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Bin Lebensbild.
Von
Andreas |Woser.
Berlin 1898.
B. B e h r ' s Verlag (E. Bock).
Steglitzer Strasse 4.
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h«8
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
7 2/fö
Vorwort.
•8 war an einem kalten Wintertag um die Mitte der acht-
ziger Jahre, als ich den Platz vor dem Potsdamer Thore
mit der Absicht überschritt, der Tochter einer im Tier-
garten-Hotel wohnenden Familie die erste Geigenstunde zu erteilen.
Laute Zurufe aus einem Wagen, welcher dem Potsdamer Bahn-
hofe zusteuerte, unterbrachen meine pädagogische Meditation.
$" Da seine Insassen halten liefsen und mich zum Einsteigen auf-
f forderten, so zögerte ich nicht, der Einladung Folge zu leisten.
Die Reisenden waren Joachim, Rudorff und Kruse, die mit dem
nächsten Zuge nach Magdeburg fahren wollten, um daselbst mit
dem Berliner philharmonischen Orchester zu konzertieren.
Die häufigen Reisen, welche Joachim zu jener Zeit mit
den Philharmonikern nach den gröfseren Provinzstädten Nord-
deutschlands unternahm, sind mit den Konzerten, die unter
seiner Leitung in der Residenz stattfanden, ausschlaggebend
gewesen für den Fortbestand der trefflichen Kapelle, die nun
im Musikleben der Hauptstadt eine so wichtige Rolle spielt.
Auf dem Perron des Bahnhofes angelangt, drückte mir
Kruse als Antwort auf meine Frage, welches Programm in
Magdeburg zur Ausführung käme, eine inzwischen gelöste Fahr-
karte in die Hand, schob mich in ein Coupe" des zur Abfahrt
bereit stehenden Zuges und raunte mir zu: „Du kannst dir
auch einmal auswärts anhören, wie Joachim das Beethovensche
Konzert spielt und wir die D-moll-Symphonie von Schumann
und die dritte Leonoren-Ouverture machen." Das war eine ein-
leuchtende und, da der Zug sich mittlerweile in Bewegung ge-
setzt hatte, eine zwingende Aufforderung meines Freundes, der
damals das Konzertmeisteramt beim philharmonischen Orchester
versah.
— VI -
Zwei Gründe hauptsächlich liefsen mich den kleinen Aus-
flug nicht bereuen: erstlich das Konzert, das einen glänzenden
Verlauf nahm und zu den Erinnerungen gehört, die man nicht
leicht vergifst, zweitens das trauliche Zusammensein mit den
drei Künstlern nach der stattgehabten Aufführung.
Tags vorher war Rudorffs Geburtstag gewesen, und um
diesen nachträglich in gebührender Weise zu feiern, liefs
Joachim einige Flaschen des perlenden Weines auffahren, der
unter der Bezeichnung „Hausschlüssel" eine gewisse Rolle in
meiner Darstellung zu spielen berufen ist. Wie ein auserlesener
Tropfen zu rechter Zeit selbst den schweigsamsten aller Musiker,
Robert Schumann, zum Auftauen bringen konnte , so habe ich
Joachim in den zwanzig Jahren meiner Bekanntschaft mit ihm
niemals in so mitteilsamer Fröhlichkeit gesehen, wie an jenem
Abend nach dem Konzert in Magdeburg. Wir sahen sie alle
leibhaftig an uns vorüberziehen, die herrlichen Künstlergestalten,
die Joachims Jugend behütet, sein Streben mit ihrer Anteil-
nahme gefördert und seinem ganzen Leben durch die Erinnerung
an die mit ihnen gemeinsam verbrachten „Weihestunden" eine
so köstliche Beigabe verliehen haben.
Als wir uns in früher Morgenstunde trennten, tauchte in
mir der Gedanke auf, die einzelnen Bilder, welche der Er-
zähler vor unser inneres Auge geführt hatte, zu einem Ganzen
zu verbinden, um auch weiteren Kreisen einen Einblick in das
reiche Künstlerleben Joachims zu gewähren. Die verzögerte
Ausführung meiner Absicht hat jedenfalls den Vorteil mit sich
gebracht, dafs ich nun auch das letzte verflossene Jahrzehnt
von Joachims segensreichem Wirken in den Bereich meiner
Darstellung ziehen konnte. Der rege persönliche Verkehr mit
dem Meister, dessen Schüler ich mich mit Stolz und Dankbar-
keit nenne, das häufige Musizieren mit ihm und der Umstand,
dafs ich seit nunmehr zehn Jahren ihm treue Assistentendienste
als Lehrer an der Hochschule widme, versetzen mich in die
glückliche Lage, seinen äufseren Lebensgang mit der Gewähr
absoluter Zuverlässigkeit, den Künstler in ihm mit derjenigen
— VII —
Sicherheit schildern zu können, welche die durch fortwährende
mündliche Aussprache gewonnene innige Vertrautheit mit seinen
geistigen Anschauungen zur Voraussetzung hat.
Wenn es einer äufseren Veranlassung bedurft hätte, die
Blumen, welche ihm sein guter Stern so freigebig auf den Weg
gestreut, zum Kranze zu winden, ich konnte mir eine schönere
nicht denken, als das bevorstehende sechzigjährige
Künstlerjubiläum des Meisters, am 17. März 1899. In
der Freude über die Jugendfrische, die Joachims Künstlertum
immer noch mit dem erquickendsten Hauche umweht, widmet
ihm Schüler- und Freundestreue dieses Buch als Angebinde zu
der seltenen Feier.
Eine Individualität kann nur dann in ihrer ganzen Wesen-
heit verstanden werden, wenn die Umstände, aus denen sie
hervorgegangen ist, klargelegt und die Wirkungen nachgewiesen
werden, zu denen sie sich entwickelt hat. Die vielfachen Ein-
flüsse, welchen Joachim schon von frühester Kindheit an ausgesetzt
war, liefsen es daher nötig scheinen, seine künstlerischen Vorfahren
und Zeitgenossen ausführlich genug zu beleuchten, um zu einer
richtigen Würdigung der Verdienste zu gelangen, die er sich
um das Kunstleben seiner Zeit erworben hat. Was die Schilde-
rung Joachims als Menschen betrifft, so hat mir dabei Goethes
Ausspruch (an Heinrich Meyer, am 8. Februar 1796) vor-
geschwebt: „Alle pragmatische biographische Charakteristik
mufs sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens ver-
kriechen." Bei dem umfangreichen Material, das mir für meine
Arbeit zur Verfügung stand, wäre es ein Leichtes gewesen, das
Buch zu einem weit gröfseren Umfang anwachsen zu lassen;
ich habe aber höheren Wert auf den Versuch gelegt, ein ab-
gerundetes Bild von dem Meister zu zeichnen, als auf die
Absicht, erschöpfend zu sein.
Für meine historischen und statistischen Angaben haben
mir zwei Werke ausgezeichnete Dienste geleistet: Hanslicks
„Geschichte des Konzertwesens in Wien" und Wasielewskis
„Die Violine und ihre Meister". Die sämtlichen Briefe an Liszt,
— VIII —
welche sich in den Kapiteln „Weimar" und „Hannover" vor-
linden, sind dem Buche von La Mara , „Briefe hervorragender
Zeitgenossen an Franz Liszt", diejenigen von Hans von Btilow
seinen „Briefen und Schriften", herausgegeben von Marie von
Bülow, entnommen.
An liebenswürdiger Aufmunterung und förderndem Anteil
hat es mir bei der Arbeit überhaupt nicht gefehlt. Zu be-
sonderem Danke fühle ich mich den Herren Prof. Dr. Julius
Otto Grimm, Hofkapellmeister Albert Dietrich und Prof. Ernst
Rudorff verpflichtet, welche mir die sich in ihrem Besitze be-
findlichen Briefe von Joachim in freundwilligster Weise zur
Einsichtnahme und teilweisen Veröffentlichung überlassen haben.
Die ergiebigste Quelle zur Klarlegung weit zurückliegender Ver-
hältnisse sind mir Joachims Briefe an Ave* Lallemant gewesen,
die seine Beziehungen zu Johannes Brahms in so schönem
Lichte zeigen.
Wie niemand die Liebe verkennen wird, welche ich auf
meine Arbeit verwendet, so habe ich während derselben zur
Genüge erfahren, dafs Wollen und Können grundverschiedene
Dinge sind. Was mein Selbstvertrauen bei einer so ungewohnten
Beschäftigung, wie es das Schriftstellern für einen praktischen
Musiker zu sein pflegt, aufrecht erhalten hat, war die Erinne-
rung an den Ausspruch Robert Schumanns, dafs er „einen ein-
fachen Fluch eines Musikers oft höher anschlage , als ganze
Ästhetiken". Und da ich in meiner Darstellung bemüht war,
so wenig als möglich zu ästhetisieren, vielmehr den Musiker
hauptsächlich reden zu lassen, so gebe ich mich der Hoffnung
hin, dafs man meinen schriftstellerischen Versuch mit dem ent-
sprechenden Wohlwollen behandeln und beurteilen wird. Bin
ich ja doch „nur ein Geiger!"
Berlin, im September 1898.
Andreas Moser.
I.
Die Kinderjahre
?
Hos er, Joseph Joachim.
/
%£*Ä?ngefahr eine Wegstunde südlich von Prefsburg, der alten
■(fiylB ungarischen Krönungsstadt, liegt in einer weiten Ebene
^^^fe der kleine Flecken Kitsee, dessen Name unserer Schul-
jugend durch Otto Hoffmanns Erzählung „Prinz Eugen, der edle
Ritter", wohl vertraut ist. Im Frühjahr 1683 hielt nämlich
Kaiser Leopold I. auf der Ebene von Kitsee Heerschau ab über
die gegen Türken und Ungarn bestimmten Truppen, und hier
war es, wo Prinz Eugen von Savoyen dem Kaiser seine Dienste
antrug, die angesichts der Kriegsgefahr gerne angenommen
wurden,
Kitsee heifst heute offiziell ungarisch Köpcsöny. Das hin-
dert aber nicht, dafs sich die Einwohner im Ortsverkehr fast
aus schli eis lieh der deutschen Sprache bedienen ; sind es doch
fleifsige, arbeitstüchtige Schwaben, deren Vorfahren in früheren
Jahrhunderten aus dem Reiche eingewandert waren. Sie haben
die Sprache, Sitten und Gebräuche der alten Heimat nicht nur
nicht vergessen, sondern in solcher Reinheit zu erhalten ver-
standen, dafs man sich im Verkehr mit ihnen in das Stammland
versetzt glaubt.
Unter diesem wackeren Schwabenvblkchen erblickte am
28. Juni 1831 der Held unseres Buches, Joseph Joachim, das
Licht der Welt. Er war das siebente unter acht Kindern, mit
denen das Ehepaar Julius und Fanny Joachim im Laufe der
Jahre gesegnet worden war. Da die Eltern jüdischer Abkunft
— 4 —
waren, so wurden auch die Kinder im jüdischen Glauben er-
zogen. Der Vater, Julius Joachim, war ein tüchtiger Kauf-
mann, ein ernster, etwas zugeknöpfter Charakter, seiner Familie
aber von Herzen zugethan. Durch anhaltenden Fleifs und stetige
Arbeit hatte er es zu einer gewissen Wohlhabenheit gebracht,
die ihn in den Stand setzte, seinen Kindern eine gute, ihren
Fähigkeiten entsprechende ^Erziehung angedeihen zu lassen.
Frau Fanny war ihrem Gatten eine treue Helferin, den Kindern
eine liebevolle und zärtliche Mutter und pafste mit ihrem ein-
fachen, schlichten Sinn harmonisch in den Rahmen, der das trau-
liche Bild eines glücklichen Familienlebens umschlofs. Keines-
wegs mit irdiscBen Glticksgütern überbürdet, lebte die. Familie
immerhin in so geordneten Verhältnissen , dafs alles , was des
Leibes Notdurft erheischte, ohne weiteres zu beschaffen war.
Schwieriger jedoch gestaltete sich die Frage um die geistige
Erziehung der Kinder, da die Bildungsmittel einer so kleinen
Gemeinde wie Kitsee bald erschöpft waren. Kaufmännische
Erwägungen und der Wunsch, seinen Kindern eine auch gröfseren
Anforderungen genügende Bildung zu verschaffen, liefsen in
Julius Joachim den Plan reifen, Kitsee zu verlassen und nach
einer gröfseren Stadt überzusiedeln. Schon das Jahr 1833
findet die Familie Joachim in Pest. Die ungarische Haupt-
stadt ist demnach der eigentliche Schauplatz der Kindheit und
frühesten Jugend des kleinen Joseph oder vielmehr „Pepi tt , wie
wir nach allgemeiner österreichischer Sitte unseren Kleinen bis
auf weiteres nennen müssen. —
In der Familie Joachim spielte die Musik keine besondere
Rolle; man hörte sie zwar gern, aber ein tiefergehendes Inter-
esse dafür war nicht vorhanden. Nur die Zweitälteste Tochter,
Kegina, besafs eine angenehme Stimme, so dafs die Altern ihr
Gesangsunterricht erteilen liefsen. Das Singen der Schwester
weckte zuerst den musikalischen Sinn des kleinen Pepi, der
mit gespannter Aufmerksamkeit auf jeden Ton lauschte und
sich abmühte, die» Lieder der Schwester auf einer Kindergeige
nachzuspielen. — Ein häufig in der Familie verkehrender Student
Stanislaus Serwaczynski.
Nach einer Lithographie im Besilze des Herrn k. k. Majors Hijdeclti
— 5 —
der Medizin, Stieglitz, der in seinen Mufsestunden eifrig geigte,
wurde bald auf die musikalischen Anlagen und Neigungen des
Kleinen aufmerksam, und er war es, der unserem Pepi die Ele-
mente des Violinspiels auf der Kindergeige beibrachte. Die
musikalische Intelligenz des Kindes und die erstaunlichen Fort-
schritte, die es in kürzester Zeit auf dem Spielzeug machte,
veranlafsten Stieglitz, die Eltern auf das vielversprechende Talent
ihres Söhnchens aufmerksam zu machen und ihnen zu raten,
demselben geregelten Unterricht von fachkundiger Seite erteilen
zu lassen. Hier zeigte sich der verständige Sinn des Vaters im
besten Lichte; denn obwohl in einfachen Verhältnissen lebend,
engagierte er nicht irgend einen beliebigen Geigenlehrer, son-
dern er wandte sich an den besten, der in Pest zu haben war,
an Serwaczyhski, den Konzertmeister der dortigen Oper.
Serwaczyhski, geboren 1791 zu Lublin, ebendaselbst 1862
gestorben, war ein tüchtiger und gewandter Künstler, der seine
Aufgabe als Lehrer des kleinen Pepi sehr ernst nahm und ihn
unglaublich schnell vorwärts brachte. Allein nicht nur als
Violinlehrer förderte er seinen kleinen Schüler, sondern, da er
allmählich Hausfreund in der Familie Joachim wurde, gewann
er auch Einflufs auf dessen moralische Entwicklung. Pepi war
ein ängstliches Kind und fürchtete sich im Dunkeln. Das
gefiel dem Lehrer nicht, und er beschlofs, seinem Zögling diese
Schwäche abzugewöhnen. Eines Abends verlangte er absichtlich
von dem Kinde, es möge ihm aus einem anderen Zimmer irgend
einen Gegenstand herbeiholen; allein Pepi war durch keinerlei
Versprechungen zu bewegen, durch den unerleuchteten Korridor
nach dem abgelegenen Zimmer zu gehen./ Serwaczyhski redete
ihm erst gut und eindringlich zu, nachher schalt er und ging
schliefslich aus dem Hause mit dem Bemerken, dafs er einen
solchen Hasenfufs nicht länger unterrichten wolle. Als in der
That der Lehrer in den nächsten Tagen nicht zur gewohnten
Stunde kam, ging das Kind ihn um Verzeihung bitten und ver-
sprach, in Zukunft nicht mehr ängstlich und albern zu sein,
wenn es nur die geliebten Violinstunden wieder bekäme. Das
— 6 —
Experiment des Lehrers war gelungen, denn der Schüler hat
getreulich Wort gehalten.
Neben der Geige wurde indessen keineswegs die ander-
weitige Bildung des Kindes vernachlässigt. Sein erstes Schul-
jahr verbrachte Pepi in der öffentlichen Volksschule; in der
Folge aber beteiligte er sich an einem Privat-Schulzirkel , der
im Elternhause des gegenwärtigen Stuttgarter Konzertmeisters
Edmund Singer eine Anzahl gleichaltriger Knaben vereinigte.
Da unser kleiner Held so hübsche Fortschritte im Violin-
spiel machte, veranlafste Serwaczyhski die Eltern, ihr Kind
einmal in die Oper mitzunehmen, damit es auch die Bekannt-
schaft gröfserer musikalischer Verhältnisse mache. Dieser erste
Besuch der Oper machte auf den Kleinen den gröfsten und
nachhaltigsten Eindruck. Es wurde C. Kreutzers „Nachtlager
in Granada" gegeben, und Serwaczyhski spielte das Violinsolo.
Im Zwischenakt durfte Pepi näher an das Orchester herantreten
und den ersten Einblick thun in die Einrichtungen, die ihm
später so vertraut werden sollten. Hierbei zeigte Serwaczyhski
seinem kleinen Zögling das Instrument, auf dem er soeben ge-
spielt hatte ; und das Bild dieser Geige prägte sich seinem Ge-
dächtnis . so fest ein, dafs er sie nach mehr als dreifsig Jahren
auf den ersten Blick wieder erkannte, als sie ihm gelegentlich
einer Konzertreise durch Schweden von dem polnischen Geiger
Biernacki, der sie aus Serwaczyhskis Nach]afs erstanden hatte,
zu Kaufe angeboten wurde. Joachim erwarb das Instrument,
und so ist die Geige seines ersten Lehrers, eine hübsche, * gut
erhaltene Andreas Amati, noch heute in seinem Besitze.
An diesen ersten Besuch der Oper reihten sich natürlich
andere, denn der kleine Pepi verspürte einen wahren Heifshunger
nach Musik, nachdem er erst einmal gemerkt hatte, dafs aufser
seiner Geigenstunde auch noch andere Musik in der Welt ge-
macht wurde. Die Pester Oper war übrigens für die damalige
Zeit gar so übel nicht ; sie zehrte jedenfalls an Traditionen und
Erinnerungen, um die sie mancher berühmtere Musentempel
beneiden konnte. Hatte doch Beethoven für die Einweihung
— 7 —
des Theaters in Pest 1811 die Musik zu „König Stephan" und
zu den „Ruinen von Athen" geschrieben! Das Orchester bot
respektable Leistungen, und unter den Solosängern waren Namen
von gutem Klang vertreten. Joachim entsinnt sich heute noch
der Streitigkeiten, die sich im Publikum um die beiden Ver-
treterinnen des dramatischen Faches abspielten. Die eine der
beiden Sängerinnen, Agnes Schebest, wurde später die Gattin
von David Straufs, dem Verfasser des „Leben Jesu". —
Mittlerweile hatte Serwaczyhski seinen kleinen Schüler
durch das eifrige Studium der „Violinschule von Rode, Kreutzer
und Baillot", sowie der „Etüden von R. Kreutzer" so weit ge-
*
fördert, dafs Pepi Stücke von de Be'riot, ein Violinkonzert von
Cremont und Kompositionen von Mayseder ganz anstandslos
spielen konnte. Angesichts dieser, schönen Resultate , und um
das Streben seines talentvollen Zöglings auch durch äufsere
Anerkennung zu belohnen, beschlofs Serwaczyhski, ihn der
gröfseren Öffentlichkeit vorzustellen. Am 17. März 1839 spielten
Lehrer und Schüler in einem Konzert des „Adels-Kasino a ein
Doppelkonzert von Eck und Pepi allein die „Variationen über
Schuberts Trauerwalzer" von Pechatschek. Wer sich diese
Sachen genauer ansieht, wird bald finden, dafs zu deren an-
standsloser Bewältigung schon eine ganz respektable geigerische
Fertigkeit gehört, und wie wir Serwaczyhski kennen, wird er von
seinem talentvollen ^tigling noch manches andere verlangt haben
als blofse Bewältigung der Aufgabe. Was die linke Hand be-
trifft, so scheint Serwaczyhski überhaupt ein ganz ausgezeichneter
Lehrer gewesen zu sein; der Bogenführung jedoch widmete er
wenig Aufmerksamkeit und Interesse. Wir werden im nächsten
Kapitel sehen, welch merkwürdige Konsequenzen dieser Um-
stand nach sich ziehen sollte.
Pepis erstes Auftreten im Adels-Kasino war übrigens ein
glänzender Erfolg für Lehrer und Schüler. Die zahlreichen
Zuhörer jubelten dem blondlockigen, siebenjährigen Geigerlein
aufmunternd zu und zeichneten es durch mehrmalige Hervor-
rufe aus. Er selbst hat heute, nach sechzig Jahren, nur noch
— 8 —
d i e Erinnerung an sein Debüt, dafs er auf seinen himmelblauen,
mit Perlmutterknöpfen besetzten Rock fürchterlich stolz war !
Von weitgehender Wichtigkeit wurde für Pepi dieses erste
öffentliche Konzert dadurch, dafs es ihm die Bekanntschaft und
das Interesse von zwei vornehmen, adeligen Familien der ungari-
schen Hauptstadt eintrug. Namen von bestem Klang treten
uns hier bedeutungsvoll entgegen : der Graf Franz von Brunswick
und seine Schwester Therese einerseits, der Baron Rosti anderer-
seits. Dem Grafen Franz hat Beethoven seine Klaviersonate
Opus 57 (die Appassionata) und die Klavierphantasie Opus 77,
seiner Schwester Therese die Sonate Opus 78 gewidmet. Dafs
Beethoven eine dreifsigj ährige innige Freundschaft mit dem
Grafen von Brunswick verbunden. hat, und dafs niemand anderes
als Gräfin Therese „die unsterbliche Geliebte" sein kann, darf
als bekannt vorausgesetzt werden. — Baron Rosti wurde später
der Schwiegervater des grofsen ungarischen Dichters und nach-
maligen Kultusministers Eötvös.
In diesen beiden vornehmen Häusern wurde regelmäfsig
Quartett gespielt, hauptsächlich die Klassiker, aber auch viel
Onslow, der sich damals bei den Quartettspielern grofser Be-
liebtheit erfreute. So kam unser kleiner Held also schon in
zartem Kindesalter durch häufiges Hören guter Kammermusik
in nähere Beziehungen zu der Gattung, in deren Ausführung er
später das Höchste leisten sollte. Es liegt nahe, darin eine
gewisse Vorbedeutung zu finden, dafs der nachmalige gröfste
Interpret Beethovenscher Musik schon in frühester Kindheit mit
Personen in Verkehr trat, die zwar den Namen Beethoven mit
einer gewissermafsen heiligen Scheu und Ehrfurcht aussprachen,
die aber andererseits doch wieder dem grofsen Genius mensch-
lich und seelisch nahe gestanden haben.
Wie die sanfte Morgenröte den jungen Tag ktifst, der
traumverloren und taubeschwert noch nicht weifs, dafs ihn in
wenigen Stunden der leuchtende Sonnenball am Firmament in
vollem Glänze bestrahlen wird, so grüfst in Joachims früheste
Kindererinnerungen der hehre Name „Beethoven" hinein, und
\
Joseph Joachim
r Zeit seines ersten Auftretens im Adelskasino zu Pest.
l
— 9 —
das Kind ahnt nicht, dafs dieser Name nach wenigen Jahren
schon seine Künstlerlaufbahn in strahlender Schönheit beleuchten
und erwärmen sollte!
Im Sommer 1839 bekam die Familie Joachim den Besuch
einer lieben Verwandten, des Fräulein Fanny Figdor aus. Wien.
Sie war die Tochter von Pepis ältestem Onkel mütterlicherseits,
eine musikalische Dame, die zwar nur zu ihrem Vergnügen,
aber doch ganz fertig und gewandt Klavier spielte. Cousine
Figdor hatte an ihrem kleinen Vetter, der trotz seiner frühen
Jugend schon so allerliebst geigen konnte, die hellste Freude,
und im Verein mit Serwaczyhski bestärkte sie die Eltern in der
Absicht, ihren Pepi zum Geigenvirtuosen ausbilden zu lassen.
Das bedeutete nun allerdings für die Eltern die Trennung
von ihrem Liebling. Denn waren die musikalischen Verhält-
nisse Pests auch ganz erfreulicher Art für die damalige Zeit,
so drang doch Cousine Figdor auf die Übersiedelung Pepis
nach Wien, wo bedeutendere Lehrer zu haben waren, die Musik
in viel ausgiebigerer Weise gepflegt wurde und überhaupt ein
ganz anderer musikalischer Wind wehte als in dem vom Welt-
verkehr abgelegenen Pest. Die Eltern entschlossen sich zur
Übersiedelung ihres vielversprechenden Kindes um so leichter,
als es ja in Wien im grofsväterlichen Hause Figdor aufs beste
untergebracht war, und die dortigen Verwandten sich überdies
anheischig machten, die Kosten für die Erziehung und Aus-
bildung Pepis tragen zu wollen.
So zogen denn die drei Reisenden, Vater Joachim, Fräulein
Figdor und Pepi, von den Segenswünschen der Mutter begleitet,
getrost und wohlgemut nach der alten Kaiserstadt an der Donau,
die dem kleinen Geiger für die nächsten fünf Jahre zur zweiten
Heimat werden sollte.
M
II.
Wien.
?
1.
%ti£|$and in Hand mit der Entwicklung der Kammermusik,
llfiPS °^ er vielnienr veranlafst durch dieselbe, erfuhr seit der
«?=** Mitte des vorigen Jahrhunderts auch das Violinspiel
eifrige Pflege in Wien. Dittersdorf, der seine Laufbahn als
geigendes Wunderkind begonnen hatte, wurde im Laufe der
Zeit einer der hervorragendsten Geiger Wiens und erfuhr als
Virtuose auf seinem Instrument eine ebenso grofse Schätzung
wie später als Tonsetzer. Auch Haveln und Beethoven waren
tüchtige Geiger, und dafs Mozart seine Violinkonzerte selber
in bewunderungswürdiger Weise spielen konnte, ist bekannt.
Es gehörte im vorigen Jahrhundert zu den selbstverständlichen
Dingen, dafs Komponisten, auch wenn sie von Haus aus Klavier-
spieler waren, mit dem Wesen der Streichinstrumente innig ver-
traut sein mufsten. Heutzutage sind Tonsetzer, die anf dem
Griffbrett und mit dem Bogen Bescheid wissen, seltene Aus-
nahmen. Die alten Meister sahen sich eben oft in die Not-
wendigkeit versetzt, ihre Werke selber spielen zu müssen, also
war es ganz natürlich und bei ihrer Sachkenntnis selbstver-
ständlich, dafs sie dem Charakter der betreffenden Instrumente
gemäfs schrieben. Darin liegt wohl die hauptsächlichste Er-
klärung, weshalb sich die ältere Kammermusik vor der neueren
durch gröfseren Wohlklang auszeichnet und infolge ihrer ans
dem, Wesen der Instrumente hervorgegangenen angenehmen
Spielbarkeit eine so grofse Verbreitung gefunden hat. Während
— 14 —
jedoch die genannten Meister, mit Ausnahme von Dittersdorf,
dessen Verdienste um die Entwicklung des Violinspiels nicht
unterschätzt werden dürfen, das Geigen nur episodisch ausgeübt
haben, müssen wir Anton Wranitzky (1761 — 1819) als den
eigentlichen Begründer der specifischen Wiener Geigenschule
ansehen. Zwar auch auf dem Gebiet der Komposition vielseitig
und fruchtbar, liegt doch für die Folge seine Bedeutung darin,
dafs er eine Anzahl hervorragender Geiger ausgebildet hat, die
der Wiener Schule die ihr eigene Physiognomie gegeben haben.
So ganz leicht ist es nicht, die Eigentümlichkeiten der
älteren Wiener Geigerschule genau zu charakterisieren, denn
sie ist am Anfang hauptsächlich von Italien, im Verlaufe ihrer
Entwicklung vorwiegend durch Frankreich beeinflufst. Das hing
mit der geographischen Lage der Kaiserstadt an der Donau
zusammen. Waren an und für sich schon von jeher italienische
und französische Künstler an deutschen Höfen bevorzugt ge-
wesen, so war überdies Wien auch eine angenehme Zwischen-
station für reisende Virtuosen, die nach dem Norden oder nach
Rufsland zogen. Es seien von Italienern nur Ferrari, Lolli
und Mestrino, von Franzosen Rudolf Kreutzer, Pierre Rode und
Pierre Baillot genannt, die teils kürzeren, teils längeren Auf-
enthalt in Wien genommen haben. Die auf diese Einflüsse
zurückzuführende innerliche Vertiefung und Vergeistigung der
Wiener Geiger konnte durch Ludwig Spohrs zweijährige Wirk-
samkeit in der österreichischen Hauptstadt nur noch eine
Steigerung erfahren.
Wie nun in den Schöpfungen der grofsen österreichischen
Tonsetzer die leicht beweglichen Rhythmen der süddeutschen
Tänze allmählich an Bedeutung gewannen, bis Franz Schubert
durch die glückliche Idealisierung des Ländlers und Walzers den
specifisch wienerischen Elementen Eingang und Geltung ver-
schaffte,* so hat trotz der ausländischen Einflüsse die Wiener
Geigerschule ihre eigentümliche Physiognomie nicht nur nicht
eingebüfst, sondern mit der liebenswürdig anmutigen Behandlung
der Tanzformen durch Haydn, Mozart und Schubert noch reiche
/
— 15 -
Nahrung gewonnen. Geschmeidige Bogenführung und infolge-
dessen schlackenfreie, sinnlich schöne Tongebung, virtuose Be-
herrschung des Griffbrettes bis in die höchsten Lagen sind die
geigerischen Vorzüge der älteren Wiener Schule. Die hervor-
ragendsten Vertreter derselben waren aber gleichzeitig auch noch
tüchtige Tonsetzer, gewandte Kammermusikspieler oder Orchester-
führer. Ihr Spiel war einerseits durch prickelnden Rhythmus
und straffe Accente ausgezeichnet, andererseits von einer natür-
lichen Wärme im Ausdruck, die, das tiefere seelische Empfinden
nur leicht an der Oberfläche streifend, ihrem Vortrag etwas
Ungesuchtes, Gefälliges und Elegantes verlieh.
In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist Joseph
Mayseder (1789 — 1863) entschieden der ausgeprägteste Typus
der Wiener Geigerschule. Ein Schüler Wranitzkys, erfreute er
sich schon als Jüngling der geistig musikalischen Förderung
Schuppanzighs, in dessen Quartett er eine Zeit lang die zweite
Geige spielte. Seine umfassende Technik, die aalglatte, elegante
Bogenführung, sein ungemein biegsamer und krystallheller Ton
befähigten ihn, Stücke von anmutigem, zierlichem Charakter
oder pikantem Zuschnitt in unnachahmlicher Weise wieder-
zugeben. In jüngeren Jahren hat er sich mit seinem geistig
belebten Spiel und der virtuosen Behandlung seines Instrumentes
die Anerkennung Spohrs 1 ) und Paganinis ebensowohl, wie in
reiferem Alter die uneingeschränkte Bewunderung eines Joachim
errungen. In seiner Übertragung der von Brahms für Klavier
gesetzten ungarischen Tänze hat Joachim dem Wiener Geigen-
meister eine artige Reverenz bezeugt, indem er eine Stelle mit
„ä la Mayseder" bezeichnet hat. — Hanslick hörte ihn noch
als Quartettspieler im Hause des Fürsten Czartoryski und sagt
darüber : „Hier hatte ich selbst noch die Freude, den berühmten
') Spohr nennt 1812 Mayseder, der später durch seine mit
Hummel, dann mit Moscheies und Giuliani veranstalteten „Dukaten-
Konzerte", sowie al&- Komponist einer grofsen Anzahl von brillanten
und gefälligen Violinsachen ebenso einflufsreich wie berühmt wurde,
den „ausgezeichnetsten unter den Wiener Violinvirtuosen".
- 16 —
Veteran zu hören und den stifsen, glockenreinen Ton, die un-
übertreffliche Sauberkeit seiner Technik, die noble Grazie seines
Vortrags zu bewundern. In Haydnscher Musik war Mayseder
vollendet zu nennen, zunächst stand sein Vortrag Mozartscher
und Spohrscher und natürlich seiner eigenen zahlreichen
Quartette. Von Beethoven liebte er nur die ersten Quartette;
für die späteren fehlte ihm Liebe und Verständnis , wohl auch
Gröfse und Leidenschaft." —
Während nun Mayseder neben seiner höchst respektablen
Eompositionsthätigkeit die geistvollste Verkörperung des brillanten
Solospiels war, tritt uns in einem anderen Schüler Wranitzkys,
in Ignaz Schuppanzigh (1776 — 1830), der Kammermusikspieler
par excellence entgegen. Zwar schon durch seine Wiedergabe
der Haydnschen und Mozartschen Quartette bei seinen Zeit-
genossen hohes Ansehen geniefsend, besteht doch sein unver-
gänglichster Ruhm darin, dafs er die meisten Beethovenschen
Schöpfungen für Streichinstrumente aus der Taufe gehoben hat.
Als Sechzehnjähriger schon spielte er in dem vom Fürsten
Lichnowsky gehaltenen Knabenquartett die erste Geige, und ein
dutzend Jahre später finden wir ihn als Führer des so berühmt
gewordenen Rasumowsky-Quartetts auf der Höhe seines Könnens
wieder. In beiden Stellungen leistete er speciell in der Inter-
pretation Beethovenscher Kammermusik so Eminentes, dafs, mit
Seyfried zu reden, „darüber in der gesamten Kunstwelt nur
eine Stimme herrschte". — Überdies fungierte Schuppanzigh
in den meisten der von Beethoven veranstalteten „Akademieen"
als Konzertmeister, und in der Folge dirigierte er das Orchester
der „Augarten-Konzerte", wo die meisten Beethovenschen
Orcheslersachen aufgeführt wurden. Stets finden wir den treff-
lichen Künstler in geistigen Diensten des Tonheros, mit dessen
Instrumentalwerken er so vertraut war wie kaum ein anderer
seiner Zeitgenossen.
Ganz aufserordentlich musikalisch und violinistisch ver-
anlagt war der Wiener Geiger Franz Clement (1784 — 1842).
Spohr erzählt in seiner Selbstbiographie, dafs Clement ihm am
— 17 —
Tage nach der Aufführung von dessen Oratorium „das jüngste
Gericht" mehrere Nummern daraus „Note für Note, mit allen
Harmoniefolgen und Orchesterfiguren vorgespielt, ohne je die
Partitur gesehen zu haben". Am selben Ort berichtet Spohr
weiter: „Man erzählte sich damals in Wien, dafs Clement ,die
Schöpfung 4 von Haydn, nachdem er sie mehrmals gehört hatte,
so auswendig wufste, dafs er mit Hülfe des Textbuches einen
vollständigen Klavierauszug machte, den Haydn, nachdem Clement
noch eine Durchsicht nach der Partitur vorgenommen hatte,
zur Herausgabe adoptierte."
