  den  Ein- 
tritt des  Wasserstillstandes  stark  beschleunigen.  Dasselbe  gilt  von'  Kali 
und  Natron. 

Belebend  wirken  dagegen  die  Alkalien  in  der  ersten  Zeit  des 
Wasserstoffstillstandes,  wenn  bei  demselben  die  Samenfäden 
in  möglichst  indifferenter  (jedenfalls  in  nicht  zu  verdünnter)  Flüssig- 
keit lagen.  Selbstverständlich  war  Sauerstoffzutritt  ausgeschlossen. 
Die  betreffenden  Versuche  wuinlen  in  derselben  Weise  wie  mit  den 
Flimmerzellen  angestellt. 

Als  specifisches  Belebungsmittel  erweisen  sich  die  Alkalien  beim 
Säurestillstand,  und  umgekehrt  heben  die  Säuren,  wie  bereits 
erwähnt,  den  Alkalistillstand  auf.  Man  kann  diess  bei  abwechselnder 
Behandlung  mit  Essig-  oder  Salzsäure  einerseits  und  Ammoniakdäm- 
pfen andererseits  an  demselben  Präparat  leicht  mehrmals  nacheinander 
constatiren.  Am  besten  ist  es,  wenn  sich  die  Fäden  bei  Beginn  des 
Versuchs  in  möglichst  indifferenten  Flüssigkeiten  befinden,  und  nöthig 
ist  es,  dass  man  mit  möglichst  geringen  Mengen  von  Säure  und  Alkali 
experimentirt. 

Stillstand  durch  Aether,  Alkohol  oder  Chloroform  wird, 
wenn  Luft  allein  zur  Wiederbelebung  nicht  mehr  ausreicht,  auch  durch 
Ammoniak  nicht  beseitigt.  Und  ebensowenig  wird  ein  Alkalistillstand 
durch  ein  anderes  Alkali  aufgehoben.  — 

Basische  Salze  der  Alkalien,  vor  Allem  die  kohlensauren,  wirken 
unter  denselben  Bedingungen  wie  die  kaustischen  Alkalien  günstig  oder 
ungünstig  auf  die  Spermabewegung,  doch  ist  ihre  Wirkung,  wie  schon 
KöLLiKRR  hervorhebt,  im  Allgemeinen  weniger  stark. 

V.   Einfluss  von  Wasserstoff  und  Sauerstoff. 

Die  Bewegungen  der  Samenfäden  können  sich  in  einer  Atmosphäre 
von  reinem  Wasserstoff  mehrere  Stunden  erhalten,  —  vorausge- 
setzt, dass  die  Concentration  und  Reaction  der  Unt^rsuehungsflüssig- 
keit  die  für  die  Erhaltung  der  Bewegungen  günstigsten  sind.  Die 
Samenbewegung  bedarf  also  zu  ihrem  Zustandekommen 
nicht  des  Sauerstoffes  der  Umgebung.  — 

Der  Stillstand  der  Fäden  in  Wasserstoff  tritt  ganz  allmählich 
ein  und  nicht  bei  allen  gleich  schnell.  —  Wie  bei  den  Plimmerzellen 
genügt  dann  Zutritt  von  Sauerstoff  zur  Wiederbelebung.  Nur 
in  den  Fällen,  wo  die  Fäden  in  etwas  zu  concentrirten,  in  zu  stark  al- 
kalischen oder  sauren  Flüssigkeiten  lagen,   reicht  begreiflicherweise 

s«* 


452  .  Tk  W.  iil^fcuiii, 

Sauerst4)ff  allein  zur  Wiederbelebung  aus  dem  WasseretofeiiUstande 
nicht  immer  aus  und  es  bedarf  dann,  je  nach  den  Umstanden,  noch  des 
Zusatzes  von  Wasser,  Säure  oder  Alkali.  —  Auf  der  anderen  Seile 
reicht,  wenn  die  Samenfäden  nicht  in  nvttglichst  indifferenter  Flüssig- 
keit lagen,  in  der  ersten  Zeit  des  Wassersto&tillstandes  Wasser  (resp. 
Säuren  oder  Alkalien),  ohne  Sauerstoffzutritt,  zur  Wiederbelebung  hin. 
Bei  längerem  Durchleiteu  von  Wasserstoff  tritt  dann  aber  Stillstand 
ein,  der  ohne  Sauerstoffzufubr  nicht  mehr  zu  heben  ist. 

Auch  kohJensäurefreies,  gereinigtes  Leuchtgas  wirkt  wie  Wasser-*' 
Stoff  auf  die  Samenbewegung. 

Ein  Strom  reinen  Sauerstoffes  beschleunigt  die  Bewegung 
in  den  meisten  Fällen ,  wo  sie  in  Verlangsamung  begriffen  ist,  merk- 
lich. — 

Da  sich  in  allen  Puncten ,  welche  das  Verhalten  gegen  Sauerstoff 
und  Wasserstoff  betreffen,  die  Spermabewegung  vollkommen  an  die 
Flimmerbewegung  anschliesst,  verweisen  wir  einfach  auf  das  früher 
Gesagte.  Die  Versuche  wurden  in  derselben  Weise  wie  mit  den  Flim- 
mer/ellen  angestellt.  — 

VI.    Einfluss  von  Aether  und  Alkohol. 

Die  wenigen  Mittheilungen,  welche  über  den  Einfluss  von  Aether 
und  Alkohol  vorliegen^),  gedenken  nur  der  schädlichen  Wirkungen, 
den  diese  Stoffe  ausüben.  Es  fragte  sich,  ob  nicht  aucli  hier  der  läh- 
menden Wirkung  ein  Stadium  der  Beschleunigung  vorausginge,  wie 
wir  es  bei  den  Flimmerzellen  gefunden  hatten.  In  der  That  zeigte  sich 
in  diesem  Puncto,  wie  folgende  Versuche  beweisen,  wieder  die  wün- 
schenswertheste  Uebereinstimmung  zwischen  Flimmer-  und  Samen- 
bewegung. 

Samenfäden  wurden  aus  dem  Hoden  des  Frosches  in  einen  Tropfen 
Kochsalzlösung  von  solcher  Concentration  (etwa  0,3%)  gedrückt, 
dass  sie  langsame  Bewegungen  machten.  Als  nun  Aetherdämpfe 
über  das  Präparat  strichen ,  begann  die  Bewegung  nach  wenigen  Se- 
cunden  bei  allen  Fäden  an  Frequenz  und  Grösse  bedeutend  zuzuneh- 
men. Diess  Stadium  der  Beschleunigung  hielt  je  nach  der  Mengender 
zugeführten  Aetherdämpfe  verschieden  lange,  zuweilen  mehrere  Minu- 
ten lang  an.  Hierauf  folgte  bei  weiterer  Aetherzufuhr  Stillstand, 
welcher,  wenn  er  nur  kurze  Zeit  unterhalten  und  sehr  vorsichtig  her- 
beigeführt war,  sehr  leicht  durch  einen  Strom  atmosphärischer 

1)  KöLLiKBH,  a.  a.  0.  pag.  248.  —  AtfifiRMAmr  in  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  VIU. 
p.  488. 


/ 

f 

Ueber  die  FliBMerbewegiiug.  453 

Luft  aufgehoben  wurde  (erster  StartiBgrad) .  —  Bei  längerdauern- 
der oder  vorübergehend  sehr  starker  Einwirkung  von  Aether  trat  Tod 
der  Fäden  (zweiter  Starregrad)  ein :  sie  waren  durch  kein  Mittel  mehr 
zu  beleben. 

Das  Stadium  der  Beschleunigung  durch  Aether  und  —  auf  dieses 
folgend  —  den  ersten  Starregrad  fand  ich  sowol  bei  Fäden,  welche  in 
etwas  zu  ce^cen tri rten,  als  bei  solchen,  die  in  zu  verdünnten 
Satzltfsungen  erlahmt  waren.  Der  Stillstand  in  Wasser  wurde 
durch  Aetherdämpfe  für  kurze  Zeit  aufgehoben. 

Alkohol  wirkte  in  demselben  Sinne  wie  Aether. 


VII.   Einfluss  von  Chloroform. 

Auch  in  der  Wirkungsweise  des  Chloroforms  zeigt  sich  Ueberein- 
Stimmung  zwischen  Flimmer-  und  Samenbewegung.  Chloroform  — 
in  Dampfform  zugeführt  —  lähmt  die  Bewegung  der  Samenfaden  un- 
ter allen  Umständen.  Ein  Stadium  der  Beschleunigung  habe  ich  nie- 
mals beobachtet.  — 

Die  Bewegungen  können  durch  einen  Luftstrom  wieder- 
erweckt werden,  und,  falls  sie  nur  sehr  kurze  Zeit  und  vorsichtig  ein- 
geschläfert worden  waren,  nachher  sogar  die  anfängliche  Höhe  wieder 
erreichen.  Es  gelingt  leicht,  dieselben  Fäden  durch  abwechselndes  Be- 
handeln mit  Chloroform  und  reiner  Luft  mehrmals  hintereinander  ruhig 
und  wieder  ihätig  zu  machen. 

Bei  stärkerer  Einwirkung  tritt  Tod  (zweiter  Starregrad)  ein. 


Vlll.  Einfluss  einiger  Gifte. 

Unter  den  giftigen  Alkaloiden  scheint  kein  einziges  als  Gift  auf 
die  Samenbewegung  zu  wirken.  Diess  darf  mit  Sicherheit  wenigstens 
vom  Curare,  Veratrin,  Strychnin,  Atropin  undCalabar- 
extract  behauptet  werden.  Nur  der  Wassergehalt  und  die  Reaction 
der  Lösung  des  Giftes  bestimmen  den  Erfolg :  sehr  verdtinnte  Lösun- 
gen wirken  wie  Wasser,  alkalische  wie  Alkalien,  saure  Lösungen  wie 
Säuren.  —  Nur  die  Salze  der  schweren  Metalle  äussern  schon  in 
äusserst  kleinen  Mengen  (indifferenteren  Flüssigkeiten  zugesetzt)  eine 
hemmende  Wirkung.  Sie  führen,  wie  es  scheint,  stets  ohne  voraus- 
gegangene Beschleunigung  Verlangsamung  und  Tod  herbei.  Einen 
Stillstand ,  der  dem  ersten  Starregrad  durch  Einwirkung  von  Aether, 
Chloroform,  Wärme  u.  s.  f.  vergleichbar,  also  durch  irgend  eiif  Mittel 


■ 

454  Th.  W.  Ivflgelnuin, 

aufzuheben  wäre ,  konnte  ich  auch  bei  äusserst  vorsichtiger  Anwen- 
dung der  Metailsalze  nicht  hervorrufen. 

IX.   Einfluss  der  Wärme. 

Die  Veränderungen,  welche  die  Bewegung  der  Sainenkörperchen 
unter  dem  Einfluss  von  Tempcraluränderungen  erleidet,  sHid  ganz  die 
nämlichen  wie  die  der  Flimmcrbewegung :  unter  denselben  BedingtaT'^ 
gen,  unter  welchen  Temperaturerhöhung  diese  beschleunigt,  thut  sie 
das  auch  bei  j  e  ner;  bei  gleicher  Temperatur  tritt  bei  beiden  der  erste 
Grad  der  Starre,  bei  gleicher  Temperatur  bei  beiden  der  Tod  ein.  Diese 
Uebereinstimmung  erlaubt  uns,  in  der  Schilderung  unserer  Versuche 
kurz  zu  sein. 

Erwärmt  man  einen  Tropfen  Samenflttssigkeit  vom  Frosch,  wel- 
cher bewegliche  reife  Samcnkörperchen  enthält,  langsam  auf  dem  heiz- 
baren Objecttisch  ^],  so  bemerkt  man  bald  eine  allmählich  wachsende 
Steigerung  in  der  Energie  und  Frequenz  der  Bewegungen.  Die  Bewe- 
gungen erreichen  die  höchste  Lebhaftigkeit,  wenn  die  Temperatur  des 
Tropfens  etwa  35®  C.  erreicht  hat,  bleiben  dann  sehr  energisch  bis 
etwa  40®  und  nehmen,  sobald  dieser  Wärmegrad  erreicht  ist,  sehr 
rasch  bis  zum  völligen  Stillstande  ab.  Im  Aussehen  der  Fäden  ändert 
sich  beim  Eintritt  der  Starre  nichts.  —  Kühlt  man  ab,  so  erwachen  die 
Fäden  wieder,  die  Energie  ihrer  Bewegungen  erreicht  ein  Maximum 
bei  ungefähr  35  ®  und  lässt  bei  weiterem  Sinken  der  Temperatur  wie- 
der nach,  bis  etwa  die  anfängliche  Höhe  wieder  erreicht  ist.  —  Erhitzt 
man  den  Tropfen  weiter  als  auf  40".  so  ist  Wiederbelebung  durch 
blosses  Abkühlen  nur  möglich,  wenn  die  Temperatur  45  ®  nicht  über- 
stieg, oder  nur  kurze  Zeit  hO^  übertraf.  Denn  auch  längeres  Erwär- 
men auf  40®  bis  4i®  führt  den  zweiten  Starregrad  herbei,  um  so 
schneller,  je  höher  die  Temperatur  war. 

Ganz  übereinstimmend  ist  der  Einfluss  der  Temperaturerhöhung 
auf  Samenfäden,  die  in  etwas  zu  concentrirton  Kochsalzlösun- 
gen (0,5  bis  1%)  ihre  Thätigkeit  eingestellt  oder  vermindert  haben: 
allmähliches  Wiedererwachen  und  Zunahme  der  Energie  bis  ungefähr 
35®  C,  dann  erster  Starregrad  bei  40®  und  Tod  bei  etwa  45®. 

Hat  sich  aber  die  Bewegung  durch  Aufenthalt. der  Fäden  in  Was- 
ser oder  äusserst  verdünnten  Kochsalzlösungen  unter  0,5®/o 
verlangsamt,    so  ist  der  erste  Effect  der  Tempcraturzunahme  keine 


1,  Hierbei  soll  das  Präparat  in  der  feuchten  Kammer  schweben  und  mit  einem 
Deckglase  bedeckt  sein. 


lieber  die  Flinmerbewegunj^.     ^  455 

Beschleunigung,  sondern  stärkere  Abnahiü^i  der  Bewegungen,  die  bald 
zum  Stillstand  führt.  —  Ebenso  wirkt  Erwärmung  unmittelbar  hem- 
mend, wenn  die  Bewegung  dupolr Säureeinwirkung  etwa^  abge- 
nommen hatte. 


X.   Einfluss  von  Elektricität. 

Dia  wenigen  Versuche,  welche  ich  über  den  Einfluss  elektrischer 
Reizung  auf  die  Bewegung  der  Samenfaden  des  Frosches  angestellt 
habe,  betreffen  nur  einige  Hauptpuncte.  Sie  bestätigen  auch  für  die 
Samenfäden  das  Gesetz ,  dass  nur  elektrische  Dichtigkeitsschwankun- 
gen, nicht  aber  der  Strom  in  beständiger  Dichte  erregend  wirken.  Die 
Bedingungen,  unter  denen  die  Erregung  sich  als  Beschleunigung 
und  Verstärkung  der  Bewegung  zeigt,  sind  dieselben,  wie  bei  Flim- 
merzellen :  möglichst  indifferente  Flüssigkeit  als  Medium  für  die  Sa- 
menkörper, oder  ein  wenig  zu  concentrirte  Kochsalzlösung.  —  Liegen 
die  Fäden  in  Wasser  oder  allzuverdünnten  Kochsalzlösungen,  so  äus- 
sert sich  die  Erregung  als  Hemmung  der  noch  vorhandenen  Be- 
wegung. 

Die  Erregung  durch  einen  einzelnen  InducUonsschlag  von  genü- 
gender Stärke  äussert  sich  als  eine  erst  zunehmende,  bald  wieder  sin- 
kende Erhöhung  der  rhythmischen  Thätigkeit  des  Fadens,  nicht  als  eine 
einmalige  Schwingung  desselben.  Ebenso  verläuft  die  Erregung  bei 
Schliessung  eines  constanten  Stromes.  Die  Beschleunigung  kann  vor- 
übergehend das  Doppelte  und  Dreifache  der  ursprünglichen  Frequenz 
betragen.'  Zugleich  werden  die  Excursionen  grösser.  —  Die  Erregung 
wird  grösser  und  hält  länger  an,  wenn  eine  grössere  Anzahl  elektri- 
scher Reize  in  rascher  Aufeinanderfolge  die  Samenfäden  trifft. 

Alle  hierauf  bezüglichen  Versuche  wurden  in  der  Gaskammer  mit 
unpolarisirbaren  Elektroden  angestellt.  Wir  verweisen  desshalb  für 
Einzelheiten  der  Methode  auf  das,  was  oben  bei  der  Flimmerbewegung 
gesagt  ist.  — 


456  ^^  Tb»  W.  EngfhBMitt, 


ScIihisshetrachtunKeii. 

Aus  der  vorstehenden  ünlersuchung  ergiebl  sich,  welches  dir 
äusseren  Bedingungen  sind,  unlcr  welchen  die  Bewegung  der  Flimmer- 
haare  und  Samenfclden  /.u  Stande  kommen  und  sich  erhallen  kann, 
lind  welche  Aenderungen  die  Bewegung  bei  Aenderung  dieser  äusseren 
Bedingungen  erleidet.  Es  fragt  sich ,  in  wie  weit  die  erhaltenen  Re- 
sultate, im  Verband  mit  den  tibrigen  bekannten  Thatsachen,  einen 
Einblick  in  das  Wesen  der  Flimmerbewegung  erlauben ,  ob  sie  uns 
Schlüsse  gestatten  auf  die  Art  der  Vorgange,  welche  der  Wimper- 
bewegung tu  Grunde  liegen. 

Zur  Beantwortung  dieser  Frage  uird  es  von  Vortheil  sein,  erst 
einen  kurzen  Blick  auf  die  Entwickclung,  den  Bau  und  die  chemische 
Zusammensetzung  der  Flimmerapparate  zu  werfen  und  zu  untersuchen, 
welche  Uebereinstimmung  in  Rtlcksicht  auf  diese  Puncto  zwischen  den 
verschiedenen  Wimperorganen  besieht. 

.Alle  Flimmerwerkzeuge,  Cilien  wie  undulircnde 
Membranen,  entwickeln  sich,  wie  es  scheint,  direct  aus 
Protoplasma.  Zwei  Fülle  kann  man  hier  unterscheiden:  in  dem 
einen  bildet  sich  einTheil  der  oberflächlichsten  Lage,  der  Rindenschichl, 
des  Protoplasma  zum  Flimmerapparat  um;  in  dem  andern  differenziren 
sich  mehr  nach  innen  gelegene  Partien  des  Protoplasma  zum  Wimper- 
organ. Der  letztere  Fall  scheint  bei  Entwickelung  der  Samenfaden 
verwirklicht.  ^)  Ja  hier  wird  vielleicht,  nach  ScnwEiGGSR-SEmEL '^j  und 
V.  LA  Valette  St.  George,  •')  häufig  das  ganze  Protoplasma  der  Mutter- 
zellc  zur  Bildung  des  schwingenden  Fadens  verbraucht.  Der  erslere 
Fall  ist  der  gewöhnliche  und  lässt  sich  besonders  bei  Infusorien  leicht 


4)  Nur  KöLLiKER  hiill  nocii  an  seiner  früheivn  Anguho  fcsl,  dass  dio  Samen- 
äden  nur  aus  dem  Kern  der  Samenzelle  sich  entwickeln.  S.  Kolliker,  (jewebc- 
lehre.  5.  Anfl.  p.  530. 

2)  F.  Schweicger-Skidel,  Deber  die  Sanienkoqierelien  und  ihre  füntwickolnn^. 
Arch.  f.  mikr.  Anat.  I.  4865.  p.  809  Hg. 

3)  V.  LA  Valette  St.  George  ,  (Jeher  die  Genese  der  Saoienkörper.  .Archiv  Tür 
mikr.  Anat.  I.  4865.  u.  111.  4867. 


/ 


f 

lieber  die  Fllimerbewe^ing.    ^^  .457 

verfolgen.  Bei  Fiimmerepilhelzenen  ist  dfer  Vorgang  der  Wimper- 
hiMung  aus  dem  Protoplasma  noch  nicht  näher  ermittelt,  erfolgt  aber 
höchst  wahrscheinlich  in  derselbea'>Wetse  wie  auf  der  Körperobertittche 
der  Infusorien.  ^) 

Der  Process  beginnt  hier  mit  der  Bildung  einer  wulstartig  hervor- 
ragenden, glashellen  4-  homogenen  Verdickung  der  Rindenschicht  des 
Leibes.  Gleich  von  Anfang  an  zeigt  dieser  Wulst  undulirende  Be- 
we^lttogen.  Die  unmittelbar  unter  dem  neuentstehenden  Wulst  ge- 
legene Partie  des  Körperprotoplasma  behalt  dabei  ganz  das  gewöhnliche 
Ansehen  und  lässt  durchaus  keine  Bewegungen  erkennen.  Sie  unter- 
scheidet sich  nicht  merkbar  von  den  benachbarten  Stellen  der  Körper- 
rinde. Je  nachdem  sich  min  aus  dem  primitiven  Wulst  eine  einzelne 
Wimper  oder  mehrere  entwickeln  sollen,  ist  die  Form  und  Weiter- 
entwickelung des  Wulstes  verschieden.  Dient  er  nur  jEur  Bildung  einer 
einzigen  Wimperg  so  erhält  er  bald  Kegelform  und  streckt  sich  unter 
rhythmischen,  meist  in  un  regeln  lässigen,  kurzen  Perioden  wieder- 
kehrenden Bewegungen  allmählich  zur  Wimper  aus.  Sollen  sich  aber 
aus  dem  Wulst  eine  Reihe  von  Wimpern  entwickeln ,  so  hat  derselbe 
von  Anfang  an  eine  langgestreckte,  leistenartige  Form.  Diese  Leiste 
wird  bei  weiterem  Wachsen  höher  und  höher  und  ist  bald  zur  undu- 
lirenden  Membran  ausgebildet.  Diese  Membran  spaltet  sich  dann, 
wenn  sie  eine  gewisse  Grösse  erreicht  hat,  allmählich  in  einzelne 
parallele  Stücke,  die  durch  weitere  Spaltung  in  einaielne  Wimpern  sich 
zerkltlften.  Die  Zerklüftung  kann  vollkommen  oder  unvollkommen 
sein.  ^)  —  Die  Neubildung  bleibender  undulirenden  Membranen  erfolgt 
ganz  in  derselben  Weise  aus  der  Hautschicht  des  Protoplasma,  nur 
kommt  es  nicht  zur  Spaltung  in  einzelne  Cilien.  ^j 

Als  Verlängerungen  oder  Auswüchse  echter  präformirtcr  Zell- 
membranen scheinen  Wimpern  niemals  zu  entstehen.  Früher,  als  noch 
jedem  Protoplasmakörpcr  eine  umhüllende,  nach  innen  scharf  abge- 
grenzte Membran  zugeschrieben  ward ,   nahm  man  das  allgemein  an. 


4)  Die  obortläcblichHie  Schlctit  des  Infusorieiikörpers  ist  ebeafalU  nur  als  Bin- 
denschicbt  des  Protoplasma  aufzufassen.  Nur  ausnahmsweise  kommt  es  zu  wirk- 
licher Memkyranbiklung ;  dann  fehlen  aber  Wini|)eni. 

9)  Der  ganze  hier  erwähnte  Vorgang  lässt  sich  mit  wünschcnswerthesler  Deut- 
lichkeit bei  VoriioeJIen  lieobachten,  die  in  Theilung  begriffen  sind,  und  noch  besser 
bei  grossen  Arien  von  Epistylis  (E.  plicatilis  z.  B.)  und  Opercularin,  die,  im  BegrifT 
sich  von  ihrem  Stiel  zu  lösen,  Leinen  hinteren  Wimperkraiiz  bilden.  Sehr  günstig 
Objecto  sind  auch  sich  theilendc  Slylonychien  und  Oxytrichen. 

a)  Die  EntWickelung  bleibender  undultrender  Membranen  ist  bei  allen  Ow- 
trichiDen  wttbrend  des  TheiUingsactes  leicht  zu  beobachten. 


458  ^  ,  Tb.  W.  fiiigekaaun, 

Jetzt  fehlt  uns  zu  einer  solchen  Annahme  jeder  Grund ;  denn  noch  ist 
für  keine  Flinimei*zelle  die  Aiiwesenheit  einer  solchen  Membran  er- 
wiesen  oder  ist  es  nur  wahrscheiAlidh  gemacht,  dass  die  oberfläch- 
lichste Schicht  jeder  Flimmerzelle  etwas  anderes  als  Protoplasma  sei. 

In  einzelnen  Fällen  zeigt  das  Protoplasma  selbst,  noch  bevor  sich 
die  Wimpern  aus  ihm  entwickeln,  spontane  Beweglichkeit,  so  die 
Muttorzellen  der  Samenfäden  vieler  Wirbelthiere  nach  r.  la  Valettb 
St.  George,  ij  Wir  legen  hierauf  jedoch  kein  grosses  Gewichte,  d»  ««is, 
unter  anderm  durch  Beobachtungen  an  Infusorien,  ausgemacht  ist, 
dass  auch  aus  bewegungslosem  und  bewegungslos  bleibendem  Proto- 
plasma direct  bewegliche  Gilien  sich  hervorbilden  köfinen. 

Wie  in  der  Entwickclung ,  so  zeigt  sich,  so  viel  man  bei  dem 
mangelhaften  Stand  unserer  jetzigen  Kenntnisse  sehen  kann,  auch  im 
Bau  der  verschiedenen  Flimmerorgane  manche  wichtige  Ueberein— 
Stimmung.  Von  der  Form  l^sst  sich  das  freilich  ^nicht  sagen:  wir 
finden  dünne  cylindrische,  dicke  kegelförmige  Wimpern ,  breite  un- 
dulirende  Membranen  und  alle  möglichen  Zwischen  formen.  ^)  Das 
Zustandekommen  der  Flimmerbewegung  überhaupt  ist  also  an  eine 
bestimmte  Form  nicht  gebunden.  Nur  für  den  speciellen  Charakter  der 
Bewegung  scheint  die  Form  des  Wimperorgans  von  einiger  Bedeutung 
zu  sein.  —  Sehr  übereinstimmend  sind  die  optischen  Eigen- 
schaften der  Flimmerhaare ,  Samenfäden^)  und  undulirenden  Mem- 
branen. Alle  bestehen  aus  einer  durchsichtigen ,  ziemlich  stark  licht- 
brechenden, farblosen  Substanz,  welche  vollkommen  homogen  erscheint, 
weder  Körnchen  noch  Vacuolen  enthält,  ^j  Ihr  Verhallen  gegen  den 
polarisirten  Lichtstrahl  ist  noch  nicht  näher  untersucht.   Nach  Andeu- 


i)  V.  LA  Valette  St.  George,  Ueber  die  Genese  der  Samenkörper.  Archiv  für 
mikr.  Anat.  I.  4865.  p.  403  flg. 

3)  Alle  diese  verschiedenen  Formen  von  Flin\merorganen  findet  man  bei  man- 
chen Infusorien,  z.  B.  auf  jedem  Exemplar  einer  Stylonychiai  beisammen. 

8)  Wir  verstehen  hier  unter  Samenfäden  nur  den  der  Cilie  entsprechenden, 
activ  beweglichen  Theil  des  Samenkörperchens ,  das  Schwanzstück. 

4)  Nach  A.  Stuart  lassen  sich  Indess  an  den  Wimpern  des  Cirrhenvelums  von 
Opisthobranchiem  mit  Hilfe  starker  Vergrösserungen  und  bei  sehr  günstiger  Bc- 
leuchtung  Längsreihen  »länglicher,  viereckiger,  abgerundeter,  in  ein  schwach  licht- 
brechendes, leicht  körniges  Protoplasma  eingebetteter  Muskeltheilchen«  erkennen. 
Vgl.  Zeitschr.  f.  wiss.  Zool.  Bd.  XV.  4865.  p.  99.  —  Auch  Hbivsev  (Ibid.  p.  %%i) 
glaubt  an  den  pigmentirten  Epithelzellen  der  Augen  einiger  Lamellibranchiaten 
(Pecten  Jacobaeus  und  Area)  Flimmerhaare  gesehen  zu  haben,  an  welchen  »die  von 
Stuart  beschriebenen  rechteckigen  Muskelelemento  auffallend  klar«  waren,  le^l 
jedoch  kein  Gewicht  darauf,  weil  seine  Präparate  in  chromsaurcm  Kali  erhärtet 
waren.  —  Ich  habe  bei  keiner  Art  Wimpern,  auch  nicht  an  den  grOssten  Gilien  von 


Ueber  die  Flimnerbewegnug.      r  459 

langen  von  Valsntüv  i)  soheinl  indess  den  SdnienfMden  die  Eigenschaft 
der  Doppelbrechung  zuzukommen.  An  den  Flimmerhaaren  des  Mund- 
höhlenepithels vom  Frosch  glück to-es  mir  nicht,  etwas  A<;hnlicbes  zu 
finden.  Vielleicht  geben  die  dicken  und  grossen  Flimmerhaare  mancher 
Infusorien  bessere  Resultate. 

Alle  Wimperorgane,  insbesondere  die  der  Samenföden,  besitzen, 
soviel  die  mikroskopische  Beobachtung  lehrt,  im  normalen  Zustand 
eiiMTwemliche  Festigkeit  und  eine  —  natürlich  nur  innerhalb  sehr 
enger  Grenzen  —  vollkommene  Elasticitdt.  Ruhende  Wimpern 
lassen  sich  leicht  ohne  merkliche  FormverHnderung  weit  umbeugen, 
kehren  abßr  sich  selbst  überlassen,  schnell  in  die  anfängliche  Lage 
zurück.  Gewaltsam  plattgedrückte  Wimpern  nehmen  nach  Aufhören 
des  Drucks  sehr  rasch  wieder  die  normale  Form  an. 

Viele  Wimpern  zeigen  eine  sehr  ausgesprochene  Spaltbarkeit^) 
in  de&Längsrichtimg.  Man  beobachtet  dies  z.  B.  an  den  grossen,  mit 
breiter  ^Basis  aufsitzenden  Flimmerhaaren  des  Riemenepithels  von 
Bivalven ,  noch  häufiger  und  besser  aber  bei  Gilien  vieler  Infusorien.  ^) 


Infusorien  (Stylonychia  mylilus,  Onychodromus  grandis),  etwas  Aehnliches  wahr- 
nehmen können.  Zur  Controle  der  STUAnr'schen  Angaben  fehlt  mir  leider 'das 
Material. 

1)  Valektin,  Uutersucimng  der  Pflanzen-  und  Thiergewebe  in  polarisirlem 
Lichte.   4864.  p.  805. 

i)  Die  Hautschicht  des  Protoplasma's  gewisser  Myxomyceten  zeigt  zuweilen 
dieselbe  Eigenschaft.  Ich  sah  dies  namentlich  einmal  an  einem  im  Einziehen  be- 
griffenen Ast  eines  Plasmodium  von  Aethalium  septicum.  Hier  war  die  dicke, 
körnerlose  Hautschicht  von  äusserst  zahlreichen,  zur  Oberfläche  senkrecht  sehen- 
den Streifen  und  feinen  Spalten  durchsetzt,  welche  fast  das  Aussehen  eines  starren 
Flimmersaumes  hervorbrachten.  Einen  ganz  ähnlichen  Fall  beschreibt  HoFMBisTia 
(Lehre  von  der  Pflanzcnzelle.  4  867.  p.  24  u.  Fig.  8).  Auch  in  dem  von  mir  be- 
obachteten Falle  floss  nach  einiger  Zeit  (ungeftihr  einer  Viertelstunde)  die  Haut- 
schicht unter  *Versch winden  der  Streifung  und  Spaltung  mit  dem  übrigen  Proto- 
plasma wieder  zusammen.  —  Ohne  Zweifel  gehören  hierher  auch  die  Fälle  von 
Spallbarkeiti  welche  man  an  gewissen,  wahrscheinlich  nur  durch  eine  bleibende 
Umformung  der  Hautschicht  des  Protoplasma  entstehenden  Gebilden  beobachtet. 
Wir  erinnern  hier  an  die  porösen  Deckelsäume  der  Epithelzellen  des  Darrocanals. 
Nirgends  sind  diese  Säume  so  colossal  ausgebildet  und  die  Neigung  zur  flbrillären 
Spaltung  so  gross,  als  bei  den  Darmepithelzellen  der  Arthropoden.  (Vergl.  auch 
Letdig,  Lehrb.  der  Histologie.  1857.  p.  382  u.  Fig.  477  und  p.  835,  Fig.  484).  Bei 
den  Fliegen  z.  B.  erhält  man  oft  vollkommen  das  Bild  einer  mit  grossen  ruhenden 
Flimmerhaaren  besetzten  Zelle.  Auch  in  vielen  anderen  physikalischen  und  chemi- 
schen Eigenschaften  scheint  die  Substanz,  aus  der  diese  Säume  bestehen ,  mit  der 
Ciliensubstanz  übereinzustimmen. 

8)  Auch  für  die  Untersuchung  dieser  Verhältnisse  sind  die  mit  mächtigen 
Wimpern  ausgestatteten  Oxytrichinen,  namentlich  die  geroeine  Gattung  Stylonychia, 
femer  die  Euplotinen  zu  empfehlen. 


460  \  Th.  W.  «iigelmanii, 

Die  Spaltung  lasst  sich  hier  leicht  durch  äussere  Eingriffe,  besonders 
Druck,  Quetschung,  hervorrufen,  findet  steh  zuweilen  aber  auci)  ohne 
nachweisbare  Veranlassung.  Oft  beiriSt  die  Spaltung  nur  die  Spitze 
der  Wimper ,  welche  dann  gleichsam  in  ein  feines  Haarbüschel  zer- 
fasert ersöheint;  oft  spaltet  sich  das  Haar  in  seiner  ganzen  Liinge,  von 
der  Spitze  bis  zur  Basis,  in  zwei,  drei  oder  viele  Stttcke,  die  häufig 
ungleichen  Dickendurchmesser  haben.  Oft  auch  zeigt' «ich  nur  eine 
Streifung,  ohne  dass  es  zur  wirklichen  Spaltung  käme.  Das-ihirch 
Spaltung  zerfallene  Flimmerhaar  bleibt  activ  beweglich.  Bei  Infusorien- 
Wimpern  pflegt  sich  sogar  jede  einzelne  abgespaltene  Fibrille  für  sich 
bewegen.  Es  kommt  nicht  selten  vor,  dass  ein  gespaltenes  Flimmer— 
hc'tar  durch  Vereinigung  der  einzelnen  Fibrillen  wieder  zu  einem  Ganzen 
wird  und  als  solches  fortarbeitet. 

Eine  ganz  allgemeine  und  für  das  Zustandekommen  der  Flimmer- 
bevvegung  höchst  bedeutungsvolle  Eigenschaft  der  <]iliensubstanz  ist 
ihre  Quell ungsfühigkeit.  Alle  Flimmerorgane  imbibiren  leicht 
unter  Volumzunahme  Flüssigkeit  und  geben  leicht  unter  Volumvermin— 
derung  Flüssigkeit  ab.  Die  Fithigkeit,  sich  mit  Wasser  zu  imbibiren, 
zeigt  sich  im  auffallendsten  Maassc  bei  allen  den  Flimmerhaaren ,  die 
während  des  Lebens  von  stärker  concentrirten  Salzlösungen  bespült 
werden ,  vor  allem  also  an  den  Flimmerapparaten  der  Seethiere.  Diese 
werden  bei  Zutritt  von  reinem  Wasser  blitzschnell  zerstört ,  indem  sie 
zu  einer  schleimigen,  durchsichtigen  Masse  aufquellen.  Bei  den 
Flimmerhaaren  der  Wirhelthiorschleimhäute  erfolgt  die  Wasserauf- 
nähme  etwas  weniger  rapid.  Bringt  man  sie  in  reines  Wasser,  so  sieht 
man  sie  blasser  und  dicker  werden.  Stehen  sie  sehr  dicht  auf  einer 
Zelle  zusammen  ,  so  kann  es  geschehen ,  dass  sie  durch  Queilung  bis 
zur  gegenseitigen  Berührung  aufschw^ellen  und  dann  mit  einander  zu 
einer  dicken  Masse  verkleben.  Bis  zur  vollkommenen  Zerstörung  durch 
Quellung  im  Wasser  scheint  es  jedoch  bei  diesen  Wimpern  nicht  zu 
kommen.  Eben  so  verhalten  sich  die  Samenfäden.  Besonders  die  der 
Amphibien  und  Fische  quellen  im  Wasser  ansehnlich  auf.  Die  wahrend 
des  Lebens  von  süssem  Wasser  bespülten  Wimpern  zeigen  dagegen  in 
deslillirlem  Wasser  keine  merkliche  auf  Quellung  deutende  Ver- 
änderung. 

Stärker  quellend  als  reines  Wasser  wirken  kaustische  Alkalien, 
selbst  in  starker  Coneenlration :  am  meisten  Kali,  am  wenigsten  Am- 
moniak. Neutrale  Salzlösungen  besitzen  einen,  für  jedes  Salz  ver- 
schiedenen Concenfralionsgrad ,  bei  weichem  keine  Quellung  oder 
Schrumpfung  eintritt.  Steigerung  des  Salzgehaltes  wirkt  schrumpfend; 
Steigerung  des  Wassergehaltes  der  Lösung  wirkt  quellend,  die  Queilung 


r 

lieber  iSm  Plinmeriiewei^ang.       f  461 

ist  um  so  st^lrker,  \^  gröfi^scr  der  Wassergeh^.  In  alkalisch  reagiren- 
den  Salzlösungen  pflegen  die  Zellen  rascher  zu  quellen  als  in  neutralen. 
Stärker  concentrirte  Lösungen  neutraler  Salze,  die  für  sich  schrumpfend 
auf  die  Oilien  wirken,  oder  doch  keine  Queliung  hervorbringen,  können, 
gemischt  mit  reinem  Alkali  (ohne  Wasser),  stark  quellend  wirken. 
Durch  Zusatz  von  Spuren  kann  das  Quellungsverhültniss  solcher  Salz- 
lösungen in  den  meisten  Fällen  nicht  gesteigert  werden.  Nur  bei  den 
Samenffideu' von  Amphibien  und  Fischen  ist  durch  Köllikbr  das  Gegen- 
theil  erwiesen.  Ich  kann  dies  für  den  Frosch  bestätigen.  Bei  den 
Haaren  von  Flimmerepithelzellen  habe  ich  niemals  deutliche  Quellung 
in  Folge  von  Säurezutritt  beobachtet,  wohl  aber  deutliche  Schrumpfung, 
die  bei  Neutralisation  mit  Alkali  wieder  verschwindet.  Es  scheint 
ferner,  dass  zur  Erhaltung  des  normalen  Quellungszustandes  Sauerstoff 
nöthig  ist.  Wenigstens  können  wir  uns  nur  unter  dieser  Voraussetzung 
erklären ,  warum  Zellen ,  die  in  möglichst  indifferenten  Flüssigkeiten 
lagen,  in  so  vielen  von  uns  beobachteten  Fällen  schneller  schrumpften, 
wenn  sie  in^eine  Wasserstoffatmosphäre  gebracht,  als  wenn  sie  in 
Luft  bewahrt  waren. 

Erwärmung,  unterhalb  40®G.,  erhöht  die  Imbibitionsgeschwindig- 
keit.  Flimmerbaare  der  Rachenschleimhaut  vom  Frosch  quellen  z.  B. 
in  Wasser  von  30®  C.  viel  rascher  als  in  Wasser  von  15<^  C. ;  ebenso 
rascher  in  wannen  Salzlösungen  von  grossem  Wassergehalt,  als  in 
kalten.  Geradoso  verhalten  sich  auch  Samenfiiden  vom  Frosch.  — 
Aehnlich  wie  Wärme  wirken  starke  elektrische  Stromschwankungen 
erhöhend  auf  die  Imbibitionsgesoh windigkeit.  Dies  kann  man  z.  B.  an 
Flimmerhaaren  vom  Frosch,  die  in  Wasser  zu  quellen  begonnen  haben, 
deutlich  beobachten. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  an  den  Cilien  und  Samen- 
faden beobachteten  Quellungserscheinungen  zum  grossen  TheH  einem 
(iehalt  derselben  an  Protagon  zuzuschreiben  sind,  das  wenigstens  in 
den  Samenfäden  nachgewiesen  ist.  Schon  Köllikbe  hat  diese  Ver- 
muthung  geäussert.  Die  Unterschiede  der  verschiedenen  CiKenarten  in 
Bezug  auf  Quellungsfähigkeit  würden  dann  auf  einen  verschiedenen 
Protagongehalt  derselben  weisen. 

Von  wie  grosser  Bedeutung  die  Imbibitionsfähigkoit  der  Gilien- 
subslanz  für  das  Flimmerphänomen  sei ,  davon  haben  unsere  Unter- 
suchungen, wie  für  die  SamenfeUlen  besonders  Kölliker's  Arbeiten  die 
zahlreichsten  Beispiele  geliefert.  In  dem  Quellungszustand,  in  dem  die 
Gitic  sich  befindet,  liegen  die  wichtigsten  mechanisclien  Bediogjungen, 
von  denen  das  Zustandekommen  der  Bewegung  abhängt  Ein  grosser 
Tbeil  der  Aenderungen ,   welche  die  Flimmerbewegung  durch  äussere 


462  >  '^'  ^'  GoS^iHBo, 

Agenlien  erleidet,  berabi  im  Wesentlichen  auf  den  Veränderungen  des 
Imbibitionszustandes  der  Cilien.  Unter  normalen  Lebensbedingungen 
befindet  sich  jede  Cilie  und  Zelle  in  einem  mittleren  Grade  der 
Quellung ,  der  von  der  QucUungsßfhigkeit  ihrer  Beslandtbeile  und  dem 
Quellungsverhältniss  der  umgebenden  Lösung  bestimmt  wird.  So 
lange  dieser  Zustand  bestehen  bleibt,  findet  die  Bewegung  ungeslörl 
statt.  Bei  den  Flimmerzellen  geht  die  Bewegung  in  diesem  Zustande 
in  regelmässigen  Perioden  und  regelmässigem  Rhythmus  fort  und  die 
Excursionen  behalten  gleiche  Grösse.  Jeder  Aenderung  dieses  mflUi^n 
Quellungszustandes  entspricht  aber  eine  Aenderung  der  Bewegung. 
Schon  im  lebenden  Körper  finden  häufig,  mit  Aenderung  des  die  Zellen 
bespülenden  Mediums,  solche  Aenderungen  statt;  alle  sind  von  Aende- 
rungen  der  Bewegung  begleitet.  Sinkt  der  Flüssigkeitsgehalt  der  Gilic 
durch  Schrumpfung  unter  die  Norm ,  so  verkleinern  und  verlangsamen 
sich  die  Excursionen ,  unter  Umstanden  bis  zum  Stillstand.  Steigt  der 
Flüssigkeitsgehalt  durch  Quellung  über  die  Norm ,  so  nimmt  die  Grösse 
der  Excursionen ,  aber  auch  die  Frequenz  anfänglich  zu.  Bei  weiter 
fortgehender  Quellung  pflegt  sich  zuerst  die  Frequenz,  später  erst  die 
Grösse  der  Excursionen  zu  vermindern.  Letztere  bleibt  zuweilen  bis 
zum  Eintritt  des  Stillstandes  maximal.  Bei  der  Schrumpfung  werden 
die  Wimpern  fester,  oft,  von  der  Spitze  anfangend,  ganz  steif.  Bei  der 
Quellung  werden  sie  weicher,  äusserst  biegsam,  endlich  können  sie 
flüssig  werden. 

Die  Verkleinerung  der  Schwingungen,  der  endliche  Eintritt  des 
Stillstandes  bei  der  Schrumpfung  lässt  sich  leicht  rein  mechanisch  aus 
der  hierbei  eintretenden  Vermehrung  der  Gohäsion,  der  geringeren 
Verschiebbarkeit  der  Molecüle  erklären ,  wie  umgekehrt  das  Zustande- 
kommen grösserer  Bewegungen  in  Folge  der  Quellung  aus  der  hierbei 
eintretenden  Abnahme  der  Gohäsion ,  der  leichteren  Verschiebbarkeit 
der  Molecüle  begreiflich  ist.  Auch  der  nach  weiterer  Quellung  erfol- 
gende Stillstand  hat  nichts  Wunderbares ,  wenn  man  bedenkt,  dass 
dabei  die  Substanz  der  Flimmerbaare  dem  flüssigen  Zustand  nahe  ge- 
bracht wird:  im  flüssigen  Zustand  hört  aber  alle  Organisation  auf. 
Warum  das  Tempo  der  Bewegungen  bei  Zunahme  der  Quellung  über 
die  Norm  anfangs  schneller,  später,  wie  auch  nach  Schrumpfung, 
langsamer  wird ,  ist  aus  den  blossen  Aenderungen  der  Gohäsion  nicht 
verständlich,  i) 


4)  Viele  der  hierher  gehörigen  Erscheinungen  lassen  sich  befriedigend  nü\ 
Hilfe  der  von  Uofveistkii  aufgesletllen  Hypothese  über  die  Mechanik  der  Proto- 
plasma- und  Wimperbewegung  erklären.    Indessen  wird  es  beim  Versuch ,  alle  be* 


r 

Deber  die  FH>i«erlew«gnng.     ^  463 

Aus  den  Aenderongen  des  Quellungszuslimdes  begreifen  sich  eine 
Reihe  der  Verynderungen  sehr  gut,  welche  die  Flimmerbewegung 
durch  Einwirkung  verschiedener  Agentien  unier  verschiedenen  Be- 
dingungen erleidet.  Es  begreift  sich  zunächst,  warum  Wasser  und 
Alkalien  den  Stillsland  in  concentrirteren  Lösungen  indifferenter  Stoffe 
aufzuheben  vermögen ,  warum  die  Alkalien  auf  Wimpern ,  die  durch 
Wassereinwirkung  geschwächt  sind,  nicht  belebend,  sondern  hemmend 
wirken.  Auch  bei  der  Wiederbelebung  der  Gilien  durch  Säuren  aus 
dem  Aikalistillstande  kommt  wol  dasselbe  Moment  ins  Spiel.  Es  be- 
greift sich ,  warum  der  Wasser-  und  Alkalislillstand  durch  wasser- 
entziehende Salzlösungen  beseitigt  werden  kann.  Es  begreift  sich, 
warum  der  Wassersteffstillstand,  der  In  möglichst  indifferenten  Flttssig- 
keiten  (Kochsalz  0,5%,  Blutserum  z.  B.)  bald  einzutreten  pflegt,  an- 
fangs durch  Quellung  erregende  Mittel ,  Wie  Wasser,  Alkalien,  ohne 
Zufuhr  von  Sauerstoff,  aufgehoben  werden  kann.  Es  begreift  sich 
ferner,  warum  die  Bewegung,  wenn  sie  durch  Wasser  verlangsamt  ist, 
beim  Erwärmen  und  beim  Durchleiten  starker,  elektrischer  Schläge  sich 
nicht  beschleunigt,  sondern  noch  schneller  zur  Ruhe  kommt. 

Dass  in  derselben  Weise  die  belebende  Wirkung  zu  erklären  sei, 
welche  Wasser  und  Alkalien  in  den  gewöhnlichen  Fällen  haben,  wo 
die  Bewegung  in  angeblich  ganz  indifferenten  Flüssigkeiten  »von  selbst«  « 
zur  Ruhe  gekommen  ist ,  wird  schon  aus  früher  Gesagtem  deutlich  ge- 
worden sein^  Ich  hatte  anfangs  daran  gedacht,  ob  der  unter  solchen 
Verhältnissen  eintretende  Stillstand  der  Flimmerhaare  nicht  etwa  auf 
der  allmählich  eintretenden  »spontanen«  Gerinnung  eines  Eiweiss- 
körpers  in  der  Flimmersubstanz  (etwa  Myosin)  beruhe ,  und  die  be- 
klebende Wirkung  der  Alkalien  und  Säuren  der  Lösung  dieses  Ge- 
rinnsels zuzuschreiben  sei.  Allein  diese  Vermuthung  lässt  sich  nicht 
halten,  gegenüber  den  mir  damals  unbekannten  Thatsachen,  dass  eben 
so  belebend  wie  Alkalien  und  Säuren  auch  Wasser,  Aether  und  Alkohol 
wirken.  Wir  sehen  ja  auch ,  dass,  wenn  nur  der  normale  Quellungs- 
zustand  durch  Zufuhr  von  Wasser  und  Sauerstoff  erhalten  wird,  die 
Bewegung  unablässig,  selbst  Wochen  lang  nach  dem  Tode  des  Ge- 
sammtorganismus  fortbesteht,    und  erst  mit  der  Fäulniss  ein  Ende 


kannten  Thatsachen  anter  den  Gesichtapunct  dieser  Hypothese  zu  bringen ,  sehr 
bald  nöthig ,  Hilfshypothesen  von  so  mancherlei  Art  herbeizurufen ,  dass  wir  von 
der  Ausführung  eines  solchen  Versuches  Abstand  genommen  haben.  Uns  scheint 
jedoch  die  genannte  Hypothese ,  die  erste ,  welche  eine  Erklärung  der  sogenannten 
Contractilitlltserschcinungen  versucht,  weilerer  Ausbildung  sehr  wohl  Rihig  und 
fruchlverheissend.  Wir  verweisen  hier  auf  ihre  ausführliche  Begrttudung  und  Dar- 
legung in  Hopmeistbk's  »Lehre  von  der  Pflansenzelle.«  4867. 


464  ^  Tfc,  ¥•  EasiiMM, 

nimmt.  Aul  halb  verfaulten ,  stinkenden  Sehleimhänten  fanden  ^^ir, 
wie  früher  erwähnt,  die  Flimmerbewegung  nach  Wassenusati  noch  in 
Gang.  Eine  der  des  Muskels  entsprechende  spontane  Todlenstarre 
der  Flimraerhaare  exisiirt  also  gar  niehL  Die  Thatsache. 
dass  die  Wärmeslarre  der  Fhmmerhaare  bei  ungefiihr  derselbeo  Tem- 
peratur einzutreten  pflegt,  bei  welcher  das  Myosin  plötzlich  gerinnt, 
reicht  uns  für  die  Annahme  einer  spontan  coagulirenden  Substanz 
in  den  Flimmerhaaren  nicht  aus. 

Bei  der  Wirkung  der  Säuren,  des  Aethers,  Alkohds  und  Schwefel- 
kohlenstoffs scheint  die  Aenderung  des  Quellungsznstandes  im  Allge- 
meinen von  weniger  Gewicht  zu  sein.    Denn  wir  sehen,  dass  diese 
Körper  sowohl  bei  stärker  gequollenen  als  bei  geschrumpften  Cilien 
anfangs  die  Bewegung  steigern  und  dann  erst  hemmen.  Aus  denselben 
Gründen  beruht  die  hemmende    Wirkung  des  Chloroforms  nicht  auf 
Veränderung  des  Flttssigkeilsgehaltes  der  Wimpern.  Unmöglich  scheint 
es  für  jetzt,   näher  anzugeben ,   auf  welchen  Voi^ängen  der  erregende 
Einfluss  beruhe ,  den  Säuren ,  Aether ,  Alkohol ,  Schwefelkohlenstoff  in 
so  vielen  Fällen  auf  die  Flimmerbewegung  ausüben.   Die  bereits  ange- 
führten  Thatsachen  machen   es  am  Wahrscheinlichsten,   dass  dieser 
Einfluss   weniger  auf  Verbesserung  der  mechanischen  Bedingungen, 
Verminderung  der  inneren  Widerstände  im  Fiimmerhaar  beruhe,   als 
auf  dii*ecter  Steigerung  der  chemischen  Umsetzungen,  welche  der  Be^ 
wegung  zu  Grunde  liegen.    Jedenfalls  kommt  dieser  Einflpss  auch  bei 
den  zunächst  durch  die  Grösse   ihrer  mechanischen  Wirkungen  auf- 
fallenden Agentien,   wie  Wasser,    neutralen  Salzlösungen,   Alkalien 
wesentlich  in  Betracht ,  wie  namentlich  die  Aendemngen  in  der  Fre- 
quenz der  Schläge  wahrscheinlich  machen.    Beide  Einflüsse  werden^ 
sich  entgegenwirken  oder  unterstützen  können,  und  der  Gesammterfolg 
der  Em  Wirkung  eines  Agens  (Anregung  oder  Hemmung  der  Bewegung) 
wird  von  der  Stärke  jedes  der  beiden  Einflüsse  und  dem  Sinne  in  dem 
jeder  einzelne  wirkt,  bedingt  sein. 

Kaum  einem  Zweifel  kann  es  unterliegen ,  dass  auch  die  Tempe- 
ratursteigerung und  sehr  wahrscheinlich  auch  die  elektrischen  Strom- 
schwankungen ihren  die  Bewegung  anregenden  Einfluss  vor  Allem 
einer  Erhöhung  des  physiologischen  Stoffurosatzes  in  der  Zelle  und  nur 
zum  geringeren  Theil  den  unmittelbar  durch  sie  gesetzten  Aendemngen 
der  mechanischen  Bedingungen  [Zunahme  der  Quellung)  verdanken. 

Nicht  schwer  scheint  es,  die  Ursache  der  Hemmung  zu  finden, 
welche  bei  fortgesetzter  Einwirkung  von  Säuren,  Aether,  Alkohol, 
Chloroform  und  Wärme  auftritt.  Die  mit  dem  Mikroskop  deutlich 
wahrnehmbare ,  öfter  feinkörnige  Trübung ,  welche  in  den  Zellen  und 


r 

■ 

Oeber  die  Flimaierbew<^Qng.  465 

Cilien  eintritt  bei  Einwirkung  von  Aether,  Alkohol,  Gbloroform,  Metall- 
3dl2en ,  mit  Ausnahme  der  Samenfäden  von  Amphibien  und  Fischen 
ajuicb  bei  Einwirkung  von  Säuren,  selbst  Kohlensäure,  und  der  Eintritt 
derselben  Trübung  beim  Erwärmen  auf  etwa  45^,  beweisen,  dass  in 
den  Flimmerhaaren  EiweisskOrper  enthalten  sind ,  welche  durch  jene 
Agentien  zur  Gerinnung  gebracht  werden.  In  dieser  Gerinnung  dürfen 
wir  den  Grund  für  das  Aufhörep  der  Bewegung  erblicken.  Es 
spricht  nicht  gegen  diese  Annahme ,  dass  der  Stillstand  der  Bewegung, 
den  jene  Agentien  herbeiführen,  häufig  früher  eintritt,  als  eine  optische 
Veränderung  an  den  Zellen  und  Cilien  wahrnehmbar  ist,  denn  wir 
wissen ,  dass  Eiweissmassen  im  ersten  Stadium  der  Gerinnung  voll- 
kommen durchsichtig  erscheinen  können.  Das  Eiweissgerinnsel,  durch 
dessen  Auftreten  die  Cilien  fester  werden,  muss  schon  rein  mechanisch 
das  Zustandekommen  der  Bewegung  verhindern  können.  In  der  That 
kann ,  wie  wir  gesehen  haben ,  durch  Wiederlösung  desselben  die  Be- 
wegung wieder  hergestellt  werden.  So  bei  fixen  Säuren  durch  Alka- 
lien, bei  Kohlensäure  durch  Luft  oder  Alkalien ,  beiAetber,  Alkohol, 
Chloroform  durch  Luft. 

Für  die  Lösung  der  Fundamentalfrage,  welche  chemischen 
Processe  der  Flimmerbewegung  zuGrunde  liegen,  bietet 
sich  natürlich  bei  dem  ärmlichen  Zustand  unserer  Kenntnisse  von  der, 
auch  nur  qualitativen,  chemischen  Zusammensetzung  der  Flimmer- 
substanz wenig  Aussicht.  Die  wichtigste  Grundlage  fehlt,  auf  der  eine 
Physiologie  der  Flimmerbewegung  zu  bauen  hätte.  Inzwischen  lassen 
sich  doch  aus  dem  vorhandenen  Material  einige  allgemeinere  Schlüsse 
ziehen  auf  die  Art  der  chemischen  Processe,  auf  denen  die  Cilien- 
thätigkeit  beruht,  und  auf  die  allgemeineren  chemischen  Bedingungen, 
von  denen  die  Erhaltung  des  Lebens  der  Flimmerzellen  abhängt. 

Freilich  zeigt  sich  sogleich,  dass  mit  dem  Ergebniss  dieser 
Schlüsse  für  das  Verständniss  der  Flimmerbewegung  vorläufig  nicht 
viel  gewonnen  ist.  Denn  es  stellt' sich  das  Resultat  heraus,  dass  der 
Stoffwechsel  der  Flimmerzellen  in  den  Hauptzttgen  mit  dem  der  Mus- 
keln ,  nach  den  neuesten  Mittheilungen  von  Ranke  auch  mit  dem  der 
Nerven ,  und  vielleicht  noch  mit  dem  vieler  anderer  Gewebe  überein- 
stimmt. Diese  Uebereinstimmung  zeigt  sich  zunächst  in  der  Thatsache, 
dass  jede  Art  der  Flimmerbewegung  bestehen  und  sich 
eine  Zeit  lang  erhalten  kann,  während  weder  Sauer- 
stoff noch  oxydirbare  Substanz  der  Zelle  zugeführt 
wird. 

Dass  die  Flimmerbewegung  unabhängig  von  Sauerstoffaufnahme 
aus  der  Umgebung  bestehen  könne ,   haben  uns  die  Versuche  ntiit 

Bd.  IV.  3.  M 


466  Tb»  W.  Eiigelfflann, 

Wasserstoff  und  kohlensäurefreiem  Leuchtgas  gelehrt :  wi^  sahen  die 
Bewegungen  der  verschiedensten  Fliminerzellen ,  wie  die  Beweguhgen 
der  Samenfiiden  sich  einige  Zeit  (bis  Stunden)  lang  in  vollkommM 
sauerstofiffreiem  Medium  erhalten.  Die  Thatsache,  dass  vollkoinn»en 
isolirte  Zellen  oder  Zellgruppen  in  reiner  Kochsalzlösung  vott  0,$  bis 
0,7%  oder  in  anderen  möglichst  indifferenten  Lösungen  anorganischer 
Salze  ihre  Bewegungen  fortsetzen^ ^beweist,  dass  die  Bewegung  un-  ' 
mittelbar  unaMiöngig  ist  von  Zufuhr  organischen ,  oxydirbaren  Mate- 
rials. Und  zwar  zeigt  sich ,  dass  die  Wimperzelten  der  Zufuhr  orga- 
nischer Substanz  viel  länger  entbehren  können ,  als  des  Sauerstoffs, 
denn  tagelang  sehen  wir  sie  in  jenen  Salzlösungen  fortleben,  falls 
ihnen  genügend  Sauerstoff  geboten  wird. 

Aus  den  beiden  fundamentalen  Thatsachen ,  dass  alle  Wimper- 
be\^egung  ohne  Zufuhr  von  Sauerstoff  und  ohne  Zufuhr  von  orga- 
nischer Substanz  eine  2Seit  lang  fortbestehen  kann,  folgt,  dass  jede 
FKmmerzelle ,  jeder  Samenfaden ,  efinen  gewissen  Kraftvorrath  in  sich 
aufgespeichert  besitzen ,  der  zur  Erhaltung  ihres  Lebens  und  Unter- 
haltung ihrer  Thätigkeit  auf  einige  Zeit  ausreicht.  Die  weitere  That- 
sache  abe^r,  dass  zu  längerer  Fortsetzung  der  WimperbeweguDg  Sauer- 
stoff unentbehrlich  ist,  beweist,  dass  der  chemische  Process,  auf 
welchem  das  Zustandekommen  des  Wimperspiels  beruht ,  mft  Sauer^ 
stoffVerbrattch  vei4)unden  ist.  Hieraus  folgt,  dassjedeZelle  ausser 
einem  Yerrath  an  oxydirbarer  Substanz  auch  einen  Vorrath  von 
gebundenem  Sauerstoff  besitzen  muss,  welcher  bei  der 
Thätigkeit  der  Zelle  verbraucht  wird.  Dieser  Sauerstoff- 
vorrath  reicht  nur  zur  Bewältigung  eines  sehr  kleinen  Theiles  des  in 
der  Zelle  aufgespeicherten  oxydiit>aren  Materials  aus.  Ist  er  ver- 
braucht ,  so  vermag  die  ZeHe  ihn  durch  Aufoahme  gasförmigen  Sauer- 
stoffs von  aussen  tm  ersetzen.  Diess  lehrt  das  Wiedererwachen  der 
fiewegung  aus  dem  Wasserstoffstillstand  und  die  Besohleunigung  der 
im  Wasserstoffstrom  verlangsamten  Bewegung  bei  Sauerstoffziutritt. 