Und in einem Briefe an Thayer, worin es sich um die Ver-
besserungen und Kürzungen handelt, die Beethoven bei der
Wiederaufnahme des „Fidelio" abgerungen werden sollten, schreibt
Röckel, der zweite Wiener „Florestan" : „Da die ganze Oper
durchgenommen werden sollte, so gingen wir gleich ans Werk,
Fürstin Lichnpwsky spielte auf dem Flügel die grofse Partitur
der Oper, und Clement, der in einer Ecke des Zimmers, safs,
begleitete mit seiner Violine die ganze Oper auswendig, indem
er alle Solos der verschiedenen Instrumente spielte. Da das
ungewöhnliche Gedächtnis Clements allgemein bekannt war, so
war niemand aufser mir darüber erstaunt." (Thayer, Beethovens
Leben, Bd. II, S. 294.)
Über Clement als Geiger lautet das einstimmige Urteil,
dafs er einer der gröfsten Virtuosen seiner Zeit war und eine
erstaunliche -Gewandtheit auf dem Griffbrett besafs, die ihn be-
fähigte, die gewagtesten Schwierigkeiten mit der gröfsten Bravour
zu überwinden. Dafs auch Beethoven viel von ihm gehalten
haben mufs, geht schon daraus hervor, dafs er das Violinkonzert,
Op. 61 , für ihn geschrieben hat. Im Original trägt es den
Titel: Concerto par Clemenza pour Clement, primo Violino e
Direttore del Teatro a Vienna, da Luigi van Beethoven, 1806.
— „Als Dr. Bartolini Jahn erzählte, dafs Beethoven mit be-
stellten Arbeiten in der Regel erst ganz zuletzt fertig wurde,
führte er das Konzert als Beispiel an, und ein anderer gleich-
zeitiger Zeuge teilt mit, dafs Clement sein Solo ohne vorherige
Moser, Joseph Joachim. 2
— 18 —
Probe a vista spielte." (Thayer.) — Interessant ist der Be-
richt der damals neu gegründeten Wiener Theaterzeitung über
Clements Konzert. Er lautet: „Der vortreffliche Violinspieler
Clement spielte unter anderen vortrefflichen Stücken auch ein
Violinkonzert von Beethoven, das seiner Originalität und männig-
faltigen schönen Stellen wegen mit ausnehmendem Beifall auf-
genommen wurde. Man empfing besonders Clements bewährte
Kunst und Anmut, seine Stärke und Sicherheit auf der Violin,
die sein Sklave ist, mit lärmendem Bravo, — Über Beethovens
Konzert ist das Urteil von Kennern ungeteilt; es gesteht dem-
selben manche Schönheit zu, betont aber, dafs der Zusammen-
hang oft ganz zerrissen scheine, und dafs die unendlichen Wieder-
holungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten" etc. *).
Clement scheint aber mit seinen ausgezeichneten künst-
lerischen Eigenschaften keinen wetterfesten Charakter verbunden
zu haben, denn in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens
geriet er in widrige Verhältnisse, die seine Künstlerlaufbahn
zu keinem befriedigenden Abschlufs brachten. Der junge
Joachim sah ihn noch in ziemlich reduziertem Zustand durch
die Strafsen Wiens schleichen. —
Zwischen Schuppanzigh, Mayseder und Clement nahm Joseph
Böhm (geboren 1795 zu Pest, gestorben 1876 in Wien) eine
Sonderstellung ein. Wir begrüfsen in ihm das Haupt der neueren
Wiener Geigerschule, ja vielleicht den bedeutendsten Violin-
Pädagogen des ganzen Jahrhunderts. Von seinem Vater und
von Pierre Rode zu einem vorzüglichen Geiger herangebildet,
konzertierte er in jüngeren Jahren mit grofsem Erfolg in Italien,
Deutschland und Frankreich; er gab jedoch die Virtuosen-
laufbahn bald auf, da er sich mehr zum Lehrberuf in seiner
Kunst hingezogen fühlte. 1819 wurde er als Professor am
x ) C. M. v. Weber, der Clement als Orchesterdirigent nach Prag
berufen hatte, schreibt an Rochlitz: „Hummels Spiel ist aufserordent-
lich sicher, nett und geperlt, ganz das, was Clement als Violin-
spieler ist."
— 19 —
Konservatorium 1 ) und 1821 als erster Yiolinist in der Hofburg
zu Wien, angestellt. Namentlich in seiner Eigenschaft als Lehrer
hat er. sich einen unvergänglichen Namen gesichert, denn unter
einer ganzen Reihe von bedeutenden Geigern, die er ausgebildet
hat, neunten und nennen sich mit Dankbarkeit und Stolz auch
Georg Hellmesberger senior, Heinrich Wilhelm Ernst und Joseph
Joachim seine Schüler. Neben seiner Lehrthätigkeit war Meister
Böhm aber auch als Quartettspieler hochgeschätzt und angesehen,
obzwar er sich auch in dieser Eigenschaft schon früh von der
Öffentlichkeit zurückgezogen hatte 2 ).
Wir werden binnen kurzem die ausführliche Bekanntschaft
Joseph Böhms machen ; jetzt müssen wir uns wieder dem jungen
Joachim zuwenden, der, soeben in Wien angelangt, erwartungs-
voll der Dinge harrte, die da kommen sollten. —
Zunächst also nahm das grofs väterliche Haus den kleinen
Ankömmling gastlich auf, und Grofsvater Figdor liefs es sich
durch liebevolle Behandlung und Pflege angelegen sein, in seinem
Enkel kein Heimweh aufkommen zu lassen. Der liebenswürdige
alte Herr, der nicht viel von Musik verstand, figuriert immerhin
als Joachims erster Kritiker noch jetzt in seinem Gedächtnis;
denn wenn dem Jungen beim Geigen manchmal eine Seite pfiff
x ) Das Konservatorium in Wien ist eine Gründung der „Gesell-
schaft der Musikfreunde" daselbst. Im Jahre 1817 wurde es mit einer
Gesangsklasse eröffnet, der 1819 die Violinschule folgte. Jos. Böhm
zeigte in der Wiener Musikzeitung (Nr. 76 vom Jahre 1819) an, dafs
die Gesellschaft der Musikfreunde ihn zum Professor des Violinspiels
ernannt habe, mit der Begünstigung, auch noch Schüler zu seinem
besonderen Vorteil aufzunehmen. Die Lektion zu 1 fl. W. W.
(Hanslick, Gesch. d. W. Konzertwesens.)
a ) Hanslick sagt: „Im Jahre 1821 unternahm es Joseph Böhm,
die durch einige Jahre ausgesetzten, von Schuppanzigh gegründeten
Quartett-Unterhaltungen im Prater wieder aufzunehmen. Sie begannen
am 1. Mai und fanden im ersten Cafehaus der Praterallee morgens
um 8 Uhr statt. Holz, Weifs und Linke bildeten mit Böhm das
Quartett, und die Quartettspieler leisteten so Tüchtiges, dafs die
Musikzeitung von 1821 entzückt ausruft: ,So mufs man Beethovens
und Mozarts Quartette spielen hören!'"
2*
— 20 —
oder ein Ton nicht ansprach, so durfte er des grofsväterlichen
Zurufs: „Joseph, du spielst Mifstöne!" sicher sein. Anderer-
seits sorgte Cousine Figdor, Pepis guter Leitstern, dafür, dafs
der Violinunterricht keinen Aufschub erlitt. Ein Schüler
' Mayseders, der junge Miska Hauser, der in den Salons der
Hauptstadt eben anfing, von sich reden zu machen, wurde
Joachims erster Geigenlehrer in Wien. Doch währte dieser
Unterricht nur wenige Monate. Einsichtige fanden bald, dafs
ein so bedeutendes Talent der Pflege eines erfahrenen Lehrers
und gereiften Künstlers bedurfte; zudem regte sich damals
schon bei Hauser der unstäte "Wandertrieb, der ihn später seine
grofsen Weltreisen machen liefs.
Man ging also Georg Hellmesberger senior (1800 — 1873),
der damals die hervorragendsten künstlerischen Stellungen in
Wien bekleidete, um Unterricht für den jungen Joachim an.
Aus der Schule Böhms hervorgegangen, war Hellmesberger ein
ebenso bedeutender Lehrer wie ausgezeichneter Geiger und
hervorragender Dirigent. Gleichzeitig mit Joachim unterrichtete
er seine beiden Söhne, Joseph (1829 — 1893) und Georg
(1830 — 1852), von denen besonders der erstere in der Folge
zu hohem künstlerischen Ansehen gelangen sollte. Georg, der
auch zu einem vorzüglichen Geiger heranwuchs, wurde später
der Amtsvorgänger Joachims in Hannover. Zu dieser aller-
liebsten Trias gesellte sich noch der kleine Simon (später
Konzertmeister im Haag), so dafs Hellmesberger gleichzeitig ein
Wunderkinder-Quartett zu Schülern hatte, wie es nicht leicht
wieder vorkommen dürfte. In der „Bürgerspitals- Akademie"
spielten die vier kleinen Geiger 1840 das damals so sehr be-
liebte „Concertante" für vier Violinen von L. Maurer und
ernteten mit ihrer virtuosen Ensembleleistung rauschenden Bei-
fall, denn das genannte Stück ist ebenso dankbar als schwierig
und stellt an jeden einzelnen der vier Spieler schon ziemlich
hohe Anforderungen in geigerischer Fertigkeit und musikalischer
Sicherheit. Trotz des starken äufserlichen Erfolges, der dieses
Konzert begleitete, fand aber Hellmesberger die Bogenführung
— 21 —
eines seiner kleinen Zöglinge so aussichtslos steif, dafs er der
Ansicht war, aus ihm würde niemals etwas Rechtes werden.
Und dieser Unglücksrabe war unser Pepi! Es sei hier noch-
mals an die von Joachim selbst bezeugte Thatsache erinnert,
dafs Serwaczyhski sich nur für die Entwicklung und Ausbildung
der linken Hand interessiert, die Bogenführung aber stiefmütter-
lich vernachlässigt hatte. Leider Gottes ist das eine Er-
scheinung, die heutzutage womöglich noch häufiger auftritt als
in früheren Zeiten: selbst Träger der berühmtesten Namen
unter den Geigenvirtuosen befleifsigen sich einer Steifheit der
Bogenführung, die ein natürliches musikalisches Phrasieren voll-
ständig ausschliefst, ebenso wie sie jede Charakteristik der
Stricharten Unmöglich macht.
Man mag sich vorstellen, wie betrübt unser Pepi über den
Ausspruch Meister Hellmesbergers war! Auch seine Eltern,
die gerade besuchsweise in Wien weilten, glaubten schon, dafs
die Künstlercarriere ihres Jungen nur ein schöner Traum ge-
wesen sei. Und der Yater, der mit seiner verständigen Auf-
fassung der Sachlage ein Feind von Halbheiten war, hatte be-
reits den Entschlufs gefafst, das Söhnchen wieder nach Pest
zurückzubringen, um es einem anderen Berufe zuzuführen.
Da annoncierte Ernst einige Konzerte in Wien; und da
Pepi so viel von diesem wunderbaren Geiger gehört hatte, der
trotz seiner jungen Jahre schon eine europäische Berühmtheit
war, so vermochte er die Eltern durch inständiges Bitten, doch
so lange in Wien zu bleiben, um wenigstens einmal den Wunder-
mann spielen zu hören. Und Ernst machte mit seinem geist-
vollen Spiel, seiner staunenswerten, glänzenden Technik und
seinem wohl unerreicht ge bliebene n, wunderherrlichen Ton einen
so überwältigenden Eindruck auf den Jungen, dafs Onkel Nathan
Figdor die Eltern anging, das Kind Ernst zuführen zu dürfen,
um, als letzte Instanz, sein Urteil zu vernehmen. Dieser aus-
gezeichnete Künstler, wohl die glänzendste Virtuosenerscheinung
seit Paganini, merkte sofort mit divinatorischem Scharfblick,
dafs er in dem kleinen Jungen ein ganz aufserordentliches
— 22 —
Talent vor sich hatte. Er liefs den Eltern sagen, dafs sie
über die Zukunft ihres Kindes unbesorgt sein dürften, und er-
teilte ihnen den Rat, Pepi in die Lehre zu Joseph Böhm zu
schicken, bei dem auch er alles gelernt habe, was überhaupt
von einem Lehrer zu lernen sei ; Böhm würde, wenn der Junge
sonst Lust und Liebe zur Sache hätte, gar bald aus der steifen
Bogenführung eine freie und geschmeidige zu Tage fördern.
Auf solchen Rat aus solchem Munde glaubten die Eltern hören
zu müssen, und der Erfolg hat bewiesen, wie herrlich recht
Ernst gehabt hatte.
So wurde Pepi nun Schüler von Joseph Böhm, der ihn als
Pflegesohn vollständig zu sich ins Haus nahm und in der ge-
treulichsten Weise drei Jahre lang unterrichtet hat. Joachim
kann heute noch nicht genug Rühmenswertes über die Art und
Weise seiner Unterweisung erzählen. Streng, ernst und sachlich,
war sie doch auch wieder liebevoll und aufmunternd in jeder
Hinsicht.
Hauptsächlich also galt es, eine freie, ungezwungene
Bogenführung zu gewinnen, und darin war Böhm vollendeter
Meister und der idealste Lehrer. Als Studienmateriel dienten
die einschlägigen Werke von Rode und Mayseder, besonders
aber des ersteren vierundzwanzig Capricen in allen Tonarten,
die neben ihrem musikalischen Werte das unübertroffene Studien-
werk zur Aneignung einer guten Bogentechnik geblieben sind.
Welch glänzendes Resultat der Lehrer schliefslich mit
seinem Schüler erreichte, braucht keinem Geiger, der Augen
hat zu sehen und Ohren zu hören, gesagt werden!
Die ausgiebigste Pflege in der Schule Böhms erfuhr das
Studium von Duetten für zwei Geigen, weil es die Intonation
ungemein fördert und festigt, zugleich aber auch musikalisch
sicher und gewandt macht im Ensemblespiel. Professor Grün-
wald 1 ), ein Mitschüler Joachims bei Böhm, erzählt, dafs
*) Grünwald, jetzt als vortrefflicher Lehrer des Violinspiels in
Berlin ansässig, war auch auf Ernsts Veranlassung Böhms Schüler
auf dem Wiener Konservatorium geworden. Obwohl einige Jahre älter
\
— 23 —
manchmal monatelang nur Duette gespielt wurden, so dafs
den Schülern diese an und für sich so schöne Litteratur ordent-
lich bis zum Überdrufs vertraut wurde.
Allein nicht nur seines Lehrers und Pflegers gedenkt
Joachim heute noch in treuer Dankbarkeit und Anhänglichkeit,
sondern auch der Gattin desselben bewahrt er um ihrer Seelen-
güte willen liebevolles Erinnern. Böhm lebte mit seiner Frau
in glücklichster, aber kinderloser Ehe; Hausgenosse war nur
noch ein Neffe, der auch im Violinspiel unterrichtet wurde.
Trotzdem Frau Böhm nicht musikalisch ausübend war , inter-
essierte sie sich doch in hohem Mafse für die Kunst und den
Beruf ihres Mannes, so dafs sie in musikalischen und geigerischen
Dingen vortrefflich Bescheid wufste. Sie war oftmals zugegen,
wenn ihr Gatte seinen jungen Pflegling unterrichtete, und schärfte
sich dessen Yorschriften wohl ein. Während nun Böhm im
Konservatorium lehrte oder seinen Dienst in der Burgkapelle
versah, mufste Pepi zu Hause sein Pensum üben. Frau Böhm
pflegte sich dann mit einer Handarbeit zu dem Jungen zu setzen
und seine Arbeit zu überwachen. Da korrigierte nun die Frau
Meisterin: „Peperl, weifst, das war aber nit gut, und schöner
klingen mufs es auch noch; so eine Stelle mufst du halt an-
haltend üben, bis du sie glatt und ohne Mühe herauskriegst" u. s. w.
Wenn aber das Zureden und Ermahnen nichts fruchtete, so
geschah es wohl, dafs sich von der Glasthür zum Nebenzimmer
die Gardine zurückschob und der Mentorkopf Meister Böhms
mit strengem und doch liebevollem Ausdruck sichtbar wurde ;
oder die Thür öffnete sich und der gestrenge Herr Professor
rief ein „verflixter Bub', wirst gleich ordentlich geigen!" in die
Stube, was dann regelmäfsig half.
als Joachim, hat er von Anfang an die Entwicklung seines jüngeren
Kameraden mit lebhaftem Interesse verfolgt und in neidloser Be-
wunderung dem überlegenen Genie Joachims seine Reverenz bezeugt.
Dem liebenswürdigen alten Herrn verdankt der Verfasser aus an-
genehmen, geselligen Plauderstunden einige charakteristische Züge
aus Joachims künstlerischem Entwicklungsgang und dem damaligen
Treiben auf dem Wiener Konservatorium.
— 24 —
Joachim gedenkt mit innigem Behagen auch der harmlosen
Neckereien, denen er im Hause der strengkatholischen Pflege-
eltern seiner jüdischen Abstammung wegen ausgesetzt war.
Wenn die Frau Professorin aus der Kirche kam, wohin sie
regelmäfsig zur Beichte ging, erschreckte sie den kleinen
Schüler manchmal mit dem Zuruf: „Du, Peperl, heute hat mir
der Herr Kaplan wieder tüchtig die Leviten gelesen, weil wir
einen solchen Heiden wie du im Haus haben; aber brauchst
dich nicht zu fürchten, üb' du nur schön brav, das andere
werden wir schon beim Heben Herrgott verantworten!" Die
Frau war eben eine Anhängerin des einzig wahren Christen-
tums — des praktischen! —
Mit den zunehmenden Fortschritten Pepis wuchsen auch
das Interesse und die Zuneigung Böhms für seinen vielver-
sprechenden Schüler. Er liefs ihn häufig im Konservatorium
gröfsere Sachen mit Orchester spielen, darunter das Rondo aus
dem E-dur-Konzert von Vieuxtemps und die Othello-Phantasie
von Ernst, auf diese Weise den Jungen schon frühzeitig an
das Lampenlicht gewöhnend.
Grofs war immer die Erregung unter dem jungen Geiger-
volk, wenn namhafte Virtuosen von aufserhalb in Wien auf-
traten, wie Ernst, de B^riot, Vieuxtemps, die beiden Milanollo
und andere. Von dem geigenden Schwesternpaar war es be-
sonders die dunkeläugige Teresa, die mit ihrem anmutigen
Wesen und reizenden Violinspiel auf den jungen Pepi grofsen
Eindruck gemacht hat. Mit dem General Parmentier in Paris
verheiratet, ist sie eine der wenigen Ktinstlererscheinungen, die
aus Joachims Kindheit noch am Leben sind; und der Meister
hat es nie versäumt, die würdige Dame aufzusuchen, wenn ihn
sein Weg nach der französischen Hauptstadt führte.
Es war nach den fabelhaften Erfolgen, die der Hexen-
meister Paganini mit seinem ersten Auftreten in Wien 1828
einheimste, jene Zeit gekommen, wo in der Kaiserstadt an der
Donau wirklich der Himmel voller Geigen hing. Jedes Jahr
brachte neue, glänzende Virtuosenerscheinungen, so dafs es für
Joseph Böhm.
Nach einer Photographie.
— 25 —
den einzelnen immer schwerer wurde, unter der Fülle von
Talenten nicht unbemerkt zu bleiben. Kein Wunder, dafs auf
diese Weise eine Oberflächlichkeit der Kunstübung in Wien
Platz griff, die nur zu sehr geneigt machte, Kunstleistungen an dem
äufserlichen Erfolg zu messen. — Meister Böhm aber liefs sich
durch solche Äufserlichkeiten weder verblüffen, noch von seinem
einmal für richtig erkannten Weg abziehen. Wohl machte er
seine Schüler mit allen Neuerscheinungen in der Violinlitteratur
bekannt, weil er der Ansicht war, dafs nur ein universelles
technisches Können geigerisch unabhängig mache; aber darüber
durften sie die geistige Nahrung und künstlerische Anregung,
die aus der hingebenden Pflege unserer herrlichen Kammer-
musik gesogen werden kann, nicht vergessen. Das Virtuosentum
in Ehren, aber der echte Künstler stärkt sein Rückenmark nur,
wenn er sich liebevoll in das Studium der Wunderwerke ver-
senkt, mit denen uns die Klassiker so überreich beschenkt haben.
Und Böhm wurde diesen hohen künstlerischen Anforderungen
in schönster Weise gerecht. Zwar spielte er schon seit Ende
der zwanziger Jahre aus eingebildeter oder wirklicher Ängst-
lichkeit und Befangenheit nicht mehr öffentlich, aber um so
eifriger pflegte er das Quartettspiel im eigenen Heim, im intimen
Freundeskreise. Joachim hat diese Quartettabende im Böhm-
schen Hause noch in lebhaftem Andenken und zählt sie zu den
schönsten Erinnerungen seines Lebens!
2.
Als Joachim nach Wien kam, waren zwölf Jahre seit dem
Tode Beethovens, elf Jahre seit dem Heimgang Schuberts ver-
flossen. Man sollte denken, dafs die Erinnerung an diese
grofsen Meister den überlebenden Zeitgenossen in mächtiger
Nachwirkung noch in allen Fibern zuckte. Dem war aber leider
nicht so. Wohl gab es einen kleinen Kreis auserwählter Geister,
der vor der imposanten Gröfse eines Beethoven in ehrfürchtiger
Bewunderung den Hut zog ; der grofsen Masse des musikliebenden
Publikums aber sollte das Verständnis für seinen Riesengeist
erst aufgehen, nachdem grofse ausübende Tonkünstler, wie
Mendelssohn, Klara Wieck, Liszt, Vieuxtemps und Joachim
durch öffentliche Vorführungen Beethovenscher Werke die gigan-
tische Gröfse ihres Schöpfers der erstaunten Mitwelt gepredigt
hatten.
Dafs der Genius eines Schubert nach Jahrzehnten erst der
bewundernden Nachwelt in seiner ganzen blühenden Schönheit
leuchten sollte, hat gewissermafsen eine menschliche Erklärung
und Entschuldigung. Das irdische Erdenwallen dieses Meisters
vollzog sich mit einer lyrischen Ruhe, die nur durch die
„Schubertiaden", feuchtfröhlichen Zusammenkünften gleichstre-
bender Feuergeister, eine leichte Kräuselung an der Oberfläche
erfuhr. Rechnet man hierzu noch seine von einem milden
Dämmerlicht beschienenen Herzensangelegenheiten und einige
kleine Reisen nach Ober-Österreich, Steiermark und Ungarn, so
hat man so ziemlich Schuberts äufseren Lebensgang erzählt.
Er besafs für die Kämpfe dieser Welt keine Initiative. Hatte
er ein Werk vollendet und seinem Freundeskreis dessen Be-
— 27 —
kanntschaft vermittelt, so hegte er wohl hin und wieder den
Wunsch, es vor die gröfsere Öffentlichkeit zu bringen; stellten
sich aber der Aufführung Schwierigkeiten und Weiterungen ent-
gegen, so liefs er die Sache fallen. Es drängte ihn, die Hun-
derte von Gedanken und Melodieen* die ihm inzwischen ein-
gefallen waren, zu Papier zu bringen, „um sie los zu werden".
Schubert, der seine Laufbahn als Komponist von Liedern begann,
hat sich als solcher gewissermafsen freiwillig den Weg in die
gröfsere Öffentlichkeit erschwert ; denn damals galten ja Lieder
mit Klavierbegleitung nicht für konzertfähig, sondern waren auf
die Pflege im häuslichen Familienkreise angewiesen 1 ). Hierzu
kommt noch der Umstand, dafs ein grofser Teil der Schubert-
schen Kompositionen, und darunter seine schönsten und reifsten
Werke, erst Jahrzehnte nach dem Tode ihres Schöpfers im
Druck erschienen, also dem Publikum und weiteren Künstler-
kreisen ganz unbekannt geblieben waren. Hauptsächlich der
begeisterten Feder des kongenialen Schumann, Liszts Trans-
skriptionen, dem Spürsinn Herbecks und dem Betreiben Hanslicks
ist es zuzuschreiben, dafs Schubert heute die ihm gebührende
Stellung einnimmt und der Liebling des deutschen Volkes ge-
worden ist.
Anders liegt die Sache bei Beethoven. Er war ein Mann
der That und stand mitten drinnen im Musiktreiben seiner Zeit.
Als ausgezeichneter Klavierspieler konnte er seine Kompositionen
selber vor die Öffentlichkeit bringen und als Dirigent für seine
Orchesterwerke persönlich eintreten. Zudem war ihm unter
den besten Künstlern und mehreren musikliebenden Aristo-
kratenfamilien ein Kreis von Freunden und Verehrern erwachsen,
der vielleicht das gewaltige Genie noch nicht in seiner To-
talität erfassen konnte, der aber doch in ahnungsvoller Be-
wunderung zu seinem Riesengeiste aufschaute. Seit dem Er-
*) Es wirkte wie eine kühne Neuerung, als Liszt 1838 in einem
seiner Wiener Konzerte dem Sänger Randhartinger einige Schubert-
sche Lieder auf dem Flügel begleitete.
— 28 —
scheinen der sechs Streichquartette, Opus 18, beherrschte Beethoven
übrigens auch auf dem Gebiete der Kammermusik die Situation
vollends, und sein künstlerischer Einflufs zog immer weitere
Kreise. So springt die geistige und technische Förderung,
welche das Violinspiel durch ihn erfuhr, ohne weiteres in die
Augen, wenn man sich die fast virtuos zu nennende Behandlung
der Geige in der für den Mulatten Bridgetower geschriebenen,
später R. Kreutzer gewidmeten Sonate Opus 47 vergegenwärtigt.
Von den Rasumowsky sehen Quartetten, Opus 59, und dem
Violinkonzert gar nicht zu reden!
Wohl hatte Schuppanzigh so ganz unrecht nicht, als er
sich bei Beethoven über manche Gewaltsamkeiten, die er den
Streichinstrumenten in den späteren Quartetten zumutete, bitter
beschwerte ; denn auch heute noch haben wir öfters die Empfin-
dung, dafs für den erschöpfenden Ausdruck der gewaltigen Ge-
danken in seinen letzten Werken auch dte schönste Geige nur
ein zerbrechlich Bing ist. Allein Beethoven war der Mann
nicht, Konzessionen zu machen. Getragen von der Idee, dafs •
die Ausdrucks- und Leistungsfähigkeit der Streichinstrumente
mit dem anmutigen Tonspiel in seinen ersten Quartetten noch
lange nicht erschöpft sei, stellte er ihnen Aufgaben, die auch
heute noch nur wenige auserwählte Künstler befriedigend zu
lösen im stände sind.
Joachim erzählt, dafs auch sein Lehrer Joseph Böhm von
Beethoven in der ersten Probe für eines der letzten Quartette
mit „Böhm, er ist ein Esel!" angefahren wurde, als er eine
Stelle für unspielbar erklärt hatte. Zur nächsten Probe aber
hatte er die betreffende Stelle doch geändert und klopfte dem
Primarius begütigend auf die Schulter mit der Frage: „Na,
Böhmerl, ist es jetzt so recht?"
Und nun vergegenwärtige man sich den Stand der Dinge
nach Beethovens Tode. Von den Zeitgenossen verwahrt sich
Spohr in seiner Selbstbiographie ausdrücklich dagegen, dafs er
zu den Bewunderern der späteren Quartette Beethovens gehöre
oder sie gar über die ersten sechs stelle. Auch ein so scharfer
— 29 —
und durchdringender Geist wie Moritz Hauptmann konnte sich
beim Anhören der letzten Quartette eines ästhetischen Un-
behagens nicht erwehren. Wenn nun so ausgezeichnete Musiker
dem himmelansteigenden Flug der Beethovenschen Muse nicht
zu folgen im stände waren, ist es da den Wiener Musikern
allzusehr zu verargen, wenn auch v sie die erhabene Schönheit
und Gröfse der gewaltigen Werke nicht zu fassen vermochten?
Wohl hat es eine Periode in Beethovens Leben gegeben,
wo es den Anschein hatte, als ob sein Genius wenigstens bei
einer kleinen Gemeinde zur vollen Würdigung gelangt wäre —
es war zur Zeit des Rasumowsky-Quartetts (1808 — 1816), dem
er in unmittelbarem Verkehr und geistiger Aussprache gewisser-
mafsen seinen künstlerischen Odem eingehaucht hatte. Es wäre
ebenso richtig gewesen, es „Beethoven-Quartett" zu nennen, da
Rasumowsky dasselbe vollständig zur Disposition des Meisters
hielt und seine Aufgabe darin erblickte, die Quartette Beethovens
mit gröfster Sorgfalt und Vollendung auszuführen. Als aber
der fürstliche zweite Geiger des Quartetts Wien verliefs und
dasselbe als „Schuppanzigh-Quartett" öffentliche Konzerte ver-
anstaltete, war es das Publikum, das sich den letzten Quar-
tetten Beethovens gegenüber ablehnend bis zur Feindseligkeit
verhielt. Das darf weiter nicht wunder nehmen ) und es wäre
übel angebracht, etwa über die Kurzsichtigkeit unserer Vor-
fahren die Nase zu rümpfen. Denn die letzten Quartette von
Beethoven können auch heute noch nur bei denjenigen ehr-
furchtsvolles Staunen und aufrichtige Bewunderung hervorrufen,
die Gelegenheit haben, sie in regelmäfsiger Wiederkehr bei
vollendeter Ausführung zu hören, oder die ihnen so viel Liebe
und Interesse entgegenbringen, dafs sie sich hingebend in das
Studium der Partituren versenken.
Mit dem Heimgange Beethovens und dem drei Jahre später
erfolgten Tod Schuppanzighs glaubten sich die tiberlebenden
Zeitgenossen der moralischen Verpflichtung ledig, ihre kostbare
Zeit dem Studium so widerhaariger und aussichtsloser Sachen
wie der letzten Quartette widmen zu müssen, und dreifsig Jahre
— So-
lang sind sie für das öffentliche Musikleben Wiens so gut wie
tot und vergessen.
Auch das Quartett der Gebrüder Müller, das anfangs der
dreifsiger Jahre mit anhaltendem Erfolg in Wien eine Anzahl
von Kammermusikabenden veranstaltet hat, wagte es nur ab und
zu, einen Satz aus Beethovens späteren Quartetten schüchtern
auf das Programm zu setzen. — Die grofse Masse des musik-
liebenden Publikums war so sehr in die Netze der italienischen
Oper verstrickt, dafs sie daneben nur noch glänzende Instru-
mentalvirtuosen gelten liefs, allenfalls auch noch den gemütlich
anheimelnden Weisen von Lanner und Straufs lauschte. Selbst
in einem Konzerte der „Gesellschaft der Musikfreunde" konnte
es 1839 noch vorkommen, dafs man bei einer Aufführung von
Schuberts Symphonie in C-dur zwischen dem ersten und zweiten
Satz derselben eine Sängerin die Bravourarie aus Donizettis
„Lucia von Lammermoor" singen liefs!
Und ebenso bezeichnend für den geradezu frivolen
Schlendrian, der sich allmählich im Wiener Musikleben jener
Tage eingenistet hatte, ist die Geschichte des Violinkonzerts von
Beethoven. Es war den tiberlebenden Zeitgenossen so sehr aus
der Erinnerung entschwunden, dafs nur wenige Geiger noch von
seiner Existenz wufsten. Einer derselben, der Amateur Holz,
von Beethoven scherzweise „mein Mahagoniholz" genannt, legte
es Vieuxtemps nahe, gelegentlich seines Auftretens in Wien
1833 doch noch einen Versuch mit dem merkwürdigen Stück
zu machen! Und der grofse belgische Geiger erzielte mit dem
Violinkonzert von Beethoven einen seiner schönsten künstlerischen
Erfolge !
Freilich, der Künstler, der uns dieses herrliche Werk erst
in seiner ganzen strahlenden Schönheit enthüllen sollte, war
vorläufig noch ein Kind, aber eines, das sich in ernster, strenger
Schulung auf das gewissenhafteste für sein zukünftiges Priester-
amt in der Kunst vorbereitete.
Während nun das Wiener Publikum sich an den Glanz-
leistungen berühmter Virtuosen und Opernsänger nicht satt
— 31 —
hören konnte, die Pflege ernster Kammermusik fast ganz aus
der Öffentlichkeit verschwunden war, und auch die Symphonieen
unserer Klassiker eine ganz ungenügende Ausführung seitens
der Dilettanten-Orchestervereine erfuhren, bereitete sich ganz
im stillen eine Wendung zum Bessern vor, wenn auch die
segensreichen Folgen davon erst nach Jahren äufserlich sichtbar
zu Tage treten sollten. Wie Böhm mehrere Jahre vorher seinen
Schüler Ernst mit den köstlichen Schätzen unserer Kammer-
musik vertraut gemacht hatte, so wurde nun der junge Joachim
Mitglied und Zeuge der intimen Quartett -Abende in Böhms
traulichem Künstlerheim. Die innige Bekanntschaft und Ver-
trautheit Joachims mit den späteren Quartetten Beethovens
datiert demnach schon aus den Lehrjahren, die er in Böhms
Hause zugebracht hatte, und er wird heute noch ganz warm
und beredt, wenn er auf das Quartettspiel seines Wiener Lehr-
meisters zu sprechen kommt. Die Sorgsamkeit und Liebe, mit
denen Böhm die Quartette der alten Meister pflegte, wirkten
auf den jungen Schüler so mächtig ein, dafs er sich dadurch
angespornt fühlte, es dem Lehrer gleich zu thun, um ihn später
in ungeahnter Weise zu übertreffen.
Und ebenso erzog Georg Hellmesberger senior seine beiden
Söhne in aller Stille zu ausgezeichneten Quartettspielern , für
welche die „letzten Beethoven" später nichts Abschreckendes
mehr haben konnten.
Diese wackeren Männer und Lehrmeister, die beide selbst
nicht mehr öffentlich auftraten, haben ihre Schuld an den
Genius Beethovens dadurch abgetragen, dafs sie in die Herzen
ihrer Schüler und Söhne den sprossenden Keim pflanzten, der
nachmals die herrrlichsten Früchte zeitigen sollte. Ernst hat
später in London die Rasumowsky-Quartette , speciell das in
E-moll, in genialer Weise interpretiert, Joseph Hellmesberger
die Wiener damit bis zum Enthusiasmus begeistert, und was
Joachim gerade auf diesem Gebiet für die musikalische
Kunst bedeutet, das ist das goldene Blatt in seinem Ruhmes-
kranz.
— 32 —
So sehen wir also den jungen Pepi unter den verschieden-
artigsten musikalischen Einflüssen zum hoffnungsvollen Knaben
heranwachsen. Auf der einen Seite von seinem trefflichen Lehrer
geigerisch so weit herangebildet, dafs er sich vor den gröfsten
technischen Schwierigkeiten nicht mehr zu fürchten brauchte,
hatte er andererseits das Glück, schon in frühesten Jahren innig
mit dem Quartettspiel vertraut zu werden, um so allmählich
das musikalische Element zum Hauptfaktor seiner Kunstleistungen
heranwachsen zu sehen. Seine Bogenführung war in der Schule
Böhms frei, gewandt geworden und hatte einen Grad von Fertig-
keit erreicht, die in wenigen Jahren schon zu vollendeter Meister-
schaft führen sollte. Die später so eminente Fähigkeit, jeder
Strichart eine besondere Physiognomie zu verleihen, die ab-
geklärte Ruhe, mit seinem Bogen einen langen Ton zu spinnen,
das Mark und die Kernigkeit seines Halbbogenstrichs, sein
Spiccato in allen Nuancen vom „Schnee und Regen bis zum
Hagel", die ausgeglichene Tongebung in allen Regionen des
Griffbretts, kurz, all die geigerischen Eigenschaften, die Joachims
Spielweise zieren, sie wurzeln im Grunde in der ausgezeich-
neten Lehrmethode Böhms. Und Joachim übt nur die Pflicht
lauterster Treue und Erkenntlichkeit, wenn er immer wieder
betont, dafs er alles, was er im specifischen Violinspiel gelernt,
seinem Wiener Lehrmeister zu verdanken habe. Freilich war
das Rüstzeug, das Böhm seinem Schüler auf den Lebensweg
mitgegeben hatte, vorläufig nur ein Pfund, mit dem dieser
wuchern mufste, die Form, die erst mit ihrem köstlichen Inhalt
erfüllt werden sollte ; aber wenn Joachim auch nach wenigen
Jahren schon den Gipfel höchster Meisterschaft erklommen
hatte, so vergafs er doch nie, dafs er auf den Schultern seines
Lehrers stand und somit einen weiteren künstlerischen Horizont
übersehen konnte.
Nachdem nun Böhm seinen talentvollen Zögling so weit ge-
fördert hatte, dafs er glaubte, ihm die geigerische Matura er-
teilen zu können, lag es in seinem Wunsche, ihn noch eine
Zeitlang den künstlerischen Einflüssen der französischen Haupt-
— 33 —
stadt auszusetzen, bevor er sich vor der grofsen Öffentlichkeit
hören liefs. Es mochte ihm dabei die Virtuosen-Carriere seines
so berühmt gewordenen Schülers Ernst vorgeschwebt haben,
der ein Jahrzehnt früher den gleichen Weg eingeschlagen hatte,
nachdem seine Studien in Wien beendigt waren.
Paris galt damals als das Centrum und der Ausgangspunkt
für alle europäischen Celebritäten, ob sie nun sangen, geigten oder
Klavier spielten; wer sich daselbst die Sporen verdient hatte,
konnte einer günstigen Aufnahme allerwärts sicher sein. Nach
der ernsten und strengen Schule, die der junge Joachim unter
Böhms Leitung absolviert hatte, wäre ein längerer Aufenthalt
in Paris für den hoffnungsreichen Knaben in der That von ent-
scheidender Bedeutung für seine Virtuosenlaufbahn geworden.
Allein es sollte anders kommen, und anfänglich zum nicht ge-
ringen Mifsvergnügen Meister Böhms!
Wie vor fünf Jahren der Besuch des Fräulein Figdor in
Pest die unmittelbare äufsere Veranlassung für die Übersiedlung
des Kindes nach Wien geworden war, so bot die kunstverstän-
dige Dame nun ihren ganzen Einflufs auf, dafs der Knabe zur
weiteren künstlerischen Entwicklung nach Leipzig geschickt
werde. Fräulein Figdor hatte sich nämlich inzwischen mit dem
Kaufmann Witgenstein vermählt und war ihrem Gatten nach
Leipzig gefolgt. Von dort schrieb sie nun an ihre Verwandten in
Wien Briefe voller Bewunderung über das rege, echt künstle-
rische Treiben in der Stadt an der Pleifse, die durch Mendels-
sohn und Schumann auf Jahrzehnte hinaus zur tonangebenden
Musikstadt Deutschlands erhoben worden war. Frau Witgen-
stein sagte sich mit vorahnender Gewifsheit, dafs Leipzig der
einzige Ort sei, wo die herrlichen Anlagen ihres jugendlichen
Vetters zur künstlerischen Reife gelangen könnten, und die
Folge hat zur Evidenz bewiesen, wie sehr sie recht gehabt hat.
Es scheint müfsig, die Frage aufzuwerfen, in welcher Rich-
tung sich Joachim wohl entwickelt haben würde, wenn er nach
Paris gegangen wäre. Wenn aber irgendwo der Satz: Verhält-
nisse bestimmen den Menschen, Geltung beanspruchen darf, so
Moser, Joseph Joachim. 3
— 34 —
ist es der Fall, wenn wir ihn in Bezug auf Joachims Über-
siedlung nach Leipzig in Anwendung bringen. In dieser Stadt
sollte der Knabe in specifisch musikalisches Fahrwasser ge-
raten, in regen künstlerischen Verkehr mit den bedeutendsten
schaffenden Tonkünstlern der Zeit treten und zum erstenmal
in seinem Leben sich an Chor- und Orchesteraufführungen
höchster Vollendung beteiligen — kurz, eine Luft einatmen, die
auf seine empfängliche Künstlerseele anregend und befruchtend
in hohem Mafse wirken mufste.
Joachim ist eine von den seltenen, glücklichen Naturen,
deren ganzer künstlerischer Entwicklungsgang von hellem Sonnen-
schein bestrahlt und erwärmt wurde ; ein gnädiges Geschick hat
ihn das nie erfahren lassen, was man einen mit Dornen 'und
Enttäuschungen besäumten Künstlerweg zu nennen pflegt. Durch
ftirsorgende Verwandte vor leidigen Existenzfragen beschützt,
hat er das Glück gehabt, stets zur rechten Zeit in die richtigen
Verhältnisse zu gelangen, so dafs er niemals in seiner Lauf-
bahn einen Schritt gethan, den er hat rückgängig machen
müssen. Alles entwickelt sich bei ihm stetig und folgerichtig
wie ein breit angelegtes crescendo, das schliefslich in einen
majestätischen Orgelpunkt aufgeht.
Zuerst wohlmeinend von treuen Freunden geführt, von
einem unvergleichlichen Lehrer beraten, hatte er sich, kaum
dem Kindesalter entwachsen, schon eine Sicherheit in der Be-
urteilung musikalischer Dinge erworben, die ihn binnen kurzem
auf die Höhe reinster und edelster Kunsttibung führen sollte.
III.
Leipzig.
?
1.
ää^ftiie ehrwürdige Kantoren Stadt an der Pleifse war schon
Imwlj seit mehr als hundert Jahren eine Pflegestatte ernster
^5^ und guter Musik gewesen, als Felix Mendelssohn-
Bartholdy im August 1835 die Leitung der Gewandhaus-Konzerte
daselbst übernahm. Während es jedoch seit Bachs Tode an
einem überragenden Geiste gefehlt hatte, der die mannigfachen
centrifugalen Kunstkräfte zu einem erspriefslichen Gedeihen
hätte zusammenfassen können, gelang es Mendelssohn schon
nach Ablauf weniger Jahre, Leipzig zum musikalischen Centrum
Deutschlands, ja der ganzen Musikwelt zu erheben. | Getragen
von dem lauteren Wunsche, seiner über alles geliebten Kunst
ein wahrer Diener und echter Priester zu sein, setzte er die
ganze Thatkraft, den vollen Enthusiasmus seiner sechsund-
zwanzigj ährigen Künstlerseele an die gestellte Aufgabe und hatte
die freudige Genugthnung , für sein hohes Streben allseitig
fördernde Aufmunterung, für die erzielten glänzenden Kesultate
bereitwilligste Anerkennung zu finden. Eine seltene Vereini-
gung von schönen menschlichen und edlen künstlerischen Eigen-
schaften prädestinierte ihn geradezu für seine bedeutungsvolle
Mission. Fufsend anf völliger materieller Unabhängigkeit und
im Besitz einer umfassenden Geistesbildung, hatte er sich in
jugendlichem Alter schon einen Künstlernamen errungen, wie
er sonst nur den Allergröfsten seiner Kunst in reiferen Jahren
beschieden zu sein pflegt. Überall da, wo seine Werke auf-
— 38 —
geführt wurden, nannte man alsbald seinen Namen mit Jubel
und Begeisterung; wo er als Klavierspieler auftrat, flogen ihm
die Herzen von jung und alt in gleicher Weise entgegen, und
wenn er als Dirigent das Podium bestieg, konnte er in gleichem
Mafse der hingehendsten Bereitwilligkeit des Chors, wie des
liebevollsten Entgegenkommens seitens der Orchestermitglieder
sicher sein.
Liest man die Berichte seiner Zeitgenossen, so thut es
einem wohl, zu sehen, mit welch neidloser Verehrung und Be-
wunderung alle diejenigen, auf die es ankam, zu dem genialen
Künstler und liebenswürdigen Menschen aufblickten. Allen
voran Robert Schumann, der zu Mendelssohn wie zu „einem
hohen Gebirge" aufschaute und bis an sein tragisches Ende
nicht aufhörte, von ihm mit dem gleichen Enthusiasmus zu
sprechen, wie er es in seiner Sturm- und Drangperiode als
Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik" gethan. Die
Musikgeschichte kennt nur in der Verehrung Haydns für Mozart
ein ähnliches Beispiel neidloser Anerkennung eines grofsen
Künstlers für einen Gleichgestellten. Und wenn hie und da
die Frage aufgeworfen wurde, welcher von beiden, Mendels-
sohn oder Schumann, der Gröfsere sei, so ist Goethes,Antwort,
als die gleiche Frage in Bezug auf ihn und Schiller gestellt
wurde, mit Fug und Recht auch auf die beiden grofsen Musiker
anzuwenden.
Mit der Gründung des Konservatoriums, April 1843, er-
öffnete sich Mendelssohn ein neues und reiches Feld für seine
künstlerische Thätigkeit in Leipzig. Robert Schumann, Moritz
Hauptmann, Ferdinand David und Chr. A. Pohlenz halfen ihm
mit hingebendem Eifer das junge Kunstinstitut in kurzem zu
einer musikalischen Pflanzstätte ersten Ranges zu erheben. Und
mit Recht konnte Schumann damals sagen: „Es giebt in Deutsch-
land, vielleicht in der Welt, keinen besseren Ort für einen
jungen Musiker als Leipzig."
Auf Grund derselben Wahrnehmung bestanden Witgensteins
so sehr auf der Übersiedlung des jungen Joachim nach Leipzig,
— 39 —
wo er im Frühjahr 1843 eintraf mit der Absicht, Zögling des
soeben eröffneten Konservatoriums zu werden. Mendelssohn,
dem der Knabe alsbald zugeführt wurde, unterzog ihn einer
ebenso eingehenden wie gründlichen Prüfung, indem er sich
einige Geigensoli anhörte, mit ihm die Kreutzer-Sonate von
Beethoven spielte und ihn einige Aufgaben in der Harmonie
ausführen liefs. Und das Resultat dieser Prüfung seitens
Mendelssohns lautete für die verblüfften Verwandten:
„Der Posaunenengel hat für sein Instrument kein Konser-
vatorium mehr nötig, überhaupt keinen Lehrer im Violinspiel.
Er könne getrost für sich allein weiter arbeiten und von Zeit
zu Zeit David etwas vorspielen, um dessen Rat und Urteil zu
hören. Im übrigen wolle er selber öfters und regelmäfsig mit
dem Jungen musizieren und ihm sein künstlerischer Berater in
musikalischen Dingen sein. Der Junge habe aber auch seine
Harmonie-Aufgaben so anstandslos und fehlerfrei gelöst, dafs er
dringend rate, diese Studien bei Hauptmann fortzusetzen, damit
er alles lerne, was man später von einem rechten Künstler ver-
langen könne und müsse. Den weitaus gröfsten Wert jedoch
lege er darauf, dafs der Knabe sorgfältigen und gründlichen
Unterricht in wissenschaftlichen Fächern erhalte, und er selber
wolle dafür Sorge tragen, dafs dieser von kundiger und be-
rufener Seite erteilt werde."
Dieser Bescheid war nun freilich für Witgensteins und den
kleinen Geiger eine Enttäuschung, aber eine so angenehme,
schmeichelhafte und vielverheifsende für des Knaben Zukunft,
dafs die Beteiligten frohen Mutes sein durften.
Witgensteins, bei denen der Knabe während der ersten
drei Jahre seines Aufenthaltes in Leipzig wohnte, liefsen es
sich angelegen sein, Mendelssohns Ratschläge auf das genaueste
zu befolgen. Magister Hering, Kandidat der Theologie, war
von ihm als wissenschaftlicher Lehrer vorgeschlagen worden,
eine ideal veranlagte, überaus feinsinnige Gelehrtennatur, die
dem lernbegierigen Knaben ein Erzieher im schönsten Sinne des
Wortes wurde. Joachim gedenkt in treuer Liebe und Dankbar-
— 40 —
keit des schlichten, anspruchslosen Mannes, der hoch oben auf
dem Turm der alten Pleifsenburg in einem vom Astronomen
Möbius abgemieteten Dachkämmerlein hauste. Um ganz unab-
hängig zu sein, besorgte sich der völlig bedürfnislose Mann
seine kleine Wirtschaft eigenhändig, und da er oft wochenlang
nicht ausging, sägte und spaltete er sich seinen kleinen Holz-
bedarf selber, um sich dadurch die nötige körperliche Bewegung
zu machen. Feine, starke Cigarren, die er in grofsen Mengen
rauchte, waren seine einzige Schwäche ; vor der täglichen Unter-
richtsstunde jedoch lüftete er sorgfältig die Stube und legte
Räucherkerzchen auf den Ofen, damit der kleine Zögling wenig-
stens unter seinem Laster nicht zu leiden hatte. Frische Äpfel
waren sein bevorzugtes Nahrungsmittel, und in rührender Zu-
neigung vergafs er nie, den rotwangigsten davon für den kleinen
Joachim vorsorglich aufzubewahren, der seinem wackeren Lehrer
in jeder Hinsicht Freude zu bereiten bemüht war.
Hering war aber neben seiner Gelahrtheit auch eine durch
und durch musikalische Natur, die sich besonders an den hehren
Werken Bachs und Beethovens begeistern konnte. In jüngeren
Jahren im Besitz einer angenehmen Tenorstimme, hat er oft
genug bei öffentlichen und privaten Aufführungen als Solist oder
im Chor mitgewirkt und sich Mendelssohns warme Anerken-
nung erworben. Dieser treffliche Mann unterwies nun den
Knaben im Lateinischen, in Geographie und Geschichte, Litte-
ratur und Religion. Besonders der Unterricht in der letzteren
hatte für Joachim die bedeutsamsten Folgen, denn Magister
Hering stand zwar auf dem festen Boden reinen, gläubigen
Christentums, war aber ein abgesagter Feind starrer Dogmatik
und toten Buchstabenglaubens. Vielmehr war es ihm darum
zu thun, seinem Schüler die verklärte Gestalt des Stifters
unserer Religion und seine erhabene Lehre vom rein ethischen
Standpunkt zu erläutern, mit strengster Vermeidung jeglichen
Proselytentums. Aus diesem Grunde hat er es vorgezogen,
statt die Kanzel zu betreten, Privatgelehrter zu bleiben, bis er
im Verlagshause von Breitkopf & Härtel eine Stellung fand, die
f\
Joseph Joachim
als zwölfjähriger Knabe.
— 41 —
seinen Fähigkeiten entsprach und den bedürfnislosen Mann
gleichzeitig unabhängig genug liefs, um seinen idealistischen
Neigungen nachgehen zu können.
Zu gleicher Zeit begannen Joachims theoretische Studien
bei Moritz Hauptmann, dem vornehmen Musiker und grund-
gelehrten Denker. Er war Kantor an der Thomasschule und,
wie schon angeführt, einer der Mitbegründer des Leipziger
Konservatoriums. In beiden Stellungen hat er sich die unein-
geschränkte Anerkennung und Bewunderung derer erworben, die
über seine, allem äufserlichen Prunke abgewandte Thätigkeit
und Wirksamkeit ein Urteil haben konnten. Eine Reihe von
tiefsinnigen, wissenschaftlichen Abhandlungen über musikalische
Kunstfragen und speciell sein Hauptwerk „Die Natur der Har-
monik und Metrik" sichern ihm den Ehrenplatz des bedeutendsten
Musiktheoretikers unseres Jahrhunderts. Von nah und fern eilten
die Kunstbeflissenen herbei, um der Unterweisung des Musik-
philosophen teilhaftig zu werden, der sein Lehramt mit ebenso
grofser Liebe ausübte, als es von bedeutenden Erfolgen gekrönt
wurde. Allein Hauptmann war nicht nur ein spekulativer Kopf
in abstrakten Theorien, sondern zugleich ein hervorragender
Tonsetzer, dessen Psalmen und Motetten auch heute noch jedem
namhafteren Kirchenchor wohlvertraut sind, und dessen Duette
für zwei Violinen unmittelbar nach den Spohrschen in der ein-
schlägigen Litteratur rangieren. Sein stupendes Wissen auf
den verschiedensten Gebieten , der hohe Ernst seiner Kunst-
anschauung, sein liebenswürdiges, unglaublich bescheidenes
Wesen und nicht zuletzt sein feiner Humor und schlagfertiger
Witz spiegeln sich am schönsten in seinen Briefen an Franz
Hauser wieder, deren Lektüre jedem ernsten Künstler ans Herz
gelegt werden mag.
War nun Joachim damals auch noch zu jung, um all die
Vorteile, die die Unterweisung eines so ausgezeichneten Lehrers
gereifteren Schülern bieten konnte, voll auszunützen, » ver-
dankt er ihm doch seine gründlichen Kenntnisse in Harmonie
und Kontrapunkt, die ihn bald befähigten, sich an freie und
— 42 —
selbständige Arbeiten heranzuwagen. Besonders der warme,
liebevolle Ton, mit dem Hauptmann seinen kleinen Zögling zu
ernster Arbeit anleitete, seine Gewissenhaftigkeit and Pünkt-
lichkeit im Unterricht leben in treuer Erinnerung des gereiften
Künstlers, der stets für den Meister eine aufrichtige Verehrung
im Herzen trug.
Nur einer XJnpünktlichkeit Hauptmanns weifs sich Joachim
noch zu entsinnen. Eines Tages wartete der Schüler wohl eine
halbe Stunde lang auf seinen Lehrer, und als dieser endlich
erschien, entschuldigte er sich ganz aufgeregt und begeistert:
„Ich habe soeben einer Privataufführung von drei Schumann-
schen Streichquartetten beigewohnt ; es war sehr schön, und ich
wüfste nicht, wer aufser Mendelssohn so etwas machen könnte!"
Wir werden Hauptmann noch öfters im Laufe unserer Dar-
stellung begegnen, denn in zahlreichen Briefen von ihm finden
wir warme und anerkennende Worte über Joachim, die beiden
Teilen zur Ehre gereichen.
Und nun zum Geigen! Wie schon im vorigen Kapitel
ausgeführt, hatte Böhm seinen Pepi im Vollbesitz einer ab-
gerundeten Technik entlassen, die allen Schwierigkeiten ge-
wachsen war; und Mendelssohn, der sich wohl auf das Geigen
verstand, bestätigte diese Auffassung durchaus. Nun studierte
der Knabe auf eigene Faust drauf los, nur von Zeit zu Zeit
David um Rat angehend bei Stücken, die er entweder noch
nicht gehört oder in Wien nicht vorgenommen hatte, hauptsäch-
lich also bei den Spohrschen Konzerten, den Bachschen Sachen
für Violine allein und den Konzerten von Beethoven und Men-
delssohn, die er nun seinem Repertoire einverleiben wollte.
Ferdinand David (1810 — 1878) war, alles in allem ge-
nommen, ein bedeutender und vielseitiger Künstler. Musikalisch
und geigerisch hervorragend veranlagt, konnte sich Mendelssohn
gar keinen gewandteren und schlagfertigeren Konzertmeister
wünschen, als diesen seinen Jugendfreund, der gleich ihm eine
sorgfältige Schulbildung genossen hatte. Was seinen Namen
der Nachwelt am längsten erhalten wird, sind seine Ausgrabungen
— 48 -
älterer Kammermusik für Violine, die er „zum Konzertgebrauch
und für den öffentlichen Vortrag" eingerichtet hatte. Leider
mufs aber ausgesprochen werden, dafs seine Verdienste in diesem
Punkt wesentlich beeinträchtigt werden durch die Art und
Weise, wie er seine „Bearbeitungen" und „Einrichtungen" aus-
geführt hat. Durch pietätlose Änderungen, Hinzufügen von
Schnörkeln und ausgeklügelten Vortragsnuancen, Anbringung
von Kadenzen, die ganz gegen den Charakter der betreffenden
Stücke verstofsen, durch das Einschmuggeln einer Unmenge von
raffinierten dynamischen Schattierungen hat er wohl die Werke
der alten Meister für den Geschmack gewisser „moderner"
Leute seiner Zeit zugestutzt, aber damit gleichzeitig jene Kunst-
werke der schlichten Einfalt ihres eigenartigen Zaubers und
Reizes beraubt 1 ).
Es giebt nur eine Form, in welcher „Bearbeitungen" ge-
stattet sein sollten, und David selber hat sie ausnahmsweise in
seiner Herausgabe der Bachschen Sonaten und Suiten für Violine
allein in Anwendung gebracht. Sie besteht darin, dafs auf einem
Notensystem der Original- und Urtext Bachs abgedruckt ist und
auf einem darunter befindlichen zweiten System die Lesart oder
Ausführungsweise des Herausgebers. So weifs jedermann, was
von dem Autor beabsichtigt oder gemeint ist, und kann sich
dann entweder der Auffassung des Bearbeiters anschliefsen oder,
wenn der Ausführung des Originals unüberwindliche Schwierig-
keiten entgegenstehen, sich selber eine subjektive Lesart nach
bestem Wissen und Gewissen zurechtlegen.
Als Lehrer seines Instrumentes hat David eine stattliche
Reihe tüchtiger und hervorragender Geiger in die Welt ge-
schickt. In der That konnten intelligente Schüler viel von
seinem Unterricht profitieren, wenn sie es vermieden, gewisse
Vortragsmanieren, die sich im Laufe der Zeit in sein Spiel
*) Als mildernd könnte die Auffassung dienen, dafs Davids Be-
arbeitungen aus jenem mangelhaften, noch ungeklärten Stilgefühl
hervorgegangen sind, das jede Zeitepoche mit sich bringt, welche
Werke vergangener Perioden erst wieder entdeckt.
— 44 —
eingeschlichen hatten, anzunehmen. Auch für die Komposition
hatte David Begabung und Geschick. Speciell für die Violine
hat er eine Menge von Sachen geschrieben, von denen manche
auch heute noch pädagogischen Wert haben; aus dem Konzert-
saal jedoch hat sie der Strom der Zeit verdrängt, weil sich
auch hier neben der Dürftigkeit der Erfindung ein Mangel an
vornehmer, künstlerischer Gestaltungskraft bemerkbar macht.
Trotz alledem gebührt dem Manne eine hervorragende Stellung
unter den Musikern der letzten Generation, hat er doch „den
Besten seiner Zeit genug gethan" mit seinem vielseitigen Können
und Wissen. Er war der Freund Mendelssohns und Schumanns,
und solche Freundschaft adelt!
Eine kleine Episode möge hier ihren Platz finden. Als
David zum erstenmal das Violinkonzert von Mendelssohn unter
allgemeinem Beifall im Leipziger Gewandhaus gespielt hatte,
trat auch Schumann auf ihn zu, um ihm seine Glückwünsche
für die schöne Leistung auszusprechen. Mit seinem gütigen
und verbindlichen Lächeln klopfte er dem Freunde auf die
Schulter und sagte: „Siehst du, lieber David, das ist so ein
Violinkonzert, wie du immer komponieren wolltest!"
Verdankt nun zwar Joachim Ferdinand David manchen
Wink und Ratschlag in geigerischen Angelegenheiten, so ist
doch der musikalische Einflufs, den Mendelssohn auf den Knaben
ausübte, der ungleich gröfsere und bedeutungsvollere, der weit-
tragendste vielleicht, der je auf ihn eingewirkt hat. Fast jeden
Sonntag musizierte der Meister mit dem „Teufelsbraten", wie
er den kleinen Geiger zu nennen pflegte, wenn er etwas be-
sonders gut gemacht hatte. Da gab es dann künstlerische und
feinsinnige Bemerkungen die Hülle und Fülle. Joachim hat sie
gar wohl im Gedächtnis behalten und citiert sie mit Vorliebe,
wenn er den Jüngeren aus dem reichen Schatze seiner Er-
fahrungen Mitteilungen macht. Vor allen Dingen beriet ihn
Mendelssohn in der Wahl der zu studierenden Stücke, denn
seine Devise war: „Ein echter Künstler soll nur das Beste
spielen." Er gewöhnte ihn daran, immer zuerst an die Musik
— 45 —
und dann erst an sein Instrument zu denken, niemals um der
angenehmeren Spielbarkeit willen die Intentionen des Kom-
ponisten zu opfern. Besonders eindringlich aber ermahnte er
seinen Schützling, die alten Meister zu ehren, und „es sei un-
künstlerisch, ja barbarisch, an ihren Werken auch nur eine
Note zu ändern". Ebenso wird Joachims unerreichtes Rubato-
spiel in erster Linie auf das Vorbild Mendelssohns zurück-
zuführen sein, der es so meisterhaft verstand, von einem Thema
zum andern überzuleiten, ohne der betreffenden Stelle die ge-
ringste Gewalt anzuthun. Auch befreite er ihn von gewissen
geigerischen Gewohnheiten und Vorurteilen, so z. B., dafs in klassi-
schen Kompositionen kein Springbogen zur Anwendung gebracht
werden dürfe. „Immerzu, mein Junge, wenn es für die betreffende
Stelle pafst und gut klingt," lautete Mendelssohns Ansicht.
Aber damit nicht genug, begleitete Mendelssohn den Knaben
zu öfteren Malen am Klavier, als er sich in Privatkreisen hören
liefs, und fast jedesmal vor der Öffentlichkeit. Joachims erstes
öffentliches Auftreten in Leipzig war in einem Konzert, das die
Sängerin Pauline Viardot-Garcia am 19. August 1843 im Ge-
wandhaus gab. Mendelssohn spielte in demselben mit Clara
Schumann zum erstenmal die Variationen für zwei Klaviere
von Robert Schumann, und Joachim, von Mendelssohn am
Flügel begleitet, ein Adagio und Rondo von B6riot. Obzwar
nun dieses erste Auftreten vor dem Leipziger Publikum dem
Knaben reiche Beifallsbezeugungen eintrug, so war es doch von
zwei mifslichen Umständen begleitet. Gleich zu Anfang des
Rondos rifs bei der im Saale herrschenden Hitze die E-Saite ;
und als der ■ Schaden beseitigt war und das wiederbegonnene
Stück im besten Zuge, ertönte plötzlich Feuerlärm, so dafs die
Zuhörer in wilder Hast aus dem Saale flüchteten. Die weitaus
angenehmste Erinnerung an dieses Konzert war für Joachim
der Umstand, dafs er in der Generalprobe zu demselben Robert
Schumann kennen lernte, der sich mit wohlgefälligem Lächeln
den zwölfjährigen Knirps betrachtete, der so früh schon vor
die Rampe treten wollte.
— 46 —
Der übrige Teil des Sommers 1843 sieht unseren jungen
Freund fleifsig an der Arbeit in den verschiedenen Fächern
seiner Erziehung und Ausbildung. Im Herbst aber war er
Zeuge eines hochkünstlerischen Ereignisses, denn Mitte Oktober
wurde im „Neuen Palais" zu Potsdam der „Sommernachtstraum"
von Mendelssohn zum erstenmal aufgeführt. Der Einfachheit
wegen sei der Anfang des Briefes mitgeteilt, in dem Fanny
Hensel ihrer Schwester Rebekka über die Aufführung berichtet :
„Berlin, 18. Oktober 1843.
Diesmal habe ich Dir auch hübsche
Sachen zu erzählen, der ,Sommernachtstraum c ist im neuen
Palais geträumt, und wenn ich den Brief erst morgen ab-
schicke, so geschieht es nur, um Dir den Erfolg der ersten
öffentlichen Vorstellung zu melden, die heute abend stattfindet.
Es war wunderschön, und besonders ist die Musik das
Zauberhafteste, was man hören kann. Ich mufs aber weiter
ausholen. Vorige Woche kam die Leipziger Musik an, um
dem Feste beizuwohnen, Hiller, David, Gade und ein aller-
liebster zwölfjähriger Ungar, Joachim, der ein so geschickter
Violinspieler ist, dafs ihn David nichts mehr zu lehren weifs,
und ein so vernünftiger Junge, dafs er allein auf der Eisen-
bahn herreist, allein im ,Rheinischen Hof wohnt, und einem
das ganz natürlich vorkommt etc."
Der Generalprobe zum „Sommernachtstraum" wohnte unter
vielen bekannten und namhaften Persönlichkeiten auch der
Beethoven-Biograph Schindler (Fami de Beethoven, wie ihn
Heine ironisch nannte) bei, der sich mit seinem Alles-Besser-
wissen und pathetischen Wesen, seiner Wichtigthuerei all-
gemeinster Unbeliebtheit bei den Musikern erfreute. Sich im
Alleinbesitz der Beethovenschen Traditionen wähnend, hat er
beim Beethovenfest in Bonn 1845 Liszt in heftigster Weise an-
gegriffen und gelegentlich eines anderen niederrheinischen Musik-
festes auch Spohr mit seinen aufdringlichen Ratschlägen in so
unangenehmer Weise behelligt, dafs letzterer sich mit den
Worten: „Schützen Sie mich vor diesem lästigen Menschen"
— 47 —
an das Komitee wandte. Während der Zwischenpausen erging
sich das zur Generalprobe geladene Publikum im Freien ; Gade,
Eckert und Joachim promenierten mit Schindler. Plötzlich
wandte sich der dänische Komponist an den Knaben mit dem
Ausrufe: „Lassen du dich nun belehren von diese lange, weise
Mann; ich sein schon genug klug davon!" Sprach's und ver-
schwand mit Eckert am Arm in einem Seitengange, den ver-
dutzten jungen Geiger mit dem langen Mann allein lassend.
In Berlin hat Meister Felix seinen kleinen Schützling natür-
lich den Verwandten vorgestellt und damit die freundschaft-
lichen Beziehungen eingeleitet, die Joachim bis auf den heutigen
Tag mit den verschiedenen Mitgliedern der Familie Mendels-
sohn verbinden. Im Hause von Felix' jüngerem Bruder, Paul
Mendelssohn-Bartholdy , hatte der Knabe Gelegenheit, seine
musikalische Frühreife im ä vista-Spiel zu erweisen. Mendels-
sohn wollte nämlich eines Abends mit mehreren Kammermusikern
das Septett von Hummel vortragen, allein Konzertmeister Hub.
Ries, der darin die erste Geige spielen sollte, hatte in letzter
Stunde abgesagt, so dafs die Aufführung des Werkes zu scheitern
drohte. Nun wandte sich Mendelssohn an Joachim mit den
Worten: „Hören Sie, Teufelsbraten, Sie müssen uns aus der
Klemme helfen und für Ries einspringen!" Sofort erklärte sich
dieser bereit dazu. Nachdem eingestimmt war, rief Konzert-
meister Ganz, der die Bratschenpartie übernommen hatte, dem
Knaben zu: „Na, du armes, kleines Wurm, nun wirst du dich
aber höllisch zusammennehmen müssen, denn das ist doch noch
eine ganz andere Sache, als so ein paar Solochen zu spielen ! u
Mendelssohn, der seines Schützlings ganz sicher war, amüsierte
sich königlich über den mitleidigen Rat des Bratschisten, und
als das Stück glatt und prompt ohne jeden Zwischenfall zu
Ende gekommen war, sagte er schmunzelnd zu dem verblüfften
Konzertmeister: „Na, lieber Ganz, das arme, kleine Wurm hat
seine Sache doch wohl besser gemacht, als Sie gedacht haben!"
Vier Wochen später, am 16. November 1843, spielte
Joachim in einem Gewandhauskonzert unter Mendelssohns Lei-
— 48 —
tung die „Othello-Phantasie* 4 von Ernst, und nach dem über-
einstimmenden Urteil aller war das eine geigerisch so vollendete
Leistung, dafs kein Zweifel über die glänzende Zukunft des
Wunderknaben mehr möglich sein konnte. Besonders Mendels-
sohn war von manchen Einzelheiten ganz entzückt, speciell von
der kecken Entschlossenheit, mit welcher der Junge im Finale
der Phantasie das hohe Cis auf der E-Saite packte. Mendels-
sohn hat diesen geigerischen Effekt musikalisch bedeutsam
verwertet, denn der Kenner findet die merkwürdig ähnliche
Stelle im Finale seines Violinkonzertes als Übergang zur Coda
wieder.
War unser kleiner Held mittlerweile auch zu einer lokalen
Berühmtheit geworden, so hatte er doch das Glück, dafs seine
Leipziger Verwandten das Ziel einer vernünftigen Erziehung
desselben nicht aus den Augen verloren. Witgensteins sorgten
in ebenso verständiger wie liebevoller Weise dafür, dafs der
Knabe nicht eingebildet wurde, seine herrlichen musikalischen
Anlagen sich vielmehr Hand in Hand mit seinen Charakter-
eigenschaften entwickelten. Er mufste sich streng der Haus-
ordnung fügen, wie irgend ein anderer Junge seines Alters, früh
zu Bette gehen und zeitig aufstehen. Die einzige Ausnahme
von dieser Regel bildete sein Verkehr mit Mendelssohn. Wo
dieser öffentlich oder privatim Musik machte, durfte er dabei
sein, und es ist eines der rührendsten Zeugnisse für den edlen
Menschen Mendelssohn, dafs er in den meisten Fällen den
Knaben selber nach Hause geleitete. — War Mendelssohn dem
kleinen Geiger von Anfang an der wohlwollendste Freund und
Berater in künstlerischen Dingen gewesen, so trat er ihm nun
auch menschlich näher, als er einmal beim Nachhausebringen
des Knaben auf ein Jean Paulsches Citat mit einer passenden
Antwort aus den „Flegeljahren" von diesem überrascht wurde.
Seit jenem Abend steigerte sich Mendelssohns Interesse für den
„Teufelsbraten" bis zur gröfsten Herzlichkeit, denn gleich
Schumann schätzte auch er in erster Linie solche Künstler, „die
nicht nur ein oder zwei Instrumente passabel spielen, sondern
!
il
sä
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•i
st
I
— 49 —
ganze Menschen, die den Shakespeare und den Jean Paul ver-
stehen".
Auch Mendelssohns edle Gattin, Cöcile, war dem Knaben,
der ihrem Manne so viel Freude bereitete, in wahrhaft mütter-
licher Freundschaft zugethan, so dafs Joachim die Stunden, die
er in Mendelssohns traulichem Heim verbringen durfte, zu den
schönsten Erinnerungen seines Lebens zählt.