Aber  auch  in  den  Fttiten ,  wo  man  keinen  Grund  zu  der  Annahme 
hat ,  dass  der  in  der  Zelle  aufge^icherte  Vorrath  von  Sauerstoff  ab- 
genommen habe,  wird  von  der  Zelle  leicht  mehr  Sauerstoff  aul^- 
nemmen  und  zur  Steigerung  ihrer  physiologischen  Thätigkeit  ver^ 
wendet.  Man  muss  diess  aus  den  oben  mitgetheilten  Tbatsacben 
sohliessen,  dass  frische  FlimmerzelleA ,  dereti  Bewegungen  ftich  bei 
AAiwesenheit  reiner  atmosphöriscker  Luft  duröh  kurze  £inwirkuiig  ven 
stärker  concentrirten  Kochsalzlösungen  oder  von  reinem  Wasser,  eder 
audh  afHmliiilieh  in  indifferenten  Rttssigkeiten  veriangsamt  hat,  durch 
^en  Strom  reinen  Sauerstoffgases  fast  {»kitzliob  zu  stärkerer  Thati^ 


Deber  die  Plimiaerbew^Dg.  467 

keil  angerf\gi  werden.  Obschon  also  das  SnstaDdekommen  des  Plim- 
merphäoomeos  siebt  nothwendig  an  Aufsahme  von  Sauerstoff  aus  der 
Uiqgebung  gebunden  ist,  übt  doch  der  Gebalt  des  umgebenden  Me- 
diums an  freiem  Sauerstoff  grossen  Einfluss  auf  die  Intensität  des 
Phänomens  aus;  Diess  beweisen  auch  die  Versuche,  bei  denen  die 
FUmwerzellen  in  Gasgemischen  von  Wasserstoff  und  verschiedenen 
Mengen  Sauerstoff  sich  befanden.   , 

Wir  dürfen  wol  hiernach  annehmen ,  dass  die  Grösse  des  physio-* 
logischen  Stoffumsatzes  in  derFlimmerzelle  nicht  unwesentlich  abhängt 
von  dem  gleichzeitigen  Gehalt  des  umgebenden  Mediums  an  freiem 
Sauerstoff.  —  Ob  die  Flimmerzelle  auch  im  Stande  sei ,  locker  gebun- 
denen Sauerstoff  aus  der  Umgebung  an  sich  zu  reissen  und  zur  Er- 
haltung ihrer  physiologischen  Thätigkeit  zu  verwenden ,  wie  das  Kvbnb 
nach  Verauchen  mit  Sauarstofihämoglobin  behauptet ,  lassen  wir  un- 
entschieden,  halten  es  aber  nicht  für  unwahrscheinlich. 

Leider  reichen  diese  wenigen  Erfahrungen  nicht  aus,  um  über 
die  specielle  Art  der  der  Flimmerthätigkeit  zu  Grunde  liegenden 
chemischen  Processe  etwas  festzustellen.  Wir  wissen  nicht,  welches 
die  Substanz  oder  die  Substanzen  seien ,  welche  den  in  der  Zelle  vor- 
handenen Sauerstoff  unter  Entwicklung  lebendiger  Kraft  verbrauchen ; 
wir  wissen  nicht,  welches  die  Producte  des  Stoffwechsels  in  der  leben- 
den Zelle  sind ,  ob  Kohlensäure ,  ob  andere  Säuren ,  ob  und  welche 
stickstofibaltigen  Zersetsungsproducte  gebUdet  werden. 

Eine  einzige  Reihe  nur  von  Thatsachen  scheint  bis  jetzt  darauf 
hinzudeuten,  dass  die  in  der  thätigen  FUmmerzelle  ablaufenden  chemi- 
schen Processe  mit  Säurebildung  verknüpft  seien.  Wir  denken  hier 
nicht  an  die  Thatsaohe,  dass  Alkalien  die  unter  möglichst  normalen 
Verhältnissen  zur  Ruhe  gekommene  Flimmerung  meist  wieder  anregen. 
Denn  durch  den  Nachweis,  dass  unter  denselben  Umständen  wie 
Alkalien  auch  Wasser,  Alkohol,  Aether,  ja  Säuren  selbst  die  Zellen 
wieder  erwecken ,  ist  die  noch  unlängst  wieder  ausgesprochene  Mei- 
nung widerlegt ,  dass  die  belebende  Wirkung  der  Alkalien  in  den  ge-^ 
nannten  Fällen  auf  Neutralisation  einer  Säure  in  den  Zellen  beruhe. 
Wir  denken  hier  vielmehr  an  einige  Thatsachen ,  die  wir  bei  SchUde- 
rung  des  Einflusses  der  Wärme  schon  erwähnt  haben.  Es  sind 
folgende:  Erstens,  Zufuhr  von  etwas  Alkali  befordert  das  Wieder- 
erwachen der  Fbmmerzellen  aus  der  Wärmestarre  —  andere  Re- 
lebung/iDUttel  der  Wimperthtttigkeit,  wie  Säuren,  Wasser,  Aether 
haben  diese  Wirkung  nicht,  sie  scheinen  im  Gegentheil  die  Wärme- 
starre  zu  befestigen.   Zweitens ,  Verlangsamung  durch  tiberachüssiges 


468  '^'  ^*  ßneetmann, 

Alkali  wird  durch  schnelle  Grwännang  nicht  selten  aufgehoben ,  und 
macht  einer  ansehnlichen  Besebleunigung  Platz  —  niemals  konnte  da- 
gegen durch  Erwärmen  ein  Säure-  oder  Wasserstillstand  gehoben 
oder  auch  nur  der  von  der  Säure  oder  dem  Wasser  bewirkten  Ver- 
langsamung Einhalt  gethan  werden. 

Diese  Thatsachen  erklären  sich  sehr  befriedigend ,  wenn  man  eine 
physiologische  Säurebildung  in  der  Zelle  annimmt,  deren  Grösse  mit 
der  Grösse  des  Stofiumsatzes  in  der  Zelle  überhaupt  wächst.  Die  bei 
Erwärmung  auftretende  Steigerung  der  mechanischen  Thätigkeit  der 
Zelle ,  die  Beschleunigung  der  Bewegung  scheint  nun ,  wie  die  Ver- 
gleichung  einer  Anzahl  von  Thatsachen  lehrt,  wenn  nicht  ausschliess- 
lich, doch  zum  grOssten  Theil  auf  einer  Steigerung  des  physiologischen 
Stoffumsatzes  in  der  Zelle  zu  beruhen.  Somit  würde  unserer  Annahme 
gemäss  in  den  Zellen ,  deren  Bewegungen  durch  Temperaturerhöhung 
beschleunigt  sind ,  die  Säurebildung  gesteigert  sein.  Diese  vermehrte 
Säurebildung  könnte  nun  zum  Theil  mit  die  Ursache  der  Starre  sein, 
welche  bei  fortgesetztem  Er\% armen  der  Zellen  auf  etwa  40^ G.  eintritt. 
Wir  sehen  ja,  dass  bei  einem  gewissen  Grade  der  Säuerung  das 
Wimperspiel  aufhört.  Wir  sehen  aber  auch  femer ,  dass  der  Säure- 
stillstand durch  Alkalizusatz  aufgehoben  werden  kann.  Finden  wir 
nun,  dass  wprmestarre  —  in  neutralen  Flüssigkeiten  liegende  — 
Flimmerzellen  bei  der  Abkühlung  sicherer  und  schneller  erwachen, 
wenn  ihnen  etwas  Alkali ,  als  wenn  ihnen  nichts,  oder  ein  anderes  der 
üblichen  Belebungsmittel ,  vor  Allem  eine  Säure  beigebracht  wird ,  so 
werden  wir  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  annehmen  dürfen,  dass 
eine  Säure ,  und  zwar  eine  fixe  Säure ,  wenigstens  zum  Theil  Schuld 
an  der  beobachteten  Starre  gewesen  sei.  Indessen  würde  für  die  Er- 
klärung dieser  Thatsache  auch  die  früher  erwähnte  Annahme  aus- 
reichen ,  dass  durch  die  Erhitzung  ein  Eiweissköi*per  in  den  Flimmer* 
haaren  coagulirte,  der,  vielleicht  rein  mechanisch,  die  Bewegungen  des 
Haares  gehindert  habe  und  nun  durch  das  Alkali  gelöst  worden  sei.  — 
Unzweideutiger  spricht  die  zweite  der  eben  erwähnten  Thatsachen  für 
eine  in  der  lebenden  Zelle  vorhandene  und  durch  Erwärmung  ge- 
steigerte Säurebildung.  Die  Beschleunigung  der  durch  Alkali  verlang- 
samten Bewegung  bei  Erwärmung '  begreift  sich  dann  leicht ,  da  wir 
wissen ,  dass  die  schädliche  Wirkung  der  Alkalien  durch  Säuren  auf- 
gehoben werden  kann.  Und  ebenso  begreift  sich,  dass  Zellen,  deren 
Thätigkeit  durch  Einwirkung  saurer  Flüssigkeiten  zum  Abnehmen  ge- 
bracht war,  beim  Erwärmen  noch  schneller  zu  Ruhe  kommen:  denn 
hier  fügt  sich  dann  zu  der  Wirkung  der  bereits  vortiandenen,   von 


üeber  die  Rioioierbcwfffung.      ^  4g9 

aussen  zugefuhrien  Säure  die  Wirkung  A^  beim  Erwttrmen  neuge- 
bildeten Säure  hinzu.  ^) 

Kil  der  Gonsiatirung  aller  dieser ,  den  Stoffwechsel  der  Flimmer- 
zelien  betreffenden  Thatsachen,  sind  wichtige  Analogien  zwischen 
den  Lebensvorgängen  der  Flinmierzellen  und  denen  der  MudLoln  und 
Nerven  festgestellt.  Auch  diese  Gewebe  vermögen  eine  Zeit  lang  un«- 
abhängig  von  Sauerstoffaufnahme  und  von  Aufnahme  oxydirbaren 
Materials  zu  leben;  auch  sie  produciren  bei  der  Thätigkeit  Säure. 
Diese  Analogien  wachsen  noch,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  die 
Flimmerzellen ,  wie  wir  vor  Kurzem  gezeigt  haben,  elektromo- 
torisch wirksam  sind.  Es  ist  wenigstens  höchst  wahrscheinlich, 
dass  die  von  uns  in  der  Racbenschleimhaut  des  Frosches  gefundenen 
elektromotorischen  Kräfte  in  den  Flimmerzellen  und  nicht  in  den 
Becherzellen  (oder  vielleicht  in  beiden)  ihren  ^itz  haben.  Da  indessen 
die  Untersuchungen  hierüber  noch  nicht  weit  genug  gediehen  sind, 
vermeiden  wir  ein  näheres  Eingehen  auf  diesen  Punct  und  begnttgen 
uns  damit,  die  Hauptthatsachen  in  einer  Anmerkung  hier  beizu- 
fügen. 2) 


I)  Direet  nachweisen  lässt  sich  eine  Säurehildung  in  den  Flimmerhaaren  und 
selbst  in  der  Gesammimasse  der  Flimmerzellen  nichti  da  man  sie  nicht  unvermengt 
mit  anderen  Elementen  bekommen  kann.  So  hat  man  bei  dem  Epithel  der  Rachen- 
schleimhaut des  Frosches  ausser  den  Flimmerzellen  immer  noch  eine  grosse  Menge 
von  Becherzellen.  Die  Reaction  des  gesammten  Epithels  der  Rachenschleimhaut 
ist  neutral ;  in  einigen  Fällen  fand  ich  ich  sie  ganz  schwach  alkalisch.  Beim  Er- 
wttrmen auf  450  und  darüber  ändert  sich  die  Reaction  nicht  merklich.  Niemals 
fand  ich  sie  nach  dem  Eintritt  der  Wärmestarre  sauer.  —  Ebensowenig  ändert  sich 
die  ziemlich  stark  alkalische  Reaction  der  Hodensubstanz  des  Frosches ,  wenn  man 
sie  auf  mehr  als  45^  C.  erwärmt. 

Beiläufig  machen  wir  hier  darauf  aufmerksam,  dass  das  lebende  Protoplasma 
von  Amoeben  und  Infusorien  schwach  alkalisch  oder  neutral ,  aber  auch  schwach 
sauer  reagiren  kann.  Ich  ermittelte  diess,  indem  ich  diese  Organismen  mit  Lakmus- 
körnchen fütterte.  Blaue  Lakmuskörnchen ,  von  Amoeben  (A.  Umax  z.  B.)  aufge- 
nommen ,  blieben  stundenlang  blau.  Als  eine  Spur  Kohlensäure  über  das  Präparat 
geführt  wurde,  färbten  sich  die  Körnchen  im  Innern  der  Amoebe  augenblicklich 
roth ,  ohne  dass  die  Protoplasmabewegungen  aufgehört  hätten.  —  Auch  Lakmus- 
körnchen ,  die  von  Infusorien  (Stylonychia ,  Oxytricha]  verschluckt  waren ,  blieben 
lange  Zeit  blau.  Führte  ich  dann  eine  Spur  Kohlensäure  zu,  so  rötheten  sich  die 
verschluckten  Lakmuskörnchen  plötzlich,  während  gleichzeitig  die  Wimper- 
bewegung sich  beschleunigte,  die  Thiere  unruhig  wurden.  Die  rothe  Farbe  der 
Lakmuskörnchen  blieb  oft  fortbestehen ,  nachdem  wieder  reine  Luft  zugeleitet  war 
und  die  Thiere  wieder  das  normale  Verhalten  zeigten.  —  Zuweilen  trat  die  rothe 
Färbung  der  verschluckten  blauen  Lakmuskörnchen  nach  längerem  Aufenthalt  im 
Protoplasma  von  selbst  ein.  — 

9)  Wird  die  Rachenschleimhaui  eines  Frosches  aus  dem  eben  getödteten  Tbier 
herausgeschnitten ,  auf  einem  Korkrahmen  ausgespannt  und  mit  unpolarisirbaren 
Elektroden,  die  zu  einem  Multiplicator  führen ,  abgeleitet,  so  zeigt  die  Nadel  in 
vielen  Fällen  einen  Strom  an.  Bezeichnet  man  die  der  Mundhöhle  zugekehrte 
Flache  der  Schleimhaut  als  Oberfläche ,  die  entgegengesetzte  als  Unterflttche  und 
den  künstlich  durch  die  Präparation  hergestellten  scharfen  Rand  al9  Querschnitt 


470  "Hl.  W.  Engelmann, 

Zum  Schluss  gedenken  wir  hier  noch  einiger  wichtiger,  die  Be- 
ziehungen der  Flimmerbaare  zum  Protoplasma  betrefFend^ü 
Fragen.  In  neuerer  Zeit  ist  die  Frage  nach  der  anatomischen  Ver- 
bindung zwischen  den  Cilien  und  dem  darunterliegenden  Protoplasma 
wiederholt  besprochen  worden.  Man  hat  sich  vielfach  bemüht ,  Fort- 
setzungen der  Gilien  in  die  tieferen  Schichten  des  Protoplasma  nach- 


der  Membran,  so  lassen  sich  die  beobachteten  Erscheinungen  folgendermaassen 
ausdrücken. 

Leitet  man  zwei  Puncte  der  UnterflAche  oder  des  Querschnittes  ab,  oder  iwei 
Puncto  der  Oberfläche,  die  gleich  weit  vom  Querschnitt  entfernt  sind ,  so  bleibt  die 
Nadel  des  Multiplicators  in  Ruhe.  —  Leitet  man  dagegen  einen  Punct  der  Ober- 
fläche und  einen  der  Unterfläche  ab ,  so  schlägt  die  Nadel  stark  aus  und  bleibt 
dauernd  abgelenkt.  Der  angezeigte  Strom  geht  in  der  Haut  von  der  Oberfläche 
nach  der  ünterfläche.  —  Leitet  man  einen  vom  Querschnitt  entfernteren  Punct  der 
Oberfläche  und  einen  Punct  des  Querschnittes  selbst  ab ,  so  erfolgt  ebenfalls  ein 
starker  Ausschlag  der  Nadel ,  der  einen  in  der  Haut  von  der  Oberfläche  zum  Quer- 
schnitt gerichteten  Stroix\  anzeigt.  —  Verbindet  man  Querschnitt  und  Unterfläche, 
so  zeigt  sich  ein  äusserst  schwacher  Strom ,  in  der  Schleimhaut  vom  Querschnitt 
nach  der  Unterfläche  gerichtet.  —  Berührt  man  zwei  Puncte  der  Oberfläche  ab- 
leitend, von  denen  einer  näher  am  Querschnitt  gelegen  ist,  so  zeigt  die  Nadel  einen 
Strom  an ,  der  in  der  Haut  nach  dem  dem  Querschnitt  näheren  Punct  läuft.  Je 
näher  letzterer  Punct  dem  Querschnitte  rückt,  um  so  grösser  wird  die  Abweichung 
der  Nadel. 

Die  Anwesenheit  der  elektrischen  Ströme  hängt  von  der  Anwesenheit  des 
lebenden  Epithels  ab.  Entfernt  man  das  Epithel  mit  Hülfe  eines  Glasspatelchens 
oder  tödtet  man  es  durch  Druck  oder  durch  Bepinseln  mit  Säuren,  Alkalien,  Metall- 
salzen, Aether,  Chloroform  u.  s.  w.,  so  erhält  man  keine  Ströme  mehr. 

Es  fragte  sich ,  ob  die  elektromotorische  Wirksamkeit  des  Epithels  in  einem 
bestimmten  Verband  stände  mit  der  Bewegung  der  Cilien.  Zu  diesem  Zwecke 
wurde  untersucht,  wie  sich  das  elektromotorische  Verhalten  der  Schleimhaut 
ändere  unter  dem  Einfluss  von  Agentien ,  welche  die  Flimmerbewegung  beschleu- 
nigen oder  verlangsamen.   Hierbei  ergab  sich  Folgendes. 

Reizt  man  die  mit  Kochsalzlösung  von  0,5  o/g  bedeckte  Membran  durch  einen 
einzelnen  oder  durch  eine  Reihe  von  Inductionsschlägen ,  so  zeigt  sich  unmittellmr 
nach  dem  Aufhören  der  Reizung  eine  stärkere  Abweichung  der  Multiplicatornadel 
als  vorher.  Im  Lauf  einer  oder  weniger  Minuten  kehrt  die  Nadel  dann  auf  ihren 
früheren  Stand  zurück.  —  Taucht  man  die  Schleimhaut  1/4  bis  2  Minuten  in  halb- 
procentige  Kochsalzlösung  von  80  >-400  C.,  dann  ist  gleichfalls  unmittelbar  nachher 
der  von  der  Membran  abgeleitete  Strom  stärker,  nimmt  jedoch  bald  wieder  ab. 
Nach  einem  Aufenthalt  von  V2  bis  ^  Minute  in  halbprocentiger  Kochsalzlösung  von 
450  ist  die  elektromotorische  Wirksamkeit ,  wie  die  Flimmerbewegung,  vernichtet 
und  kehrt  nicht  wieder  zurück.  Bei  einer  Temperatur  von  700  genügt  dazu  schon 
ein  Aufenthalt  von  5  Secunden.  Sind  die  Zellen  durch  mehrere  Minuten  langes 
Verweilen  in  Kochsalz  von  40  — 44<>  in  den  ersten  Grad  der  Wärmestarre  ge- 
kommen, dann  findet  man  oft,  dass  die  Richtung  des  Stromes  sich  umgekehrt  hat. 
Sie  bleibt  es  dann ,  auch  nachdem  die  Bewegung  aus  der  Wärmestarre  wieder  er- 
wacht ist.  Ebenso  kehrt  sich  der  Strom  um ,  wenn  die  Schleimhaut  V4  Minute  in 
Kochsalzlösung  von  SSO  verweilt.  Die  Zellen  befinden  sich  dann  im  zweiten  Grad 
der  Wärmestarre.  —  Taucht  man  die  Membran  in  reines  Wasser  (wodurch  die 
Flimmerbewegung,  wie  ich  früher  fand,  bedeutend  verstärkt  wird) ,  so  zeigt  die 
Nadel  einen  bedeutend  stärkeren  Strom  im  Multiplicatorkreis  an.  Dieser  Strom 
kann  längerd  Zeit  in  gleicher  Stärke  fortbestehen.  —  Behandelt  man  die  Schleim* 
baut  mit  Kochsalztösung  von  4,5  bis  %^/q,  dann  erlischt  die  Flimmerbewegnng  viel 
firüher  als  die  elektromotorische  Wirksamkeit.  Nach  Einwirkung  von  Sprocentiger 
Kochsalzlösung  bleibt  die  Nadel  auch  bei  stärkster  Anordnung  in  Ruhe.  Verdrängt 
maft  die  Kochsalzlösung  sogleich  wieder  durch  Wasser  oder  äusserst  verdünnte 


Deb«r  die  FllianeH)ewegiiDg.       /^  471 


«IWQimi«  Ja  von  manohen  Seiten  werden  sokbe  Fortselxungen  gleich- 
sam als  ein  physiologisches  Postulat  hingestellt  und  die  ToreteUuBg  ge-r 
äussert,  4ils  ob  die  Wimperbewegung  durch  Contractionen  in  dem  unter 
den  CUien  gelegenen  Protoplasma  ausgelöst  würde  und  werden  müs^te. 
In  der  Tbat  sind  einige  Beobachtungen  dieser  Vorstellungsweise 
nicht  gerade  ungünstig.  Verschiedene  Untersucher  (VALurmr,  Bvbl- 
■ANN,  FanDREicH  y  Emuth  ,  Marchi)  glauben  deutlich  gesehen  au  haben, 
dass  die  CiUen  nicht  an  der  Oberfläche  der  Zdlen  aufsitxen ,  sondern 
tiefer  ios  Protoplasma  hineinragen.  Vor  Allem  aber  hat  A.  Stuart^) 
einige  Beobachtungen  mitgetheilt,  welche,  wenigstens  für  einen  Paii, 
die  Bichtigkeit  der  obigen  Anschauungswdse  sehr  wahrsobeinlioh 
machen  würden.  Er  sah  den  Inhalt  der  Flimmerepithelsdlen  des 
Veluna  v«n  jungen  Eolidinen  in  eine  Anzahl  der*  Längsaxe  der  Zelle 
parallele  Streifen  differensirt ,  welche  sich  durch  den  hyalinen  Dediel«* 
savm  unmittelbar  in  die  Flimmerhaare  fortsosetaen  sdiienen.-  Diese 
Protoplasmastrange  zeigten  bei  Zellen ,  deren  Wimpern  in  ThtftigkeU 
waren ,  active  Bewegungen ,  durch  welche  der  Zellenkem  hin-*  und 
bergeschoben  wurde.  Standen  die  Flimmerhaare  stül,  so  war  ge* 
w^bolick  auch  der  Kern  in  Buhe ;  fingen  sie  an  sich  zu  bewegen ,  so 
begannen  auch  die  Verschiebungen  der  Kerne. ')  Nach  Babl-Bugk- 
«AAD  3)  würden  freilich  die  von  Ebirth  und  Marchi  beobachteten  an- 
gebliehen Forlsetzungen  der  Gilien  im  Innern  der  Zelle  durch  Falten  in 
der  Zellmembran  oder  nach  unserer  Auffassung  dieses  Theils  der  Zelle, 
in  der  Bindenschicht  des  Protoplasma  vorgetäuscht  sein.  4)    Er  be^ 


Salzlösungen,  so  kehrt  die  Flimmerbewegung  bald  zurück,  die  elektromotorische 
Wirksamkeit  bleibt  dagegen  maist  noch  eine  Zeit  lang  unterdrückt,  kann  sich  aber 
im  Verlauf  von  Minuten  bis  Stunden  vollkommen  wieder  erholen.  —  Bringt  man 
die  Flimmerl>ewegung  durch  Kochsalz  von  4,5%  zur  Ruhe  und  lässt  dann  Am- 
moniakdampte  auf  die  Membran  einwirken,  so  steigt  innerhalb  der  ersten  Minuten, 
während  auch  die  Bewegung  wieder  erwacht,  die  Stärke  des  abgeleiteten  Stromes, 
um  dann  wieder  zu  sinken.  Aehnlich  wirken  Aetherdämpfe ,  die  den  Strom  bald 
auf  Null  bringen.  — *  Narcotisirt  man  eine  iVisohe  Membran  durch  Chloroform-^ 
dämpfe ,  so  nimmt  die  Stärke  des  abgeleiteten  Stromes ,  nachdem  sie  anfänglich 
beträchtlich  gesteigert  war,  ausserordentlich  ab.  Verdrängt  man  hierauf  das 
Chloroform  durch  atmosphärische  Luft,  so  erwacht  die  Flimmeri>ewegttng  bald 
wieder ,  die  elektromotorische  Wirksamlceit  bleibt  aber  unterdrückt.  — 

4)  Stuaet,  Ueber  die  Flimmerbewegung.  Inaugur.  Diss.  Dorpat  4867.  p.  19. 
Die  beige^ebene  Zeichnung  sieht  leider  wenig  vertrauenerweckend  aus. 

2]  Leider  ist  nicht  gesagt ,  ob  die  Bewegungen  der  Protoplasmasträngc  regel- 
mässig periodisch  und  isochron  mit  den  Bewegungen  der  Cllien  oder  wie  sonst  ge- 
wesen seien. 

3)  RuL-Ruzcuuao»  Einiges  über  Flimmerepithel  und  Becherzellen.  Archiv 
L  Anat  u.  Physiol.  4868.  p.  7S. 

4)  Die  Fälle,  wo  man  eine  streifige  Fortsetzung  der  CUien  im  Innem  des 
Protoplasma  zu  sehen  meint,  sind  häufig  genug.  Die  Bikier  sind  oft  nicht  leiirfit 
ZU  beurth^il9i|.    Ich  möchte  hief  auf  eine  Quelle  von  TäOschungoD  aufifierkBam 


472  N  Tb.  W.  EngelmäDD, 

obachtete  diese  Streifen  auch  bei  nicht  flimmernden  Epithelaellen  der 
Sypho  von  BuScinum  undatum. 

Wenn  wir  aber  auch  die  von  Stuart  und  seinen  Vorgängern  mR- 
getheilten  Beobachtungen  als  richtig  anerkennen,  so  steht  es  dodi 
ebenso  fest,  dass  in  sehr  vielen  Fällen,  und  zwar  in  solchen,  bei 
denen  die  Hauptbedingungen  ftlr  die  Entscheidung  so  feiner  Fragen 
erfüllt  sind ,  keine  Verlängerungen  der  Gilien  ins  Innere  des  Proto- 
plasma sich  nachweisen  lassen.  Es  soll  hier  weniger  daran  erinnert 
werden,  dass  es  unmöglich  ist,  bei  vielen  und  grosshaarigen  FlimBier- 
epithelzellen  von  Wirbelthieren  und  Wirbellosen  solche  Verlängerungen 
wahrzunehmen.  Wir  möchten  vielmehr  darauf  hinweisen,  dass  selbst 
bei  vielen  grossen  Wimpern  von  Infusorien  (z.  B.  den  mächtigen 
Afterwimpern  und  Endborsten  der  Stylonychien),  bei  denen  man  doch 
am  Ersten  noch  eine  höhere  Differenzirung  erwarten  dürfte ,  durchaus 
keine  weiteren  Fortsetzungen  ins  Protoplasma  zu  bemerken  sind.  Die 
Wimpern  sind  hier ,  wie  bei  den  meisten  Flimmerepithelzellen  einfach 
Anhänge ,  Auswüchse  der  Rindenschicht  des  Protoplasma.  Bei  vielen 
Flimmerzellen  ist  die  Rindenschicht  in  der  Ausbreitung,  wo  die  Wim- 
pern aufsitzen ,  noch  besonders  zu  einem  deckelartigen  Saum  verdickt, 
der  ansehnliche  Dicke  erreichen  kann. 

Es  steht  ferner  vollkommen  fest,  dass  das  Protoplasma  der 
meisten  Flimmerzellen,  auch  an  den  unmittelbar  unter  den  Ciiien 
gelegenen,  die  Basis  derselben  berührenden  Stellen ,  keine  active  Be- 
weglichkeit zeigt,  gleichviel  ob  die  Flimmerhaare  starke  oder  schwache 
Bewegungen  ausführen.  Ich  habe  mich  durch  häufige  Beobachtungen 
hiervon  überzeugt.  Schon  durch  diese  Thatsache  wird  die  Annahme 
widerlegt,  dass  die  Anregung  zur  Flimmerbewegung  von  Gontrac- 
tionen  im  Zellprotoplasma  ausgehe.  Ausserdem  wird  die  Unrichtig- 
keit dieser  Vorstellung  durch  Beobachtungen  an  Samenfäden  dargethan. 
Auch  hier  sind  ja  das  Kopf-  und  Mittelstück,  von  denen  letzteres 
nach  ScHWüiGGER-SEmsL  dem  Zellprotoplasma  (genauer  vielleicht  dem 
Deckelsaum)  der  Flimmerzellen  entspricht,  unfähig,  active  Bewegungen 
zu  vollziehen.  ^) 


machen ,  welche  wol  den  meisten  Trugbildern  dieser  Art  zu  Grunde  Hegt.  Bei  der 
grössten  Mehrzahl  der  Flimmerzellen  sitzen  die  Wimpern  In  grösserer  Anzahl  ttber 
eine  krumme  Flache  zerstreut.  Diese  Anordnung  macht  es  unmöglich,  alle  Wim- 
pern gleichzeitig  scharf  ins  Profil  zu  stellen.  Entspringen  nun,  wie  es  fast  immer 
der  Fall  ist,  hinter  dem  flxirten  Rande  der  Zelle  einige  Wimpern ,  so  bringen  diese, 
jndem  sie  wie  convexcylindrische  Gläser  wirken ,  helle  Linien  in  der  dunkleren 
Zellsnbstanz  hervor  und  täuschen  dadurch  streifenartige  Fortsetzungen  der  Wim- 
pern im  Innern  des  Protoplasma  vor. 

i)  Vgl.  hierüber  Scbweigger-Seidel,  im  Arch.  f.  mikr.  Anat.  I.  4865.  p.  8S8 


Deber  die  Fltinnierbewegiing.      ''  473 

Wir  sehen  auch  gar  nicht  ein ,  warum  gerade  einqgC o  n  ir  a  c  t  i  o  n 
des  Protoplasma  der  Zelle  den  Anstoss  zur  Bewegung  geben  soll.  Wir 
veribögen  uns  eben  so  gut  vorzustellen ,  dass  der  Anstoss  zur  Be- 
wegung der  GUie  durch  einen  Vorgang  in  dem  Zellprotoplasma  ge- 
geben werde ,  der  sich  nicht  als  sichtbare  Ortsbewegung  im  Proto- 
plasma äussert. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  es,  ob  zum  Zustandekommen  der 
Wimperbewegung  niithig  sei,  dass  die  Cilien  noch  mit  der  Zelle  zu- 
sammenhängen. Hiermit  hängt  die  Frage  zusammen ,  ob  der  Reiz  fttr 
jede  Bewegung  des  Flimmerhaares  von  der  Zelle  ausgehe ,  oder  ob  in 
der  Wimper  selbst  der  Anstoss  zur  Bewegung  erzeugt  werde. 

Man  ist  ziemlich  allgemein  der  ersteren  Ansicht  und  stützt  sich 
dabei,  ausser  auf  die  erwähnten  Beobachtungen  über  das  Eindringen 
der  GiUen  ins  Innere  des  Protoplasma ,  vor  Allem  auf  die  Thatsacfae, 
dass  von  der  Zelle  abgelöste  Wimperhaare  keine  Bewegungen  mehr 
zeigen.  —  Dass  die  erste  Reihe  von  Beobachtungen  nichts  beweisen 
kann ,  liegt  zu  sehr  auf  der  Hand ,  als  dass  wir  Worte  darüber  zu  ver- 
lieren brauchten.  —  Der  zweiten  Beobachtung,  dass  isolirte  Flimmer- 
haare nicht  mehr  schlagen ,  können  wir  gleichfalls  keine  Beweiskraft 
zuerkennen.  Auch  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Ursache  der 
Bewegung  in  den  Plimmerhaaren  selbst,  und  nicht  im  ZeUenleibe 
läge ,  ist  diese  Tliatsache  nidit  wunderbar.  Denn  die  EingritTe ,  durch 
welche  das  Flimmerhaar  von  der  Zelle  entfernt  wird,  sind  von  der 
Art,  dass  weder  die  Zelle  noch  die  Gilie  Lebensfähigkeit  zu  behalten 
braucht ;  es  sind  gewaltsame  chemische  oder  mechanische  Missband- 
lungen, die  voraussidiUich  auch  wenn  sie  den  Zusammenhang 
zwischen  Gilie  und  Zelle  nicht  lösten ,  doch  die  Bewegung  unmöglich 
machen  würden. 

Es  giebt  indessen  eine  andere  Reihe  von  Gründen,  welche  die 
Annahme  stützen ,  dass  der  Anstoss  zur  Bewegung  nicht  in  der  Gilie 
selbst,  sondern  in  dem  Protoplasma,  auf  dem  sie  ruht,  entstehe.  Bei 
den  Wimpern  der  Infusorien,  die  unter  Herrschaft  des  »Willens« 
stehen ,  scheint  zunächst  keine  andere  Möglichkeit  denkbar ,  als  dass 
der  normale  Reiz  vom  Protoplasma  ausgehe.  Sehen  wir  jedoch  von 
diesen  hier  ab ,  so  bleiben  nodi  folgende  Thatsachen ,  die  ins  Gewicht 
fallen.  Vor  Allem  deutet  der  Isochronismus  der  Bewegungen  aller 
auf  einer  und  derselben  ZeUe  eingepflanzten  Gilien  darauf  hin ,  dass 
der  Reiz ,  welcher  diese  Bewegungen  auslöst ,  von  einer  gemeinschaft- 
lichen QueUe ,  also  dem  Boden ,  auf  dem  alle  Gilien  gemeinschaftlich 
wurzeln,  ausgehe.  Der  Werth  dieser  Thatsache  des  Isochronismus 
wird  noch  erhöht  durch  die  leicht  zu  bestätigende  Beobachtung ,  dass 


474  >  Tb,  W,  EBgelnana, 

die  Frequenz  ^r  Scbwiä|iungen  au£  zwei  benachbarü^n  Zellen  sehr 
verschieden  sein  kann:  oft  sieht  man  die  Wimpern  der.eiAep  Zelle 
kaum  eine  Schwingung ,  die  der  Nachbarzelle  fünf  und  mehr  Schwio- 
gungen  in  der  Secunde  machen.  —  Sind  die  Wimpern  durch  Ein- 
wirkung von  z.  B.  Alkalien  oder  Säuredämpfen  zur  Ruhe  gekommeOi 
so  erwachen  bei  Neutralisation  der  schädlichen  Flüssigkeit  die  Gilien 
einer  und  derselben  Zelle  fast  immer  gleichzeitig ,  während  auf  zwei 
benachbarten  Zellen  das  Wiedererwachen  sehr  Ungleichheit^  st^U- 
finden  kann.  Auch  diese  Beobachtungen  sprechen  für  obige  Auf- 
fassung und  nicht  mifider  die  Thatsache,  dass  die  Bewegungen  aller 
Cilien  an  der  Basis  zu  beginnen  und  sich  erst  von  hier  nadi  der  Spitze 
der  Haare  fortzupflanzen  pflegen. 

Indess  könnte  hier  immer  noch  gezweifelt  worden^  ob  der  Anstoas 
für  die  Bewegung  wirklich  von  dem  eigentlichen  Protoplasma  4er  Zelle 
ausgehe,  oder  nicht  vielleicht  blos  von  dem  deckelartigen  Saum,  der  die 
gemeinschaftliche  Basis  aller  Flimmerhaare  einer  Zelle  zu  bilden  pflegt. 
Wir  halten  diese  Frage  für  sehr  untergeordneter  |fatur^  da  wir  ui^s  ini 
Hinblick  auf  die  chemischen  und  physikalischen  Eigenschaften  der 
üusseren  Begrenzungsschicht  des  Protoplasma  der  Flimmerzellen  zu  der 
Annahme  einer  wirklichen  Zellmembran  nicht  entschliessen  künnea, 
sondern  darin  nur  eine  dichtere  Schicht  Protoplasma  erkenneq,  wie  sie 
an  den  freien  Flächen  fast  aller  lebendei^  ProtoplasmakOrper  vorhan- 
den ist)  eine  Schicht  nämlich,  die  nach  innen  zu  ganz  allmählich  in 
minder  dichtes  Protoplasma  übergeht.  Diese  Rindenschicht  kaiin  sich 
unter  den  FUmmeiiiaaren  zu  einem  merklich  dicken  Saum  ausbilden, 
der  sich  in  vielen  Fällen  dann  allerdings  schärfer  gegen  das  Zellproto- 
plasma abgrenzt*  Sehr  häufig  ist  aber  sicher  kein  besonders  differen- 
zirter  Saum  als  Grundlage  der  Cilien  da.  Bei  den  Flimmerzellen  vom 
Frosch  findet  man  ihn  zuweilen  nicht ,  zuweilen  ist  er  ^hr  deutlich 
und  es  scheint,  als  ob  er  leicht  unter  dem  Einfluss  gewisser  Reagentien 
entstehen  könne. 

Jedenfalls  ist  sicher,  dass  ein  grosser  Theil  des  Zellprotoplasma 
verloren  gegangesi  sein  k^nn,  ohne  dass  die  Bewegungen  aufhören 
oder  ihren  Charakter  ändern.  Idi  habe  mehrmals  ganze  Reihen  Wim- 
pern von  Austerkiemen  noch  minutenlang  fortschlagen  sehen ,  nach- 
dem der  grösste  Theil  des  Protoplasma  der  Zdlen  mit  den  Kernen  ab- 
gerissen war.  Und  so  sieht  man  ja  oft  auch  Samenfäden  von  Säuge- 
thieren  z.  B.,  an  denen  der  Kopf  fehlt  und  wo  es  oft  zweifeUiaft  ist, 
ob  von  dem  Mittelstttok  noch  etwas  mit  dem  Schwanz  in  Verbindung 
blieb.  Hieraus  geht  jedenfalls  hervor ,  das»  der  Anstoss  zur  Bewegung 
nicht  vom  Kern  ausgeht  und  dass ,  falls  wirkliob  d^^  Protoplasma  der 


Deber  die  Fltaawliew^Qag.  475 

Zelle  (resp.  das  MiUeisttKA  des  Samen  fade  vs)  die  Qudfr  der  Erregung 
bt,  der  dkht  unter  den  Wimpern  gelegene  Tbeil  desselben  zur  ünler-^ 
bakung  der  rfaytmisöhen  Erregung  genügt. 

In  engem  Verband  mit  der  vorliegenden  Frage  stehen  noch  einige 
imeressanle  Thaisaeben ,  deren  wir  hier  gedenken  wollen ,  da  sie  den 
Beweis  zu  liefern  scheinen ,  nicht  nur  dass  der  Anstoss  für  die  Be- 
wegung der  FUmmerhaare  im  normalen  Zustand  vom  Zellmikörper 
ausgebe ,  sondern  auch  dafür ,  dass  sieh  die  Reizung ,  wenigstens  in 
einem  Flimmerepitbeliom ,  dessen  Zellen  noch  in  normaler  Weise 
untereinander  zusamro^ililf ngen ,  von  Zelle  mä  Zelle  fortzupflanz^i 
vermöge.  Das  eine  Pfadlnoroen,  welches  eine  gründliche  Unter- 
suchang  in  hohem  Ifaasse  verdienen  würde ,  ist  Jedem  bekannt,  der 
öfter  lebendes  Flimmerepilhel  untersucht  hat.  Es  besteht  in  Folgen-- 
dem.  Beobachtet  man  einen  fUmmemden  Epitbelstreif,  am  Besten 
ein  Kiemenstüdscben  einer  Muschel,  so  bemerkt  man  sogleich,  dass 
die  Sdiwingungen  derCilien  auf  benachbarten  ZeUen  nicht  isochroniach 
sind ,  sondern  in  einer  festen  Ordnung  auf  einander  folgen.  Geht  man 
von  einer  bestimmten  Zette  aus,  so  sieht  man,  wie  hier  die  Bewegung 
in  einem  bestimmten  Augenblick  beginnt,  einen  Moment  spfiter  die 
nächstliegende  Zelle  ergreift,  noch  etwas  später  die  auf  diese  folgende 
ZeUe  u.  s.  w.  So  läuft  der  Erregungsvorgang  wie  eine  Welle  in  go* 
rader  Linie  von  Zelle  zu  Zelle  fort.  Dies  wiederholt  sich  immer  auCs 
Neue,  und  immer  wieder  läuft  die  Welle  in  der  nämlichen llichtung.  ^) 
Die  Richtung  ist  meistens  geradlinig,  aber  in  Bezug  auf  die  Sehwin« 
gungsebene  der  Himmerhaare  nicht  auf  allen  Localitäten  gleich,  bei 
den  grosshaarigen  Flimmerzellen  auf  den  Kiemen  der  Bivaivea  z.  B. 
senkrecht  auf  der  letzteren.  Je  schneller  die  Gilien  schwingen ,  desto 
rascher  läuft  auch  die  Welle.  Ihre  Geschwindigkeit  schätzte  idi  bei 
mtfglidist  unversehrten  Kiemenstückchen,  der  Auster  z.  B.,  oft  auf 
0,5  Mm.  in  der  Secunde.  Werden  die  Bewegungen  der  Gilien  lang* 
samer,  so  pflanzt  sich  auch  die  Erregung  langsamer  von  ZeUe  zb 
Zelle  iDrt.  Anfangs  läuft  die  Welle  immer  so  weit,  als  unversehrte 
Zellen  neben  einander  liegen.  AUmählich  wird  aber  ihr  Lauf  durch 
Absterben  einzelner  Zellea  unterbrochen.  Einzelne  Zellen  beginnen 
mit  anderer  Frequenz  zu  schwingen  als  die  benachbarten,  und 
endlich  kann  die  Periode  iaat  für  jede  ZeHe  eine  andere  sein.  In 
diesem  Zustand,  der  bei  dem  erwähnten  Kiemenepithel  derBivalven 


4 )  Dasselbe  Phänomen  ist  auch  auf  wimpernden  Körpertheilen ,  die  keine  Zu- 
sammensetzung aus  Zellen  erkennen  lassen ,  sehr  verbreitet.  So  bei  vielen  niedern 
Organismen.  Die  Rädertliiere  verdanken  ihm  ihren  Namen, 


476  Th.  W«  Ettgetoiaiinf 

oft  erst  sehr  #pät ,  auf  der  zweiten  ^  zartbemmpeiien  Art  des 
Kiemenepithels  von  Muscheln,  wie  auch  auf  dem  Epithel  der  Rachen* 
Schleimhaut  vom  Frosch  schneller  einzutreten  pflegt ,  ist  von  einefii 
wellenartigen  Fortschreiten  der  Bewegung  nur  hie  und  da  noch 
etwas  zu  sehen.  Statt  langer,  Ober  grosse  Strecken  hinlaufender 
Wellen ,  sieht  man  viele  kleine  Wellensysteme ,  hervorgebracht  durdi 
die  Thätjgkeit  kleinerer  und  grösserer  Gruppen  von  Zellen ,  die  noch 
im  gleichen  Tempo  und  in  regelmässiger  Aufeinanderfolge  arbeiten. 
Dies  sind  immer  Zellen,  die. unter  sich  in  normaler  Weise  zusammen- 
hängen ,  sich  vollkommen  berühren.  Ich  glaube  das  Phänomen  einige 
Male  an  Zellen  beobachtet  zu  haben,  die  sich  im  Zusammenbang  von 
dem  Bindegewebe  der  Schleimhaut  abgelöst  hatten  und  frei  herum- 
schwammen. 

Ein  anderes  merkwürdiges  Phänomen  beobachtete  ich  am  Kiemen*- 
epithel  von  Bivalven.  Die  Bewegungen  hatten  sich  in  Folge  des  Zur- 
satzes  etwas  concentrirterer  Kochsalzlösung  ein  wenig  verlangsamt; 
an  verschiedenen  Stellen  waren  die  Bewegungen  auf  längeren  Zellen— 
reihen  ganz  erloschen.  Plötzlich  begann  auf  einer  oder  mehreren 
dieser  Zellenreihen  die  Bewegung  wieder,  und  zwar  sofort  mit  grosser 
Kraft  und  Frequenz.  Nach  ein  paar  Hinuten  standen  die  Gilien  wie- 
der still.  Einige  Zeit  darauf  fing  das  Spiel  plötzlich  in  derselben  Weise 
wieder  an,  und  dies  wiederholte  sich  noch  mehrmals.  Noch  merk- 
würdiger ist  eine  ähnliche  Beobachtung,  welche  Purkinje  und  ViiLVKTUf 
an  den  Nebenkiemen  der  Muscheln  machten,  und  die  ich  gleichfaUs 
einige  Male  bestätigt  habe.  Das  Phänomen  wird  ^on  Valbntin  sehr 
treffend  folgendermaassen  beschrieben:  »Nachdem  eine  fteihe  von 
Haaren  eine  Zeit  lang  gleichförmig  und  in  einer  bestimmten  Richtung 
geschwungen,  wendet  sie  sich  plötzlich  mit  einem  RudL,  und  ebenfalls 
gleichförmig ,  gleich  einer  sdiwenkenden  Colonne  Soldaten ,  nach  der 
entgegengesetzten  Richtung ,  schwingt  nun  nach  dieser  Directimi ,  und 
kehrt  nicht  selten  durch  einen  neuen,  ähnlichen,  gleichförmigen  ^  aber 
entgegengesetzten  Ruck  zur  alten  Schwingungsrichtung  wieder  zurQck. 
in  der  Regel  hat  die  Colonne  vorn  und  hinten  scharfe  Grenzen ,  wäh- 
rend' dicht  neben  diesen  befindliche  Haare  mehr  selbständig  ungestört 
fortschwingeh.a 

Diese  Bed^kchtungen  stützen  die  Annahme  wol  am  Meisten,  dass 
der  Anstoss  zur  Bewegung  der  Cilien  nicht  in  den  Flimmerhaaren 
selbst  entstehe,  sondern  von  den  Zellen  ausgehe.  Indessen  stehen 
ihnen  einige  Thatsachen  gegenüber,   welche  zu  Gunsten  der  Ansicht 


1)  Valkktin,  Art.  FUmmerbeweguDg  im  Handwörierbacb  d.  Pbysiol.  i.  p.518. 


Ueber  die  FIlsaefbewegiiDg.  477 

gedeulH  werden  dttrfen ,  dass  audi  in  der  Substanz  der  Cilie  selbst, 
unabhängig  von  dem  Protoplasma  der  Zellen,  Reize  für  die  Bewegung, 
und  zwar  für  rhythmische  Bewegung  entstehen  können.  Die  Beobach- 
tung, die  hier  Alles  mit  einmal  entscheiden  würde,  die  Beobachtung 
nümlich  einer  voNkommen  von  der  Zelle  isolirten  schwingenden  Wim- 
per ist  leider  nicht  gemacht.  Ein  Bespiel  automatischer  Erregbarkeit 
der  Giliensubstanz  sdieinen  indess  die  fadenförmigen  Spermatozoen 
mancher  niederen  Thiere  (gewisser  Wttrmer  und  Arthropoden  nament- 
lich) zu  liefern.  Diese  FSden  lassen  nach  den  bisherigen  Untersuchun- 
gen durchaus  keine  Differenzirung  in  mehrere  Abschnitte  (analog 
Kopf-,  Mittel-  und  Schwanztheil)  erkennen ,  sondern  scheinen  in  der 
ganzen  Lange  aus  derselben  Substanz  zu  bestehen.  ^)  Hieraus  würde 
jedoch  noch  nicht  folgen,  dass  alle  Giliensubstanz  automatisch  erregbar 
sei,  und  es  bliebe  immer  noch  denkbar,  dass  sie  in  den  Fällen,  wo  sie 
mit  Protoplasma  zusammenhinge,  immer  von  diesem  aus  den  Reiz 
empfinge.  Die  Beobachtungen,  welche  mit  der  Annahme  vereinbar 
sind ,  dass  auch  in  den  letzteren  FSUen  eine  automatische  Erregung 
der  Plimmerhaare  möglich  sei,  sind  folgende.  Oft  bewegen  sich  bei 
Flimmerhaaren  nur  die  Spitzen ,  während  die  nach  der  Basis  zu  ge* 
legenen  Partien  ganz  ruhig  sind.  Wir  haben  diese  Erscheinung  schon 
früher  erwähnt  und  unter  anderen  bei  Schilderung  des  Wasserstofi*- 
Stillstandes  der  Flimmerzellen  des  Frosches  hervorgehoben ,  dass  diese 
Schwingungen  rhythmisch  erfolgen,  aber  bei  verschiedenen  Gilien 
einer  und  derselben  Zelle  meist  nicht  mehr  isochronisch  sind.  —  Eine 
ganz  Ähnliche  Erscheinung  beobachtet  man  oft  bei  Infusorienwimpera 
(den  Endborsten  von  Euplotes  z.  B.),  deren  Spitzen  in  Fibrillen  ge« 
spalten  sind.  Die  Hauptmasse  des  Haares,  das  übrigens  in  allen  seinen 
Tbeilen  vollkommen  gut  beweglich  bleibt,  ist  hier  oft  eine  Zeit  lang 
ganz  still,  wahrend  die  Fibrillen  an  der  Spitze  des  Haares  lebhafte 
Bewegungen  ausführen.  Diese  Thatsachen  lassen  nur  zweiErklflruügen 
zu :  entweder  nimmt  man  an ,  die  Giliensubstanz  besitze  automatische 
Erregbarkeit;  oder  man  nimmt  an,  sie  sei  nur  durch  einen  vom  Proto- 
plasma ausgehenden  Reizungsvorgang  erregbar  und  dieser  könne  sich 
durch  einen  Theil  der  Wimper  fortpflanzen ,  ohne  in  diesem  Bewegühg 
auszulösen.   Beide  Annahmen  lassen  sich  vertheidigen. 

Endlich  gedenken  wir  hier  noch  der  in  vieler  Hinsicht  meriiwür-* 
digen  Resultate ,  welche  die  Untersuchung  über  den  Einfluss  elektri- 


4)  Leider  habe  ich  keine  eigenen  Erfahrungen  Über  diese  Gebilde.  Bs  ist 
denkbJBf,  dass  bei  genauerer  Untersuchung  auch  hier  ein  complicirterer  Bau  sich 
nachweisen  Hesse. 


478  Th.  W.  EmriMMB,  fhte  die  flmmtA^m^gu^ 

sdier  Reiulng  geHefert  hat.  Vor  Allem  die  BeobaditmigeD  Ober  die 
Wirkung  einer  einzelnen  Stromschwamkong  scheineH  uns  beiMerkens- 
werth ,  weil  sie  in  so  auffälliger  Weise4ie  Uniultfssigkeit  ^»msser  be- 
liebter Yergleidie  zwischen  Gilien-^  und  Muskelsubslanz  dafthun.  Wir 
sahen ,  dass  in  Folge  memeiilBner  elektrischer  Beizung  niemals  ein  der 
Zuckung  des  Muskels  Tergieichbares  einfacbes  Phänomen  am  gereizten 
Flimmeriiaar  auftrat ,  sondern  dass  sich  die  stattgehabte  Erregung  als 
Steigerung  (unter  gewissen,  bekannten  Umständen  auch  alsHemmuBg) 
der  periodisch-rhythmischen  TbStigkeit  der  Cilie  äusserte.  Diese  Thai- 
sache iässt  nur  zwei  Annahmen  zu.  Entweder  die  Cüiensubstanz  selbst 
ist  elektriscb  nicht  nsiebar  —  imd  dann  beruht  der  Erfolg  der  Reizung 
auf  einer  Erhöhung  der  periadiseh^-rhythraischm  Thätigkeit  des  Proto- 
plasma, auf  dem  die  Cilien  sitwn,  verbunden  ▼ieHdcht  mit  einer  Ver- 
änderung der  Erregbarkeit  der  Wimpersiriistanz  für  den  votft  Proto- 
plasma kommenden  fteiz.  Oder  dfe  GiheDsaintana  selbst  ist  elektrisch 
reizbar,  und  damn  liegt  die  Ursache  der  Periodioilät  der  Bewegungen 
in  ihrem  eigenen  Bau.  Welcher  der  beiden  Annahaen  man  sich  auch 
zuwenden  möge,  jedeoüaUs  beweist  die  Thatsacbe,  dass  zwischen 
Muskel-  und  Fümmersubstanz  fundamentale  Unterschiede  bestehen. 
Sie  warnt  uns^  im  Verein  mit  den  übrigen  Ergebnissen  unserer  Unter-, 
suchung,  vor  dem  Versuche  -—  za  dem  «eueidittgs  wieder  häufig  der 
Anlauf  genommen  wurde  —  eine  möglichst  vollständige  Analogie 
zwischen  den  am  Muskel  und  den  an  den  Flimmerapparaien  beohaeh- 
ieten  Erscheinungen  herzustellen.  Auch  eine  Betrachtung  der  Ana^ 
logien,  welche  zwischen  Flimmer-  und  Protoplasmabewegung  be- 
stehen ,  scheint  uns  so  lange  noch  wenig  Nutzen  zu  versprechen ,  aJs 
die  Bedingungen ,  unter  denen  die  Protoptasmahawegung  au  Stande 
kommt  und  die  Aenderungen,  wefcbe  dieselbe  unter  dem  Einliuss  ver- 
schiedener Agentien  unter  verschiedenen  Bedingungen  erleidet,  nicbt 
noch  grttndlicber  bekannt  sind.  Vielleicht  finden  wir  selbst  bald  Ge- 
legenheit, zur  Ausfilliung  dieser  Lücke  etwas  beizifttragen. 


ErUlniiic  Aar  Abbildugett. 

TtM  TL 

Alle  Figuren  sind  in  natürlicher  Grosse  gezeichnet. 


• 


Fig.   I.  Flöchenansicht  der  Gaekamjner  von  oben. 

aa  Der  Deckel  mit  der  centralen  Oeffnung  6,  welche  innen  durch  das 

Deckglas  verschlossen  wird  (vergleiche  Fig.  II  u.  IV). 
ec  Die  Klammem  mit  den  Schrauben,  durch  welche  der  Deckel  auf  die 
messingenen  Seitenwttnde  der  Kammer  aufgepresst  wird.    Ihre  An- 
wendung ist  nur  dann  döthig,  wenn  der  Gasdruck  im  Inneren  der 
Kammer  so  hoch  steigen  sollte,  dass  der  Deckel  emporgehoben  wird. 
Für  gewöhnlich  reicht  es  aus  >  die  Ränder  des  Deckels  mit  etwas  Fett 
zu  bestreichen  und  denselben  dann  fest  aufzudrücken, 
d  Bin  Einschnitt  im  Deckel,  der  das  Hervorziehen  und  hiermit  das  Ab- 
heben des  D«0kels  erleichlerl 
ee  Die  messingenen  Ansatcrtfhren,  zum  Befestigen  der  Kaulschuk3ChUiu- 
che.   Für  den  Gebrauch  der  Kammer  auf  dem  heizbaren  Objecttiscb 
von  M.  ScHCLTZE  werden  Ansatzröhren  von  35  Millimet.  Länge  ange- 
schraubt. 
Fig.  R.  VertlcalerLttngsschiittl  durch  die  Mitte  der  «Gaskammer.  ' 
M  Der  Deckel. 
b  Das  Deckglas,  welches  die  centrale  Oeffnuog  voa  untao  her  verschlieset 

und  an  dessen  Unterfläche  der  Tropfen  mit  dem  Object^koromt. 
€,  d,  e  wie  in  Fig.  I. 

f  Die  den  Boden  der  Gaskammer  bildende  Glasplatte. 
Fig.  m.  Veiticaler  QtierschnKt  durch  die  Kammer,  in  der  Htfhe  einer  der  beiden 
Klammem.    Zslgl  die  BefeBügung  des  Glasbodeu  f  in  den  Seilenwttndeo. 
Ebenso  die  Befestigung  der  Klammer  cq. 
Fig.  IV.  Verticaler  Längsschnitt  durch   die  Mitte  des  Glasdeckels  für  elektrische 
Reizung. 
X»  Die  beiden  Oeffnungen  im  Glasdeckel ,  durch  welche  df c  Elektroden 
in's  Innore  der  Kammer  treten.    Die  Oeflhungen  sind  mit  Thon  aus- 
gefüllt, welcher  sich  a«f  der  unteren  Flächrdes  Deckels  in  einer  Rinne, 
die  unten  durch  ein  JDeckglas  k  gescfolossen  ist,  bis  an  den  Rand  des 
Präparates  fortsetzt.  Bei  xx  werden  die  Thonspitzen  der  od  Bois'schen 
unpolarisirbaren  Elektroden  aufgesetzt. 
Fig.  V.  Verticaler  Querschnitt  durch  den  Deckel  für  elektrische  Reizung,  in  der 
Höhe  einer  der  Oeffnungen  für  die  Elektroden. 
gg  Die  beiden  Glasleistchen  im  Querschnitt,  welche  die  Rinne  für  den 

Thon  bilden. 
X  und  h  wie  in  Fig.  IV. 


482  •r-  M.  Seldäl, 

54  —  60.    -  — 

64  —  70.    -  1 

74  —  80.    -  — 


18. 

Die  Vertheilung  der  Fälle  auf  die  einzelnen  Monate  entspricht  im 
Ganzen  dem  häufigsten  Verhalten  der  Krankheit,  die  grOsste  Frequenz 
fällt  auf  September  und  October^  sie  nimmt  allmählich  durch  die 
Winterooonate  hindurch  ab ;  im  April  und  Mai  fehlt  die  Krankheit  voll- 
ständig und  steigt  vom  Juni  bis  August  die  Frequenz  ziemlich  rasch. 
In  Betreif  des  Alters  stellt  sich  das  Yerhältniss  so,  dass  von  den  430 
Fällen  46  auf  das  1.  bis  15.  Jahr^);  also  auf  das  Kindesalter  fallen, 
=  35,4  %;  62  auf  das  46.  bis  40.  Jahr,  =  47,7  %;  jenseits  des 
40.  Jahres  22,  =  4  6,9  7o;  »och  jenseits  des  50.  Jahres  9,  «  6,9  %. 
Es  stimmt  dtestils  Prooentverbältniss  der  ErkrankungcB  nach  dem  Alter 
nur  mit  wenigen  Beobachtungen ,  die  ich  darüber  vergleichen  konnte. 
Das  überwiegend  starke  Erkranken  im  eigentlichen  Blttthealter,  speciell 
vom  20.  bis  40.  Lebensjahre,  entspricht  zwar  dem  Resultate  vieler 
Statistiken ;  ganz  auffallend  aber  sind  die  Zahlen  für  das  Kindesalter 
und  höhere  Alter  durch  ihre  abnornte  Höhe.  Gribsinger  fand  in  seiner 
Statistik  aus  dem  Züricher  Spitale  für  die  Altersklasse  jenseits  des 
40.  Lebensjahres  42,9  %,  »eine  Zahl  die  Alles,  was  an  anderen  Orten 
hierüber  beobachtet  wurde ,  übersteigt ,  und  auf  in  Zürich  wirkende 
intensive  Typhusursachen  schliessen  lässt.«  Unsere  Procentzahl  ist  noch 
um  ein  Yiertheil  höher ,  und  wenn  sich  auch  nicht  verkennen  lässt, 
dass  dieselbe  nach  der  Durchschnittserfahrung  sehr  hoch  ist,  so  muss 
man  doch  berücksichtigen ,  dass  die  in  Spitälern  gewonnenen  Zahlen 
den  wirklichen  Häufigkeitsverhältnissen  aus  naheliegenden  Gründen 
durchaus  nicht  immer  entsprechen.  Mau  braucht  sich  nur  daran  zu 
erinnern,  wie  viel  häufiger  Gesellen,  Dienstboten  u.  s.  w.,  die  meist 
im  jugendlichen  Alter  stehen ,  bei  länger  dauernden  Erkrankungen  in 
die  Spitäler  eintreten ,  als  Verheii^thete  oder  überhaupt  Glieder  einer 
im  Orte  wohnenden  Familie.  Es  kommen  deshalb  Zahlen  die  aus 
Spital  und  poliklinischer  Praxis  gewonnen  werden,  der  Wahrheit  schon 
beträchtlich  näher.  Ich  bemerke,  dass  einige  Male  sehr  intensive  Haus- 
epidemieen  beobachtet  wurden ,  so  dass  bei  einigen  sämmtliche  Fa- 
milienglieder erkrankten.    Dies  war  z.  B.  in  einem  Hause  der  Fall,  wo 


4)  Nur  3  Fälle  hatten  d«s  U.  Lebensjahr  til^rschritten  nnd  beide  hatten  noch 
vollständig  den  kindlichen  Habitus. 


Beitrag  zu;  («ebre  rom  lleotyphn;^  483 

4er  ältesta  und  jüngste  Fall  unserer  fieotfechtung ,  eine  Frau  voo  72 
Jahren ,  ein  Knabe  von  1 Y2  J^bren  erlfranklen ,  nachdem  die  übrigen 
^  Faaülicnglieder  der  Reihe  nach  am  Typhus  erkrankt  und  mm  Theil 
gesUrben  waren.  Wenn  aber  auch  ein  Theil  der  zahlreioben  Ei^ran- 
kmgen  von  Sandern  und  alten  Leuten  auf  intensive  Hausepidemieen 
k/mwt,  so  bleibt  doefa  ein  beträchtlicher  Tbeil,  wo  dieses  Verbal tniss 
Xkidii  lerhoben  werden  konnte. 

üaA  weit  mehr  aber  als  in  Bezug  auf  die  Häufigkeilsverhältnisse 
weidben  unsere  Zahlen  ab  von  den  gewöhnlichen  Resuhaten  in  Bezug 
auf  die  Mortalität  nach  den  verschiedenen  AHerscIassen. 
Bis  ZUBQ  45.  Jahre  stettt  sich  das  Verhältniss  2  auf  46  «5  4,34  %;  vom 
15.  bis  40.  Jahre  U  auf  62  «  ^2,58  %;  jenseits  des  40.  Jahres  2  auf 
82  m  9,09  %.   Die  Kindertypben ,  überhaupt  leichter  ab  die  der  Er* 
wachsenen ,  geben  nach  anderen  Zusammenstellungen  etwa  eine  Mor^ 
talitat  von  40  %,   über  das  Doppelte  höher  als  unsere  Procentzahl. 
Ebenso  nur  noch  bedeutender  ist   die  Differenz   für  ältere   Leute. 
GansmoBft  naoh  einer  beträchtlichen  Zahl  von  Fällen  eigener  Beobaoh* 
tung^  berechnei  die  Mortalität  jenseits  des  40.  Jahres  auf  26  % ,  bei 
UatK,  allerdings  nur  nach  9  Fällen  stellt  sie  sich  gar  auf  56%.   Unsere 
Kftlle  jenseits  des  40.  Jahres  waren  in  der  Mehrzahl  schwerere  und  von 
langer  Dauer ,  doch  auch  recht  leichte  darunter ;  die  72jährige  Frau, 
die  oben  erwähnt  wurde ,  überstand  den  Typhus  nach  mehrwöcbent- 
lichem  Krankenlager  glücklich.    Gerade  das  Blüfhenalter  hat  bei  uns 
eine  yerhälinissmässig  hohe  Procentzahl.    Mortalittttsstatistiken  nach 
den  Lebensjahren  haben  an  sich  im  Ganzen  wenig  Werth.  Das  wirk*- 
liohe  Gealtertsein,  das  in  Bücksicht  auf  die  Widerstandsfiifaigkeit  gegen 
das  andauernde  Fieber  von  Belang  sein  mag ,   riditet  sich  bekanntlich 
nicht  immer  nach  den  Jahren.   Unsere  Zahlen  mtfgen  dazu  beitragen, 
zu  «eigen,   dass  man  bei  so  differenten  Resultaten  nur  nach  sehr 
grossen  Zusammenstellungen  eine   annähernd  richtige  Beurtheilung 
der  hier  in  Frage  stehenden  Verhältnisse  wagen  kann. 

Von  den  4  8  Todesfllllen  konnte  die  Zeit,  die  vom  Anfange  der  Er- 
krankung bisaum  Tode  verlief,  auf  den  Tag  genau  ermittelt  werden  bei  4  0. 
Es  starben  von  diesen  4  0  in  der  \ .  Woche  ^ ,  2.  Woche  2,  3.  Woche 
4,  4.  Wodie  2,  5.  Woche  2,  6.  Woche  3,  46  Mal  konnte  die  Section 
gemacht  werden.  Aus  den  Protokollen  theile  ich  nur  das  Wichtigere 
mit.  Die  Infiltration  und  Verschwärung.der  P.eyersoheji 
PMq^ueS'und  solitären  Follikel  war  40  Mal  intensiv,  6  Mal  un- 
-faedoutend;  im  Colon  40  Mal  Infiltration  und  Ulceration  der  solitären 
Drüsen.  4  Mal  reichlich ,  6  Mal  unbedeutend.  Ausserhalb  des  Ueum 
und  Colon  wurden  keine  Infiltration«!  beobachtet.   Die  Mesenterial- 

84* 


s 


484  Dr.  M.  Seidel, 


drttsen  stets  geschwollen  |    mitunter  zu  nussgrossen  Packeten  mit 
Infiltration.   Perforation  deä  Darms   i  Mal  Ende  der  3.  Woche. 
Herz:   frische  Endocarditis  i  Mal;-  beide  Fälle  mit  keilförmigen 
Heerden  in  der  Milz,  der  eine  dunkelroth,  der  andere  bereits  gelblich  ge- 
färbt, in  der  Mitte  erweicht.  Ergüsse  insPericard4  Unze  und  darOber 
4  Mal.  Blasse  Färbung  der  Musculatur  des  Herzens  bald  mehr  des  rechten, 
häufiger  des  linken  Ventrikels  mit  mehr  weniger  grosser  Brüchigkeit 
derselben,  wurde  10  Mal  notirt.   In  den  Lungen  wurde  ausser  den 
gewöhnlichen  Befunden  von  Katarrh  der  Bronchen,  Emphysem,  Oedem, 
Atelektase,    Hypostase  und  lobulären   Heerden   gefunden:     grössere 
pneumonische  Heerde  3  Mal  mit  frischer  Pleuritis  ohne  erhebliche 
Exsudation ;    i  Mal  4  grosses  fibrinös  seröses  Exsudat  etwa  1  Maas  mit 
einem  apfelgrossen  pneumonischen  Heerd  im  rechten  oberen  Lappen ; 
einmal  ein  keilförmiger  Heerd  am  linken  oberen  Lappen  grauroth,  die 
Pleura  darüber  nekrotisch ;   einmal  Ossification  der  Bronchen;   einmal 
innerhalb  einer  gallertigen  Hepatisation  des  rechten  unteren  Lappens 
nahe  der  Oberfläche  eine  nussgrosse  Höhle  mit  fetzigen  Wandungen, 
Verstopfungen  mehrerer  Pulmonalarterienäste  grösseren  Kalibers  durch 
Embolie  aus  der  linken  Vena  cruralis.    Kehlkopf:  Ulcerationen  8  Mal, 
das  eine  Mal  ausgebreitet,  das  andere  Mal  eine  kleinere ,   beide  an  der 
hinteren  Wand ;    ein  Mal  noch  eine  linsengrosse  stark  geröthete  Stelle 
an  der  hinteren  Wand.   Die  Milz  oft  beträchtlich  vergrössert,  ebenso 
die  Nebenmilzen  ,   einmal  die  Milz,  die  nicht  vergrössert  war,  sträng- 
förmig  fixirt,  die  Kapsel  mit  alten  Verdickungen  versehen.    7  Mal  fan- 
den sich  Ekchymosenan  verschiedenen  Organen,  Pleura,  Pericard, 
Leber ,  Magen  etc.    Im  Hirn  ausser  leichterem  Oedem  und  etwas  ver- 
mehrtem Serumgehalt  der  Ventrikel  ein  Mal  ein  kleiner  Erweichungs- 
beerd  im  Pens.   Die  Nieren  in  einigen  Fällen  in  der  Corticalis  ge- 
schwellt, blassgelb,  streifig.   Die  Leber  wurde  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  von  etwas  blasserer  Farbe ,   grauroth ,   selbst  graugelb  gefunden, 
brüchig ,  fettreich ,  die  Zeichnung  der  Acini  undeutlich.  — 

Von  den  Ortschaften ,  die  dieses  Material  lieferten ,  werden  einige 
häufiger,  andere  seltener  vom  Typhus  befallen.  In  der  Stadt  Jena 
kommen  wohl  alljährlich  Typhusfälle  vor ;  ebenso  in  den  ganz  nahe  an 
der  Saale  tief  gelegenen  Ortschaften  Camsdorf  und  Wenigenjena;  auch 
Jenapriesnitz  hat  schon  wiederholt  grössere  Epidemieen  gehabt.  ^] 
Ziegenhain  hatte  die  letzte  im  Jahre  4859 — 60.  Aus  den  genannten 
Ortschaften  und  den  hoch  gelegenen  Dörfern  Ltttzeroda  und  Cosfhda 
stammen  von  den  4  30  Fällen  4  47;  der  Rest  tsiüi  auf  eine  Anzahl  an- 


1)  LoTHHOLf ,  Dissertat :  Beitrag  zur  Aetiologie  des  Ileotyphus.  Jena  4866. 


r 
Beitrag  lar  Lehre  fom  Ileotyphus.^  485 

ctorer  IMrfer ,  die  von  der  Poliklinik  aus  jffiiandelt  werden ;  und  auf 
von  außsen  eingeschleppte. 

Genaue  Krankengeschichten  liegen  mir  von  50  Fällen  vor,  davon 
44  aus  dem  Spital;  und  zwar  betreffen  diesell>en  36  Erwachsene  und 
K  4  Kinder.  Aus  diesem  Material  sind  die  folgenden  Bemerkungen  über 
eine  Reihe  der  wichtigeren  und  interessanteren  Puncto  der  Erkrankung 
eninommen. 


Unter  50  Fällen  kamen  23  Personen  aus  Häusern ,  wo  notorisch 
Typhus  herrschte ,  so  dass  öfters  mehrere  Familienglieder  oder  Haus- 
genossen von  demselben  erkrankt  waren.  2. Hai  herrschte  Typhus 
nicht  im  Hause  selbst,  sondern  in  der  nächsten  Nachbarschaft;  9  Mal 
herrsdite  Typhus  im  Orte,  4  Mal  erkrankten  Kranke,  die  in  der  Anstalt 
an  anderen  Krankheiten  lagen,  oder  daselbst  beschäftigt  waren  (siehe 
unten] ;  2  Fälle  kamen  weiter  her  von  auswärts ,  einer  von  Hamburg, 
einer  von  einem  Manövre.  In  40  Fällen  konnte  kein  näherer  Zu-* 
sammenhang  ermittelt  werden,  obgleich  auch  bei  diesen  Fällen  die 
Sache  mehrmals  so  lag ,  dass  in  den  nächsteü  Nachbarorten  bestimmt 
Typhuskranke  lagen,  die  betreffenden  Individuen  auch  in  diesen  Orten 
gewesen,  aber  angeblich  nicht  in  Häuser,  wo  Kranke  lagen,  gekommen 
waren.  — 

Von  Hausepidemieen  hatten  wir  ausser  dem  z.  B.  oben  er-* 
wähnten  eclatanten  Falle,  wo  sämmtliche  Individuen  vom  zartesten 
Kindesalter  bis  ins  höchste  Greisenalter  erkrankten ,  noch  eine  ganze 
Reihe  von  Fällen;  und  ebenso  liess  sich  mehrfach  ein  Ausstrahlen 
der  Erkrankung  von  einem  intensiven  Heerde  und  die  Bildung 
neuer  Typhusheerde  verfolgen;  Zustände,  die  sich  am  besten 
durch  eine  Contagion  im  weiteren  Sinn  des  Wortes  erklären  lassen. 
Von  der  eben  erwähnten  Familie  wurden  nach  dem  Tode  der  beiden 
Eltern  die  Kinder  einige  Tage  bei  Verwandten  untergebracht,  bevor  sie 
ins  Spital  Übersiedelten;  nach  einiger  Zeit  erkrankten  mehrere  dieser 
Personen.  Nachdem  in  Wenigenjena  4864  in  unmittelbar  bei  einander 
liegenden  Häusern  9  Typhusfälle  vorgekommen  waren ,  wurden  Mann 
und  Frau  W.  nebst  deren  Dienstmädchen  B.  wegen  gänzlichen  Mangels 
AU  Pflege  ins  Spital  aufgenommen.  Die  Schwester  der  Frau  W.,  Frau 
G.,  nahm  die  Kinder  dieser  Eheleute  am  4  4.  September  zu  sich  nach 
Jena.  Eines  der  Kinder  litt  damals  angeblich  einige  Tage  an  ein- 
facher Diarrhoe.  Am  3.  October  erkrankte  zunächst  der  Ehemann 
der  Frau  G.  —  der  die  erkrankton  Verwandten  nicht  besucht  hatte, 
am  Typhus;  am  9.  October  die  Frau  G.  selbst,  die  mehrfach  bei  ihrer 


486  *  X  Di*,  yi.  Seidel, 

kfanked  Schwester  geweseli  ^ar,  dieselbe  starb;   und  endHeh- 
krankte  auch  der  Sohn  dieser  Eheleute,  E.  6.    In  einer  Reibe  anderef 
PaUe,  deren  Mittheilung  ich  der  Güte  des  Herrn  Hofrath  Gervaabt  ver— 
danke,  war  der  Zusammenhang  und  die  iT^sebleppung  des  Contagiums 
nach  anderen  StadUheilen ,   und  die  Bildung  neuer  Heerde  ebenfalls 
genau  zu  verfolgen.    In  einem  höchst  unreinKcb  gehaltenen  kleinen 
Hause ,   in  dem  die  Luft  mit  Fäulnissproducten  aller  Art  geschwängert 
war,  erkrankten  Ende  des  Mai  1864  ein  9jähriger  Knabe  T.,   später 
dessen  Mutter ,  als  er  selbst  Reconvalescent  war ,  und  als  die  Mutter  in 
Genesung  begriffen  war,  auch  der  Vater,  so  dass  sich  in  diesem  Hause 
die  Fälle  durch  ijüfonate  bis  Ende  September  hindurchzogen.    Erst  zu 
Anfang  October  brach  in  den  Nachbarhausem  der  Typhus  aus,   von 
denen  5  Fälle  zu  unserer  Kenntniss  kamen.    Von  diesen  5  ging  ein 
Dienstmädchen,   Gh.  R.,   die  nur  sehr  leicht  erkrankt  war,   zu  ihrer 
Mutter  in  einen  ganz  anderen  Stadttheil  und  liess  sich  dort  4  0  Tage 
verpflegeti.   Nach  einiger  Zeit  erkrankte  ihre  Mutter  und  starb  Anfamg 
Decembers.   Kurz  hinter  einander  erkrankten  dann  in  einem  Nachbar- 
bause  3  weitere  Personen  und  in  geringer  Entfernung  in  derselben 
Gasse  noch  eine  Reihe  von  Individuen.   Von  demselben  Hause  T.,  von 
dem  diese  ganze  Erkrankungsreihe  ausging ,  datirte  auch  ein  Fall  in 
einem  Nachbardorfe  A.,  der  Tagelöhner  S.,  der  im  Hause  des  T.  mehr- 
fach gearbeitet  hatte  und  schon  Mitte  October  erkrankte.   Er  blieb  in 
seinem  Dorfe  vereinzelt.  —  Von  den  4  Personen,   die  im  Spital  er- 
krankten zu  einer  Zeit,  als  das  l6olirhau3  noch  nicht  existirte,  sind  3 
mit  Wahrscheinlichkeit  als  durch  Typhuskranke  vermittelt  anzusehen, 
wenigstens  die  Mogliobkeit  der  Erkrankung  auf  dem  Wege  der  An- 
steckung vorhanden.    Der  erste  Fall  W.   trat  ins  Haus  ein  wegen 
secundärer  Syphilis  am  30.  September  64 ,  erkrankte  am  Typhus  den 
SI5.  Novbr.   Es  lag  Typhus  im  Hause  seit  den  H.  August,  eine  Kranke 
D.,  die  am  22.  August  starb,   doch  lag  diese  in  einer  ganz  anderen 
Etage,  weit  entfernt  bei  einer  anderen  Wärterin,   dann  wurden  am 
13.  und  14.  September  3  Typhen  aufgenommen,   darunter  ein  sehr 
schwerer  auf  demselben  dorridor  in  ein  geräumiges  Zimmer  gd^gt» 
der  dort  bis  Ende  November  lag.   Auch  am  9.  November  war  ein  Fall 
aufgenommen  worden  und  auf  denselben  Gorridor  gelegt.  Dassdbe  gik 
für  den  2.  Fall  E.,  die  ebenfalls  an  secundärer  Syphilis  am  86.  Oe(. 
aufgenommen  wurde  und  am  1 2.  December  erkrankte.  •  Sie  befand  sich 
in  demselben  Zimmer,  wie  die  W.,  unter  ganz  gleichen  Bedingungen, 
und  lag  mit  dieser  in  den  ersten  paar  Tagen ,   ehe  die  Diagnose  auf 
Typhus  gestellt  werden  konnte,  Bett  an  Bett.   Die  dritte  Person ,  Wär- 
terin H.,   erkrankte  Ende  November,   nachdem  vom  September  ab 


Beltng  zur  Lete  ron  lleotyphus.    r  487 

TyphesiM  Havse  aber  nichl  auf  ihrer  Ab^jf^ung  gelegen  hatta.  AU^ 
3  S)er8iMi6D  befanden  sich  in,  wenn  auch  iiicht  unuiltelbarer  Ndhe  von 
Typbuskranken ,  so  cboh  in  manchen  indiraelen  Besiehungen,  durch 
dbs  Wactperaonal ,  durch  Q^olaung  der  Aborle,  wo  die  Typhus-^ 
dqeelionen  entleert  waren  u.  s.  w.  Beim  4.  Fall.  K.  lä$at  aich  ein 
näherer  Zusammenhang  nicht  angeben.  Das  Kind  lag  sobon  seit  ?ip^r 
Reihe  von  MonatM  im  Hause,  erkrankte  am  U.  Juli  6I>,  nachdem  der 
letzte  Typhvafall  bereits  am  II .  April  65  das  Haus  verlassen  batt^. 

Fttr  die  Incubation  läsat  sich  aus  unseren  FlUlen  nur  einer 
verwerthen^  dei\aber  auch  recht  beweisend  ist.  Die  kranke  P.  pflegte 
auswärts,  8  Stunden  von  hier,  ihre  Mutter  3  Wochen  lang  an  Typhus, 
bis  zu  deren  Tode.  Sie  kehlte  hierher  zurück  am  26.  Juli  66  und  ^x^ 
krankte  am  8*  August  ganz  iaolirt.  Die  letzten  TjpbusfeiUe  waren  im 
März  dagewesen,  die  nächsten  kamen  erst  im  November.  Es  b^echnet 
sich  die  Ineubalion  also  mindestens  auf  \  %  Tage.  Der  oben  mitr- 
getheilte  Fall  der  Familie  G.,  die  .die  Kinder  ihrer  am  Typbus  e^*- 
krankten  Verwandten ,  von  denen  das^  eine  an  Diarrhoe  litt ,  zu  aich 
nahmen ,  spricht  ebenfalls  für  eine  beträchtliche  Dauer  dei'  Incubation. 
Es  reihen  sich  diese  Beobachtungen  denen  von  Lothuolz  s.  ob.  publi* 
einen  Fällen  ^iner  längeren  Dauer  der  Incubation  an.  Es  sq^richt  für 
dieselbe  schon  die  oft  bezweifelte  Gonlagiosiiät  der  Erkrankung ,  die 
bei  langer  Incubation  verständlioher  wird.  Ob  auch  ganz  kurze  Incur 
bationsdauer  vorkommt ,  von  Stunden  oder  ein  paar  Tagen  laase  )Qh 
dahingestellt ,  nach  den  £rfahnlng^n  bei  den  meisten  InfactionakrfiDkT 
halten ,  ist  eine  so  beträchtliche  Differenz  nicht  gerade  wahrscheinliob« 

Beiraohten  wir  zunächst  die  36  Fälle ,  die  Erwachsene  beU^fen, 
in  Bezug  auf  die  Symptomatologie  etwas  genauer.  Die  gewähnlichen 
Initialaymp tarne:  Kopfschmerz,  Schwindel,  Mattigkeit,  Flimmern 
vor  d«i  Augen ,  Ohrensausen ,  Uebelkeit ,  Appetitmafngel  waren  in  den 
verschiedenen  Fällen  verschieden  vertreten.  7  Fälle  begannen  mit 
einem  intensiven  Froate,  3  ohne  alles  Frieren,  sogleich  mit  Hitzegßfühli 
es  waren  sämmtlich  Personen,  die  sich  im  Zimmer  aufzuhalten  gen- 
nöthigl  waren,  die,  meisten  Fälle  begannen  mit  wiederholtem  Frästeln ; 
ä  Mal  begann  die  Erkrankung  mit  lästigem  beängstigendem  Herz* 
klopfen,  das  aich  später  verlor,  ohne  dass  während  des  Verlaufs  und 
später  am  Herzen  irgend  welche  Veränderung  nachgewiesen  werdep 
konnte.  Ein  Typhusanfang  wurde  verwischt  durch  Symptome  einer 
Jadvergiftung:  Thränen  der  Augen,  Injeotion  der  Qo9\junctiva,  leichten 
SpeiebelflusB ,  Schmerzen  in  den  Drüsen  des  Unterkiefers  uud  kcm-r 
erupüon;  das  Thermometer  klärte  den  Fall  alsbald  auf.  Sehr  "h^tt 
breitete  Gliederschmerzen  in  Nacken^  GelenkeU)  Kreuz,  Extre-^ 


4g8  ^'^  ^  !>'•  M.  Seidel, 

mitäten,  und  von  Anfang  dp  auffallende  Mattigkeit,  so  dass  aicii 
selbst  kräftige  Individuen  sofort  eu  Bett  legten ,  kamen  7  Mal  vor  imd 
sind  prognostisch  schlecht,  von  diesen  7  starben  4.  2  PäUe  waren 
sehr  schwer,  in  einem  davon  fcdgten  ti^  der  Reconvalesoens  befUge 
Schmerzen,  Sdiwäche,  fibrilläre  Zuckungen  und  GircumfereniabnahoM 
der  rechten  oberen  Extremität;  nur  ein  Fall  bei  einer  scbwächliohen 
Person,  der  auch  ausserdem  mit  starken  Nervensymptomen  begann^ 
verlief  abortiv.  — 

In  Bezug  auf  die  Schwere  oder  Leichtigkeit  des  Verlaufs,  beurlhe&t 
einmal  besonders  nach  dem  Fieber  —  Dauer  überhaupt,  Dauer  der 
hohen  Abendtemperaturen,  Höhe  der  Temperatur  ttbeiiiaupt  etc.  — , 
dann  nach  der  Schwere  der  Nervensymptome  und  der  Symptome  von 
Lunge ,  Herz  und  Abdomen ,  stellt  sich  das  Verhältniss  so ,  dass  6  gans 
leicht  und  abortiv ,  1 2  leicht ,  6  voll  entwickelt ,  4  schwer  und  8  lethal 
verliefen ,  2  durch  schwere  Gomplicationen  von  Seiten  der  Lunge ,  3 
unter  dem  Zeichen  der  Herzschwäche,  3  an  dem  hoben  und  lang* 
dauernden  Fieber.  — 

Von  den  6  ganz  leichten  Fällen  war  der  kürzeste  bereits  am 
Abend  des  40.  Tages  fieberfrei,  nachdem  am  Abend  des  5.  Tages  die 
höchste  Temperatur,  32,2  erreicht,  und  schon  am  6.  Tage  eine  grosse 
Remission  aufgetreten  war;  dieser  FaQ  stammte  aus  einem  Typhus«- 
hause  und  schien  im  Anfang  wegen  der  starken  Nervensymptome  ein 
schwerer  werden  zu  wollen.  In  den  übrigen  5  Fällen  trat  der  Abfall 
des  Fiebers  zwischen  dem  8 — i  5.  Tage  ein ,  theils  in  grossen  Remis-- 
sionen ,  in  3  Fällen  ohne  diese ,  staffeiförmig ,  die  völlige  Entfieberung 
vom  \3 — 19.  Tage;  die  höchsten  Abendtemperaturen  betrugen  34,5; 
31, g;  32,0;  32,2.  Ein  Fall  machte  2  Abortivtyphen  durch;  am  43. 
Erankheitstage  Abends  völlig  fieberfrei ,  blieb  er  4  4  Tage  ohne  Fieber 
und  erholte  sich  etwas  —  der  Fall  betraf  eine  geschwädite  Person  — 
dann  trat  plötzlich  wieder  Fieber  auf,  das  am  Abend  des  2.  Tages  die 
grösste  Höhe,  32,5,  erreichte,  aber  sofort  in  steilen  Gurven  abfallend, 
nach  Verlauf  von  4  6  Tagen  aufhörte.  — 

In  den  leichten  Fällen  traten  stärkere  Remissionen  auf  im  Durch- 
schnitt Ende  der  2.  Woche,  in  einigen  Fällen  einige  Tage  früher,  in 
einigen  erst  am  Ende  der  3.  Woche  bei  massiger  Temperaturhöbe; 
doch  wurden  in  allen  Fällen ,  mit/  Ausnahme  eines  einzigen ,  der  nur 
auf  34,7  kam,  32,0  erreicht,  und  überschritten  bis  auf  32,5  und  32,8. 
Völlige  Entfieberung  traf  nur  einmal,  bei  raschem  Abfall  in  der  2.  Pe- 
riode auf  den  4  8.  Tag ;  in  den  übrigen  Fällen  Mitte  und  Ende  der  4. 
Woche,  selbst  in  dem  Anfang  der  5.  — In  den  voll  entwickelten  Fällen, 
die  sämmtlich  eher  schwer  zu  nennen  waren ,   hielt  die  hohe  Tempe* 


Beitrag  xnr  Lelire  Ton  Ileotyphns.  489 

ralur  bis  ans  Ende  der  3.  Woche  im  Durchschnitt  an ,  s^mmtlicfae 
hatten  Temperaturen  von  39,0-*- 32,8,  lagere  Zeit;  die  Entfieberung 
fiel  in  die  6.  Woche.  —  Die  4  schweren  Fälle  -  betrafen  sämmtlich 
weiUiohe  Individaen.  G.  40  J.  alt  hatte  bis  zum  Ende  der  3.  Wodie 
flrilasige  Abendtemperaturen,  meist  nur  34,5  oder  etwas  darunter, 
selten  32,0,  und  ziemliche  Morgenremissionen;  mit  Beginn  der  4.  Woche 
steigen  die  Abendtemperaturen  wieder  auf,  erreichen  nochmals  32,0 
und  bawegt  sich  die  Temperatur  mit  starken  Morgenremissionen 
zwischen  34,0  und  32,0  bis  in  die  Mitte  der  5.  Woche;  alsdann  wer* 
den  die  Remissionen  sehr  unbedeutend  und  die  Temperatur  halt  sich 
um  31,5  bei  gleichzeitig  hohen  Pulsfrequenzen  HO — 430  bis  ans  Ende 
der  6.  Woche ;  erst  dann  treten  grosse  Morgenremissionen  bei  lang^ 
saroen  Abfall  der  Abendtemperaturen  auf,  aber  noch  in  der  9.  Woche 
war  die  Abendtemperatur  Über  30,0.  —  Frau  W.  hatte  bis  Mitte  der 
2.  Woche  sehr  hohe  Temperaturen ,  32,0  —  32,8  mit  Remissionen  von 
unter  0,5;  dann  wurden  die  ersten  etwas  niederer,  nur  32,0,  die 
zweiten  etwas  grtaser,  durchschnittlich  0,5,  selten  4,0  bis  Ende  der 
4.  Woche,  von  da  war  die  Abendtemperatur  um  34,5  —  34,8  bei 
starken  Remissionen ;  am  2.  Tage  der  5.  Woche  trat  ein  Collaps  ein, 
die  Tp.  sank  von  34,5  auf  27,8,  stieg  unter  Anwendung  von  Reiz- 
mitteln in  3  Stunden  nur  auf  28,0;  dann  allmählich  auf  normal;  er- 
reichte aber  von  da  ab  Abends  nur  noch  30,5  und  fiel  bis  in  die  6. 
Woche  allmählich  auf  normal.  —  P.  W.  hatte  die  ganze  erste  Woche 
Abends  über  32,0  mit  Morgenremissionen  von  nur  ein  paar  Zehnteln; 
am  7.  Abend  33,0,  bis  fast  zum  Ende  der  4.  Woche  Abends  32,0  und 
meist  darüber,  mit  Remissionen  von  durchschnittlich  nur  0,5;  Ende 
der  4.  Woche  wird  der  Verlauf  unregelmässig,  die  Temperatur  erreicht 
nicht  mehr  32,0 ,  ist  meist  34,3  — 6 ,  nur  einmal  am  30.  Tage  wieder 
32,2,  dann  folgt  ein  rasdier  Abfall  in  steilen  Curven  im  Verlauf  einer 
Woche  auf  normal.  —  H.  50  Jahre  alt,  wird  erst  am  48.  Tage  der  Er- 
krankung, sie  war  in  derPoliklinik  behandelt  worden  —  aufgenommen ; 
bei  grosser  Prostration  Abendtemperatur  von  32,0  und  darüber,  mit 
Morgenremissionen  von  4,0  am  24.  Tage  Abends  33,0  mit  Remissionen 
von  2,3  am  anderen  Morgen.  Es  schwankt  nun  die  Temperatur  bis 
zum  Ende  der  4.  Woche  zwischen  34,6  und  32,2  und  zwar  so,  dass 
die  Steigerungen  derselben  4  Tage  lang  auf  den  Morgen 
fallen,  die  Remissionen  auf  den  Abend,  an  diese  letzte 
Abendremission  schliesst  sich  dann  ein  niederer,  unregiolmässiger 
Fieberzustand  von  c.  30,5,  meist  Abends  einige  Zehntel  höher  als  am 
Morgen,  bis  in  die  Mitte  der  6.  Woche,  dann  steigt  die  Temperatur 
wieder  höber  um  31,0  und  fMlt  mit  grossen  Morgenremissionen  bis  in 


die  8.  Woche  hinom  ab.  -*^  Yoa  den  tödilich  v^laafeiiea  FäUen  baue 
der  eine  £.  noch  in  der  5.  Woche  Abends  um  38,0  mit  lUunissiaiieii 
von  durchsdinitüioh  nur  0,5;  Z.  64  Jahr  alt,  zwar  keine  sehr  hohen 
Temperaturen  und  stariLe  Remissionen,  aber  bis  in  den  Anfang  der 
6.  Woche  hinein  Abends  bis  3f  ,5.  W.  49  Jahr,  bis  Mitte  der  2.  Woeh» 
Abends  um  32,0  mit  Remissionen  von  etwa  0,5,  dann  bis  Mitte  der  3« 
Woche,  stärkere  Remissionen  bei  etwas  niederer  Abet^dtemperalur« 
Mitte  der  3.  Woche  Erhebung  auf  32,0—32,8,  fast  dine  Reisiasionea 
bis  Anfang  der  5.  Woche;  am  33.  Tage  GoUaps  von  32,0  auf  30,0"^ 
den  anderen  Tag  ein  neuer  Gollaps  von  32,0  auf  2^,3  mÄl  Lethalitäi. 
Frau  G.,  37  Jahre,  erst  5  Tage  vor  der  Erkrankung  entbunden  und 
vor  und  sogleich  nach  der  Entbindung  mit  Wartung  ihres  am  Typhus 
erkrankten  Mannes  beschäftigt,  und  Th.  G. ,  29  Jahre,  die  wahrsoban- 
höh  6  Wochen  vor  der  Erkrankung  abortirt  hatte ,  zeigten  von  Aniang 
an  hohe  PulsfrequeuEen,  410,  120  bis  4  40.  Die  erste  dabei  hohe  Tem- 
peratur mit  kleinen  Remissionen ,  bis  Ende  der. 2.  Woche  meist  über 
32,0,  starb  am  16.  Tage ,  die  zweite  eine  massig  höbe  Temperatur  um 
31,7,  mit  Remissionen  von  0,5,  starb  am  44.  Tage.  D.,  49  J^dire,  bis 
;&um  40.  Tage  32,2  ^32,6,  fast  ohne  Remission,  bei  grosser  Oispnoe 
in  Folge  eines  sehr  verbreiteten  Katarrhs,  am  40.  nach  einem RrechnitAel 
Gollaps  von  32,4  auf  29,8,  am  Abend  wieder  34,7,  mit  Remission  zum 
nächsten  Morgen  auf  30,2 ,  Abends  wieder  34,7  und  Tod.  —  Die  von 
Wi»fDERLicH  aufgestellten  Stttee  über  die  Temperaturverhttltnisse  bei 
Ueotyphus  finde  ich  in  ihren  Hauptpunoten  vollstHndig  zutreffend  und 
halte  eine  genaue  Kenntniss  derselben  zur  richtigen  Beurtheilung  aUer 
bei  dieser  Krankheit  in  Frage  kommenden  Verhältnisse  ftlr  dringend 
geboten.   Nur  einige  sind  in  ihrer  Fassung  etwas  zu  streng. 

Von  Seiten  des  Cef  ässsy  Sterns  kommen,  abgesehen  von  leichten 
Abnormitäten,  die  sich  häufig  finden:  —  systolische  Gerifcusdie  aus 
mannidifachen  Gründen ,  Schwäche  der  Töne  besonders  in  der  2,  Pe- 
riode ,  leichte  Unregelmässigkeiten  des  Pulses  — ,  und  abgesehen  von 
dem  fast  rc^elmüssigen ,  wenigstens  vorübergehend  zu  beobachtenden 
Dicrotismus  und  dem  raschen  Steigen  der  Pulsfrequenz  bei  Anstrei^ 
gungen  des  Körpers,  das  übrigens  in  manchen  Fällen  vollständig  feUt, 
noch  folgende  Zustände  zur  Beobachtung :  schwere  Schwächezustände 
des  Herzens  in  einigen  tüdtliehen  Fällen  mit  raschem  Gollaps.  In 
einem  Falle  wurde  die  fettige  Degeneration  des  Herzens  diagneslicirl, 
wo  bei  vei^bältnissmässig  nicht  ungünstigem  Fieber  verlauf ,  und  ohne 
schwerere  CompUcation  von  Seiten  der  Lungen  starke  Gyanose ,  Angst 
und  Unruhe  bei  kleinem,  unregelmässigem  frequenten  Pulse,  schwachem 
Herzstoss  und  undeutlichen  Tönen  sich  fandeni  —  In  einem  anderen 


r 

Beitrug  lur  L«Im  fdn  ReoCypIios*  ^^  401 

Falb  ^  bei  «nev  WttdliieriB  w«r  «diMi  in  d^r  ersten  Woohe  die  Hera^ 
dimpfiuil!  elwBS  Teri)rei«0rt ,  die  Ttfiie  sUmmtlicIi  soll wacb ,  der  erste 
MitiraUon  durdi  ein  in  iwei  Htiflen  gespeltenes  Gerüusch  ersetzt;  aueh 
die  ersten  Time  an  der  Ba^ii  gespellen.    In  der  ^.  Woche  des  sdir 
schweren  V«iau^  wnrde  der  Puls  nndulirend  und  se  stark  diorot, 
dSBs  man  im  Ztthien  irre  wurde,  nnd  es  fielen  die  ersten  TOne  aus,  und 
tnmien  erst  dumpf  nnd  midentlieh  wieder  kurz  vor  dem  Tode  gekdrt, 
als  die  Hstrtctk»  so  sittrmisoh  \iion)e,  dass  man  das  Foeken  vor  der 
Bnial  hMe^  Das  Verhalten  erinaert  an  die  irischen  Typhen.  —  Noch  in 
einem  anderen  tbdtKoben  Fall  war  der  Pub  eo  dicrot,  dass  man  am 
Herzen  124 ,  an  der  Radialis  4  44*-*- 164  lahlte.  -«*  In  einem  Falle  "ron 
frischer  Endecarditis ,  auf  der  von  früher  her  etwas  verdick  len  und 
veriUlrston  Mitralis  fand  sich  schon  bei  der  Aufnahme  die  Heradflmpfung 
etwas  verbreitert,  sterker  Spitaeostoss,  der  bald  abnimmt ,   ziemlich 
starkes,  systoliaehea  Ger ttnach  an  der  Spitee,  der  Puls  wnrde  bald  klein 
und  unregdnritesig  «od  bis  inm  Tode  auffallend  dicrot.   Ein  anderer 
Fall  mit  dem  Zeichen  einer  beraite  lange  bestehenden  geringen  Mitral^ 
Stenose  verlief  schwer  und  langwierig  mit  Schwacheerscheinungen  von 
Seiten  des  Herzens,  genas  aber  eDdlieh.  -*  Pericarditis  entotend  in 
einem  mittelachweren  Falte  in  der  i.  Woche:   Empfindlichkeit  der 
Heragegend  gegoi  Druck,  VergrOsserung  der  Heradttmpfung  nach  oben, 
parioardiales  Geräusch,  Unregebnilssigkeit  des  Pulses ;  gleichseitig  ver*- 
wandelte  sich  der  erste  Ton  an  der  Mitralis  in  ein  sterkes  GerSusch, 
spttter  erschien  der  zweite  Ten  an  der  Spitze  gespahen  und  blieb  es 
bis  zum  Austritt  der  Kranken ,  ohne  dass  sich  sonst  Verttnderungen  am 
Herzen  nachweiaat  liessen.  —  Wahrend  der  Entfieberung  sank  der 
Puls  auch  bei  ganz  indifferenter  Behandlung  mehrmals  tief  bis  auf  48. 
Von  den  Abdomlnalaymptomen  habe  ich  zunttdist  zu  er- 
wähnen den  auffallend  häufigen  Mangel  der  Diarrhoen.    In  8 
FttUen  von  36  fehlten  sie  wahrend  des  ganzen  Typhus  vollständig ,  so 
dass  Glysmategegen  mehrtägige  Stnhlreterdation  mehrfach  nOthig  waren. 
In  einem  weiteren  Falle  traten  sie  erst  in  der  6.  Woche  auf,  bei  einem 
Heddiv;  in  4  anderen  Fttllen  erschienen  sie  erst  in  der  3.  Woche  ganz 
vorttbergehend;   in  3  Fallen  hatten  sich  die  Kranken  selbst  Abführ- 
mittel verordnet,  hatten  darnach  einige  Male  dUnnen  Stuhl  gehabt  und 
trotzdem  Stuhlverstopftang  wahrend  der  Krankheit.   Unter  diesen  45 
Fallen  sind  nur  S  schwere.   Es  spricht  dies  Verhältniss  dafür ,  -^  was 
wenigstens  im  Allgemeinen  angenommen  wird  <^  dass  die  Infiltration 
der  Peyerschen  und  solitaren  Drüsen  parallel  geht  der  Schwere  der  Er- 
krankung. Damit  stimmt  auch,  daaa  in  6  Fallen  mit  profusen  Diarrtieen 
6  Mal  des  Tages  und  darüber  der  Verlauf  %  Mal  mittelschwer ,  2  Mal 


^ 

492  ^  Dr.  ILSttdel, 

schwer,  2  Mal  todüich  war.  -^  Blutige  Diarrhoe  fand  sich  nur  in  einem 
ttfdUich  verlaufenden  Falle  unbeiräcbüich  vor;  Meteorismus  und 
stärkere  Scbmerzhaftigkeit  des  Abdomens  nur  4  Mal ,  atteh  da  nicht  in 
den  höchsten  Graden;  keine  PeritonitiS|  keine  Perforation.  —  Mit 
Brechmitteln  ganz  im  Beginn  der  Erkrankung  wurden  S  Falle 
auswärts  behandelt,  einer  starb,  der  andere  verlief  ganz  abortiv.  Mit 
Abführmitteln  von  Anfang  an,  -—  nur  einmal  mit  Calomel  —  auch 
auswärts  behandelt  wurden  5,  darunter  verlief  auffälliger  W«se  keiner 
schwer,  wie  man  nach  andern  Erfahrungen  hätte  erwarten  sollen« 
Starker  Rachenkatarrh  und  Stomatitis  fand  sich  6  Mal;  da- 
von 8  Mal  bei  Kranken,  die  eine  Mercurialcur  eben  beendet  hatten.  In 
einem  Falle- zeigte  sich  durch  eine  Reihe  von  Tagen  ungleicher  Zungen- 
beleg, so,  däss  die  linke  Hälfte  der  Zunge  glatt  und  blass,  die  rechte 
Hälfte  roth  und  dick  belegt  war.   Appetit  blieb  in  3  Fällen  bis  in  die 

3.  Woche  hinein,  man  kann  fast  sagen  leider,  erhalten. 

In  Bezug  auf  die  Milz  sind  unsere  Resultate  in  einigen  Puncten 
ebenfalls  abweichend.  Die  Anschwellung  fehlte  nur  in  i  Fällen ,  im 
ersten  Fall  durch  Verdickung  der  Kapsel  und  Verwachsung  mit  der 
Umgebung  unmöglich,  im  anderen  Falle  bei  einer  älteren  Person  —  war 
auch  in  den  leichtesten  Fällen,  wenn  auch  massig  vorhanden.  Die  Milz 
soll  nur  selten  fühlbar  sein.  42  Mal  konnte  dieselbe  meist  schon  in 
Rückenlage  oder  bei  rechter  Seitenlage  deutlich  gefohlt  werden. 
Leichter  ist  dies  natürlich  bei  schlaffen  Bauchdecken ,  z.  B.  bei  Frauen, 
die  geboren  habeb,  aber  es  ist  auch  sonst  sehr  häufig  möglich,  und 
von  den  ii  Personen  sind  5  Männer  und  2  junge  Frauen,  die  noch 
nicht  geboren  hatten.  Die  Resistenz  des  Organs  ersdieint  für  die  zu- 
fühlenden Finger  meist  derber ,  als  sie  sich  bei  dem  Autopsien  zeigt. 
Geringer  oder  fehlender  Meteorismus  ist  nattlrlich  für  die  Palpation 
güofitig,  während  stärkerer  die  Milz  nach  derConcavität  des  Diaphragma 
hinaufdrängt  und  das  Fühlen  der  Spitze  verhindert.  Die  Geringfügig- 
keit des  Meteorismus  mag  auch  zum  TheU  wenigstens  unser  Resultat 
erklären. 

Ueber  den  Tag,  an  dem  die  Milzvergrösserung  nach^ 
weisbar  wird,  konnten  wir  mehrere  Fälle,  die  von  dem  ersten  Tage  an 
in  Beobachtung  waren,  verwerthen.   In  3  Fällen  war  dies  schon  am 

4.  Abends  und  am  5.  Tage  möglich  —  2  Fälle  starben,  einer  war 
schwer  — ;  ein  Fall  bekam  schon  am  5.  Tage  heftige  Schmerzen  in  der 
Milzgegend.  In  einem  leichten  Falle  trat  die  Sdiwellung  am  6.  Tage 
auf,  in  der  Mehrzahl  am  7.  und  8.,  dodi  auch  erst  am  40.  Tage,  in- 
teressant sind  die  Recidive  bei  Personen^  wo  man  die  Milzgrösse  durch 
die  Palpation  controliren  kann.  Bei  der  kranken  P.  war  in  der  6*  Woche 


Beitrag  lar  Lebte  ?oid  Ueotyphas.  .  '  493 

bei  tiefem  Attiineii  der  dttnne  Rand  der  Iftlz  noch  ftthlbar;  am  40. 
September  beginnt  das  Recidiv ,  schon  am  \  2.  September  ist  die  Milc 
grösser  und  dicker ,  am  1 5.  September  ist  sie  vor  den  Rippenbogen 
auch  ohne  Athmen  zu  fühlen/  am  18.  September  ist  sie  weniger  hart, 
am  26.  September  ist  sie  auch  beim  Athmen  nicht  mehr  zu  fühlen. 
Die  nachweisbare  Ansehwellung  dauerte  je  nach  der  Bauer  der  Er- 
krankung 3  oder  selbst  6  Wochen.  In  einem  voll  entwickelten  Falle, 
wo  von  Anfang  an  starke  Empfindlichkeit  der  Milz  bestand  gegen 
Druck ,  blieb  dieselbe ,  obgleich  die  Kranke  in  der  5.  Woche  fieberlos 
war,  bis  in  die  6.  Woche  hinein  vergrössert,  und  in  der  4.  Woche 
schwollen  die  Leistendrüsen  stark,  andere  periphere  Drüsen  in  ge- 
ringerem Grade  an  ohne  nachweisbaren  Grund.  —  In  einem  Falle 
wurde  am  11.  Tage  über  der  Milz  ein  respiratorisches  Reibe- 
gerausch  gehört.  Die  Kranke  litt  an  secundarer  Syphilis,  so  dass 
dasselbe  sich  nicht  gerade  mit  Restimmtheit  auf  den  typhösen  Tumor 
beziehen  ISsst.  Ich  habe  sehr  oft  vergeblich  nach  perisplehitischen  Reibe- 
geräuschen gesucht ,  die  man  zwar  a  priori  beim  typhösen  Milztumor 
an  sich  nicht  leicht  erwarten  kann ,  wol  aber  bei  Vorgängen ,  die  mit 
Entzündung  des  Ueberzugs  verlaufen:  Infarkte,  Abscesse  etc.  —  Auch 
in  dem  oben  erwähnten  Falle  blieb  die  Milz  in  der  fieberfreien  Zeit  bis 
zum  Recidiv  vergrössert.  Man  muss  darauf  achten,  ob  sich  dieses  Ver- 
hältniss  öfters  findet.  In  der  Reconvalescenzzeit  wird. die  Milz  meist 
weniger  berücksichtigt  als  im  Anfange  der  Erkrankung.  Ein  Mal  fand 
sich  die  Milz  anomal  gelagert  bei  der  Frau,  die  nach  der  Geburt  un- 
mittelbar erkrankte,  das  Organ  stand  fast  senkrecht,  die  Spitze  neben 
der  Spina  ossis  Ilei  ant.  sup.  — 

lieber  die  Urinsecretion  bemerke  ich  nur  Einiges.  Eiweiss 
war  in  1 5  Fällen  —  bei  den  paar  Krankengeschichten  aus  der  Poli- 
klinik fehlen  die  Angaben  darüber  —  vorhanden,  bald  reichlich,  bald 
in  Spuren,  bald  ziemlich  anhaltend,  bald  Tage  lang  fehlend.  Der  Ei- 
weissgehalt  an  sich  erscheint  nicht  bedenklich,  er  fand  sich  gering 
auch  in  2  leichten  Fällen.  Am  frühesten  wurde  er  beobachtet  Ende 
der  ersten  Woche;  dann  in  der  2.,  3.,  selbst  erst  in  der  6.  Woche. 
—  Doch  filllt  meist  die  Mehrzahl  auf  die  schweren  und  tödtliohen  Plllle, 
5  starben;  dabei  war  bei  3  der  Eiweissgehali  rdchüch  und  constant, 
bei  den  übrigen  Tageweise  fehlend.  —  Die  geringste  Menge  Urin  ent- 
leerte ein  Kranker  R.,  in  2  Tagen  nur  etwa- 3  Unzen ;  der  Grund  war 
ein  meist  mechanisdier :  starke .  Ueberfüllung  des  Yenensyslems  mit 
hochgradiger  Gyanose  durch  einen  intensiven  Rronohialkalanrh.  Eine 
Kranke,  P.,    bekam   vorübergehend   Polyurie.    Erkrankt  am 


494  ^r.  M.  Sotäel, 

7.  Aagusi  rec.  IS.  August.  Bis  zim  49.  Anpist:  Urin  50D«^1#M,  auf- 
ÜBttend  bless,  mit  geiingem  ShmsB.  • 

20.  August  4000 ,  fast  aller  qnter  Tag  gelassen ,  der  Urin 

geht  nur  langsam  ab. 


24.       - 

5400 

sp. 

4003 

22.       - 

4700 

— 

4003 

23.      - 

3500 

— 

4006 

24.       - 

3200 

— 

— 

25.       - 

3000 

— 

4007 

26.       - 

3200 

— 



27.       - 

4200 

— 

1004 

28.       - 

3600 

— 

^— 

29.       - 

4000 

— 

30.       - 

4800 

— 

40.10 

3\.       - 

4500 

— 

— — 

1.    Sept. 

4500 

— 

tritt  wieder  Ei 

2.       - 

4500 

, 

4.       - 

2000 

5.       - 

4SD0 

■<■ 

1009  etc. 

8.      - 

600 

von 

dunkler  Farbe. 

9.  Octbr, 

800 

n.     - 

1200  blass. 

13.       - 

500  dunkel. 

Henslruation. 

U.      - 

450 

— 

<5.      - 

500 

— 

47.      - 

700. 

- 

<8.      - 

600 

— 

19.       - 

700  blasser. 

24.      - 

1'4  00  normale  Farbe. 

2*.       - 

4400 

., 

-        —     etc. 

Die  NernrensytapiaBte  waren  dalwi  eiendich  »intensiv:  grosse 
tPUMtradion ,  tfibiiltare  ZuokiiBgen  im  (Geskdit ,  «ungleiche  Pupillen ,  Pols 
von  Anfang  .an  isähr  «umgeiinätsig,  ohne  dass  am  iHereen  anoh  im 
«pttteren  Yerlaidf  et^pvas  tnachcuweisen  «war«  --  Intensiveren  lOtilMfaii»— 
stoffgehalt  bot« der  Urin  nur  in  einigen  it^dtlichen  FaUen. 

Vion  den  Aeftpiirvtio:n8«tpgaaeii  kamen  natttrlioh  £abanbe 
imd  Bypostssnn  Jiäiiifig  im*'Bsoba«hlmig,  fetster^Mufigeriss^^  der 
igttnitige  fliniluss  passender  Lagerung  fdes  iKcanken  ^Hf  die  Hypostase 
Iflsst  sich  manchmal  durch  die  Percussion  controliren.    Verhältnisse 


Beitrag  iqr  Ltlwe  Mm  lleoiyphos. .  49| 


mttisig  stMen  finde  lok  auflgebrettalere  VeldichUingen  mie 
GonsonanzeracteinuDgen.  In  3  FflUeo  traten  die  Synqitonie  von 
Seiten  der  Lunge ,  Dyspnoe  etc«  sa^m  den  Vordergrund»  dass  sie  die 
SituatioB  beberrsobten,  3  F^le  tödtlich^  4  schwer.  Einmal  entwickelte 
aioh  in  der  2.  Woche  ein  grosses  PleuraexsU'dat  neben  einem 
grösseren  pmottmonisefaen  Heerde  mit  rasdiem  Tode,  eifimal  ein  kleines 
in  der  4.  Woche,  das  bald  heilile,  S  Mal  fanden  sich  trockene  Pleuri- 
tiden.  Auffallend  starke  Klagen  über  Schmenshaftigkeit  im  Kehlkopf, 
spontan  und  bei  Druck  in  der  8.  und  3.  Woche  fanden  sich  3  Mal^ 
ohne  Heiserkeit  und  sonstige  Zeichen  fttr  eine  Uloeration.  In  einem 
Fall  nur  entwickelte  sich  ein  grosses  Ulcus  laryngis ;  schon  am  «ll .  Tage 
traten  die  ersten  Symptome  auf,  bereits  am  43.  hustete  der  Kranke 
gangränöse  schwarze  Fetien  aus. .  Der  Fall  beweist ,  dass  audk  in  der 
4.  Periode  JRi^lkopfgesdiwüre  vorkommen  können,  wenn  sie  auch  in 
der  2.  Periode  häufiger  sind.  Laryngoskopirt  habe  ich  von  den  3  ebeü 
erwähnten  Fällen  wo  Schmerzen  bestanden  nur  einen,  die  Untei»u<chung 
zeigte  nur  eine  rothe ,  trockene ,  lederartige  Epiglottis. 

Die  ganze  Summe  der  Reizungs-  und  Dq)ressionszu8Uinde  von 
Seitendes  Hirns  und  des  Nervensystems  kann  ich  ttbengehen, 
ich  erwähne  nur  ein  paar  partielle  Lähmungen,  die  sich  oft  länger  an^ 
bdtend  vorfanden:  Ungleichheit  der  Pupillen  durch  Wochen  binduroh, 
leichte  Paciallähmung ,  leichter  Strabismus  convergens  und  divengens; 
einseitige  dauernde  Wangenröthe  (Sympathiousparese?).  — 

Symptome  von  Seiten  der  Haut.  Auch  hier  eind  die  ge^ 
wonnenen  Resultate  etwas  d»weichend.  Roseola  fehlte  nur  in  3  Fällen 
gänzlich,  davon  f^Ut  ein  Fall  in  die  Poliklinik,  wo  die  Releuobtung 
nicht  immer  so  ist,  dass  man  sicher  ist,  keine  Roseola  llbersehen  zu 
haben ,  ein  anderer  Fall  hatte  eine  auffallend  duidiel  pigmentirte  Haut ; 
der  3.  Fall  ebenfdls  von  dunklem  Cdlorit  starb  schon  am  46.  Tage. 
Ueber  die  Zeit  des  Auftretens  der  Roseola  kann  ich  nur  naA  46 
Fällen  Angaben  machen,  die  sogleich  in  der  4 .  Woche  zur  BeobaohUmg 
kamen ,  unter  diesen  zeigte  sich  die  Roseola  bis  zum  7.  Tage  4  2  Mal ; 
die  frühesten  traten  am  4.  Tage,  dann  am  ö.,  6.  und  7.  Tage  auf,  ohnlB 
dass  das  frühe  Auftreten  in  einer  Bezi^ung  zum  späteren  Veriaiife 
stand,  es  folgten  leichte  und  tödtUche  Fälle.  Nur  in  wenig  Fällen  er- 
ff^te  die  Eruption  jenseits  des  40.  Tages,  sie  zog  sich  oft  llber  Woohen 
hinaus  bis  in  die  4.  hinein,  oft  in  der  Weise,  dass  sehuppweise  an 
einem  Tage  mehrere,  selbst  viele  hervorbrachen  und  denn  eine  Pauae 
iwen  einigen  Tagen  entstand.  Die  Roseolae  waren  meist  leicht  papulOa, 
seltener  makulös,  einige  Male  ging  dem  Ausbruch  der  Aode<rfa  mie 
blasse  Marmorifung  der  Haut,  ähnliA  einer  syphilitischen  verwaschenen 


1 

X 


496  ^r.  M.  Seidel, 

Roseola  vorher ;  ein  Mal  eihe  verbreRete  starke  ROlhiing  der  Vorder- 
arme. Mehrmals  trat  so  zu  sagen  (fieselbe  Roseola  2  Mal  auf,  biasste 
nach  einiger  Zeit  ab  und  trat ,  nadsMlem  sie  mehrere  Tage  nidit  mehr 
sichtbar  war,  wieder  ganz  deutlich  hervor;  diese  Beobachtung  wurde 
an  solchen  gemacht,  die  mit  dem  Stift  umschrieben  waren ,  so  dass  ein 
Irrthum  nicht  leicht  möglich  ist.  In  den  Recidivei»- kamen  die  Roseolae 
noch  früher,  einmal  vom  3. — 6.,  ein  anderes  Mal  vom  3.-7.  Tag,  das 
dritte  Mal  vom  5.  Tage  ab.  Es  giebt  keinenOrt,  wo  Roseolae  niJsht  auf- 
treten können,  wenn  sie  auch  am  Abdomen  und  in  der  unteren  Brust- 
gegend  verhältnissmassig  häufig  sind ;  eine  blosse  Besichtigung  dieser 
Partien  ist  indess  vollständig  ungenügend ,  um  die  Häufigkeitsfrage  des 
Auftretens  zu  erledigen.  Man  findet  bisweilen  welche  am  Rücken, 
Oberschenkel,  Unterschenkel,  den  Armen,  wo  am  Abdomen  und  Epi— 
gastrium  keine  zu  finden  sind.  Gribsingbr  hat  dieses  Yertiältniss  mit 
allem  Rechte  betont.  — 

Auf  Herpes  wurde  ganz  speciell  geachtet,  und  fanden  wir  den- 
selben bei  den  36  Erwachsenen  4  Mal ;  theils  als  labialis ,  theils  als 
nasalis  immer  nur  in  kleinen,  nie  in  sehr  ausgedehnten  Gruppen  im  Be- 
ginn der  Krankheit.  Von  den  4  Fällen  ist  einer  abzuziehen,  der  wahr- 
scheinlich vor  dem  Beginn  des  Typhus  kurz  nach  der  Entbindung  sich 
entwickelt  hatte.  Nehmen  wir  noch  die  4  4  Kindertyphen  dazu,  bei 
denen  Herpes  2  Mal  sich  fand  im  Verlauf  des  Typhus,  so  haben  wir 
5  Herpes  auf  50  Fälle,  »  10%.  Die  meisten  Angaben  darüber 
sind  beträchtlich  niederer,  selbst  8  7o  i  manche  Autoren  thun ,  als  ob 
Herpes  bei  Typhus  überhaupt  nicht  vorkomme,  oder  als  staunenswerthe 
Seltenheit.  Ich  kann  nur  die  Resultate  verzeichnen,  ohne  daraus 
Rückschlüsse  machen  zu  wollen  auf  die  Häufigkeit  an  anderen  Orten. 
Auch  in  Bezug  auf  die  Schweisssecretion  kann  ich  den  gewöhn- 
.liehen  Angaben ,  die  man  darüber  findet ,  nicht  beipflichten.  Schweiss 
im  Beginn  der  Krankheit  gilt  überhaupt  für  selten ,  und  dann  für  ein 
schlechtes  Symptom.  Es  sollen  sich  häufig  schwere  Himstörungen  zu 
solchen  Fällen  gesellen.  ,  Es  war  mir  schon  in  früheren  Jahren  aufge- 
fallen, wie  häufig  Typhuskranke  hier  von  Anfang  an,  trotz'allen  gegen- 
fheiligen  Angaben  der  Autoren ,  schwitzten ;  in  der  Analyse  der  36 
Fälle  findet  diese  Beobachtung  durch  Zahlen  ihre  Bestätigung,  8  Mal 
bestanden  von  Anfang  an  zum  Theil  sehr  starke  Schweisse,  aber  nur 
S  Fälle  verliefen  schwer.  Stärkere  Miliariaeruption  fanden  wir  dagegen 
nur  6  Mal ,  jedes  Mal  mit  Schweiss  vorher ,  bis  auf  einen  FaU ,  wo  sie 
sehr  stark  war,  ohne  jede  Spur  von  Schweiss  vorher;  der  Kranke  starb 
wenige  Tage  nach  der  Eruption. 

Acneeruption  folgte  2  Mal,  Furunkeln  8  Mal  in  der  2.  Pe- 


Beitrug  inr  Leue  tob  Iltotyphas.  ^  497 

riode  und  in  der  Reconvalescenz. .  Siärker|^r  Decubitus  kam  nur  4 
Mal  bei  einem  poliklinisch  behandelten  Falle  vor;  im  Spital  selbst  3 
Mal  ganE  •oberflfichlicho  Formen  am  Kneuz.  1  Mal  trat  in  der  Recon- 
valescenz Ohrenfluss  anU  Eine  Kranke  hatte  einen  Schanker, 
der  gangränös  wurde  und  beträchtliche  Blutungen  veranlasste,  aber 
noch  in  der  \ .  Periodo  der  Krankheit  sich  begrenzte  und  heilte ,  die- 
selbe Kranke  bekam  in  der  7.  Woche  eine  Parotitis  mit  sehr  hohen 
Pulsfreqvienzen  bis  4  40  und  160.  —  Eine  Kranke  bekam  in  der  6. 
Woche  eine  umschriebene  schmerzhafte  Auftreibung  an 
der  rechten  Tibia,  zu  der  sich  Röthung  der  darüber  liegenden  Haut 
gesellte,  die  Anschwellung  bildete  sich  bald  zurück.  In  einem  anderen 
Falle  traten  in  der  Reconvalescenz  Schmerzen  im  linken  Beine  auf, 
Patient  ging  schon  herum ,  als  sich  am  4.  December  Anschwellung  der 
ganzen  linken  unteren  Extremität  einstellte  bis  zur  Inguinalgegend ; 
diese  erreichte  bis  zum  7.  December  ihre  grtfssie  Höhe  und  bildete  sich 
bis  80.  Decbr.  so  ziemlich  zurück.  Am  1 4.  Decbr.  traten  Schmerzen  in 
der  rechten  Tibia  auf,  und  es  zeigte  sich  auch  dort  auf  der  vorderen  Flttdie 
eine  drei  quere  Finger  breite  Anschwellung  mit  Röthung  der  Haut, 
die  nach  wenigen  Tagen  abnahm.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich ,  dass  es 
sich  auch  bei  den  umschriebenen  Anschwellungen  um  Thrombose 
einzelner  kleinerer  Venen  handelt.  Ich  werde  weiter  unten 
noch  einen  dritten  Fall  erwähnen ,  wo  dieselbe  Erscheinung  bei  einem 
Kinde  sich  zeigte.  — 

Einer  unserer  Kranken ,  der  4863  einen  leichten  Typhus  durch- 
machte, gab  bestimmt  an,  4848  bei  einer  Epidemie  in  seinem 
Heimathsorte  in  der  Nachbarschaft  schon  einmal  den  Typhus  über* 
standen  zu  haben  in  seinem  33.  Lebensjahre.  Die  Symptome,  die  er 
angab ,  und  die  Dauer  seiner  damaligen  EArankung  sprachen  für  die 
Richtigkeit  seiner  Aussage.  — 

Recidive  traten  in  4  Fällen  ss  4  4  7o  ^^  ^^^  verlief  keiner 
todtlich.  PrOste  im  Verlauf  der  Krankheit  wurden  beobaditet 
häufig  nach  dem  Transport  in  die  Anstalt ,  als  Zeichen  eines  Reddivs, 
einer  beginnenden  Gomplication,  aber  auch  ohne  dass  sich  später 
irgend  ein  Grund  dafür  nachweisen  Hess,  einige  Male. 

Kindertyphen. 

Die  4  4  Fälle,  von  denen  mir  genaue  Krankengeschichten ,  meist  in 
der  Anstalt  geführt ,  vorliegen ,  vertheilen  sich  auf  die  Jahre  so ,  dass 
kommen  auf  4  V2  Jahr  4 ;  4  Jahr  4 ;  5  Jahr  4 ;  8  Jahr  2 ;  9  Jahr  4 ; 
4  4  Jahr  4 ;  4  S  Jahr  3 ;  43  Jahr  2 ;  4  47]  Jahr  8.     44  Fälle  davon  waren 

Bd.  IV.  S.  v.  4.  32 


498  ^  Dr.  M.  SeUel, 

Haustypben.  —  Die  MehrzJtbi  der  Fälle  bot  auch  bei  leichtem  Verlauf 
eind^utliob  ausgesprocTienes  Typbusbild,  nur  einige  waren 
wenig  afficirt  und  würden  obne  Berücksichtigung  der  ätiologischen 
Momente    utid    ohne  Temperaturmessungen    vidileicbt    für   einfacsfae 
Magendarmkatarrhe  gegolten  haben.   Siehe  die  einseinen  Symptome. 