Wie grofse Fortschritte Joachim während des ersten Jahres
seines Aufenthaltes in Leipzig gemacht hat, geht aus folgendem
Brief Hauptmanns an Franz Hauser (April 1844) hervor:
„ Da ist der Joachim aus Wien , der scheint's
so leicht gelernt zu haben; er ist mit viel Talent früh zu
guter, stetiger Schule bei Böhm gekommen, jetzt spielt er
vielleicht eine Stunde (täglich), hat neulich die Spohrsche
Gesangsscene , die er einige Tage vorher mit David vor-
genommen hatte, im Gewandhaus — die Veranlassung war
unvorhergesehen — gespielt, und da die Solostimme sich
nicht fand, auswendig gespielt und so, dafs Spohr selbst
seine grofse Freude daran gehabt haben würde. Im Gesang
von ganz rührender Schönheit, glockenrein in der Intonation
bei den schwersten Stellen und unfehlbar sicher."
Moser, Joseph Joachim.
1
2.
Inzwischen war die Kunde von dem glänzenden Talent des
Wunderknaben auch bis nach London gedrungen, wo ein Onkel
von ihm lebte und sein Bruder Heinrich. Aus verschiedenen
Gründen konnte ein erfolgreiches Auftreten in der Hauptstadt
Englands für des Knaben Zukunft von weittragender Bedeutung
werden, und so unternahm er denn anfangs 1844 die Reise
dorthin. Von den verschiedenen Empfehlungsbriefen, die ihm
an einflufsreiche Persönlichkeiten in London mitgegeben wor-
den waren, sei nur derjenige mitgeteilt, den er von Mendels-
sohn für den Dichter H. Klingemann, hannoverschen Gesandt-
schaftssekretär daselbst, erhalten hatte:
„Durch diese Zeilen mache ich Dich mit einem Knaben
bekannt, der mir seit der dreivierteljährigen Bekanntschaft,
die ich mit ihm habe, so ans Herz gewachsen, den ich so
wahrhaft lieb habe und hochschätze, wie ich es nur von
wenigen Bekannten der letzten Zeit sagen kann. Es ist der
dreizehnjährige Joseph Joachim aus Ungarn. Sein wirklich
wunderbares Violinspielertalent kann ich Dir nicht genug
beschreiben, Du mufst es selbst hören, und aus der Art, wie
er alle jetzigen und früheren Solos spielt, wie er alles
dechiffriert, was auf Noten steht, wie er Musik kennt und
hört, auf die herrlichen Aussichten, die die Kunst von ihm
haben kann, schliefsen, um ihn so hoch zu stellen, wie ich
es thue. Aber dabei ist er zugleich ein trefflicher, kern-
gesunder, wohlerzogener, durchaus braver, kluger Junge, voll
Verstand und voll rechter Ehrlichkeit. Darum sei ihm
freundlich, nimm Dich im grofsen London seiner an und stelle
— 51 —
ihn denjenigen unserer Bekannten vor, die eine so herrliche
. Erscheinung zu würdigen wissen und an denen er sich seiner-
seits wieder erfreuen und heranbilden kanu. Was Du ihm
Gutes thust, das thust Du auch mir."
Da Joachim auch an Ignaz Moscheies empfohlen war, so
veranlafste dieser das erste Auftreten des Knaben in einem
Konzert, das der Unternehmer Bunn am 28. März 1844 im
Drury-Lane-Theater veranstaltete. Moscheies spielte in dem-
selben seine „Fantasie über irische Volkslieder" und Joachim
die bereits erprobte „Othello-Fantasie" von Ernst. Dem Kon-
zert folgte Balfes Oper „The Bohemian girl", und die Reklame-
notiz, ohne die es jenseits des Kanals nicht gut abgeht, lautete :
„In the Concert before the Bohemian girl the celebrated
Hongarian boy Joseph Joachim will perform." Mendelssohn,
der mittlerweile auch nach London gekommen war, hatte seinen
hellen Spafs an dem Verdrufs des Jungen über die Art der
Reklame und nannte ihn von da ab scherzweise „my Hon-
garian boy".
Am 19. Mai 1844 veranstaltete Jules Benedict ein Riesen-
konzert mit dreiundzwanzig Nummern, und die folgenden Künstler
bestritten die Ausführung des Programms: Mendelssohn, Grisi,
Shaw, Mario, Salvi, Lablache, Staudigl, M me Dulken, Thalberg,
Sivori, Joachim, Parish-Alvars. Schon die blofse Thatsache,
dafs ein dreizehnjähriger Knabe es wagte, im Verein mit den
gröfsten europäischen Berühmtheiten der damaligen Zeit vor
die Rampe zu treten, fordert staunende Bewunderung heraus.
Dafs er aber, vom Publikum mit Beifall überschüttet, auch die
herzliche Anerkennung eines Künstlers wie Lablache errungen
hat, geht schon aus dem Umstände hervor, dafs dieser von nun
ab überall gegenwärtig war, wo der Knabe sich hören liefs.
Und wenn er eine Steile besonders schön in Tongebung und
Phrasierung gespielt hatte, so durfte er sicher sein, dafs ihm
aus irgend einer Ecke des Saales die klangvolle Stimme La-
blaches darüber mit einem lauten „serr gutt" aufmunternd und
dankend quittierte.
4*
— 52 —
Hatte sich Joachim auf diese Weise bei dem Londoner
Publikum auf das Günstigste eingeführt, so gestaltete sich sein
Auftreten im fünften philharmonischen Konzert zu einem künst-
lerischen Ereignis ersten Ranges, denn er spielte in diesem
am 27. Mai 1844 unter Mendelssohns Direktion zum ersten-
mal das Violinkonzert von Beethoven, jenes wunderbare Werk,
mit dessen idealer, vollendeter Wiedergabe er seitdem Tausende
und Abertausende begeistert hat und seit mehr als einem halben
Jahrhundert ohne Rivalen dasteht. Die Statuten der phil-
harmonischen Gesellschaft liefsen sonst das Auftreten von Wunder-
kindern in ihren Konzerten nicht zu; allein es war Mendels-
sohn gelungen, das Komitee davon zu überzeugen, dafs es sich
hier nicht um das Ausstellen eines künstlich gereiften Treib-
hausgewächses handle, sondern um die herrlichen Leistungen
eines Künstlers, der blofs zufälligerweise noch sehr jung sei.
Die eingehende Besprechung der Interpretation des Beethoven-
schen Konzerts, das mit Joachims Namen auf Generationen
hinaus unauflöslich verknüpft ist, sei einem späteren Kapitel
vorbehalten ; für jetzt möge nur der Brief folgen, den Mendels-
sohn am Tage nach dem Konzert an Witgensteins in Leipzig
geschrieben hat.
„Verehrter Herr!
Ich kann's nicht unterlassen, wenigstens mit einigen
Worten Ihnen zu sagen, welch einen unerhörten, beispiellosen
Erfolg unser lieber Joseph gestern Abend im Philharmonischen
Konzert durch seinen Vortrag des Beethovenschen Violin-
konzertes gehabt hat. Ein Jubel des ganzen Publikums, eine
einstimmige Liebe und Hochachtung aller Musiker, eine herz-
liche Zuneigung von allen, die an der Musik aufrichtig teil-
nehmen und die schönsten Hoffnungen auf solch ein Talent
bauen — das Alles sprach sich am gestrigen Abend aus.
Haben Sie Dank, dafs Sie und Ihre Gemahlin die Ursache
waren, diesen vortrefflichen Knaben in unsere Gegend zu
bringen ; haben Sie Dank für alle Freude, die er mir nament-
lich gemacht hat, und erhalte ihn der Himmel nur in guter,
— 53 —
fester Gesundheit; alles andere, was wir für ihn wünschen,
wird dann nicht ausbleiben — oder vielmehr, es kann nicht
ausbleiben, denn er braucht nicht mehr ein trefflicher Künstler
und ein braver Mensch zu werden, er ist es schon so
sicher, wie es je ein Knabe seines Alters sein kann oder
gewesen ist.
Die Aufregung, in die er schon in der Probe alle Leute
versetzt hatte, war so grofs, dafs ein rasender Applaus an-
fing, sobald er gestern ins Orchester trat, und es dauerte
sehr lange, bis das Stück beginnen konnte. Dann spielte er
aber den Anfang so herrlich, so sicher und rein, und trotz-
dem , dafs er ohne Noten spielte , mit solcher untadeligen
Festigkeit, dafs das Publikum ihn noch vor dem ersten
grofsen Tutti dreimal durch Applaudieren . unterbrach und
dann das halbe Tutti durch applaudierte ; ebenso unterbrachen
sie ihn einmal mitten in seiner Kadenz, und nach dem ersten
Stücke hörte der Lärm eben nur auf, weil er einmal auf-
hören mufste und weil den Leuten die Hände vom Klatschen
und die Kehlen vom Schreien weh thun mufsten. Es war
eine grofse Freude, das mit anzusehen, und dabei des Knaben
ruhige und feste, durch nichts angefochtene Bescheidenheit.
Er sagte mir nach dem ersten Stück leise: ,Ich habe doch
eigentlich sehr grofse Angst 4 . Der Jubel des Publikums be-
gleitete jede einzelne Stelle das ganze Konzert hindurch ; als
es aus war und ich ihn schon die Treppe heruntergebracht
hatte, mufste ich ihn noch einmal wieder holen, dafs er noch
einmal sich bedankte, und auch dann dauerte der donnernde
Lärm noch, bis er lange wieder die Treppe herunter und
aus dem Saal war. Ein Erfolg, wie der anerkannteste, be-
rühmteste Künstler ihn nie besser wünschen und besser
haben kann.
Der Hauptzweck, der bei einem ersten englischen Auf-
enthalt nach meiner Meinung zu erreichen war, ist hierdurch
aufs vollständigste erreicht: Alles, was sich hier für Musik
interessiert, ist ihm Freund und wird seiner eingedenk bleiben.
— 54 —
Nun wünsche ich, was Sie wissen : dafs er bald zu vollkommener
Ruhe und gänzlicher Abgeschiedenheit vom äufserlichen Treiben
zurückkehre, dafs er die nächsten zwei bis drei Jahre nur dazu
anwende, sein Inneres in jeder Beziehung zu bilden, sich dabei
in allen Fächern seiner Kunst zu üben, in denen es ihm noch
fehlt, ohne das zu vernachlässigen, was er schon erreicht hat,
fleifsig zu komponieren, noch fleifsiger spazieren zu gehen und
für seine körperliche Entwicklung zu sorgen, um dann in drei
Jahren ein so gesunder Jüngling an Körper und Geist zu
sein, wie er jetzt ein Knabe ist. Ohne vollkommene Ruhe
halte ich das für unmöglich ; möge sie ihm vergönnt sein zu
allem Guten, was der Himmel ihm schon gab.
An Ihre Frau Gemahlin, ist der Brief mitgerichtet; also
nur noch ein kurzes Lebewohl von Ihrem ergebensten
Felix Mendelssohn-Bartholdy."
Was Wunder, dafs Joachim durch diese Heldenthat mit
einem Schlage zur wirklichen Berühmtheit in England wurde,
sich ihm alle Thüren und Thore zu glänzenden Erfolgen öffneten !
Auch in einem Hofkonzert, dem die Königin Viktoria und ihr
Gemahl, Prinz Albert, der Kaiser Nikolaus von Rufsland und
der König von Sachsen, Friedrich August IL, beiwohnten, konnte
er seine frühreife Künstlerschaft bewundern lassen. In Privat-
kreisen wurde ihm überdies Gelegenheit, seine eminente Be-
gabung für das Quartettspiel zu erweisen, das besonders im
Hause des „Times "-Mitarbeiters Mr. Alsager eifrig gepflegt
wurde. Dieser war ein begeisterter Musikliebhaber und schwärmte
vor allem für die letzten Quartette von Beethoven; in seinem
Hause verkehrten alle namhaften Künstler, die nach England
kamen, um daselbst Ruhm und Gold zu ernten.
Für den weitaus gröfsten Teil der England besuchenden
Virtuosen ist das Spielen in Gesellschaften und Privatzirkeln
die Haupterwerbsquelle für materiellen Gewinn. Joachim hat
jedoch niemals in Gesellschaften gegen Honorar gespielt, weder
in London noch sonst irgendwo. Ein einziges unliebsames Vor-
kommnis in seinen Jugendjahren hat ihn bestimmt, diesem Vor-
— 55 —
haben nie untreu zu werden. Er hat sich dadurch völlige Un-
abhängigkeit bewahrt und erscheint in Gesellschaften nur als
Gleichberechtigter. Hingegen ist Joachim in Freundeskreisen,
wo er weifs, dafs seine Kunst die Herzen der Anwesenden er-
freuen könnte, stets gern bereit, Musik zu machen; und ab-
gesehen von der Vornehmheit seiner Vorträge ist er auch
quantitativ so freigebig darin, wie nur irgend einer!
Die Rückfahrt nach Deutschland, die Joachim ebenso wie
die Reise nach England allein gemacht hatte , lebt jetzt noch
mit ihren Schrecknissen in seiner Erinnerung. Klingemann
hatte den Knaben in London aufs Schiff gebracht und ihn der
Fürsorge des hannoverschen Kuriers empfohlen. Während der
überaus stürmischen Fahrt nach Hamburg — ein Orkan hatte
sogar den Hauptmast des Schiffes zertrümmert — war es diesem
jedoch nicht eingefallen, sich um seinen Schutzbefohlenen zu
kümmern; nur der Kapitän hatte sich des seekranken kleinen
Reisenden in rührender Weise angenommen. In Cuxhaven end-
lich entschlofs sich Joachim, nach dem Kurier zu sehen und
öffnete die Thür zu seiner Kajüte. Aber, o Schrecken, der
Mann hatte sich während der Überfahrt den Hals durchschnitten
und lag tot auf dem Boden. Ein fürchterlicher Anblick für ein
dreizehnjähriges Kind!
Glücklich wieder nach Leipzig und in die vertrauten Ver-
hältnisse zurückgekehrt, wirkte Joachim im Winter 1844 auf
1845 in einigen Konzerten im Gewandhaus mit, die gleich
ehrenvoll für ihn waren : am 25. November spielte er mit Ernst,
Bazzini und David, Maurers Concertante für vier Violinen und
am 4. Dezember in einem Konzerte der Jenny Lind, auf diese
Weise eine Bekanntschaft eingehend, die bis zum Hinscheiden
der herrlichen Künstlerin andauern sollte. Über die glänzende
Ausführung des Maurerschen Concertante seitens der vier
Künstler berichtet A. Dörffel in seiner „Geschichte der Gewand-
hauskonzerte" : „In den Kadenzen spielten die beiden zuerst ge-
nannten, Ernst voran, ihre höchsten Trümpfe aus; sie wurden
aber mit der Kadenz von Joachim, der die dritte Stimme hatte,
— 56 —
in einer so genial-liebenswürdigen Weise ,eskamotiert', dafs
Ernst unwillkürlich in ein lautes ,Bravo!' ausbrach und David
als vierter Spieler seine Kadenz dann ganz wegliefs. Das war
wohl ein Ereignis einzig in seiner Art. Da die Gelegenheit
günstig und der Wunsch, das Concertante nochmals zu hören,
ein allgemeiner war, so veranlafste man die vier Künstler, das-
selbe am 12. Dezember im Abonnementkonzert zu wiederholen.
Dies geschah, und das Stück erregte wiederum die gröfste Sen-
sation."
Ein Ereignis von begreiflicher Wichtigkeit für Joachim
wurde seine Bekanntschaft mit Spohr, den er zum erstenmal
in einer kleinen Abendgesellschaft bei Moritz Hauptmann traf.
Wie allgemein bekannt, stand Spohr bei seinen Zeitgenossen im
höchsten Ansehen, und die hervorragendsten Musiker wett-
eiferten förmlich miteinander, ihm ihre Verehrung zu Füfsen
zu legen. Diese Anerkennung verdankte er vor allem dem
hohen sittlichen Ernst, mit dem er ein langes Leben hindurch
seiner Kunst gedient. Zu dem Altmeister des deutschen Geigen-
spiels schauten die Jüngeren wie zu einem unerreichbaren Vor-
bild hinauf, und sein Einflufs auf die Entwicklung des Violin-
spiels kann schlechterdings nicht überschätzt werden. Als
ausübender Tonkünstler war er ein Meister allerersten Ranges,
im vornehmsten und edelsten Sinne, und die zahlreichen Kom-
positionen, die er für sein Instrument geschrieben, sichern ihm
für immer einen Ehrenplatz in der Geigenlitteratur. Aber auch
was er als Lehrer und Orchesterdirigent geleistet, sowie sein
tonschöpferisches Wirken auf den verschiedensten Gebieten
räumen ihm einen hohen Bang ein unter den grofsen Meistern
unseres Vaterlandes. Wie sein majestätisches Äufsere, impo-
nierte auch sein ganzes Wesen, das einen hohen, festen Sinn
ausdrückte, jedoch nicht ganz frei war von einer gewissen Ein-
seitigkeit, eckigen Rauheit und gesellschaftlichen Schwerfällig-
keit. Eine Probe davon:
In jener Abendgesellschaft bei Hauptmann wurde zuerst
das C-moll-Trio von Mendelssohn gespielt, das Spohr zugeeignet
— 57 —
ist; darauf folgte ein Mendelssohn gewidmetes Trio von Spohr.
Mendelssohn safs am Klavier, Spohr geigte, und Julius Rietz
hatte das Violoncell übernommen. Als nun das Scherzo des
Mendelssohnschen Trios beginnen sollte, frug Spohr den Kompo-
nisten nach dem Zeitmafs. Darauf erwiderte dieser in seiner
liebenswürdig verbindlichen Weise: „Fangen wir nur an, wie
Sie das Tempo nehmen wird's schon richtig sein." Als hierauf
das Trio von Spohr an die Reihe kam, wünschte Mendelssohn
zu wissen, wie schnell dieser den ersten Satz genommen haben
wollte. „Na, so!" ruft Spohr, „eins, zwei, drei, vier", und
dazu schlägt er dem Komponisten des „ Sommernachtstraumes" mit
seinem Bogen die Viertel vor, als ob er es mit einem Zögling
des Konservatoriums zu thun gehabt hätte.
Fand Joachim bei diesem kurzen Besuche Spohrs in Leipzig
keine Gelegenheit, dem auch von ihm hochverehrten Altmeister
vorzuspielen, so wurde ihm diese Auszeichnung zu teil, als
dieser zu Pfingsten 1846 wieder nach Leipzig kam. Mendels-
sohn ehrte den illustren Gast dadurch, dafs er in einer im-
provisierten Matinee im Gewandhaus verschiedene Kompositionen
von Spohr zur Aufführung brachte. Auch Joachim sollte etwas
von Spohr vortragen; da aber dieser Besuch völlig unerwartet
gekommen war, so sträubte er sich begreiflicherweise, dem
Meister mit einer unvorbereiteten Leistung aufzuwarten. Allein
Mendelssohn machte allen Weiterungen des Knaben ein Ende,
indem er rief: „Joachim, Sie müssen dran, denn Sie sind unser
Pfingstochse heute und sollen geopfert werden!" Nun spielte
er das siebente Konzert (in E-moll) von Spohr zur gröfsten
Zufriedenheit des Komponisten, der diese Leistung in seiner
Selbstbiographie als „eine ganz meisterhafte" bezeichnet hat.
Ein Beweis übrigens, zu welcher Leistungsfähigkeit Men-
delssohn das Gewandhausorchester erzogen hatte, liegt darin,
dafs dasselbe in dieser Matinee Spohrs eminent schwierige
Symphonie „Die Weihe der Töne" ohne Probe in gröfster
Vollendung spielte. Spohr safs im Zuhörerraum in der ersten
Reihe. Nach dem zweiten Satz der Symphonie stieg Mendels-
— 58 —
söhn vom Podium herab , ging auf den Komponisten zu und
bat den Herrn Generalmusikdirektor, dem Orchester die Ehre
zu erweisen, den dritten Satz seines Werkes selber zu diri-
gieren. Darauf erhob sich der imposante würdige Herr unter
dem allgemeinen Jubel der Zuhörer und ergriff den Dirigenten-
stab. Während nun die majestätischen Tonfluten das Haus
erfüllten, fiel dem Konzertmeister David zu seinem Schrecken
ein, dafs Mendelssohn bei einer vor Jahren stattgehabten Auf-
führung eine gröfsere Kürzung an dem Stücke vorgenommen
hatte und dafs dieser Sprung zwar in den Orchesterstimmen,
nicht aber in der Partitur ausgezeichnet sei. Eine Katastrophe
befürchtend, schlich sich David an das Dirigentenpult heran,
um Spohr seine Wahrnehmung zuzuraunen. Aber mit olympischer
Ruhe dirigierte Spohr weiter, nachdem er dem Konzertmeister
zugerufen hatte : „Habe ich in Kassel auch gemacht ; das Stück
ist zu lang."
Da die Familie Witgenstein im Laufe der Jahre eine Ver-
größerung durch mehrere Kinder erfahren hatte, Joachim
mittlerweile auch schon fünfzehn Jahre alt geworden war, so
mufste dafür Sorge getragen werden, ihn in einer anderen Fa-
milie unterzubringen. Die Wahl fiel, wieder auf Mendelssohns
Vorschlag, auf den Konzertmeister Klengel, in dessen Hause
der Jüngling fortab bis zu seinem Weggang von Leipzig wohnte.
Und da der Sohn des Konzertmeisters in dem Rufe eines aus-
gezeichneten Pädagogen stand, so übernahm nun Dr. Klengel
an Stelle des Magisters Hering die geistige Fortbildung des
jungen Künstlers. Auch dieser Erzieher hat auf das Gemüt
Joachims in der günstigsten Weise eingewirkt, ein weiterer
Beleg für die schon im vorigen Kapitel erwähnte Thatsache,
dafs ihn sein guter Stern stets die besten Lehrer, Ratgeber
und Freunde finden liefs. Dr. Klengel war seinem Berufe mit
Leib und Seele ergeben; eine nichts weniger als trockene Ge-
lehrtennatur, schwärmte er in gleicher Weise für Eichendorff
wie für den Homer. Joachim denkt immer noch mit Vergnügen
an die Sonntagsstunden, wo der Lehrer in Gegenwart des
— 59 —
Schülers Verse aus der Odyssee citierte, um sich an dem herr-
lichen Klang der griechischen Sprache zu begeistern und ihn
für deren Schönheit zu gewinnen. Besonders wichtig aber war
der Umstand, dafs Dr. Klengel gleichzeitig hervorragend musi-
kalisch begabt und, wenn auch nicht zum berufsmäfsigen
Musiker ausgebildet, doch in der Tonsetzkunst so bewandert war,
dafs er eine ganze Anzahl von Kompositionen veröffentlicht hat,
die von seinen Talenten eine ungemein günstige Vorstellung
geben. Er war ein enthusiastischer Verehrer von Robert Schu-
mann, und seinem Einflufs hauptsächlich ist es zuzuschreiben,
dafs sich auch der junge Joachim immer mehr dem eigen-
artigen Zauber der Schumannschen Muse zuneigte.
Es ist ganz klar, dafs eine so glänzende und liebens-
würdige Künstlergestalt wie Mendelssohn auf den Knaben eine
ungleich gröfsere Anziehungskraft ausüben mufste, wie der meist
zugeknöpfte, wortkarge und in sich gekehrte Schumann. Ebenso
bedarf es keiner weitschweifigen Auseinandersetzung, dafs für
ein wirkliches Verständnis Schumannscher Werke Voraussetzungen
geistiger und poetischer Art vorhanden sein müssen, die von
einem kaum dem Kindesalter entwachsenen Knaben unmöglich
erfüllt werden können. Mit dem Übergang aus dem Knaben-
in das Jünglingsalter fällt bei Joachim auch das liebevolle Ver-
senken in Schumanns poetische Eigenart zusammen. Und wie
grofs später seine Liebe und Verehrung für Schumann geworden,
wie unvergleichlich schön er gerade seine Kammermusik spielt,
und w r elch herzliches Freundschaftsverhältnis sich zwischen
beiden Künstlern herausgebildet hat, davon soll in späteren
Kapiteln noch ausführlich die Rede sein.
Wie warm aber der Anteil Schumanns an dem vielver-
sprechenden Talent des Knaben schon in der Leipziger Zeit
war, bezeugt die folgende kleine Episode : In einer Abendgesell-
schaft bei Mendelssohn hatte dieser mit Joachim die Kreutzer-
sonate von Beethoven gespielt. Nach der Musik nahm die
Gesellschaft in zwangloser Weise an kleinen Tischen das Abend-
brot ein. Joachim fand sein Unterkommen an einem Tischchen,
— 60 —
an dem Schumann safs. Es war Sommerszeit, und durch
die weitgeöffneten Fenster sah man den mit unzähligen Sternen
besäeten Nachthimmel. Da berührte Schumann, der lange
schweigsam dagesessen hatte, leise das Knie seines kleinen
Nachbarn, und mit der Hand auf den Sternenhimmel deutend,
sagte er in seiner unnachahmlich gütigen Weise: „Ob wohl da
droben Wesen existieren mögen, die wissen, wie schön hier auf
Erden ein kleiner Junge mit Mendelssohn die Kreutzersonate
gespielt hat?"
Auch die Bekanntschaft Joachims mit Clara Schumann fällt
noch in die Leipziger Zeit, da er öfters das Glück hatte, mit
der allverehrten Künstlerin musizieren zu dürfen. Erst das
Hinscheiden der ehrwürdigen Greisin löste den innigen Freund-
schaftsbund, der ein halbes Jahrhundert überdauerte, und dem
die Mitlebenden so viele köstliche Stunden reinsten, ungetrübten
Kunstgenusses zu verdanken haben.
Die Zeit, während welcher Mendelssohn länger von Leipzig
abwesend war, benutzte Joachim fleifsig zu kompositorischen
Versuchen, und wenn dann Meister Felix wieder auf einen
Sprung dahin zurückkehrte, wurden die Arbeiten vorgelegt und
von ihm in eingehender Weise besprochen. Eines Tages brachte
ihm Joachim zwei Sonaten für Klavier und Geige, die während
Mendelssohns Abwesenheit komponiert worden waren, zur Be-
urteilung. Befriedigt lächelnd sagte der Meister : „Sieschreiben
aber schon eine gute Hand!" Darauf bemerkte der Schüler,
dafs nicht er, sondern der Kopist diese Noten geschrieben
hätte. „Schöps, das meine ich ja gar nicht," gab Mendelssohn
lachend zur Antwort, „sondern dafs Ihr Tonsatz natürlich und
fliefsend geworden ist!"
Neben dem Verkehr in Mendelssohns und Hauptmanns
Hause trat Joachim auch in freundschaftliche Beziehungen zu
Gade, der interimistisch die Gewandhauskonzerte dirigierte, zu
Ferdinand Hiller, Julius Rietz und vielen anderen bedeutenden
Künstlern, die in Leipzig lebten oder dahin kamen, um dort zu
konzertieren. Auch die erste Bekanntschaft mit Robert Franz
— 61 —
fällt noch in die Leipziger Zeit. In den kunstsinnigen Familien
Frege und Härtel war er ein gerngesehener Gast, und in letz-
terem Hause lernte er Otto Jahn, den späteren Biographen
Mozarts, kennen, ferner den Historiker Mommsen, den Maler
Preller und andere Berühmtheiten.
Von kleineren Konzertausflügen sei der nach Dresden be-
sonders angeführt, weil er ihm die Bekanntschaft und rückhalt-
lose Anerkennung Meister Lipinskis eintrug, der damals als
Bachspieler par excellence allgemein verehrt wurde. Veranlafst
wurde dieser Abstecher durch folgenden Brief:
+ „Dresden, 9. Nov. 45.
Lieber Mendelssohn,
meine arme Frau ist krank, nicht bedenklich, doch so, dafs
sie übermorgen im ersten Abonnementskonzert nicht spielen
kann. Die Direktion ist nun in grofser Verlegenheit. Da
dachte ich an Joachim, ob der nicht kommen könnte, und an
Ihre immer gern unterstützende Freundlichkeit, ob Sie Joachim
nicht dazu aufmuntern helfen wollten. Freilich, die gröfste
Eile ist von nöthen. Mein Schwiegervater hat sich deshalb
gleich selbst auf den Weg gemacht. Wollten Sie ihm nun
noch diesen Abend in seinen Bemühungen behülflich sein da-
durch, dafs sie ein paar Zeilen an Joachim schrieben oder
dafs Sie meinen Schwiegervater zu Joachim selbst begleiteten ?
Ihr
Robert Schumann."
Joachims frühreife Künstlerschaft hatte Lipinski ganz ent-
zückt, der von Stund' an zu seinen wärmsten Verehrern und
Bewunderern zählte. Joachim wieder war von dem väterlich-
freundlichen Wohlwollen des bejahrten Meisters sehr eingenommen
und spricht immer noch gern von dem liebenswürdigen, kon-
zilianten Wesen, das der alte Herr ihm gegenüber stets an den
Tag gelegt hat. Wasielewski berichtet, dafs Joachim bei einer
späteren Gelegenheit in Dresden die C-dur-Fuge von Bach (be-
kanntlich eins der intrikatesten Stücke der gesamten Violin-
litteratur) in solcher Vollendung gespielt hatte, dafs Lipinski
— 62 —
ihn auf offener Scene umarmte und seiner Bewunderung über die
grandiose Leistung in enthusiastischer Weise Ausdruck gab.
Es sei gestattet, hier eine kleine verbürgte Anekdote über
Lipinski einzuflechten. Nach dem Tode des Konzertmeisters
Mathäi in Leipzig hatte sich Lipinski um die erledigte Stelle
am Gewandhaus beworben; allein Mendelssohn hatte die Be-
rufung seines Jugendfreundes Ferdinand David in die vakant
gewordene Stellung veranlafst. Diese Zurücksetzung konnte
Lipinski bis an sein Lebensende nicht verwinden, denn er hatte
die vollberechtigte Empfindung, dafs ihm ein Geringerer vor-
gezogen worden war. Deshalb war er durch nichts wieder zu
bewegen, im Gewandhaus zu spielen; vielmehr zog er es vor,
seine Kunst in Konzerten der „Euterpe" in Leipzig glänzen
und bewundern zu lassen. Das Komitee der Gewandhaus-Konzerte
hatte alle Ursache, das Verhalten Lipinskis zu bedauern und
veranlafste David, ihn im Auftrage der Direktion zu fragen,
weshalb er in Leipzig nicht in Konzerten ersten Ranges wie im
Gewandhaus auftrete. Darauf antwortete der stolze Pole mit
zurückgeworfenem Haupte: „Wo ich spille, ist immer ein Kon-
zert von erstem Range!"
Es ist nur natürlich, dafs Joachim nach mehrjährigem Auf-
enthalt in Leipzig Verlangen trug, seine Lieben in der Heimat
wieder einmal zu sehen und ihnen zu zeigen, was mittlerweile
aus ihm geworden war. Da Liszt gerade in Wien weilte und
er diesen Klavierheros noch niemals gesehen und gehört hatte,
so war das zugleich eine günstige Gelegenheit, sich durch eigene
Anschauung ein Bild von dem berühmten Künstler zu machen,
über den die widersprechendsten Gerüchte in Leipzig herum-
schwirrten. Joachim empfand damals schon eine ausgeprägte
Abneigung gegen das specifische Virtuosentum, und da man zu
jener Zeit von Liszt nur als von dem glänzendsten Virtuosen
der Welt sprach, so hatte sich bei ihm ein gewisses Vorurteil
gegen Liszt eingeschlichen, aus dem er Mendelssohn gegenüber
beim Abschied keinen Hehl machte. Darauf entgegnete dieser:
„Na, Söhncheh, passen Sie nur gut auf; da ist so viel Schönes
— 63 —
zu hören und Eigenartiges zu bewundern, dafs ich sicher bin,
Sie als vollständig Bekehrten wiederzusehen. Reisen Sie glück-
lich und grüfsen Sie Liszt von mir." Und Mendelssohn hatte
recht mit seiner Vorhersage, denn Liszt machte auf Joachim
einen geradezu fascinierenden Eindruck als Künstler und als
Mensch. Im Hotel „Stadt London", wo Liszt im März 1846
in Wien wohnte, spielte er ihm das Violinkonzert von Mendels-
sohn vor; Liszt begleitete ihn am Flügel. Heute bewahrt
Joachim noch die Erinnerung an Liszts wunderbares Klavierspiel,
besonders an die unvergleichliche Art, wie er das Finale des
Konzertes accompagnierte, wobei er immer die brennende Cigarre
zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand hielt.
Auf der Rückfahrt, die er bis Prag in Liszts Gesellschaft
machte, wurde Joachim von dem liebenswürdigen Menschen
vollends gefangen genommen. Da es empfindlich kalt war, und
den Reisenden die ganze nächtliche Eisenbahnfahrt noch bevor-
stand, brachte Liszt heifsen Grog ins Coupe" und versorgte
seinen fröstelnden jungen Landsmann mit warmen Reisedecken
und Plaids, kurz, war in wahrhaft rührender Weise um sein
Befinden und Behagen besorgt. In Prag machte Joachim
die flüchtige Bekanntschaft Hektor Berlioz' , der in der
böhmischen Hauptstadt am 17. April 1846 seine dramatische
Symphonie „Romeo und Julia" zur Aufführung brachte, wofür
Liszt zwei Tage vorher die Generalprobe geleitet hatte.
Am 3. Februar 1847 wurde in Leipzig Mendelssohns Ge-
burtstag in Moscheies' Hause festlich begangen, und der Ge-
feierte wurde durch die ihm zu Ehren getroffenen Veranstal-
tungen in eine so kindlich-frohe Laune versetzt, dafs jener Tag
noch lange in der Erinnerung der Beteiligten fortlebte. Unter
anderem wurden lebende Bilder in Charadenform über das Wort
„Gewandhaus-Orchester" gestellt. Als erste Silbe improvisierte
Joachim, den man als Paganini verkleidet hatte, eine tolle Sache
auf der „G-Seite" ; die zweite Silbe wurde dargestellt durch die
Scene an der „Wand" zwischen Pyramus und Thisbe im „Sommer-
nachtstraum" ; im dritten Bilde veranschaulichte Frau Moscheies,
— 64 — .
mit einem Strickstrumpf in der Hand der Köchin wirtschaft-
liche Weisungen erteilend, die Silbe „Haus", und zum Schlufs
dirigierte Joachim mit einer Marktgeige in der Hand das
„Orchester", gebildet aus Mendelssohns und Moscheles' Kindern,
die auf allerlei lärmenden Kinderinstrumenten Unfug verübten.
Hierbei imitierte Joachim das Geburtstagskind durch Gebärden
und Redewendungen in so ergötzlicher Weise, dafs Meister
Felix Gefahr lief in Lachkrämpfe zu verfallen. Mendelssohn
gestand nachher, dafs dieser Geburtstag der schönste seines
Lebens gewesen sei, — niemand konnte ahnen, dafs es auch
sein letzter gewesen sein sollte!
Im Frühjahr 1847 reiste Joachim in Mendelssohns Gesell-
schaft nach London, wo der „Elias" unter des Komponisten
Leitung mehrere Aufführungen erfuhr. Diese Reise war der
letzte gröfsere Konzertausflug Mendelssohns und steht mit ihren
Begleiterscheinungen in Joachims lebhaftester Erinnerung. Zu-
dem bedarf es wohl kaum der Erwähnung, dafs eine solche
Reise in solcher Gesellschaft für eine empfängliche junge Künstler-
seele eine Fülle des Anregenden und Belehrenden mit sich
bringen mufste. Die Reise nach England, die anstrengenden
Proben und Aufführungen in London hatten aber Mendelssohn
diesmal körperlich so angegriffen, dafs er müde und abgespannt
nach Deutschland zurückkehrte. In Frankfurt wollte er sich
einige Tage der Erholung gönnen. Allein es war anders be-
stimmt : die Nachricht von dem Tode seiner geliebten Schwester
Fanny ereilte ihn daselbst und schmetterte ihn vollends nieder.
Seelisch und körperlich gebrochen, kehrte er endlich nach Leipzig
zurück mit der Absicht, den gröfsten Teil seiner bisherigen
Thätigkeit aufzugeben, um sich mehr seiner Familie widmen zu
können und hauptsächlich in tonschöpferischem Wirken seinem
künstlerischen Schaffensdrang Genüge zu leisten. Ein längerer
Sommeraufenthalt in der Schweiz schien für seine Stimmung
und sein Befinden den gewünschten Erfolg gehabt zu haben,
denn zu Anfang des Winters 1847 sehen wir ihn wieder einen
Teil seiner Funktionen in Leipzig aufnehmen. Allein es war
— 65 —
nur noch ein kurzes Aufflackern seiner überangestrengten Lebens-
geister: am 4. November 1847 schlofs der herrliche Meister
die Augen für immer!
Die Kunde von dem Hinscheiden Mendelssohns wurde in
der gesamten Musikwelt mit gröfster Bestürzung und tiefster
Trauer aufgenommen, denn überall hatte man das schmerzliche
Bewufstsein, dafs die Kunst allzufrüh einen ihrer edelsten
Söhne, einen ihrer reinsten Priester verloren hatte!
Für Joachim war der plötzliche Tod des verehrten und
geliebten Meisters der schmerzlichste Verlust, der ihm in seiner
langen, ereignisreichen Künstlerlaufbahn überhaupt widerfahren
ist. In gleicher Weise an dem edlen, liebenswürdigen Menschen
hängend, wie den feinsinnigen Künstler in ihm verehrend, ge-
denkt er stets in innigster Dankbarkeit alles dessen, was er
der verklärten Lichtgestalt Mendelssohns schuldet. Und mit
dem Worte: „Wer weifs, was aus mir geworden wäre, wenn
ich Mendelssohn nicht so früh verloren hätte!" will Joachim
hauptsächlich andeuten, wie schwer er den Verlust in Bezug
auf seine eigene tonschöpferische Entwicklung empfand und
heute noch empfindet.
In Mendelssohns Nachlasse fanden sich fünf Taktstöcke
vor, die er bei verschiedenen Gelegenheiten abwechselnd be-
nutzt hatte. Jedes der vier Kinder erhielt einen davon zur
Erinnerung an den geliebten Vater; den fünften schenkte die
trauernde Witwe Joachim, eingedenk der herzlichen Zuneigung
und künstlerischen Wertschätzung, die Mendelssohn dem Knaben
stets entgegengebracht hatte.
Bei der Gedächtnisfeier, die das Konservatorium anläfslich
der ersten Wiederkehr von Mendelssohns Todestag beging,
spielte Joachim das tief aufgeregte und leidenschaftliche F-moll-
Quartett des verewigten Meisters und trug es, wie Moscheies
sagt, „vortrefflich und ganz im Geiste seines Schöpfers vor a .
Joachim hatte seit Jahren schon tibungsweise in den Ge-
wandhauskonzerten im Orchester mitgewirkt; mittlerweile war
seine Tüchtigkeit und Routine im Orchesterspiel so weit ge-
Moser, Joseph Joachim. 5
— 66 —
dienen, dafs er zum Vice-Konzertmeister ernannt wurde, als
welcher er hauptsächlich im Theaterdienst mit David zu alter-
nieren hatte. Dieser Thätigkeit hauptsächlich verdankt Joachim
seine Vertrautheit mit dem Wesen der Orchesterinstrumente
und den verschiedenartigen Klangwirkungen derselben, eine
Kenntnis, die doch wohl nur im praktischen Orchesterdienst
durch eigene Anschauung und Wahrnehmung, durch ge-
wissermafsen handwerksmäfsige Bethätigung, gewonnen werden
kann.
Lebhaft erinnert sich Joachim noch der Proben zu Schu-
manns Oper „Genovefa", die am 25. Juni 1850 ihre erste
Aufführung in Leipzig erfuhr. Der Komponist war von Dresden
zu den Proben und der Aufführung herübergekommen, und
Joachim hatte so Gelegenheit, die alte Bekanntschaft mit ihm
nicht nur aufzufrischen, sondern dem verehrten Tondichter,
für dessen Werke er eine immer wachsende Bewunderung und
Liebe im Herzen trug, auch menschlich näher zu treten.
Als Sechzehnjähriger ist er überdies schon als Lehrer
am Leipziger Konservatorium thätig, freilich mit der eigentüm-
lichen Begleiterscheinung, dafs die meisten seiner Schüler, von
denen Langhans, Bargiel und Robert Radecke genannt seien,
zum Teil erheblich älter waren als der Lehrer. In dieser
Eigenschaft finden wir Joachims Namen auch unter den übrigen
Lehrkräften des Leipziger Konservatoriums, die in corpore
einen geharnischten Protest gegen Dr. Brendel, den Redakteur
der „Neuen Zeitschrift für Musik tt unterzeichnet hatten, weil
dieser, zugleich Lehrer an der von Mendelssohn gegründeten
Anstalt, in seiner Zeitung den Artikel „Das Judentum in der
Musik" von einem Anonymus veröffentlicht hatte. Erst nach
Jahren kam es heraus, dafs dieser so viel Staub aufwirbelnde
Aufsatz — mit der Fürstin Witgenstein zu reden — „une de
ces grosses betises de Wagner" war.
Von Kompositionen Joachims, die in die Leipziger Zeit
fallen, veröffentlichte er als Opus 1 „Andantino und Allegro
scherzoso für Violine und Orchester", seinem Lehrer Jos. Böhm
— 67 —
gewidmet, und später erschien gemeinschaftlich mit zwei in
Weimar komponierten Stücken die B-dur- Romanze, Moritz
Hauptmann zugeeignet, als Opus 2 im Druck. Das letztgenannte
Stück ist ein sprechendes Zeugnis für die musikalische Früh-
reife des jungen Künstlers und hat trotz seiner fünfzig Jahre
nichts von seiner liebreizenden Anmut verloren. In der melo-
dischen Erfindung von eigenartigem poetischem Duft und Zauber,
in der Klavierbegleitung von merkwürdiger Selbständigkeit in
der Stimmführung, trägt die kleine Romanze das Gepräge
schlichter Vornehmheit und ungesuchter Natürlichkeit — ein
kleines Kabinettstück, das die Geiger gern spielen und das im
intimen Kreise niemals seine Wirkung verfehlt.
Mit dem Heimgang Mendelssohns hatte das Leipziger Musik-
leben für Joachim seine Hauptanziehungskraft eingebüfst, und
da er den lebhaften Wunsch empfand, sich auch anderswo in
der Welt umzuthun, um seinen künstlerischen Horizont zu er-
weitern, so nahm er Liszts Vorschlag, als Konzertmeister nach
Weimar überzusiedeln, um so lieber an, als er sich von dem
Umgang mit dieser glanzvollen Künstlererscheinung viel An-
regendes und Belehrendes für seine eigene Weiterentwicklung
versprach. Das Ausschlaggebende für diesen Entschlufs Joachims
war der Umstand, dafs Liszt, auf dem Zenith einer beispiellos
erfolgreichen Virtuosencarriere stehend, es vermochte, plötzlich
allem äufseren Glanz und Ruhm zu entsagen, um in der welt-
abgeschiedenen Stille der weimarischen Residenz als einfacher
Kapellmeister seinen geistigen Neigungen und Idealen nach-
zugehen. Zu einer solch seltenen Persönlichkeit in nähere Be-
ziehungen zu treten, mufste für einen jungen Künstler von dem
hohen Streben Joachims ungemein viel Anziehendes und Ver-
lockendes haben, um so mehr als mittlerweile auch seine wissen-
schaftliche Bildung eine Stufe erreicht hatte, die ihn befähigte,
sich in Kunstfragen auf sein eigenes Urteil verlassen zu dürfen.
Zur Zeit seines Abschiedes von Leipzig war Joachim auf
dem besten Wege, ein Grofser in seinem edlen Berufe zu werden,
oder vielmehr, wenn man die übereinstimmenden Urteile der
5*
— 68 —
Zeitgenossen, die ihn kannten, in Betracht zieht, war er es als
achtzehnjähriger Jüngling schon; denn sowohl im Vortrag der
Bachschen Sachen wie in dem der Konzerte von Mendelssohn
und Beethoven hatte er in deutschen Landen keinen Eben«
hurtigen mehr, und auch als Quartettspieler brauchte er den
Vergleich mit niemandem zu fürchten. Die nächsten Jahre
sollten mit ihren verschiedenartigen Einflüssen dazu beitragen,
sein Können innerlich und geistig noch zu vertiefen, um seinen
Leistungen den Stempel höchster Vollendung aufzudrücken.
Die Konzerte, in denen Joachim unter Berlioz' Direktion
in Paris spielte und die für den jugendlichen Künstler von den
schmeichelhaftesten Ehrungen begleitet waren, fallen der Zeit
nach vor den folgenden Brief Hauptmanns an Spohr, mit dem
das Kapitel „Leipzig" beschlossen sei.
„Lieber Herr Kapellmeister,
Joachim , der vortreffliche Geiger und liebens-
würdige Mensch, hat uns verlassen; er ist nach Weimar als
Konzertmeister gegangen, nicht eben mit sehr brillanten Ge-
haltsbedingungen , aber insofern vorteilhafter, als er dort
nicht so viel Orchesterdienste zu thun hat, als er hier hatte,
und fünf Monat Urlaub im Jahre erhält.
An Joachims Stelle als zweiter Konzertmeister
ist jetzt der Geiger Dreyschock, ein Bruder des Klavier-
spielers, angestellt worden. Er spielte ein sehr schweres
Konzert von Molique im Gewandhaus sehr schön. Joachim
in allen Stücken zu ersetzen, wird freilich schwer sein ; diesen
halte ich jetzt für einen der allerbesten Geiger in jeder Be-
ziehung und einen so durch und durch musikalischen Menschen,
; wie es auch nicht gar viel giebt.
Ihr
Mor. Hauptmann."
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IV.
i Weimar.
?
1.
Öas kunstsinnige Fürstenhaus, das in dem traulichen
Städtchen an der Um residiert, hat es von jeher ver-
standen, grofse und bedeutende Geister an seinen Hof
zu fesseln. Jon. Seb. Bach war fast zehn Jahre lang Hof-
organist und Konzertmeister in Weimar gewesen, und durch den
Aufenthalt und das Wirken unserer gröfsten Dichter daselbst
wnrde die kleine thüringische Residenz zu einer Musenstadt,
deren Rnhm die ganze gebildete Welt erfüllte. Während der
letzten zehn Lebensjahre Goethes wirkte Joh, Nep. Hummel
als Hofkapellmeister in Weimar; doch vermochte es Mozarts
Schüler nicht, der Kunststätte ein noch erböhteres Ansehen zu
verleihen. Zu hell leuchtete der strahlende LichtgJanz, der von
unseren Dichterheroen ausgegangen war, noch in der Erinnerung
der überlebenden Zeitgenossen, als dafs ein bescheideneres
Lämpchen, wie das seine, dagegen hätte aufkommen können.
Mit der Übersiedlung Franz Liszts nach Weimar (1847)
aber richteten sich wieder die Augen der gebildeten Welt in
erwartungsvoller Spannung anf die kleine Stadt, denn es hatte
ganz den Anschein, als ob Weimar nun in musikalischen Dingen
das werden sollte, was es früher für die Litteratur gewesen war.
Die musikalische Epoche, in die wir eintreten, unterscheidet
sich äufserlich von allen früheren dadurch, dafs die meisten der
nun in Erscheinung tretenden TonkUnstler neben ihrer musika-
lischen Wirksamkeit auch litterarisch thätig waren, um entweder
für ihre Werke einzustehen oder ihre Stellung zu den musika-
- 72 -
lischen Fragen der Zeit zu kennzeichnen. — Robert Schumann
hatte mit der Gründung der „Neuen musikalischen Zeitschrift"
den Reigen eröffnet, indem er den künstlerischen Fortschritt
predigte, gegen die Oberflächlichkeit und den Schlendrian in
der Kunstübung herzog, dem musikalischen Philisterium heftigste
Fehde ansagte. Kurz darauf signalisierte Richard Wagner mit
seinen ersten Opern den Anbruch einer neuen Ära auf dem
Gebiete der Tonkunst, und mit dem Erscheinen seiner Schriften
befinden wir uns mitten in der Kunstrevolution, die an Heftig-
keit kaum ihresgleichen hat in der Kunstgeschichte. — In
Frankreich hatte Hector Berlioz die Frage der Programmmusik
wieder auf die Tagesordnung gesetzt, und von den verschiedensten
Seiten wurde die Forderung erhoben, dafs der Chromatik und
Enharmonik ein gröfserer Spielraum zugestanden werden müsse,
als es bisher der Fall gewesen sei 1 ). Die letzten Beethoven-
schen Werke zum Ausgangspunkt einer höheren Entwicklung
der Tonkunst zu machen und, auf ihnen fortbauend, der Musik
neue Wege zu erschliefsen, wurde zum Losungswort und Feld-
geschrei einer Anzahl von jugendlichen Stürmern und Drängern,
die in ihrem Überschwang sich nicht entblödeten, die In-
strumentalmusik des vorigen Jahrhunderts als „eitel Ton-
geklingel" und „überwundenen Standpunkt" in die Rumpel-
kammer zu verweisen.
Die für alles Neue und Geistreiche so ungemein empfäng-
liche Künstlernatur eines Franz Liszt war mit ihrer kosmo-
politischen Vielseitigkeit wie geschaffen dazu, für solche
Neuerungen einzutreten, sie gewissermafsen als persönliche An-
gelegenheiten zu behandeln, um schliefslich die Welt mit einer
Anzahl von Werken zu überraschen, in denen er das Facit
seiner Kunstanschauung niedergelegt hat.
*) Bülow sprach sogar die Ansicht aus, dafs Liszt, der in
seinen späteren Werken die Chromatik und Enharmonik zum Prinzip
erhoben hatte, damit etwas Ähnliches vollbracht hätte, wie hundert-
fünfzig Jahre früher Bach, als er die alten Kirchentonarten in unser
modernes Tonsystem aufgehen liefs.
— 73 —
Als der gröfste Klaviervirtuose aller Zeiten, den die^Welt
mit Ehrungen und Auszeichnungen überschüttet hatte, wie keinen
anderen Künstler vor und nach ihm, trat Liszt sein Kapellmeister-
amt in Weimar an. Es erscheint selbstverständlich, dafs ein
solcher Feuergeist wie er kein Genüge darin finden konnte,
einfach seine Hofkapellmeister-Funktionen in althergebrachter
Weise auszuüben. Vielmehr war es ihm darum zu thun, die
neuen Ideen zu fördern, den reformatorischen Bestrebungen in
der Musik einen festen Stützpunkt zu bieten, vor allem aber
den Werken Richard Wagners eine Zufluchtsstätte zu gewähren.
Mit der Umsicht eines erfahrenen Feldherrn ging er zunächst
daran, sich einen Stab von gleichdenkenden und strebenden
Mitarbeitern zu sichern, mit denen er unter der Fahne der
„neudeutschen Kunstrichtung" seine Ideale zu verwirklichen
hoffte ; und es ist eine Freude, zu sehen, wie die jungen Talente
von nah und fern herbeieilten, um dem genialen Meister ihren
künstlerischen Fahneneid zu leisten. Während der zwölf Jahre,
die Liszt ohne längere Unterbrechungen in Weimar zubrachte,
sehen wir fast alle Tonkünstler, die später von sich reden
machten, nach der Altenburg pilgern, wo Liszt mit der Fürstin
Wittgenstein seinen Musenhof aufgeschlagen hatte. Und wenn
auch ein grofser Teil von ihnen dem in jugendlichem Enthusias-
mus abgelegten Fahneneid im Laufe ihrer eigenen künstlerischen
Entwicklung nicht treu geblieben ist, so ist doch der Eindruck,
den eine so fascinierende Persönlichkeit auf sie gemacht hat,
unverkennbar oder gehört wenigstens zu den Erinnerungen, die
sie nicht gerne missen würden.
Das wichtige Ereignis des Sommers 1850 wurde durch folgen-
denBrief, den Richard Wagner im April an Liszt schrieb, eingeleitet:
„Lieber, soeben las ich etwas in der Partitur meines
,Lohengrin' — ich lese sonst nie meine Arbeiten. Eine un-
geheure Sehnsucht ist in mir entflammt, dies Werk aufgeführt
zu wissen. Ich lege Dir hiermit meine Bitte an das Herz:
Führe meinen Lohengrin auf! Du bist der Einzige, an den
ich diese Bitte richten würde. Niemand als Dir vertraue
— 74 —
ich die Kreation dieser Oper an: aber Dir übergebe ich sie
mit vollster, freudigster Ruhe a
Und Liszt erfüllte die Bitte seines in der Schweiz im Exil
lebenden Freundes mit der ersten Aufführung des „Lohengrin"
an Goethes Geburtstag, am 28. August 1850. Zu dieser Auf-
führung waren von aufserhalb Hunderte von Besuchern gekommen,
die Zeugen der bedeutsamen Begebenheit sein wollten, von der
alle Welt sprach. Auch Joachim war von Leipzig hinüber-
gefahren und als Zuschauer anwesend, nicht, wie Richard
Pohl mitteilt, als Konzertmeister im Orchester mitwirkend 1 ).
Wie nicht anders zu erwarten, hat der „Lohengrin" auf den
Leipziger Vizekonzertmeister einen geradezu überwältigenden
Eindruck gemacht, und voll gab er sich dem romantischen
Zauber dieser eigenartigen Musik hin, die im Verein mit den
dichterischen Schönheiten des Textbuches auf jeden Künstler ihre
Wirkung ausüben mufs, der unbefangen und ohne Vorurteil an
sie herantritt. Mit einem Schlage war Joachim durch den
„Lohengrin" zu einem begeisterten Anhänger der Wagnerschen
Musik geworden, und mit Freuden fand er sich bereit, die
Neuerungen auf dem Gebiete der Oper auf das thatkräftigste
fördern zu helfen, trotz der Prophezeiung Bülows, „dafs man
in Leipzig darüber grofsen Lärm schlagen werde tt .
So sehen wir ihn denn im Herbst 1850 seinen Konzert-
meisterposten in Weimar antreten, erfüllt von den schönsten Hoff-
nungen und Erwartungen, die sich an den stetigen Verkehr mit
einer von der Natur so verschwenderisch ausgestatteten Persön-
lichkeit wie Liszt knüpfen liefsen.
Von Leipziger Bekannten und Berufsgenossen traf er zu-
nächst nur den ausgezeichneten Cellisten Cofsmann an, der ihm
*) Ebensowenig hat Liszt Joachim erst „entdeckt"; denn ein
Künstler, der in Leipzig schon so hervorragende Stellungen ein-
genommen, im Gewandhaus einige Dutzend Mal öffentlich gespielt, in
London unter Mendelssohn und in Paris unter Berlioz geradezu
sensationelles Aufsehen erregt hatte, braucht füglich nicht mehr „ent-
deckt" zu werden.
— 75 —
ein hingebender Partner in der Pflege der Kammermusik werden
sollte; doch währte es nicht lange, und er war in ein nahes
Freundschaftsverhältnis zu Joachim Raff getreten, der Liszt
nach Weimar gefolgt war, um ihm bei der Instrumentierung
seiner neuen Orchesterwerke behtilflich zu sein. Da Liszt bis
dahin nur für Klavier geschrieben hatte, war er mit der Or-
chestertechnik so wenig vertraut, dafs beispielsweise die Be-
gleitung seines Es-dur-Konzertes von Anfang bis zu Ende von
Raff orchestriert wurde. Erst im Laufe der Zeit eignete sich
Liszt jene virtuose Behandlung des komplizierten Orchester-
apparates an, die man später in so hohem Mafse an ihm be-
wundern sollte.
Als Liszts Sekretär und Amanuensis geriet Raff, der an-
fänglich stark von Mendelssohn beeinflufst war, in Weimar ganz
in das Fahrwasser der neudeutschen Richtung, von der er sich
erst später teilweise emanzipiert hat. Liszt brachte 1851 seine
Oper „König Alfred" auf die Bühne. Das Werk konnte sich
jedoch nicht halten, und infolgedessen wandte sich Raff aus-
schliefslich der Kammermusik und Symphonie zu, auf welchem
Gebiete er zwar manch schönen Erfolg zu verzeichnen hatte,
aber auch viele Enttäuschungen erleiden mufste. Sein hervor-
ragendstes Werk dürfte die Symphonie „Im Walde" sein, in
welcher Erfindung, thematische Arbeit und Klangfarbenreichtum
auf gleich hoher Stufe stehen. — Wiewohl fast ein Jahrzehnt
älter als Joachim, schaute Raff zu seinem geigenden Freunde,
der in musikalischen Dingen damals schon seinen Mann stand,
mit sichtlichem Respekt auf, denn Joachim war schon ein
Jemand und Raff erst im Begriff, „auch Einer" zu werden.
Dagegen war Raff in wissenschaftlicher und geistiger Beziehung
ein ungemein regsamer, spekulativer Kopf, der es mit seiner
jesuitisch geschulten Dialektik liebte, kunstphilosophische An-
sichten in gesprächigster Weise zu erörtern. Ein warmer Be-
wunderer und Verehrer der Wagnerschen Musik, war er ein
ebenso heftiger Gegner seiner Bücher und Broschüren, die der
Sache Wagners mehr geschadet als genützt haben. Raffs grofser
— 76 —
Aufsatz „Zur Wagnerfrage a gehört ohne Zweifel zu dem
Besten, was über diesen Gegenstand überhaupt geschrieben
worden ist.
Als Dritter im Bunde erscheint bald darauf Btilow auf der
Bildfläche, der auch nach Weimar gekommen war, um bei Liszt
seine pianistischen und musikalischen Studien zu betreiben. Er
trat zu dem Meister nach kurzer Zeit schon in vertraute freund-
schaftliche Beziehungen, und als der glühendste Verehrer Liszts,
dessen Schwiegersohn er später wurde, bethätigte er sich als
Schriftsteller, Pianist und Dirigent bis zum letzten Jahrzehnt
seines Lebens als einer der eifrigsten Verfechter der Weimarer
Kunstrichtung. Sein excentrisches Wesen und das Sprunghafte
in seinen künstlerischen Neigungen einerseits, sein vielseitiges
Wissen und das eminente musikalische Können andererseits
erschweren es ungemein, sich von dieser eigenartigen Ktinstler-
persönlichkeit ein abgerundetes Gesamtbild zu machen. In
seinen Briefen, deren Lektüre nicht angelegentlich genug
empfohlen werden kann, lernt man den Menschen und Künstler
von der sympathischsten Seite kennen; tragen sie doch ein
Wesentliches dazu bei, für so viele seiner Extravaganzen wenn
schon keine Entschuldigung, so doch eine Erklärung zu finden.
Speciell von Joachim spricht Bülow in seinen Briefen mit einer
Liebe, Hochachtung und Verehrung, die geradezu herzerfreuend
wirkt, besonders wenn man der weit auseinander gehenden
Wege gedenkt, die beide im Verlauf ihrer Entwicklung ein-
geschlagen haben, bis sie sich schliefslich in ihrer Freund-
schaft und Verehrung für Johannes Brahms, als auf gemein-
schaftlichem Boden stehend, wieder die Künstlerhände reichen
konnten.
Raff, „sein Vorname" und Bülow waren während der ganzen
Zeit, die Joachim in Weimar zubrachte, die drei Unzertrenn-
lichen, die sich gegenseitig an den Idealen ihrer Kunst be-
geisterten, fleifsig miteinander musizierten, vor allem aber in
regem Gedankenaustausch der neuen Kunstrichtung ihre ganzen
Sympathieen entgegenbrachten. Die eingehende Bekanntschaft
— 77 —
mit den Wagnerschen Opern 1 ) und Schriften, das Studium der
Orchestersachen von Berlioz und die häufigen Besuche aus-
wärtiger Künstler boten ihnen Stoff in Hülle und Fülle dazu. —
Vor allen Dingen war Joachim als Konzertmeister bemüht, die
Leistungen des zwar kleinen, aber trefflichen Orchesters von
Aufführung zu Aufführung immer noch mehr zu heben. Speciell
in den zahlreichen Proben für die Wagnerschen Opern konnte
er sein eminentes Geschick als Anführer des Streicherchors
glänzend bethätigen und Liszts begeistertes Lob ernten.
Zunächst hatte es ganz den Anschein, als ob Joachim der
neuen Richtung der tapfersten Kämpen einer werden würde,
und Bülow äufserte seine lebhafte Freude und Genugthuung
darüber, wie sehr er sich „entleipzigert a oder vielmehr schon
„verweimaranert a habe! Was Wunder auch, dafs ein so
empfänglicher Künstlersinn wie der unseres Jünglings von der
Neuheit der Erscheinungen bestrickt, den verlockenden Schlag-
worten von dem Beginn einer neuen Ära in der Musik gegen-
über nicht unempfänglich bleiben konnte. Losgelöst von der
sicheren Scholle der Leipziger Traditionen, sah er sich in seinen
jungen Jahren zum erstenmal ganz allein auf sich selbst ge-
stellt, inmitten eines bunten Getriebes von reformatorischen
Ideen, umgeben von jugendlichen Neuerern und Brauseköpfen,
die, wie besonders Bülow, Tod und Teufel nicht fürchteten.
Dazu die bezaubernde Liebenswürdigkeit Liszts, der an dem
Treiben seiner jüngeren Kunstgenossen die hellste Freude hatte,
sie stetig in seine Nähe zog, mit ihnen in seiner unvergleichlich
geistreichen Weise plauderte, für ihre musikalischen Leistungen
stets ein warmes Wort der Aufmunterung und Anerkennung
übrig hatte — kurz, ihnen ein väterlicher Freund und künst-
lerischer Berater war, zu dem sie in enthusiastischer Verehrung
aufschauten !
Joachims Konzertmeisterpflichten waren indessen keines-
*) Bülow schreibt am 6. Juli 1851 seinem Vater: „Der ,Tann-
häuser* ist hier so populär wie nur noch der ,Freischütz'. a
— 78 —
wegs so zeitraubend, um ihm nicht reichliche Mufse zu ander-
weitiger musikalischer Beschäftigung und stetiger Vervoll-
kommnung seiner bereits zu hoher Entwicklung gelangten
Künstlerschaft zu gewähren. Neben seinen kompositorischen
Arbeiten, die zu jener Zeit selbstverständlich von der Luft be-
einflufst waren, die ihn umgab, bot ihm namentlich die günstige
Gelegenheit, mit tüchtigen Künstlern Quartett zu spielen, die
reinste Freude. Im Verein mit den trefflichen Geigern Stör
und Walbrül und dem ausgezeichneten Cellisten Cofsmann ver-
anstaltete er teils in seiner Wohnung, teils auf der Altenburg
häufig Kammermusikaufführungen, über deren künstlerische
Reife und vollendete Ausführung nur eine Stimme herrschte.
Neben Liszt war Joachim damals schon die bedeutendste und
angesehenste Künstlerpersönlichkeit in Weimar, und der hohe
Rang, den er in der musikalischen Welt als ausübender Ton-
ktinstler einnahm, ist durch die ausgesuchte Hochachtung, ja
Verehrung, die ihm trotz seiner Jugend allseitig entgegen-
gebracht, wurde, deutlich genug ausgedrückt. In der Erinnerung
an jene Weimarer Tage sagt Bülow später von sich, „dafs er
das Beste, was in ihm als Künstler lebt, eigentlich dem Vor-
bilde Joachims zu verdanken habe". — Auch Meister Liszt
behandelte seinen jugendlichen Konzertmeister als einen ihm
völlig ebenbürtigen „Kollegen von der anderen Fakultät", spielte
ihm seine Sachen vor und gab viel auf des jüngeren Kunst-
genossen Meinung und Urteil. Das häufige Musizieren mit
Liszt und die damit verbundenen künstlerischen Anregungen
sind überhaupt das bedeutungsvollste Moment für Joachims
Aufenthalt in Weimar. Abgesehen von seiner unerreichten und
beispiellosen Virtuosität auf dem Klavier besafs Liszt die Fähig-
keit, musikalisch zu charakterisieren, wie kein anderer. Jeder
musikalische Gedanke gewann unter seinen Fingern eine eigene
Physiognomie, jede Phrase einen besonderen Ausdruck, was,
verbunden mit seinem modulationsreichen Anschlag und ergänzt
durch seinen feurigen Rhythmus, dem ganzen Spiel des genialen
Virtuosen das Gepräge musikalischer Plastik verlieh, seinen
— 79 —
Vorträgen in ihrem grellen Wechsel von Licht und Schatten,
geheimnisvollem Weben und mächtiger Tonentfaltung den
Stempel dämonischer Leidenschaft aufdrückte 1 ). Und wenn er
auch in diesem Drang, zu charakterisieren, oft zu weit ging, die
Grenzen des künstlerisch Erlaubten manchmal überschritt, so
wufste Joachims feiner Sinn stets diese Grenze wahrzunehmen
und seinem eigenen Temperament und Empfinden ein „bis hieher
und nicht weiter!" zuzurufen, wenn es galt, dem älteren Meister
etwas beim gemeinschaftlichen Musizieren nachzumachen oder
zuvorzuthun. Stets hat ihn sein Schönheitssinn und ein merk-
würdig früh gereifter Geschmack davor bewahrt, Extravaganzen
zu Gunsten unmittelbarer Wirkung zu begehen; vielmehr war
er schon als Jüngling stets bestrebt, sich liebevoll in den Geist
des zu reproduzierenden Kunstwerkes zu versenken, um es,
hindurchgegangen durch das Medium seines tiefen, künst-
lerischen Empfindens, in seiner ganzen Reinheit und Schöne
vor dem Hörer wieder erstehen zu lassen. Das hat seinen
Vorträgen die sprichwörtlich gewordene Vornehmheit und Voll-
endung, die abgeklärte Ruhe und poetische Weihe gegeben, wie
sie in gleichem Mafse bei keinem anderen ausübenden Ton-
künstler vorkommen.
Mittlerweile hatte sich die Kunde von Joachims herrlichem
Quartettspiel unter den Bewohnern Weimars so sehr herum-
geredet, dafs von Musikliebhabern der Stadt die Aufforderung
an ihn herantrat, an diesen Kunstgenüssen auch weitere Kreise
teilnehmen zu lassen. So veranstaltete er also vom Winter
1851 ab mit seinen Genossen ständige öffentliche Quartettabende,
in denen neben der hauptsächlichsten Pflege der Klassiker auch
die Mitlebenden zu ihrem Recht kamen. Bülow schreibt im
November 1851 über diese Konzerte an seine Mutter:
„Le 2 D6cembre je me produirai pour la premiere fois
comme pianiste-artiste (jusqu'ici ce n'ötait que comme pianiste-
*) Joachim sagt in einem seiner Briefe: „ Li szt spielt nicht Klavier,
er modelliert vielmehr mit seinen Fingern Figuren."
— 80 —
amateur) dans la seconde soiräe des quatuors que Joachim,
Cossmann et autres musiciens ont commencö a donner aux
Weimarois, k un prix inoui pour Weimar, mais fix6 par
Liszt k un Thaler par soiröe et trois pour les quatre dans
l'abonnement. II n'y assiste, par consäquent, que la bonne
sociätä , mais en assez grand nombre ; la cour enti&re , la
famille grand-ducale s'y rend ägalement. Je jouerai le
Quintuor de Schumann, un morceau pas trop brillant, mais
d'un effet sür et facile k comprendre."
Auch die „Kreutzer-Sonate" von Beethoven hat Joachim
mit Bülow zu wiederholten Malen in Weimar zu Gehör ge-
bracht 1 ). Von neueren Komponisten kamen besonders Raff und
Volkmann mit ihren ersten Klaviertrios zu Worte. Über das
letztere sagt Bülow: „Wenn Liszt einem ihn besuchenden
Fremden einmal einen recht exquisiten Genufs verschaffen wollte,
so spielte er ihm mit seinem Landsmann Joachim und dem
Violoncellisten Cofsmann das Trio von Volkmann vor."
Selbstverständlich benützte Joachim seine dienstfreie Zeit
auch zu kleineren und gröfseren Konzertausflügen, die nur dazu
beitragen konnten, seinen Namen in immer weitere Kreise zu
bringen. Speciell nach Leipzig zog es ihn immer wieder, hatte
sich das Publikum des Gewandhauses doch daran gewöhnt, dem
in seiner Entwicklung rastlos fortschreitenden Künstler wenigstens
einmal in jedem Winter applaudieren zu dürfen. Aus jener
Zeit schreibt Moritz Hauptmann: „Joachim ist einzig, bei dem
ist nicht die Technik und nicht der Ton und nichts von allem,
*) Bülows Mutter schreibt am 3. September 1852 an ihre
Tochter über ein Konzert in Erfurt, zu dem sie mit Liszt „und den
jungen Leuten" von Weimar hinübergefahren war: „Hans spielte
die grofse Beethovensche Sonate mit Joachim auswendig, beide ganz
wundervoll; so geistreich in der Auffassung, mit einer Übereinstimmung
und Vollendung der Auffassung, wie man sie nicht leicht finden wird.
Joachim ist ein äufserst angenehmer Mensch von liebenswürdigem
Wesen — er hat Hans sehr lieb."
— 81 —
was man sagen kann, sondern dafs das alles zurücktritt, sich
gar nicht bemerkbar macht, dafs man eben nur die Musik hört,
— bei aller Tiefe eine Bescheidenheit des Vortrags, wie sie
einem nicht wieder vorkommt, und doch ebenso wirksam,
dafs er tiberall anerkannt wird ohne Aufdringlichkeit irgend
einer Art."
Von den wiederholten Besuchen, die Joachim der Stätte
seines früheren Wirkens abgestattet hat, sei der „Schumann-
Woche", zu der er in Liszts Gesellschaft nach Leipzig gefahren
war, besondere Erwähnung gethan. Zwischen dem 14. und
21. März 1852 wurden nämlich im Gewandhaus und in Privat-
kreisen eine ganze Reihe neuer Werke von Schumann auf-
geführt, die in Düsseldorf, wohin der Tondichter im Herbst
1850 übergesiedelt war, entstanden sind. Schumann war mit
seiner Gattin nach Leipzig gekommen, um diesen Veranstaltungen
durch seine Anwesenheit erhöhte Bedeutung zu verleihen und
um die alten Freunde an der Pleifse wiederzusehen. Das waren
nun schöne Tage für Joachim, der sich mehr und mehr zu dem
verehrten Meister hingezogen fühlte und für seine künstlerische
Eigenart ein immer zunehmendes Verständnis gewann. In jener
Woche werden wohl auch die Abmachungen und Besprechungen
zwischen Schumann und Liszt stattgefunden haben, die am
13. Juni 1852 zur ersten theatralischen Aufführung des „Man-
fred" in Weimar führten.