Nach  der  Schwere  der  Symptome  und  dnr  Dauer  des  Verlaufs 
kann  man  6  als  leichte  Fälle  bezeichnen :  Ende  der  i .  Periode  um  den 
9.-— '45.  Tag  bei  massigen  Temperaturhohen  und  guten  RenflfiioiAen ; 
5  als  voll  entwickelt,  doch  eher  leicht  als  schwer:  Ende  der  4.  Periode 
bis  ans  Ende  der  3.  Woche  fallend ;  2  als  schwer  an  sich  beide  zudem 
recidivirend ,  i  Fall  verlief  tödtlich.  Die  Tempemturmaxima ,  die  er- 
reicht wurden,  differiren  von  denen  bei  Erwachsenen  nicht  wesentlich, 
sie  betrugen  bis  32,8,  einmal  sogar  33,0,  erreichte  faäußg  3S,0,  und 
bewegten  sich  nur  in  den  leichten  Fällen  um  34,5,  nur  der  kleinste 
Ptftient  erreichte  UrotE  einer  zienrfich  langen  4.  Periode,  3S>0  nicht. 

In  Betneff  des  Temperaturganges  ergeben  sich  etwa  folgende 
B^nerkungen.   Die  Temperatur  steigt  manchmal  rascher  in  den  ersten 
Tageb  auf,  als  bei  Erwachsenen  dies  Regel  isU   A.  K.  z.  B.  hatte  am 
14.   Jali    gegen    Abend    zuerst    leichte   Kopüschmerzen    und    etwas 
Soiiwindel,  am  4  6.  Juli  erst  Prost  und  schon  am  Abend  des  46»  Juli 
36^^ 2  (htther  stieg  auch  spH^r  die  Abendtemperatur  nicht);  rechnet 
man ; vom  Frost ,   so  Mt  die  Steigerung  sogleidi  auf  den  4 .  Tag ;  vom 
Schwindel,   was  wohl  richtiger  sein  dürfte ,  auf  den  2.  Tag.   Es  fin-- 
den  sieh  etwas  ihäufigclr  als  bei  Erwachsenen  Unregelmäasigkeiten  im 
Verlauf  sohon  der  4,  Periode,   Fehlen  der  Morgenremissionen  bei  sonst 
deutlich  remittirendeiki  Typus,  oder  gar  Steigen  um  etwas  hilher  als  den 
Abend  vorher.   Der  Abfall  des  Fiebers,  der  Beginn  der  8.  Periode 
wurde  mehiiacb  SO' eingeleitet,  dass  die  Temperatur  vom  Abend  zum 
Morgen  und  wieder  zum  Abend  gleichmässig  abfiel  und  dann  erst  steile 
Curven  sidi  ansohlosten ,   einige  Male  trat  dies  gleichmSIssige  Sinken 
tt)H  Sehw^iss'und  Pülsvel*langsamung  zugleich  ein.   Oder  der  Abfall 
geschah  rasch' mit  starkem  Sinken  von  Temperatur  und  Puls,  s.  Gurve 
i,  £.  Bertha,  wo  der  Abfall  in  hdchstaus'S  Tagen  auf  aormal  erfolgt, 
ohne  Anschluss  steiler  Quryen.   Für  die  Unregelmttssigkeit  des  Fiebers 
daselbst  am  8.  und  9.  Tage,  die  auch  durch  einen  Frost  markirt  wurde, 
Hess  sich  ein  Grund  nicht  finden.    Häufiger  trifft  man  Unregel- 
mässigkeiten in  der  i.  Periode  mit  sehr  beträchtlichen  Tempe- 
ratsrsteigenaigen  für  die  sich  entweder  gar  ketneUrs^chtoaußinden 
lassen,  oder  die  mit  leiohien  Slönmgen  zaisattmenzahängen  sefaehaen, 
z.  B.  Stuhl  Verstopfung,  Erbrechen,  Mchte  flaulkrankheiten'ete.,   s. 
Gurve  2.  E.  Sylv>i«,  wo  die  TemperatUPiaiif  34 ,4  anstieg,  ndchdetoi  4 


f 

Beitrag  zur  Lehre  vom  lleotyphme  49d 

Tage  kein  Stuhl  dajgewesen  war.  In  Gurv^S.  K.  Anna  steigt,  als  schon 
die   Entfieberung  im   Gange  war,    dte  Temperatur   unter    starkem 
Schwindel  und  Kopfschmerz  pliätdH^h  auf  31,6;   am  folgenden  Tage 
erfolgt  ein  Ausbruch  von  \  4  frischen  Roseolaflecken ,   die  innerhalb  2 
Tagen  erblassen ,  8  Tage  später  zeigt  sich  ein  Herpes  labialis ,  die  Milz 
bleibt  vergrössert,   die  Temperatur  macht  noch  ein  Mal  ein  Ansteigen 
auf  34 ;6,    ohne    dass  ausser  wieder  stärkerem.  Kopfschmerz   und 
SchwJMleT  etwas  Bemerkenswerthes  auftrat ,   steigt  dann  einige  Tage 
wenig  aber  gleichmassig  Abends  an ,  um  dann  definitiv  abzufallen. 
Die  Roseolaeiiiption  und  der  Schwindel  könnte  dafür  sprechen ,  dass 
es  sich  hier  um  ein  gleichsam  abortives  Recidiv  handelte.    Bei  den 
kleinsten  Kranken  sind  die  Pulszahlen  natürlich  ohne  irgend  welche 
prognostische  Bedeutung  im  Yerhilltniss  zur  Temperatur  sehr  hoch  und 
die  Curven  bekommen  dadurch   ein  ungewöhnliches  Aussehen,   wie 
auch  bei  anderen  fieberhaften  Krankheiten  in  diesem  Alter,  s.  Curve  4. 
E.  Berthold,  auch  Curve  %.    Von  2  recidiven  Fällen  auf  4 4  =  4  4,3 % 
gestaltete  sich  der  eine  ganz  normal ,  so  dass  die  Curve  das  Aussehen 
eines  frisch  sich  entwickelnden  Typhus  bot,  der  nach  kurzem  Höhen- 
stadium in  steilen  Curven  abfiel.  Der  zweite,  B.  Auguste,  s.  Curve 5, 
von  Anfang  an  durch  hohe  Temperaturen  schwer,  in  der  2.  Periode  un- 
regelmassig  mit  leichten  Collapserscheinungen  wurde  Ende  der  5.  Woche 
recidiv;  die  neue  Erkrankung  wurde  durch  Frösteln  eingeleitet,  das  sich 
3  Tage  wiederholte,  am  6.  Tage  Roseola.   Die  Temperatur,  die  bereits 
am  2.  Abends  32,4  erreicht  hatte,  blieb  1  Woche  lang  Abends  ttber 
32,0  mit  stets  sehr  staAen  Morgenremissionen  bis  über  3  Grad  und  fiel 
dann  innertialb  3  Tagen  definitiv  auf  normal.  —  Curve  %  leigl  den 
tödilich  verlaufenen  Fall,  wo  in  der  4.  Woche  nach  mittelschwerem 
Verlauf,  nach  raschem  Wiederansteigen  der  Temperatur,  ein  fast  con- 
tinuirlicher  Fieberzuatapd  eintrat,  dem  die  Kranke  erlag  (Nachschub?) 
Die  Curve  zeigt  auch  das  prognostisch  ominöse  Ansteigen  des  Pinlßea 
zum  Ende. 

Der  Puls  war  seltener  und  weniger  dicrot  als  bei  Erwachsenen, 
häufiger  dagegen  selbst  in  den  kürzer  dauernden,  leichten  Fällen  zeigte 
sich  Unregelmässigkeit  desselben^  theils  im  Rhythmus ,  theils  in 
der  Grösse  der  Blutwelle.  Pendelfönnige  Herztöne  sind  nicht  selten. 
Systolische  Geräusche ,  als  starkes  Blasen  an  allen  Ostien ,  besonders 
Mitral.,  Pulmonal,  und  Aorta  treten  verhältnissmässig  früh  auf.  Einmal 
war .  Verbr^iAerung  des  Herzens  und  Herausrücken  der  Herzspitze 
zu  beobachten,  sugleicb  mit  Unregelmässigkeit  der  Herzbewegung ,  die 
aber  in  der  ReoonvirieMeiii  wrückging  {Muskelerschlaffung?).  --  Ein 
Fall  war  vom  Herzen  coi»»^*"*"^  -»«-xsh  eine  Symptomenreihe ,  die  auf 

8i» 


500  "^  ^r-  M.  Seidel, 

Offensein  und  Erweiterung  des  Duct.  arteriös.  Botalli  gedeutet  wurde, 
er  verlief  gtinslig. 

Die  Abdominalsymptome  verhielten  sich  ähnlich,  wie  bei 
den  Erwachsenen ,  Diarrhöen  fehlten  in  5  Fällen,  von  denen  4  an- 
dauernd mit  Clysraen  behandelt  werden  mussten ;  Kothtumoren  waren 
häufig  dabei  fühlbar.  In  9  Fällen  waren  Diarrhöen  vorhanden ,  zum 
Theil  nur  vorübergehend  oder  täglich  nur  einmal,  in  andern. 3 — 4  Mal; 
in  2  Fällen  stark,  5  Mal  und  darüber;  einer  dieser  2  Fälle  ve%^  4a 
der  Poliklinik,  wo  man  bekanntlich  selten  sicher  ist,  dass  die  Kranken 
nicht  ganz  schädliche  Dinge  geniessen,vund  so  Diarrhoe  erhalten  oder 
hervorrufen,  der  2.  war  der  lethale  Fall.  Auch  hier  waren  die  Fälle 
ohne  Diarrhoe  die  leichteren. 

Meteorismus  bestand  nur  5  Mal  in  erheblichen  Graden.  2  Mal 
erreichte  er  eine  beträchtliche  Stärke.  Schmerzhaft igkeit  entweder 
nur  in  der  Ueocoecalgegend  meist  über  das  ganze  Abdomen  verbreitet, 
bestand  7  Mal  fast  nur  in  den  schwereren  Fällen,  3  Mal  in  hohem  Grade 
und  anhaltend. 

Milzvergrösserung  konnte  nur  in  einem  Falle  nicht  nach- 
gewiesen werden  (dauernd  starker  Meteorismus),  6  Mal  war  die  Milz 
fühlbar,  mehrfach  spontan  und  bei  Druck  empfindlich.  In  einem  Fall, 
der  von  Anfang  an  beobachtet  werden  konnte ,  stellte  sich  bereite  am 
2.  Tage  Stechen  in  der  Milzgegend  mit  geringerer  Yergrösserung  ein, 
und  schon  am  3.  Tage  war  die  Spitze  fühlbar. 

Eiweissgehalt  des  Urins  wurde  nur  in  ein  paar  Fällen, 
darunter  auch  leichten  vorübergehend  und  nie  in  grosseren  Mengen 
beobachtet,  mehrfach  stärkerer  schon  durch  Salpetersäure  nachweis- 
barer Harnstoffgehalt  während  des  Fiebers. 

Von  den  Nervensymptomen  muss  ich  hervorheben  eine  förm- 
liche Schlafsucht,  die  5  Mal  vorhanden  war.  Der  eine  Kranke 
schlief  schon  in  den  letzten  Tagen  der  Incubation  überall  ein ,  wo  er 
war,  in  der  Schule,  bei  Bekannten  etc.,  obgleich  er  sonst  ein  ganz 
munterer  Junge  war ;  ein  anderer  schlief  mehrmals  ein ,  während  man 
mit  ihm  sprach ,  eine  dritte  Kranke  vergass  vollständig  die  Nahrungs- 
aufnahme und  musste  geweckt  werden  zum  Trinken,  obschon  sie  offen- 
bar starken  Durst  hatte  und  jedes  Mal  begierig  und  viel  trank.  Die 
übrigen  Nervensymptoitie  gingen  mit  dieser  Schlafsucht  durchaus  nicht 
immer  parallel,  die  Kranken  waren,  einmal  ermuntert,  ganz  besinnlich, 
antworteten  richtig,  die  Bewegungen  waren  sicher,  nur  ein  Kranker 
taumelte  stark  beim  Versuch  zu  stehen.  Der  Schlaf  war  bei  den  meisten 
dabei  ganz  ruhig.    Muskelzittem ,  leichte  Zuckungen ,  Zähneknirschen, 


Beilrag  xar  Lehre  vom  Iteotyphus.^  501 

auch  leichte  Paresen  (Strabisoius)  koiDme|if^ltufiger  und  früher  vor  als 
bei  Erwachsenen.  / 

Bronchialkaiarrh,  wenn  aueh  nur  in  den  leichtesten  Graden, 
war  in  allen  Fällen  vorhanden ,  stärker  in  4  Fällen  mit  Hypostase- 
erscheinungen in  den  hinieren  unteren  Parthien ;  nur  einmal  fand  sich 
eine  ausgebreitetere  Verdichtung  mit  consonirendem  Rasseln. 

Haut.  Roseola  fehlte  2  Mal  [^  Mal  bei  sehr  dunklem  Colorit, 
4  Matkr einem  polikl.  behandelten  Falle),  trat  \  Mal  schon  am  3.  Tage 
auf,  dann  zu  Ende  der  ersten ,  auch  erst  im  Anfang  der  2.  Woche ;  in 
ein  paar  Fällen  wurde  sie  bei  sorgfältigem  Nachsehen  auch  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  der  3.  Woche  bemerkt. 

Herpes  labialis  wurde  2  Mal  gefunden,  4  Mal  in  dem  oben 
erwähnten  Falle  in  der  zweiten  Periode,  s.  Curve  3,  wo  sich  3  kleinere 
Gruppen  bildeten.  Bei  einem  anderen  Kranken  entwickelte  sich  eine 
Gruppe  an  der  rechten  Oberlippe  am  20.  Krankheitstage,  nachdem  die 
höchste  Temperatur  der  Beobachtung  (31,8)  am  Abend  vorher  sich  ge- 
funden hatte. 

Seh  weiss  von  Anfang  an  oder  doch  schon  im  Verlauf  der  ersten 
Woche  fand  sich  6  Mal  (2  Fälle  schwerer ,  die  ttbrigen  leicht) ,  oft  von 
Miliaria  gefolgt.  Umschriebene  Auftreibung  mit  Röthung  der  Haut 
an  der  rechten  Tibia  1  Mal.  Fall  von  Curve  5  in  der  6.  Woche. 
Starke  Wadenschmerzen  in  der  Reconvalescenz  \  Mal.  Fall  von 
Curve  4 ,  ohne  dass  sich  irgend  etwas  Abnormes  finden  liess.  In  einem 
Fall  (Curve  2)  folgte  in  der  Reconvalescenz  circumscripter  Pig- 
mentschwund. Auf  der  linken  Wange,  an  der  Stirn  und  Nase 
machten  sich  umschriebene  Stellen  bemerklich ,  an  denen  das  Pigment 
der  Haut  beträchtlich  geringer  wurde ,  so  dass  dieselben  fast  weiss  er- 
schienen und  sich  mit  scharfen  Linien  von  den  dunkleren  Parthien  der 
normal  gefärbten  Haut  abgrenzten.  Auch  die  Cilien  des  Unken  Auges 
wurden  heller. 


Das  Körpergewicht  sinkt  auch  in  den  leichteren  Fällen  nicht  un- 
beträchtlich ,  steigt  aber  in  der  Reconvalescenz ,  rapid  oder  langsam 
wieder  auf,  z.  B.  in  dem  leichten  Fall  Th.,  Gewicht  am  5.  Krankheits- 
tage HO  Vi  Pfund,  19.  Tag  403,  27.  schon  44572^  ebenso  Fr.  E. 
42.  Tag  449V2  Pfd.,  32.  Tag  408  Pfd.,  erst  nach  weiteren  3  Wochen 
4i2V2PW-  G.  am  49.  Tage  991/2  PM-,  »ach  20  Tagen  4  48V4Md.; 
P.  am  7.  Tage  420  Pfd.,  nach  8  Wochen  403,  in  der  ersten  Woche  der 
Reconvalescenz  406.  Die  Kinder  verloren  im  Durchschnitt  weniger. 
B.  E.   (Curve  4)  Anlang  der  2.  Woche  20V4  Pfd.,   dann  3.  Woche 


502  ^  ^  Dr.  M.  Seidel, 

20 V2  Pfd.,  4.  Woche  1 91/2 Hl.,  5.  Woche  2OV4  Pfd.  B.  E.  (Curve  4) 
12.  Tag32V2PW.i  ^9.  Tag  W/^Ptd.,  33.  Tag  3574  Pfd.  Dagegen 
sank  bei  A.  K.  (Curve  3)  das  Gewiabt  stark ,  stieg  aber  auch  i^asch. 
65^4  vor  dem  Beginn  des  Typhus,  nacJt  5  Tagen  der  Erkrankung 
61  Pfd.,  12.  Tag  57V4,  19.  Tag  56V2  PW. ;  nach  3  Wochen  vrieder 
66  Pfd.,  in  weiteren  8  Wochen  72  Pfd. 


Die  Behandlung  war  in  weitaus  den  meisten  Fällen  eine 
eispectative  und  symptomatische.  Zunächst  bekamen  die  Kranken, 
wo  dies  nur  anging,  die  bestgelegenen,  gerUubigsten  Zimmer,  die 
möglichst  dünn  belegt  wurden ,  massig  geheizt  und  gut  gelüftet.  Bei 
einigen  ausserhalb  des  Spitals  bereits  beobachteten  Fällen,  die  in  engen , 
schlecht  gelüfteten  Zimmern  gelegen  hatten ,  schien  schon  daä  Deber— 
siedeln  ins  Krankenhaus  von  günstigem  Einflüss  zu  sein.  Bföglichste 
Pflege,  grOsste  Reinlichkeit  und  strenge  Diät  kamen  da^u,  letztere  in  der 
Weise,  dass  die  Kranken  von  Anfang  an,  wenn  sie  AppetH  zeigen ,  mit 
Milch ,  Pläischbrühe  und  Ei  genährt  würden ,  aber  gar  keine^ainderen 
Nahrungsmittel  bekamen.  Therapeutisch  wurden  bald  Acid.  sulf.  dll. 
ioi  Mixtur  in  schwachen  Losungen  verabreicht,  mehr  ut  aliquid  fiat; 
oder  gegen  die  Diarrhoen  Salep.  decoct.  allein  öder  mit  Alaun,  Colombo, 
Gascarilla ;  gegen  Brönchialkatarrhe  Ipecacuanha  in  schwachen  Dosen, 
Senega,  Aq.  Laurocerasi  etc.  Bei  allen  Schwächezeichen  Vinum  rubrum 
iii  verschiedenen  Mengen,  bis  6  Unzen  und  darüber  pro  die ;  auch  Tokayor 
und  Cognac  mit  entschiedenem  Erfolge.  Moschus  in  den  schwersten  Fällen 
immer  ohne  Erfolg.  —  Nur  einmal  wurde  eine  Örtliche  Blutentziehung 
gemacht ,  bei  starkem  Gongestivzustande  nach  dem  Kopf.  Morphium 
und  Opium  vmrden  tiür  einige  Male  bei  grösserer  Aufregung  gegeben. 
Ein  Fall ,  wo  2  Tage  vor  dem  Eintritt  ins  Spital  schon  in  der  3.  Woche 
des  Typhus  auswärts  ein  Aderlass  gemacht  worden  war,  starb.  — 
Beginnende  Röthung  am  Kreuzbein  oder  den  Trochanteren  wurde  so- 
fort mit  Waschungen  von  verdünntem  Spiritus  oder  Bleiwasser- 
umschlägen behandelt,  dö  dass  wir  nie  irgend  erheblichen  Decubitus 
sahen.  Gegeh  das  lästige  Gefühl  von  Trockenheit  und  Hitze  im  Mund 
und  ftäched  erwiesen  sich  Bepinselungen  mit  Glycerin  eihige  Male  als 
ganz  vorzüglich  erleichternd.  Mit  Digitalis,  Galomel  und  Ghinin  wuf- 
dän  nur  wenige  Fällä  behandelt.  Grm.  0,3  Calomei  bekam  der 
Kranke  N.,  bei  Stuhlvefätot)fung  am  7.  K^ätikheitstage  mit  folgender 
starker  Diarrhoe  und  Erbrechen  aber  grosser  subjectiver  Erleichterung, 
die  Temperatur  sattk  um  0,5,  es  folgten  grössere  Reminsionen  und 
wurde  nie  wieder  die  frühere  Höbe  erreicht,  der  Fall  veriief  leicht. 


Beitrag  zur  Lehre  vom  lleotyphos.  f^  503 

Dann  die  Kranke  B.,  s.  Curvc  5,  ohne  erhej^hen  Einfluss.  Digitalis 
nahmen  6.  Dieselbe  Kranke  B.,  0,9  Grpii.,  der  Puls  ging  während  der 
nächsten  3  Tage  herab  auf  88 ,  wurde  vom  1 8.  Krankheitstage  ganz 
unregelmässig  und  sank  wäbrend  des  ersten  Fieberabfalles  bis  auf  44, 
war  meist  im  Verhältniss  zur  Temperatur  sehr  niedrig ;  einen  erheb- 
liehen  Einfluss  auf  difr  Temperatur  wird  man  kaum  statuiren  können. 
In  3  weiteren  FäHen ,  wo  Digitalis  zu  Ende  der  ersten  Woche  wegen 
becfenkliriier  Fieberhöhe  gegeben  wurde,  2  Tage  lang  im  Ganzen 
r,f  fir«i.,  feUle  jeder  erhebKche  Einfluss  auf  dia  Temperalur  und  den 
Puls.  Bei  2  weiteren  Fällen,  wo  das  Mittel  4  und  5  Tage  gegeben 
wurde,  2,0  —  3,0  Grm.,  war  der  Einfluss  nicht  zu  verkennen ;  vom 
3.  Tage  des  Gebrauchs  ab  fiel  bei  dem  ersten  die  Temperatur  des 
Abends  gleichmässig  von  32,0  auf  31,1  durch  5  Tage,  am  6.  Abend 
sogar  auf  30,0,  und  stieg  dann  während  der  nächsten  3  Abende  wie- 
der allmählich  auf  31,8,  um  dann  in  den  definitiven  Fieberabfall  über- 
zugehen. Der  Puls  vorher  schon  nie  sehr  hoch,  nur  80,  sank  nur  3 
Mal  unter  60  am  Morgen,  hielt  sioh  sonst  Abends  um  70.  Bei  dem  2. 
Falle  madbtle  die  Temperatur  am  9.  '^ge  des  Gebrauchs  (16.  Krank- 
heiiatag)  zusi  ersten  Male  eine  starke  Remission  um  1,7  am  Morgen 
und  erreichte  nie  wieder  32,0.  Der  Puls  vorher  um  110,  sank  um 
etwa  1 0  Schläge  und  erreichte  ebenfalls  nicht  wieder  die  frühere  Höhe. 
Chinin  in  grösseren  Dosen  wurde  bei  bedenklicher  Höhe  und  Dauer 
des  Fiebers  2  Mal  gegeben.  In  dem  einen  Falle,  Ende  der  3.  Woche, 
blieb  die  nächste  Morjgenremission ,  die  in  den  Tagen  vorher  fast  regel- 
mässig da  war ,  aus ,  dagegen  folgte  ein  starker  Abfall  zum  Abend  und 
wieder  zum  Morgen  um  1,6,  an  diesen  sich  anschliessend  der  definitive 
Abfall  in  steilen  Curven.  Im  2.  Falle  bei  sehr  schwerem  Fieber  IP  der 
ersten  Woche  Morgens  und  Abends  32,8  und  32,0  wurde  vom  9. — 11. 
Krankheitstag  Mixtur  von  0,8  auf  150  Grm.  gegeben,  am  nächsten 
Morgen  trat  die  erste  grössere  Remission  von  3^,5  auf  31,2  ein,  die 
Temperatur  erreichte  Abends  nie  mehr  3^,0.  Dar  Fall  verlief  dabei 
sehr  schwer  aber  günstig. 

Von  {selteneren  Gomplicationen  will  ich  noch  erwähnen  i  dass  eiqe 
Kranke  epileptisch  war,  sie  bekam  im  Typbus  keine  Abfälle.  Ein 
Kranker  hatte  einen  Leberechinococous;  während  des  Fiebers 
wurde  die  Umgebung  der  Blase  empfindlich,  doch  verlor  sich  das 
bald ;  die  seltene  Gomplication  von  Saiten  des  Herzens  bei  einem  Kinde 
Ofl'ensoin  des  Ductus  Botalli  habe  ich  schon  oben  erwähnt. 


^ 

> 


ie  bisherigen  Eifahnuigen  nber  TriehiMiasis  mnd  FleiMft- 

beschau  in  Thüringen. 


Von 

Dr.  L.  PfeiflFer 

in  Weimar. 


Die  nachfolgende  Zusammenstellung  kann  keinen  Anspruch  auf 
absolute  Vollständigkeit  macheg.  Es  war  dem  Verfasser  fttr  die  erste 
Generalversammlung  des  allgemeinen  ärztlichen  Vereines  für  Thüringen 
das  Referat  über  obige  Frage  übertragen  worden  und  ist  es  durch  die 
freundliche  Unterstützung  von  Mitgliedern  dieses  Vereines  nur  gelun- 
gen, für  einzelne  Districte  eine  vollständige  Uebersicht  zusammen- 
zustellen.  Die  betreffs  der  Trichiniasis  sehr  verschiedenartige  Ge- 
setzgebung in  Thüringen,  welche  bei  den  mannichfach  in  einander 
verschlungenen  Landesgrenzen  sehr  oft  wechselt,  macht  eine  nicht- 
officielle  Sammlung  des  zerstreuten  Materiales  zu  einer  schwer  zu  er- 
reichenden Aufgabe. 

■•  Erfahrungen  Aber  Triehiniasis. 

4  ]  Thüringen  hatte  bereits  2  Jahre  vor  der  Katastrophe  von  He- 
dersleben  eine  ziemlich  ausgedehnte,  wenn  auch  leichte  Trichinen- 
endemie ,  die  zugleich  die  erste  als  solche  in  Thüringen  erkannte  sein 
dürfte.  Von  Dr.  SsmEL  in  Jena  sind  4  zu  dieser  Endemie  gehörige 
Fälle  in  der  Jenaischen  Zeitschrift  für  Medicin  und  Naturwissenschaf- 
ten bereits  veröffentlicht  worden;  das  andere  Material  umfasst  nach 
oflicieller  Zählung  i)  weitere  1 03  Fälle  in  der  Stadt  Weimar.  TodesMlo 
sind  im  Verlauf  dieser  Endemie  nicht  vorgekommen  und  ist  aus  diesem 
Grunde  die  Existenz  der  Endemie  kaum  im  Kreise  der  Herren  Collegen 
ausserhalb  Weimars  bekannt. 


4)  Gütige  Mittbeilnng  des  Uerrn  Mcd.-Rath  v.  Corta  in  Weimar. 


Di«  bisherigen  l^rrahrnngen  über  Triekiiiasis  uud  Fleiselkscbaa  in  Thflringeu.   505 

Nadi  den  ofiicieilen  Meldungen  der  JLerzte  Weimers  kamen  von 
Ende  September  bis  Ende  Ociober  f  84S  zur  Anzeige  403  leichte  und 
bedenklichere  Erkrankungen  an  Triobiniasis.  Die  meisten  EriLrankun- 
gen  fallen  in  die  erste  Woahe  des  Monats  October  und  kamen  die  be- 
treffenden Kranken  meist  erst  in  ärztliche  Behandlung ,  nachdem  be- 
reits das  erste  Stadium  der  Krankheit,  entsprechend  der  Entwickelung 
der  jungen  Brut  im  Darmcanal  und  mit  beginnenden  gastrischen  Stö- 
rungen Vorüber  war. 

Im  Beginne  der  Krankheit  bestand  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  Ap- 
petitlosigkeit, Cebelkeit  und  Drudi  im  Epigastrium;  Erbrechen  und 
Diarrhoe  wurde  nur  in  einzelnen  Fallen  angegeben.  Zwei  Kranke  wur- 
den so  plötzlich  befallen,  dass  sie  den  Verdacht  einer  Vergiftung  hegten. 

Bei  fortdauernden  gastrischen  Erscheinungen  —  Appetitlosigkeit, 
schwach  weissbelegter  Zunge,  bei  meist  regelmässigem  Stuhl  (eher 
Obstipation)  traten  6—8  Tage  nach  dem  Genuss  des  verdachtigen  Flei- 
sches leichte  Oedeme  an  den  Augenlidern  auf.  Diese  waren  schmerzlos, 
nur  spannend.  In  einzelnen  Fallen  schien  auch  die  Gonjunctiva  auf- 
gelockert und  mehrmals  wurden  Ecchymosen  gefunden.  Das  Oedem 
dauerte  6 — 8  Tage,  später  gesellten  sich  hinzu  Schmerzen  in  den  Mus- 
keln (nicht  in  den  Gelenken) ,  vorzüglich  bei  oder  nach  der  Bewegung 
und  auf  Drudi ,  bei  vollständiger  Ruhe  und  schlaffer  Haltung  wieder 
verschwindend.  Am  meisten  schmerzhaft  waren  die  Extremitatenmus^ 
kein ,  demnächst  die  Nackenmuskeln ,  am  seltensten  die  Brustmuskeln 
und  die  des  Zwerchfells.  Im  letzteren  Falle  wurden  dann  auch  ganz 
constant  Dyspnoeanfillle  beobachtet.  Die  Muskelschmerzen  haben  durch- 
schnittlich mehrere  Wochen  angedauert  und  Hessen  noch  nach  dem 
Verschwinden  für  längere  Zeit  ein  Gefühl  von  Muskelschwache  zurück. 
Mydriasis  wurde  nur  vereinzelt  beobachtet. 

In  den  heftigeren  Fällen  fühlten  sich  die  Muskeln  härter  und  pral- 
ler an ,  zu  dem  Gesichtsödem  gesellte  sich  Oedem  in  der  Gegend  der 
Parotis ,  seltener  an  den  Füssen  und  an  den  Händen ,  welches  jedoch 
ebenfalls  nur  ein  Spannen  in  der  Haut,  keinen  Schmerz  verursachte. 
In  einzelnen  Fällen  ist  deutlich  ausgesprochener  Laryngealhusten  mit 
Heiserkeit  und  selbst  mit  blutigen  Sputis  beobachtet  worden.  Schluck- 
besohwerden  sind  fast  constant  angegeben.  Bei  niederer  Hauttempera- 
tur war  der  Puls  bis  zur  vierten  Woche  immer  ca.  130. 

Gegen  dien  9 — 48.  Tag  traten  profuse  und  übelriechende  Schweissc 
auf,  besonders  des  Nachts,  mit  Ausbruch  von  Miliaria,  Urticaria  (<  Fall) 
und  Furunkeln.  Gleidizeitig  stellten  sich  stärkerer  Kopfschmerz,  selten 
Delirien  in  der  Nacht  ein.  —  Der  Harn  war  anhaltend  dunkel  und  se- 
dimentirend,  zuweilen  heftiges  Brennen  bcimUrinlosscn.  Das  Nachla9sen 


506  ■  I>r«  L.  PMtor, 

aller  Erscbeinuiigeo  begann  ia  der  i  —  I.  Woohe.  Die  MmlLdschiiier- 
zetk  verwandellen  sich  in  Musl^lschwäohe  und  diese  nahm  langsan»  ab. 
Die  Oedenre  verschwanden  anfangs  des  Morgens  und  waren  nur  des 
Abends  noch  leicht  vjorhandcn,  während  ^e  leichte  PulsfceqnanS  und 
nächtliche  Sehweisse  bei  ausg^eichnetem  Appetit  nooh  längere  Zeü 
zurttckbUeben. 

Eine  Frau  abortirte  im  2 — 3.  Itaiat. 

Die  Mehrzahl  der  Kranken  wurde'  nach  40—12  Tagen  b<$leits  aus 
der  Behandlung  entlassen. 

Die  Quelle  der  Infectioa  hat  mit  Bestimmtheit  nicht  nachgewiesen 
werden  können,  doeh  giebt  die  Mehrzahl  der  Kranken  an,  von  einem 
Fleischer,  der  mit  mehreren  Hausgenossen  ebenfalls  krank  gewesen  ist, 
sogenanole  schnell-  oder  halbgeräucherte  Fleischwaaren  7 — 42  Tage 
vor  Eintritt  der  Oedeme  gegessen  zu  haben.  Die  Diagnose  der  Trichi— 
niasis  wurde  zuerst  in  Jena  durch  die  Herren  Hofrath  GaiHAM)  und  Ik". 
SslDBL  durch  den  Nachweis  von  jünger  Brut  in  einem  Muskelslück- 
chen  eines  der  dortigen  Kranken  bestötigt. 

Derselbe  mikroskopische  Nachweis  gelang  kurz  darauf  auch  in 
Weimar.  Eine  au£Eailende  Starre  der  Muskeln  beim  Excitiren  wufde 
beidemale  nicht  beobachtet. 

In  den  letzten  Jahren  sind  in  den  Muskeln  von  zwei  mittlerweile 
verstorbenen  Personen ,  bei  denen  1 863  die  Diagnose  auf  Trichinose 
gestellt  war,  vom  Herrn  GoUegen  Götzs  in  Weimar  dngekapsdie  Tri- 
chinen gefunden  worden.  Die  betreffend^i  Präparate  des  Herrn  Dr. 
G((Tzi  zeigen  interessante  Verhältnisse  in  Bezug  auf  den  Grad  der  Ver- 
kalkung bei  verschiedenem  Alter  der  eingekapselten  Trichinen.  Bei 
einer  Frau,  die  im  80.  Lebensjahre  inficirt  wurde  und  die  im  Besten  an 
einem  Schenkelhalsbruche  starb ,  fand  sich  in  den  Kapseln  nur  selten 
ein  Kalkkrystall,  von  ganz  vereinzelten,  sehr  kleinen  Kalkpunctcn  um- 
geben. Die  Präparate  aus  den  Muskeln  eines  30jährigen  Mannes ,  der 
ein  Jahr  nach  der  Trichtniasis  an  Cholera  starb,  fanden  sich  die  Kap- 
seln genau  in  demselben  Stadium  der  Verkalkung,  wie  bei  der  eben- 
erwähnten 80jährigen  Frau. 

Ein  1 0  W^ochen  nach  der  Infection  bei  einem  der  Jenaer  Kranken 
excidirtes  Stückchen  des  Biceps  von  Erbsengrösse  enthielt  7  im  Beginn 
der  Einkapselung  begriffene  Trichinen. 

Die  Behandlung  der  Kranken  ist  durchgängig  eine  symptomatische 
gev^esen.  Es  wurden  leichte  Abführmittel  gereicht  und  haben  bei  sehr 
heftigen  Muskeh^ehmerzen  die  subcutanen  MorphiuminjeetionenErieieb« 
terung  geschafft. 


tibcb 


Die  bisherigen  CrfüliruDgeu  Aber  Trieliniasis  uiid  Fleischtncbau  in  TkdriiigeD.    507 

Die  Menge  der  Triehineti  in  den  Schwefnefleisch,  welches  hier  die 
AttSteekttOg  vermitlell  bat,  iidnn  keine. sirtr  grosse  gewesen  sein,  in*- 
sofern  bei  allen  zdr  Beobacbtimf  geiieBiincnen  Fällen  im  VerhMtniss  tn 
Heltoledl  und  B^ersieben  nur  leichtere  Grade  der  Krankheil  vorhan- 
den waren.  Viele  mögen  darvon  gegessen  haben,  ohne  mehr  als  emeA 
lieicblen  Gastricismus  davon  getragen  asu  haben.  Eine  weitere  AnsaU 
hat  sich  ohne  Damierscheinungen  und  mit  leichtem  Lidtfdem  nur  ein-^ 
mal  der  BEhandlung  gestellt. 

Das  gerade  in  Betreff  der  Aetiologie  unvoUkemmene  Material  giebt 
aber  doch  Anhaltepnncte,  dass  neben  der  Menge  der  genossenen  Tri- 
chinen auch  eine  individuelle  Disposition  des  resp.  Darmeanales  auf 
das  Zustandekommen  einer  relativ  leichteren  oder  schwereren  Trichi- 
niasis  den  grossten  Einfluss  hat.  Es  Hegen  verschiedene  Beobachtungen 
vor,  dass  bei  einem  Familienmitglied  der  Genuas  von  einer  kleinen 
Menge  Wurat  viel  schwerere  Symptome  verursacht  hat ,  ab  die  dop- 
pelte und  dreifache  Wurstmenge  b^  einem  anderen  Mitglied  derselben 
Familie. 

Das  Schwein,  von  dem  aus  diese  Epidemie  ihren  Ursprung  wahr- 
scheinlich genommen  hat,  soll  aus  einer  Mühle  in  Gross -Kromsdorf 
stammen,  in  der  später  noch  mehrfach  Trichinen  vorkamen.  Durdi  die 
swei  Jahre  nach  dieser  Endemie  eingeführte  Fleischbeschau  ist  diesem 
Trichinenhord  seitdem  die  Ausbreitung  auf  Menschen  erfolgreich  ab» 
geschnitten  worden. 

i)  Eine  zweite  kleinere  Endemie  kam  nach  Mittheilung  des  Herrn 
Gollegen  Dv.  KöLLim  im  April  4  867  in  einet*  armen  Familie  xu  Walters- 
hausen vor. 

Es  erkrankten  leicht  der  Sehlächter,  der  46jahrige  Vater  und  die 
gleichaltrige  Mutter;  etwas  schwerer  twei  Knaben  von  ly^  ^^^  ^^^ 
4  Jahren,  sehr  schwer  eine  4  4jährige  Tochter,  \Wei  Söhne  von  80  und 
2%  Jahren  und  die  2dj8hrige  Zuhälterin  des  letsteren. 

Die  Zuhälterin  des  Sohnes  war  Im  4.  Monat  der  Schwangerschaft 
und  gebar  später  rechtseitig,  wie  denn  überhaupt  die  Gravidität  durch 
die  Trichiniasis  nicht|  tangirt  wurde.  Die  beiden  erwachsenen  Söhtie 
starben  und  boten  die  Krankheitserscheinungen  nichts,  was  nicht  schoti 
anderwärts  beobaehtet  worden  wäre. 

Die  Zahl  der  eingewanderten  Trichinen  war  bei  den  Verstorbenen 
eine  gant  immen5;e ;  in  einem  einzigen  Präparate  des  Zwerchfells  wur- 
den 4  09  Trichinen  gexählt.  Ebenso  fanden  sich  4  Wochen  nach  dem 
Oenuss  des  Fleisches  im  lleum  zahlreiche  Darmtrichinen ,  gewöhnlich 
drei  in  jedem  Präparat.  Während  des  Lebens  war  es  nie  gelungen, 
auch  nach  den  stärksten  Abftihrmitleln  in  den  Pätcs  Trichinen  aufzu*« 


508  ^  I>r.  L.  Pfeiibr, 

finden ,  obsohon  sehr  häufige  und  seiiraubende  DniersachuilgeB  statt- 
fanden. --  Die  massenhafte  Anhäufung  von  Trichinen  erklärt  sieh  dar- 
aus, dass  die  Infection  eine  fortlaufende  war,  da  bis  zum  Verlangen 
der  ärztlichen  Httlfa  fast  täglich  das  mit  Trichinen  zahhreioh  durohsettte 
Fleisch  genossen  worden  war.  Der  Tod  der  beiden  Sdhne  gab  Veran- 
lassung zur  gerichtlichen  Verfolgung.  Vater  und  Schlächter  wurden 
der  fahrlässigen  Tödtung  angeklagt  und  ersterer  zu '2  Monaten,  letz- 
terer zu  4  Monaten  Gefängniss  verurtheilt. 

Die  beiden  Trichinenschweine  gehörten  der  sogenannten  Landrace 
an,  waren  in  einem  benadibarten  Dorfe  geboren  und  in  Waltershausen 
gemästet  worden. 

Bereits  ein  Jahr  vor  diesem  Falle  sind  von  Dr.  Kollbut  in  verschie- 
denen, in  Waltershausen  gefangenen  Ratten  zahlreiche  Muskeltrichinen 
aufgefunden  worden. 

3)  Eine  dritte  Reihe  von  Erkrankungen  wurde  im  December  4867 
in  Hildburghausen  von  Herrn  Dr.  Kkopf  beobachtet.  Es  kamen  3  Tri- 
chinenfälle in  einer  Familie  vor,  die  ein  Schwein  zum  Hausgebrauch 
geschlachtet  hatten.  Die  Erkrankungen  waren  leichter  und  gingen  mit 
gastrischen  Erscheinungen  im  Beginn ,  mit  starken  Muskelschmerzen, 
heftigem  Fieber  und  Schweissen  einher.  Gesichtsödem  wurde  nur  bei 
der  Hausfrau. beobachtet,  mit  Brennen  und  Schmerz  bei  Bewegungen 
der  Augen.  Das  nachträglich  untersuchte  Schwein  zeigte  sich  massig 
mit  bereits  eingekapselten  Trichinen  durchsetzt.  Der  Mann  zeigte  in 
der  dritten  Woche  ziemlich  bedeutendes  Oedem  der  FussknOchel;  der 
\  4  jährige  Sohn  der  beiden  Eheleute  war  nur  sehr  leicht  erkrankt. 

Ueber  angebliche  Erkrankungen  in  Grosskromsdorf ,  in  welchem 
Dorfe  später  verschiedene  mit  Trichinen  behaftete  Schweine  gezüchtet 
worden  sind,  fehlen  nähere  Nachrichten. 

4)  Eine  vierte  Infection  ohne  nachtheilige  Folgen  fand  in  Weimar 
statt.  Im  Jahre  i  867  ist  von  einem  Fleischer  in  Weimar  Fleisch  vor- 
kauft worden ,  das  später  als  trichinenhaltig  sich  erwiesen  hat.  Ein 
Theil  des  Fleisches  war  der  mikroskopischen  Untersuchung  entzogen 
und  bereits  verspeist  worden,  doch  hat  sich  tlber  einen  etwaigen  Nach- 
theil für  die  Gesundheit  der  Betroffenden  nichts  feststellen  lassen. 

Das  Fleisch  des  betreffenden  Schweines  war  nur  späiiich  mit  Tri- 
chinen durchsetzt. 

5)  Im  Januar  4  868  wurde  von  Dermbach  im  Eisenacher  Oberlande 
über  einen  ganz  isolirten,  tödtlich  verlaufenen  Fall  von  Triohiniasis 
berichtet.  Da  sow<rfil  die  Krankengeschichte  dieses  Falles  viel  Abwei- 
chendes von  dem  gewöhnlichen  Krankhoitsbild  »Trichiniasis«  bietet 
und  da  ferner  der  Grad  der  Verkalkung  der  nach  dem  Tode  wirklich 


Die  bisherigen  Crfahrang^n  über  Tricbiniasis  and  Fleischbiicban  in  Thilringen.   509 

/' 
gefundenen  Trichinen  verscbiedenen  ZweiMn  Raum  giebt,   ob  der 

Tod  hier  wirklMi  durch  Trichinen  erfolgt %ei,  so  ist  eine  ausführlidiere 
Beleuchtung  dieses  Falles  wohl  gerechtfertigt,  zumal  dieselbe  durch  das 
Susammentrefifen  verschiedener  Umstände  bezeugt,  welche  Schwierig- 
keiten im  concreten  und  isolirten  Fall  der  Diagnose  der  Trichiniasis 
entgegenst^en  können« 

Gegen  den  i  0.  December  1 867  erkrankte  in  Dermbach  die  Frau 
des  Fleis^ermeisters  E.  mit  überaus  heftigem  Kopfschmerz,  Obren- 
brausen,  Schwindel,  unstillbarem  Erbrechen,  Abgeschlagenheit,  rheu- 
matischen Schmerzen  in  allen  Gliedern ,  dickbelegter  Zunge  und  voll- 
ständiger Appetitlosigkeit. 

Nach  einigen  Tagen  entwickelte  sich  eine  so  unförmliche  Ge- 
schwulst der  Parotis,  dass  das  Gesicht  vollständig  schief  erschien.  Unter 
heftigen  Fiebererscheinungen  ging  diese  Geschwulst  in  Vereiterung 
über  und  wurde  dieselbe  an  mehreren  Stellen  incidirt.  Hiermit  trat 
eine  bedeutende  Besserung  ein  und  endigte  die  Eiterung  fast  mit  voll- 
ständiger Erhaltung  der  Drflse. 

Gegen  Neujahr  soll  die  im  7.  Monat  schwangere  Frau  zwei  Sdiweins- 
coteletts  gegessen  haben  (?) .  Unmittelbar  darauf  erfolgte  wiederum  hef- 
tiges Erbrechen ,  starker  Kopfschmerz  und  unter  heftigen  Wehen  Tags 
darauf,  bei  sonst  günstigem  normalem  Verlaufe,  der  Abortus  eines 
Kindes  von  sieben  Monaten.  \ 

Die  Kopferscheinungen  gingen  vorüber,  doch  stellte  sich  eine  mo- 
torische Lähmung  des  rechten  Armes  ein ,  die  sich  indess  nach  einigen 
Tagen  wieder  verlor.  In  der  vierten  Woche  (40/4.  68)  entwickelte  sich 
auf  dem  rechten  Gesäss  ein  Abscess,  der  längere  Zeit  eine  harte  Um- 
gebung hatte  und  bei  der  ErOfihung  eine  Tasse  rahmähnlichen  Eiters 
entleerte.  Am  Kreuzbein  hatte  sich  gleichzeitig  eine  Decubitusstelle  ge- 
bildet. Das  Sensorium  war  hierbei  meistens  frei ;  das  Auge  war  klar 
und  freundlich,  zuweilen  kamen  Anfidle  von  Dyspnoe,  in  welchen  die 
Kranke  mit  dem  Ausdruck  grösster  Angst  aufgerichtet  werden  musste. 

Eine  an  der  rechten  Hand  und  am  rechten  Arm  sich  entwickelnde 
Odematöse  Anschwellung  brachte  den  behandelnden  Arzt  auf  den  Ver- 
dacht einer  Trichiniasis.  —  Oedem  der  Augenlider  ist  nur  in  sehr  ge- 
ringem Grade  vorhanden  gewesen ;  ausser  an  der  rechten  Hand  fehlte 
es  an  den  Extremitäten.  Die  Kranke ,  seit  4  0  Jahren  nur  von  demsel- 
ben Arzte  behandelt,  hat  nie«eine  Krankheit  gehabt,  die  mit  Trichinia- 
sis hätte  verwechselt  werden  können. 

Von  3en  anderen  Familiengliedem  erkrankte  unmittelbar  nach  der 
Frau  ein  Kind  derselben  unter  Leibweh,  Magendrüdien  und  Kopf- 
schmerzen, genas  jedoch  sofort  wieder  nach  einem  Laxans. 


510 


\  Dr.  L.  Pfeiffer, 


Diese  Diagnose  nodh  bei  i.ebas«itOD  der  Frau  an  elfiem  exoilirteii 
Muäkelslttckobeo  ;ia  sicbern,  iieas  sich  bei  dem  sehr  gesunkanen  Kräfte— 
«astande  der  Kranken  nicht  reobifarUgen.  Der  Tod  etfolgie  am  90/4 . 
M  durch  LähDQAing  der  Hespiralion  und  bei  voUstem  Bewuaataein.  In 
den  nach  dem  Tode  untersuchten  Muskeln  der  Frau  fanden  sich  sehr 
zahlreich  eingekapselte  Trichinen.  Die  Kapseln,  durchsobnilUicfa 
eine  in  >edem  angefertigten  Pi^parat,  zeigen  besonders  an  den  Spitzen 
^eratnaute  strich-  und  punotfartnige  Verkalkungen ,  die  siAauf  Zujsatz 
von  Saisslüare  bedeutend  aufhellen.  Zwischen  diesen  Verkalkungen 
finden  sich  viele  zerstreute  Fettaellen  vertheüt. 

Anderweitige  Falle  von  Trichiniasis  sind  in  Dermbaoh  und  Um- 
gegend nicht  vorgekommen  und  hat  es  sich  ebenso  nicht  erweisen  las- 
sen, daas  die  Frau  sieh  auswärts  infictrt  habe. 

Ebensowenig  iässt  sich  diese  Erkrankung  mit  den  im  Januar  1868 
in  Lengsfold  gefiattdenen  Trichioen  in  Zusammenhang  bringen. 

Durch  die  Ueberainsiimmuag,  dass  die, hier. bei  Lebseiten  veroEMi- 
theten  Trichinen  nach  dem  Tode  als  facUsch. vorhanden  in  den  Muskeln 
gefunden  wurden,  gewinnt  der  oben  als  ganz  abnorm  beseicbnete  Ver- 
lauf dieses  Falles  eia  erhöhtes  Interesse. 

Die  reiche  Gasuistik  Über  Triohiniasis  hat  keine  derartige  Kranken- 
geschichte aufzuweisen  und  Dr.  Khaitz  giebt  in  seiner  erschöpfenden 
Behandlung  der  Hederslebener  Endemie  keinen  Fidl,  der  mü  sehr  ge- 
ringem LidOdem,  mit  Abscedirung  der  Paroüs  und  auf  den  Glutllen 
einherging. 

Entstehen  bei  sorgteltiger  Betrachtung  dieses  KrankhaitsirerlauCes 
Zweifel  darüber,  dass  eine  Triohiniasis  ihier  Todesursache  gewesen  sei, 
«o  werden  diese  durch  den  mikrnskopischen  Befund  gesteigert  Setzt 
«nan  die  infection  sehn  Tage  vnr  den  Erkirankungstag  (40.  Deeember 
48i7),  so  erhalt  man  fttrdie  Kepseltricbinen  bis  suiti  Tag  des  ein- 
getretenen Todes  {W/i .  68)  böchst^s  ein  Alter  von  49—51  Tagen  und 
bei  diesem  »Alter  finden  sich  bereits  Verkalkungen  in  den  Spitzen  der 
Kapseln  i).  Ein  derartiger  frtthseitiger  Eintritt  der  Verkalkung  ist  bis 
--— ' .  d 

i)  Nach  dem  Druck  des  Obigen  hat  Herr  Med.-Rath  KüCHEivssifiTBR  die  exicir- 
ten  Fleischproben  ebenfalls  untersucht  und  ist  zu  einem  abweichenden  Resultate 
gekommen.  In  acht  isolirten  Kapseln  ist  auf  Zusatz  von  Salzsäure  sowohl  als  auch 
-von  EssigsHure  «ine  Aufhellung  der  Kapseln  ohne  Gasentwidklung  entstanden  und 
schliesst  deshalb  Herr  Med. -Rath  KücmiOiKUTBA  das  Vorhandensein  von  kohlen- 
saurem oder  phosphorsaurem  Kalk  aus.  £r  schätzt  die  Mehrzahl  der  Kapseln  auf 
ein  Alter  von  höcfistens  acht  Wochen ,  wobei  er  das  Vorhandensein  einzelner  älte- 
rer verkalkter  Kapseln  für  möglich  hält.  Dieses  Alter  würde  dem  Termin  der  mög- 
lichen Iirfection  entsprechen  und  gewinnt  durch  dieses  gewichtige  Ürtheil  KtiCRCK- 
SBism's  auch  die  Diagnose  auf  Trichiniasis  an  Wahrschetnlichkeif . 


^scha 


Die  bisherigen  ErfahrnDgeo  Aber  Trieiiiuasis  uud  FleiseJ^schaii  in  Thilringen.    511 

jeUi  naeht  beobachtet.  Nach  den  auagedehnfen  Experimenten  Frdlbr's 
beginnt  die  Verkalkung  der  Trichinen  fn  Kaninchen  nicht  vor  dem 
\%% — 167.  Tage,  und  bei  dem  Menschen  scheint  die  Verkalkung  nach 
den  Befanden  in  Leichen  UAch  viel  später  einzutreten,  aller  Wahr- 
scheinlichkeil nach  nicht  vor  neun  Monaten  oder  einem  Jahr  (nach 

FUDLlft). 

Die  Eingangs  besdirieben^i  Präparate  aus  den  Muskeln  eines 
Mannes,  der  ein  Jahr  nach  der  Überstanden^)  Trichiniasis  an  Cholera 
starb  und  ebenso  die  aus  den  Muskeln  einer  älteren  Frau,  die  fünf 
Jahre  darnach  an  einem  Schenkelhalsbruche  starb,  sind  betreffs  des 
Grades  der  Verkalkung  kaum  weiter  vorgeschritten,  als  der  hier  in 
Frage  stehende.  —  GiaLJ^cn  nimmt  als  frtthesten  Termin  der  Verkal-^ 
kung  \  Ys  Jahr,  KücnsimisTni  dagegen  nur  Y4  Jahr  an. 

Nach  dem  mikroskopischen  Befund  aHein  ktfnnte  man  entsprechend 
den  bisherigen  Beobachtungen  die  fragliche  Trichinose  auf  mindestens 
V4 — ^  V2  Jsl^ro  ^<x*  die  letzte  tOdtKche  Erkrankung  zurUckselsen,  eine 
Annahme,  die  in  dem  ganz  absonderlichen  Verlauf  der  letzten  UkMichen 
Krankheit  nur  noch  eine  Sttttae  mehr  findet.  Neben  der  alteren  geheil- 
ten Trichinose  hat  hier  eine  Parotitis  benigne  mit  Thrombusbihlungen 
dra  lethalen  Ausgang  bedingt  und  mag  zur  BekrStftigung  dieser  An- 
si^ttung  die  Thatsaohe  beitragen,  dass  Parotitis  benigna  in  jener 
Gegend  relativ  häufig  bei  Typhus,  Diphtheritis  etc.  zur  Beobachtung 
kommt.  Bei  der  Annahme  einer  reinen  Trichinose  bleibt  das  Räihsel- 
hclte,  das  dieser  gänzlich  isolirte  und  tödtlich  verlaufene  Fall  bie- 
tet) ungeläst, 

Gs  iat  ttbrigens  Thatsaohe,  dass  der  Fleischer  E.  mehr  Schweine 
geschlachtet  hat,  als  nadi  seinem  Pleischbuche  untersudit  worden  sind 
und  dasB  er  vor  der  Erkrankung  seiner  Frau  ein  paar  nicht  ganz  ge- 
sitndfräehweine  gekauft  und  diese  auch  geschlachtet  hat. 

Bat  er  diese  Sehweine  nun  nicht  untersuchen  lassen  und  imOeCtthl 
ei«er  gewissen  Schuld  nur  zu  gekochten  Waaren  verarbeitet,  während 
aHein  die  Frau  vom  Haokefleisoh  gekostet  hat ,  *  so  Uhsen  sich  allerdings 
auch  manche  der  vorhandenen  Räthsel. 

5)  Weitere  Trichineneckrankungen  sind  in  Nordhausen  4  &6&  vor- 
gekommen. 

II.  Ergebninm  der  Fleisehbetseliau. 

Eine  allgemeine  Debersicht  Über  das  Ergebniss  der  Fleischbeschau 
in  ganz.  Thttringen  ist  bei  der  grossen  Differenz  der  betreffenden  Ein- 
richtunfien  in  den  einzelne»  Staaten  zur  Zeit  kaum  zu  «rmäglichen. 


512 


Dr.  L.  Pfeifer, 


Sanitätspolizeiliche  BeiMmniUDgen  zum  Schulze  des  Piririioiiiiis  exi— 
stiren  in  Thüringen  zum  Theil  schon  seit  1863,  ausgedehnte  Yerord— 
nungen  al)er  erst  seit  1 8Gö  und  66.  Die  Entwickelung  der  betreflen— 
den  Gesetzgebung  ist  entschieden  in  Thttdngen  eine  wieit  vorgeschrit- 
tene und  bietet  viele  interessante  yergleichq)uncfte.  Die  obligatorische 
Fleischbeschau ,  welcher  wir  nach  den  Erfahrungen  in  Thüringen  das 
Wort  reden  müssen,  ist  am  consequentesten  in  Sachsen -Weimar  und 
in  Sachsen -Gotha  durchgeführt  und  können  die  in  Sachsen^  Weimar 
erlassenen  Bestimmungen  als  mustergültig  hingestellt  werden.  Die  fa- 
cultative  Fleischbeschau  besteht  in  grösserer  Ausdehnung  nur  noch  im 
Erfurter  Regierungsbezirk,  welcher  nur  in  seinem  nördlichsten  Theile, 
in  der  berüchtigten  Trichinengegend  von  Magdeburg ,  Braunschweig. 
Stendal  und  Halle ,  öfters  Trichinen  aufzuweisen  hat.  In  allen  nur  ei— 
nigermassen  nennenswerthen  Orten  dieser  nördlichen  Grenze  besteht 
jedoch  ebenfalls  die  obligntorische  Fleischbeschau,  von  den  einzelnen 
Magistraten  für  die  Gemeinden  oder  freiwillig  eingeführt. 
i)  Sachsen- Weimar. 

Die  Regierung  fasste  zunächst  als  vorbereitenden  Schritt  Ende  4865 
die  Einrichtung  von  besonderen  Fleischsohaudistricten  mit  mindestens 
je  einem  geprüften  Fleischbeschauer  ins  Auge  und  war  es  vorliiufig 
noch  den  einzelnen  Gemeindebehörden  freigestellt,  eine  directe  zwangs- 
weise Fleischbeschau  einzuführen  oder  nicht.  Nachdem  bis  zum  Ende 
des  Jahres  4867  in  den  meisten  Städten  die  obligatorische  Fleisch- 
beschau eingeführt  und  für  jeden  Fleischschaubezirk  auch  auf  dem 
Lande  der  nöthige  Sachverständige  gefunden  war,  wurde  vom  Ministe- 
rium am  28.  Januar  4  868  dieselbe  für  sämmtliche  Land-  und  Städte- 
gemeinden  eingeführt.  Die  Grundbestimmungen  sind  folgende: 

Jedes  zuni  Verkauf  gestellte  Schweinefleisch  muss  vor  dem  Ver- 
kauf vom  Fleischbeschauer  als  trichinenfrei  bezeichnet  sein.  Zu  diesem 
Behuf  hat  der  Schlachtende  alsbald  nach  dem  Schlachten  jedes  Schwein 
in  ein  die  nachstehenden  sechs  Rubriken  enthaltendes  Fleischbuch  mitr- 
tels  Ausfüllung  der  ersten  vier  Rubriken  unter  fortlaufender  Nummer 
einzutragen : 


4. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

No. 

Tag  des 

Schiach- 

tens. 

Alter  und 
Geschlecht 
des  Schwei- 
nes. 

Name  und 

Wohnort  des 

früheren 

Besitzers. 

Tag  der  mi- 
kroskopi- 
schen Unter- 
suchung. 

Attest  des 
Fleisch- 
beschauers. 

Alsdann  hat  er  von  jedem  Schwein  je  eine  Pleiachprobe  aus  den 
Zwerchfell-,  Brust-  und  Rehlkopfmuskeln  zu  entnehmen  und  diese 


f 

Die  bislMrigen  Crfuhrungen  über  Trichiniisis  ond  Fleisitl^^baD  in  ThfiringeD.    513 

Tbeile  in  eiMr  Scba<Atel ,  weldie  auf  der  idissenseite  mit  dem  Namen 
des  betreffenden  Seblttcbters  und  mit  de^  in  das  Pleischbuch  eingetra- 
genen Nummer  zu  bezeichnen  ist,  zugleich  mit  dem  Pleischbuche  dem 
Fleischbeschauer  zu  Übergeben.  —  Jede  Schachtel  darf  nur  Theile  von 
einem  Sdiweip  enthalten. 

Qer  Fleisohbeschauer  hat  Rubrik  5  und  6  auszufüllen  und  Über- 
dies noch  ein  eigenes  Journal  zu  fuhren. 

Bei  lyfRtersuchung  von  einzelnen  Fleischstüoken  müssen  dieselben 
im  Ganzep  dem  Fleischbeschauer  vorgelegt  werden. 

Dem  Fleischbeschauer  steht  es  jedenfalls  frei,  sieb  die  nOthigen 
Proben  aus  den  geschlachteten  Schweinen  selbst  zu  entnehmen. 

Der  Verkfiufer  von  Fleisch  und  Fleischwaaren  aus  dritter  Hand 
haftet  ebenso  für  trichinenfreie  Beschaffenheit  dersdben. 

Der  Nachweis,  dass  Fleisch  oder  Fleischwaaren  nicht  von  einem 
concessionirten  Fleischbeachauer  untersucht  sind,  zieht  eine  Strafe  von 
5<-50  Jhalern  nach  mch,  vorbehaltlich  der  noch  zur  Anwendung  kom- 
menden Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches.  Unordnungen  im  Fleisch« 
buche  werden  mit  1 — 10  Thalem  Strafe  belegt. 

Die  Concessionirung  eines  Fleischbeschauers  hXngt  von  der  Bnt- 
schliessung  des  Ministeriums,  resp.  von  dem  Ausfall  eines  Examens  ab. 
Das  zu  verwendende  Mikroskop  muss  ansdrüdilich  bei  der  Prüfung  *des 
Fleischbeschauers  als  geeignet  anerkannt  sein. 

Die  Fleischscbaudistricte  auf  dem  Lande  sollen  in  der  Regel  nicht 
über  2 — 3  Stunden  Durchmesser  haben. 