Auch nach England machte Joachim von Weimar aus eine
mehrmonatliche Kjinstreise, doch vermochte er es zunächst, trotz
grofser künstlerischer Erfolge, noch nicht, jenseits des Kanals
festen Fufs zu fassen. Erst nach wiederholten Besuchen des
Inselreiches gelang es ihm, sich daselbst jene Stellung zu er-
ringen, wie sie in gleicher Dauer und Stetigkeit wohl noch
keinem fremden ausübenden Tonkünstler eingeräumt worden ist.
In einem Briefe an Liszt schildert er die damaligen Musikzustände
Englands so eingehend und treffend, dafs die Mitteilung des
ganzen Schriftstückes gerechtfertigt scheint.
Hoser, Joseph Joachim. 6
— 82 —
„London, 22. Mai 1852.
Innig verehrter Herr Doktor!
Gewifs halten Sie mich für den undankbarsten Menschen
der Welt, der die Erlaubnis, Ihnen schreiben zu dürfen, gar
nicht zu würdigen versteht! Und Sie hätten wirklich Ur-
sache, so von mir zu denken, wenn etwa das Londoner ge-
schäftige Treiben, Proben, Konzerte oder sonst äufsere Um-
stände vermocht hätten, mich davon abzuhalten, Ihnen Nach-
richten zu geben. Nichts von alledem aber hielt mich vom
Schreiben zurück, wohl aber eine gewisse Scheu, gerade Ihnen,
der für mich recht Gutes hoffte, zu sagen, dafs ich bis jetzt
hier kaum irgend etwas erreicht habe. Wäre es nicht
peinigend für mich , Sie über mich in Zweifel zu glauben,
ich würde mich auch heute kaum dazu entschlossen haben,
mein Stillschweigen zu brechen. Ich habe in der That trotz
der gröfsten Geschäftigkeit und Zeitzersplitterung hier noch
nichts erreicht; weder habe ich Gelegenheit gefunden, mich
mit Orchester vor einem gröfseren Auditorium zu versuchen,
noch Wünsche besserer Art, wie z. B. den, Berlioz näher
kennen und verstehen zu lernen, erfüllt gesehen. Nehmen
Sie noch dazu, dafs man hier wirklich so häufig recht Mittel-
mäfsiges über alle Gebühr geehrt sieht, und dafs man selten
durch bedeutende Aufführungen aus dem jämmerlichen musi-
kalischen Alltagstreiben herausgerissen wird, und Sie werden
verzeihlich finden, dafs ich nicht schrieb, weil ich fürchten
mufste, dafs meine Zeilen ein Gepräge tragen würden, welches
Sie zu sehr an den Komponisten des „kranken Pudels, der
im Weimarschen Park spazieren geht", erinnern könnte, und
ich weifs, Sie mögen den nicht ausstehen 1 ).
Durch Ihren Grufs haben Sie einen rechten Lichtstreifen
in meinen Londoner Nebel geworfen, für den ich Ihnen von
*) Der Komponist ist Joachim, der ein Stück geschrieben hatte,
von dem er selber sagte, es erinnere ihn an einen mürrischen Pudel,
der im Weimarschen Park herumirrte.
— 83 —
Herzen danke. Er wurde mir in einem Briefe an M me Pleyel
gezeigt. Diese Künstlerin habe ich nur in einer Probe und
in einem Konzert gesehen, weil ich gleichzeitig in beiden
beschäftigt war. Sie hat mir viel Freude gemacht, als sie
mich für ihren gleichgültigen Vortrag des Mendelssohnschen
D-moll-Trios durch den weit gelungeneren einiger Ihrer Kom-
positionen entschädigte: Es ist erstaunlich, wie sicher, klar
und keck sie die schwierigsten Stellen in den „Patineurs"
überwindet. Besäfse sie bei ihrem brillanten Ton auch mehr
Weichheit und Modulationsfähigkeit im Ausdruck, sie hätte
mich lebhaft an den Komponisten erinnern können. Sie
machte mit Ihrem Arrangement des Schubertschen Liedes und
der Propheten-Phantasie einen aufsergewöhnlichen Eindruck
auf das Auditorium der zweiten Ellaschen Matinee. In dieser
spielte auch ich zum erstenmal hier, und zwar das Schubert-
sche Quartett, welches hier noch nicht gekannt war. Es
machte keine Wirkung ; man glaubte Schubert als Neuling in
der Instrumental-Komposition mit einem vornehmen Zweifel
über seine Befähigung für dieses Fach abfertigen zu dürfen.
Es ist merkwürdig, wie wenig sich die Leute hier unbefangen
einem Eindruck hingeben; sie sind so verdorben durch die
Marktschreierei der Spekulanten (und in deren Händen ruht
hier gänzlich die Musik), dafs sie die Namen der Ton-
dichter nicht anders betrachten als etwa die Firmen von
Handelshäusern, gegen welche sie protestieren, oder von
denen sie Wechsel acceptieren, je nachdem sie den Namen
selten oder oft gehört haben. Beethoven ist hier schon lange
etabliert, also machen auch Op. 1 und die neunte Symphonie
gleich grofse Wirkung ! Wie ohnmächtig fühle ich mich hier
mit dem Wunsche, aber ohne die geoügenden Mittel, gegen
solche verkehrte Verhältnisse anzukämpfen! Am liebsten
wäre ich oft unmittelbar von hier fortgelaufen auf die Alten-
burg, zu Ihnen! Sie haben gewifs schon wieder recht viel
Förderndes in der Zeit gewirkt, und ich entbehre viel, fern
von Ihnen zu sein! Raff war so freundlich, mir über meine
6*
— 84 —
Weimarer Freunde Nachrichten zu geben, über die ich mich
herzlich freute. Ich behalte mir vor, ihm von Dublin aus
zu danken. In einer Stunde gehe ich nach dieser Stadt ab,
wo ich die nächste Woche bleiben werde, weil ich dort
für zwei Konzerte engagiert bin. Nach meiner Rückkunft
werde ich hier im alten ,Philharmonic' spielen, und wenn
ich Ihnen dann für mich Freudiges berichten kann, werde
ich Ihnen schreiben. Über die musikalischen Aufführungen
erfahren Sie gewifs aus den Zeitungen und von Berlioz viel
mehr, als ich Ihnen jetzt in der Eile sagen könnte. Ich
hatte in den letzten Tagen recht viel zu thun, da ich für
den 25. Juni ein Konzert angekündigt habe und alle nötigen
Engagements dazu schon jetzt vor meiner Dubliner Reise
besorgen mufste. Seien Sie mir nicht über die Flüchtigkeit
dieser Zeilen böse ; ich konnte aber nicht mit Ruhe abreisen,
ohne Ihnen geschrieben zu haben ! Ich erlaube mir nur noch,
Sie, verehrter Herr Doktor, zu bitten, Ihrer nächsten Um-
gebung meine Hochachtung und Verehrung auszudrücken.
Ganz Ihr
Joseph Joachim."
Durch das Hinzutreten der liebenswürdigen und feinsinnigen
Künstlererscheinung von Peter Cornelius erfuhr das Freund-
schaftstrio Raff-Joachim-Bülow die angenehmste und erfreulichste
Erweiterung zum Quartett, das sich in fortwährender geistiger
Anregung die Weimarer Tage gegenseitig zu köstlichen Er-
innerungsstunden verwandelt hat.
Aber auch von anderer Seite her gestaltete sich Joachims
Aufenthalt in Weimar zu einem höchst angenehmen und gehalt-
reichen für den inneren Menschen, als Bettina von Arnim mit
ihren reizenden Töchtern Armgart und Gisela zu längerem Auf-
enthalt nach der thüringischen Residenz kam. Herman Grimm
befand sich in ihrer Gesellschaft, zu dem der jugendliche
Konzertmeister bald in vertraute freundschaftliche Beziehungen
trat, die sich im Laufe der Jahre zu inniger Freundschaft
— 85 —
verdichteten und bald auf ein halbes Jahrhundert ihres Be-
stehens zurückblicken können.
Mit Bettina verbrachte Joachim gar manche Stunde in an-
regenden Gesprächen, die, von der geistvollen Freundin Goethes
und Beethovens in ihrer unnachahmlichen Weise geführt, auf
das so ernst und tief veranlagte Gemüt des jungen Künstlers
nachhaltigen Eindruck machen mufsten. Über diese Unter-
haltungen und die sich daran knüpfenden Folgerungen soll bald
ausführlicher gesprochen werden ; jetzt richten wir unsere Blicke
wieder auf die beiden anmutigen Töchter Bettinas, die mit dem
Zauber ihrer mädchenhaften Holdseligkeit unsere jungen Künstler
ganz gefangen nahmen. Das ist ein fortwährendes Kommen
und Gehen, ein Lachen und Fröhlichsein, ein Schwelgen und
Schwärmen in den Schönheiten der Natur und Kunst, dafs auch
einem Griesgram dabei wohl ums Herz werden mufs! Bülows
Mutter, die gewifs nicht leicht zu bestricken war, schreibt
darüber an ihre Tochter:
„Wir machen mit Arnims alle Tage Spaziergänge, da
das Wetter so hell und schön ist ; dann kommen wir erst im
Mondschein zurück. Vorgestern waren wir in Tiefurth, das
ich so liebe. Der Grofsherzog, dem Armgart den Tag vor-
her gesagt, dafs sie wohl hingehen würde, hatte hingeschickt
und heizen lassen. Armgart setzte sich an ein altes Spinett
und sang das schöne Lied von Clemens Brentano: ,Gehör
der Welt nicht an, sonst ist'B um dich gethan' u. s. w. —
Der Heimgang im Mondschein war reizend, durch den kleinen
Wald, der so viel Laub hat — meist noch grün — es war
wie lauter Calames. Die Abende sind wir immer bis Mitter-
nacht bei Arnims, wo Hans und Joachim spielen, die Mädchen
singen, was interessante Gespräche nicht ausschliefst. Grimm
ist sehr amüsant, Bettina ganz einzig." (21. Oktober 1852.)
„ Freitag hatten wir einen Abend bei Liszt; herr-
liche Musik: zwei Quartette, dann spielte er ein Duo von
Schubert mit Joachim und erschien mir wieder in der ganzen
wunderbaren Macht seines Genius oder Dämons." (Vor
Weihnachten.)
— 86 —
„ Arnims haben sich zuletzt doch noch ent-
schlossen, und wir haben einen grofsen Tannenbaum, nur mit
vielen Lichtern angesteckt; für Hans und Joachim mit Bon-
bons, Oblatenschachteln, Feuerzeug aufgebaut. Joachim und
Hans erhielten ganz gleiche, einfache, in Streifen geschliffene
Kry stallgläser mit den drei Namen : Bettina, Armgart, Gisela,
ein sehr hübscher Gedanke; im letzten Augenblicke wurden
noch überall hübsche, teils ernste, teils scherzhafte Verse an-
gebracht. Zuletzt wurden Lampen und Lichter ins Neben-
zimmer gebracht, damit der Vollmond allein herein schiene."
(26. Dezember.)
„Den letzten Tag waren wir noch alle bei Liszt, der
mit Joachim wundervoll spielte (Kreutzer-Sonate) ; um Mitter-
nacht brachten sie mich zu Haus, halb vier Uhr früh ging
ich schon wieder zu Arnims, brachte sie auf die Eisenbahn,
wo Liszt mit Joachim und Hans kam und alle sechs in einem
Coupe" fuhren." (29. Dezember.)
Nach dem bisher Mitgeteilten möchte es fast scheinen, als
ob die Künstler in Weimar das reine „Leben voller Wonne"
geführt hätten, ganz so, wie sich romantische Naturen ein
Künstlerdasein denken und träumen. Aber die Wirklichkeit ist
rauher und sorgt dafür, dafs die Bäume nicht in den Himmel
wachsen. Zunächst mufste es sogar ein Liszt erfahren, dafs
selbst der gefeiertste Künstlername und die glänzendste gesell-
schaftliche Stellung nicht unabhängig genug machen, um un-
gestört eigene Wege gehen zu können. Sowohl in einflufsreichen
Höflingskreisen, wie im Publikum machte sich allmählich eine
teils versteckte, teils offene Opposition gegen ihn geltend, weil
er in seiner Wirksamkeit der neuen Musikrichtung einen
allzu grofsen Raum gewährte. Überdies trugen die immer zahl-
reicher erscheinenden Schriften und Aufsätze pro und contra
Wagner noch ihr Wesentliches dazu bei, die erregte Stimmung
der verschiedenen Parteien bis zur Siedehitze zu steigern. An-
fänglich machte Liszt seiner Verstimmung darüber einfach da-
durch Luft, dafs er von Weimar abreiste und die dortigen
— 87 —
Musikzustände monatelang ihrem Schicksal überliefs. Darüber
schreibt Bülow am 2. Oktober 1851 an seinen Vater:
„Gewifs hat dieses Verfahren auch seinen Nutzen, aller-
dings nicht für mich, aber für die hiesige Philistrokratie,
diese übermütigen, borstigen Hofräte, die hier herum ameisen-
häufeln wie die Geheimräte in Berlin. Es wird diesen Leuten
augenscheinlich klar gemacht, dafs das hiesige Musikleben
Liszts bedarf, und die Miserabilität desselben in seiner Ab-
wesenheit giebt ihnen einen Mafsstab zu einer gerechteren
Würdigung seiner Verdienste um Weimar, als diese bis jetzt
leider gefunden haben, an die Hand. Es ist einer der Fälle,
in welchen der Abwesende nicht Unrecht hat, sondern durch
seine Abwesenheit das früher versagte Recht erhält."
Überdies beschuldigten die Gegner Liszt als Tonsetzer der
Inkonsequenz, welche in der That von seiner näheren Umgebung
nicht nur zugestanden werden mufste, sondern gelegentlich auch
freimütig ausgesprochen wurde. Auf der einen Seite hatte er
sich völlig mit den Neuerern identifiziert, die alles, was nach
Schablone aussah oder schmeckte, in die Rumpelkammer ge-
worfen wissen wollten, und die dem faden Geklingel der Opern-
fantasien Krieg bis aufs Messer geschworen hatten, andererseits
aber fuhr er einstweilen unbeirrt fort, über beliebte Themen
aus Meyerbeerschen Opern Fantasien und Paraphrasen für den
Konzert- und Salongebrauch zu schreiben *). Der folgende Brief
Raffs an Liszt charakterisiert die Situation vollkommen.
„Unser Theater befindet sich fortwährend miserabel. So
haben wir nacheinander zwei Opern- Vorstellungen gehabt
(Freischütz und Zauberflöte), in denen selbst ganz unschuldige
*) Siehe darüber auch Weifsheimers „Erlebnisse mit R. Wagner,
Franz Liszt und anderen". S. 43 heifst es da: „Anfänglich konnte
ich nicht recht begreifen, weshalb Liszt solche Sachen schrieb. Erst
später wurde es mir bei einem sehr flotten Diner klar, als er in die
Worte ausbrach : , Ja, wenn ich immer nur Faust- und Dante-Sympho-
nieen geschrieben hätte, so könnte ich meinen Freunden keine Forellen
mit Champagner in Eis vorsetzen ! <u
— 88 —
unmusikalische Leute es nicht mehr aushalten konnten, weil
eben Fehler vorfallen, die selbst den Geduldigsten blessieren
müssen. Joachim ist über dies und ähnliches fortwährend
aufser sich. Er geht morgen oder übermorgen nach Leipzig,
wo er sich besser gefallen wird. "Wenn sich Ihre Abwesen-
heit um ein paar Monate verlängern sollte, so können Sie
darauf rechnen, uns samt und sonders nicht mehr hier zu
finden, wo wir kanaillöse Musik anhören müssen und sonst
lediglich auf uns allein angewiesen sind, weil in diesem ver-
dammten Nest blutwenig Leute sind, mit denen man ver-
kehren kann. Man verliert Glauben und Lust an der Kunst
und die Freude zu arbeiten, wie es dem armen Joachim jetzt
wirklich geht.
Die Prophetenfuge habe ich mit grofsem Interesse durch-
gesehen. "Wissen Sie, dafs es mir noch ein Rätsel ist, wie
Sie ein derartiges Motiv einer so mühseligen Bearbeitung
unterstellen konnten? Mit diesem Aufwände von Erfindung
konnten Sie bequem eine Originalkomposition von höchster
Bedeutung herstellen, und man hätte nicht wieder hören
müssen, dafs Sie aus Mangel an eigener Erfindung zu Meyer-
beer gegriffen. — Ich weifs, was Sie antworten: ,Ich will es
so! 4 Wogegen freilich nichts einzuwenden ist, als was Sie
sich seinerzeit wohl selbst vorwerfen werden, dafs man näm-
lich die Stunden und Tage ebensowenig geschenkt kriegt, als
die Gedanken, und dafs Sie sich nicht an andere grofse
Namen mehr anklammern dürfen, wo alle Welt auf Sie sieht,
um von ihnen selbst das Movens einer neuen Periode aus-
gehen zu sehen. Mit Meyerbeer ist es alle. Das will sagen,
dafs sie fortfahren werden , ihm ergeben zu sein und das
Treffliche zu ehren, was er geleistet, dafs aber dieses Sie
nicht hindern wird, Meyerbeer als eine historische Person zu
betrachten und sich danach einzurichten. Haben Sie je er-
lebt, dafs man eine neue Fregatte an eine alte Brigg hängt,
um sie schneller segeln zu machen?
Was ich hier sage, ist keine persönliche Anmafsung von
— 89 —
mir, der ich mich Ihnen gegenüber gern enthalte, sondern
es ist die Ansicht des Künstlers, die Sie gelegentlich von
Joachim, David oder wen Sie nur immer wollen, ebenfalls
hören werden. Sie datiert auch blofs vom Interesse Ihrer
artistischen Stellung, nicht von dem Ihrer persönlichen Re-
lationen, in die ich mich zu mischen mit nichten mich be-
rechtigt sehe. Bei dieser Gelegenheit bitte ich überhaupt
um Nachsicht für Äufserungen wie die obige, die mir ledig-
lich entschlüpfen, weil ich ungeduldig bin, Sie an dem Platz
zu sehen, wo Sie hingehören." (3.-letzter Dezember 1850.)
/■"
2.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Liszt und Mendels-
sohn waren im allgemeinen derart gewesen, dafs der unbeteiligte
Beobachter annehmen konnte, sie beruhten auf gegenseitiger
Hochachtung und Wertschätzung. In der That war Mendels-
söhn \ einer der gröfsten Bewunderer des Klaviervirtuosen und
geistreichen Menschen Liszt. Letzterer wieder trug wenigstens
eine Zeit lang äufserlich einen gewissen Kespekt vor dem
„specifischen" Musikergenie und den Dirigentenfähigkeiten
Mendelssohns zur Schau. In ihrem tiefsten Innern jedoch, das
heifst in ihrem künstlerischen Wesen, waren die beiden viel zu
heterogene Naturen, als dafs sie sich zu einander so hätten
hingezogen fühlen können, wie etwa Schumann zu Mendelssohn
oder später Joachim zu Brahms. Der durch seine unerhörten
Triumphe als Virtuose so verwöhnte Liszt war, unbeschadet
seiner sonstigen* grofsen Eigenschaften, im Vergleich mit Mendels-
sohn immerhin geneigt, den äufserlichen Erfolg undlSlänz 'über
das eigentliche Wesen der Kunst zu stellen. So konnte es wohl
geschehen , dafs , wenn ihm etwa nach dem Vortrag einer
Beethovenschen Sonate der Applaus nicht die gewohnte Stärke
zu haben schien, er unmittelbar darauf ein nichtssagendes Ton-
stück folgen liefs, in dem er seine pianistischen Hexenkünste
zu zeigen Gelegenheit fand — und der Erfolg war da, die
Virtuosenehre gerettet !
Mendelssohn hingegen war eine ganz innerliche musikalische
Natur, die stets auf den Kern der Sache ging, nicht auf den
äufserlichen Schein. Ob er das Werk eines alten Meisters
interpretierte oder einen Zeitgenossen zu Worte kommen liefs,
— 91 —
stets war es ihm heiliger Ernst und Gewissenspflicht, nicht sich,
sondern das Kunstwerk in den Vordergrund zu stellen. Ein
Beispiel wird das Gesagte illustrieren:
Liszt hatte Mendelssohn den "Wunsch ausgesprochen, dessen
kürzlich erst im Druck erschienenes Klavierkonzert in G-moll
i
im Gewandhaus zu spielen. Mendelssohn war natürlich entzückt
von dem liebenswürdigen Angebot und freute sich schon im
voraus, sein Opus von dem genialen Klaviermeister interpretieren
zu hören. Nach der verbindlichsten Begrüfsungsscene in der
Generalprobe setzte sich Liszt an den Flügel und spielte das
Konzert — vom Blatt! Das war nun allerdings eine ver-
blüffende Leistung für diejenigen, die Liszts fabelhaftes a vista-
Spiel noch nicht kannten, aber der Komponist hatte allen Grund,
verstimmt zu sein. Hatte er doch mit Recht vorausgesetzt,
dafs Liszt dem Werke wenigstens so viel Interesse entgegen-
bringen werde, um es im Sinne und Geiste seines Schöpfers vor-
zutragen, nicht aber, um zu zeigen, dafs er imstande sei, ein
Mendelssohnsches Klavierkonzert vom Blatt zu lesen. Es
passierten eben in der Generalprobe und bei der Aufführung
Sachen, die nicht vorgekommen wären, wenn sich Liszt das
Konzert vorher ein wenig angesehen und zurechtgelegt hätte.
Ein schönes Gegenstück hierzu liefert die folgende Er-
zählung Joachims: In einem Konzert in London, am 5. Juni
1844, sollten Joachim und Hancock mit Mendelssohn dessen
D-moll-Trio spielen ; aus Versehen waren jedoch nur die Violin-
und Violoncellstimmen ins Konzert gebracht worden. Mendels-
sohn konnte natürlich sein Opus auswendig ; um aber vor seinen
Partnern, die aus Noten spielen mufsten, nichts voraus zu haben,
liefs er sich irgend ein anderes Notenheft bringen, legte es aufs
Klavier und bat einen Bekannten, er möge von Zeit zu Zeit
ein Blatt umwenden, damit es nicht so aussähe, als spielte er
auswendig. Mit seinem bescheidenen Sinn verzichtete er lieber
darauf, wegen seines Gedächtnisses bewundert zu werden, als
dafs er seine Kollegen zurückgesetzt hätte.
Viel Ähnlichkeit mit den Beziehungen zwischen Mendels-
— 92 —
söhn and Liszt liegt in denen des letzteren zu Schumann, für
dessen Erstlingswerke, in denen sich das ungestüme Hinbrausen
einer ungefesselten Künstlerphantasie ausspricht, Liszt das
wärmste Interesse bekundet hatte. Aber Schumann war eine
zu klar blickende Natur mit echtem Kunstverstand, um nicht
allmählich einzusehen, dafs auch die reichste Phantasie sich ins
Ziellose verläuft, wenn ihr nicht durch Form und Gesetz Zügel
angelegt werden. Hauptsächlich beeinflufst durch das Vorbild
Mendelssohns, lenkte er bald mehr und mehr in die Bahnen
ein, die dem Gesetz entsprechen, „wonach die Rose blüht", und
hat aufs neue den oft erbrachten Beweis geliefert, dafs für
wirkliche schöpferische Gedanken die Kegel kein Zwang, viel-
mehr eine logische und künstlerische Notwendigkeit ist.
In dem Schumann der frühesten Periode seines Schaffens
hatten die „Neudeutschen" geglaubt, einen der Hauptkämpen
ihrer Richtung sehen zu dürfen; in der Folge jedoch be-
trachteten sie ihn als einen Abtrünnigen, der die auf ihn ge-
setzten Hoffnungen nicht verwirklicht hat. Liszt an der Spitze,
sprachen sie in geringschätziger Weise von den Leipziger
Philistern, Pedanten und „Absolute Musik-Machern", die, in
Norddeutschland wenigstens, zum überwundenen Standpunkt
gehörten.
Allein Schumann war nicht der Mann, Sottisen, die ihm
oder dem von ihm so hoch verehrten Mendelssohn galten,
schweigend einzustecken. In einer Abendgesellschaft bei Schu-
mann in Dresden sprach Liszt einmal in so wegwerfendem Ton
von Mendelssohn, dafs ihm Schumann, an allen Gliedern vor
heftiger Erregung zitternd, in Gegenwart Richard Wagners ins
Gesicht sagte: „Wie können Sie sich erlauben, über einen
Künstler wie Mendelssohn, der so hoch über Ihnen steht, in
so abfälliger Weise, zu reden?!" Und, vergessend, dafs. er der
Gastgeber sei, verliefs er in seinem edlen Zorn das Zimmer.
Auch aus dem folgenden Briefe Schumanns an Liszt kann
der Leser seine Schlüsse ziehen:
„Aber, lieber Freund, würde Ihnen die Komposition
— 93 —
(Fausts Verklärung) nicht vielleicht zu leipzigerisch sein?
Oder halten Sie Leipzig doch für ein Miniatur-Paris, in dem
man auch etwas zustande bringen könne? Im Ernst — von
Ihnen, der so viele meiner Kompositionen kennt, hätte ich
etwas anderes vermutet, als in Bausch und Bogen so ein
Urteil über ein ganzes Künstlerleben auszusprechen. Be-
trachten Sie meine Kompositionen genauer, so müfsten Sie
gerade eine ziemliche Mannigfaltigkeit der Anschauungen
darin finden, wie ich denn immer danach getrachtet habe,
in jeder meiner Kompositionen etwas anderes zu Tage
zu bringen, und nicht allein der Form nach. Und wahr-
lich, sie waren doch nicht so übel, die in Leipzig beisammen
waren — Mendelssohn, Hiller, Bennett u. a. — mit den
Parisern, Wienern und Berlinern konnten wir es allenfalls
auch aufnehmen. Gleicht sich aber mancher musikalische
Zug in dem, was wir komponiert, so nennen Sie es Philister
oder wie Sie wollen — alle verschiedenen Kunstepochen
haben dasselbe aufzuweisen, und Bach, Händel, Gluck, später
Mozart, Haydn, Beethoven sehen sich an hundert Stellen
zum Verwechseln ähnlich (doch nehme ich die letzten Werke
Beethovens aus, obgleich sie wieder auf Bach deuten). Ganz
original ist keiner. So viel über Ihre Äufserung, die eine
ungerechte und beleidigende war. Im übrigön : vergessen wir
des Abends — ein Wort ist kein Pfeil — und das Vorwärts-
streben die Hauptsache." (31. Mai 1849.)
Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zu unserem
Weimarer Künstlerkreise zurück, der selbstverständlich den
lebhaftesten Anteil nahm an den Kunst- und Streitfragen, die
damals alle Welt in Aufregung hielten. Bei dem lebhaften
Temperament unserer jungen Freunde darf es nicht Wunder
nehmen, wenn im gegenseitigen Meinungsaustausch gelegentlich
Ansichten zu Tage traten und Worte fielen, die den einen oder
anderen unter ihnen verstimmen mufsten. Besonders Bülow
huldigte in seinen Kunstanschauungen einem Radikalismus, über
den selbst die ihm Nächststehenden die Köpfe schüttelten. Mit
— 94 —
seinem berüchtigten Artikel über Henriette Sonntag war er
wirklich zum enfant terrible der musikalischen Kritik geworden,
und auch seine folgenden schriftstellerischen Leistungen gingen
in ihren Ausfällen gegen Althergebrachtes so weit, dafs sie ihm
von seiten der „Grenzboten" zu seinem Gaudium den geschmack-
vollen Beinamen eines „betrunkenen Eckenstehers" eintrugen.
Vor allem hatte er es auf die Leipziger abgesehen, und es war
für ihn stets ein Festtag, wenn er einem der alten Herren
etwas am Zeuge flicken konnte. So fafste er seine Ansichten
über Moscheies, der nach Weimar gekommen war, um „seinen
Liebling Joachim, den Grofsherzog unter den Geigern", zu be-
suchen und bei Hofe zu spielen, in den Satz zusammen: „Der
Mann ist immer noch so eitel, sich für einen lebenden Künstler
zu halten."
Das folgende Stimmungsbild, einem Artikel Bülows vom
Jahre 1858 (an Felix Draeseke) entnommen, beleuchtet die
Situation von der anderen Seite: „Vielleicht erinnern Sie
sich noch des charakteristischen Ausspruchs, den vor einer
Reihe von Jahren Kapellmeister Tauber über Wagners ,Lohen-
grin' zu Herrn Konzertmeister Joachim gethan, und der eine
gewisse Unvergefslichkeit beansprucht. Eine längere Diskussion
mit dem damals Wagner-enthusiastischen Freunde Franz Liszts
wurde durch die denkwürdige Äufserung des Gegners ab-
geschnitten, dafs er Wagners Textbücher recht hübsch, sogar
poetischer als andere finde, und demnach, wenn er nichts
Besseres zu thun hätte, sehr geneigt sei, den ,Lohengrin' noch
einmal zu komponieren."
Liszt hatte sich anfänglich all diesen Streitfragen gegen-
über diplomatisch kühl und reserviert benommen, allmählich
aber wurde er offener in seinen Meinungsäufserungen und
energischer in seiner Parteinahme für die neue Sache. Bülow
schreibt im Jubel darüber an die Schwester, dafs seine Devise
„honn£te et exaltö" den Sieg über die „politique et mode>6"
davongetragen. Liszt war nämlich aus den Stadien seiner Vor-
arbeiten in die Periode des wirklichen Schaffens getreten und
— 95 —
überraschte bald nachher die erstaunte Welt mit einer statt-
lichen Reihe von umfangreichen Werken, die er „Symphonische
Dichtungen" nannte. Es sei hier der Nachdruck auf die glück-
liche Erfindung der Bezeichnung „Symphonische Dichtungen"
gelegt, denn die Programmmusik als solche ist weder von Liszt,
noch von seinem Freunde Berlioz erfunden worden, sondern,
wie als bekannt vorausgesetzt werden darf, weit älteren Ur-
sprungs.
Es kann nicht in der Absicht des Verfassers liegen, hier
näher auf Liszts „Symphonische Dichtungen" einzugehen, viel-
mehr beschränkt er sich darauf, nur diejenigen Momente zu
streifen, die für das Verständnis seiner Darstellung nötig sind.
Joachim war nun einer der ersten von den Auserwählten,
denen Liszt seine neuen Arbeiten zeigte und vorspielte, und
da er viel von den musikalischen Fähigkeiten und dem Kunst-
verstand des jungen Konzertmeisters hielt, so wollte er auch
dessen Urteil hören. Dommers Ausspruch: „Ein einmaliges
Hören ist nicht geeignet, ein Urteil, sondern nur eine Meinung
zu begründen," wird Joachim noch nicht bekannt gewesen sein,
aber innerlich wird er ihn wohl als der ernste Künstler, der er
war, empfunden haben. Obzwar in den Traditionen der Klassiker
herangewachsen, hatte er sich doch dem romantischen Zauber
der Wagnerschen Musik nicht verschliefsen können, und für die
Werke des geistvollen Berlioz hat er sich Zeit seines Lebens
auf das Lebhafteste interessiert; aber bei Liszts symphonischen
Dichtungen wurde er stutzig, und trotz oftmaligen Hörens konnte
er ihnen nicht nur keine Sympathien abgewinnen, sondern die
Abneigung vor denselben steigerte sich im Laufe der Zeit bis
zum Widerwillen. Über Liszts musikalische Impotenz, die
Armut seiner Erfindung und den gänzlichen Mangel an
schöpferischer Kraft würde er schliefslich noch weggesehen
haben, denn Gedankenreichtum, musikalische Erfindung und
schöpferische Gestaltungskraft müssen angeboren sein ; sie können
durch Studium, Erziehung und Ausbildung nur weiter entwickelt,
zu künstlerischer Reife gebracht werden. Dafs aber das Nicht-
— 96 —
Vorhandensein dieser notwendigen Eigenschaften durch den
raffiniertesten Aufwand von blendenden Orchestereffekten ver-
deckt werden, eine unerhört prätenziöse mise en scene den
Hörer anweisen sollte, innere Hohlheit und Gedankenlehre für
höhere künstlerische Offenbarungen zu nehmen, das war es, was
Joachim so heftig von den Lisztschen Kompositionen zurückstiefs.
All das ging so sehr gegen sein musikalisches Empfinden, stand
mit dem, was er für gut und schön hielt, in so heftigem Wider-
spruch, dafs er schwere innerliche Kämpfe mit sich durch-
zumachen hatte. Liszt, für den er sonst so viel Verehrung
und Dankbarkeit im Herzen trug, konnte er die volle Wahrheit
nicht eingestehen, denn er fühlte sich noch nicht reif und selb-
ständig genug, um dem überlegenen Geist des gewandten und
vielerfahrenen Mannes mit seinen Ansichten entgegenzutreten. Er
gab blofs seiner Überraschung und seinem Erstaunen über gewisse
harmonische Wendungen in Liszts Kompositionen unverhohlenen
Ausdruck, fragte auch hie und da in bescheidener Weise, warum
das Einfache und Natürliche zu Gunsten des Gekünstelten und
Raffinierten zurückstehen müsse, kurz, wand sich hin und her,
verweilte mit Fragen bei nebensächlichen Dingen, um seine
Antipathie vor dem Ganzen nicht eingestehen zu müssen. Liszt
merkte übrigens bald, dafs Joachim keine innerliche , künst-
lerische Befriedigung an seiner Musik empfand, und unterbrach
einmal ein Privatissimum mit den Worten : „Na, lieber Freund,
ich sehe schon, dafs Ihnen meine Sachen keine Freude machen."
Mit seinen Alters- und Kunstgenossen mochte sich Joachim
über die Lisztschen Kompositionen auch nicht aussprechen, denn
die waren so im Zauberbann von Liszts Persönlichkeit be-
fangen, dafs sie darüber ihr eigenes Urteil vollständig ein-
gebüfst hatten; nur bei Raff zeigte sich noch eine gewisse
Selbständigkeit in der Beurteilung der Lisztschen Musik, und
in manchen wesentlichen Punkten teilte er Joachims Ansichten
über dieselbe.
Wie eine Erlösung mufste es Joachim demnach empfinden,
dafs er in Bettina von Arnim wenigstens ein Wesen fand, dem
Joseph Joachim in Weimar.
— 97 —
er seine Gewissensnot beichten, in ernster Rede und Gegenrede
seine künstlerischen Ansichten offen entwickeln konnte. Er
gestand ihr seine Unfähigkeit, sich in den Geist und das Wesen
der Lisztschen Musik einzuleben, da sie mit seinen Idealen
ganz unvereinbar sei, sein Unvermögen, an einer Kunst Gefallen
und Befriedigung zu finden, die in krankhafter Phantastik und
gespreizter Unnatürlichkeit sich vermesse, Stoffe zu illustrieren,
deren Schilderung ganz aufserhalb des Ausdrucksvermögens der
Instrumentalmusik läge.
Die geistreiche Frau besafs zwar in musikalischen Dingen
kein handgreifliches oder berufsmäfsiges Können, aber ein glück-
licher Instinkt liefs sie bis zur positiven Gewifsheit empfinden,
was grofs und schön, ernst und erhaben im Reiche der Kunst
sei. Sie war neben E. T. A. Hoffmann die Erste gewesen,
welche die ganze gewaltige Gröfse eines Beethoven, des Beethoven,
wie wir ihn heute anstaunen und bewundern, erkannt hat; und
es wirkt geradezu verblüffend, mit welcher Sicherheit sie in
ihren Briefen an Goethe die dereinstige Bedeutung und Stellung
des Tonhelden in der Kunstgeschichte vorhergesagt hat. Aber
auch mit anderen Musikern hat sie in Verkehr gestanden, so
mit Schumann und Brahms, welch letzterer ihr sein erstes Heft
Lieder gewidmet hat.
Bettina von Arnim bestärkte nun Joachim so sehr in seinen
Kunstanschauungen , dafs sich allmählich die widerstreitenden
Empfindungen in seiner Brust zu klären anfingen. Joachims
grofse Verehrung und Liebe für Mendelssohn hatte in Weimar
manchen Stofs erdulden müssen, der tiefer ging, als Liszt und
seine Anhänger ahnen mochten. Durch die Geringschätzigkeit, mit
welcher sie von dem ihm so teuern Meister sprachen, einerseits,
und durch das, was er dafür eintauschen sollte, andererseits,
sah er sich vor die Frage gestellt, ob er in den Werken Liszts
und der neuen Richtung eine ähnliche künstlerische Befriedigung
finden würde , wie sie ihm die Schöpfungen Mendelssohns und
Schumanns gewährt hatten. Und die Beantwortung dieser
Frage konnte für ihn nur so ausfallen, dafs er den Idealen
Moser, Joseph Joachim. 7
— 98 —
seiner Jugend treu bleiben wollte, da sie sein ganzes künst-
lerisches Sein ausfüllten, dafs er sie nur mit noch gröfserer
Liebe und Hingebung zu pflegen beschlofs, da sie ihm alles das
boten, was er durch Erziehung und Bildung gelernt hatte für
hehr und schön zu halten.
So rang er sich schliefslich zu der Erkenntnis durch, dafs
er wohl zu unterscheiden habe zwischen dem genialen Virtuosen,
ausgezeichneten Dirigenten und hochherzigen Menschen Liszt
und dem Tonschöpfer in ihm. Von dem letzteren trennte
ihn von Anfang an eine so tiefe Kluft, dafs deren Überbrückung
für Joachim gleichbedeutend gewesen wäre mit künstlerischer
Selbstvernichtung.
Zwar machte er zunächst den beteiligten Kunstgenossen
keinerlei Mitteilungen über die Umwandlung, die in seinem
Inneren vorgegangen war, allein Liszt und seine Freunde
werden wohl schon damals empfunden haben, dafs ihnen Joachim
als Parteigenosse nicht das halten werde, was sie anfangs ge-
hofft und gewünscht hatten.
Es sei aber ausdrücklich betont, dafs die persönlichen und
freundschaftlichen Beziehungen zwischen Joachim und Liszt
durch alles das keinerlei Trübung erfuhren. Liszt war eine viel
zu vornehme und elastische Natur, ein zu einsichtsvoller Weltmann,
als dafs er einem Künstler von dem Range und der Bedeutung
des jungen Joachim das Recht versagt hätte, sich über seine
Musik eine eigene Meinung zu bilden ; und aus seinen Briefen geht
zur Evidenz hervor, dafs seine Wertschätzung des jugendlichen
Meisters gerade in der fraglichen Zeit eher zu als abgenommen
hat. Umgekehrt fand Joachim, trotz seiner Abneigung vor
den Lisztschen Kompositionen, so viele andere verehrungs-
würdige Eigenschaften an dem älteren Freunde zu bewundern,
dafs die nächsten Jahre nur noch eine Steigerung des Freund-
schaftsverhältnisses zwischen den beiden grofsen Künstlern
herbeiführten.
Der folgende Brief Liszts an Stern spricht für sich selbst.
— 99 —
„Weymar, 24 Novembre 52.
Mon eher Monsieur Stern,
J'espöre que vous voudrez bien excuser le retard que
j'ai mis k repondre k vos amicales lignes dont je vous re-
mercie trös affectueusement. M r Joachim 6tait absent alors
qu'elles me parvinrent, et toute cette semaine derniöre a 6t6
extr&nement remplie pour Weymar par les röpötitions et
Texöcution des ouvrages de Berlioz ....
Je n'ai pas manquä de me conformer au däsir de votre
dernifcre lettre, aussitöt le retour de Joachim k Weymar, et
Tai beaueoup engagö k aeeepter la proposition que vous lui
faites, de prendre part au concert du 18 Döcembre. Vous
savez quelle haute estime je professe pour le talent de
Joachim, et quand vous Taurez entendu, je suis persuadä
que vous trouverez que les 61oges que je vous en ai
faits dernifcrement n'ont rien d'exagärä. C'est un artiste
hors ligne et qui peut lögitimement ambitionner une r6pu-
tation glorieuse. De plus c'est une nature tout k fait loyale,
un esprit distinguö et un caractfcre douö d'un singulier charme
dans sa droiture et son sörieux.
La question de Thonoraire ötant assez embarrassante
pour lui k traiter avec vous, j'ai pris sur moi de vous en
parier sans long commentaire et de vous indiquer le chiffre
de 20 k 25 Louis d'or comme me paraissant convenable,
Si Joachim avait döjk ätä k Berlin, ou bien, si son s^jour
dans cette ville pouvait co'incider avec quelqu'autre avantage
päcuniaire, je suis assurä qu'il se ferait un plaisir de vous
offrir m§me sa Cooperation gratuite, mais dans la position oü
il se trouve, n'ayant pas Tintention de donner quant k präsent
des concerts k Berlin, et sans relation directe encore avec
vous, je pense que vous appräcierez les motifs qui me portent
k vous fixer ce chiffre ....
Si, comme je Tesp&re, vous ne le jugez pas disproportionnä,
veuillez simplement, je vous prie, avoir la bontä d'öcrire
quelques lignes k Joachim directement pour rinformer du jour
7*
— 100 —
auquel il serait näcessaire qu'il füt arrivö ä Berlin pour la
r^pätition de votre concert afin qu'il puisse demander un
peu ä l'avance son conger d'ici.
Tont ä vous
F. Liszt."
Über dieses erste öffentliche Auftreten Joachims in Berlin,
das am 13. Dez. 1852 in einem Konzert des „Sternschen Ge-
sangvereins , im Saale des königlichen Schauspielhauses, statt-
fand, sei der Bericht Otto Gumprechts in der „National-Zeitung"
mitgeteilt :
„Nun betrat ein junger Violinist das Podium, anscheinend
20, höchstens 22 Jahre alt, Herr Konzertmeister Joseph
Joachim, den schon jetzt sein Freund und Kapellmeister, Franz
Liszt, den ersten Geigern aller Zeiten an die Seite stellt
Während des Tutti, mit welchem das Beethovensche Violin-
konzert beginnt, hatte ich volle Zeit, ihn zu betrachten, aber
bei den ersten Klängen seiner Geige vergafs ich alles andere,
den Konzertsaal, das Publikum, sogar Herrn Joachim. Der
Adel und die Fülle des Tons, die vollendete Technik, die geist-
volle Auffassung nahm mich ungeteilt in Anspruch. Erst im
Adagio blickte ich wieder hin, aber von der Gestalt des Geigers
konnte ich nichts mehr bemerken, sie war mir durch eine
andere ganz und gar verdeckt. Ich erkannte sie wohl, diese
gedrungene, nachlässig gekleidete Gestalt mit ihren wirren,
emporstehenden Haaren, der hohen Stirn, auf der die er-
habensten Gedanken ihre leuchtenden Spuren hinterlassen, mit
ihren tiefliegenden Augen, aus denen der kühnste Geist und die
wärmste Menschenliebe hervorschauten, mit den Lippen, um die
der Schmerz seine schärfsten Linien und Falten gezogen. Die-
selben Züge hatten ja so oft von dem Bilde, das über meinem
Klavier hängt, auf mich herabgesehen und mitleidig zu lächeln
geschienen, wenn meine Finger die Sonate in F-moll, die grofse
in B-dur oder die Phantasie Op. 77 stammelten. Er war es
selbst, der Schöpfer der ,neunten Symphonie 4 , den ich von An-
— 101 —
gesicht zu Angesicht zu schauen wähnte. Als das Thema des
Finale erklang, nahm sein Antlitz den Ausdruck des über-
mütigen Humors an, der mit Behagen dem Narrenspiel des
Lebens zusieht. Bei jeder neuen Tonfigur veränderten sich die
Mienen, die eine ganze Welt der Empfindungen abspiegelten,
bis die Vision mit dem letzten Bogenstriche plötzlich verschwand.
Vor mir stand wieder Herr Joachim, der das ganze Konzert
auswendig gespielt hatte, und mit einem Beifallssturm, wie ihn
dieser Saal wohl noch nie gehört, entlassen wurde. Ich möchte
4en Künstler mit einem Worte genial nennen, wenn die Be-
zeichnung nicht bis zur Unkenntlichkeit gemifsbraucht wäre.
Wen hat nicht alles schon unsere Zeit genial genannt! Zum
erstenmal habe ich gestern von einer Leistung den Eindruck
absoluter Vollendung mit mir genommen. Der Vortrag war bis
in das Kleinste die getreueste, begeistertste Keproduktion des
Werkes, in der alle Einzelheiten, selbst die grofse eingelegte
Kadenz im ersten Satz, als ebenso viele durch die Innerlichkeit
der Sache gebotene Züge erschienen. Da gab es nichts Müfsiges,
keinen eitlen Virtuosenschmuck, sondern alles, jedes sforzato,
crescendo, staccato fand in dem Ganzen seine Rechtfertigung.
Nach dem Konzert fiel mir ein, dafs zugleich die gröfsten
Wunder der Bravour an mir vorübergegangen: Doppelgriffe,
chromatische Läufe in Oktaven und was weifs ich noch — aber
während des Spiels hatte ich dessen kaum acht, denn der
Virtuos geht hier durchaus im Künstler auf, jener wird von
diesem gänzlich gedeckt. Unsere Stadt jedoch möge diesen
Meister auf der Geige nicht wieder ziehen lassen, sondern ihn
für immer, um jeden Preis, an sich fesseln." —
Mitten in diese eigentümliche Situation fiel Mitte November
1852 die Nachricht, dafs Joachims früherer Mitschüler in Wien,
Georg Hellmesberger, als Konzertmeister in Hannover gestorben
sei, und kurz darauf wurde die Nachfolgerschaft in der er-
ledigten Stelle Joachim angetragen. Da die Bedingungen, unter
denen seine Anstellung in Hannover erfolgen sollte, im Ver-
gleich zu Weimar geradezu glänzende genannt werden konnten,
— 102 —
sich ihm überdies in den gröfseren Verhältnissen daselbst ein
weiterer künstlerischer Wirkungskreis eröffnete, so zögerte
Joachim nicht lange mit der Zusage. Sein Entschlufs versetzte
nun zwar Liszt und die jüngeren Eunstgenossen in aufrichtige
Betrübnis, «allein in Anbetracht der schönen Zukunft , die ihm
allem Anschein nach in Hannover beschieden war, billigten sie
Joachims Weggang von Weimar vollkommen, und Liszt selbst
befürwortete seine Übersiedlung nach der hannoverschen Resi-
denz in uneigennützigster Weise.
Liszt und seine Freunde überboten sich in Aufmerksam»
keiten und Liebenswürdigkeiten, um Joachim die letzten Wochen
seines Aufenthaltes in Weimar so angenehm als möglich zu ge-
stalten, und gegenseitig trennte man sich mit dem Vorhaben,
die anregenden Beziehungen zu einander auch in Zukunft auf-
recht zu halten und eifrig zu pflegen. Bülows folgender Brief
zeigt, wie herzlich er Joachims Weggang von Weimar be-
dauerte :
„Leipzig, 8. Januar 1853.
Geliebte Mutter,
herzlichste Grüfse von Arnims und Joachim, die ich gestern
6 Uhr in Köthen verlassen habe. Wenn ersteren nicht das
Geld ausgegangen wäre, und wir uns angestrengt hätten, sie
dazu zu bewegen, wären sie wohl noch einige Tage ge-
blieben. Ich wollte ihnen Va4 Uhr auf dem Leipziger
Bahnhof Adieu sagen, da stellte Fräulein Armgart mir es
jedoch als so augenscheinlich unmöglich vor, dafs ich ihnen
meine Begleitung nicht noch bis Köthen geben sollte, dafs
ich eben nicht anders konnte. Nun waren noch zwei Pro-
jekte aufs Tapet gekommen; das eine, die Nacht in Köthen
zu bleiben, und endlich das noch kühnere, dafs wir beide,
Joachim und ich, Arnims bis Jüterbog begleiten sollten und
dann mit dem Nachtzug zurückfahren; doch wurden sie beide
aufgegeben, als wir in Köthen erfuhren, dafs die Züge so
bequem für uns alle gingen, dafs Joachim V28 Uhr nacli
Magdeburg weiter und ich um denselben Augenblick nach
— 103 —
Leipzig zurückfahren konnte. So blieben Joachim und ich
noch IV2 Stunden zusammen, konnten gemeinsam trauern
und noch manches sprechen, woran gemeinsames Interesse
sich knüpfte. Ich gestehe Dir, die Trennung ging mir un-
endlich nahe und es ist mir heute sehr unzurechnungsfähig
zu Mute." —
Yon Kompositionen, die in Weimar entstanden sind, hat
Joachim die beiden „Phantasie stück" und „Frühlingsphantasie"
gemeinschaftlich mit der in Leipzig geschriebenen kleinen B-dur-
Romanze als Op. 2 veröffentlicht. Der Kenner wird, wenn er
die drei Stücke miteinander vergleicht, reichlich Gelegenheit
finden, zwischen Leipziger und Weimarer Luft zu unter-
scheiden. Wie sehr Joachim sich in der kurzen Zeit seines
Aufenthaltes in Weimar „entleipzigert" hatte, und wie stark er
damals von der „neudeutschen" Kunstrichtung beeinflufst war,
läfst sich nirgends besser nachweisen als an der „Frühlings-
phantasie", deren ganzer Habitus, Harmoniefolgen und Klavier-
begleitung deutlich das Vorbild Liszts erkennen lassen. Und
trotzdem steckt in dem Stück mancher Zug, woran zu merken,
dafs der Schüler Hauptmanns und Mendelssohns nur betäubt,
nicht ganz abgethan ist.
Als Op. 3 ist sein Violinkonzert in G-moll im Druck er-
schienen, das Liszt zugeeignet und von diesem mit der Dedi-
kation seiner Rhapsodie hongroise in Cis-moll beantwortet
wurde. Es ist ein ebenso beredter Zeuge für Joachims da-
malige Kunstanschauungen und die Einflüsse, die auf ihn ein-
gewirkt haben. Aber niemand wird den künstlerischen Ernst
und das hohe Streben leugnen können, die der Arbeit zu Grunde
liegen ; verrät sie doch überall den geschmackvollen, denkenden
Musiker, der zwar der Sologeige die immensesten Schwierig-
keiten zugedacht, darüber aber das Kunstwerk nicht vergessen
hat. Joachim hat das Stück in jüngeren Jahren häufig und
erfolgreich öffentlich gespielt, dann aber ganz liegen lassen, da
es seiner nachmaligen Kunstrichtung nicht mehr entsprach und
— 104 —
von den späteren Violinkonzerten vollständig in Schatten ge-
stellt wurde.
Die Ergebnisse von Joachims Aufenthalt in Weimar waren,
alles in allem genommen, derart, dafs er alle Ursache hatte,
mit denselben zufrieden zu sein. Bildeten doch diese Jahre
für ihn den Übergang vom Jünglings- in das Mannesalter. Er
hatte einen tiefen Blick gethan in die Bestrebungen der „Neu-
deutschen", war in vertraute Beziehungen zu einem ihrer Haupt-
führer getreten, hatte eine grofse Anzahl von bedeutenden Per-
sönlichkeiten kennen gelernt, war vor allem als Künstler und
Mensch freier und selbständiger geworden. In seinem eigent-
lichen Beruf als Geiger war er damals schon so weit gediehen,
dafs er als vollendeter Meister seines Instrumentes überall an-
erkannt wurde, wo er seine Geige erklingen liefs. Von jetzt
ab ist es immer ein künstlerisches Ereignis, wenn der Name
„Joachim" ein Konzertprogramm ziert; und dieser Name bürgt
in gleicher Weise für die sorgsame, echt künstlerische Auswahl
der vorzutragenden Stücke, wie für die vollendetste Wiedergabe
derselben.
V.
Hannover.
9
1.
^» gg i einrich Marschners Berufung im Jahre 1830 au das konig-
fiEpÄ liehe Theater in Hannover hatte zur Folge, dafs die welfi-
«9=*» sehe Residenz nun in die Reihe der bedeutsamen Musik-
stätten Deutschlands eintrat. Bis dahin waren die musikalischen
Verhältnisse Hannovers von der Art gewesen, die zwischen an-
nehmbar und gut ungefähr die Mitte hielt. Als aber der
Schöpfer des „Vampyr", von „Templer und Jüdin" die Leitung
der Oper in Hannover Übernahm und 1333 sein „Hans Helling"
herauskam, durfte diese Stadt sich rühmen, den bedeutendsten
und erfolgreichsten deutschen Opernkomponisten der Zeit an
der Spitze seines Musiklebens zu wissen.
Der königliche Hof liefs es sich Überdies angelegen sein,
allmählich auch noch andere Kunstkräfte von Ansehen und Be-
dentang an seine Residenz zu ziehen; und wer sich die Liste
der Künstler ansieht, die während des verflossenen halben Jahr-
hunderts in Hannover wirksam waren, wird erstaunt sein über
die Fülle hervorragender Erscheinungen auf den verschiedenen
Kunstgebieten. Die musikalische Glanzepoche von Hannover
beginnt mit dem Regierungsantritt Königs Georg V., 1851.
Dieser kunstsinnige Fürst, der schon im Jünglingsalter das
Unglück hatte, sein Augenlicht zu verlieren, war von jeher ein
leidenschaftlicher Verehrer der Tonkunst, hat er doch durch
sie die reinsten Tröstungen in seinem Mifsgeschick erfahren.
Wie grofs seine Liebe zur Musik, auch zur gnten, war, geht
— 108 —
schon aus dem kleinen, anonym erschienenen Schriftchen „Ideen
und Betrachtungen über die Eigenschaften der Musik" hervor,
in dem er in ebenso rührender wie gut gemeinter Absicht seinen
Eunstanschauungen Worte verliehen hat. Bis auf Aufführungen
in Privatzirkeln erstreckte sich sein Interesse, und der „hanno-
versche Kunstverein" hatte zu wiederholten Malen die Ehre,
seine künstlerischen Veranstaltungen durch den Besuch der
königlichen Familie ausgezeichnet zu sehen.
Mit der Berufung Joseph Joachims 1853 erfuhr das musi-
kalische Leben Hannovers eine weitere glänzende Förderung,
denn an die Seite des gefeierten Opernkomponisten Marschner
stellte sich nun ein ausübender Tonkünstler, den damals schon
die mafsgebenden Stimmen den ersten lebenden und einen der
gröfsten Violinisten aller Zeiten nannten. Heinrich Ehrlich, der
zu jener Zeit in Hannover als Hofpianist lebte, scheint an der
Berufung Joachims einen wesentlichen Anteil ^gehabt zu haben ;
jedenfalls verdankte ihm Joachim seine Einführung bei der Hof-
dame Gräfin Bernstorff-Gartow, die bei ihrer Vorliefe e^für ernste
und gute Musik sofort ein lebhaftes künstlerisches ^teresse
für den jugendlichen Meister gewann und wohl manche^ dazu
beigetragen hat , dafs er bald persona gratissima bei \dem
Königspaar wurde. \
Joachims Anstellung legte ihm die Verpflichtung auf, b
'den gröfseren Opernaufführungen als Konzertmeister zu fungieren,
„auf eine gleichmäfsige Streichart und schöne Tonbildung des
Quartetts zu achten und durch eventuelle solistische Mitwirkung
die Kunstleistungen des Orchesters zu erhöhen", die Symphonie-
Soireen der königlichen Kapelle zu leiten und bei Hof konzerten
entweder als Dirigent oder als Solist mitzuwirken. Von grofser
Annehmlichkeit war es für ihn, dafs er in den fünf Sommer-
monaten vollständig dienstfrei blieb, also reichliche Mufse hatte
für anderweitige künstlerische Beschäftigung. Überdies gewährte
man ihm auch im Winter in liberalster Weise Urlaub zu
Konzertreisen, auf denen er die meisten europäischen Staaten
besucht hat.
— 109 —
Mit Marschner war Joachim schon als löjähriger Knabe
durch einen Empfehlungsbrief von M. Hauptmann bekannt ge-
worden, als er sich gelegentlich einer mit seinen Verwandten
unternommenen Harzreise einige Tage in Hannover aufgehalten
hatte. Trotz seiner Verehrung für den berühmten Opernkompo-
nisten aber trat er doch zu ihm niemals in intimere Beziehungen;
auch ist kein nennenswertes Moment anzuführen, das auf eine
musikalische Beeinflussung Joachims durch Marschner schliefsen
liefse. Erstlich schied die beiden Männer ein bedeutender
Altersunterschied, zweitens merkte Joachim bald, dafs Marschner
nicht viel Interesse für das übrig hatte, was aufserhalb seiner
Sphäre lag. Dieses „nur für sich leben" sprach sich schon da-
durch aus, dafs Marschner wohl auf die sorgfältige Aufführung
seiner Opern, allenfalls auch noch auf die von Mozart und
Weber, viel Zeit und Mühe verwandte, für die anderen Kompo-
nisten jedoch eine gewisse Lauheit und Gleichgültigkeit an den
Tag legte. So hatte Joachim zu Anfang seiner Direktions-
thätigkeit nicht geringe Mühe, Fehler, die sich im Laufe der
Zeit in die Orchesterstimmen von Beethovenschen Symphonien
und Gluckschen Sachen eingeschlichen und festgenistet hatten,
auszumerzen. Das führte manchmal zu unliebsamen Zwischen-
fällen mit den Orchestermitgliedern, die höchlichst erstaunt, ja
mifsmutig darüber waren, dafs der junge Konzertmeister auf
der Abstellung von Irrtümern bestand, die ihr berühmter Kapell-
meister ruhig hatte durchgehen lassen.
Was seine Stellung und die Erfüllung der Dienstpflichten
betrifft, hatte Joachim alle Ursache, damit zufrieden zu sein;
besonders bereitete ihm seine Dirigententhätigkeit viel Freude,
denn er hatte die Genugthuung, seine Wirksamkeit in dieser
Hinsicht allseitig anerkannt zu sehen. Allein der innere Mensch
fühlte sich während der ersten Jahre in Hannover so verwaist
und einsam, dafs er Gefahr lief, Hypochonder zu werden. Fremd
fühlte er sich in der neuen Umgebung, wo er keinen gleich-
strebenden Genossen hatte, wo kein verständnisvoller Freund
zur Stelle war, der sich für seine Ideale begeistert hätte. Eine
— 110 —
heifse Sehnsucht erwachte in ihm nach dem Kreise, den er in
Weimar verlassen hatte, und besonders nach dem so anregenden
künstlerischen Verkehr mit Liszt trug er inniges Verlangen.
Es kann uns nur eine sympathische Vorstellung von dem reichen
Innenleben Joachims geben, dafs er in jener Zeit auch als
Künstler wesentlich milder über Liszts symphonische Dichtungen
und seine anderen Kompositionen dachte.
In dieser ungeklärten Situation tiberkam ihn eine richtige
Hamletstimmung, und um dieser nicht zu unterliegen, machte
er sich an die Komposition seiner Hamlet-Ouverture. Es ist
nötig, zu wissen, welchen Umständen und Einflüssen diese
Arbeit ihre Entstehung verdankt, um den richtigen Mafsstab
für ihre Beurteilung anzulegen. Wie sich grofse zeitgenössische
Musiker über das erste gröfsere Orchesterwerk des Zweiund-
zwanzigjährigen äufserten, davon sollen die folgenden Blätter
berichten. Was den poetischen Gehalt angeht, der ja dem
ganzen Stück die tragische Grundstimmung verleiht, wird man
nicht umhin können, des Goetheschen Ausspruches über das
psychologische Problem im „Hamlet" eingedenk zu sein : „Eine
grofse That auf eine Seele gelegt, die dieser That nicht ge-
wachsen ist."
Der folgende Brief an Liszt schildert den Werdeprozefs der
Ouvertüre so eingehend, dafs jede weitere Erklärung tiberflüssig ist.
„Verehrter, teurer Meister!
Statt Sie mit einer langen Auseinandersetzung zu quälen,
weshalb Sie in so langer, langer Zeit von mir nichts gehört
haben, will ich Ihnen lieber gleich in der ersten Freude
über die endlich in einer Kopie fertig vor mir liegende Ouver-
türe zum Hamlet, dieselbe überschicken ; ich habe dabei den
Wunsch, das Werk möge Ihnen auch sagen, woran Sie hoffent-
lich nicht gezweifelt haben, dafs Sie, mein Meister, mir be-
ständig gegenwärtig waren. Die Abschiedsworte, welche Sie
mir unter Freunden an einem der letzten Abende in Weimar
zugerufen hatten, sind mir noch in den Ohren; sie hallen in
meinem Innern als Musik wieder, die nie verklingen kann.
- 111 —
Dieser „voix interne" zuzuhorchen, hatte ich hier alle Mufse;
ich war sehr allein. Der Kontrast, aus der Atmosphäre hin-
aus, die durch Ihr Wirken rastlos mit neuen Klängen erfüllt
wird, in eine Luft, die ganz tonstarr geworden ist von dem
Walten eines nordischen Phlegmatikers aus der Restaurations-
zeit, ist zu barbarisch ! Wohin ich auch blickte, keiner, der
dasselbe anstrebte wie ich; keiner statt der Phalanx gleich-
gesinnter Freunde in Weimar. Die Kluft zwischen dem
heftigsten Wollen und dem unmöglichen Vollbringen gähnte
mich verzweifelt an. Ich griff da zum Hamlet; die Motive
zu einer Ouvertüre, die ich schon in Weimar hatte schreiben
,wollen', fielen mir wieder bei; aber beim Aufschreiben ge-
ntigte mir nichts; ich überarbeitete immer, und zuletzt nach
Ihrem Brief (weil mich die Freude darüber kräftigte) noch-
mals das Ganze. Aber wer weifs, wie kindisch auch jetzt
mein Hamlet Ihnen, grofser Meister, vorkommen wird! Sei
es! Ich darf Sie dennoch zuerst wieder mit seinen Tönen
anreden, weil ich weifs, den ernsten Willen bei der Arbeit
werden Sie nicht verkennen wollen. Ja, ich bin gewifs, Sie
werden, mein immer nachsichtiger Meister, die Partitur durch-
sehen, und meinend, ich säfse neben Ihnen, stumm wie
immer, aber mit Begierde Ihrer musikalischen Weisheit zu-
lauschend, mir raten. Haben Sie aber nicht so viel Ihrer
kostbaren Zeit übrig, mir zu schreiben, so lassen Sie mich
nur in ein paar Zeilen wissen, dafs ich Ihnen nicht fremd
geworden bin! Ich komme sonst noch vor dem Monat
Mai selbst.
Aus ganzem Herzen Ihr
Hannover, 21. März 1853. Joseph Joachim."
Hierzu trat noch der Umstand, dafs Joachim von Anfang
an in kein rechtes Verhältnis zu seinem Chef, dem Intendanten
Graf Platen, kommen konnte, der zwar ein gewandter Hofmann
war, aber von den höheren Aufgaben eines Theaterleiters nur
mangelhafte Vorstellungen hatte. Von der künstlerischen Be-
deutung eines Marschner hatte er ebensowenig eine richtige An-
— 112 —
schauung, wie von dem auf das Höchste gerichteten Streben
Joachims. Überall witterte er Kabalen and Intriguen, wo es
sich einfach um Forderungen im Interesse der Kunst handelte,
machte Weiterungen und Schwierigkeiten, dafs auch dem Nach-
sichtigsten und Friedfertigsten schliefslich die Geduld ausgehen
mufste. Das Folgende ist charakteristisch für ihn:
Es machte Joachim grofses Vergnügen, mit der Gräfin
Bernstorff zu musizieren, die sich lebhaft für die klassische
Kammermusik interessierte. Besonders bewunderte sie Joachims
Interpretation der Beethovenschen Sonaten und erzählte ge-
legentlich bei Hofe, welch köstliche Stunden ihr aus dem Zu-
sammenspiel mit Joachim erwüchsen. Es machte sich dabei
ganz von selbst, dafs sie dem Wunsch Ausdruck gab, es möchte
in Zukunft Beethoven eine ausgiebigere Pflege erfahren, als es
bisher der Fall gewesen. Als das dem Intendanten zu Ohren
kam, rief er aus: „Das geht nicht, die Gräfin Bernstorff in-
trigiert bei Hofe für Beethoven!"
Glücklicherweise aber war Joachim mit der Bethätigung
seiner hohen Künstlerschaft nicht nur auf Hannover angewiesen,
denn von nah und fern liefen die schmeichelhaftesten Konzert-
anerbietungen für ihn ein. Die ehrendste und für die Folge
bedeutsamste Aufforderung war die Einladung, durch seine
solistische Mitwirkung das 31. niederrheinische Musikfest in
Düsseldorf (15. — 17. Mai 1853) zu verschönen. Durch das
erfolgreiche erstmalige Auftreten am Rhein wurde Joachim mit
einem Schlage der gefeiertste ausübende Tonkünstler Deutsch-
lands, und seine wiederholte Mitwirkung bei späteren Festen
als Solist oder als Dirigent konnte nur dazu beitragen, sein
hohes Ansehen noch zu festigen. Von gröfster Wichtigkeit aber
wurde jenes Musikfest für Joachim dadurch, dafs er nun zu
Robert Schumann in so vertraute freundschaftliche Beziehungen
trat, wie sie in gleicher Herzlichkeit nur noch Einem, Johannes
Brahms, beschieden waren.
Angeknüpft wurde dieses innige Freundschaftsverhältnis
durch folgendes Schreiben:
- 113 —
„Lieber und geehrter Herr Joachim,
Es ist mir eben mitgeteilt worden, dafs Sie von unserem
Musikfestkomitee eine Einladung erhalten haben. Die Herren
thaten es vielleicht, um mir, der ich jetzt vielbeschäftigt bin,
einen Brief zu ersparen. Aber in diesem Falle fühle ich
mich doch auch persönlich verpflichtet, Ihnen den Wunsch
des Komitees auszusprechen, wie im voraus die Freude,
wenn Sie ihn erfüllen. Ich denke, es werden fröhliche Tage
und an guter Musik wird es auch nicht fehlen. Gewifs
werden Sie auch manchen Ihrer Bekannten hier linden. So
kommen Sie denn und vergessen auch nicht Ihre Geige und
das Beethovensche Konzert mitzubringen, das wir alle gern
hören möchten.
Ihr ergebener
Düsseldorf, 17. April 1853.
Robert Schumann."
Was den niederrheinischen Musikfesten, besonders denen
in früherer Zeit, einen so eigenartigen Reiz verleiht, das ist
das fröhliche Zusammensein der Festteilnehmer nach vollbrachter
künstlerischer Arbeit. Das köstliche Nafs, das die Gaue des
rebenbekränzten Rheinstromes den durstigen Kehlen liefern, ist
ganz dazu angethan, „nichts zu erfinden, sondern es nur aus-
zuschwatzen". Die herrliche Natur, der heitere und frohsinnige
Menschenschlag am Rhein und nicht zuletzt die gehobene Fest-
stimmung tragen das ihrige dazu bei, auch den Zugeknöpftesten
und Wortkargsten zutraulich und gesprächig zu machen. Da
hat sich denn auch unser jugendlicher Meister schadlos gehalten
für die vielen in Hannover einsam vergrübelten Stunden und
manche Beziehung angeknüpft, die fürs Leben andauern sollte.
So mit Albert Dietrich 1 ), dem treuen Anhänger und Freunde
J ) Albert Herrmann Dietrich, geboren 1829, lebte 1851—1854 in
Düsseldorf, wo er in nahe Beziehungen zu Robert Schumann trat und
einer der Getreuen war, die seiner Gattin trostreich zur Seite standen,
als das traurige Verhängnis über ihn hereinbrach. 1855 — 1861 war
Dietrich städtischer Musikdirektor in Bonn, von da ab wirkte er als
Moser, Joseph Joachim. 8
— 114 —
Schumanns, der auch Joachim bis auf den heutigen Tag in herz-
licher Freundschaft zugethan geblieben ist. Allein mit Schu-
mann trank keiner, dem verwandtes Künstlerblut durch die
Adern rollt, seinen Wein, ohne im heiteren Gespräch auch
der ernsten Seiten des Berufes zu gedenken, dem sie ihr Leben
geweiht. Für Schumann war es etwas Selbstverständliches,
dafs ein grofser ausübender Tonkunstler sich auch in komposi-,
torischen Arbeiten versucht haben müsse. So machte es sich
ganz von selbst, dafs ihm Joachim von seinen Sachen erzählte
und Schumann den Wunsch aussprach, dieselben kennen zu
lernen. Am 8. Juni 1853 schreibt er an Joachim:
„Vielen Dank für Ihren lieben Brief, wie für die Musik,
die ihm beilag, vor allem für Ihre Ouvertüre (Hamlet), die
von den ersten Takten an mir tiefes Interesse einflöfste. Sehr
überrascht war ich : — ich vermutete, da Sie mir den Namen
der Tragödie nicht genannt hatten, eine heitere Konzert-
ouverture zu finden, und fand so etwas ganz anderes. Es
war mir beim Lesen, als erhellte sich von Seite zu Seite die
Scene, und Ophelia und Hamlet träten in leibhaftiger Gestalt
hervor. Es sind ganz ergreifende Stellen darin, und das
Ganze in so klarer und grofsartiger Form hingestellt, wie es
einer so hohen Aufgabe gemäfs ist. Vieles möchte ich Ihnen
darüber sagen; aber Worte sagen nur unvollkommen, was
mau empfindet. Sympathisch vor allem mufs die Musik wirken,
und wenn ich das von Ihrer auf mich sagen kann, so mögen
Sie das glauben. Was nun, aufser dem poetischen Menschen
in uns, den speciell musikalischen interessiert, dafür haben
Sie auch reichlich gesorgt. Die kunstreiche Verwebung der
Hofkapellmeister in Oldenburg. Seine im Frühjahr 1898 erschienenen
„Erinnerungen an Johannes Brahms" schildern in schlichter Weise
jene traurigen Düsseldorfer Tage und liefern schätzbares Material
für eine zukünftige Brahms-Biographie. Als Komponist gehört Dietrich
der Schumannschen Richtung an, zu deren namhaften Vertretern er
gehört. Während der letzten zehn Jahre lebte er zurückgezogen in
Leipzig, ist aber im Sommer 1898 zu dauerndem Aufenthalt nach
Berlin übergesiedelt.