Die  Fleischschau  hat  bis  jetzt  in  folgenden  Pttllen  zu  dem  Auffinden 
von  Trichinen  geführt: 

4 }  Am  86.  Juli  K  866  fand  zuerst  Herr  Dr.  Götzi  in  einem  Sehweine 
zweier  Fleischer  von  Weimar  Trichinen,  das  sofort  von  der  Polizei  mit^ 
sammt  circa  K  00  daraus  bereiteter  Würste  confiscirt  wurde.  Ein  zwei- 
tes im  Stalle  der  Fleischer  «befindliches  Schwein  musste  ebenfalls  con-- 
fiscirt  werden,  weil  es  überaus  reidi  mit  eingekapselten  Trichinen 
durchsetzt  war.  Beide  Schweine  wurden  dem  Gaviller  Bzge  (conf  .Fall  4 1 ) 
zum  Aussieden  unter  polizeilicher  Aufsicht  verkauft.  Die  Schweine 
stammten  aus  der  Mühle  zu  Grosskromsdorf ,  in  welcher  eine  ausge- 
dehnte Schweinezucht  betrieben  wird.  Der  Besitzer  kauft  meist  junge 
Schweine  von  auswärts  zur  Mast  an.  Die  andern  daselbst  vorbandeneo 
36  Schweine  wurden  unter  polizeiliche  Aufsicht  gestellt,  trotzdem 
jedoch  zum  Theil  verkauft.  Einige  derselben  stellten  sieh  später  als 
trichinenfrei  heraus  und  die  anderen  waren  nicht  mehr  der  Unter* 
suohung  pBuglinglich  zu  machen. 

%  Im  Herbst  4  866  hat  deraelbe  Müller  (Ür  seinen  Hausbedarf  ein 

Bd.  IV.  8.  ■.  4.  88 


514  ^  ^  Öf«  l"  Pf«fcp» 

S«h.wein  getohlachtei)  in  dektf  sich  ebenfalls  Trichinen  fanden.  Es  sol- 
len zu  der  Zeit  verschiedene  der  Tiiehiniasis  X'erdttchtige  Erkrankungen 
in  der  Htthle  vorgekommen  sein  bei  Personen,  die  trotz  aller -Warnung 
von  dan  Schweine  gegessen  hatten. 

3)  Im  April  1867  fanden  sich  in  einem  Schwein^  au6  Gaberndorf 
viel  eingekapaelte  Tridiinen  und  wurde  das  8«hwein  ebenfalls  unter 
polizeilicher  Aufsicht  ausgekocht. 

,  4)  Im  .Mai  18^7  fand  Herr  Dr.  Götze  zufällig  in  efflfiln  StUck 
Schweinefleisch  Trichiiien  vor.  Das  betreffende  Schwein  stammte  von 
demSdlben  GaviUer  Bbok,  dem  die  zwei  ersten  triohinen haltigen  Schweine 
zum  Ausflieden  verkauft  worden  waren  und  hatte  der  betreffehde  Flei- 
scher das'Sohwein  der  Untersüefaung  entzogen.  Es  war  möglich,  noch 
den  grOssten  Theil  des  Schweinefleisches  zu  cönflsciren,  ein  Theil  aber 
war  dn  unbekannte  Personen  verkauft  worden  und  ist  über  nachtheilige 
Felgen,  von  dem  Genüsse  dieses  Fleisches  nichts  bekannt  geworden. 
Das  Schwein  war  jung  vom  Gaviller  Beck  angekauft  worden,  hatte  sich 
nie  krank,  geneigt  und  war  viel  ttn  Freien  in  der  Umgebung  der  Schin- 
derei gehalten  worden.  Das  Alter  wird  auf  nur  ein  halbes  Jahr  an- 
gegeben. Die  Untersuchung  zeigte  Kapseln  mit  auffallenderweise  zwei 
s^  verschiedenen  Entwickelungsstufen.  Die  eine  Art  bildete  eine 
lünglich  ovale  Masse  von  UnregelmSissigen  ühd  glänzenden  Kalkkrystdl- 
len  mit  zwischenliegenden  amorphen  und  undurchsichtigen  Kalkcon- 
crementen.  Die  Präparate  knirschten  unter  dem  Deckgläschen  und  nach 
vielen  Versuchen  ist  es  dem  Herrn  Dn  Götze  gelungen,  aus  einem  sol- 
chen Gencrement  eine  noch  gut  erhaftene  Trichine  heraus  zu  präpa- 
riren.  Bei  Zusatz  von  Salzsäure  lösten  sich  die  Kalkconcreitaente  und 
meiist  aueh  die  veiiLslkteil  Trichinen  vollständig  auf  unter  deutlicher 
EntwritiLelung  vV>n  Luft  (kohlensaurer  Kalkl).  ^  Ein  anderer  Theil  der 
Kapseln  wlar  ih  einem  weit  weniger  vorgerückten  Stadium  der  Verkal- 
kung, nur. an  den  Enden  zeigten  sich  einzelne,  in  Salzsäure  verschwin- 
dende diinkle;  Punote.  Die  Annahme  einer  zweimaligen  Trichinen- 
infection  dürfte,  trotzdem  dass  da&  Alter  des  Schweins  zu  nur  72  Jahr 
angiegeben  ist,  hier  gei^htfertigt  sein. 

Die  Balten  ddr  Schinderei ,  von  wo  dieses  Schwein  gekauft  war, 
mttasen  in  bedenfendeni  Grade  triehinenhaltig  sein.  Vier  solche  von 
mir  untersuchte  en^idlteü  Kap^eltrichtnen  mit  beginnender  Verkal- 
kung. Diese .  waren  in  den  Bxtremiftäten  nur  dünn  gesäet ,  in  dem 
ZweroUMl  jedoch. so  dicht,  dass  in  einem  Geslditsfeld  sich  deren  4 ^-^7 
fanden.  (Fünf  Balten  aus  der  Stadt  Weimar  waren  tri(^hfnenfret.} 

5)  Im  Januar  \  868  sind  in  einem  Sdiweiüe  in  Lengsftfid  iMi  fii- 
senaöh  eingeka{)se)te  Trichinen  g^futläen  worden. 


T 

Die  bisherigen  Erfahrungen  Aber  TriehiniASls  und  FleisflAeschau  in  ThAringen.    515 

Niach  dem  für  Sachsen- Weimar  AnselUirten  ist  die  Annahme  von 
Trichinenherden  in  der  Mtlhle  zu  Grossiromsdorf  und  in  der  Schinde- 
rei von  Weimar  gerechtfertigt.  Aarftlfe  MUhle  kommen  ausser  den  drei 
trichinig  befundenen  SchWeShen  wahrscheinlich  auch  noch  die  Trichi- 
niasiserkrankungen  von  Weimar  [h  863) .  Trotz  eifriger  Nachforsohung 
von  Seiten  der  Behörden  hat  sich  über  die  Ursachen  und  Weiterent- 
wicklung der  Parasiten  auf  jenem  Hofe  nichts  auffinden  lassen,  es  iat 
jedoch  eine  ausgedehnte  Untersuchung  der  Ratten,  Wasserratten,  Mttuse 
etc.  bis  jetzt  audi  noch  nicht  vorgenommen  worden. 

Einige  Aufklärung  ttber  die  Art  der  Uebertragung  der  Trichinen 
giebt  der  in  Weimar  zur  Anzeige  gekommene  letste  Fall,  indem  ein  tri- 
chiniges Schwein  bei  demselben  Gaviller  Bbgk  gefunden  wurde ,  dem 
früher  zwei  trichinige  Schwf«ne  zum  Aussieden  verkauft  worden  waren. 
Es  hai  dieses  Aussieden  unter  polizeilicher  Aufsicht  statt  haben  sollen, 
doch  sind  wahrscheinlich  eiiaelne  Abteile  von  den  Ratten  daselbst  oder 
auch  direct  von  jenem  Schweine  verzehrt  worden.  Der  Grad  der  Ein- 
kapselung  der  Trichinen  in  den  untersuchten  Ratten  würde  mit  der 
verCkxssenen  Zeit  übereinstimmen.  Eine  gänzliche  Vernichtung  trichi- 
nenhaltigen  Fleisches  dürfte  deshalb  immer  anzuordnen  sein. 

2)  Sachsen-Gotha. 

Nach  Mittheilung  des  Herrn  Collegen  KOllkiii  bestehen  daselbst 
sanitütspolizeiliche  Vorschriften  seit  November  1863,  kurze  Zeit  nach 
dem  Bekanntwerden  der  Hettstedter  Epidemie.  Es  wird  vorerst  durch 
dieselbe  eine  geordnete  mikroskopische  Fleischbeschau  nicht  eingeführt, 
sondern  vornehmlich  bestimmt,  was  geschehen  soll,  wenn  trichinöses 
Fleisch  gefunden  wird.  Indess  verpflichteten  sich  schon  damals  die 
Fleischer  in  Waltershausen  freiwillig,  ihre  geschlachteten  Schweine  mi- 
kroskopisch untersuchen  zulassen,  um  das  sehr benachtheiligte Export- 
geschäft in  Schinken  und  Cervelatwurst  zu  schützen  und  dem  consu- 
mirenden  Publicum  durch  entsprechende  behördliche  Zeugnisse  Sicher- 
heit zu  bieten  (26.  November  4863).  Schon  4  4  Tage  darauf  nahmen 
die  Fleischer  ihre  Verpflichtung  zurück,  »da  die  Trichinensache  über- 
haupt gar  nicht  so  viel  auf  sich  habe  und  es  nicht  lange  dauern  werde, 
so  sei  die  Sache  wieder  im  alten  Geleise  und  Alles  vorbei«. 

Als  das  Unheil  in  Bedersleben  Ende  4  865  alle  Gemüther  in  Auf- 
regung versetzte,  erliessen  in  einer  Anzahl  von  Städten  (Gotha,  Wal« 
tershausen,  Ohrdruf  etc.)  die  stadtischen  Behörden  ein  «Ortsstatut«, 
welches  die  Untersuchung  aller  geschlachteten  Schweine  oder  impor- 
tirten  Schinken,  Würste  etc.  anordnete.  Die  obligatoriscbe  Fleisch- 
beschau wurde  dann  ebenso  in  sttmmtlichen  Orten  der  Landrathsamts- 

88» 


516  H         Dr.  Ii.  Preifler, 

bezirke  von  Gotha  und  Ohrdflif  eingeführt.  Nur  im  Landraihsamt  Wal~ 
tershausen  hatte  man  bisher  iron  der  obligatorischen  Fleischbeschau 
(die  Stadt  Waltershausen  hatte  ein  Octsstatut)  abgesehen,  hatte  jedoch 
in  fast  allen  Ortschaften  geprüfte  Sachverstllpidige  angestellt,  um  dem 
Publicum  wenigstens  hinreichende  Gelegenheijt  zu  bieten,  sich  zu  schü- 
tzen. Durch  Beschluss  des  herzoglichen  Staatsmiaisterium  ist  in  jttng— 
ster  Zeit  die  obligatorische  Fleischbeschau  für  Sachsen -Gotha  ausge- 
sprochen worden. 

Durch  die  Ausdehnung  der  obligatorischen  Fleisdischau  auf  alle 
geschlachteten  Schweine ,  selbst  wenn  das  Fleisch  derselben  nicht  zum 
Verkauf  gestellt  wird,  unterscheiden  sich  die  im  Herzogthum  Gotha  gül- 
tigen Bestimmungen  wesentlich  von  den  sonst  bekannt  gewordenen. 
Auf  Grund  dieser  Bestimmung  war  es  möglich ,  dass  in  Waltershausen 
die  beiden  Todesfälle  an  Trichiniasis  Veranlassung  gaben  zur  Venir— 
theilung  des  ebenfalls  an  Trichinen  erkrankten  Vaters  jener  beiden  Ge- 
storbenen. 

Als  Fleischbeschauer  in  Sachsen -Gotha  sind  neben  den  Aerzten, 
thierärzten  und  Apothekern  auch  Personen  aus  dem  gebildeten  Hand- 
werkerstande,  Z.B.Uhrmacher,  angestellt,  die  ihre  Concession  nach 
dem  Ergebniss  einer  Prüfung  erhalten.  — 

In  dem  anderen  Landestheile  von  Sachsen-Gotha,  in  Coburg,  sind 
nach  Mittheilung  des  Herrn  Medicinal-Rathes  Dr.  Mbusbl  daselbst  Tri- 
chinen noch  nicht  gefunden  worden. 

Die  Resultate  der  Fleischbeschau  liegen  für  den  Landestheil  Gotha 
fast  vollständig  vor  und  sind  nach  den  Mittheilungen  des  Herrn  Medi- 
cinal-Rath  Dr.  Schüchardt  yon  Gotha  in  der  Schlusstabelle  zusammen- 
gestellt. 

Trotz  obligatorischer  Fleischbeschau  soll  aber  z.  B.  in  Waltershau- 
sen immer  noch  fast  die  Hälfte  aUer  geschlachteteil  Schweine  der  Unter- 
suchung entzogen  werden. 

3)  Sachsen-Meiningen. 

Die  obligatorische  Fleischbeschau  besteht  daselbst  seit  ungefähr 
zwei  Jahren.  Ausser  den  oben  beschriebenen,  in  Hildburghausen  vor- 
gekommenen Trichiniasisfällen  sind  nach  Mittheilung  des  Herrn  Dr.  Giap 
noch  Trichinen  gefunden  worden,  am : 

9/3.  66  in  POssneck,  geschlechtslose,  unausgewachsene  Trichinen  im 
Darmschleim  eines  Schweines.    (Weiterer  Befund  nicht  zu 
erlangen.) 
1 6/8.  67  in  Meiningen  ein  Schwein  mit  viden  Trichinen. 


r 

Die  bisherigen  Crfahraiigen  Aber  TrichiniMiis  nod  FleiscJ^chan  in  Thüringen.   517 

1/1 .  68  in  Lehesten  ein  Schwein  mil  any^einend  wenig  Trichinen. 
Eine  StatisiilL  der  Fleischbeschau  zur  Züft  noch  unmöglich. 

4)  Sachsen-Altenburg. 

Ein  Landesgeseiz,  4*s  die  Fleischer  zwingt,  das  zum  Verkauf  ge* 
stellte  Fleisch  untersuchen  zu  lassen,  besteht  in  Altenburg  nicht.  In 
den  meisten  StMRen  jedoch  ist  eine  obligatorische  Fleischbeschau  ein- 
geführt. 

Der  Nachweis  von  Trichinen  ist  im  Westkreise  des  Herzogthuros 
einmal  in  Roda  gelungen  nach  Mittheilung  des  Herrn  Dr.  BxiiiBOiJD  in 
Eisenberg. 

Für  den  Ostkreis  nimmt  Herr  Medicinal-Rath  Dr.  Geuvitz  in  Alten- 
burg nach  seiner  Veröffentlichung  in  Wagnsr's  Archiv  4868.  4.  eben- 
falls einen  Trichinenherd  an.   Es  wurden  Trichinen  gefunden : 

2.  Januar  66  in  einem  Schwein  in  Altenburg,  aus  Berlin.    . 

5.  August  66  in  einem  Schwein  in  Gera,  aus  Gimmel. 
27.  Octob.  66  IQ  einem  Schwein  in  Altenburg,  aus  Remsa. 
1 6.  Mai       67  in  einem  Schwein  in  Altenburg,  aus  GöUnitz. 

Von  dem  dritten  Schwein,  das  der  Schlächter  bereits  selbst  unter- 
sucht und  fOr  trichinenfrei  befunden  hatte,  haben  56  verschiedene 
Personen  ohne  Nachtheil  gegessen,  was  zum  Theil  auf  die  landes- 
übliche  Bereitung  des  Fleisches  zu  beziehen  ist,  durch  die  »kaum 
eine  Trichine  mit  dem  Leben  davon  kommen  kann«. 

Fütterungsversuche  mit  dem  Fleische  bei  Kaninchen  von  Dr.  Gbinitz 
hatten  positiven  Erfolg. 

5)  Regierungsbezirk  Erfurt. 

Im  Regierungsbezirk  Erfurt  kommen  nach  Mittheilung  des  Herrn 
Sanitätsrathes  Wittes  nur  selten  Trichinen  vor,  so  dass  die  königliche 
Regierung  sich  noch  nicht  zu  eitler  zwangsweisen  Einführung  der 
Fleischbeschau  für  den  ganzen  Regierungsbezirk  hat  entschliessen  kön- 
nen. Nur  an  der  nördlichen  Grenze  des  Bezirks  reicht  der  Haupttrichi- 
nenherd von  Deutschland  noch  nach  Thüringen  herein  und  besteht  da- 
selbst eine  obligatorische  Fleischbeschau.  Die  Gegend  zwischen  Mag- 
deburg, Braunschweig,  Stendal  und  Halle  hat  wohl  bis  jetzt  am  häufig- 
sten in  Deutschland  Trichinen  aufzuweisen  gehabt  und  ist  zumal  im 
Semester  4  867/68  daselbst  die  Trichiniasis  noch  viel  häufiger  aufgetre- 
ten als  früher.  Die  strenge  Handhabung  der  obligatorisdien  Fleisch- 
beschau in  jenen  Districten  lässt  jetzt  wahrscheinlich  kein  trichiniges 
Schwein  mehr  passiren  und  sind  die  früheren  Erfahrungen  über  Tri- 


A 


518 


Dr.  L.  Pibiffer, 


chiniasis  und  die  Resultate  iler  Fleischbeschau  io  regelmässigen  Berich- 
ten im  YiRGHOw'schen  Archiv  S^röffentlicht. 

Nach  dem  Berichte  des  Kreisthlerarztes  HEiNaicH  kamen  allein  im 
Semester  4  867/68  in  diesem  nördlichsten  Theil  von  Thüringen  Mgende 
Ergebnisse  der  mikroskopisdien  Untersuchung  vor : 


10/12.  67  in  Braunschweig 
i  8/4  S.  67  in  Nordhausen    . 
21/12.  67  Domäne  Frose     . 
49/12,  67  in  Wanzleben     . 
7/4.  68  -          - 
8/1 .  68   -  Aschersleben  . 
9/1.  68  -  Wegeleben     . 
Bis  Anfang  Januar  hat  die  Braun- 
schweiger Viehversicherungsgesell- 
schaft bezahlt 

Bis  ebendahin  die  Yiehversicherung 
in  Aschersleben    .... 
24/1.  68  in  Schmeidlingen 

-  Frose  .     .     . 

-  Halberstadl   . 

-  Domersleben. 

-  Schönebeck   . 

-  Halberstadt   . 
3/2.  68    -  Schmeidlingen 
3/2.  66    -  Sudenburg    . 

12/3.  68    -  Calbea/S.      . 


1  Schwein  ]  beim  Gentralvieh- 


1 

2 
1 
1 
1 

2 


i  T^rsicherungsver- 
J     ein  versichert. 


.   14 


26/4.  68 

26/4.  68 

1/2.  68 

3/2.  68 


5 
1 

3 
2 


40  Schweine. 


Davon  sind  auf  der  Domäne  Frose 
gefunden  allein g 

Im  Kreise  Worbis  sind  im  letzten  Semester  allein  dreimal  Trichinen 
in  SohweineOeisdi  gefunden  worden.  Von  dem  rohen  Fleisch  ist  ein- 
mal gegessen  worden,  ohne  dass  nachtheilige  Folgen  berichtet  sind. 
Ebenso  wurde  im  Jahre  4866  zu  Worbfe  auf  der  Scbarfrichterei  ein 
Schwein  mit  Trichinen  gefunden.  Die  Menschen,  welche  von  dem  rohen 
Fleisch  genossen  hatten,  weigerten  sich,  ein  Brechmittel  zu  nehmen 
und  blieben  gesund.  In  den  Batten  der  Scbarfrichterei  wurden  keine 
Tridiinen  gefunden.  —  Zur  Zeit  der  Hederslebener  Epidemie  kamen 
eine  Anzahl  von  Arbeitern  trichinenkrank  nach  Worbis  zurück  und 
starben  meist. 

(Nordhauaen  Mte  4865  im  Ganzen  1 5  Erkrankungs-  und  4  To- 
desfall.) 


Die  bisherigen  Erfuhningen  Aber  Thohiuiasis  oiid  Fleisohbefeh&a  in  TbQringen.   5)9 


Dhbeseha 


Ergebniss  der  mikroBkopüohegrtlntersachQngen : 


1                • 

An^hl  der 

Ort. 

Zeitraum 

der 

Untersuchung. 

untersuchten 

gaasen 

Schweine 

und  der  ein- 

MtnanTheüe 

Davon  mit 
Trichinen 
bebaftet  ge- 
funden : 

solcher. 

\ 

Stadt  Altenturg .     .     . 

April  486S— «7 

5i80 

8 

2 

Stadt  Weimar     .     .     . 

1866 

i840 

8 

^                    ^          •         •         •         • 

4867 

3040 

8 

••          "•.... 

4868,  I.  Quartal. 

4  Ott) 

— 

8 

Stadt  Gotha    .... 

4866 

9000 

8 

•         •         •          • 

4867 

6064 

4 

4 

9tadt  Waltersbausen    . 

Nov.  15  bis  Ende  65 

861 

-»• 

-          .    . 

4866 

4580 

4 

•  •      • 

4867 

3470 

4 

5 

Amt  WaltershaoMn .    . 

.  4867 

480 

.« 

6 

Ebenhausen  in  S.-Gotha 

4867 

9 

4 

7 

Kassa  und  fjiuterbach. 

4866 

8 

— 

t"       -            ^ 

4867 

49 

4 

8 

Stadt  Ohrdruff    .     .     . 

4866 

454 

— 

**                  ^            •         •         •         • 

4  867 

498 

1 

**                                 •         •         •         • 

4868,  I.Quartal. 

88 

*4-i     ' 

9 

Amt  Ohrdruff      .     .     . 

? 

? 

? 

40 

Amt  Gotha     .... 

.  4867 

48874 

_ 

hK 

Kreis  Nordhausen    .     . 

Wiotarsemester  ^es 

7 

40 

In  Sachsen-Gotha  (ohne Coburg),  von  welchem  Lande  allein  eine  fast 
vollständige  Uehersicht  der  Fleischbeschau  v^^rliegt  (Mittheilung 
des  Herrn  Med.  -  Rathes  Dr.  Schughabi^t  ia  Gotha)^  komoien'  auf 
88264  unt6r9uchte  Sobweine  neun  ^Icbe  mk  Trichweny  d.h. 
\\  3U0. 

In  der  Stadt  Weimar  kommen  auf  6370  Schweine  bereilis  vier  aalobe, 
cj.h.  1H590. 

JSacb  dem  bisher  Mitgetheilteo  mUssen  wir  eioer  allgevieinen  obli- 
g3U>rischen  Fleischbeschau  entschiedep  das  Wort  reden*  Thttringen  hat, 
abgesehen  von  seiner  nördlichen ,  stark  von  Trichinen  h0iiDgo8Uoblen 
Gren^p,  noch  verschiedene  Trichinanherde  (Waltershausen,  Gross- 
l^rQmsdorfy  Gegend  von  Alteuburg  und  Weimar),  durch  die  alUabitUoh 
eine  verhaltnis/smässig  grosse  Anzahl  von  Schweinen  inficirt  wird«  Von 
den  meisten  Qegnern  der  obligatorischen  Fleisehbescbau  wird  latolere 
doch  für  sqlf^be  Distrietfi.fUr  nOtbig  g^altan,  in  dcwn  öfter  TrichiMn 
vorkommen  i|nd  steht  die  Mehrzahl  der  Sanitfitabehdrden  in  TburJoeGBi 
auf  diesem  ^l,^ndpuncte.  Die  Fleischbesohau  muas  aber  Obigeü  sü 
Folge  auPb'QWe  allgemeine,  itber  die  Lanflgeineinden  sich  gleiobervv«ise 


520  N^  Dr-  L.  Pfeifer, 

erstreckende  sein  und  lasil^  sich  die  angeblich  unüberwindlichen 
dernisse,  wie  die  Beispiele  von  Sachsen -Weimar  und  Sachsen -Gotha 
lehren,  bei  gutem  Willen  beseitigen.  Der  bequeme  Grundsatz,  dass 
durch  vernünftiges  Zubereiten  der  Speisen  und  durch  passende  Beleh— 
rung  nach  dieser  Richtung  bin  jeder  Einzehi^  die  Gefahr  von  sich  wen- 
den könne,  passt  schon  in  sofern  nicht  für  Thüringen,  als  bei  dem 
grossen  Consum  von  Schinken  und  Cervelatwurst,  die  nur  leidit  ge~ 
räuchert  werden,  um  sie  » saftig a  zu  erhalten,  von  dieser  Seite  immer 
wieder  eine  Epidemie  wie  die  von  Weimar  verursacht  werden  kani». 
An  eine  Verminderung  des  Consums  derartiger  Fleischpräparate  oder 
an  eine  Aenderung  der  Zubereitungsweise  dieses  grossen  bidustrie— 
artikels  aber  ist  in  Thüringen  nicht  zu  denken. 

Am  Schlüsse  sei  hier  noch  eine  Beobachtung  angeführt,  die  von 
einem  erheblichen  Einfluss  auf  die  zukünftige  Gesetzgebung  sein 
könnte.  Die  tägliche  Erfahrung  lehrt,  dass  trotz  obligatorischer  Fleisch- 
beschau immer  noch  ein  grosser  Theil  der  geschlachteten  Schweine 
der  Untersuchung  entzogen  wird.  (In  Waltershausen  nach  Dr.  Köl- 
LBiN  z.  B.  die  Hälfte.)  In  der  Stadt  Weimar  betrug  die  Zahl  der  Unter- 
suchungen: 

1866 sc.  2360 
1 867  =  c.  3090 
im  I.  Quartal  von  1 868  =     4  060. 

Diese  rapide  Steigerung  der  zur  Untersuchung  gekommenen 
Schweine  hängt  nicht  mit  einer  Vermehrung  des  Consums  zusammen. 
Sie  erklärt  sich  einfach  daraus,  dass  seit  Mitte  des  Jahres  1 867  von  den 
meisten  Fleischern  mit  ihrem  Fleischbeschauer  eine  jährliche  Pauschal- 
summe vereinbari  wurde,  für  welche  letzterer  alle  von  dem  betreffen- 
den Fleischer  geschlachteteuv  Schweine  untersuchen  muss.  Dadurch 
hat  der  Fleischer  kein  Interesse  mehr,  wöchentlich  ein  oder  mehrere 
Schweine  der  Untersuchung  zu  entziehen  und  liegt  hierin  nach  dem 
einstimmigen  UrtheO  aller  Fleischbeschauer  der  Grund  der  obigen 
raschen  Steigerung. 

Derartige  Accordirungen  dürften  zum  wirksameren  Schutze  des 
Fnblicums  überall  von  den  betreffenden  Behörden  anzuordnen  sein. 
Ein  weiterer  Punct,  den  die  Gesetzgebung  noch  nicht  genügend  berück- 
sichtigt hat,  ist  die  Verstopfung  der  Quellen,  aus  denen  (fie  Schweine 
die  Trichinen  beziehen.  Für  den  Waltershäuser  Trichinenherd  sind  die 
Trichinen  in  den  Ratten  von  Dr.  Kölleiiv  nachgewiesen,  der  Trichinen- 
herd der  Schinderei  zu  Weimar  enthält  ebenfalls  zahlreiche  trichinige 
Ratten  und  dürfte  es  ati  der  Zeit  sein,  diese  Infectionsqüellen  zu  vcr- 


Die  bisherigen  CrfahroRgen  Aber  TrichiuiMis  and  Flet8(|kiie8chio  in  Tbflringen.   521 

stopfen.  Ausgedehntere  Untersuchungen  d^r  Ratten  und  Vernichtung 
derselben ,  Beiehrung  in  landwirthschafrilchen  Vereinen  über  Einrich- 
tung der  StSUe  etc.,  würden  bei  den  betreffenden  Regierungen  noch 
in  Anregung  zu  bringen  sei».  —  Eine  gänzliche  Vernichtung  (nicht 
Zurttckstellung  an  den  früheren  Eigenthttmer)  von  trichinenhaltigem 
Fleisch  ist  ebenso  fttr  eine  vorsichtige  Sanitätspolizei  geboten.  —  Die 
Goncessionirung  von  Fleischbeschauem  über  den  wirklichen  Bedarf 
hinaus  kann  durch  Herabdrücken  der  Untersuchungsgebühren  nur 
nachtheilig  auf  die  Genauigkeit  der  einzelnen  Untersuchung  hinwiilLen. 
Wenn,  durch  neu  ooncessionirte  Fleischbeschauer  die  Gebühr  für  die 
einzelne  Untersuchung  nach  und  nach  bis  fast  auf  t  Silbergroschen 
herabgedrückt  wird,  so  rauss  das  Zutrauen  auf  die  Zuverlässigkeit  der 
Untersuchung  schwinden. 

Mai  4868. 


\ 


*  * 


lieber  Stelliuigeii  des  graviden  ud  puerperalen  lllemuu 

Von 

Dr.  JS.  F.  Winkler, 

Assistenzarzt  im  Entbindungshause  zu  Jena. 


In  den  meisten  geburtshttiflichen  Werken  findet  man  die  Angabe, 
der  schwangere  Uterus  zeige  gewisse  Stellungsänderungen ,  und  zwar 
namentlich  Lateroversionen  sowie  Drehungen  um  seine  Langsame.  Unter 
letzteren  wird  stets  die  Rechtsdrehung ,  d.  h.  das  Vorstehen  der  linken 
Kante  ganz  besonders  betont,  eine  Behauptung,  die  nicht  vorwurfsfrei 
dasteht  deshalb ,  weil  die  Uterusstellung  anscheinend  immer  nur  nach 
dem  Augenschein  taxirt  und  überhaupt  nie  eine  grössere  Beobachtungs- 
reihe zusammengestellt  worden  war.  —  Diese  Uterusstellungen  gewan- 
nen grössere  Bedeutung ,  als  man  nach  Kiwisgh's  Vorgänge  das  angeb- 
lich häufigere  Vorstehen  der  linken  Kante  mit  gewissen  häufigeren  Po- 
sitionen der  Kindeslagen  in  Beziehung  zu  setzen  anfing.  So  plausibel 
auch  letztere  Behauptung  zu  sein  scheint,  so  nothwendig  ist  es,  die  ihr 
zu  Grunde  gelegten  Prämissen  zu  prüfen.  Wie  gesagt,  bewiesen  waren 
diese  Prämissen  noch  nicht:  gestützt  wurden  sie  aber  durch  die  Schä- 
tzung nach  dem  Augenmaass  und  durch  die  Betrachtung  der  Lage  der 
Uteruswunde  nach  vorgenommenem  Kaiserschnitt.  —  Das  Augenniaass 
ist  bei  geringeren  Axendrehungen  äusserst  trügerisch,  wie  ich  mich 
selbst  durch  Controlversuche  mit  dem  Messband  überzeugt  habe.  Die 
Zahl  der  Kaiserschnitte  aber,  bei  welchen  die  Lage  der  Uteruswunde 
näher  bestimmt  wurde,  ist  viel  zu  klein,  als  dass  sich  hieraus  irgend- 
welche Schlüsse  ziehen  Hessen.  —  Auf  den  Sectionstisch  kommen  Spät- 
schwangere  nur  sehr  selten:  wo  aber  derartige  Untersuchungen  ge- 
macht wurden,  findet  man  gerade  die  Axendrehungen  des  Uterus  nicht 
berücksichtigt.     So   geben  weder  Rödbrer  <)  noch  Huntbr  ^)  hierüber 

4)  RöDERER,  Icones  uteri  humani 

%)  HüNTER,  Anatomia  uteri  bomani  gravidi. 


lieber  Stellongeu  des  graTidea  und  ^erpenlenjMerae.  523 

Aufscbluss.  Es  fiUlt  aber  sehr  wohl  auf,  da^  aus  Huvtkr's  Abbildun- 
gen, wo  doch  sonst  in  Bezug  auf  Situs  ke^ae  Künstelei  herrscht,  in  der 
Mehrsahi  der  Falle  bei  evidenten  Frontalansiohten  nicht  eine  RediUH, 
sondern  gegentbeilig  eine  Linksdrehung  ersichtlich  wird. 

Unter  diesen  Umständen  ist  der  einsige  Weg,  zu  genauen  Resid-r- 
taten  zu  gelangen,  die  direete  Messung  und  in  Nachfolgendem  sind  die 
Resultate  so  angesteHter  Beobachtungen  enthalten.  -^  Gleichseitig  wurde 
stets  die  Kindeslage  bestimmt,  um  einem  etwaigen  Gausalnexus  swi- 
eeiMn  Uterus-  und  Kindessteilung  auf  eine  sichere  Spur  zu  kommen. 

Die  Messung  selbst  wurde  stets  in  der  Weise  ausgetlbt ,  dass  der 
in  der  horizontalen  Rückenlage  befindlichen  Frau,  weil  nur  so  die  Bauch- 
decken  hinlänglich  erschlafft  sind,  das  Messband  quer  ttber  den  Leib 
von  einer  seitlichen  Grenze  des  Uterus  bis  zur  andern  geiegft  und  nun- 
mehr die  Maasse  für  die  gesammte  Breite,  die  Linea  alba,  sowie  die 
Ansatzpuncte  der  runden  Mutterbäiider  bestimmt  wurden.  Aus  den 
sich  von  selbst  ergebenden  betreffenden  Differenzen  wurden  alsdann 
sowohl  die  Lateroversionen  wie  die  sugehtfrigen  Ltfngswendrehungen 
berechnet.  Eine  Differenz  bis  zu  zwei  Ctms.  wurde  der  etwaigen  Feh- 
lerquellen wegen  stets  gleich  Null  gezählt.  —  Es  wurde  aus  nahe  lie- 
genden Gründen  stets  bloss  am  contrahirten  Uterus  gemes^n,  ein  Zu- 
stand, den  man  in  den  letzten  8— 12  Wochen  mit  Leichtigkeit' und  ohne 
Schaden  durch  Reiben  etc  hervorrufen  kann.  Gleichzeitig  mit  dem 
Uterus  contrahiren  sich  auch  die  Lig.  rot.,  so  dass  so\>ohl  sie  selbst  Wie 
auch  ihre  als  kegelförmige  spitze  Fortsätze  der  UliTinsubstanz  sieh  dar- 
stellende Ansatzpuncte  leicht  zu  palpiren  sind.  Auf  diese  Weise  gelang 
es  in  allen  Fällen,  selbst  bei  äusserst  gespannten  Bauchdecken,  die 
Lig.  rol.  zu  palpiren  und  sie  bis  zu  ihren  beiden  Bndpuncten  zu  ver- 
folgen <j. 

Die  Palpation  der  Tuben  dagegen  ist  am  schwangeren  Uterus  viel 
unsicherer,  da  sie  ein  viel  tieferes  Eindrücken  der  Finger  erheischt, 
was  bei  Straffheit  oder  lebhafter  reflectoriseher  Action  der  Bauchmns- 
kein  schwer  und  selbst  unmöglich  werden  kann.   Deshalb  haben  dfe 


1}  BeUäuflg  sei  noch  erwähnt,  dass  es  mir  bis  jetzt  in  allen  klinischen  Fällen, 
die  bis  abwärts  zur  SOsten  SchwangerschafUwoc)ie  reichten ,  ohne  Ausnahme  ge- 
lang, die  Lig.  rotunda  einfach  von  aussen  zu  palpiren,  so  dass  ich  glaube,  die  Pal- 
paUon  der  Vterinadneia  dürfe  bei  der  DiffsreatlaldlagiioM  twMktn  latrt*  und 
extravteriner  EatwickelMig  der  Frucht  keine  «niargeordaete  Rolk  spieton.  Asaser- 
dem  bemerke  ich  noch  kurz,  dass  auch  bei  Früh-,  wie  bei  Nichtschwangeren  unter 
günstigen  Bedingungen  vermiNelst  combinirter  Untersuchung  dia  Palpalion  dar  Lig. 
rot.  and  Tuben  abenaowanig  wie  die  der  Ovarian  asU  uottbarwindUchan  Schwierig- 
keiten zu  kämpfen  hat. 


524 


Dr.  N.  F.  Wfnkler, 


Tubenecken  der  Messung. nicht  ssu  Grunde  gelegt  werden  können.  — 
Unter  günstigen  Umständen  gelingt  es  übrigens  leicht,  die  Tube  an  ih- 
rer Beweglichkeit  zu  erkennen ,  sie  bis  zu  ihrem  freien  Ende  hin  zu 
verfolgen  und  oberhalb  desselben  bisweilen  auch  das  Ovarium  als  sol- 
ches zu  palpiren.  Die  Tubenecke  selbst  fühlt  sich  ebenso,  wie  die  Bän- 
derecke, als  keilförmiger  Fortsatz  an,  nur  breiter  und  langer  als  letctere. 

Das  den  Messungen  zu  Grunde  gelegte  Material  ^aren  Schwangere 
ohne  Auswahl,  wie  sie  gerade  in  der  Anstalt  zur  Aufnabae -gelangten 
und  mir  von  Herrn  Hofrath  Schultze  mit  grösster  Liberalität  zur  IMs- 
Position  gestellt  wurden.  Etwa  die  Hälfte  des  Materials,  an  dem  Beob- 
achtungen meinerseits  gemacht  wurden,  ist  mit  dem  von  B.  Scbultzr  ^) 
VerWertheten  identisch. 

Zur  Benutzung  gelangten  44  Schwangere,  an  denen  überhaupt 
800  Messungen,  also  pro  Person  4  8  Messungen  im  Durchschnitt  gemacht 
wurden ,  und  zwar  täglich  einmal  im  Laufe  des  Vormittags ,  in  einigen 
wenigen  Fällen  auch  noch  zum  zweiten  Mal  gegen  Abend. 

Das  Ergebniss  ist  zunächst  folgendes : 

Tabelle  L 


Cterasdrehnng 

Zahl  der 
Beobach- 
tungen. 

Ob  laterovertirt? 

um  Lttngsaxe. 

dextro. 

sinistro. 

median. 

R.  Kante  vor     .    . 
L.  Kante  vor     .     . 

Symmetrisch     .    . 

808 

(88O/0) 
44$ 

(♦8O/0) 
856 

(44%) 

SOO 

(6«o/o) 

54 

(86O/0) 
447 

(44%) 

40 

(8%) 
48 

(4«%) 
26 

(7%) 

98 

(840/ol 
78 

(5««/o) 
482 

Summe 

800 

898 

(500/0) 

54 

848 

(480/o) 

Somit  bestand  eine  Rechtsdrehung  nur  in  4  8%  der  Beobachtun- 
gen, dagegen  Linksdrehung  in  88^/0  und  die  höchsten  Procente  zeigte 
die  symmetrische  Stellung.  Längsaxendrehungen  überhaupt  wurden 
demnach  in  56%  gefunden,  und  unter  diesen  war  Linksdrehung 
die  überwiegend  häufigste. 

Die  Stellung  des  Uterus  bezüglich  der  Längsaxe  ist,  ganz  abge- 
sehen vom  Grade  der  Drehung,  eine  überaus  wechselnde.  Die  längste 
Dauer  einer  und  derselben  Stellung  erstreckte  sich  auf  den  Zeitraum 
von  neun  Tagen,  und  zwar  fand  sich  dieses  Verhalten  nur  einmal  vor, 
ebenso  nur  einmal  eine  sechstägige  Dauer,  etwas  häufiger,  nämlich 

.  4  y  B.  SetmvtiK,  Unterauchnngen  über  den  Wechsel  der  Lage  und  SteUung  des 
Kindea.  4868. '—  Biehter  angewendete  Nomenciator  besonders  der  Lagen  ist  auch 
▼OD  mir  benutzt  worden. 


/ 

Ueber  StelloDgen  des  graviden  und  piierpertlei^terns.  525 

achtmal,  eine  Dauer  von  3 — 4  Tagen.  Bei  »esen  10  Frauen  mit  zeit- 
weise constanter  Uterusstellung  fand  sich  als  constante  Stellung  nie  die 
Rechtsdrehung,  bei  zweien  Symmetrie,  bei  den  übrigen  aber  die  Links- 
drehung. In  allen  übrigen  Fallen  bestand  ein  Wechsel  von  Tage  zu 
Tage  und  selbst  vom  Morgen  zum  Abend. 

Meistens  bestand  bei  allen  Frauen ,  die  mindestens  sechs  Tage  in 
Beobachtung  waren ,  ein  lebhafter  Wechsel  zwischen  allen  drei  Arten 
von  Stellungen :  nur  bei  zwölf  Frauen  wurde  ein  Wechsel  zwischen 
2wei  Arten  beobachtet.  Darunter  bei  neun  Frauen  ein  Schwänken 
zwischen  Symmetrie  und  Linksdrehung,  bei  einer  Frau  zwischen  Sym- 
metrie und  Rechtsdrehung,  bei  zwei  Frauen  zwischen  Links-  und 
Rechtsdrehung.  In  allen  diesen  Fällen  kamen  alle  Stellungen  der  Schä- 
del-^, Steiss-  und  Queriagen  durcheinander  vor. 

Auch  die  Lateroversionen  schwanken  ziemlich  bedeutend, 
obwohl  weniger  als  die  Langsaxendrehungen.  Bei  K  Frau  mit  4  7  Beob- 
achtungstagen fand  sich  constant  Dextro Version.  Wieder  bei  einer  mit 
\  5  Beobachtungen  ein  Schwanken  zwischen  Sinistroversion  und  Me- 
dianstellung, und  zwar  \K  Sin.  4-  4  Med. :  dagegen  bei  46  Frauen  mit 
zusammen  379  Beobachtungen  ein  Wechsel  zwischen  Dextroversion  und 
Medianstellung,  und  zwar  226  Dextr.  -i-  4  53  Med.  —  Nie  war  Sinistro- 
version constant,  selbst  nicht  einmal  auf  wenige  Tage. 

Behufs  Erforschung  des  etwaigen  Causalnexus  zwischen  Ctenis- 
und  Rindesstellung  mussten  zunächst  alle  die.  Einzelmessungen,  50  an 
Zahl,  ausgeschieden  werden,  bei  welchen  die  Stellung  des  Kindes 
nicht  mit  völliger  Sicherheit  hatte  ermittelt  werden  können ,  und  die 
nun  folgende  Zusammenstellung  ergab  nach  allen  Bichtungen  fast  ab- 
solut dieselben  Prooente : 

Tabelle  IL 


Ctemsdrehung 

Zahl  der 
Beobach- 
tungen. 

Ob  laterovertirt? 

um  Lüngsaxe. 

dextro. 

sinistro. 

median. 

R.  Kante  vor     .     . 
L.  läinte  vor     .     . 
Symmetrisch     .     . 

iSO 

(88O/0) 

4S9 
844 

484 

(«50/0) 

49 
(88O/0)  ^ 
440 

(oo/o) 

46 

S8 

(70/0) 

•4 

(»«»/o) 

65 

(MO/e) 
478 

Summe 

750 

870 

(4««/o) 

46 

884 

(450/0) 

Ferner  durften ,  um  für  die  Berechnung  einen  möglichst  sicheren 
Boden  zu  gewinnen,  nur  die  Schädelstellungen  verwerthet  werden, 
und  somit  belHuft  sich  die  Zahl  der  für  unsere  Zwecke  verwerthbaren 
Beobachtungen  bloss  auf  670. 


1  j 

1  l: 

11    ;  :     -  : 

p 

CD          S         W     t=>                         tu      0 

fiifi  =  n- 

l^i^ 

Ä" 

|»„„|s|si5|;^=|2 

sr 
3 

r 
I 

i-l= 

i' 

-  1  -  S'S'  -s-i- 

l-a- 

«"• 

--I   -l-l-  -  iS- 

1  • 

1=1= 

lä 

.-  .i-|.  si-Ss 

1 

Isis 

|i 

|5  -=|aSs|sji££|s 

i^P  .  P 

:-.   :i'I~   :i:|s 

r 
T 

1 

^' 

3-i- 

ä" 

M  1    -!•    1    -ä-g- 

i-l' 

I* 

.  1  -   s|e|-  s|:|= 

ü 

ls-s|s|sis|i|s|s 

1=1  = 

iä 

...   =Is|:   3|.|s 

1 

i'i- 

"3* 

-—  =^|-|-  -8-1- 

I3 

1 

m^ 

§s=s|ä  s  sjS  s  S| 

SunuM 
derBeob- 
schlnDgeD 

iä|5 

15 

i.-=isi.|.-isisii! 

1 

1 

|ss= 

1= 

|...|s|:|5j.2-g. 

|2JI 

|i 

1 

Ueber  Stellnogen  des  gTAvideii  und  piierperakni  UUriis.  527 

I.  LängsaxendreboDgen. 

Für  die  Längsaxeildrehungen  finden  wir,  gleichviel  ob  wir  die  ge- 
sammien  Schädelstellungen  berücksichtigen ,  gleichviel  ob  der  T.  oder 
If.  Deventersche  Durchmesser  vom  Kopfe  besetzt  ist,  ebenso  aber  auch 
bei  I.  Schäd.  [  1 ) ,  wefche  relativ  die  höchste  absolute  Zahl  erreicht, 
genau  dieselben  Procente  wie  in  Tabelle  I.  und  II.  —  Diese  fünf- 
fache Cebereinstimmung  und  —  ich  greife  vor  —  das  gleiche  Ergeb- 
niss  bei  allen,  und  zwar  zu  sehr  verschiedenartigen  Zwecken  gemach- 
ten Zusammenstellungen,  erweist  die  Procentzahlen  in  Tabelle  I.  als 
maassgebende. 

In  runden  Zahlen  und  möglichst  einfach  ausgedrückt  ist  also  das 
Verhaltniss  der  Rechts-  zur  Linksdrehung  und  zur  symmetrischen  Stel- 
lung etwa  wie  1:2:3.  —  Dieses  Verhältniss  sehen  wir  ohne  wesent- 
liche Beeinträchtigung  überall  wiederkehren,  gleichviel  ob  wir  bloss 
die  Schadellagen  allein  oder  sammt  den  übrigen  Lagen  betrachten, 
gleichviel  ob  wir  unter  den  Schädellagen  die  Haupte  oder  andere  Sum- 
men oder  die  einzelnen  Stellungen  prüfen,  gleichviel  endlich  ob  wir 
verschiedenartige  Zusammenstellungen  wie  z.  B.  in  Tabelle  T.  berück- 
sichtigen. —  Schon  hieraus  dürfte  man  berechtigt  sein,  einen  näheren 
Connex  zwischen  Uterus-  und  Kindesstellung  anzuzweifeln.  Bedenkt 
man  femer  noch,  dass  die  Uterusstellung  bei  weitem  labiler  ist  als  die 
Kindesstellung  überhaupt ,  bedenkt  man  endlich ,  dass  die  Uterusstel- 
lung bei  einzelnen  Frauen  trotz  völliger  Stabilität  der  Kindesstellung 
dennoch  nicht  unbedeutende  Schwankungen  zeigt,  dann  sieht  man  sich 
allerdings  genöthigt ,  der  Uterusstellung  jeden  entscheidenden  Einfluss 
auf  Kindedstetlung  abzusprechen.  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  no<ih 
erwähnt,  dass  das  obige  Verhältniss  der  Uterusstellungen  im  Wesent- 
lichen Völlig  dasselbe  blieb  auch  bei  einer  Zusammenstellung  der  Beob- 
achtungen nach  den  einzelnen  Schwangerschaftswochen.  Leider  konn- 
ten des  Materials  wegen  bloss  die  36  —  40.  Woche  berücksichtigt  Ver- 
den, und  obschon  sich  keine  anderen  Resultate  aus  dieser  Zusammen- 
stellung ergaben,  so  wurde  doch  wenigstens  auch  auf  diese  Weise  die 
Beständigkeit  des  Verhältnisses  der  Uterusstellungen  bewiesen.  —  Genau ' 
dasselbe  Resultat  erhellt  auch  aus  Tabelle  IH.  B ,  woselbst  alle  ersten 
Schädelpositionen  den  zweiten  gegenübergestellt  sind.  —  Halten  wir  an' 
dieser  Thatsache,  dass  da^Verhältniss  der  Uterustorsionen  durchschnitt- 
lich ein  conslantes  ist,  fest,  so  werden  wir  sicherlich  diejenigen  Schwan- 
kungen, welche  Tab.  Ilt.  A  für  die  einzelnen  Kindespositionen  vorführt, 
in  eine  ursächliche  Beziehung  zu  eben  jenen  Positionen  in  keiner  Weise 
bringen   können.     Suchen    wir  aber  nach    einer  Ursache   für  jene 


\ 

528  ^  Dr.  N.  F.  Wlakler, 

Schwankungen,  so  liegt  wohl  der  Verdacht  am  nächsten,  dass  die  ab- 
soluten Zahlen,  weil  viel  zu  klein,  keine  riditigen  Verhältnisse  ergeben 
können.  Möglich  aber,  dass  hier  noch  andere  Ursachen  concurrireD) 
möglich ,  dass  hier  vielleicht  ein  Connex  in  einer  der  bisher  vermuthe- 
ten  entgegengesetzten  Richtung  besteht,  mit  anderen  Worten,  dass  die 
Kindesposition  nicht  Folge ,  sondern  Ursache  mancher  Stellungsverän- 
derung  des  Uterus  -sein  mag.  Obschon  sich  hierfür  manche  Anhalts- 
puncte  in  den  Zahlen  finden  Hessen,  so  sind  doch  im  Ganten  die  Zah- 
len zu  klein,  um  diese  Frage  hier  zu  ventiliren. 

II.  Lateroversionen. 

Drehungen  um  die  Antero- posterior -^Axe  bestehen  nach  Tab.  I 
in  folgender  Weise : 

Dextroversion    .     50% 

Sinistroversion .     .  7  % 

Medianstellung .     43  % 
Dieselben  Verhaltnisse  zeigt  Tabelle  II  und  Tabelle  III.  A,  letztere  in  den 
Hauptsummen.  —  Wir  sehen  auch  hier  im  Grossen  und  Ganzen  ein  ge- 
wisses constantes  Verhältniss,  welches  einen  unmittelbaren  Zusammen- 
hang zwischen  Lateroversion  und  Kindesstellung  durchaus  nicht  für 
wahrscheinlich  ansehen  lässt.   Wir  finden  steta  einen  überwiegenden 
Procentsatz  für  die  Medianstellungen ,  und  unter  den  Laterovera/onen 
wieder  die  Dextroversion  ganz  besonders  bevorzugt^  also  ein  ähnliches 
Verhältniss  wie  bei  den  Uterustorsionen.   Auch  hier  sind,  wie  oben, 
die  nämlichen  Erwägungen  maassgebend ,  es  fragt  sich  nur  noch ,  ob 
den  hier  allerdings  bedeutenderen  procentaren  Schwankungen  ein  gros- 
seres Gewicht  beizulegen  ist,  wie  bei  den  Torsionen.    Fttr  die  einsei- 
nen Stellungen  in  Tabelle  III.  A  ergeben  die  Schwankungen  durchaus 
kein  durchsichtiges  Verhalten :  aus  Tabelle  III.  B  ersehen  wir  aber  in 
der  That  nicht  unbeträchtliche  Unterschiede ,  je  nachdem  der  Rücken 
des  Kindes  links  oder  rechts  liegt:    nur  sind  die  Unterschiede  nicht 
derart,  dass  sie  einen  zwingenden  Einfluss  auf  die  Kindesstellung  er- 
kennen Hessen ,  eher  lässt  sich  vermuthen ,  dass  unter  Umständen  der 
entgegengesetzte  Einfluss  als  ein  diese  Unterschiede  bedingender  Factor 
anzusehen  ist.   Fttr  diese  Vermuthung  kann  ich  als  Stutze  zwei  directe 
Beobachtungen  anfahren.   Bei  einem  unter  der  Hand  entstandenen  Po- 
sitionswechsel aus  I.  1  in  II.  4  sah  ich  eine  massige  Dextroversion  in 
die  Medianstellung,  und  bei  einer  anderen  Frau ,  wo  der  umgekehrte 
Wechsel  statt  hatte,  eine  leichte  Dextroversion  in  eine  ganz  bedeutende 
übergehen.   Beidemal  war  der  Positionswechsel  das  Primäre ,  und  erst 
nachträglich  entstand  die  veränderte  Uterusstellung  dadurch,  dass  der 


Ueber  Stelluni^en  des  gra? ideo  und  pnerperaM  Uterus. 


a|pf  Dt( 


529 


Fötus  mit  seinen  Füssen  den  schlaffen  Sapk  vor  sich  her  trieb ,  und 
zwar  so  weit,  bis  der  Uterus  auf  der ^sntgegengesetzten  Seite  dem 
Rücken  des  Kindes  anlag.  ^ 

III.    Ursachen  der  Axendrehungen. 

Das  ziemlich  coivrtante  Yerhültniss  für  die  Torsionen  ebenso  wie 
für  die  La tero Versionen  macht  es  wahrscheinlich,  dass  auch  ihre  Ur- 
sachen ip  ^gewissem  Sinne  constant  sein  müssen.  Weiterhin  ist  es  so- 
fi;ar  wahrscheinlich,  dass  beide  Drehungen  eine  gemeinsame  Ursache 
haben  müssen.  In  wieweit  letztere  Vermuthung  begründet  ist,  ergiebt 
folgende  Tabelle  IV,  die  aus  Tabelle  III  und  Tabelle  V.  A  extrahirt  ist. 

^Tabelle  IV. 


Art 

der 

Laterover- 

sion. 


Wie  vielte 
Schwan- 
gerschaft. 


Zahl 

der 

Latero- 

version. 


Welche  Drehung? 


nach 
rechts. 


nach 
links. 


Symme- 
trisch. 


Dextro 


P.p. 

M.p. 
Summe : 


Sinistro 


Median  . 


88 

7 
(80/o) 

54 

244 

88 

408 

(440/0) 

3S7 

45 

459 

(UO/o) 

(480/o) 

4 

5 

i7 

(^5%) 

«8O/0) 

8 

8 

46 

(500/,) 

«90/0) 

43 

42 

8 

(MO/o) 

(480/,) 

76 

47 

25 

(88O/0) 

224 

38 

(^70/o) 

58 

(a«o/o) 

300 

65 

88 

(^80/o) 

(Ä8O/0) 

Unter  den  constant  wirkenden  Momenten  könnte  die  verschiedene 
Länge  der  Lig.  rotunda  zunächst  wohl  in  Anspruch  genommen  werden, 
wenn  nur  überhaupt  darüber  EinversUtndniss  würe,  welches  von  beiden 
das  meist  längere  sei.  Man  begegnet  aber  hierüber  ganz  verschiedenen 
Angaben. 

Von  den  anderen  Ursachen,  wie  sie  z.  B.  Schatz  >}  für  die  von  ihm 
gleichfalls  noch  als  Norm  angesehene  Rechtsdrehung  statuirt,  erleichtem 
die  durch  die  Mm.  psoae  bewirkte  Trapezgestalt  des  Beckeneinganges 
sowie  die  labile  Unterstützung  des  Uterus  seitens  der  vorderen  Kante 


4)  r.  ScHATi,  der  GeburUmechanisrous  der  Kopfendlagen.  Leipzig  4868. 
Bd.  IV.  3.  u.  4.  34 


530  ^  V,         Dr.  N.  F.  Winkler, 

der  Wirbelsäule  einfach  Stbljungsänderungen  überhaupt,  ohne  aber  die 
Art  der  Stellungsänderung  zu.  beeinflussen. 

Dass  die  links  gelegene  Flexui^ß  sigm.  unter  Umständen  zur  Dex- 
troversion  beitragen  und  vielleicht  audi-^ne  Rechlsdrehung  veranlas- 
sen könne,  ist  nicht  undenkbar.  Man  darf  Übrigens  nur  die  Druckkraft 
der  Flexur  mit  der  bedeutenden  Schwere  des  Uterus  vergleichen  und 
darf  nur  daran  denken,  dass  diese  relativ  geringe  Kraft  in  der  nächsten 
Nähe  des  Hypomoehleon  ihren  Angriffspunct  hat,  um  sofort  diSis  Unstatt- 
hafte  einzusehen ,  dieser  Kraftquelle  eine  allgemeine  Bedeutung'  b@f^ 
legen  zu  wollen. 

£s  giebt  indessen  ein  Moment,  welches  a  priori  die  frühere  Ansicht 
über  das  normale  Vorstehen  der  linken  Heute  zweifelhaft  erscheinen 
lässt,  dagegen  die  Ergebnisse  vorliegender  Arbeit  durchaus  ungezwun- 
gen erklärt.  Ich  meine  die  Lage  der  übrigen  Därme.  Der  sich  ent- 
wickelnde Uterus  drängt  die  Därme  nach  oben  und  letztere  finden ,  da 
das  rechte  Hypochdndrium  von  der  Leber  besetzt  ist,  für  gewöhnlich, 
so  lange  seitens  der  Bauchdecken  die  normale  Uterusaxe  nicht  wesent- 
lich verändert  wird ,  nur  im  linken  Hypochondrium  Platz.  —  Von  hier 
aus  wirkend  sind  sie  als  Kraft  aufzufassen ,  die  den  Uterus  nach  vorn 
und  fechts  drängt.  Die  Kraftrichtung  nach  vorn  wird  durch  die  Bauch- 
decken ziemlich  paralysirt,  es  bleibt  somit  nur  die  Tendenz  der  Dextro- 
version  übrig.  Indem  aber  der  Uterus  gegen  das,  bei  Schwangeren 
ja  meist  stark  gespannte  Coecum  und  Colon  ascendens  gedrängt  wird, 
begegnet  er  einem  Widerstände ,  der  seinerseits  wieder  auf  die  rechlo 
Uteruskante  als  eine  Kraft  in  der  Richtung  nach  vorn  und  links  wirken 
muss.  Auf  diese  Weise  wäre  Linksdrehung  des  Uterus  nur  als  eine 
höhere  Potenz  der  Dextroversion  aufzufassen. 

Ferner  haben  wir  noch  die  Lig.  rotunda  zu  berücksichtigen.  Die- 
selben dürften,  ohne  gezerrt  zu  werden,  nur  einen  gewissen  Grad  von 
Dextroversion  zulassen :  jedes  Plus  von  Kraft  wird  alsdann  in  die  eine 
oder  die  andere  Längsaxendrehung  umgesetzt. 

Obige  Betrachtung  giebt  eine  ziemlich  befriedigende  Erklärung  f^r 
das  Gros  der  Beobachtungen:  man  darf  aber  nicht  vergessen,  dass  bei 
diesen  Vorgängen  eine  grosse  Zahl  der  Momente ,  vielleicht  alle ,  nicht 
unwesentliche  Schwankungen  zeigen.  Zunächst  zeigen  die  Därme  selbst, 
sowohl  die  Jejuna  im  linken  Hypochondrium,  wie  auch  das  Coecum  und 
Col.  ascendens  einen  sehr  schwankenden  Füllungsgrad.  —  Ferner  wird 
der  von  ihnen  ausgeübte  Druck  je  nach  der  Straflfheit  der  Bauchdecken 
ein  sehr  verschiedener  sein,  und  sind  die  Bauchdecken  durchaus  schlaff, 
so  w^erden  die  Därme  eine  durchaus  abnorme  Lafi;e  annehmen,  sie  wer- 


Ueber  Stettungen  des  graviden  and  pnerperalefTTteros.  531 

den  mehr  hinter  dem  UteruS,  vor  ihm,  ja  s4|ar  im  rechten  Hypochon- 
drtum  lagern  können. 

Die  Länge  der  Lig.  rotunda  ist  bei  den  einzelnen  Individuen  viel- 
leicht verschieden,  vielleicht  ist  bafd  das  eine,  bald  das  andere  kürzer. 
Aber,  wie  dem  auch  sei,  es  ist  nicht  abzusehen,  warum  nicht,  unab- 
hängig von  der  ursprünglichen  Länge,  auch  eine  Verschiedenheit  in 
ihrer  Kntwickeluflg  während  der  Schwangerschaft^ statt  haben  sollte. 

Erwähnt  sei  noch  ein  Moment,  nämlich  die  Möglichkeit,  besonders 
hex  »efafalTem  Uterus,  dass  die  Kindesposition  auf  die  Uterusstellung  von 
Einfluss  sein  könnte. 

Schliesslich  muss  noch  hervorgehoben  werden ,  dass  bei  Betracfaü- 
tung  obiger  Erklärung  sowohl  der  Grad  der  Strafilieit  des  Uterus,  wie 
auch  dessen- Grösse  völlige  Berücksichtigung  verdienen. 

Um  beide  letzteren  Momente  zu  eruiren,  dienen  die  Tabellen  V.  A 
und  B  auf  S.  532,  in  deren  erster  die  Straffheit  des  Uterus  durch  Gegen- 
überstellung der  Erst-  (P.p.)  und  Mehrschwangeren  (M. p.),  in  der 
zweiten  dagegen  die  Grösse  des  Uterus  berücksichtigt  wurden. 

Bei  straffem  Uterus  ist  keine  starke  Dextroversion  zu  erwarten, 
eher  eine  vermehrte  Torsion ,  und  zwar  hier  direct  durch  den  Zug  der 
Lig.  rot.  bedingt.  —  Der  schlaffe  Uterus  erleidet  unter  dem  Einfluss 
entsprechender  Kräfte  eher  eine  Dextroversion  denn  eine  Torsion. 

Die  Zunahme  der  Uterusgrösse  bewirkt  eine  Vergrösserung  des 
Angriffspunctes,  also  Zunahme  der  Dextroversion.  Dagegen  ist  nicht 
sofort  eine  bedeutende  Zunahme  der  Linksdrehung  zu  erwarten,  da 
durch  grössere  Füllung  immer  der  Umfang  des  Uterus  vermehrt  wird, 
so  dass  dieselben  ursächlichen  Momente  nunmehr  eine  relativ  geringere 
Excursion  bewirken  können. 

Während  bisher  dem  Uterus  immerhin  nur  eine  mehr  passive 
Rolle  bei  seinen  Stellungsveränderungen  eingeräumt  werden  konnte, 
lag  die  Frage  auf  der  Hand,  sein  Verhalten  während  seiner  Activität, 
also  unter  der  Geburt,  zu  studiren.  Diese  Frage  zu  behandeln,  mussie 
ich  mir  wegen  Mangel  an  entsprechend  grossem  Material  versagen. 
Aufgefallen  war  mir  allerdings  die  anscheinend  grosse  Neigung  des 
Uterus  mit  dem  Eintritt  kräftigerer  Wehen ,  und  auch  schon  bisweilen 
in  den  letzten  2  —  3  Tagen  der  Schwangerschaft,  eine  symmetrische 
Stellung  anzunehmen  oder  sich  dieser  wenigstens  mehr  als  bisher  zu 
nähern.  —  Dies  würde  mit  den  Beobachtungen  Spibgblberg^s  ^)  über- 
einstimmen,   welcher  unter  900  Geburten  symmetrische  Stellung  in 

82%   (737)  beobachtet  haben  will      Aiiffiilltnd  bleibt  mir  nur  seine 

—  _  ik 

4;  Mon.  f.  (leb.  1867.  Febr.  pag.  92. 

84* 


532 


Dr.  N.  t.  WinUer, 


»18  »IB 
O  O 

9i    OD 


O    O 


O 

B 


9   9 

O 

»   er 

■           • 

• 

B 
3 

•  • 

•  ■ 

besetzt 

■  • 

•           • 

•       • 

•-* 

N^ 

Ca»  -4 

Oi  -4 

o 

Oi  rf* 

lO  OD 

«• 

A  fcO 

•^   C«9 

1« 

-4  V* 

M)   O 

^ 

■**  Ml 

■^  06 

C3 

o»  <p 

to  ee 

w 

bb 

^ 

00 

«9    O 

00  C3 

^,* 

<J^  Oi 

00  OD 

03 

1.9  t^ 

kOi^ 

5:  S!        3 

o 


3"" 


CD 

D 


O    O 

9   9 


3 
3 

CD 


lO 


OD 

at  00 

00 

O  00 

<o  «* 

1« 

0( 

•>4  OD 

•4  O 

COO» 

-1  O» 

- 

<l»  -»• 

A  00 

Od 

1  » 

»1 

(A 

0»  <o 

Co  bb 

hd 

w    _ 


I  tr 


er 

CD 

I      09 

CD 
N 


f 

fl» 
CD 


CO  KS      -^  it^ 


o«  —  c;» 


^  Sojrirf* 


00  00     go  00 


«*  O      MM) 


ft» 


o» 

feO  •»• 

fcO  ^ 

H 
et 

ft»          M 
«4          00 

Kl 

O 

00  lO 

«1  Ol 

oJ  •^'oo  •-* 
00  wo»  •— 

■Ak 

C^ 

c^  o 

00  1« 

«a       00 

CO         o 

4^ 

'JC 


09 


CO  cn 

-4  ^— 

H>  00 

M)  «< 
o»  C^ 

M  ♦• 

55» 

0>  *4 

00  c;« 

00 

-»  w 

bt)»^ 

fefi 

M)  O 

O  M> 

1  »« 

1  »« 

- 

1  ^ 

1  - 

o 

1  » 

1    o 

* 

1  - 

1  * 

cc 

^  C*5 

M) 

00  «D 

M 

«4 

C«  M> 

• 

CO 

♦•  O« 

1«    «O 

00 


v» 


00 


O«  V<  -4  O« 

^      et 

O          00 

00 


e*» 

-4 

o«  -*  *• 

fcc  r3  o» 

CO 

00  -^   ö  ** 


o«  S  *"  "^ 


• 

•  • 

•  « 

•  • 

•  • 

4 

9 

|"1" 

s 

er 
3 

9- 
P 
9 
00 

tu 

00          -4 

CD 
H 

• 

CO 

MM« 

0 

• 

3 

o 

9 

00          ♦• 

00           ■* 

00           «4 

s 

a 

• 

"oo  N-'Si 

Ol  Od  *■  OD 

O          VI 

OD          ^ 

• 

1 

3 

pM« 

o 

9 

3' 

3 

00       c;i 

09 

9 

« 

O«         M> 

00       e^ 

3 

CD 

• 

'^  w  •: 

00  09  *   -4 

CO 

5 
3 

CD 

CO         feO 

00          Of 

CD 

H 

«^ 

• 

OB 

S 
3 

< 
CD 

o 

9 

O«          OD 

2. 

9 

• 

M>           00 

00          «* 

B 

• 

Summa 

OD         00 

der  Beob- 

l«k.         Oi 

achtungen 

-^  •»>  CH  00 

§• 

• 

3 

•< 

(D 

3. 

o 

9 

'S  «^  ^  M> 

on 

9 

■ 

B 

CD 

P. 

• 

-^  M>^ 

H 
CO 


f 

Ueber  Stellungen  des  graviden  und  puerperalen  Uterus.  533 

r 
Angabe,  dass  in  den  übrigen  \  8  %  (1 63)  ii^mer  nur  Rechts-,  nie  aber 
Linksdrehung  vorhanden  gewesen  sein  sollte.  Ich  hatte  gleichfalls  in 
einigen,  freilich  nur  42  Fällen  unter  der  Geburt  die  Messung  angestellt, 
fand  aber  zufälligerweise  nur  zwei  Rechtsdrehungen,  dagegen  vier 
symmetrische  Stellungen  und  sechs  Linksdrehungen.  Letztere  kommen 
also  jedenfalls  auch  unter  der  Geburt  vor.  Uebrigens  die  Spisgblbbeg*- 
schen  Angaben  ohne  Weiteres  zu  acceptiren,  trage  ich  gewisse  Beden- 
ken, jumI  zwar  deshalb,  weil  die  Uterusstellungen  anscheinend  immer 
nur  nach  dem  Augenmaass  taxirt  wurden  und  somit  diese  Angaben, 
wie  ich  glaube,  nicht  über  allcQ  Zweifel  erhaben  sind. 

IV.   UterussWellungen  nach  der  Geburt. 

So  lange  noch  die  Ueberzeugung  von  der  Wichtigkeit  des  Connexes 
zwischen  Uterusstellung  und  Kindesposition  Geltung  hatte,  musste  man 
daran  denken,  dass  eine  Uterusstellung  von  so  entscheidendem  Einfluss 
jedenfalls  auch  noch  gleich  nach  der  Geburt  fortbestehen ,  ja  vielleicht 
auch  noch  im  Wochenbett  vorwiegend  würde.  Wie  wenig  diese  Ver- 
muthung  Bestätigung  fand,  zeigt  Tabelle  VI.  auf  S.  532. 

Gleich  nach  der  Geburt  wurde  die  Stellung  an  43  Frauen  bestimmt 
und  in  Tabelle  VI.  A  sind  die  Stellungen  K)  je  nach  den  vom  Kopfe  be- 
setzten Durchmessern,  2)  je  nach  den  Lagen,  3)  je  nach  ihren  Summen 
geordnet. 

Für  Längsaxendrehungen  ist  jetzt  auffallend  die  Seltenheit  der 
symmetrischen  Stellung  und  das  nahezu  gleich  häufige  Vorkommen  bei- 
der Drehungen.  Unter  den  Latero Versionen  ist  Dextroversion  bei  Wei- 
tem die  häufigste  und  ist  auch  am  häufigsten  mit  Linksdrehung  com- 
binirt. 

Also  auch  gleich  nach  Beendigung  der  Geburt  sehen  wir  am  Uterus 
nicht  die  geringste  Tendenz,  eine  bestimmte  Stellung  anzunehmen:  es 
geschieht  dies  ganz  regellos,  gleichviel  welche  Kindesstellung  statt- 
gefunden, abhängig  offenbar  von  anderen  nur  zufälligen  Momenten. 
Hauptsächlich  wird  es  hierbei  auf  die  Contractionen  der  Lig.  rot.  an- 
kommen, die  überhaupt  ungleichmässig  sein  können:  ferner  auf  die 
Enlwickülung  dieser  Bänder  während  der  Schwangerschaft,  die  insofern 
ungleichmässig  sein  muss,  da  ja  bei  der  so  häufigen  Dextroversion 
und  namentlich  bei  der  Verbindung  derselben  mit  Linksdrehung  das 
linke  runde  Mutterband  sUirker  gedehnt,  also  auch  vorwiegend  ver- 
längert werden  muss.  Weiterhin  wäre  die  Möglichkeit  nicht  auszu- 
schliessen,  dass  auch  die  Wirkung  der  in  den  seillich  zur  Beckenwand 
laufenden  Bändern  befindlichen  Muskelfasern  zur  Geltung  kommt: 
endlich  dürfen  wir  die  Lage  des  S  romanum  nicht  vergessen,  welches 


^ 


534  .  Dr.  N.  F.  Winkler, 

seinen  Einfluss  jetzt  bei  entleertem  Uterus,  also  bei  geringerer  Grosse 
des  Angriffspunctes,  jedeiitalls  mehr  wird  hervortreten  lassen  können, 
wie  während  der  Gravidität. 

Während  des  Wochenbettes  wuitlen  an  5^  gesunden  Frauen 
248  Beobachtungen  gesammelt,  und  zwar  meist  während  der  ersten 
0—8  Tage.  —  Auch  hier  war  sehr  häufiger  Wechsel  der  Stellung  vor- 
handen, selbst  im  Laufe  eines  Tages.  Constanle  Stellung  land  sich  nur 
bei  neun  Frauen,  und  zwar  Linksdrehung  bei  fünf,  Bechtsdrethmg  bei 
vier,  symmetrische  Stellung  nie.  —  Der  beobachtete  Stellungswechsel 
fand  meistens  zwischen  Rechls-  und  Linksdrehung  statt:  die  Durch- 
gangsstellungen entzogen  sich  somit  sehr  häufig  der  Beobachtung.  — 
Tabelle  VI.  B  ergiebt  die  Slellungsvcrhältnisse  sowohl  nach  den  Schä- 
dellagcn ,  wie  nach  den  vom  Kopfe  besetzten  Durchmessern  geordnet. 
—  Man  ersieht,  dass  keinerlei  Beziehung  zu  den  unter  der  Geburt  be- 
standenen Kindeslagen  besteht.  —  Dass  auch  hier  die  Action  der  Lig. 
rot.  von  wesentlichem  Belang  ist,  erhellt  einfach  aus  dem  häufigen  Zu- 
sammenfallen einerseits  der  Dextrovcrsion  mit  Linkswendung  in  60% 
und  anderseits  der  entgegengesetzten  Stellungen  in  63%.  Weiterhin 
ist  nur  daran  zu  erinnern  ,  dass  es  bisweilen  gelingt,  durch  Anregung 
kräftiger  Contractionen  die  gleichzeitige  Zugwirkung  beider  Lig.  rot. 
zu  veranlassen  und  darin  zu  finden,  dass  der  so  eben  noch  gerade 
Uterus  nun  plötzlich  slark  antevertirt  oder  -fleclirt  erscheint. 

Resultate. 

i)  Weder  Torsionen  noch  Versionen  des  Uterus  ha))en  während 
der  Schwangerschaft  einen  entscheidenden  Einfluss  auf  die  Kindes- 
slellung. 

2)  Torsionen  und  Versionen  zeigen  jede  fttr  sich  in  Bezug  auf  ihre 
Frequenz  ein  ziemlich  constantes  Verhältniss,  das  seine  Ursache  haupt- 
sächlich in  der  Lage  der  Därme  findet. 

3)  Weder  gleich  nach  der  Geburt,  noch  auch  während  des  Wochen- 
bettes zeigt  die  Uterusstellung  irgend  eine  Beziehung  zu  derjenigen 
Kindesstellung,  aus  welcher  die  Geburt  stattgehabt. 


/ 


Die  Zotten  des  mensehlichen  Annios« 

Von 

Dr.  N.  F.  Winkler, 

Assistenzarzt  im  Gebttrhauso  zu  Jena. 


Die  AmnioszottcQ  (Carunkeln,  Placques)  der  Wiederkäuer  werden 
schon  von  alleren  Autoren  erwähnt.  Nähere,  namentlich  histologische 
Beschreibungen  besitzen  wir  erst  durch  Cl.  Bbrnard^],  und  besonders 
durch  Dreier  2),  Spiegelberg  ^j  und  F.  Birnbaum  ^J.  —  Am  menschlichen 
Amnios  wurden  diese  Zotten  überhaupt  zuerst  von  H.  Müller^]  gese- 
hen, dann  auch  von  Kebrer^]  in  zwei  Fällen,  vonDoHRN^)  angeblich 
bisweilen  gefunden.  Doch  fehlt  jede  nähere  Untersuchung  dieser  Zot- 
ten. Ich  habe  diese  Epithelwucherungen  in  den  letzten  200  mir  zu 
Gesicht  gekommenen  Nachgeburten  niemals  vermisst  und  glaube  so- 
mit dieselben  für  durchaus  constante  Gebilde  ansprechen  zu  dürfen. 
—  Ihr  Fundort  ist  die  Amniosfalte,  auf  welcher  sie  einen  meist  zungen- 
förmigenRaum  bedecken,  hart  an  der  Nabelschnurinserlion  einsetzend, 
(ileichviel  wie  die  Insertion  stattfindet,  ob  centrisch,  excentrisch,  mar- 
ginal oder  velamentär ,  stets  finden  sich  die  Wucherungen  vor:  auch 
Hess  sich  weder  die  Länge  des  Ductus  omphalo-mesaraicus,  noch  des- 
sen  Anheftung ,  noch  die  verschiedene  Entwickelung  der  Amniosfalte 
selbst  in  irgend  eine  zweifellose  und  constante  Beziehung  zur  Entwicke- 
limg dieser  Gebilde  setzen.  —  Indessen  fand  ich  sie  fast  immer  sehr 


1)  Sar  une  nouv.  fönet,  de  plac.  Joum.  d.  1.  Physich  p.  Brown  -  Seqüard.  II. 
1859. 

%)  Deber  das  Amnios  der  Kuh.  Diss.  Würzburg  1857. 
3)  Mon.  f.  «Geb.  Bd.  23.  pg.226.' 
k)  Bau  der  Eihäute.  Berlin  1863. 

5)  Bau  der  Molen.  Habilitationsschrift.  Würzburg  1847. 

6)  Mon.  f.  Geb.  24.  pg.  451. 
7}  Mon.  f.  Geb.  26.  pg.  120. 


536  ^  ^  Dr.  N.  F.  Winkler, 

zahlreich  bei  stark  entwiökelter  Amniosfalte.  Auffallend  ist  auch  der 
Umstand,  dass  die  Granula  meist  am  grösslen  in  der  unmittelbaren 
Nähe  des  Ductus  selbst  sind  und  desto  kleiner  werden ,  je  mehr  sie 
seitlich  von  letzterem  sich  entfernen.  —  Ist  ferner,  wie  es  zuweileo 
geschieht,  der  von  den  Granulis  bedeckte  Raum  länger  als  die  Amnios- 
falte selbst,  se  folgt  das  Ende  stets  genau  dem  Verlauf  des  Ductus,  die- 
sen unmittc^lbar  einschliessend.  —  Die  eben  erwähnten  Momente  schei- 
nen auf  eine  gewisse  Beziehung  zwischen  Ductus ,  Palte  xmA.  diesen 
Epithel  Wucherungen  hinzuweisen. 

In  Bezug  auf  das  makroskopische  Verhalten  habe  ich  zu  den  aus- 
führlichen Angaben  von  Birnbaum,  Kebrbr  u.  A.  in  der  That  nichts  hin- 
zuzufügen. Ich  habe  diese  Wucherungen  zumeist  in  Form  von  Granu- 
lis, häufig  fleckförmig,  bisweilen  auch  den  Papulae  circumvallatae  glei- 
chend, gesehen :  immer  war  die  Oberfläche  matt,  glanzlos  und  erschien 
bei  grösseren  Garunkeln  stark  gerillt.  Ein  so  vorwiegend  entwickelter 
Längendurchmesser,  dass  die  Garunkeln  schon  makroskopisch  Papillen- 
gcstalt  gehabt  hätten ,  ist  mir  nicht  vorgekommen.  -7  Die  Grösse  der 
Wucherungen  anlangend,  fand  ich  sie  meist  stecknadelknopfgross  und 
darunter:  die  grössten  —  bis  Linsengrösse  —  fand  ich  in  einem  Prä- 
parat der  hiesigen  Sammlung  im  Entbindungshause. 

Die  grösseren  Garunkeln  sind  hei  jeder  Beleuchtung  sofort  kennt- 
lich: die  kleineren  stechen  durch  ihr  mattes  Aussehen  gegen  das  hell- 
glänzende Amniosepilhel  namentlich  dann  gut  ab,  wenn  man  z.  B.  mit 
trockener  Hand  die  wenn  auch  dünne  Schicht  von  Flüssigkeit  möglichst 
hinwegstreift  und  die  Fläche  alsdann  j3oi  schief  auffallendem,  wo  mög- 
lich bei  Tageslicht  prüft. 

Die  Entwickelung  der  Excrescenzen  lässt  sich  an  Querschnitten, 
besonders  der  kleineren  Garunkeln,  gut  studiren. 

In  Bezug  auf  Entwickelung,  Wachsthum  und  spätere  Regeneration 
gleichen  sie  durchaus  der  ausgebildeten  Epidermis  und  namentlich  den 
in  ihr  so  häufigen  Schwielen  (Gallosi täten). 

Unter  dem  normalen  und  zunächst  noch  völlig  normal  bleibenden 
Amnioscpithel  entsteht  eine  punctförmige  Ansammlung  von  Gambium, 
d.i.  einem  Plasma,  in  welches  reichliche,  äusserst  kleine  Zellen  ein- 
gelagert sind.  In  ihnen  sieht  man  einen  grossen  Kern  mit  Körperchen: 
ersterem  liegt  die  Zellenhülle  dicht  an.  Gelingt  es,  durch  Druck  auf 
das  Präparat  solche  Zellen  zu  isoliren ,  so  bleiben  an  letzteren  stets 
mehr  oder  minder  grosso,  unrcgelmässige  Fetzen  des  sie  umgebenden 
Plasma's  haften.  —  Allmählich  werden  die  Zellen  grösser,  die  Hülle 
entfernt  sich  von  dem  sich  nur  wenig  mitvergrössernden  Kern  mehr 
und  mehr,  gleichzeitig  aber  schwindet  das  interccllularc  Plasma  und 


r 

Die  Zotteo  des  mensehlichen  AmDiot.  537 

die  Zellen  selbst  rücken  näher  aneinander.  Indem  von  unten  immer 
neue  Zellen  nachrücken ,  werden  die  älteren  erhoben ,  aneinander  ge- 
drängt und  schiühtweis  aneinander  gelagert.  —  Die  Neubildung  der 
Zellen  kann  man  selbst  an  doa  grösslen  Carunkeln  noch  nachweisen, 
da  sich  in  der  Tiefe  des  Cambiunis  unter  den  kleinsten  der  Zellen  stets 
mehrere  in  Theilung  begriffene,  d.  h.  zwei  Kerne,  oder  seiRst  schon  bis- 
cuitförmige  Einschnürung  der  ganzen  Zelle  aufweisende  Zellen  auf- 
finden lassen.  —  Sehr  frühzeitig  zeigen  die  Zellen  die  Tendenz,  sich 
abzuplatten  und  parallel  zur  Fläche  in  die  Länge  zu  wachsen. 

Die  ausgebildeten  und  alsdann  sehr  grossen  Zellen  gehen  den  Pro- 
cess  der  Verhornung  ein  und  stets  lagert  auf  dem  Cambium  eine  mehr 
oder  minder  dicke  Lage  solcher  verhornten  Schuppen,  die  exquisit  ge- 
schichtet, sehr  leicht  in  der  Richtung  der  Schichten  dehisciren  und 
dann  leicht  in  Querschnitten  die  Lage  als  aus  Fasern  zusammengesetzt 
vortäuschen  können. 

Der  Kern  dieser  Epithelien  wird  mehr  und  mehr  verwischt,  in  den 
obersten  Lagen  grösserer  Carunkeln  ist  er  ohne  Reagontien  meist  gar 
nicht  zu  sehen.  —  Der  Inhalt  zeigt  meist  nur  Spuren  von  Körnchen. 

Essigsäure  hellt  diese  Schuppen  etwas  auf  und  lässt  die  Kerne 
mehr  hervortreten. 

lod  färbt  das  Cambium  intensiver  als  das  übrige  normale  Amnios- 
epithel :  die  verhornten  Lagen  färben  sich  etwas  langsamer.  Nach  län- 
(^erem  Liegen  in  lod-Essigsäure-Glycerin  zeigt  sich  der  sonst  hellglän- 
zende Kern  schwach  contourirt  und  mattblau  gefärbt. 

Kali  (157o)  bringt  diese  verhornten  Zellen  zum  Aufquellen ;  der 
Kern  wird  sehr  bald  unsichtbar,  während  die  Zellen  selbst  allmählig 
zu  grossen  kugelrunden  Blasen  anschwellen  und  sich  nach  längerer 
Einwirkung  schliesslich  auflösen. 

Schwefelsäure  wirkt  auf  die  anscheinend  nicht  hochgradig 
verhornten  Schuppen  sehr  schnell:  auch  hier  blähen  sich  die  Zellen 
auf,  werden  aber  sehr  zeitig  zerstört. 

Blaue  Anilintinc tu r  fhrbt  das  Cambium  energisch,  langsamer 
und  schwächer  die  verhornten  Theile,  ist  aber  wenig  haltbar  in  Gly- 
cerinpräparaten.  • 

C  arm  in  färbt  vorzüglich:  doch  werden  die  Cambiumzellen,  — 
will  man  warten  bis  auch  die  verhornten  Schuppen  gut  tingirt  sind  — 
meist  zu  dunkel,  als  dass  sie  noch  deutliche  Bilder  gäben. 

Durch  die  allmählig  nun  mehr  und  mehr  sich  erhebenden  Schwie- 
len wird  das  normale  Amniosepithel  von  seiner  Basis  abgehoben  und 
natürlich  in  seiner  Ernährung  und  Regeneration  gestört.    Diese  Decke 


538  Dr.  N.  F.  Winkicr, 

unterliegt  nunmehr  dein  m<icerirenden  Einflüsse  des  Ämnionwassers, 
fällt  schliesslich  ab,  und  zwar  zuerst  gewöhnlich  am  Gipfel  der  Neu— 
bildung.  Die  nunmehr  blossliegcndcn  IlornschUppchen  werden  gleich- 
falls macorirt,  quellen  wieder  etwas  auf  Aind  fallen  gleichfalls  aus.  — 
Hierdurch  werden  die  Rillen  auf  der  Obei^fläche,  die  verschiedenen 
krat6rftH*migcn  Aushöhlungen  bedingt. 

Indem  das  durch  diese  Excresccnzcn  abgehobene  Amniosepllhol 
auf  eine  grössere  Oberflache  vertheilt  wird,  lässt  sich  donk'tey  dass 
auch  die  Epithclzellen  in  der  Umgebung  solcher  Schwielen  eine  Zer- 
rung erfahren ,  und  vielleicht  ist  dies  die  Ursache  der  so  häuflg  beob- 
achteten radiären  Anordnung  dieser  Zellen.  Indessen  findet  man  selten 
die  Zellen  im  ganzen  Umfange  solcher  Schwielen  radiär  zu  den  letz- 
teren gestellt,  meistens  nur  stellenweis ;  häufig  genug  aber  findet  man 
die  durchaus  normalen  Zelldn  bis  hart  an  die  Basis  der  Neubildung  sieb 
erstrecken. 

Die  weiteren  Wachsthumsverhältnisse  der  Schwielen  bedingen  die 
morphologischen  Unterschiede ,  wie  sie  sich  unter  dem  Mikroskop  er- 
geben. —  Ein  vorwiegendes  Längswachsthum  bedingt  die  sogenannte 
Papillengoslalt,  aber  gleichfalls  mit  dcutlich*er  Schichtung.  Am  häufig- 
sten beobachtet  man  eine  concentrische  Verbreiterung  der  Basis,  die 
zur  Kegelgestalt  führt,  oder  die  Basis  dehnt  sich  radiär  aus,  so  dass  die 
Schwiele  gleichsam  kriechende  Wurzeln  treibt,  oder  sie  breitet  sich 
mehr  unregelmässig  aus,  was  dann  zur  Bildung  von  Placques  führt.  — 
Seitliche  Wurzeln  treibende '  Excrescenzen  weisen  übrigens  verschie- 
dene Bilder  auf.  Meistens  findet  man  die  gewöhnlichen  Amniosepithc- 
lien  in  der  Richtung  dieser  Wurzeln,  deren  Zahl  beiläufig  zwischen  2 — 7 
schwanken  kann,  weithin  längsgestreckt  und  diesen  Wurzeln  zueilend. 
Die  Zwischenräume  zwischen  den  einzelnen  Wurzeln  sind  von  Epithel 
meist  entblösst,  wahrscheinlich  auch  wieder  durch  Maceration,  so  dass 
das  Bindegewebe  des  Amnios  ziemlich  bloss  liegt,  sehr  häufig  aber  fin- 
*  det  man  sie  ausgekleidet  von  durchaus  normalem  Amniosepithel ,  das 
alsdann  bis  hart  an  die  eigentliche  Basis  der  Schwiele  reicht. 

Diese  Anhäufungen  verhornender  Epithelzellen  sind  am  besten  als 
Schwielen  zu  bezeichnen,  da  sie  morphologisch  den  entsprechenden 
Wucherungen  der  Cutis  durchaus  analog  sind :  vielleicht  stehen  sie  in 
der  That  in  einer  Beziehung  zur  Bildung  des  llautnabels. 

Vom  Stratum  des  Amnios  lassen  sich  die  Schwielen  leicht  abstrei- 
fen und  dies  wird  erklärlich,  wenn  man  bedenkt,  erstens,  dass  sich  an 
ihrer  Basis  stets  junge,  noch  saftige  Zellen  befinden  und  dass  zweitens 
sich  das  Stratum  an  diesen  Wucherungen  so  gut  wie  gar  nicht  bethei- 


Die  Zotten  des  menschlichen  Amnios«  539 

ligt.  Selbst  die  von  Birnbaum  <j  bei  seinen  Untersuchungen  beobachtete 
Verdickung  des  Stratum  unterhalb  der  Schwielen  trifll  hier  nicht  zu : 
findet  sich  eine  solche  Verdickung  vor,  so  ist  sie  nur  eine  scheinbare, 
weil  sie  nur  an  den  Stellen  vorkommt,  wo  das  Stratum  überhaupt 
dicker  ist,  nämlich  in  der  Amniosfaite  selbst  und  besonders  in  der 
nächsten  UmgebuBg  46s  Nabelstranges,  uud  auch  hier  ist  das  Stratum 
unter  den  Schwielen  gegenüber  dem  ihrer  nächsten  Nachbarschaft  nicht 
verdickt.  Auch  die  obere  Grenze  des  Stratum  unterhalb  der  Schwielen 
verläuft  genau  in  einer  Flucht  mit  der  benachbarten  Grenze.  —  Dage- 
!^en  fand  ich  auch  hier,  ebenso  wie  Birnbaum 2),  eine  eigenüiümliche 
kreisföl-mige  Anordnung  der  Bindegewebskörperchen  am  Stratum  um 
die  Schwielen,  ja  sogar  mit  radiärer  Aussendung  von  wohlgeordneten 
Zügen  eben  solcher  Körperchen  zu  anderen  Schwielen ,  falls  solche  in 
der  nächsten  Nähe  sich  vorfanden.  Doch  erhielt  ich  diese  Bilder  nicht 
immer:  vielleicht  ebenso  häufig  sah  ich  die  Rörperchen  unterhalb  der 
Schwielen  mit  ihrer  gewöhnlichen  Regellosigkeit  oder  wenigstens  mit 
unveränderter  Richtung  hinweg-  und  vorbeiziehen. 

Dass  diese  Schwielen  etwa  zu  einer  Glycogenbildung  im  Sinne  von 
Cl.  Bernard  in  keiner  Beziehung  stehen  können,  dürfte  aus  dem  Nach- 
weis ihrer  Verhornung  zur  Genüge  hervorgehen.  —  Wenn  aber  Dreier 
und  Spibgblbsrq  zur  Deutung  der  späteren  Schicksale  solcher  Schwie- 
len hervorheben,  dass  letztere  abgestossen  und  vom  Fötus  verschluckt 
werden ,  so  kann  ich  detn  gegenüber  nur  versichern ,  dass  das  völlige 
Abfallen  der  Schwielen  durchaus  nicht  die  Norm  ist :  nur  in  wenigen 
Fällen  fand  ich  die  Stellen,  wo  Schwielen  gesessen  hatten,  bis  auf  das 
bindegewebige  Stratum  entblösst. 

Eine  goldgelbe  Tinction  mit  Gallenpigment  fand  ich  selten ,  selbst 
nicht  constant  in  den  Fällen,  wo  die  normalen  Amniosepithelien  Gallen- 
pigment in  Körnchen  oder  diffus  enthielten. 

Wie  SPIB6BLBBR6  mit  Recht  hervorhebt,  finden  sich  bei  Dreiba  die 
eingehendsten  und,  wie  mir  scheint,  die  richtigsten  Angaben  über  die^ 
Zotten  am  Amnios  der  Kuh.  Da  mir  seine  Arbeit  erst  ganz  neuerdings 
zu  Augen  kam,  so  war  ich  überrascht  durch  die  auffallende  Ueberein- 
stimmung  in  unseren  beiderseitigen  Befunden.  Auch  er  hebt  die 
Schichtung,  die  Verhornung  und  somit  die  Aehnlichkeit  mit  der  Cutis- 
bildung  hervor.  —  Femer  sind  seine  Angaben  über  die  erste  Entwicke- 
lung  leichter  mit  den  meinigen  in  Einklang  zu  bringen ,  als  die  Birn- 
baumes.    Letzterer  lässt  die  Epithelhaufen  durch  Kemwucherung  des 


\)  1.  c.  Taf.II.  Fig.  9. 

S)  I.  c.  Taf.II.  Fig.  n  und  12. 


540  Dr.  X  F.  WiaUer. 

normalen  Epithels  entstehen:  dass  aber  diese  Angabe  falsch  ist,  geht 
aus  dem  Nachweis  der  xeitwciligen  Persistenz  des  durch  die  Schwielen 
abgehobenen  und  letztere  als  Decke  überziehenden  normalen  Amnios— 
epithels  zur  Genflge  befvor. 

Um  zu  bestimmen,  in  welche  Periode  der  Gestation  die  erste  Eni— 
Wickelung  dieser  S<äiwielen  fällt ,  habe  ich  das  in  dar  Sammlung  hie- 
sigen Gebärhauses  vorhandene  Material  durchgesehen  und  gefunden, 
dass  sich  Schwielen  rttdLwärts  bis  etwa  zur  zwölften  Woche  überall 
ohne  Ausnahme  schon  mit  blossem  Auge  erkennen  Hessen,  und  zwar 
erschienen  sie,  je  weiier  die  Schwangerschaft  vorgerückt  war,  desto 
grösser.    Von  noch  jüngeren  als  4  2 wöchentlichen  Embryonen  besitzt 
hiesige  Sammlung  nur  ein  Präparat,  und  zwar  eines  etwa  6 — 7wödient— 
liehen  Embryo.     Mit  blossem  Auge  konnte  ich  hier  allerdings  keine 
Schwielen  erkennen :  eine  mikroskopische  Untersudiung  wurde  unter- 
lassen, weil  sie  zu  einer  theilweisen  Zerstörung  des  Pi^parates  geführt 
hätte  und  weil  es  ausserdem  fraglich  war,  ob  hier  überhaupt  ein  ent- 
scheidendes Resultat  erzielt  worden  wäre,  da  die  Cutis,  für  deren  Ru- 
dimente ich  die  Schwielen  anzusehen  geneigt  bin ,  um  diese  Zeit  sich 
noch  in  einem  wenig  entwickelten  Zustande  befindet. 

Dass  die  vorhin  behauptete  Grössenzunahme  der  Schwielen  mit 
vorrückender  Gravidität  nicht  nur  eine  scheinbare  ist,  dürfte  auch  dar- 
aus hervorgehen ,  dass  man  selbst  am  reifen  Ei  mit  Leichtigkeit  in  der 
Tiefe  desCarobium  sich  noch  lebhaft  theilende  Zellen  nachweisen  kann. 
—  Ja  es  dürfte  nicht  unwahrscheinlich  sein ,  dass  in  späteren  Zeiten 
der  Schwangerschaft  sich  sogar  noch  ganz  neue  Schwielen  bilden,  wenn 
man  bedenkt,  dass  sich  mit  seltenen  Ausnahmen  neben  grösseren,  of- 
fenbar älteren  Schwielen  noch  ganz  kleine,  wie  jüngst  erst  entstandene 
nachweisen  lassen.  Letztere  finden  sich  zumeist  an  der  Peripherie  der 
Schwieienhaufen,  ersterc  mehr  in  der  Mitte. 

Diese  Schwielen  sind  also  als  constante  Gebilde  nachgewiesen  bis 
jetzt  hei  Wiederkäuern  und  beim  Menschen.  Ihr  constantes  Vorkom- 
men nimmt  ihnen  jeden  pathologischen  Charakter.  Ihre  physiologische 
Bedeutung  dürfte  mit  der  Entwicklung  des  Hautnabcis  zusammen- 
hängen. Die  ihnen  früher  von  Cl.  Bbrnard  beigelegte  Vertretung  der 
Lcberfiinction  während  der  ersten  Hälfte  der  Schwangerschaft  ist  schon 
im  morphologischen  Sinne  als  abgethan  anzusehen.  Dagegen  spricht 
die  Verhomung  der  Zollen ,  dagegen  auch  das  fortschreitende  Wachs- 
thum  der  Schwielen  bis  zum  Ende  der  Schwangerschaft.  —  Beruht 
aber,  wie  ich  vcrmulhe,  die  Scliwielenbildung  einfach  auf  Entwicke- 
lungs Vorgängen,  so  lüssl  sich  ihre  Anwescnhoil  auch  bei  anderen  Thie- 
ren  erwarten. 


Die  PlacentarrespiratiM  des  Poetas. 

Von 

B.  S.  Schnitze. 


Für  die  möglichst  allgemeine  Anerkennung  irgend  einer  Wahrheit 
ist  es  ein  grosser  Gewinn,  wenn  der  Beweis  derselben  auf  verschiedene 
Methoden  gleichzeitig  und  aus  verschiedenem  Material  geführt  werden 
kann.  Denn  nicht  jede  Beweismethode  hat  gleich  zwingende  Kraft  und 
nicht  jede  Organisation  ist  gleichen  Beweisen  gleich  zugänglich. 

Neuerhobene  Zweifel  an  der  Beweiskraft  der  früher  beigebrachten 
Gründe  waren  meistens  das  Hauptmotiv ,  welches  die  Forscher  veran- 
lasste, für  das  bereits  Bewiesene  neue  Beweismitlel  ausfindig  zu  machen. 
Die  Geschichte  unserer  Kenntniss  von  der  Placentarrespiration  des  Foe- 
tus  giebt  das  interessante  Bild  eines  bei  wechselnd  erfolgreicher  Oppo- 
siiion  durch  mehrere  Jahrhunderte  geführten  Streites ,  dessen  Resultat 
es  war ,  dass  die  Beweise  für  die  Placentarrespiration  des  Foetus  sich 
erfreulich  gehäuft  haben. 

Wir  können  wohl  staunen ,  aber  wir  haben  es  nicht  zu  beklagen, 
dass  es  noch  heute  Zweifler  an  der  Placentarrespiration  giebt,  denn  wir 
sehen  auch  heute  noch  die  Beweise  für  dieselbe  eben  dadurch  sich 
mehren.  Zuerst  wieder  seit  mehreren  Decennien  tritt  ein  Physiolog  von 
Fach  für  die  Placentarrespiration  in  die  Schranken.  PflOger  führt  uns 
in  seinem  Aufsatz  »lieber  die  Ursache  der  Athembewegungen ,  sowie 
der  Dyspnoe  und  Apnoe«  <)  ein  neues  Motiv  für  die  Placentarathmung 
des  Foetus  vor,  oder  vielmehr  er  beweist,  dass  eine  früher  schon ,  na- 
mentlich von  ScHWAHTz  ^)  als  Beleg  für  die  Placentarathmung  des  Foetus 
angeführte  Thatsache  wirklich  als  Beweis  derselben  zu  gelten  im  Stande 

1)  Archiv  f.  d.  gesammte  Physiologie  des  Menschen  und  der  Thiere.    Heraus- 
gegoben von  Dr.  B.  F.  W.  PflCgbr.   I.  I.  Bonn  1868.   Seite  61. 

t)  Die  vorzeitigen  Athembewegungen  von  Dr.  HEMiAifif  Schwartz.«  Leipzig  1858. 


542  '^'  B«  S.  Schnltie, 

sei.  Freilich  giebt  er  nichi^  ohne  zuvor  viel  zu  nehmen ,  er  erklärt  alle 
bisher  von  anderen  Autoren  beigebrachten  Beweise  der  Respiration  des 
Foetus  für  nichtig. 

Dem  Geburtshelfer  wird  man  es  zu  gute  halten ,  dass  er  die  Be- 
weismittel für  eine  Sache  von  so  wichtigela  praktischen  Consequenzen 
ungern  schraiUern  sieht ;  und  da  ich  fürchte,  dass  der  PFLüGKR'sche  Be- 
weis, auf  den  ich  unten  zurückkomme,  wenn  er  der  erste  und  bis  dahin 
einzige  sein  sollte,  unter  den  Collegen  sehr  viele  Zweifler  übrig  lassen 
würde,  so  will  ich  im  Interesse  der  allgemeinen  Anerkennung  der  Pia- 
centarrespiration  versuchen,  aus  den  bereits  früher  für  dieselbe  vorge- 
brachten Beweisen  diejenigen  hervorzuheben,  welche  auf  Geltung  auch 
heute  noch  Anspruch  haben. 

Es  ist  natürlich,  dass  für  eine  Sache,  welche  seit  Ho^pokrates  Vie- 
len sehr  wahrscheinlich  vorkommen  musste.  eine  Menge  Motive  ins  Feld 
geführt  worden  sind,  welche  vorübergehend  gültigen  Standpunclen 
entnommen,  dauernd  als  Beweise  nicht  gelten  konnten.  Namenilich 
w^as  von  teleologischer  Anschauung  aus  für  die  Existenz  einer  Placen- 
tarathmung  des  Foetus  plaidirt  wurde,  konnte  die  Erkenntniss  des 
wirklichen  Sachverhaltes  überall  nur  verzögern  und  ich  brauche  mir 
nicht  Dispens  zu  erbitten ,  wenn  ich  diese  Beweis  versuche  unerwähnt 
lasse.  Manche  andern  Beweisversuche,  von  logisch  richtiger  Voraus- 
setzung ausgehend,  blieben  thatsächlichen  Schwierigkeiten  gegenüber 
insufficient.  Als  einen  für  sich  genügenden  Beweis  der  Placentarrespi— 
ration  will  ich  auch  die  pathologisch  und  therapeutisch  höchst  wichtige 
That«ache  nicht  anführen,  dass  derjenige  Foetus,  welcher  in  der  Geburl 
eine  plötzlich  einsetzende  dauernde  Unterbrechung  der  Placentarcircu- 
lation  erleidet,  schnell  stirbt,  dass  seine  Seclion  ganz  ähnliche  Befunde 
ergiebt,  wie  die  des  nach  der  Geburt  durch  Verschluss  der  Luftwege 
Getödteten,  dass,  wenn  der  Process  vor  volIendetcm^Sterben  durch  die 
Geburt  unterbrochen  wird,  wir  am  Gcbornen  Symplome  beobachten, 
welche  frappante  Aehnlichkeit  haben  mit  denen,  die  der  Geborne  zeigt, 
wenn  ihm  die  Sauerstoffzufuhr  durch  die  Lungen  abgeschnitten  wurde, 
die  gleichen  Mittel,  welche  den  durch  Untertauchen  im  Wasser  oder  durch 
Verschluss  der  Luftwege  asphyctisch  gewordenen  w  ieder  beleben,  auch 
den  mit  unterbrochnerPlacentarfunction  asphyctisch  Gehörnen  wieder  zu 
beleben  im  Stande  sind ;  ich  will  diese  Thatsachen  hier  als  Beweise 
der  Placenlarathmung  desshalb  nicht  anführen,  weil  ich  weiss,  dass  die 
gleichen  Symptomencomplexe  und  die  gleichen  Seclionsbefunde  nicht 
jedes  Mal  und  nicht  mit  Nothwendigkeit  auf  gleiche  Ursachen  und 
gleiche  Processe  bezogen  werden  müssen  und  weil  am  wenigsten  ich 
dem  Physiologen  zumulhc,  aus  einer  für  uns  Praktiker  noch  so  wich- 


Die  Placeiitarrespirotion  des  Foetus./"  543 

Ligen  Analogie  der  Krankheitssyniptome,  d^'  Seclionsbefunde  und  der 
therapeutischen  Erfolge  bindende  SchlUssp  da  zu  ziehen,  wo  etwa  nach 
den  Resultaten  seiner  Forschunij;  l^tegrUlidete  Zweifel  bestehen.  Aber 
ich  glaube  es  lagen  für  die  Piaeehtarrespiratio^  des  Foetus  auch  solche 
Beweise  bereits  vor,  die  der  Physiolog  anerkennen  darf. 

Bei  allen  Thiercu,  welche  man  darauf  beobachtet  hat,  hat  man 
wahrgenommen  I  dass  dieselben  den  atmosphärischen  Sauerstoff  aus 
dem  sie, .umgebenden  Medium  sich  aneignen,  ihn  in  ihrem  Körper  vcr- 
brachen ,  und  dass  dieser  Sauerstoffverbrauch  für  sie  so  unerldsslich 
ist,  dass  sie  ohne  Sauerstoff  ihr  Leben  fortzusetzen  nicht  im  Stande 
sind.  Man  schloss  daraus,  dass  auch  die  Embryonen ,  deren  Lebens- 
erscheinungen in  vielen  Beziehungen  gleichartig  denen  der  gebornen 
Thiere  sind,  ohne  Sauerstoffzufuhr  nicht  leben  könnten.  Für  diejenigen 
Embryonen,  welche  unterBedingungen  sich  entwickeln,  welche  sie  dem 
Experiment  zugänglicher  machen,  für  die  Embryonen  der  Eier  legenden 
Thiere  führte  man,  direct  den  Nachweis ,  dass  sie  unter  stetem  Yer- 
hraucÜ  des  atmosphärischen  Sauerstoffs  sich  entwickeln ,  dass  sie  bei 
Abschluss  der  Sauerstoffzufuhr  zu  Grunde  gehen.  Man  schloss  daraus, 
dass  auch  der  Säugethierfoetus,  dessen  Lebensvorgänge  jedenfalls  nicht 
^einfacher  und  dessen  Entwicklungsbedingungen  also  auch  wohl  nicht 
einfacher  als  die  der  Yogelembryonen  oder  der  Insectenembryonen  sein 
können ,  ebenfalls  nur  unter  fortwährender  Sauerstoffzufuhr  sieh  ent- 
wickele; man  glaubte  das  um  so  sicherer  schliessen  zu  dürfen,  weil 
dasjenige  Organ,  welches  nach  seinem  Bau  allein  geeignet  ist,  eine 
dauernde  Sauerstoffzufuhr  zum  Säugethierfoetus  zu  unterhalten,  die 
Placenta  nebst  Nabelschnur,  morphologisch  identisch  ist  mit  dem- 
jenigen Organ,  durch  welches  die  Vogelembryonen  ihren  Sauerstoff 
factisch  beziehen,  mit  der  AUantois. 

Das  ist  der  eine  Beweis  dafür,  dass  der  Foetus  Sauerstoff  ver- 
braucht und  ihn  zuvor  aufnimmt,  dass  also  das,  was  wir  im  gesammten 
Thierreich  Athmung  nennen,  in  ihm  stattfindet. 

Einen  zweiten  Beweis  für  den  Verbrauch  freien  Sauerstoffs  im 
Foctalkörper  fand  man  darin ,  dass  eine  Anzahl  Functionen ,  welche  im 
lebenden  Körper  des  Gebornen  nie  anders  als  mit  messbarem  Ver- 
brauch des  frei  im  Blute  vorhandenen  Sauerstoffs  vor  sich  gehen,  in 
gleicher  Weise ,  wenn  auch  nicht  in  gleichem  Umfang  im  Körper  des 
Foetus  stattfinden.  Namentlich  die  Muskelaction  war  es ,  von  der  man 
diesen  Beweis  entnahm.  Ich  zeigte  in  einem  der  früheren  Hefte  dieser 
Zeitschrift,  dass  schon  Mayow  diesen  Beweis  für  die  Aihmung  des  Foe- 
tus angezogen  hat.  Ich  will  diesem  Beweis  an  dieser  Stelle  ein  beson- 
deres Gewicht  desshalb  nicht  beilegen,  weil  gerade  ihm  ausdrücklich 


544  \  B.  S.  ScbuUie, 

in  der  angefahrten  Arbeit  Ff  lücbr^s  die  Beweiskraft  abgesprochen  i?%'ird, 
und  weil  ich  nicht  mich,  sondern  nur  die  Physiologen  von  Fach  für  be- 
rufen halten  kann ,  nachzuweken ,  oh  eine  andauernde  Muskelleistung, 
wie  sie  z.  B.  das  llerz  4es  Foetus  zeigt,  -ohne  andauernden  Sauersiofl- 
verbrauch  möglich  sei  oder  nicht. 

Der  dritte  Beweis  der  Placentarathmung  äbs  Foetus  ist  ein  expe— 
rimenteller,  eng  zusammenhängend  mit  jenen  oben  angeführten  patho- 
logischen Thatsachen.  Die  Experimente  sind  die,  dass  erstens  der 
Foetus,  welcher  normal  wührend  seiner  ganzen  Foetalexistenz  Atbcm- 
bewegungen  nicht  macht,  sofort  eine  Inspiration  macht,  sobald  seine 
Placentarcirculation  unterbrochen  wird ,  zweitens  dass  der  im  Foetus 
normale  Zustand  der  Apnoe  beim  Gebornen  dadurch  hergestellt  wird, 
dass  wir  sein  Athembedürfniss  auf  anderem  Wege  als  dem  der  Athem— 
bewegung  befriedigen. 

Das  letztere  Experiment  ist  von  Matow  angestellt,  und,  da  er  den 
Sauerstoff  und  seine  Bedeutung  für  den  thierischen  Organismus  kannte, 
für  die  Placentarathmung  des  Foetus  richtig  verwerthet  worden.  leb 
verweise  in  Betreff  dessen  auf  die  Seite  4  42  ff.  dieses  Jahrganges  ent- 
haltenen Citate  aus  Hayow.  Die  ersteren  Experimente  wurden  bereits 
angestellt,  bevor  ihre  Deutung  möglich  war  und  sind  später  oft  wieder- 
holt worden.  Vssal^  der  das  Experiment  zuerst  und  vorzüglich  be- 
schrieben hat ,  verdient  seine  bleibende  Stelle  angewiesen  zu  erhalten 
unter  denjenigen ,  welche  die  Beweismittel  für  die  Placenlarrespiraiion 
des  Foetus  beigebracht  haben.  Im  letzten  Capitel  seiner  De  humani 
corporis  fabrica  libri  Septem  ^]  sagt  er:  Verum  in  Foetuum  viva  admi- 
nistratione  jucundum  est  spectare,  qualiter,  simulatque  foetus  aörem 
ambientem  contingit ,  respirare  nititur.  Atque  haec  Sectio  opportune 
in  cane  aut  sue  obitur,  quum  non  multo  post  sus  est  paritura.  Si  enim 
ipsius  abdomen  ad  peritonaei  usque  cavitatcm  diviseris  atque  dein  ute- 
rum  quoque  in  unius  foetus  sede  aperueris,  ac  secundina  ab  utero  libe- 
rata  foetum  mensae  imposueris,  cernes  per  pcUucidas  membraneasquo 
ipsius  tunicas ,  qualiter  frustra  respirare  conatur,  et  veluti  suffocatus 
moritur,  si  vero  ipsius  involucra  pertuderis,  foolusque  caput  illis  libe- 
raveris,  mox  illum  veluti  reviviscere,  et  eleganter  respirare  cernes.  At- 
que quum  id  in  uno  foetu  indagaveris,  alium  aggredieris :  quem  ab 
utero  non  liberabis ,  verum  apertum  uterum  ita  inflectes :  et  inferius 
illic  aperies,  ubi  foetus  secundinum  desinere,  aut  secundinae  inferiorem 
partem  haberi  arbitraberis ,  quo  scilicet  ea  uteri  pars  integra  servetur, 
quae  secundina^  obnascitur  per  reliquam  vero  sedem  foetus  deteetus 


4}  Andreae  Vesalii  de  humani  corporis  fabrica  libri  itepleni  Bnsileae  154i.  p  660 


Die  Plicenttrrespiration  des  Foetus^-  545 

t 
Sit.    ita  enim  spectabis  arteriarum  uteri  et  (tfin  secundinae  pulsum :  et 

foetu  adhuG  in  suis  membranis  veluti  sursüm  protruso,  ccrnes  umbili- 

cum  petentium  arteriarum  motum  ^  «i  focAum  nondum  respirare,  neque 

etiam  ad  respirationem  conari.   mos.  vero  atque  membranas  pertundes, 

foetus  respirabit,  etumbilici  arteriarum  pulsus  intereidet,  pulsantibus 

interim  adhuc  uteri  arteriis. 

Bald  mit  grdsserer  bald  mit  geringerer  experimenteller  SchHrfe 
wurde  dM  Beobachtung  Vksal's  wiederholt  von  Platbr,  *)  Haller,  2) 
WiNSLOw,  *)  Scheel,  *)  Bbglard,  *)  Mater,  «)  Yolkhanx,  ^)  namentlich  von 
ScHWARTz,  8)  und  jetzt  von  Pflüger.  •) 

Die  genannten  Experimente  beweisen,  und  dafür  fallen  gleich- 
zeitig jene  oben  genannten  pathologischen  Thatsachen  schwer  ins  Ge- 
wicht, dass  ^der  normale  Placentarverkehr  denjenigen 
Reiz  vom  Foetus  fern  halt,  welcher,  sobald  er  durch  Un- 
terbrechung des  PI acentar Verkehrs  zur  Wirkung  kommt, 
Inspirationsbewegung  veranlasst.  Das  MATOw'sche  Experi- 
ment und  die  Apnoe  des  Gebomen  überhaupt  blieben  durch  mehr  als 
anderthalb  Jahrhunderte  wieder  unbekannt.  Aber  trotz  dieser  Unbe- 
kanntschaft war  der  experimentelle  Beweis  der  Placentarrespiration  des 
Foetus  in  seiner  Vollständigkeit  wieder  hergestellt,  nachdem  Lbgallois  ^^] 
das  Athemcentrum  im  verlängerten  Mark  und  Volkmann^^)  den  Athem- 
reiz  in  der  Venositat  des  Blutes  aufgefunden  hatten.  Es  konnte  fortan 
kein  Zweifel  daran  mehr  begründet  werden,  dass  lediglich  ein  in 
der  Placenta  stattfindender  Gasaustausch,  analog  dem 
in  der  Lunge  des  Gebor nen  vermittelten,  es  sei,  welcher 
vom  Foetus  denReiz  zur  Jnspiration  fern  hält;  dass  mit 
anderen  Worten  der  Foetus  normal  des  s  halb  nichtAthem- 


\)  Felix  Plateius,  De  origioe  partium  earumque  in  utero  conformatione  Leidae 
1641.    In  der  Ausgabe  von  1690  Francofurti  et  Lipsiae  pag.  801. 

2)  Haller,  Memoire  sur  la  respiration.  Lausanne  1758.  Opera  minora  1763. 
Tom.  \.  pars  1.  pag.  820. 

8  u.  4)  Paul  Scheel  ,  Diss.  inaug.  physiol.  de  Itquore  amnii  asperae  arteriae 
foetuum  humanorum.   Hafniae  1798. 

6)  Bulletins  de  la  Facalt^  de  medectne  de  Paris.  Tome  Ul.  Paris  1814. 

6)  Salzburgor  mediz.  Zeitung  1817  und  Uufelard's  und  Osahn's  Journal  der 
i)ract.  Heilkunde  1824.   HI.  Stück  Seite  97. 

7)  A.  W.  VoLKMARif ,  lieber  die  Bewegungen  des  Athroens  und  Schluckens  etc. 
in  MülleWs  Archiv  1841,  Seite  882. 

8)  ScBWAETi  a.  a.  0.  Seite  80. 

9)  W.  PvLüGEE  a.  a.  O.  Seite  81. 

10)  Legallois,  Experiences  sur  la  principe  de  la  vie.  Paris  1812  und  BoUeUns 
de  la  Facultö  de  medecine  de  Paris  bis  1814. 

1 1 )  In  dem  citirten  Artikel. 

Bd.  IV.  3.  «.  4.  35 


546  B.  S.  Schultw, 

bewegungen  macht,  weil  sein  Slut  verioöge  ungestörter 
Placentarf unction  nie  in  dem  Grade  venös  wird,  um  das 
Athemeentrum  in  der  MeduiJa  zu  erregen. 


Diese  angeführten  Beweise  für  die  Existenz^^er  Placentarrespira— 
tion  des  Foeius  liegen  seit  geraumer  Zeit  vor.  Es  wurde  oben  gesagt, 
dass  manche  auf  logisch  richtiger  Voraussetzung  unternommeD»f  eweise 
an  thatsächlichen  Schwierigkeiten  scheiterten.  Zu  diesen  Beweisv^r- 
suchen  gehört  der,  Mischungsdifferenzen ,  spcciell  Farbendifferenzen, 
welche  auf  verschiedene  Mischung  würden  schliessen  lassen ,  zwischen 
dem  Blut  der  Nabelvcne  und  dem  der  Nabelartericu  nachzuweisen. 
ScHWARTZ  hat  neben  vielen  anderen  Verdiensten  um  die  Kenniniss  der 
Placentarrespiralion  sich  auch  das  erworben,  dass  er  nachwies,  wes- 
halb die  Bemühungen,  Farbendifierenzen  zwischen  dem  Blut  der  Nabel- 
venen und  dem  der  Nabelarterien  des  Säugethierfoetus  nachzuweisen, 
zu  einem  Resultate  nicht  führen  konnten.  Der  Grund  ist  der,  dass 
sowohl  nach  vollendeter  Geburt  als  auch  bei  Vivisectionen  uns  das  Fot>- 
talblut  nicht  zu  Gesicht  kommt  vor  ganz  oder  fast  erloschener  Ptaceniai— 
fünction,  dass  wir  es  in  beiden  Fällen  nur  noch  mit  wenig  diflerenien 
Nuancen  von  Erstickungsblut  zu  tbun  haben.  Durch  diese  Erkenntniss 
der  Ursache,  wesshalb  der  Farbenunterschied  zwischen  Nabel veneo- 
und  Arterienblut  uns,  wenn  er  exislirt,  nicht  zu  Gesicht  gebracht  wer- 
den konnte,  verliert  natürlich  eben  diese  Thatsache  allen  \Verth  als 
Gegenbeweis  der  Placentarrespiration. 

Pflüger  stellt  nun  den  Satz  auf  (Seite  6S),  dass  fUr  die  Beurthei- 
lung  der  Frage,  ob  dem  Foetus  überhaupt  eine  Respiration  zukomme, 
obenan  die  von  einer  grossen  Zahl  ausgezeichneter  Beobachter  bezeugte 
Thatsache  stehe,  dass  bei  der  Betrachtung  des  Nabelstrangcs  eines  Foe- 
tus im  Fruchtwasser,  der  noch  in  vollkonimcnslor  Placentarvcrbindung 
mit  dem  lebendigen  mütterlichen  Organismus  steht,  das  Blut  der 
Nabelarterien  dieselbe  Farbe  besitze,  wie  das  der  Na- 
belvene. 

Pflüger  widerlegt  dann  einige  Gründe ,  welche  Schwartz  als  Be- 
lege für  die  Annahme,  dass  Oxydationsprocesse  im  Foetus  slatlfindcn, 
angeführt  hat,  Belege,  welche  in  die  oben  angeführte  zweite  Gruppe 
derBeweise  fallen  würden,  und  sagt  aufSeite64:  »Da  andere  Gründe 
»nicht  bekannt  sind,  so  giebt  es  eben  keinen  Beweis  für 
»die  allgemein  behauptete  Respiration  des  Foetus.« 

Weiter  unten  citirt  dann  Pflüger  die  Stelle  von  Schwartz,  wo  der- 
selbe sagt,  dass  und  warum  wir  normales  Fötalblut  nie  zu  Gesicht  be- 


Dife  Plaoenhurrespiratioii  des  Foetij^  547 

kommen ,  dass  das  Blai  der  Arterien  vfi^ev  Vene  des  Nabelsiranges 
am  Gehörnen  vor  eingetretener  Luftathqsung  immer  eine  gleichtnässige 
dem  Venenblute  Erwachsener  ähnliche  Farbe  habe,  dass  dagegen  das 
Blut  aus  dem  Nabelstrang  SQbeiatodt  oder  sterbend  gehorner  oder  wäh- 
rend der  Geburt  bereits  abgestorbener  Früchte  stets  entsprechend  dem 
Grade  der  eriitteneoHteeinträchtigung  des  Aihemprocesses  dunkler  sei. 

lieber  das  Blut  des  Nabelstranges ,  überhaupt  über  das  Blut  des 
Foetu$f-4riAPFLüGBa  Untersuchungen  nicht  gcn^acht,  aber  er  demonstrirt 
^lis'den  von  Schwartz  beobachteten  Farbendifferenzen,  dass  das  Blut 
des  normal  gebornen  Kindes  Sauerstoff  enthalte  und  dass  dieser  Sauer- 
Stoffgehalt  unter  den  angeführten  pathologischen  Verhältnissen  vermin- 
dert sei.  Er  demonstrirt  das  auf  Grund  zahlreicher  Gasanalysen  ver- 
schieden behandelten  Blutes  geborner  Thiere,  deren  gewiss  in  vielen 
Beziehungen  weittragende  Resultate  kurz  folgende  sind. 

Bei  normaler  Respiration  ist  das  Arterienblut  mit  Sauerstoff  fast 
gesättigt.  Die  Absorptionsfähigkeit  für  Sauerstoff  steigt  und  fällt  mit 
dem  specifischen  Gewicht.  Die  Schwankungen  des  specißschen  Gewichts 
sind  wesentlich  abhängig  von  dem  Gehalt  an  Blutkörperchen  und  gehen 
parallel  mit  dem  Hämoglobingehalt  des  Blutes.  In  Retreff  der  Farbe 
stellte  Pflügbr  fest,  dass  während  arterielles  Blut  von  hohem  specifi- 
schem  Gewicht  und  hohem  Sauerstoffgehalt  dunkel  aussieht ,  Blut  von 
geringem  spccüischem  Gewicht  ganz  hellkirschroth  erscheint  und  doch 
arm  an  Sauerstoff  ist ;  ferner  dass  die  grössere  oder  geringere  Hellig- 
keit der  Blutröthe  im  lebenden  Körper  niemals  durch  die  Kohlensäure 
sondern  aussdüiesslicfa  durch  den  Sauerstoffgehalt  bedingt;  ist  und 
der  bekannten  Thatsache,  dass  in  einem  gegebenen  arteriellen  Blute 
die  Helligkeit  der  rothen  Farbe  wesentlich  von  der  Menge  des  Sauer- 
stoffs abhängig  ist,  fügte  er  die  hinzu,  dass  solches  Blut,  welches  bei 
auffallendem  Lichte  und  in  dicker  Schicht  betrachtet  noch  einen  deut- 
liehen  Stich  ins  Rothe  oder  Braunrothe  zeigt,  sauerstoffhaltig  ist. 

Nach  diesen  Mittheilungen,  die  ich  natürlich  nur  ganz  auszugsweise 
wiedergegeben  habe,  fährt PrLüQSR  fort  (Seite  80} :  »Wir  sind  jetzt  vor- 
» bereitet  zur  Beurtheilung  der  Frage,  ob  dem  Embryo  eine  Respiration 
»zukommt.  Aus  den  von  Scbwartz  oben  angeführten  Versuchen  ergiebt 
»sich,  dass  das  Blut  in  den  Gefässen  des  Nabelstranges  braunroth,  wiedas 
»der  Venen  des  Erwachsenen  aussieht.  Dieses  Blut  muss  folglich  Sauer- 
vstoff enthalten,  wenn  seine  Menge  auch  gering  ist.  Ein  hoher  Sauer- 
wstoffgehalt und  sehr  dunkles  Blut  ist  bei  erhaltenen  Biutkörpem  nur 
»dann  zu  beobachten,  wenn  man  das  Serum  durch  Absetzenlassen 
»möglichst  entfernt  hat.  Da  nun  das  Blut  von  Embryonen  ein  niederes 
»spooißsches  Gewicht  hat,  also  wohl  arm  an  Biutkörpem  ist,  so  deutet 

»5* 


548  \  B*  S*  SohulUe, 

)>die  Dunkelheit  des  Blutes  a^uf  Sauerstoffarmulh.  Da  ferner  bei  der 
»Unterbrechung  des Placentarverkebrs zwischen  kindlichem  und  mUlter— 
»lichem  Organismus  das  Fötalbkit  schwarz  wie  Erstickungsblut  wird, 
»so  hat  das  letztere  seinen  Sauerstoff  verloren  und  die  schwarze  Farbe 
»ist  also  nicht,  wie  Sguwartz  glaubt,  durch  die  Kohlensäure  bedingt. 
»Es  ist  ferner  hierdurch  dargethan,  dass  der  Embryo  bei  seinem  Stoff- 
»Wechsel  Sauerstoff  verbraucht,  und  dass  ihm  also  in  der  That  eine 
»Respiration  zukommt.  Der  strenge  Beweis  war  aber  bis  äibki  nicht 
»geliefert  worden,  und  obige  Thatsachen  bieten  den  alleinigen  bis  jeüCI 
»bekannten  sichern  Anhalt.  Wenn  demgemäss  das  Blut  der  Nabel- 
»arterien  und  Nabel  veno  keinen  bemerkbaren  Farbenunterschied  dar- 
»bietet,  worin  die  besten  Beobachter  übereinstimmen,  so  wird  dies 
»darum  vollkommen  erklärlich  sein,  weil  ich  bewiesen  habe,  dass  der 
»Sauerstoffverbrauch  des  Embryo  verschwindend  klein  sein  muss  gegen 
»  den  des  Erwachsenen,  a 

Wollen  und  können  wir  einmal  absehen  von  den  oben  unter  1 . , 
2.,  3.  registrirlen  Beweisen  der  Placentarrespiration,  so  sind  wir  in 
Betreff  der  letzleren  folgendermasson  zu  schliessen  berechtigt:  Das  Blut 
des  Gehörnen  wird  in  den  Lungen  durch  die  Atbmung  arteriell.  Das 
Arteriellwerden  des  Blutes  besteht  wesentlich  darin ,  dass  es  Kohlen- 
säure abgiebt,  Sauerstoff  aufnimmt  und  seine  dunkle  Farbe  in  hellrolhe 
umwandelt.  Wenn  wir  den  Gaswechsel  in  den  Lungen  beschränken 
oder  aufbeben,  wird  das  Blut  reich  an  Kohlensäure,  arm  an  Sauerstoff, 
es  wird  in  den  Lungen  nicht  mehr  hell,  sondern  im  ganzen  Körper 
immer  dunkler  bis  schwarz.  Steigend  mit  diesen  Veränderungen  des 
Blutes  verfällt  das  Thier  in  Symptome ,  welche  wir  Erstickungssymp- 
tome nennen  und  stirbt  einen  Tod ,  dessen  Charaktere  wir  als  die  des 
Erstickungstodes  bezeichnen.  Es  ist  experimentell  (gerade  jetzt  wieder 
durch  Pfloger)  ausser  allen  Zweifel  gesetzt ,  dass  der  behinderte  Gas- 
austausch in  den  Lungen  und  die  dadurch  bedingte  Verarmung  des 
Blutes  an  Sauerstoff*  die  alleinige  Ursache  sowohl  der  zunehmend 
dunkleren  Färbung  des  Blutes  als  auch  der  gleichzeitig  auftretenden  und 
zum  Tode  führenden  Erstickungssymptome  des  Gehörnen  sind.  Ferner: 
Wenn  dem  Foetus  der  Placentarverkehr  zuvor  abgeschnitten  wurde, 
so  ist  sein  Blut  ebenfalls  dunkler  und  dunkler  je  nach  der  Vollständig- 
keit und  Dauer  dieser  vorausgegangenen  Unterbrechung;  nach  Massgabe 
der  gleichen  Bedingung  zeigt  der  Foetus  schwerere  und  schwerere 
Symptome  gleich  den  Symptomen  fortschreitender  Erstickung  des  Ge- 
bomen und  sein  Tod  zeigt  die  Charaktere  des  Erstickungstodes.  Dass 
das  Blut  des  normalen  Foetus  etwa  in  der  Nabel vene  schön  hellroth 
sei  wie  das  der  Lungenvenen  des  Gebomen,  bat  Niemand  gesehen, 


Die  PIneentamspIratioB  des  Foetp.  549 

m 

dass  es  Sauerstoff  enthalte,  hat  Niem^m  chemisch  nachgewiesen, 
audi  dass  das  ^dunkle  Blut  des  unten  Erstickungserscheinungen  zu 
Grunde  gehenden  Foetus  wenig  Sauerstoff  und  viel  Kohlensäure  enthält, 
ganz  wie  das  der  erstickenden  Thieres,  hat,  so  nahe  es  läge,  Niemand 
nachzuweisen  untemomoden.  Aber  wenn  Symptome,  wie  sie  der  durch 
untorbrochne  PlaceiHarcirculation  beschädigte  Foelus  und  Neugeborne 
zeigt,  nur  durch  Yenöswerden  des  Blutes,  wie  beim  erstickten  Gehör- 
nen hervorgerufen  werden,  wenn  Sectionsbefunde,  wie  sie  die  meisten 
Tod tgebornen .zeigen ,  nur  durch  behinderten  Athemprocess  bewirkt 
werden  können,  wenn  die  Farbe,  welche  das  Blut  der  normal  gebomen 
Frucht  in  der  Nabelschnur  zeigt,  nur  durch  Sauerstoff,  wenn  das 
Dunklersein  dieses  Blutes  entsprechend  den  Graden  derjenigen  Symptome, 
welche  mit  Erstickung  so  viel  Aehnlichkeit  haben,  nur  durch  Schwin- 
den  dieses  Sauerstoffgehaltes  zu  Stende  kommen  kann:  wenn  eine 
dieser  Erklärungen  in  der  That  die  einzig  mögliche  ist,  so  ist  ein  neuer 
Beweis  für  die  Placentarrespiration  des  Foetus,  der  vierte,  dadurch  ge- 
liefert. Der  stricte  Beweis,  dass  eine  dieser  Erklärungen  die  einzig 
mögliche  sei,  ist  von  dem  Stendpunct,  der  die  Beweise  1.,  S.,  3.  igno- 
rirt ,  nicht  geführt  und  aus  den  bis  dahin  vorliegenden  Thatsachen  für 
diesen  Stendpunct  nicht  zu  führen.  Hohe  Wahrscheinlichkeit  für  die 
Richtigkeit  jener  Erklärungen  giebt  allerdings  auch  für  diesen  Stend- 
punct die  Uebereinstimmung  eben  dieser  Erklärungen  unter  einander 
sowohl  als  mit  der  einzig  richtigen  Erklärung  der  offenbar  sehr  analogen 
Erscheinungen  beim  Gebomen.  Wer  die  sub  1.,  8.,  3.  oben  ange- 
führten Beweise  nicht  gelten  lässt  und  wer  wie  Pplügbr  (S.  64  seines 
Aufsatzes)  den  Satz  obenan  stellt,  dass  der  Nichtgebome  sich  unter  totel 
anderen  Lebensbedingungen  als  der  Gebome  befinde ,  der  wird  für  den 
ganzen  Complex  der  Erstickungsphänomene  an  demjenigen  Foetus,  dem 
die  Piacenterverbindung  behindert  ist,  andere  als  in  Behinderung  des 
Gasausteusches  begründete  (aber  allerdings  gänzlich  unbekannte)  Be- 
dingungen als  mögliche  Ursachen  denken,  der  wird  consequenter  Weise 
auch  für  Farbendifferenzen  des  Piacenterblutes  die  Möglichkeit  offen 
lassen  müssen ,  dass  andere  Mischungsdifferenzen  als  solche ,  die  den 
Gasgehalt  betreffen ,  ihnen  zum  Grunde  liegen ,  namentlich ,  da  es  kei- 
nem Zweifel  unterliegt,  dass  anderweite  Mischungsänderungen  des 
Blutes  in  der  normal  fungirenden  Placente  stettfinden. 

Theils  in  den  Erstickungssymptomen  des  in  seinem  Placenterver- 
kehr  behinderten  Foetus,  theils  in  den  Sectionsbefunden  unter  gleichen 
Bedingungen  abgestorbener  Neugeborner  sahen  den  Beweis  für  die  Pla- 
centerrespiration  von  neueren  Autoren  Volkmann,  Cazbadx,  Krahmek, 
Hbcker,  Schwamtz  und  viele  nach  ihnen;  in  der  Farbe  des  Blutes  nächst 


&50  ^  B.iS.  ^oUie, 

Sghwartz  namentlich  Pelügsr,,  Dafts  nur  Sauerstoff  das  Blut  desFoetus 
roth,  nur  Schwinden  desselben  das  Blut  des  asphyctischen  Foetus 
dunkel  färbe ,  nahmen  Viele  nach  Analogie  mit  dem  Gehörnen  bisher 
an.  sAuch  Pflügbr  —  spricht  es  zwar  nichi^direct  aus ,  nimmt  es  aber 
offenbar  an  —  und  er  wird  wohl  so  gut  wie  die  Anderen  Recht  haben, 
darum  Recht  haben,  weil  eben  die  Lebensbedingungen  des  FoeUis  von 
denen  des  Gebomen  nicht  total  verschieden  sind,  weil  speciell  seine 
Placentarrespiration  anderweit  erwiesen  ist. 


Der  immer  von  Neuem  da  und  dort  auftauchende  Zweifel  und  Wi- 
derspruch gegen  die  Giltigkeit  der  von  frtiher  her  vorliegenden  Beweise 
der  Placentarrespiration  des  Foetus ,  der  mich  veranlasste ,  dieselben 
kurz  zusammenzustellen ,  lässt  es  auch  nicht  ganz  überflüssig  erschei- 
nen, wenn  ich  es  unternehme,  den  bereits  vorhandenen  noch  einen 
Beweis  für  die  Placentarathmung  des  Foetus  hinzuzufügen ,  einen  Be- 
weis, den  ich  in  der  Literatur  nicht  genannt  finde  und  der  mir  so  nahe- 
liegend scheint,  dass  ich  glaube,  er  sei  nur  desshalb  noch  nicht  genannt 
worden ,  weil  er  denen ,  die  ihn  empfunden  haben ,  zu  selbstverständ- 
lich vorgekommen  ist 

Das  Blut  des  menschlichen  Foetus  ist  durch  mehr  als  30  Wochen 
mit  einem  Theil  seiner  Oberfläche ,  der  wohl  zu  keiner  Zeit  weniger  als 
den  vierten  Theil  der  gesammlen  Gapillaroberfläche  beträgt,  der  in  den 
letzten  Monaten  der  Schwangerschaft  10,000  Quadratcentimeter  gewiss 
übersteigt,  in  Goniact  mit  dem  arteriellen  mütterlichen  Blute,  welches 
in  den  Placentarsiaus  die  freien  kindlichen  Gapillaren  umspült;  es  ist 
getrennt  von  dem  mütterlichen  Blute  durch  eine  einfache  Epithelschicht 
und  ein  dahinterliegendes  Gewebe  (die  kindliche  Capillarwand),  welche 
der  Epilhelschicht  an  Dicke  und  Permeabilität  etwa  gleichkommt.  Auf 
der  mütterlichen  und  auf  der  foetalen  Seite  ist  das  Blut  in  ununter- 
brochener Strömung,  auf  der  mütterlichen  Seite  findet  ununterbrochene 
Zufuhr  arteriellen  Blutes  ku  der  ausgedehnten  von  den  Gapillarschlingen 
des  Foetus  gebotenen  Fläche  statt.  Dieses  mütterliche  Blut  ist  mit  Sauer- 
stoff beinahe  gesättigt,  enthält  dessen  circa  48  VoL%.  Ich  frage,  ob  es 
unter  diesen  Bedingung^  physikalisch  denkbar  ist,  dass  das  foetale 
Blut,  und  wenn  Wasser  statt  Blut  in  den  Adern  des  Kindes  kreiste, 
dass  dasselbe  arm  am  Sauerstoff  oder  gar  frei  von  Sauerstoff  sei ;  ob  es 
nicht  nothwendig  ist,  anzunehmen,  dass  das  foetale  Blut  mit  dem  müt- 
terlichen in  Bezug  auf  den  beiderseitigen  Gasgehalt  sich  ins  Gleich- 
gewicht setze.  Selbstverständlich  braucht  dieses  Gleichgewicht  nicht 
in  gleichen  Volumprocenten  zu  liegen,  die  etwas  abweichende  Be~ 


Die  PiMeDtamspirfttion  des  Foetns.  g^  551 


scbaffenhett  in  Bezug  auf  die  ttbrige  chetoifeche,  in  Bezug  auf  die 
morphologische  BeschaSenbeit  des  Poetalbl^les  wird  einen  etwas  diffe- 
renten  AbsorptionscoeflRcienleii ,  die  elt^as  höhere  Temperatur  des 
Foelalblutes ,  der  vielleicht  difTei^eiite  Druck,  unter  dem  es  sich  in 
den  Gapillarschlingen  befiffSM,  werden  eine  differente  Gapacität  für 
Gase  bedingen.  Exp^kaient  und  Analyse  wird  auch  ans  dem  foetalen 
Erstickungsblut  y  wie  wir  es  bei  Geburten  leicht  auffangen  können, 
seine  SauemWffTcapacität  zu  ermitteln  im  Stande  sein.  Diese  Zahl  mag 
niuTfitisfallen  wie  sie  will,  die  SauerstoQcapaciUit  des  Foetalblutes  mag 
der  des  Gebomen  nahe  kommen  ,  oder  weit  unter  ihr  liegen ,  so  viel 
steht  fest,  dass  bei  dem  bedeutenden  Sauerstoffgehalt  des  mütterlichen 
Placentarblutes ,  bei  der  freien  Möglichkeit  diosmotischen  Austausches 
mit  demselben  der  wirkliche  Sauerstoffgehalt  des  foetalen  Blutes  zu 
dessen  Capacitat  für  Sauerstoff  ganz  ähnlich  sich  verhalten  muss,  wie 
der  Sauerstoffgehalt  des  Blutes  der  Mutter  zu  eben  dessen  Capacität, 
dass  also  das  aus  der  Placenta  zurückkehrende  Foetalblut,  wie  das  der 
Lungenvenen  des  Gehörnen,  mit  Sauerstoff  fast  gesättigt  ist. 

Wenn  in  den  Geweben  des  Foetuskörpers  ein  starker  Sauerstoff- 
verbrauch stattfindet,  so  wird  das  Gleichgewicht  zwischen  foetalem 
und  mütterlichem  Blute  nie  vollkommen  bestehen,  es  wird  nur  ein  dem 
Gleichgewicht  nahekommender  Zustand  im  Blut  der  Nabelvene  immer 
von  Neuem  hergestellt  werden.  Setzen  wir  dagegen  den  Sauerstoff- 
consum  im  Foetus,  in  der  Voraussetzung,  dass  er  nicht  nachgewiesen 
oder  dass  er  verschwindend  klein  sei,  einstweilen  gleich  Null,  seist 
ersichtlich,  dass  das  gesammte  Foetalblut  in  Bezug  auf  seinen  Sauer- 
stoffgehalt sich  dauernd  im  Gleichgewicht  mit  dem  mütterlichen  Foetal- 
blut befinden  muss. 

Die  gleiche  Voraussetzung  festgehalten ,  werden  nur  Alterationen 
im  Sauerstoffgehalt  des  mütterlichen  Blutes  solche  im  Blut  des  Foe- 
tus herbeiführen  können. 

Nun  wird  von  einer  ganz  gesunden  Mutter,  welche  speciell  keine 
Spur  von  Asphyxie  zeigt,  ein  Kind,  dem  wenige  Minuten  zuvor  die 
Nabelschnur  gedrückt  wurde,  im  Zustande  tiefer  Asphyxie,  unter  allen 
Erscheinungen  der  Suffocation  geboren ,  wir  konnten  auch  durch  Be- 
obachtung vor  vollendeter  Geburt  constatiren ,  dass  die  Symptome ,  die 
das  geborne  Kind  zeigt,  im  Mutterleib  genau  von  der  Zeit  an  sich  ent- 
wickelten, wo  die  Compression  der  Nabelschnur  begann.  Je  länger  das 
Kind  unter  den  Bedingungen  existirt  hat,  die  den  Austausch  seines 
Blutes  mit  der  Mutter  behinderten ,  desto  schwerer  sind  die  Symptome 
der  Erstickung  am  gebomen  Kinde,  je  früher  es  gelingt,  durch  künst- 
liche Athmung  Sauerstoff  dem  Blute  zuzuführen ,  desto  sicherer  gelingt 


552  ^  N  6-  S.  ScbulUe, 

es ,    Sydie  mptome   der  'Erstickung  zu  beben.     Wober  bekommt  das 
Kind  im  Mutterleibe  Erstickungsblut  in  seine  Adern  bei  kurzer  Unter- 
brechung seiner  PlacentarcirCMlation ,  da  sein  Blut  vorher  in  Bezug  auf 
Sauerstoffgehalt  im  Gleichgewicht  war  mit  dem  arteriellen  der  Mutter, 
und  da  das  Blut  der  Mutter  keine  Acndenni^  seines  Gasgehaltes  erfah- 
ren hat?    Das  ist  lediglich  dadurch  möglich,  dass  der  im 
Blut  des  Kindes  vorhandene  Sauerstoff  rrB^Hch  schnell 
verbraucht  wird,  wenn  die  Zufuhr  neuen  Sauerstoffs  ab  — 
geschnitten  ist. 

Somit  wären  also  die  vorhandenen  Beweise  für  die  Placentarrespi— 
ration  des  Foetus  um  noch  einen  vermehrt,  und  gleichzeitig  der  Beweis 
gefuhrt,  dass  entgegengesetzt  der  Ansicht  Pflügbr^s  der  Sauerstoffver— 
brauch  im  Foetus  nicht  verschwindend  klein  gegen  den  des  Erwach- 
senen, sondern  recht  gross  ist  und  dem  des  Gebomen  vielleicht  wenig 
nachsteht. 


r 


Beitrag  nr  vei^leichenden  AMatonie  des  Cekines. 

(Vorl&ufige  Mittheilung) 
von 

Miklucho  -  Maclay. 


Mit  8  Figuren  in  Holzschnitt. 

Indem  ich  in  Folgendem  die  Hauptergebnisse  einer  vergleichenden 
Hirnuntersuchung  als  vorläufige  Mittheilung  der  Oeffentlichkeit  Über- 
gebe, behalte  ich  mir  eine  eingehende  Begründung  und  detaillirtere 
Ausführung  derselben  vor. 

Der  besseren  Uebersicht  wegen  will  ich  diese  Mitlheilung  in  fol- 
gende drei  Abschnitte  theilen: 

1.  Neue  Deutung  des  Fischgehimes. 
n.  lieber  die  glandula  pituitaria  bei  Selachiem. 
ni.  Yergleichung  der  Hirnbildungen  bei  Vertebraten. 

I.   Neue  Deutung  des  Fischgehirnes. 

Das  Fischgehirn  besteht,  wie  bekannt,  aus  mehreren  auf  einander- 
folgenden  Abschnitten.  Trotz  der  grossen  Mannichfaltigkeit,  welche 
diese  Abschnitte  in  den  verschiedenen  Abtheilungen  der  Fische  zeigen, 
lässt  sich  in  ihnen  eine  constante  Reihenfolge  beobachten.  Es  liegen 
beim  erwachsenen  Fisch  zwei  paarige  Anschwellungen  vor  einer  un- 
paaren.  Ausser  diesen  Hauptabschnitten  finden  sich  aber  noch  andere 
vor ,  die  theils  hinter ,  theils  vor  denselben  gelagert  sind.  Dieses  von 
vielen  Forschern  untersuchte  Organ  hat  in  seinen  einzelnen  Theilen 
viele  Deutungen  erfahren. 

Die  Verschiedenheit  der  einzelnen  Auffassungen  und  die  Wichtig- 
keit einer  richtigen  Beurtheilung  des  Fischgehirnes  für  die  gesammle 
Neurologie  beweg  mich,  diese  Ansichten  zu  prüfen,  um  mich  entweder 
einer  bestehenden  anzuschliessen ,  oder  eine  richtigere  aufzustellen. 
Bevor  ich  zu  den  Besultaten  meiner  Untersuchungen  komme,  will  ich 
in  folgender  schematischen  Tabelle  die  Deutungen  verschiedener  Au- 
toren darstellen : 


554 


MiUMlio-liaelai, 


CS 

S 


X 

3 

So" 


o 

KT 


9 
O 


o 

Hl 
I 


ex 


o 

er 


a 

3 

3* 


SB 

ca 

OD»  >. 

H         -^  » 

K 

>• 

SC 


c 
5 


So  9 


f 


(D    O 

BS. 
S  p*  »-i 

""—•SS. 


0 


er 

I 


nS 
?  S 


CD 

5 


GO 


o 

H 


55 

er 

D 


S 

er 
p 


0  N 


<1 
o 

p; 

p 


CO    W 

W 

PS 


Q} 

S- 

P* 

^•» 

P 


p" 

»♦■ 

p; 

P 


P 


o 

p* 

CD 

P 
P" 


a 

CD 


P 


« 


•*-   PI 

00   M 

•    aa 

o 


iVM. 


Beitfag  inr  Tergliiehadtit  AMtoato  de»  GebivBs.  559 

Inwiefern  diese  Deutungen  durch  eine  »wT  eine  neue  Hetboile  der 
VerglelchuDg  gcslUtzle  Kritik  porechtrerligl  sind,  wird  dns  Nachfolgende 
ergeben. 

Der  Hauplunterscbied  meineV  Deutung  von  der  der  Übrigen  Auto- 
ren besteht  darin,  dass  ich  den  dritten  unpaaren  Abschnitt,  der  von 
nllen  Forschern  als  Ccrebdium  gedeutet  ist,  fUr  das  HUtelhirn  der 
flbrigen  Wirhellhiore  ansehe,  die  vor  demselben  liegenden  paarigen 
Anscbwellungen  als  Zwischenhirn  betrachte  und  die  vom  unpaarigen 
Abschnitte  bedeckte  Coromissur  als  Homologon  des  Hinterhirnes  hin- 
stelle. 

Zu  dieser  Ansicht  hat  mich  UHmenllich  das  Studium  der  Enlwi(^6- 
tung  des  Selachiergehirnes  geführt.  Die  Selachicr  wurden  bei  dieser 
Untersuchung  vorwiegend  berücksichtigt,  aus  Gründen,  die  ich  bei  einer 
andern  Gelegenheit  erwfthnt  habe^).  Die  Vergleicbung  des  Gehirnes 
eines  jungen  Selachier  -  Embryo  (z.  B.  eines  Notidanus  oder  Scymnus 
bis  etwa  von  1 3  cm.  Lange)  mit  dem  eines  anderen  Wirbelthieres  lüsst 
keinen  Zweifel  in  der  Deutung  der  einzelnen  Theile. 


Die  Anbge  des  Hitlelhimes  ist  bei  allen  Wirbeltbieren  eine  blasen- 
artige Ausbuchtung,  jene  des  Hinterhimea  dagegen  erscheint  in  der 
frühesten  Anlage  niemals  in  Gestalt  einer  solchen  blasenartigen  Aus- 
buchtung, .sondern  stellt  vielmehr  eine  hinter  dem  Hillelhim  liegende 
Quercommissur  vor,  welche  den  vorderen  Abschnitt  des  Sinus  rhom- 
boidalis  bedeckt.  Es  wUrde  also  für  die  erste  Anlage  des  Gehirnes  der 
Fische  ein  ganz  anderes  Verhalten  besteben,  wenn  die  Deutung  der 
frflheren  Autoren   die  riditigere  wllre.   —  SUmmtliche  vergleichend- 

1.  Gehirn  (mcdioner  DurchfichniU)  von  Heptanchus  griaeua,  Embryo  von 
IScm.  Ungo.  II.  Gohim  (ilcsselbcn  DurclischniltB)  von  Capro  hircns,  Em- 
bryo von  i  cm.  Länge.  Die  lieiiicn  Gehirne  sind  vergrtjsscrl  und  ungcfflhr  auf  dic- 
iwlhc  Crosse  rcdacirt.  Dia  Zeichnungen  sind  noch  Pholographicn  ontworfcn.  — 
V  Vorilcrhirn,  Z  ZwiNChenhlrn,  M  Mittelhirn,  ff  Hinterhirn,  N  Nnchhim,  /  Infun- 
dibnlam,  f  primilivo  Verbindung  des  Vorderhirnei,  pt  Plexus  choroldeus,  e  Glan- 
dula pituitarin,  0  Nervus  opticus, 

t)  Ueberein  Schwimmblasen  nid  iment  bei  Selacbiem,  Jen,  ZeiUchr,  für  Med. 


556  MiÜMfco-Maday, 

anatomischen  Tbatsacbeirspredien  für  die  Deatnng  des  dritten  onpaa- 
ren  Abschnittes  des  Selachiergehirnes  als  Mittelhim.  Eine  einzige 
Thatsacbe,  welche  gegen  die  Annahme  dieser  DeuUmg  scheinbar  spre— 
eben  könnte,  ist  das  Verhalten  des  Nervus  irochlearis,  auf  weldies  aach 
JoH.  MCtLBft  hinweist  ^)  und  auf  welche  Thatsadie  er  grosses  Gewicht 
zu  legen  scheint. 

Der  N.  trochlearis  entspringt  nämlich  bei  höheren  Wirbelibieren 
constant  zwiscben  dem  Mittel-  und  Hinterbim.  Bei  den  Selacbiom  iJa- 
gegen  entspringt  er  vor  dem  Mittelhim. 

Beachtet  man  jedoch,  dass  der  Trochlearis  bei  Fischen  und  Am- 
phibien blos  als  eine  Wurzel  des  Trigeminus  erscheint,  dass  er  femer 
bei  vielen  Amphibien  und  Fischen  vollständig  fehlt  2)  oder  ein  sehr 
wechselndes  Verhalten  zeigt,  so  wird  auf  die  Eigenthilmlichkeit  des 
Trochlearis -Ursprungs  bei  Selachiem  nicht  jenes  bedeutende  Gewicht 
gelegt  werden  dürfen.  Der  wichtigste  Umstand  liegt  aber  darin ,  dass 
die  Faserung  der  Himtheile  viel  später  entsteht ^j  als  die  Differen- 
zirung  der  Hauptabschnitte^). 

Diese  vom  Selacbiergebim  genommene  Auffassung  bestätigt  sieh 
fttr  Ganoiden  und  Cyclostomen;  die  ersten  Diflerenzirungen  des  Tele- 
ostiergehirnes  entsprechen  vollständig  den  gleichen  Stadien  des  Gehirnes 
der  Selachier.  Auch  die  Einrichtungen  des  Gehirnes  ausgewachsener 
Teleostier,  vorzüglich  aus  der  Abiheilung  der  Physostomen,  die  be- 
kanntlich auch  in  anderen  anatomischen  Verhältnissen  sich  den  Ga- 
noiden am  nächsten  anschliessen ,  stimmen  vollständig  mit  der  eben 
besprochenen  Deutung  der  Hirntheile  überein. 


4)  Jon.  Müller,  Vergleich.  Nearologie  der  Myxinoiden  p.845. 

2}  Bei  den  MyxiDOiden  fehlt  der  Trochlearis,  bei  den  anderen  Cyclostomen 
geht  er  Verbindungen  mit  andern  Nerven  ein  (Jon.  Müller,  Vergleich.  Neurologie 
p. 24  7).  —  Der  Trochlearis  bei  Selachiern  zeigt  ebenfalls  Verbindungen  mildem 
Trigeminus  [z.  B.  bei  Scymnus,  Scyllium).  Bei  Salamandrinen  fehlt  der  IV.  voll- 
ständig ;  der  Muse.  obl.  sup.  wird  durc{i  einen  Ast  des  Ramus  nasalis  des  V.  ver^ 
sorgt,  ebenso  existirt  bei  Menobrnnchus  kein  discreter  IV.  (Fischer,  Anatomische 
Abhandlungen  I.  Hamburg  4864.  Der  IV.  fehlt  auch  bei  Rana  pipiens  (WniAR),  bei 
Rana  esculenta  verbindet  er  sich  mit  dem  V.  [Schlemii,  d'Altou)  etc. 

8)  V.  Baer,  Rntwickelnngsgeschichte  II.  p.  H2. 

4)  Dass  man  in  einem  Nervcnursprung  oder  vielmehr  in  dessen  Austrittsstelle 
keinen  absolut  sichern  Anhaltspunct  für  die  Deutung  eines  Hirnabschnitts  suchen 
darf,  beweist  z.  B.  das  Vorhalten  der  Opticuswurzeln  bei  Beutelthieren.  Nach  den 
Untersuchungen  von  Gratiolet  (Anat.  comp,  du  Syst.  nerv.  Paris  4857.  p.  482.483) 
hat  der  N.  opticus  3  Wurzeln,  indem  er  vom  Vorder-,  Zwischen-  und  Mittelhirn 
entspringt.  Die  Wurzel  vom  Vorderhirn,  die  bei  affenartigen  Säugethieren  sehr 
gross  ist  und  den  Übrigen  Sttugethieren  nicht  fehlt,  findet  sich  nicht  bei  Halmaturus 
Benncttii,  Hypsiprymnus  murinus,  Didelphis  yirginiana. 


Beitrag  siir  7efglei€iieii4eB  Anatonie  ies  Gebildes.  557 


II.    lieber  die  Glandula  pituitar^a  bei  Selacbiern. 

SchoD  1839  ibeilte  Batbkb  in  seiner  Entwickelungsgeschicbte  der 
Natter  mit,  dass  in  einem  frttberea  Embryonalstadium  eine  kleine  Aus- 
stülpung der  nMundbauta  emporwächst,  sich  dicht  an's  Infündibulum 
anlegt  und  sich  allmählig  von  der  »Mundhauta  abschnürt.  Nach  voll- 
endeter Abschnünmg  stellt  der  neugebildete  Theil  —  die  Glandula  pi- 
tuitaria  —  ein  vollständig  geschlossenes  »Bläschen«  dar^). 

'Bathke  hat  diese  Art  der  Bildung  nicht  blos  bei  Beptilien,  sondern 
auch  bei  Vögeln  und  Säugethieren  beobachtet^).  Dieser  Ursprung  des 
Ilirnanhanges  ist  von  Manchen,  so  z.  B.  von  Beichbrt,  in  Zweifel  gezo- 
gen worden. 

Was  meine  Untersuchungen  über  die  Glandula  pituitaria  betrifft, 
so  kann  ich  nur  die  schöne  Beobachtung  von  Batbkb  bestätigen  und, 
wie  mir  scheint,  ausser  Zweifel  setzen.  Das  Verhalten  der  Hypophysis 
bei  Selachiern  bietet  nämlich  das  Interessante ,  dass  bei  vielen  Haien 
(Scymnus,  Acanthias,  Notidanus  und  anderen)  der  Zusammenhang  der 
Glandula  pituitaria  mit  der  Mundhöhle  noch  deutlich  persistirt.  Es  fin- 
det sich  nämlich  in  der  Schädelbasis ,  dicht  vor  dem  Sattel ,  efne  bei 
Embryonen  einfache  OeS'nung  vor,  durch  welche  ausser  den  Blutgefäs- 
sen (Carotides  internae)  noch  ein  bindegewebiger  Strang  bindurchtritt, 
der,  von  der  Hypophysis  abgehend,  einen  Nachweis  des  früheren  Zu- 
sammenhanges darbietet. 

Die  Glandula  pituitaria  ist  auch  hier,  wie  Batbkb  für  die  früheren 
Stadien  der  höheren  Wirbelthiere  beschreibt,  ein  abgeschlossenes  sack- 
förmiges Gebilde.  —  Diese  Bildung  ist  bei  erwachsenen  Selachiern  et- 
was modificirt.  Nach  vollständiger  Abschnürung  der  Hypophysis  von 
der  Mundhöhle  wird  die  Oeffnung  überbrückt,  diese  Brücke  verknor- 
pelt und  so  entstehen  zwei  Canäle,  die  in  einen  einzigen  unpaaren  ein- 
münden. 

Diese  von  hinten  und  aussen  nach  vorn  und  innen  verlaufenden 
Canäle  sind  die  Garotiden- Canäle,  die  bei  sämmüichen  Vertebraten 
eine  analoge  Lagerung  besitzen  und  wahrscheinlich  auf  dieselbe  Weise 
entstehen.  Der  unpnare ,  die  zwei  Canäle  aufnehmende  Canal  besitzt 
bei  den  verschiedenen  Wirbelthiergruppen  eine  verschiedene  Länge, 
so  ist  er  verhältnissmässig  beträchtlich  bei  Vögeln ,  dagegen  ist  er  bei 
den  Säuj^ethieren  vorübergehender  Natur ,  indem  er  bei  erwachsenen 
fast  gänzlich  verschwindet. 


\)  H.  Ratuke,  Eniwickelungflgeschichte  der  Natter,  Königsberg  4S89.  p.  492. 
2)  Desgleichen  p.  81. 


558  •  Ifiktacho  -  MaeUy, 

Bei  Selachiern  sindNdie  Garotiden-Ganäle  zwar  beschrieben  und 
abgebildet^),  ohne  dass  jt?doch  ihr  morphologischer  Werth ,  als  se- 
cundäre,  mit  der  Entstehung  derGlandula  piiuitaria  in 
Zusammenhang  stehende  Bildung,  erkannt  worden  wäre. 

Aus  dem  Vorhergehenden  folgt  als<^ mit  Bestimmtheit,  dass  mor- 
phologisch die  Gland.  pituitaria  eine  dem  O^hirn  ganz  fremde 
Bildung  ist  und,  wie  B^thkb  behauptete,  eine  Abschntt- 
rung  der  Mundschleimhaut  darstellt^). 

111.  Verglcichung  der  Hirnbildungen  bei  Vertebraten  **). 

Die  mannichfaltigen  Formen  des  centralen  Nervensystems  in  den 
verschiedaien  Wirbellhierabtheilungen  gehen  aus  Einer  Anlage 
hervor  *) . 

Die  spätere  Verschiedenheit  ist  bedingt  durch  verschiedenes  Wadis- 
thum  und  Diflerenzirung  der  anfangs  gleichartigen  Theile. 

Diese  im  Wachsthum  entstandenen  Eigenthttmlichkeiten  zu  unter- 
scheiden und  die  morphologisch  gleichartigen  homologen  Theile  heraus- 
zufinden, ist  die  Aufgabe  der  vergleichenden  Anatomie  des  Gehirnes. 

Ulli  diese  Hpmologa  ausfindig  zu  machen ,  können  wir  von  einer, 
allen  Wirbelthieren  gemeinsamen  Grundform  ausgehen  und  dann  die 
verschiedenen  Gehirne  in  ihrer  späteren  Entwickelung  verfolgen ,  um 
die  Modificationen  und  Eigenthümlichkeiten ,  welche  die  Grundform 
eingeht,  kennen  zu  lernen  und  richtig  zu  würdigen. 

Als  eine  solche  Ausgangsform  können  wir  an  einer  jeden  Wirbel- 
thierdasse  das  Gehirn  annehmen ,  welches  in  die  fünf  Primitivblascn 
YOif  Babr's  differenzirt  ist. 

Bevor  wir  aber  die  Differanzirung  des  Gehirnes  der  einzelnen 
Wirbelthiergruppen  besprechen,  wollen  wir  die  allgemeineren  Veräo- 


4)  BuscB,  De  Selachionim  et  Ganoideorum  Encephalo.    Berlin  1848.  Taf.  II. 

Fig.  *. 

a)  Die  Resultate  der  histologischen ,  auch  der  neueren  üntersuchungea  stim- 
men damit  Uberein,  indem  sie  ebenfalls  die  Gl^nd.  pituitaria  als  eine  dem  Nerven- 
system fremde  Bildung  ansehen. 

3)  Obgleich  ich  keineswegs  der  Meinung  bin,  hiermit  eine  abgeschlossene  Un- 
tersuchung zu  geben,  schien  es  mir  doch  zweckmässig,  diese  Form  der  DarsteUun^ 
zu  wählen,  statt  einzelne  Resultate  meiner  Untersuchungen  in  eine  Reihe  von  Ein- 
zelmittheiluQgen  aufzulösen ,  wobei  man  gar  zu  leicht  das  Gesanuntbild  der  mor- 
phologischen DifTerenzirung  verlieren  könnte.  So  mangelhaft  das  Bild  auch  ist,  so 
kann  es  doch  eine  primitive  Grundlage  für  spätere  Untersuchungen  bilden. 

4}  E.  V.  Baer,  Entwickelungsgeschichte  der  Thierc.  Köoigsberg  4837.  2.  Tbl. 
p.  245.  287.  292  und  viele  andere  Stellen.  —  Gbgbnbaur,  Grundzüge  der  verglei- 
chenden Anatomie.  Leipzig  1859.  p.  484  und  viole-andere  Autoren. 


Beitrag  lur  vergleiebeodeii  Aantoane  des  GiWrues.  d59 

derungen  des  ceatralen  Nervensysiems ,  dib  bei  der  Eniwiokelung 
sämmUicher  Vertebraten^-Gehirne  vor  sich  Igehen,  in's  Auge  fassen,  um 
dieselben  nicht  im  Einseinen  wiedechoJea  zu  müssen. 

Zu  diesen  allen  Gehirnen  zukommenden  allgemeinen  Veränderun- 
gen geht^ri  die  Verdickung^der  Wandungen  durch  Ablagerung  von 
Nervensubsianz.  Die  ursprünglich  weiten  Hohlräume  des  Gefaimes 
und  Rückenmarks  werden  dadurch  immer  enger,  und  diese  Verengung 
kann  so  weil  gehen,  dass  der  Hohlraum  fast  vollständig  schwindet,  was 
wir  z.  B.  am  Rückenmark  höherer  Vertebrateh  sehen,  wo  der  Raum 
des  MeduUarrohres  auf  ein  Minimum  reducirt  wird.  Auch  einzelne  oder 
mehrere  Abschnitte  des  Gehirnes  k()nnen  ihre  Ventrikel  verlieren,  z.  B. 
das  Vorderhirn  und  Mitteihirn  mancher  Fische. 

Bei  Cyclostomen  verschwinden  fast  sämmtliche  Ventrikel,  es  bleibt 
ein  grosser  Sinus  rhomboidalis,  der  sich  etwas  unter  da$  Mittelhirn 
erstreckt. 

Da  man  eine  vollkommene  Homotypie  des  Gehirnes  und  Rücken- 
marks annehmen  kann ,  so  ündet  man  durdigehend  bei  allen  Verte- 
braten,  dass  e^  Vlie  den  hinteren  Strängen  des  Rückenmarks  ent- 
sprechenden Uirntheiie  sind ,  die  sich  besonders  differenziren  und  die 
grössten  Verschiedenheiten  der  Gehirnbildungen  bedingen. 

Eine  andere  allgemeine  Differenzirung  betrifll  die  Bildung  der  Hirn- 
häute, die  sich  von  der  Hirnoberfläche  abscheiden  ^) .  Bei  Embryonen 
höherer  Vertebraten ,  sowie  bei  Selachiern  und  anderen  Fischen  findet 
man  keine  scharfe  Sonderung  der  einzelnen  Schichten ,  sie  gehen  all- 
mählig  in  einander  über  und  können  nur  durch  künstliche  Präparaiion 
getrennt  werden. 

Bei  Fischen  und  Amphibien,  wo  das  Gehirn  im  embryonalen  Zu- 
stand die  Schädelkapsel  vollständig  und  beim  späteren  Wachsihum  nur 
einen  Theil  derselben  ausfüllt,  wird  der  Zwischenraum  zwischen  Schä- 
del und  Gehirn  durch  ein  bindegewebiges  Netzwerk  ausgefüllt.  In  die- 
sem Bindegewebe  kann  Fett,  Kalk,  Pigment  abgelagert  werden.  Dieses 
Netzwerk  kann  man  als  Homologen  der  Aracbnoiaea  der  höheren  Ver- 
tebraten ansehen. 

An  zwei  verdünnten  Stellen  des  Himdachos  bilden  sich  Einstül- 
pungen eines  Theiles  der  Hirn  wände,  die  mit  einem  reichen  Netz  von 
Blutgefässen  versorgt  sind.  Von  diesen  Einsenkungen  entsteht  die  eine 
consiant.  zwischen  dem  Vorder-  und  Zwischenhirn,  die  andere  hinter 
dem  Mittelhirn,  weil  zu  dieser  Zeit  noch  kein  Hinterhirn  differenzirt  ist. 
Daraus  bilden  sich  die  Adergeifechte. 


4}  V.  Baer,  Entwickelungsgcscliichte  Bd.U.  p.  104  und  andere  Autoren. 


560  lOdMko-Slacfayi 

Dass  es  keine  Durchbi^chiuigeii,  sondern  Einsllllpongen  sind,  gebt 
daraas  hervor,  dass  1)  die  Bimhante  und  folglich  auch  die  sog.  Plexus 
keine  dem  Gehirn  fremde  Theile  sind,  da  sie  anfangs  die  oberste  Schidil 
des  centralen  Nervensystems  ausmachen  und  %)  kann  man  sogar  hei 
einigen  erwachsenen  Selachiem  einen  uflmittelbaren  Zosammenhaog 
des  Zwischenhimdaches  mit  dem  Plexus  nadiweisen.  Audi  die  sog. 
Decke  des  Sinus  rhomboidalis  oder  des  Nadihimventrikcis,  gegen  wel- 
chen gleidifoils  ein  Plexus  sidi  auflegt,  ist  bekanntlich  zum  Theil  aus 
der  ursprünglichen  obem  Wandung  des  Nachhimes  gebildet. 

Nach  diesen  allgemeinen  Differenzirungsvorgängen  wollen  wir  zu 
den  Pormveränderungen  der  primitiven  Himabschnittc  in  den  verschie- 
denen Veriebratenstämmen  flbergehen. 

Fischei). 

Die  embryonale  Anlage  des  Vorderhirnes  ist  eine  unpaare  Blase, 
die  sich  aber  recht  bald  in  zwei  seitliche  Hälften  theilt;  unpaar  bleibt 
das  Vorderhim  bei  einigen  Selachiem  (Garcharias,  Galeus  und  vielen 
Bochen) .  Die  laterale  Theilung  ist  bei  allen  aber  durch  eine  unbedeu— 
tende  Einsenkung  angedeutet;  bei  anderen  Haien,  Scymnus,  Acanlhias 
etc.,  geht  die  mediane  Einsenkung  tiefer.  Es  bilden  sieb  zwei  seitliche 
Hälften  und  dadurch  wird  die  anfangs  einfache  Höhle  des  Yorderhirncs 
in  zwei  seitliche  Yenirikel  getheilt. 

Da  die  Spaltung  der  beiden  Vorderhirnhälften  keine  vollständige 
ist,  so  persistirt  eine  Verbindung,  die  der  primitiven  Verbindung  der 
Hemisphären  der  Hbrigen  Vertebraten  homolog  ist. 

Diese  primitive  Verbindung  ist  die  indifferente  Anlage  des  Com— 
missurensystems  (Gommissura  anterior,  Fomix,  Balken,  Seplnm  pelu- 
cidum)  der  höheren  Wirbelthiere.  Dieser  Umstand  sqheint  mir  von 
Wichtigkeit  zu  sein  fttr  das  Verständniss  von  Einrichtungen ,  die  erst 
bei  Säugethieren  zur  Entfaltung  kommen  und  die  als  indifferente  An- 
lage schon  bei  Fischen  (Selachiem)  bestehen. 

Die  Trennung  der  Hemisphären  ist  eine  vollständigere  bei  Ganoi- 
den  und  Teleostiem. 

Die  Vorderhirn  Ventrikel  werden  durch  Ablagerung  von  Nerven- 
substanz auf  einen  sehr  unbedeutenden  Hohlraum  reducirt.  (Viele 
Bochen,  Teleostier,  Cyclostomen.)  Das  Vorderhim  bildet  bei  Seladiiern 
eine  sehr  ansehnliche  Hasse,  ist  aber  bei  einigen  Teleostiem  fast  mdi- 
mentär. 


i)  Die  Hohlräume  des  Gehirnes  benenne  ich  nach  den  sie  umsch liessenden 
Vbschnitten. 


Beitrag  tor  vergleMlieikteD  Anatdale  des^inies.  561 

Was  die  Lobi  oifactorii  betrifft ,  so  sin(f  diese  entweder  dem  Vor- 
derhira  anliegend,  oder  durch  lange  TraclAs  mit  denselben  verbunden. 
Diese  Tractusbildungen  sind  secundäre  Erscheinungen ;  als  soldie  sind 
auch  die  Himstiele,  die  ebenfalls  sehr  lang  werden  können,  anzusehen. 
Sie  sind  durch  Wachsthum  fles  Schadeis  bedingt  und  fehlen  beim  em- 
bryonalen Gehirn ,  wo  die  Himtheile  enger  zusammenliegen  und  die 
Schttdelkapsel  voUstfindig  ausfüllen.  Die  Tractus  oifactorii  sind  hohl 
und  in  sie  selat  sich  der  Vorderhimventrikel  fort. 

Zwischen  dem  Vorder-  und  Zwischenhim  senkt  sich  der  Plexus 
choroideus  ein ,  in  welchem  eine  vom  Zwischenhim  ausgehende  dttnne 
Lamelle  sich  verliert. 

Das  Zwischenhirn  bildet  bei  Selachier- Embryonen  anfangs 
eine  grosse,  mit  einer  medianen  Einsenkung  versehene  Blase,  differen- 
zirt  sich  aber  bald  in  zwei  seitliche  Blasen ,  die  eine  Zeit  lang  mit  dem 
unter  ihnen  liegenden  Infundibulum  (Lobi  inferiores)  ^)  den  grOssten 
Abschnitt  des  Gehirnes  ausmachen,  entsprechend  dem  Stadium  sämmt- 
lidier  Wirbelthierembryonen,  wo  das  Zwischenhirn  mit  dem  Infundi- 
bulum alle  ttbrigen  Gehirntheile  an  Grösse  Qbertriflft,  welches  Stadium 
der  Entfaltung  des  Mittelhirnes  vorangeht ,  wie  es  schon  Rathkb  er-- 
wlihnt^).  Die  Selachier  behalten  eine  fast  vollständige  Decke  des  Zwi- 
scbenhirnes,  wahrend  andere  Fische  (Gyclostomen,  Ganoiden)  sich  darin 
den  Amphibien  ntthern,  dass  sie,  einen  Spalt  in  der  Zwischenhimdecke 
zeigen.  Bei  erwachsenen  Selacfaiern  wird  das  Zwischenhim  zum  Theil 
oder  ganz  vom  Mittelhim  bedeckt,  welches  gerade  in  dieser  Abtheilung 
eine  bedeutende  Hannichfaltigkeit  und  Grösse  zeigt. 

Die  Anlage  des  Mittelhirnes  bei  Selachiera  ist,  wie  bei  allen 
Wirbelthieren,  eine  einfache  Blase,  die  bei  höheren  Wiilielthieren  vor- 
übergehend und  bei  Selachiem  und  anderen  Fischen  bleibend  eine 


■%/ 


4)  Bei  dieser  Gelegenheit  will  ich  noch  einen  Theil  des  Fischgehirnes  bespre- 
chen ,  der  sehr  verschieden  gedeutet  worden  ist.  —  Bs  sind  die  Lobi  inferiores, 
welche  von  vielen  ForBohem  als  blos  den  Fischen  zukommende  Bildaogen  ange- 
sehen wurden.  Die  Lobi  inferiores  entsprachen  aber  dem  Infandi- 
bulum ,  das  bei  Wirbelthierembryonen  sehr  gross  ist  und  bei  vielen  eine  paarige 
Ausbuchtung  zeigt  (z.  B.  Natter).  Die  Lobi  inferiores  können  hohl  sein  oder  solid, 
wenn  die  Nervenmasse  ihrer  Wandung  sich  verdickt.  Am  richtigsten  hat  ihre  mor- 
phologische Bedeutung  C.  G.  Camds  beurtheilt,  indem  er  sie  als  Ganglien  des  Trich- 
ters ansieht.  Von  andern  wurden  sie  vollständig  misskannt,  wie  z.  B.  von  Tisdk- 
MAim,  der  in  ihnen  die  Corpora  candicantia  sehen  wollte,  von  Cwiza  wurden  sie  als 
Couches  optiques  (SehhUgel)  betrachtet;  auch  JoHAimBs  MOllbi  deutet  als  Lobi  in- 
feriores bei  Petromyzon  marinus  ein  Paar  Erhabenheiten  an  derMedulla,  die  durch- 
aus nichts  mit  den  Lobi  inferiores  der  ttbrigen  Ffsche  zu  thun  haben. 

%)  Rathu,  Entwickelungsgeschichte  der  Natter  p.  46. 

Bd.  IV.  S.  1.  4.  86 


562  Miklaelio-llMlay, 

beträchtliche  Grösse  behält.  Auf  der  anfangs  glaiteo  Oberflttcbe  des 
Mittelhirnes  der  Selachier  entsteht  eine  niediane  Einsenkau^,  di«  das 
Mittelhirn,  von  oben  gesehen,  in  zwei  laterale  Hälften  theilU  (Soymnus« 
viele  Rochen  etc.) 

Bei  einigen,  z.  B.  Acanthias,  tritt  zu  diesem  medianen  Einschnilt 
noch  eine  Querfurche,  die  senkrecht  zu  der  ersten  gelagert  ist. 

Eine  andere  Art  der  DiSerenzirung  zeigt  das  Mittelhim  bei  ande- 
ren Haien  (Carcharias,  Galeus  und  andere).  Es  finde»  sich  an  der 
Oberfläche  mehrere  Querfurchen,,  die  dadurch  entstehen,  dass  die  <rtiere 
Wandung  des  Mittelhimes  sich  in  Falten  legt,  v^as  man  besonders  schön 
auf  einem  medianen  Längsschnitt  sehen  kann. 

Diese  Faltenbildung  des  Mittelhirnes  zeigt  bei  verschiedenen  Gat- 
tungen der  Selachier  einen  übereinstimmenden  Typus.  Durch  sie  wird 
die  bei  vielen  Selachiern  einCache  Höhle  des  Mittelhimes  in  mehrere 
Abschnitte  getheilt. 

Die  mannichfaltigen  Bildungen  des  Mittelhimes  verdienen  ein  be- 
sonderes Interesse,  weil  sich  von  ihnen  die  Einrichtungen  des  Mittel- 
hirnes  bei  anderen  Vertebraten  ableiten  lassen.  Die  bei  SeLaohiern  an- 
gedeutete laterale  Theilung  entwickelt  sich  weiter  bei  den  übrigen 
hjdier  stehenden  Wirbelthieren.  Auch  die  Paltenbildung  dieses  Hirn- 
abschnitts  ist  nicht  Mos  bei  Selachiern  vertreten ;  ich  habe  sie  vorüber- 
gehend beim  Vogel  (Hühnchen  von  3  —  4  Tagen)  und  Säugetfaieren 
(Ziege,  Schwein,  bei  Embryonen  von  8  cm.  Länge)  beobachtet.  Diese 
Falten  finde  ich  auch  von  y.  Baer  beschrieben  und  abgebildet^). 

Bei  Ganoiden  und  Cyclostomen  ist  das  Mittelhirn  durch  zwei  neben- 
einanderliegende Anschwellungen  repräsentirt;  eine  Form,  die  sich 
später  bei  Ampi^ibien  findet.  Bei  Teleostiern  scheint  die  Höhlung  des 
Mittelhirnes  sehr  früh  zu  verschwinden,  wenigstens  fehlt  sie  vielen  er- 
wachsenen Knochenfischen. 

Was  das  Hinterhirn  der  Selachier  betrifit,  so  schliesst  sich  diese 
Bildung  an  die  der  Cyclostomen ,  Ganoiden ,  Amphibien  und  embryo- 
nalen Zustände  des  Hinteriiirnes  der  hidieren  Wirbelthiere  an.  Es  ent- 
steht als  eine  zusammenwachsende  Gommissur  hinter  dem  Mittelhim 
mit  einer  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Längsfurche.  Das  Hin- 
terhirn der  Selachier  wurde  von  einigen  Autoren  ^)  als  Corpus  resti- 
forme  gedeutet. 

Die  Hauptzttge  der  Differenzirang  des  Gehirnes  bei  Fischen  in  we- 
nigen Worten  zusammenzufassen,  ist  keine  leichte  Aufgabe ^  da  die 


4)  V.  Basb,  Entwickeiongsgeschichte  Th.  I.  p.  40S.  484,  Tb.  IL  p.  44S. 
i)  BüscH,  De  Selachioniin  et  Ganoideorum  Bncephalo  p.  iS. 


Beitrag  sor  vergletdWMlett  hMtlAe  des.<ebirne8.  563 

ClebimlHidilAg  10  de»  veraditedenen  Pisdiibiheilungen  sehr  verschie- 
demriige.  Differentiruiig^a  eing^ebi  uiul  weiL  die  Enlwickelung  des 
Pischgehirnes  noch  wenig  bekannt  ist.  Von  sümmtiiohen  Fischen  sind 
es  die  Selachier^  die  uns  am  rtieisien  inleressiren  wegen  ihrer  schon 
öfters  erwähnten  Besiehungen  zu  den  übrigen  Veriebraten.  Diese  ver- 
wandlachaCUichen  Beziehungen  werden  auch  durch  das  Verhallen  des 
oe&iraleB  Nervensystems  gestutzt. 

Man  kann  die  SeJachiergehime  als  eine  Grundforn^furdie  ttl>ri-« 
Kau  Gebimbildungen  der  Vertebraten  auffassen,  weil  sie  sich  viel  mehr 
als  alle  anderen,  der  von  uns  angenommenen  embryonalen  Grundform 
nähern. 

Fast  alle  Hirnabschnitte  sind  en'twickelt,  keiner 
zeigt  eine  auffallende  Reduction.  Das  indiflerente  Verhalten 
des  Seladbiergehimes  äussert  sich  noch  in  der  bedeutenden  Weite  der 
Ventrikel  und  in  den  Sdiwankungen  im  Grade  der  Ausbildung  einzel«- 
ner  Hirnabschnittey  welche  in  dem  Maasse  nur  bei  Selaehiera  vorkom^ 
men  (so  z.  B»  die  Verschiedenheit  der  Formen  des  Vorder-  und  Mittel^* 
himes  bei  den  einzelnen  Selachiergattungen).  Aus  diesem  indifferen- 
teren Verhalten  ergeben  sich  auch  zahlreiche  Anschltlsse  an  die  Hirn- 
bildungen  hiiberer  Wirbelthiere, 

Die  Aehnlichkeit  derselben  mit  der  embryonalen  Grundform  ist 
keineswegs  durch  ein  Stehenbleiben  auf  einer  embryonalen  Stufe  be- 
dingt (wie  es  z.  B.  TiBiAiuif?!  ^)  glauben  konnte) ;  ganz  im  Gegentheil, 
einzelne  HirnUKeile  (Zwischen-  und  Mittelhim  z.  B.)  erhingen  gerade 
bei  Selachiern  eine  Entfaltung ,  die  sich  bei  keiner  anderen  Vertebra- 
tengruppe  vorfindet.  Durch  die  Entwickelung  gewisser  Theile  (Lobi 
inferiores,  Anschwellungen *am  Ursprung  verschiedener  Nerven),  die 
bei  anderen  Vertebraten  fast  rudimentUr  bleiben,  kommen  dem  Selaohier^ 
gehime  neue  Himtheile  zu,  die  sie  nur  mit  einigen  Fischen  gemein 
haben.  Wir  sehen  im  Gehirn  erwachsener  Selachier  eine  beträcht- 
liche Entwickelung  des  Vorder-  und  Zwischenhirnes. 
Die  Wandungen  des  Infundibulum  sind  zu  den  Lobi  in- 
feriores angesehwollen;  besonders  entfaltet  erscheint 
aber  das  Hittelhirn,  welches  das  schmale  Hinter hirn  fast 
vollständig  bedeckt. 

,  Amphibien. 

An  die  Hirnbildungen  der  Fische  reihen  sich  die  der  Amphibien 
an,  dieselben  zeigen  noch  ziemlich  indifferente  Himformen,  die  manche 

4)  TiEDBiuvN,  Aoatomie  und  BÜdungsgescbioKte  des  Gehimefl,  Nttmberg  4S49. 
p.  VI 

86* 


564  '        Mttliielio-MMlfty, 

Anschlüsse  an  die  der  Sttugethi^re  darstellen  und  vide  UehergOInge  zu 
den  in  einer  anderen  Richtung  differenzirten  Himbildungeri  der  Bepti^ 
lien  und  Vögel  bieten. 

Das  Vorderhirn  diflEmrenzirt  sich  frtth  in  zwei  Hälften.  Aus  der 
primitiven  Verbindung  entwickelt  sich  vorzugsweise  die  Gonmissura 
anterior,  die,  obwohl  schon  bei  Amphibien  deutlich  vorhanden,*  erst  bei 
Reptilien  und  Vögeln  ihre  höchste  Entfaltung  erreiebt.  Die  Ventrikel 
des  Vorderhirnes  sind  wie  bei  den  Fischen  vor  dem  Ventrikel  des  Zwi— 
schenhirnes  gelagert,  Zwischen-  und  Mittelhim  sind  eng  verbundso 
und  gehen  ohne  Grenze  ineinander  ttber  ^)  (bei  Froschlarven,  geschwänz- 
ten Amphibien) . 

Das  Zwischenhi4'n  ist  im  jungen  Zustande  grösser,  nimmt  mit 
Bunehmendem  Alter  ab  und  verliert  theilweis  seine  Dedie,  so  dass  man 
nach  Entfernung  des  Plexus,  der  zwischen  dem  Vorder-  und  Zwisdien- 
hirn  eingeschaltet  ist,  in  den  Ventrikel  des  Zwischenhirnes  und  in  das 
Infundibulum  hineinsehen  kann.   Es  6nden  sich  bei  Amphibien  zw^i 
Formen  des  Mittelhirnes,  die  eine  derselben  treffen  wir  bei  einigen 
geschwänzten  und  den  Jugendformen  der  ungeschwftnzten  Amphibien 
an.  Bei  diesen  hat  das  Mittelhim  eine  längliche  Gestalt  mit  einer  kaum 
unterscheidbaren  Längsfurche.   Diese  Form  ist  die  indifferentere,  den 
Selachiem  am  nächsten  stehende.   Die  andere  Form  findet  sieh  bei  den 
erwachsenen  ungeschwänzten  Amphibien  vor.     Diese  Form  kann  als 
eine  aus  der  vorhergehenden  sich  entwickelnde  angesehen  werden. 
Es  entfalten  sich  die  seitlichen  Theile  des  Mittelhimes,  die  Furche  zwi- 
schen ihnen  wird  tiefer  und  so  stellt  das  Mittelhim  zwei  nebeneinander^ 
liegende  Halbkugeln  vor. 

Der  Ventrikel  des  Mittelhimes  zeigt  gleichfalls  zwei  Ausbuchtun- 
gen, die  sich  in  die  Halbkugehi  erstrecken. 


i)  Diese  Beziehung  des  Zwisclienhims  zum  Mittelliirn  ist  nicht  blos  bei  Am- 
phibien vorhanden ,  sondern  findet  sich  bei  sämmtlichen  Vertebraten ,  im  frühen 
embryonaiea  Stadium,  besonders  deutlich  vor.  Bei  sehr  vielen  Gehirnen  erwach- 
sener Wirbelthiere  Irifil  man  dasselbe  Verhiiltnissi  bei  Salamaodrinen  ist  z.  B.  keine 
Spur  von  Trennung  da,  bei  anderen  geschwänzten  Amphibien  tritt  diese  erat  später  auf, 
wenn  sich  das  Mittelhirn  weiter  difTerenzirt.  Den  Grund  dieser  engen  Beziehungen 
wäre  man  sehr  geneigt  in  der  Entstehungsweise  zu  suchen ,  indem  man  sich  na- 
menUich  das  Zwischen-  und  Mittelhirn  aus  einer  Blase  (der  mittlem  der  drei  pri- 
miUven  Blasen  von  v.  Babb],  entstanden  dächte.  Dieser  Aulfassung  jedoch  wider- 
sprechen sämmtliche  Beobachter,  nach  welchen  das  Zwischenhirn  mit  dem  Vorder- 
hirn aus  der  ersten  primitiven  Blase  entstehen  soll.  loh  habe  aber  bei  sehr  jungen 
Embryonen  das  Zwischenhirn  immer  in  näherer  Beziehung  zum  Mittel-,  als  zum 
Vorderhirn  gesehen,  ohne  jedoch  definitiv  entscheiden  zu  können,  ob  das  Zwischen- 
him  aus  der  ersten  oder  zweiten  primitiven  Blase  entsteht. 


Beitrag  ivr  Teigleiehtsieu  AMlonie  devMirnes.  566 

Daa  Hinierhirn  ist  auch  hier  wie  Dei  den  Fischen  eine,  vorn 
Millelhirn  «um  Theil  bedeckte  Gommissup.  Es  ist  sehr  klein  bei  Sala- 
BMüdrinen. 

Das  Amphibiengehim  bietet  die  einfachsten  Formen,  io 
welche  sich  das  centrale  Nervensystem  bei  Yertebraten  diOerenzirt. 

Das  Vorder*  und  Mittelhirn  entwickelt  sich  bei  Am- 
phibien vorzugsweise,  das  Zwischenhirn  erleidet  eine 
Reduction  und  das  Hinterhirn  ist  noch  wenig  entwickelt. 

Reptilien  und  Vögel. 

Das  Gehirn  der  Schildkröten  bildet  «inen  schönen  Uebergang  zu 
den  Einrichtungen  der  übrigen  Reptilien  und  Vögel,  schliesst  sich 
jedoch  mehr  an  die  Verhältnisse  der  Amphibien  an.  Die  Spitze  dieser 
auslaufenden  Differenzirungsreihe  bilden  die  Gehirnverhältnisse  der 
Vögel. 

Das  Vorderhirn  ist  beträchtlich  und  Überlagert  das  Zwischen- 
und  Mitteihirn.    Aus  der  primitiven  Verbindung  differenzirt  sich  die 
Commiasura  anterior ,  deren  Strahlung  sich  unterhalb  des  Streifenhü— 
gels  verbreitet. 

Der  Streifenhügel ,  der  schon  bei  Reptilien  sehr  ansehnlich  ist, 
bildet  bei  den  Vögeln  dep  grössten  Theil  des  Vorderhirnes. 

Durch  das  Auswachsen  der  Hemisphären  lagern  sich  auch  die  Ven- 
trikel des  Vorderhimes  zum  Theil  über  und  neben  den  Ventrikel  des 
Zwischonhimes.  Das  Zwischenhirn  ist  verhältnissmässig  klein,  be- 
hält einen  unbedeutenden  Rest  seiner  Decke.  Die  bei  Amphibien,  Schild- 
kröten sehr  ausgesprochene  laterale  Theilung  der  beiden  M itlelhirn- 
hälften  ist  weiter  gediehen,  so  dass  sie.  in  der  medianen  Linie  blos  durch 
eine  sehr  dünne  Decke  verbunden  bleiben. 

Der  Mitteihirn  Ventrikel  wächst,  dem  Mittelhirn  entsprechend,  in 
zwei. laterale  Homer  aus. 

Das  Hinterhirn  ist  auch  schon  sehr  differenzirt,  der  mediane 
Abschnitt  (Wurm)  ist  sehr  entfaltet  und  mit  Querfurchen  versehen.  Die 
seitlichen  Theile  (Hemisphären)  bleiben  dagegen  unbedeutend. 

Fasst  man  das  Gesagte  kurz  zusammen ,  so  sieht  man ,  dass  bei 
Amphibien  und  Reptilien  nur  angedeutete  Einriciitungon  im  Gehirne 
der  Vögel  ihren  Höhepunct  erreichen  und  auslaufen.  Wir  treffen  bei 
den  Vögeln  eine  bedeutende  Entwickelung  des  Vorder*-, 
Mittel-  und  Hinterhirnes. 

Ich  sagte  vorhin,  dass  die  Hirnbildung  der  Vögel  eine  auslau- 
fende sei;  sie  bietet  in  der  That  keine  directen  Anschlüsse  an  Ein- 
richtungen des  Säugethicrgehirnes.  Alle  Hirntheile  sind  sehr  entwickelt, 


566  MlkiMho-MMliy, 

aber  anders  differenzirt.  Wenn  wir  z.  B.  die  homdogen  Theile  der 
Vögel-  und  S^ugethiergehirne  vergleichen  woHlen,  so  ftinden  wir,  dass 
dem  Yorderhirn  der  ersteren  mit  seinen  grossen  Corp.  striai.,  seinevi 
dünnen  Wandungen  und  seiner  grossen  Gommissura  anterior  Mos  ein 
kleiner  vorderer  Theil  des  Vorderhirnes  der  Stfugethiere  entsprechen 
würde.  Das  Zwischenhim  bei  Vögeln  ist  wenig,  das  Mittelhim  sehr 
entwickelt.  Aber  die  Differenzirung  des  Mittelhimes  in  die  zwei  seit- 
lichen Anschwellungen  mit  ihren  Ventrikeln  i^  offenbar  eine  ganz  an- 
dere, als  die  des  Säugethiermittelhirnes,  bei  welchen  das  Mittelhhm  mit 
dem  engen  Aquaeductus  Sylvii  fast  rudimentär  wird,  wogegen  das 
Zwischenhirn  sehr  gross  erscheint.  Bei  Vögeln  ist  der  mediane ,  bei 
Säugethieren  sind  die  seitlichen  Theile  des  Hinterhimes  besonders  ent- 
wickelt. 

Das  sind  alles  Verhältnisse,  die  dem  Beobachter  beim  ersten  Blick 
in's  Auge  fallen ,  aber  auch  eingehendere  Untersuchungen  der  beiden 
Gehimreihen  führen  zu  analogen  Bosultaten.  Und  so  müssen  wir  die 
Himbildungen  der  Säugethiere  nicht  von  denen  der  Vögel  ableiten  wol- 
len, sondern  viel  weiter  zurückgreifen  und  uns  an  indifferentere  Ein- 
richtungen  der  Selachicr  und  Amphibien  erinnern ,  die  wirkliche  An- 
schlüsse bieten. 

Säugethiere. 

Nachdem  das  Vorderhirn  sich  in  die  zwei  seitlichen  Hälften 
(Hemisphären)  differenzirt  hat,  bleibt  ein  Rest  der  ursprünglichen  Ver- 
bindung bestehen  und  bildet  die  Anlage  des  Gommissurensystems 
(Corpus  callosum,  Fornix,  Gommissura  anterior);  so  sehen  wir,  wie 
schon  früher  erwähnt,  dass  diese  Einrichtungen  blos  Differenzirun- 
gen  einer  allen  Vertebraten  zukommenden  Anlage  sind.  Durch  das 
Auswachsen  des  Vorderhimes  nach  hinten  (womit  auch  die  grössere 
Entwickelung  des  Gommissurensystems  zusammenhängt)  überlagert, 
dasselbe  das  Zwischen-,  Mittel-  und  bei  manchen  Säugethieren  das 
Hinterhim.  —  Man  kann  an  jeder  Vorderhirnhälfte  drei  grössere  Ab- 
theilungen, Lappen,  unterscheiden.  Es  sind  der  vordere  (fronto-paric- 
tale),  seitliche  (sphenoidale)  und  hintere  (occipitale)  Lappen,  welche 
bei  verschiedenen  Säugethieren  verschieden  gross  werden.  Dieser  Aus- 
dehnung der  Vorderhirnhälften  folgen  auch  ihre  Ventrikel.  So  kommt 
es  zur  Bildung  des  vorderen,  unteren  und  hinteren  Homcs. 

Am  oberen  Rande  der  sog.  Sylvischen  Furche  findet  sich  ein  Ab- 
schnitt, der,  wenn  das  Gehirn  reich  an  Falten  ist,  ganz  zwischen  den- 
selben verborgen  liegt. 


Beitrag  siir  veigleleheiKlen  Aiatooiie  des  Gjsbimes.  567 

Er  wurde  von  GmiTiouT  Lobe  central  genannt,  da  er  von  den^drei 
erstgenannten  Lappen  umlagert  wird. 

Dieser  Lobe  central  soll  nach  Gratiolbt«  etwas  Charakteristisches, 
Mos  den  affenartigen  Säugethieren  Zukommendes  darstellen  >). 

Der  Lobe  central  oder  die  Insula  6ndet  sich  jedoch  auch  bei  den 
übrigen  Säugethieren  (sowohl  bei  Carnivoren  wie  bei  Wiederkäuern] , 
ist  am  deutlichsten  bei  Embryonen  dieser  Thiere,  bei  welchen  nur  die 
Hauptwindungen  entwickelt  sind.  Bei  den  Erwacjisenen  bekommt  der 
Lobe  central  eine  oberflächlichere  Lage  und  ist  wahrscheinlich  deshalb 
von  den  anderen  Foraobem  nicht  erkannt  worden. 

Die  weitere  Differenzirung  des  Vorderhirnes  besteht  in  der  Falten-* 
bildung. 

Was  die  Entwickelung  der  Windungen  betrifft,  so  bin  ich  durdi 
meine  auf  embryologischem  Wege  gewonnenen  Resultate  zu  anderen 
Ansichten  gekommen  als  Lburet'')  und  Gratiolbt  ^j,  die  sich  mit  diesen 
Bildungen  beschäftigt  haben.  Sie  nehmen  mehrere  selbständige  Typen 
von  Hirnwindungen  an. 

Man  kann  aber  nachweisen,  dass  sämmtliche,  wenn  auch  noch  so 
complicirte  Windungsbildungen  auf  einen  gemeinschaftlichen 
Grundtypus  reducirt  werden  können,  weil  die  embryonale 
Anlage  der  Hauptwindungen  bei  sämm tliohen  dieselbe  ist^). 

Zwischen-  und  Hittelhim  zeigen  auch  bei  Säugethieren  eine  enge 
Verbindung;   das  Zwischenhirn   behält  im  erwachsenen  Säuge- 


1)  PiERU  Gratiolit,  Anatomie  ct>mpar^e  dusystdmc  ncrveux  1857.  T.  II.  p.H2. 

Z)  Anat.  comp«  da  syst,  nerveux  4889.  T.  I. 

8)  Memoire  sur  les  plis  c^r^braux  de  I'homme  et  des  primates.  p.  111. 

4}  Der  Forscher ,  der  sich  am  meisten  mit  den  Hirnwindungen  bei  StfugeUiie- 
ren  beschäftigte,  war  Leurkt;  er  wie  auch  die  übrigen  Forscher  benutzten  bei 
ihren  Untersuchungen  blos  Gehirne  erwachsener  Sttugethiere,  und  indem  sie  die 
Entwickelung  der  Windungen  vemachlfissigten ,  gelangten  sie  nicht  tum  Auffinden 
einer  Grundform,  die  fUr  alle  Windungstypen  gelten  könnte.  Sie  musslen  sich  des- 
halb begnügen  mit  dorn  Feststellen  von  homologen  Windungen  blos  für  elnielae 
S&ugetbiorgruppen  und  kamen  dadurch  zur  Annahme  mehrerer  Windungstypen. 
—  Bei  meinen  Untersuchungen  bemühte  ich  mich,  die  Entwickelung  der  Windun- 
gen zu  studiren.  So  fand  ich  auch ,  dass  bei  allen  Säugethieren  die  primHren  Fur- 
chen dieselben  sind  oder  dieselben  Beziehungen  zu  einander  zeigen.  Dieser  em- 
bryologische Weg  ist  auch  der  einzige  zum  Auffinden  wirklich  homologer  Furchen, 
weil  aus  einer  gemeinschaftlichen  Anlage  durch  verschiedenes  Wachsthum  die  eln- 
zeliien  Furchen  sich  in  einem  Falle  besonders  ausbilden,  im  andern  fast  voll8tän<tig 
in  den  Hintergrund  treten  und  so  verschiedenartige  Differenzimngsreihen  darstel- 
len, die  mehr  oder  weniger  den  Windungstypen  Lbytret's  entsprechen,  aber  durch 
die  gemeinschaftliche  Anlage  im  Zusammenhang  stehen. 


56S  ^  HiUuebo-Maetoy, 

thiergehirn  eine  bedeutende  Grösse,  dagegen  triUr  das  MiUelhira  sehr 
zurttck  und  wird  bei  höheren  Säugethieren  fast  rudimentSir. 

Der  Riss  der  Deckendes  Zwischenbiroes  tritt  sehr  zeitig  aaf»  als 
Rest  derselben  kann  man  mit  Bestimmtheit  die  Habenulae  und  die  sog. 
Commissura  posterior  ansehen. 

Ob  auch  die  Epiphysis  als  Rest  der  Zwischenhimdecke  gedeulei 
werden  kann,  konnte  ich  nicht  entscheiden.' 

Die  Commissura  moUis  ist  wahrscheinlich  eine  seoundäre  Bildung, 
sie  tritt  erst  bei  Säugethieren  auf  und  fehlt  dem  embryonalen  Zwischen- 
hirn, wo  die  sog.  Zwischenhirn -Ganglien  (Thalami  optici)  noch  niobt 
verbunden  sind  ^) . 

Das  Mittelhirn  ist  bei  den  Säugethieren  verhältnissmässig  klein, 
besonders  aber  bei  affenartigen  Sftugethieren ;  grösser  findet  es  sich 
bei  Beutelthieren ,  bei  welchen  auch  die  grosse  Höhlung  des  embryo- 
nalen Mittelhirns  nicht  auf  den  unansehnlichen  Aquaeductus  Sylvii,  wie 
bei  höheren  Säugethieren  reducirt  wird.  Die  cbarakterisüschen  Aus- 
buchtungen des  hinteren  TheUs  des  Mittelhirnventrikels  (die  bei  Sela- 
chiern,  Amphibien,  Vögeln  sich  finden]  fehlen  bei  Säugethieren,  wenig- 
stens im  Jugendalter,  nicht. 

Das  Hinterhirn  erlangt  bei  den  Säugethieren  eine  bedeutende 
Entfaltung,  geht  aber  eine  andere  Differenzirung  ein,  als  das  der  Repti- 
lien und  Vögel.    Während  dort  der  mittlere  Abschnitt  (Wurm)  beson- 
ders entwickelt  ist,  sind  es  die  seitlichen  Theile  (sog.  Hemisphären] 
des  Hinterhirnes,  die  hier  zur  Entfaltung  gelangen. 

Wenn  wir  die  Hirnbildungen  der  Säugethiere  kurz  überblicken, 
so  finden  wir,  dass  bei  diesen  das  Vorder-  und  Hinterhirn  sich 
besonders  entfalten,  während  das  Zwischenhirn  und  vor 
allem  das  Hittelhirn  sehr  reducirt  wird. 


Aus  dem  vorher  Besprochenen  kommen  wir  zum  Schluss,  dass  aus 
einer  gemeinschaftlichen  Anlage  die  Gehirne  der  verschiedenen  Wirbel- 
tfaierclassen  verschiedenartige  Differenzirung   eingehen, 


1)  Trotz  der  oben  ausgesprochenen  Ansicht  über  die  Bildung  der  Gomm.  mol- 
lis  bei  Säugethieren  betrachte  ich  diese  Frage  als  eine  offene.  —  Es  könnte  dennoch 
sein ,  dass  die  Corom.  moll.  ein  Rest  einer  primären  Verbindung  wäre  (der  Decke 
des  Zwischenhirnes  z.  B.).  Dafür  hatte  eine  Beobachtung  gesprochen :  bei  einem 
Handsembryo  schien  mir  die  Gomm.  moll.  mit  der  sog.  Gomm.  post.  verbunden  lu 
sein  und  so  eine  Decke  des  Zwischenhirnes  zu  bilden ;  die  Zahl  der  mir  bekaonieo 
Facta  sprechea  jedoch  für  die  oben  mitgetheilte  Ansteht,  an  welche  ich  mich  noch 
jetzt  anschliessen  rouss. 


Beitrag  tor  rergleicIieiideB  ADatonie  des  GeJMiles.  569 

t' 

indem  in  einer  Abtheilung  gewisse  BirnabschniHe  zur  Entfaltung  kom- 
men,  die  in  einer  anderen  Thiei^ruppe  nursehr  wenig  oder  ganz  an- 
ders differenzirt  sind.  Oder  kurz  ausgedrückt,  die  Gehirne  verschie- 
dener Wirbelthierabtheilungen  sind  einseitige  Differenzirungen 
einer  gemeinschaftlichen,  allen  Vertebraten  zukom- 
menden Anlage. 

Da  aber  diese  Differenzirungen  verschiedenartige  sind ,  so  können 
wir  keinen  gemeinschaftlichen  Maassstab  fttr  die  Gehirn- 
entwickelang  der  verschiedenen  Wirbelthiergruppen  aufstellen  und 
deshalb  scheint  es  mir  vollkommen  unberechtigt,  in  der  Entfaltung 
Eines  Himabschnittes  (z.  B.  des  Vorderhirncs)  oder  in  der  Näherung 
zum  Säugethiertypus  einen  solchen  zu  suchen. 

Diese  auf  morphologischem  Boden  gewonnenen  Resultate  dürf- 
ten auch  der  Physiologie  von  Interesse  sein ,  sie  könnte  daraus  Urnen, 
dass  auch  im  Gehirne  die  homologen  Theile  keine  Analoga  sind  und 
dass  auch  in  einer  Differenzirungsreihe  die  Homologa  selbst  in  einem 
Falle  indifferenter,  /im  andern  differenzirter  sein  können, 
(Mittelhirn  bei  Amphibien  und  Vögeln  z.B.);  dass  «lusserdem  die  homo- 
logen Theile  verschiedenartige  Differenzirung  eingehen  können 
)Mittelhim  der  Vögel  und  Säugethiere  z.  B.). 

Auch  die  Psychologen  könnten  daraus  erfahren,  dass  die  DiffTcren- 
zirung  des  centralen Nervensystemes  bei  den  Vertebraten  keine  Stu- 
fenleiter darstellt,  auf  der  das  menschliche  Gehirn  den  allseitig  voll- 
kommensten Zustand  bildet,  indess  die  übrigen  Thiere  mehr  oder  we- 
niger Ausbildungsgrade ^]  vorstellten;  dass  also  der  Unterschied 
der  Gehirnbildungen  kein  blos  quantitativer,  sondern 
auch  ein  qualitativer  ist  und  dass  die  verschiedenartigen  Gehim- 
formen  selbständige  Differenzirungen  einer  allerdings  gemein- 
schafUichen  Grundlage  bilden. 

Jena,  den  U.Juli  4868.' 


1)  Dieser  Ansicht  passien  die  Resoliate,  zu  denen  der  verdienstvolle  TiEDiUAvif 
durch  die  Vergieichung  der  Hirnbildttogen  der  Vertebraten  gekommen  ist ;  er  resu- 
mirt  sie  folgeudermassen : dass  das  Hirn  im  Embryo  und  Fötus  (beim  Men- 
schen] die  Hauptbildungsstttfen  durchlfiuft,  worauf  das  Hirn  der  Thiere  das  ganze 
Leben  hindurch  gehemmt  erscheint  (Tiedinavii  ,  Anatomie  und  Bildungsgeschichte 
des  Gehirnes  im  Fötus  des  Menschen  nebst  vergleichender  Darstellnng  des  Hirn- 
baues bei  den  Thieren.  Nürnberg  4849.  p.  VI). 

Ich  brauche  diese  Ansicht  nicht  zu  widerlegen  und  erwtthne  sie  blos  deshalb, 
weil  sie  meines  Wissens  die  einzige  allgemeine  Betrachtung  der  HirnbiMungen  bei 
Vertebraten»  die  von  competenter  Seite  ausgesprochen,  ist  und  die  noch  scheinbar 
viele  Anhänger  besitzt. 


IJebw  die  BiMug  der  AetJiylessigsäve  us  Aethyldiaeetoäwre 


von 

A.  Oeufher. 


Bereits  im  Jahre  1865  habe  ich,  gestützt  auf  meine  Untersuchungen 
über  die  Einwirkung  des  Natriums  auf  Essigäther  die  von  FRAifKLANo 
und  DuppA  durch  Wechselwirkung  von  lodaethyl  und  dem  unmittel- 
baren Product  jener  Reaction  (ein  Gemenge  von  aethyldiacetsaureni 
Natron  und  Natriumalkoholat]  erhaltenen  Äether  der  Aethylcssigsäure, 
der  Diaethylessigsäure  und  der  Diaethyldiacetsüure  für  secundäre 
Producte  erklärt^).  Ich  habe  damals  gezeigt,  wie  sie  aus  dem  Natron- 
salz der  Aethyldiacetsäure  und  Natriumalkoholat  und  später  iSdö^)^ 
wie  sie  aus  letzterem  und  dem  Aether  der  Aethyldiacetsäure  hervor- 
gehen können.  Darauf  habe  ich  \  868  durch  neue  Gründe  diese  Ansicht 
zu  stützen  versucht  und  dabei  erwähnt,  dass  bei  der  Bildung  der 
Aethylessigsäure  aus  Natriumalkoholat  und  Aethyldiacetsäure  Aether 
der  bei  den  Versuchen  von  Fr.  und  D.  gleichzeitig  anwesende  Essig- 
äther mit  betheiligt  sein  kann  ^) . 

Es  lassen  sich  dann  bei  zwei  verschiedenen  Mengenverhältnissen 
drei  Arten  der  Einwirkung  denken : 

I.  C6H»(C2II5)03  +  2C2H5NaO  -h  2G^Ü^CnV]0^  = 

=  C4H7(C2H5)02  4-  C6Hii(C2Hs)02  -h  2C2H^Na02  -§-  C^H'^O. 
IL  C«H«(C2H5)0«  -f-  C2mNaO  +  C2H3(C2H5)02  = 

=  C^H«'(G2Il"i)03  -f-  C2H60  +  C2IPNa02. 
III.  CölP(C2Ii5)03  4-  C2H5NaO  +  C2H3(C2H5)02  s= 

«  2C^H7(C2U5)02+  C2H^Na02.4) 
Ich  habe  Versuche  mit  beiden  Mengenverhältnissen  angestellt. 


i)  Diese  Zeitschria  Bd.  II  p.  449. 

2)  Ebend.  Bd.  III  p.  298  u.  Zcilschria  f.  Chemie  N.  F.  Bd.  II  p.  444 

3)  Zeitschrift  f.  Chemie  N.  F.  Bd.  IV.  p.  60. 

4)  O  s  46. 


Deber  die  BiMaiig  der  AetbytesstgsJltire  ans  AethyMiaAtsiliire.  571- 

1.  Versuch:  Angewandt  wurden  43  grm.  ganz  reiner  Aethyl- 
diacelsttum-Aeiher  (4  Mgt.),  45V2  grm.  Essigttiher  (%  Mgt.)  und  441/2 
grm.  Nairiumalkohoiai  [t  Mgl.). 

Auf  das  in  einem  Wasserstoflblroni  bereitete  und  darin  durch 
schlieaslidies  Eriutcen  bis  4  40^  völlig  vom  Alkohol  befreite  Natriumalko- 
holat  wurden  die  beiden  Aether  gegossen,  zuerst  der  Aethyldiacetsäure- 
Aetber  und  dann  der  Essigsäure-Aether  und  das  Rohr  zugeschmolzen. 
Unter  Wärmeentwicklung,  die  schon  begann,  als  der  erstere  Aetber  noch 
allein  mit  dem  Natriumalkoholat  zusammen  war,  löst  sich  beim  Um- 
schtttteln  allmählich  der  grössteTheil  des  Natriumalkoholats,  dabei  tritt 
eine  schwache  Gelbfärbung  und  geringe  Absdieidung  von  essigsaurem 
Natron  ein.  Als  die  völlige  Lösung  des  Natriumalkoholats  durch  gelinde 
Wärme  bewirkt  worden  war,  wobei  die  Abscheidung  von  essigsaurem 
Natron  zunahm,  blieb  nach  dem  Kaltwerden  Alles  in  Lösung.  Das  Rohr 
wurde  nun  4  Y2  Stunde  auf  4  40®  erhitzt.  Dabei  fand  reichliche  Bildung 
von  essigsaurem  Natron  statt,  die  sich  beim  weiteren  Ssttindigen  Er- 
hitzen auf  420<>  noch  vermehrte.  Der  flüssige  Inhalt  hatte  eine  röthlich- 
gelbe  Farbe  angenommen.  Beim  Oefihen  des  Rohrs  war  kein  Druck 
zu  bemerken.  Der  Inhalt  wurde  mit  wasserfreiem  Aether  in  einen 
Cylinder  gespült  und ,  da  die  Hasse  sehr  voluminös  breiig  geworden 
war  und  ein  Filtriren  nicht  gestattete,  zudem  auch  alkalische  Reaction 
besass  mit  der  für  das  angewandte  Natrium  sich  berechneten  Menge 
reiner  Essigsäure  (verdünnt  mit  dem  doppelten  Volumen  Wasser]  ver- 
setzt und  durchgeschüttelt.  Dabei  löste  sich  Alles  und  das  Ganze  trennte 
sich  in  eine  wässrige  und  eine  ätherische  Lösung.  Die  letztere  hinter- 
Hess  nach  dem  Abdestilliren  des  Aethers  und  noch  vorhandenen  Essig- 
äthors  im  Wasserbade  eine  gelbgefärbte  Flüssigkeit,  welche  der  fractio- 
nirten  Destillation  unterworfen  wurde.  Es  wurde  gesammelt  der  zwi- 
schen 445  und  435<),  der  zwischen  435  und  475^  und  der  zwischen  475 
und  495<^destiUirendeTheil.  lieber  495<>  ging  fast  nichts  mehr  über 
und  in  der  Retorte  blieb  eine  dunkle  harzartige  Masse.  Die  beiden 
ersten  Portionen  wurden  zur  Entfernung  von  überschüssiger  Essigsäure 
wiederholt  mit  Wasser  und  später  mit  kohlensaurem  Natron  gewaschen. 
Da  vorzüglich  das  erstere  Product  einen  dem  Buttersäureäther 
ähnlichen  Geruch  besass ,  es  aber  noch  unveränderte  Aethyldiacet- 
säure  beigemengt  enthalten  konnte,  so  wurde  mit  dieser,  sowie  mit  der 
2.  Portion  so  verfahren ,  wie  FaAifKLAin>  und  Dippa  i)  es  angeben ,  sie 
wurde  nämlich  einige  Zeit  mit  Barytwasser  gekocht.  Freilich  wurde 
vermuthet,  dass  dabei  auch  ein  mehr  oder  weniger  grosser  Theil  von 


4)  Annal.  d.  Chem.  a.  Pharm.  Bd.  188.  p.ssi. 


572  L  Geftttoi 

Aethylessigsäure-Äether,  wenn  solcher  entsland^n  war ,  mit  zersetzt 
werden  würde,  was  die  nachfaerige  Untersuchung  der  wässrigen  Flüs- 
sigkeit völlig  bestätigte.  Das  nach  dieser  Behandlung  übrig  gebliebene 
und  mit  den  Wasserdämpfeh  überdestiHirte,  auf  Wasser  sdiwimmende 
ölförmige  Product  der  1 .  Portion  wurde  nach  dem  Trocknen  ttberClilor- 
calcium  abermals  fractionirt.  Der  grösste  Theil  ging  zwischen  14  9  und 
130^  über,  ein  kleinerer  zwischen  140  und  450^  Das  zwischen  4  49 
und  4  22<^  Destillirende,  welches  einen  ganz  ähnlichen  nur  angenehme- 
ren  Geruch ,  wie  der  Buttersäure- Aether  besass,  gab  bei  der  Analyse 
folgende  Zahlen : 

0,4738  grm.  lieferten  0,3744  grm.  Kohlensäure  und  0,4649  grm. 
Wasser,  entsprechend  0,402027  grm.  s  58,7  Proc.  Kohlenstoff  und 
0,048322  grm.  ==  40,5  Proc.  Wasserstoff. 

Der  Aethylessigsäure-Aether  verlangt:  62,4  Proc.  Kohlenstofl*  und 
40,3  Proc.  Wasserstoff. 

Um  die  Verbindung  im  reineren  Zustande  zu  erhalten,  wurde  die 
geringe  übrig  gebliebene  Menge  nochmals  rcctificirt  und  das  zwischen 
4  49  und  422^  DestiUirende  abermals  analysirt. 

0,2039  grm.  gaben  0,4272  grm.  Kohlensäure  und  0,4955  grm. 
Wasser,  entsprechend  0,4  4  651  grm.  =5  57,4  Proc.  Kohlenstoff  und 
0,024722  grm.  »  40,6  Proc.  Wasserstoff. 

Das  zwischen  4  40  und  150®  Destillirende  wurde  gleichfalls  ana> 
lysirt : 

0,4749  grm.  davon  gaben  0,3852  grm.  Kohlensäure  und  0,4702 
grm.  Wasser,  was  0,4  0506  grm.  s=  61 ,4  Proc.  Kohlenstoff  und  0,04894  4 
grm.  as  44,0  Proc.  Wasserstoff  entspricht. 

Der  bei  4  54  0  siedende Diaethylessigsäureaether  verlangt:  66,7  Proc. 
Kohlenstoff  und  4  4,4  Proc.  Wasserstoff. 

Da  also  seine  Producte  durch  fractionirle  Destillation  der  geringen 
Substanzmenge  wegen  nicht  zu  erhalten  waren  und  die  Untersuchung 
der,  nach  dem  Kochen  mit  Barytwasser  übrig  bleibenden  wässrigen 
Flüssigkeil,  als  sie  mittelst  Kohlensäure  vom  überschüssigen  Baryt  be- 
freit worden  war ,  ergab ,  dass  sie  ein  nach  dem  Eindampfen  (zuletzt 
über  Schwefelsäure)  in  breiten  Nadeln  wasserfrei  kryslallisirendes,  in 
Wasser  loicht  lösliches  Barytsalz  (1.)  enthielt,  welches  nicht  essigsaurer, 
sondern  fast  reiner  aethylessigsaurer  Baryt  war  —  es  enthielt  28, 6  Proc. 
Kohlenstoff,  4,7  Proc.  Wasserstoff  und  43,0  Proc.  Baryu^i  — ,  so  wurde 
der  übrig  gebliebene  Theil  des  zwischen  4  49  und  425^  sowohl,  als  des 
zwischen  425  und  4  50  ^  Ueberdestillirlen  mit  Barythydrat  im  lieber- 
schuss  in  Röhren  eingeschlossen  und  im  Wasserbade  bis  zur  völligen 
Zersetzung  des  Aethers  erhitzt.    Bei  der  zweiten  Portion  vornehmlich 


Ueber  die  Bildnng  der  Aelhylessigslnre  aos  Aetlyldia^tsftare.  573 

blieb  ein  Theil  eines  öKgen  Körpers  unzersetzt ,  welcher  mit  Wasser- 
dttinpfen  ttberdestillirt  und  nach  dem  Entwässern  über  Chlorcaicium 
analysirt  wurde.  Seine  Bfenge  war  nur  sehr  gering ,  sie  wurde  ganz 
zur  Analyse  verbraucht,  sein  Siedepunct  lag  bei  etwa  1 50  ^ 

0,0884  grm.  gaben  0,2004  grm.  Kohlensäure  und  0,0889  grm. 
Wasser,  entsprechend  0,054655  grm.  as  66,3  Proc.  Kohlenstoff  und 
0,009878  grm.  =  42,0  Proc.  Wasser. 

Damach  könnte  es  noch  etwas  wasserhaltiger,  durch  Barytwasser 
schwerer  zersetzt  werdender  Diaethylessigsäure-Aether,  dessen  Siede- 
punct bei  4 51  <^  liegt,  gewesen  sein.  Derselbe  verlangt  nämlich  66,7 
Proc.  Kohlenstoff  und  41,4  Proc.  Wasserstoff.  Aus  den  erhaltenen  wüs~ 
serigen  Lösungen  wurde  der  ttberschtlssige  Baryt  mittelst  Kohlensäure 
entfernt  und  nach  dem  Eindampfen ,  zuletzt  über  Schwefelsäure ,  die 
Salze  in  breiten  Nadeln  krystallisirt  erhalten. 

Das  aus  der  von  4  49  und  425®  destillirten  Portion  erhaltene  Baryt- 
salz (11.)  ergab  bei  der  Analyse  die  folgenden  Zahlen : 

0,2422  grm.  lieferten  0,4563  grm.  Barytsulfht,  entsprechend  0,949 
grm.  as  43,3  Proc.  Baryum. 

0,3433  grm.  lieferten  0,3324  grm.  Kohlensäure  und  0,4407  grm. 
Wasser,  entsprechend  0,090656  grm.  »  26,4  Proc.  Kohlenstoff  und 
0,045633  grm.  oa  4,6  Proc.  Wasserstoff.  Dazu  noch  der  an  Baryt  ge- 
bunden bleibende  Kohlenstoff:  3,8  Proc,  macht  in  Summa  30,2  Proc. 
Kohlenstoff. 

Das  aus  der  zwischen  425  und  450<^  destillirenden  Portion  erhal- 
tene Barytsalz  (111.)  ergab  einen  Baryumgehalt  von  44,9  Proc. 


«rii  ain  Aaftk  vIaaa  ltt# 

gefanden 

Baryamdiaetliylacetal 
ber. 

y  uuiaoiu  j  WHX?  Hl » 

ber. 

I.          II. 

III. 

C*  -  30,8 

28,6     30,8 

— 

39,2  SS  C« 

H'-    4,5 

4,7       4,6 

— 

6,0  =  U» 

Ba  s  44,1 

43,0     43,3 

41,9 

.          37,3  «  Ba 

02  »  20,6 

—        — 

— 

47,5  a  02 

400,0  400,0 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ergiebt  sich  also  mit  Sicherheit,  dass 
das  Barytsalz  11.  wirklich  aethyldiacetsaurer  Baryt  war  und 
demzufolge  die  ursprünglich  erhaltene  zwischen  449  und  422^  destil- 
lirende  Flüssigkeit  zum  grOssten  Theil  aus  Aethyldiacetsaure- 
Aether  bestand,  dass  also  Aethyldiacetsäure-Aether  durch 
Natriumalkoholat  unter  Mitwirkung  von  Essigsäure- 
Aether  wirklich  in  Aethyldiacetsäure-Aether  überge- 
führt werden  kann. 


574  A*  (tMOlwr, 

Nicht  ganz  sicher  ist,  ob  audi  0iaelhylessig8äure-*Aeiher 
mit  entstanden  ist,  obwohl  die  Analyse  der  beim  Behandeln  mit  B«r>  l- 
hydrat  übrig  bleibenden  Flüssigkeit,  sowie  der  geringere  fiaryumgefaali 
des  Salzes  111.,  welcher  einem  Gemisch  von  aethyl-  und  diaelhylessig- 
sauren  Barvt  zukommen  wttrde,  auf  seine  Anwesienheit  Biemlieli  sieber 
hinweist.  Seine  Menge  würde  indess  im  Verhältnias  au  der  des  ent- 
standenen Aethylessigsäure-Aethers  immerhin  nur  unbedeuland  zu 
nennen  sein. 

Diaethyldiacetsäure-Aether  ist  wahrscheinlich  gar  nicht 
vorhanden  gewesen,  denn  dieaer  destillirt  zwischen  240  und  ^4*2^: 
es  war  aber  schon  bei  1 95  <^  alles  DestilUrbare  übergegangen  und  bei 
wiederholter  Rectification  der  Portion  4  50  —  1 95  ^  ging  fast  alles  zwi- 
schen 175  und  180®  über,  indem  ein  geringer,  beim  Erkalten  krystal- 
lisirender  Rückstand  von  Dehydracetsäure  (der  Schmelzpunci  und 
das  übrige  Verhalten  der  Säure  stimmte  genau)  blieb.  Das  zwischen 
175  und  1 80  0  Destillirle  war  nur  Aethyldiaoetsäure,  ohne  den  angc^ 
wandten  Aether  derselben,  denn  beim  Behandeln  derselben  mit  Bary  t- 
hydrat  in  der  Wärme  wurde  nur  Aceton,  kein  Aetiiylaceton  erhalten. 

2.  Versuch:  Es  wurden  angewandt :  20  grm.  Aeihyldiaoetsaure- 
Aether  (1  Mgt.)»  12  gi*m.  Essigaether  (1  Mgt.)  und  8V2  grm*  Natrium- 
alkobolat  (1  Mgt.},  und  im  üebrig^n  wie  im  1.  Versuch  verfahren.  Das 
Verhallen  war  entsprechend.    Die  Menge  essigsauren  Natroos»  weJefae 
sich  nach  dem  Erhitzen  des  Rohrs  auf  120  ^  gebildet  hatte,  schien  eiwas 
geringer  und  die  Färbung  des  Inhalts  war  etwas  i*tfthIioher  ab  im 
1.  Versuch.    Nachdem  der  Röhreninhalt  mit  Aether  in  einen  GyUnder 
gespült  und  mit  der  für  das  angewandte  Natrium  berechneten  Menge 
reiner  Essigsäure  (mit  dem  doppelten  Volum  Wasser  verdünnt)  versetzt 
war,  wurde  die  Htherische  L6sung  im  Wasserbade  vom  Aether  befreit. 
Der  dabei  bleibende  flüssige  Rückstand,  Welcher  bedeutender  war,  als 
im  1 .  Versuch ,  wurde  sofort  wiederholt  mit  Wasser  und  nachlier  mit 
reiner  Sodalösung  gewaschen,  darauf  entwässert,  wiederholt  fractionirt 
und  zunächst  das  zwischen  118  und  130<^,  das  zwischen  130  und  160<^, 
das  zwischen  160  und  175^  und  das  zwischen  175  und  200^  Destilii- 
rende  je  für  sich  gesammelt. 

Die  Menge  des  aus  der  I.  Portion  erhaltenen  zwischen  119  und 
123^  Destillirenden  war  etwa  noch  einmal  so  gross ,  als  im  4 .  Versuch 
und  betrug  circa  8  grm.  Das  zwischen  118  und  1 19<>,6  und  das  zwi- 
schen 119<^,5  — 121  <>  daraus  durch  Destillation  erhaltene  wurde  je  für 
sich  gesammelt  und  analysirt. 
Sdp.  118—1190,5. 
0,223  grm.  gaben  0,4931  grm.  Kohlensäure  und  0,2a82.grra.  Was- 


Ueber  die  BiUa^g  to  Mii]flM8igiliie  wb  AelkyMiileetsllare.  575 


ser,  entsprechend  0,13448  grm.  »  60,3%  Kohlenstoff  und  0,023133 
grm*  SS  40,4  Proc.  Wasserstoff. 

Sdp.  4  49,5—4210. 

0,4834  grm.  gaben  0,4085  gnn.  Kohlensäure  und  0,4795  grm. 
Wasser,  entsprechend  0,44444   grm.  ==  60,8  Proc.  Kohlenstoff  und 

0,04946?  grm.  =s  40,5  Proc.  Wasserstoff. 

« 

Dieses  Product,  welches  in  seinen  sonstigen  Eigenschaften  voll- 
kommen mit  den  betreffenden  des  4 .  Versuchs  übereinstimmte,  ist  also 
fast  reiner  Aethylessigsäure-Aether.  Es  konnte  hier,  da  seine 
Menge  bedeutender  als  im  4 .  Versuch  war,  durch  fractionirte  Destilla- 
tion in  reinerem  Zustande  als  dort  erhalten  werden. 


Aethylessigsättre- 
Aether 
ber. 

4.  Versuch 

%.  Vereuch 

C«s=  62,4 

58,7     57,4 

60,3     60,8 

H«=  40,3 

40,5     40,6 

40,4     40,5 

02=  27,6 

—        — 

—        — 

400,0. 

Ich  habe  es  nicht  fdr  nOthig  gehalten ,  auch  hier  wieder,  wie  es 
beim  4. Versuch  geschehen  ist,  aus  dem  Aether  das  Barytsalz  der  Aethyl- 
essigsaure  darzustellen,  da  dieses  dort  schon  bei  einem  nicht  so  reinen 
Product  wie  hier  rein  erhalten  worden  war. 

Aus  der  zwischen  4  30  und  4  60  0  destillirenden  Portion  wurde  das 
von  4  50 — 4  OO^'  übergehende  gesammelt  und  mit  überschüssigem  Bar>tr- 
hydrat  und  Wasser  im  verschlossenen  Rohr  bei  4  00  ^^  zersetzt.  Es  bil- 
dete sieh  viel  kohlensaurer  Baryt.  Die  nach  dem  Entfernen  dos  über- 
schüssigen Baryts  durch  Kohlensäure  erhaltene  Flüssigkeit  lieferte  nach 
dem  Eindampfen ,  zuletzt  über  Schwefelsäure  ein  amorphes ,  durch- 
sichtiges, inJWasser  sehr  leicht  losliohes  Salz,  dessen  Analyse  folgendes 
Resultat  ergab. 

0,3424  grm.  gaben  0,2362  grm.  Baryumsnlfat,  entspr.  0,43888 
grm.  aa  44,5  Proc.  Baryum.  Ferner  lieferten  0,4899  grm.  desselben 
0,4404  grm.  Kohlensäure  und  0,482  grm.  Wasser,  entspr.  0,420409 
grm.  »'24,5  Proc.  Kohlenstoff  und  0,020222  grm.  ss  4,4  Proc.  Was- 
.  serstoff.  Dazir  kommen  noch  3, 9  Proc.  Kohlenstoff,  der  an  Baryum  ge- 
bunden zurüdiblieb,  also  in  Summa  28, 4  Proc.  Kohlenstoff. 

Darnach  scheint  diess  Salz  der  Hauptsache  nach  aethylessigsaurer 
Baryt  gewesen  zu  sein,  gemengt  wahrscheinlich  mit  etwas  essigsaurem 
Baryt;  diaethylessigsauren  Baryt  kann  es  nicht  wohi  enthalten  haben. 


576  '  A*  CSMtker,  MMmg  der  Aethytetslgtlm. 


Baryomaethylacetat 
ber. 

gef. 

Barynaiaeetat 
ber. 

C*  =  30,8 

28,4 

18,8 

W  =     4,5 

i.1 

8,» 

Ba  »  44,1 

44,5 

53,8 

0«  =  20,6 

25,0 

100,0  ,  100,0 

Wfliiim  das  Salz  nicht  krystallisirt  erhallen  werden  konnte,  selbst 
nach  wiederholtem  langsamen  Eindunsten  seiner  Lösung  ttber  Scfai^e— 
felsfture,  und  auch,  nachdem  es  aus  der  Portion ,  welche  zur  Baryt- 
bestimmung verwandt  (durch  Neutralisation  des  vom  schwefelsauren 
Baryt  abgelaufenen  Filtrats  mit  kohlensaurem  Baryt),  wiedergewonnen 
worden  war,  vermag  ich  nicht  anzugeben. 

Eine  Bildung  von  Diaethylacetsäure-Aether  konnte  in  diesem  Ver- 
such also  auch  nicht  in  geringer  Menge  stattgehabt  haben.  Ebensowenig 
scheint  Diaethyldiacetsäure-Aether  entstanden  zu  sein,  denn  die  über 
1 80  <>  siedende  Portion  verringerte  sich  nach  wiederholtem  Rectificiren 
immer  mehr,  indem  sie  dabei  in  niedriger  siedende  Aethyldiacetsäure 
und  zurückbleibende ,  beim  Erkalten  krystallisirende  Dehydracetsäure 
zerlegt  wurde.  Als  der  letzte  Rest  dann  mit  Barythydrat  und  Wasser 
bei  100®  im  verschlossenen  Rohr  zersetzt  wurde,  entstand  viel  gewöhn- 
liches Aceton ,  aber  nur  eine  Spur  durch  gesättigte  Chlorcaiciumlösung 
Abscheidbares,  das,  dem  Geruch  nach  zu  urtheilen,  wohl  Aethylaoeton 
gewesen  sein  wird. 

Die  Umsetzung  der  Educte  im  2.  Versuch  entspricht  der  eingangs 
unter  111.  aufgeführten  möglichen  Gleichung  vollkommen,  die  Umsetzung 
im  I.Versuch  dagegen  scheint,  zum  Theil  wenigstens,  nach  der  unter 
I.,  hauptsachlich  aber  auch  nach  der  unter  III.  aufgeführten  Gleichung 
veriaufen  zu  sein.  Da  es  mir  hauptsächlich  bei  diesen  Versuchen  auf 
den  Nachweis  der  Bildung  von  Aethyl-  oder  Diaethyl-Essigsäure 
aus  Aethyldiaoetsäure  ankam ,  so  habe  ich  weitere  Versuche ,  um  die 
günstigsten  Bedingungen  ihrer  Bildung  zu  erfahren,  nicht  angestellt. 

Nachdem  ich  also  früher  die  Verwandlung  des  Essigäthers  mit 
Hülfe  des  Natriumalkoholats  in  aethyldiacetsaures^Natron  kennen 
gelehrt  >)  und  eben  die  Umwandlung  des  Aethyldiacetsäure-Aethers  mit 
Hülfe  des  Natriumalkoholats  und  des  Essigäthers  in  AethyTessig- 
säure-Aether  gezeigt  habe,  ist  in  e'xacter  Weise  dargethan,  wie 
man  durch  zwei  einfache  Reactionen  von  einer  fetten  Säure  zu  ihrer 
Aethyl ....  etc.  Säure  gelangen  kann  und  es  bedarf,  glaube  ich,  nun- 
mehr keiner  weiteren  Argumentation  für  meine  Behauptung,  sowohl 

4 )  Diese  2eil8ohrift  Bd.  IV  p.  i4r. 


*  R.  S.  Sehultse,  Ueber  die  n«rbenf5mil(^o  Streifen  in  der  HaiiNes  Oberschenkels.     577 

was  die  Constitution  der  Aetfayldiacetsäure  boCrifft,  als  dafür,  dass  die 
Aethyl-  und  Diaelhylessigsäure ,  sowie  die  Diaetbyldiacetsäure  Zer- 
setzungsproducte  jener  sind.  Man  wicd  gleichzeitig  auch  darüber  klar 
werden,  welcher  Werth  solchen  Untersuchungen  beizulegen  ist,  aus 
welchen  die  Bildung  des  Natriumessigaethers  herrorgehen  soll  ^). 


Kleine  Mittheilungen. 


lieber  die  juurlieiftniigeM  Streifei  in  der  last  des  Ober* 

B^ettkelfl. 


Von 

B.  S.  Sohnltse. 


Bekanntlich  enUteben  wttbrend  des  letzten  Drittels  der  Schwangerschaft ,  na- 
mentlich der  ertteo  Schwangerschaft  des  Weibes,  in  der  Hant  des  Bauches,  meist 
ungefähr  parallel  der  Ingninalfalte  verlaufend,  röthlich  durchscheinende,  selten  pig- 
mentirte,  kurze  Stueifen,  welche  bald  nach  der  Geburt  ihr  röthliches  Ansehen  verlie- 
ren, als  weissglfinzende  Streifen  permanent  bleiben ,  und  als  solche  namentlich  bei 
erneuter  Ausdehnung  des  Unterleibes  wieder  in  die  Augen  fallen.  Dieselben  rühren 
von  einem  Auseinanderweichen  der  Faserzüge  in  den  oberen  Schichten  der  Cutis  her 
und  ihre  Entstehung  wird  der  Spannung»  welche  die  Haut  des  Unterleibes  durch 
die  Schwangerschaft  erleidet,  zugeschrieben.  Ganz  gleiche  Streifen  entstehen  be- 
kanntlich auch  bei  Ausdehnung  des  Leibes  durch  anderweite  Tumoren  und  auch 
an  der  Haut  anderer  Theile  wahrend  subacut  stattfindender  bedeutender  Schwellung 
der  von  ihr  umschlossenen  Gebilde ,  so  bei  bedeutenden  Oedemen,  bei  schneller 
Entwicklung  eines  bedeutenden  Pannioulus,  bei  bedeutender  Volumszunahme  der 
Mammae. 

Die  Geburtshelfer  wissen,  dass  die  Entwicklung  der  genannten  Streifen  bei 
manchen  schwangeren  Frauen  früher,  bei  anderen  spater,  bei  manchen  spHrlich, 
bei  anderen  sehr  reichlich  stattfindet,  ohne  dass  die  Bedingungen  dieser  Differenzen 
in  den  einzelneo  Fallen  jedesmal  nachweisbar  waren ,  dass  ferner  in  manchen  FZI- 
len  erster  Schwangerschaft  auch  bei  bedeutender  Ausdehnung  und  Spanirang  des 
Leibes  keine  Streifen  sich  entwickeln,  dass  in  anderen  Fällen  dieselben  fast  den 
ganzen  Unterleib  bedecken  und  sich  bis  auf  die  hintere  Hautbekleidung  des  Unter- 
leibes und  des  Beckens  erstrecken. 

Häufig  finden  sich  die  genannten  Streifen  auch  an  der  Vorderfläche  der 
Oberschenkel.  Diese  Streifen  am  Oberschenkel  sind  auch  in  einigen  Hand- 
büchern der  Geburtshilfe  erwähnt,  so  bei  SrÄra  und  bei  Sgahzoni,  welche  beide  sich 
dahin  aussprechen,  dass  die  während  der  Schwangerschaft  am  Bauche  entstehenden 
Streifen  sich  In  manchen  Fällen  bis  auf  die  Oberschenkel  erstrecken.  In  anderem 


4)  Siehe  Wislickhus  in  »Tageblatt  d.  4S.  Versamml.  d.  Naturf.  u.  Aorzt«  in 
Dresden  4868«  p.  185. 

Bd.  IV.  3.  ■.  4.  87 


578  ''  B.  S.  SehalUe, 

Sioae  finde  ich  die  Streifen  am  Oberschenkel  nirgend ,  und  nantentlicfa  niiigeafl  in 
anderer  Beziehung  als  zur  Schwangerschaft  erwähnt.  Ich  hielt  danach  \on  vom 
herein ,  und  so  wird  es  vielen  Coikgen  ergangen  sein ,  die  Streifen  an  den  Ober- 
schenkeln für  Effect  der  Schwangerschaft,  gerade  so  wie  die  Streifen  am  Bauche. 

Es  war  mir  nun  auffallend,  die  Streifen  am  Schenke!  weissglSnzend  wie  alte 
Streifen  zu  finden  bei  Frauen,  die  offenbar  zum  erstenmal  schwanger  und  am  Bauch 
nur  mit  neuen  rothen  Streifen  versehen  waren,  ferner  dfe  Streifen  am  Schenkel  bei 
Schwangeren  zu  finden,  bevor  solche  am  Bauche  entwickelt  waren  und  endlich 
auch  bei  weiblichen  Individuen,  die  nach  Anamnese  und  Befund  offenbar  nie  gebo- 
ren hatten ,  die  Streifen  s^n  der  Vorderfläche  der  Oberschenkel  deutlich'  a&twickell 
zu  seilen. 

Es  war  danach  offenbar,  dass  die  Streifen  am  Oberschenkel  wenigstens  in  einer 
Anzahl  von  Fällen  andere  Entstehungsursachen  als  die  während  der  Schwanger- 
schaft -am  Baüch  entstehenden  haben.  Um  diesen  anderen  Ursachen  auf  die  Spar 
zu  kommen,  suchte  ich  zunächst  die  Gelegenheit,  eine  grössere  Anzahl  nicht- 
schwangerer Frauenzimmer,  bei  denen  auch  durch  genaue  Untersuchung  constatirt 
werden  durfte,  dass  sie  nie  geboren  hätten,  auf  die  Streifen  am  Schenkel  zu  unter- 
suchen und  fand  dieselbe  auf  den  Abtheilongen  für  Syphilis  an  grösseren  Kranken- 
häusern. Ich  sage  bei  der  Gelegenheit  den  Vorständen  und  dermaligen  Assistenz- 
ärzten auf  den  syphilitischen  Abtheilungen  der  Prager,  Wiener  und  Berliner  Kran- 
kenhäuser meinen  verbindlichsten  Dank  für  ihre  geneigte  Unterstützung ,  ebenso 
auch  den  Herren  Militärärzten,  die  mir  das  später  zu  erwähnende  Untersuchung»- 
material  zugänglich  machten. 

Meine  betreffenden  Untersuchungen  liegen  mehrere  Jahre  zufück.  Ich  hatte 
gehofft ,  dieselben  zu  einem  mehr  befriedigenden  Abschlüsse  fördern  zu  können, 
finde  es  nun  aber  angemessener,  die  einstweilen  gewonnenen  Resultate  zu  ver- 
öffentlichen. 

Ich  untersuchte  in  Berlin,  Prag  and  Wien  auf  den  genannten  Abtheilunget;  lis 
Frauenzimmer  im  Alter  von  45  bis  35  Jahren  auf  die  Streifen  am  Schenkel.  Aus- 
geschlossen wurden  von  vom  herein  ältere  Frauenzimmer,  ferner  selbstverständ- 
lich schwangere  und  alle  diejenigen ,  welche  nach  ihrer  Angebe  früher  schwanger 
gewesen  oder  nach  dem  Befund  der  Bauchhaut  darauf  verdächtig  waren.  Alle  die- 
jenigen ,  bei  welchen  sich  Streifen  an  den  Schenkeln  vorfanden ,  wurden  einer  ge- 
nauen Digitaluntersuchung  unterzogen  und  auf  Grund  derselben  wurde  e  i  n  Frauen- 
zimmer, dessen  Vaginalportion  nicht  ganz  intact  erschien ,  noch  nachträgUch  ge- 
strichen. • 

Somit  umfasst  meine  Liste  S22  Frauenzimmer  im  zeugungskräftigen  Alter, 
sämmtlich  mit  straffer,  glatter,  völlig  narbenloser  Bauchhaut.  Es  kamen 
deren  zur  Untersuchung        in  Berlin    68  .       •  - 

in  Prag      47 

in  Wien     60 

(2  Jahre  später)  in  Wien     47 

Summa    222 

VoD  diesen  222  zeigten  die  bekannten  Streifen  an  der  Yorderfläche  des  Ober- 
schenkels in  Berlin    23 

in  Prag       49 

In  Wien     4  5 

in  Wien     23 

Summa     SO 


Ueber  die  narbenf5rmigen  Streiffo  in  der  Hunt  des  OtJ^schenkels.  579 

Diese  80  zeigten  auch  bei  genauer  Digifcaluntersucjlting  nicht  den  leisesten  Ver- 
dacht auf  früher  stattgehabte  Schwangerschaft. 

Also  von  Frauenzimmern,  die  sicher  ni^Tlil  vorgerückterem  Stadium  der 
Schwangerschaft  sich  befunden  hatten,  2ef|tMl  36 %  die  narbenartigen  Streifen  an 
der  Vorderfläche  der  Oberschenke). 

Wie  oft  bei  den  zu  meiner  Beobachtung  gekommenen  Schwangeren  Schenkel- 
streifen  bestanden,  habe  ich  zu  notiren  leider  versäumt.  An  einer  grossen  Anstatt, 
wie  z.  B.  in  Wien,  k^n  übrigens  in  einem  Monat  die  nöthige  Beobachtungszahl 
beigebracht  werden  /  die  ich  erst  in  Jahren  beizubringen  im  Stande  sein  würdei 
und  ich4)iUe  die  CoHegen  Braun  und  SpXtb  ,  zu  constatiren ,  wie  oft  die  Schenkei- 
streifen bei  Hochschwangeren  vorkommen.  Es  wird  sich  daraus  in  Vergleichung 
BMt  meinen  Zahlen  ergeben ,  ob  Schwangerschaft  überhaupt  ein  bedeutendes  Con- 
tingent  zu  den  Füllen,  in  welchen  Schenkelstreifen  bestehen,  stellt. 

Der  Umstand,  dass  jedenfalls  über  Vd  der  nie  hochschwanger  gewesenen  Wei- 
ber die  Schenkelstreifen  zeigten ,  legte  die  Frage  nahe ,  ob  denn  e^wa  andere  dem 
Weibe  eigenthümliche  Vorgänge  in  ursächlicher  Beziehung  zu  deren  Entstehung 
ständen,  oder  ob  bei  Männern  etwa  gleich  oft  die  Streifen  am  Schenkel  vorkämen. 

Gruppirung  der  %%%  beobachteten  und  der  80  mit  Schenkelstreifen  behafteten ' 
Frauenzimmer  nach  Wohlbeleibtheit,  AHer,  Menstmationsdaoer  und  anderen  ana- 
mnestisch  zu  ermittelnden  Umständen  ergab  so  wenig  Anhalt  für  Vermuthung  ü'ber 
die  Ursachen  der  Schenkelstreifen,  wie  a  priori  zu  erwarten  war,  und  es  wäre  völ- 
lig ohne  Belang,  die  so  gewonnenen  Listen  hieherzusetzen. 

Männer  im  kräftigen  Alter  untersuchte  ich  445  : 
4  30  syphilitische  im  altgemeinen  Krankenhaus, 
88  kranke  im  Josephinum, 

498  gesunde,  meist  sehr  wohlgenährte  Steircr  in  einer  Kaserne, 
29  Mann  von  einer  Flügelcompognie. 

Die  Streifen  am  Oberschenkel  fand  ich  bei  den  genannten  Gruppen  von  Männern 

hei  den  4  30      6mal 

-  -      88      5nial 

-  -     498      8mal 

-  -      29      8mal 
in  Summa  bei  445   27mäl. 

Die  narbenartigen  Streifen  am  Oberschenkel  finden  sich  also  viel  seltener  bei 
Männern  (O^/o)  als  bei  Weibern,  die  nie  hochschwanger  waren  (SSO/g).  Es  ist  auch 
zu  bemerken ,  dass ,  während  die  Streifen  bei  den  Weibern  ziemlich  ausnahmslos 
senkrechte  Richtung ,  von  der  Spina  ant.  sup.  oss.  Hei  fast  gerade  abwärts,  haben, 
dieselben  bei  den  Männern  weit  weniger  constante  Richtung  hatten,  auch  spärlicher 
waren  und  dass  namentlich  bei  den  8  von  den  29  Flügelmännern  die  Streifen  wei- 
ter rückwärts  am  Schenkel  gelegen  waren  und  fast  quere  Richtung  hatten. 

Wenn  wir  bedenken ,  dass  wit  die  narbenartigen  Streifen  in  der  Haut  da ,  wo 
wir  sie  auf  ihre  Ursachen  zurückführen  können ,  entstehen  sehen  durch  Dehnung 
der  Haut  in  Folge  schnellen  bedeutenden  Wachsthums  der  von  der  Haut  umschlos- 
senen Gebilde  und  dass  wir  sie  meist  entstehen  sehen  in  senkrechter  Riditnng  auf 
diejenige,  in  welcher  die  Dehnung  vorwiegend  stattfand,  so  z.  B.  während  der 
Schwangerschaft  parallel  der  unteren  Grenze  des  Bauches^,  wenn  wir  dieThatsachen 
zusammenhalten,  dass  bei  mannbaren  Weibern,  deren  Bauch  keinerlei  Spuren  frlk- 
her  stattgehabter  Ausdehnung  zeigte,  in  16  o/^  längsverlaufende  Streifen  an  der  Vor- 
derfläche der  Oberschenkel  sich  fanden,  während  von  Männern  nur  oo/^  ähnliche 

87« 


580    B.  S.  Sehultze,  Ue&er  die  narbeüföroiij^n  Strfit'co  iu  der  Haut  des  Oberschenkels. 

Streifen  und  von  minder  conslanter  Richtung,  auffnliend  lange  Münner  aber  in  mehr 
als  25 o/o  solche  in  querer  Richtung  zeigten,  ferner  dass  bei  Weibern  sur  Zeit  der 
.Paberttttsentwickelung  ein  anffaHemles  Breitenwachsthom  des  K6rpen  in  der  Hüft- 
gegend  stattfindet,  welches  in  gleicherweise  jedenfeils  m<^t  bei  Münnem  beob- 
achtet wird:  so  liegt  es  sehr  nahe,  das  auffallende  Brei tenwacbsthum  des  Weibes 
in  der  Hüflgegend  in  Beziehung  zu  setzen  mit  dem  auffallend  hfiufigen  Vorkommen 
Iflngsverlaufender  Schenkelstreifen  beim  Weibe. 

Das  Breitenwachsthnm  des  Weibes  in  der  Hüftgegend  »^r  Zeit  der  Pubertäts- 
entwickelung ist  zum  grossen  Theil  bedingt  durch  Entwickeloog.  eines  sehr  reich- 
lichen Panniculus,  zum  gpossen  Theil  aber  auch  durch  BreitenentwickeloDg  des 
Skelets  dieser  Gegend. 

Die  vorstehend  mitgetheilten  Beobachtungen  geben  mir  nicht  das  Material,  eia 
festes  Urtheil  über  die  Bedingungen  der  Entwickelung  der  Schenkelstreifen  zu  ge- 
winnen ;  möglich ,  dass  deren  mehrere  ziemlich  gleich  häufig  ooncurriren.  Wenn 
ich  aber  erwäge,  dass  unter  den  von  mir  untersuchten  liännem  em  starker  Penni- 
culus  an  den  Schenkeln  wohl  mindestens  ebenso  häufig  vertreten  war  als  bei  den 
untersuchten  Weibern,  dass  ich  aber  die  längsverfaufenden  Schenkelstreifen  bei 
Männern  überhaupt  nie  so  ausgeprägt  wie  bei  den  Weibern,  und  dass-ich  Schenkel- 
streifen bei  Männern  in  SO/q,  bei  nie  schwanger  gewesenen  Weibern  in  SS  o/o  fand, 
dass  femer  die  auflallend  langen  Männer  auffoUend  häufig  Scheokelstreifen ,  aber 
querlaufende  zeigten ,  so  muss  ich  weit  mehr  geneigt  sein ,  die  Entwickelung  der 
Scbenkelstreifen  mit  dem  Skeletwachsthum  als  mit  einem  Wachsthum  des  Panni- 
culus in  Verbindung  zu  bringen. 


Drnek  to«  Brtitkopf  iia4  Htrt«l  ia  Ldpsifr. 


Jcnmdie  Xti/Hdirift  Jf^  Bd. 


tm 


,— ^ 

^ 

€ 

f 

\-/ 

D' 


e 


a 


Sig,I, 


\ 


/ 


i% 


n^^JL 


O- 


'ti'iä 


vjr-'-^«^ 


Jl^iT. 


a 


i^^ 


V^ . 


^^•^ 


m..v 


•■  ."V  j:  . 


j  K-     •  1 


MW. 


\ 


v   : 


»■  jM.»<«*«^fc^B 


«» 


— -  .  .  . ?  r^ 
^TTT  ^"  TT 


1'