- 115 —
Motive, die Weise, wie Sie schon früher Ausgesprochenes in
neuer Art wiederbringen, und vor allem die Behandlung des
Orchesters und dessen eigentümliche Verwendung zu seltenen
Licht- und Schatteneffekten — dies alles scheint mir sehr
preiswürdig. Auch fehlt es nicht an einzelnen kühnen und
verwegenen Wendungen, wie der besondere Stoff verlangt,
wie mich ' denn beim ersten Lesen das scharfe Intervall im
dritten Takt (des — es) etwas frappierte. Aber im Verlauf des
Stückes erscheint gerade dieses Intervall vorzüglich charakte-
ristisch, und durch kein anderes zu ersetzen. Welche Stellen
mich noch besonders anmuten, das ist der erste Eintritt des
Hauptgesanges in F-dur (dringt hier die Hoboe genug durch?),
dann der Eintritt desselben Gesanges in D-dur (in den Hörnern
vorher der Accordenwechsel
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wie denn
das ganze gröfsere Moderato in der Mitte von zauberischer
Wirkung sein mufs — dann auch die letzten Seiten mit den
tiefklagenden Horntönen, und die letzten Schlufsaccorde —
und dann das Ganze.
Nehmen Sie denn meinen Glückwunsch zur Vollendung
dieses Werkes. Ändern Sie auch nichts daran, bevor Sie
es nicht mehrmals gehört. Gern wünschte ich die Ouvertüre
in einem der ersten unserer Konzerte aufzuführen. Würden Sie
uns vielleicht durch Überlassung der Partitur und der Stimmen,
wenn Sie in deren Besitz sind, dazu behülflich sein?
Auf der Partitur des Beethovenschen Konzerts fand ich
meinen Namen durch Ihre Hand eingezeichnet. Ich vermute,
Sie haben mir dies als Geschenk zugedacht, was ich mit
Freuden annehme, um so mehr, da es mich an den Zauberer
und Geisterbeschwörer erinnert, der uns durch die Höhen
und Tiefen dieses zauberischen Wunderbaues, den die Meisten
umsonst ergründet, mit kundiger Hand geleitete. So will ich
mich beim Lesen des Konzerts jenes unvergef suchen Tages
recht oft erinnern.
8*
— 116 —
Leben Sie wohl, Verehrter und Lieber, und behalten
Sie mich in gutem Andenken.
R. Schumann.
Heute trat ich mein 48. Lebensjahr an."
Nach dem deutsch-dänischen Kriege (1848 — 1850) erhielt
die Festung Rendsburg anfangs 1851 eine österreichisch-preufsi-
sche Bundesgamison, während in Hamburg und Altona längere
Zeit eine österreichische Reserveabteilung stehen blieb. Im
Lager der letzteren, besonders bei den ungarischen Regimentern,
begeisterte der Violinvirtuose Eduard Remönyi *) seine Lands-
leute durch den phantastischen Vortrag heimatlicher Volkslieder
und Tänze. Ein junger Musiker aus Hamburg fand an dem
abenteuerlichen Leben und Treiben des ungarischen Geigers
solches Gefallen, dafs er, einem romantischen Zuge seines Innern
folgend, sich mit Remönyi zusammenthat , um dessen Vorträge
J ) Liszt hat in seinem Buche „Die Zigeuner und ihre Musik in
Ungarn" Remenyi (geboren 1880 in Heves, gestorben 1898 in New-
york) ein eigenes Kapitel eingeräumt. Er rühmt an ihm die Hingabe,
mit der er sich an das Studium der klassischen Musik gemacht habe,
fügt aber gleichzeitig hinzu, dafs Remänyi, wenn er etwas von Bach,
Beethoven oder Spohr gespielt, „mit verdoppeltem Aufschwung zu
seinen Lassan und Friskas zurückkehre, gleichsam, als wolle er dem
Publikum sagen: Seht doch, um wie vieles schöner doch die Musik
ist, die wir Zigeuner machen!" — Heutzutage spielen die Zigeuner
Remenyis Bearbeitung des Volksliedes „Repülj fecskem" (Fliege,
Schwalbe!) mit derselben Begeisterung, wie zur Zeit des Wiener Kon-
gresses die Melodien und Tänze der klassischen Zigeuner Bihary,
Csermäk, Szabo etc. — Dabei soll nicht vergessen werden, dafs Re-
menyis Spiel tiefes musikalisches Empfinden verriet ; er steckte jedoch
mit seinem ganzen Sein und Wesen so tief in der nationalen Musik
seiner Landsleute, dafs bei der Beurteilung seiner Kunstleistungen
stets daran gedacht werden mufste. Wie viel er selber von seinem
feurigen Temperament hielt, geht aus den Worten hervor: „Werd'
ich spülen heut Nocht Kraitzer-Sonate, dafs sich Horre fliegen!"
— 117 —
auf dem Klavier zu begleiten. Der Geiger merkte alsbald, welch
wertvolle Beihülfe ihm sein Begleiter gewährte, und da er sich zudem
als wohlvertraut mit der klassischen Kammermusik legitimierte,
so verabredeten die beiden eine gemeinschaftliche Konzertreise
durch Norddeutschland. Auf dieser kamen sie im Frühjahr
1858 auch nach Hannover. Und als Remönyi hörte, dafs
Joachim, den er schon vom Konservatorium in Wien her kannte,
daselbst anwesend sei, eilte er mit seinem Reisegefährten nach
dessen Wohnung. Hier stellte er seinen Begleiter als „Johannes
Brahms, vortrefflicher Musiker und Klavierspieler aus Ham-
burg" vor.
Da Joachim sich hauptsächlich freute, den mit komischer
Grandezza auftretenden „Kunstbruder" wiederzusehen, wandte
er sich erst im Laufe des Gespräches an den jugendlichen Be-
sucher, der bis dahin die Nebenfigur abgegeben hatte. Nach
einigen Fragen aber schon erregte die ganze Art und Weise
des neuen Ankömmlings, besonders seine frischen und bestimmten
Antworten, Joachims ganzes Interesse. Als man dann im Laufe
der Unterhaltung auch auf die Komposition zu sprechen kam,
setzte sich Brahms an den Flügel, um einige seiner Arbeiten
vorzuspielen. Es waren Sätze aus der C-dur-Sonate, die nachher
Joachim als Opus 1 gewidmet wurde, und das Scherzo, Opus 4.
Joachim war ganz starr über das Gehörte und konnte sich vor
Erstaunen gar nicht fassen, dafs ein ganz unbekannter junger
Mensch schon so fertige Sachen mit sich herumtrüge. Als
dann Brahms auch noch mit anderen Stücken herausrückte,
darunter das Lied „0 versenk", hatte Joachim das bestimmte
Gefühl, es mit einem Künstler zu thun zu haben, der berufen
sei, Aufserordentliches zu leisten. „Es war dessen ausnahms-
weise s Kompositionstalent und eine Natur, wie sie nur in der
verborgensten Zurückgezogenheit sich in vollster Reine ent-
wickeln konnte; rein wie Demant, weich wie Schnee." — „In
seinem Spiel ist ganz das intensive Feuer, jene, ich möchte
sagen, fatalistische Energie und Präcision des Rhythmus, welche
den Künstler prophezeien, und seine Kompositionen zeigen jetzt
— 118 —
schon so viel Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei
keinem Kunstjünger seines Alters getroffen." *)
Als Brahms seine Abschiedsvisite machte, sagte ihm
Joachim: „Wie ich meinen Landsmann schon lange kenne und
nun auch glaube Sie beurteilen zu können, vermute ich, dafs
Sie es nicht allzulange mit Remgnyi aushalten werden; sollten
Sie sich aber aus irgend einem Grunde von ihm trennen, so
würde ich mich herzlich freuen, wenn Sie mich in Göttingen,
wo ich die Sommermonate verbringe, aufsuchten; ich habe die
gröfsten Sympathien für Ihre Kunstlerschaft."
Die beiden fahrenden Musiker fanden durch Joachims
Vermittlung Gelegenheit, sich in einem Konzert bei Hofe hören
zu lassen, wo, wie Ehrlich in seinem Buche „Aus allen Ton-
arten" mitteilt, „der Geiger sehr gefiel, der Pianist weniger;
sein Scherzo war kein Hofkonzertsttick. Durch einen be-
sonderen Zwischenfall ward die Weiterreise der beiden, anstatt
nach Mitteldeutschland, wie ursprünglich beabsichtigt, nach
Weimar gelenkt , wo damals Liszt noch in voller Thätigkeit
wirkte, als Haupt und mafsgebender Leiter der musikalischen
Fortschrittspartei. Rem6nyi war nämlich der Bruder eines der
thätigsten ungarischen Revolutionäre von 1848/49; er selbst
hatte — nach seiner eigenen Erzählung — Görgey, den unga-
rischen Revolutionsfeldherrn, auf dessen Zügen nur als Geiger
begleitet. Nun aber stand sein Name im „Schwarzen Buche" ;
der hannoversche Polizeipräsident Wermuth, dem die Hinkeldey-
sche Allmacht als Ideal vorschwebte, liefs ihn rufen und einem
Verhör unterziehen; hierbei gebärdete sich Remönyi so pathe-
tisch, dafs ihm und seinem Begleiter der weitere Aufenthalt in
der Stadt verboten und die Route nach Bückeburg vorgeschrieben
wurde. Der Verfasser war damals hannoverscher Hofpianist;
er brachte dem Polizeipräsidenten ein besseres Verständnis der
Angelegenheit bei und erlangte eine Änderung der Befehle."
J ) Die erste der beiden Äufserungen that Joachim in einem Briefe
an H. Ehrlich, die zweite wahrscheinlich in einem solchen an die
Gräfin Bernstorff.
2.
Der Leipziger Thomaskantor Adam Hiller sagt in seinen
„ Lebensbeschreibungen berühmter Tonktinstler" : „Es ist einem
Gelehrten keine Schande, Kenntnisse von der Musik zu haben;
ebensowenig hat es je einem Tonkünstler geschadet, wenn er
sich auch in anderen Wissenschaften umgesehen hatte." Ob
Joachim diesen Ausspruch des alten Kantors, der ihn auf den
berühmten Geiger Pisendel angewandt, gekannt hat, scheint
fraglich. Allein in seinem unausgesetzten Verkehr mit be-
deutenden Musikern, die im Besitz einer universellen Geistes-
bildung waren, hatte er den Wert einer solchen vollauf schätzen
gelernt. So empfand er denn auch bald, dafs ihm die An-
eignung einer höheren Geistesbildung nicht nur nicht hinderlich
sein könne, sondern die unerläfsliche Vorbedingung sei für
ein ungehemmtes Entfalten seiner geistigen und künstlerischen
Kräfte.
Für unsere Zeit scheint die Behauptung gerechtfertigt, dafs
ein vollständiges Erfassen der Kunst und ihrer Wesenheit nur
durch jene Bildung zu erreichen ist, die den schaffenden oder
reproduzierenden Künstler in den Stand setzt, sich innerlich
geistig zu konzentrieren, um auf diese Weise das zu erreichen,
was in früheren Perioden durch den „göttlichen Funken" und
unbewufste Naivetät der Kunstanschauung errungen werden
konnte.
Das war der Grund, weshalb Joachim in den nächsten
Jahren seine dienstfreien Sommermonate in Göttingen zubrachte.
Durch seine Leipziger Lehrer Hering und Kiengel hatte er eine
so gründliche Vorbildung erfahren, dafs es ihm nicht schwer
— 120 —
wurde, den Vorlesungen auf der Universität zu folgen. Be-
sonders interessierten ihn Waitzs und Ritters Vorträge über
Geschichte und Philosophie. Wie er sich aber einerseits
den ernsthaftesten Studien hingab, war er andererseits noch
nicht blasiert genug, um nicht an dem fröhlichen Treiben der
Göttinger Studentenschaft lebhaftes Gefallen zu finden. Bei
den „Sachsen" hat er als Conkneipant seinen Fuchsritt ebenso
flott mitgemacht wie irgend ein anderer Bruder Studio im
ersten Semester. Es verfehlte natürlich nicht, unter den Stu-
dierenden ein gewisses Aufsehen zu machen, dafs der „könig-
liche Hof- und Staatskonzertmeister" seine Kollegien fleifsig
besuchte und das „schwänzen" solchen überliefs, die mehr
Talent dazu hatten. Dafs er aber sogar nach dem schweren
Frühschoppen, wo besagter Fuchsritt gestiegen war, sich von dem
Besuch seines Kollegs bei Waitz nicht abhalten liefs, ging ihnen
doch über den Spafs. Er wird wohl in jener Vorlesung nicht
viel Weisheit eingesogen haben, aber — er war zur Stelle!
Mittlerweile war Joachims Vorhersage in Erfüllung ge-
gangen: Brahms hatte sich in Weimar, wo er einige Wochen
Liszts Gast auf der Altenburg gewesen war, von Rem6nyi ge-
trennt. Der Einladung Joachims folgend, kam „Johannes
Kreisler junior", wie er sich damals zu nennen liebte, nach
Göttingen, um in dessen Gesellschaft den Sommer in der Stadt
der „Sieben" zu verbringen. Hier rüstete Joachim seinen
jungen Freund, der eine Schweizer- und Rheinreise antreten
wollte, mit Empfehlungen an Robert Schumann in Düsseldorf
aus, die von ihm im September 1853 abgegeben wurden. Darauf
erhielt Joachim von dem Düsseldorfer Meister das lakonische
Schreiben :
„Das ist der, der kommen mufste! R. Seh."
Albert Dietrich erzählt in seinen „Erinnerungen an Johannes
Brahms", wie Schumann in einer Probe des Singvereins mit
geheimnisvoller Miene und glückselig lächelnd auf ihn zukam
und sagte : „Es ist jemand gekommen, von dem werden wir alle
Wunderdinge erleben, Johannes Brahms heifst er."
— 12f —
Und am 8. Oktober 1858 schrieb Schumann an Joachim:
„. . . Nur das glaube ich, dafs, wenn ich jünger wäre,
ich vielleicht einige Polymeter auf den jungen Adler, der so
plötzlich und unvermutet aus den Alpen dahergeflogen nach
Düsseldorf, machen könnte. Oder man könnte ihn auch einem
prächtigen Strom vergleichen, der, wie der Niagara, am schönsten
sich zeigt, wenn er als Wasserfall brausend aus der Höhe
herabstürzt, auf seinen Wellen den Regenbogen tragend,
und am Ufer von Schmetterlingen umspielt, und von Nachti-
gallenstimmen begleitet. Nun, ich glaube, Johannes ist der
wahre Apostel, der auch Offenbarungen schreiben wird, die
viele Pharisäer , ( ?) , auch nach Jahrhunderten noch
nicht enträtseln werden
Hier lege ich auch etwas Neues bei, was Ihnen viel-
leicht ein Abbild von einem gewissen Ernst giebt, hinter dem
oft eine fröhliche Stimmung hervorsieht. Oft waren Sie, als
ich schrieb, meiner Phantasie gegenwärtig, was wohl zu der
Stimmung beitrug. Sagen Sie mir alles, was Ihnen (?) zu schwer,
wie ich denn Ihnen wirklich schon zum Geniefsen unmögliche
Gerichte oder wenigstens Bissen vorgesetzt habe. Streichen
Sie alles durch, was nach Unausführbarkeit schmeckt. . . .
Mit vielen Grüfsen
Ihr
R. Seh.
Der junge Aar scheint sich im Plattland zu behagen ; er
hat einen älteren Wärter gefunden, der, mit solch jungem
Aufflug umzugehen gewohnt, die wilden Flügelschläge zu
sänftigen versteht und die Schwungkräfte nicht hindert. Auch
ein treuer Hund, einer von echt deutscher Rasse, hat sich
beigesellt, der den Aar auf seinen Spazierflügen begleitet und
ihn durch allerhand Luftsprünge und Kunststücke zu be-
. lustigen sucht." —
Nach Hannover in sein Amts- und Dienstverhältnis zurück-
gekehrt, wandte sich Joachims Interesse wieder den Freunden in
Weimar zu, die wiederzusehen er grofse Sehnsucht hatte. Vom
— 122 —
3. bis 5. Oktober 1853 sollte in Karlsruhe ein Musikfest statt-
finden, das Liszt zu dirigieren versprochen und wobei der gröfste
Teil der Lohengrin-Musik aufgeführt werden sollte. Vermutlich
auf Liszts Veranlassung war an Joachim die Einladung er-
gangen, dabei als Solist mitzuwirken. Darüber schrieb er an
Liszt am 9. September 1853:
„Lieber, verehrter Freund!
Die Zeit des Karlsruher Festes rückt immer näher, mit
ihm die freudige Aussicht, Sie wieder zu sehen. Sie haben
bis jetzt weder Tag noch Programm mir näher bestimmt,
und ich erlaube mir daher, Sie um recht baldige Benach-
richtigung zu bitten, wann ich in Karlsruhe einzutreffen habe.
Schön wäre es freilich, wenn ich mir die Freude an der
Reise verdoppeln könnte , indem ich sie mit Ihnen machte !
Wollen Sie mir daher einen Ort bestimmen, an dem ich Sie
treffen könnte, so wäre das aufserordentlich liebenswürdig
von Ihnen. Es sollen, denke ich, schöne Tage werden in
Karlsruhe ; die ,Weimarsche Schule' in voller Kührigkeit und
Freudigkeit versammelt zu sehen, wird für mich auch ein
anderes als blofs musikalisches Fest werden, und ich hoffe,
wir jüngeren Genossen sollen einen herrlichen Sporn zu neuer
Thätigkeit mit fortnehmen, wie wir gewifs alle die herzlichste
Freude hinbringen!
Schreiben Sie bald ein Wörtchen der Antwort Ihrem be-
harrlich ergebenen
Joseph Joachim."
Von Interesse dürfte auch die Mitteilung des Briefes sein,
den Bülow am 12. Oktober 1853 an seine Mutter schrieb:
„ Am Donnerstag reisten wir sechs junge Leute
(Joachim, Cornelius, Pruckner u. s. w.) mit Liszt, der Fürstin
Wittgenstein, Prinzefs Marie und deren Cousin Eugen W.
nach Basel, wo Liszt Wagner Rendez-vous gegeben hatte.
Du hattest mir geschrieben, Ihr würdet über Basel nach
Karlsruhe reisen und dort am Sonnabend eintreffen. Grund
— 123 —
genug für mich, Euch da entgegenzukommen, noch dazu, da
Ihr mir aufgetragen, Euch Briefe dahin poste restante zti
adressieren. Wir hatten dort zwei schöne Tage. Liszt trank
mit mir in Kirschwasser Brüderschaft. Samstagmittag fuhren
wir, d. h. nur noch Wittgensteins, Liszt, Wagner, Joachim
und ich nach Strafsburg (der Münster hat mir einen so er-
hebenden, einzig imposanten Eindruck gemacht, dafs ich jetzt
noch darüber glücklich bin), von wo Joachim und ich die
Rückreise zuerst nach Baden-Baden antraten, die anderen
sich auf zehn Tage nach Paris begaben. . . . tf
Die Stunden fröhlichen Zusammenseins nach den künst-
lerischen Thaten des Musikfestes, bei dem Joachim sein eigenes
Konzert und die Chaconne von Bach gespielt hatte , waren
wohligen Erinnerungen an die Weimarer Zeit Joachims gewidmet,
und auch für die Zukunft wurden hochfliegende Pläne ge-
schmiedet. Ein äufseres Zeichen für die hohe Wertschätzung
und freundschaftliche Gesinnung, die Liszt damals für Joachim
empfand, darf wohl darin erblickt werden, dafs der ältere
Meister dem jüngeren in jenen Tagen das brüderliche „Du"
antrug.
In Strafsburg las Richard Wagner dem Weimarer Freundes-
kreise, dem Joachim für einige Wochen wieder angehörte, das
Textbuch seiner Nibelungen vor. und Joachim war von der
Grofsartigkeit dieser Dichtung so benommen, dafs er in heller
Begeisterung darüber dem Meister seine Konzertmeisterdienste
bei der ersten Aufführung des gewaltigen Werkes antrug.
Wagner, der schon durch Liszt und seine Freunde von den
auf serordentlichen künstlerischen Leistungen Joachims gehört
hatte, war von Anfang an von dem ernsten Wesen und hohen
Sinn des jugendlichen Geigenmeisters sehr eingenommen ge-
wesen. Nun wurde er durch dessen Anerbieten so gerührt,
dafs auch er ihn bat, sich ihm gegenüber des vertraulichen
„Du's tf zu bedienen. Man trennte sich allseitig in der festen
Zuversicht, dafs die nächsten Jahre schon die Erfüllung der
— 124 —
umfangreichen Pläne mit sich bringen würden, die in Basel
und Strafsburg ausführlich besprochen worden waren 1 ).
In Hannover fand Joachim eine Aufforderung Berlioz' vor,
ihn durch seine solistische Mitwirkung bei einem Konzert in
Braunschweig zu unterstützen. Darüber schrieb Berlioz am
26. Oktober 1853 an Liszt:
„Cet excellent Joachim est venu jouer deux morceaux
au concert d'hier et son succ&s a 6t6 grand, et je m'applau-
dis d'avoir procura cette bonne fortune aux amateurs de
musique de Brunswick qui ne le connaissaient pas. a
Unmittelbar darauf reiste Joachim nach Düsseldorf zur
Mitwirkung in einem Konzert, dem die beiden folgenden Briefe
vorangegangen waren:
„Teurer Freund,
Vieles habe ich Ihnen mitzuteilen, erstens viele Grüfse
von meiner Frau und mir, dann eine Einladung des Konzert-
Komitees, die auch mit von uns ist, ob Sie uns nicht zum
1. Konzert am 27. Oktober mit Ihrer Gegenwart erfreuen
wollten und ob Sie vielleicht für diese Zeit mit unserer Be-
hausung fürlieb nehmen? . . . Gern möchten wir auch in
diesem Konzerte die Hamlet-Ouverture aufführen und würde
das Programm etwa so sein: Ouvertüre zu Hamlet, Konzert
(vielleicht von Mendelssohn), Gesangstück, Violinsatz, und
Walpurgisnacht von M. Wie schön, wenn Sie Ihre Zustim-
mung gäben! Auch des geschäftlichen Teiles mufs ich er-
wähnen, des Honorars (10 Friedrichsdor) , das freilich kein
verhältnismäfsiges, und nach Mafsgabe der beschränkten Ver-
hältnisse kleinerer Städte zu beurteilen ist.
Wie gern hätten wir Sie gestern unter uns gewünscht!
') Wie bekannt, kam es nicht zur Mitwirkung Joachims bei der
Aufführung des Nibelungenringes. Jenes Zusammensein blieb viel-
mehr das erste und einzige, wenn man die flüchtige Begrüfsung der
Beiden abrechnet, als sie sich dreifsig Jahre später, gelegentlich der
"Ernennung des Bayreuther Meisters zum Mitglied der Kgl. Akademie
der Künste in Berlin, wiedersahen.
— 125 —
Es war ein Freudentag, der Geburtstag meiner Frau. Ich
habe sie überlistet mit einem Flügel, dann auch mit einigen
Kompositionen. Es hat sich bestätigt, wie Sie mich schon ver-
muten liefsen, dafs ich eine Ouvertüre zu „Faust" komponiert
habe, dann auch ein Konzertstück für Pianoforte mit Orchester,
und eine Phantasie für Violine mit Orchester, lei der ich
indes während des Schaffens mehr an Sie gedacht. Ich
sende sie mit; es ist mein erster Versuch. Schreiben Sie
mir, was daran vielleicht nicht praktikabel. Auch bitte ich,
die Bogenführungen bei Harpeggien, wie überhaupt, mir in
dem Manuskripte zu bezeichnen, und mir die Partitur dann
für einige Tage zurückzuschicken. Die Kadenz ist nur eine
vorläufige : sie scheint mir zu kurz, und ich denke sie später
durch eine gröfsere zu ersetzen.
Oft denken wir Ihrer und der letzten verlebten Stunden !
Möchten sie sich bald erneuen!
Mit herzlichen Grüfsen
Ihr
D., den 14. Sept. 1853. Kobert Schumann."
„Düsseldorf, d. 13. Okt. 1853.
Lieber Joachim,
Sie erhalten hier das Konzert; möge es Sie anmuten!
Es scheint mir leichter, als die Phantasie, auch das Orchester
mehr in Thätigkeit. Es sollte mich nun sehr freuen, wenn
wir es im ersten Konzerte hier hören könnten, über das ich
überhaupt einige Vorschläge vorbringen will. So würden
auch wir alle bitten, statt des Mendelssohnschen Konzertes
lieber Ihr eigenes zu spielen. Nun habe ich noch einen
Vorschlag; ich möchte Ihre Hamlet-Ouverture im zweiten
Konzerte aufführen, deshalb, weil Sie im 1. gegenwärtig sind
als Virtuos und das wie eine captatio benevolentiae aussähe
(freilich nur einigen Dummköpfen) und auch deshalb, weil
dann zwei Werke jüngerer Komponisten, wenn sie sich auch
nicht zu schämen brauchen, zu Anfang des Konzerts kämen,
■
und uns überhaupt ein Werk eines bekannten grofsen Meisters
— 126 —
noch fehlt. So würde ich mit der Egmont-Ouverture an-
fangen, dann käme mein Konzert, dann eine Gesangnummer,
dann Ihr Konzert, und im zweiten Teil die Walpurgisnacht.
So rundet sich das Programm viel schöner. Geben Sie mir
denn darüber recht bald Nachricht! Auch erinnere ich Sie
an Ihr Versprechen, einige Ihrer neuen Kompositionen mir
mitzuteilen, von denen mir Brahms schon allerhand Auszüge
gegeben hat.
Auch ich war fleifsig in der letzten Zeit; ich habe vier
märchenartige Stücke für Klarinette, Viola und Klavier ge-
macht, die den K. Hannoverschen Hof- und Staats-Konzert-
meister sehnsüchtig erharren, um gehört zu werden. Johannes
scheint sehr fleifsig ; auch hat er seit drei Tagen seine Spiel-
kunst zu steigern gesucht, vielleicht durch meine Frau an-
gespornt Wir waren gestern erstaunt, ihn zu hören ; es war
ein ganz anderes. Er ist im stände, die Erde in wenigen
Tagen zu umschiffen.
Neulich brachte ich beim Glas Wein eine Gesundheit
aus in Charadenform. Drei Silben: die erste liebte ein Gott,
die zwei andern lieben viele Leser, das Ganze lieben wir
alle ; das Ganze und der Ganze soll leben *).
So grüfsen Sie denn beide und lassen von sich und sich
hören.
In Freundschaft zugethan K. Seh.
Ich habe angefangen, meine Gedanken über den jungen
Adler zu sammeln und aufzusetzen; ich wünschte gern, ihm
bei seinem ersten Flug über die Welt zur Seite zu stehen.
Aber ich fürchte, es ist noch zu viel persönliche Zuneigung
vorhanden, um die dunkeln und hellen Farben seines Ge-
fieders ganz klar vor Augen zu bringen. Habe ich sie be-
endigt, so möchte ich sie seinem Spiel- und Kampfgenossen,
der ihn noch genauer kennt, mitteilen, was vielleicht schon
in einigen Tagen sein wird.
x ) Jo, Achim = Joachim.
r
— 127 —
Am 14.
Ich habe den Aufsatz beschlossen und leg' ihn bei. Ich
bitte ihn mir so bald als möglich zurückzuschicken, auch die
Partitur des Konzertes, aus der noch die Stimmen zu schreiben
sind." —
Von den Schumannschen Kompositionen für Violine, die in
den beiden Briefen berührt werden, ist die Phantasie Joachim
zugeeignet, der sie, wie der Komponist an Strackerjahn schrieb,
in jenem Konzert am 27. Oktober 1853 in Düsseldorf zum
erstenmal „in ganz bezaubernder Weise" gespielt hat. Das
Violinkonzert ist unveröffentlicht geblieben; das Manuskript ist
in Joachims Besitz.
In Düsseldorf wurde Joachim von den dortigen Freunden
der herzlichste Empfang zu teil, und wie die Kinder freuten
sie sich auf die Überraschung, die dem lieben Gast zugedacht
war. Schumann hatte nämlich den jungen Freunden in
froher Laune vorgeschlagen, gemeinschaftlich eine Sonate für
Klavier und Geige zu komponieren; Joachim sollte dann er-
raten, von wem jeder Satz wäre. Dietrich begann die Sonate
mit einem Allegro in A-moll, Schumann folgte mit einem
Intermezzo in F-dur, darauf Brahms mit einem Scherzo in
C-moll, das er später in einem seiner Klavierquartette wieder
benutzt hat, und das Finale in A-moll, in Dur schliefsend, fiel
wieder Schumann zu. Joachim, der hierauf mit Frau Klara
dem Komponisten-Kleeblatt die Sonate vorspielte, erkannte natür-
lich sofort den Autor eines jeden Satzes. Joachim besitzt das
Manuskript des interessanten Stückes, das von Schumanns Hand
folgende Widmung trägt:
„F. A. E. 1 )
„In Erwartung der Ankunft des verehrten und geliebten
Freundes Joseph Joachim schrieben diese Sonate Kobert Schu-
mann, Johannes Brahms, Albert Dietrich."
x ) F, A, E sind die Noten der Hauptthemen, welche den ver-
schiedenen Sätzen der Sonate zu Grunde liegen und zugleich die An-
fangsbuchstaben von Joachims damaliger Devise: „Frei, aber einsam!"
— 128 —
Anfangs November 1858 schrieb Schumann an Joachim:
„Vielen Dank, lieber Joachim, für Ihren Brief und die
höchst sorgsam bezeichnete Stimme, die ich mit grofsem
Interesse und mit Staunen über manche Applikatur in meiner
Partitur eingetragen . . .
. . Den beiliegenden Brief teilen Sie Johannes mit. Er
mufs nach Leipzig. Bewegen Sie ihn dazu ! sonst verstümmeln
sie seine Werke; er mufs sie dort selbst vorführen. Es
scheint mir dies ganz wichtig. . .
Wir gehen heute nach Bonn, und in etwa 12 Tagen nach
Holland, — und, um noch etwas Ernstes hinzuzufügen, bald
von Düsseldorf ganz fort. Es hat sich entschieden, was ich
längst im Sinne hatte. Wir sind dieses pöbelhaften Treibens
müde. Ich habe (obwohl durch dritte Hand) einen Antrag
aus einer Stadt, wohin überzusiedeln längst mein und meiner
Frau Wunsch war. Wir würden dann freilich weit ausein-
ander kommen. Wir bleiben indes noch bis Juli hier.
Dies alles ist nur für Sie und Brahms. Nun leben Sie
wohl, geliebter Freund und schreiben Sie vor unserer hollän-
dischen Reise noch einmal, auch Johannes, dieser Schreibe-
faulpelz !
R. Sch. a
Wie herzlich Schumanns Interesse für Joachim auch in
solchen Angelegenheiten war, die in keinem unmittelbaren Zu-
sammenhang mit seiner Eünstlerschaft standen, bezeugt der bis
jetzt unveröffentlicht gebliebene Brief:
„Lieber Kriegskamerad!
Nachdem ich in der vorigen Woche einige 20-Pfünder-
ladungen in das feindliche Lager geschickt, ist einige Ruhe
eingetreten. Noch gestern hörte ich, dafs ein anderer Kriegs-
kamerad von den bösen Feinden heimlich angestellt worden
wäre, mich mittelst einer unterirdischen Mine in die Luft zu
sprengen, worauf besagter Kamerad aber durch seinen Ge-
sichtsausdruck geantwortet hätte, er möchte sie lieber in die
Luft sprengen. Ist das nicht lustig? Aber sollte Ihnen
'■ S^r
£ *-^** /Ü^< *&* ***£^b-f^\/*~<Z4 ^"7
^ v*^-y^
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»s?-r
t**^ . u^&y^ y **~<^r
-rz?-:-
v^r ^i^^Z»
1 &^&s?> *££y£*j
7 <y£^,
N.
s
J&rr'
£-:;£■
m£*wv f/**r
— 129 —
etwas von der Verschwörung *) bekannt sein, so möchte ich's
recht gerne wissen.
Noch ist mir und meiner Frau etwas Tragikomisches
passiert. Wir haben einen Freund, an dem wir vielen Teil
nehmen. Dieser hatte nun meiner Frau mit einem gewissen
Ernst gesagt, dafs in den vorigen Tagen sich etwas ent-
schieden hätte, was für sein ganzes Leben von Bedeutung
wäre. Meine Frau kam etwas bestürzt zu mir und deutete
an, dafs das wohl eine zurückgegangene Bräutigamschaft
wäre, worin ich auch mit einigen Verwünschungen einstimmte.
Endlich kurz darauf kamen andere Botschaften und — denken
Sie — mit der entgegengesetzten Versicherung, dafs es eine
gewonnene wäre — worauf uns denn die Schuppen von den
Augen fielen und wir klar sahen, was wir längst gesehen
hatten — und so wurden nun unsere Glückwünsche doppelte.
Lieber Joachim, ich werde eine Hochzeitssymphonie kompo-
nieren mit einem Violinsolo und als Intermezzo mit einem
Märchen; ich werde darauf schreiben: „Diese Symphonie ge-
hört dem Joachim", ich werde manches hineinweben, auch
Ihr unzähliges Fortreisenwollen in Bonn, und das andere in
Düsseldorf, was gute musikalische Crescendos giebt, und Ihr
oft gänzliches Verschollensein in Düsseldorf, wo wir Sie wie
Franklin suchten; kurz, meine fünfte soll's werden, aber nicht
in C-moll, sondern in E-dur, und ohne ein langes Adagio.
Nun geben Sie mir die Hand ; versprechen Sie die Hoch-
zeit, so ich die Musik dazu. Sie Schelm! Uns so zu tiber-
raschen !
Vieles möcht' ich noch schreiben. Aber ich bin nun zu
lustigem Accord geraten, aus dem ich nicht heraus kann.
Darum Adieu, lieber Bräutigam!
[Den 21. Nov. 1853.] R. Sch. tf
Der Inhalt des vorstehenden Briefes bezieht sich auf ein
x ) Geheime Pläne, die auf Schumanns Entfernung aus seiner
Stellung in Düsseldorf hinzielten.
Moser, Joseph Joachim. 9
— 130 —
Gerücht, dem zufolge sich Joachim mit einer befreundeten jungen
Dame verlobt hätte; es entbehrte aber jeder thatsächlichen
Unterlage und Begründung.
Den Winter 1858 auf 54 verbrachte Brahms bei Joachim
in Hannover, und auch Bülow war während desselben einige
Wochen sein Gast. Dafs er sich trotz alledem immer noch in
Hannover nicht heimisch fühlte, geht aus allen Briefen Bülows
an seine Mutter aus jener Zeit hervor. So schreibt er im
Dezember : „ Joachim langweilt sich hier — kennt keinen Menschen
und sehnt sich fort. Es ist unbeschreiblich tot hier. Er hat viel
Zeit für sich ; das ist das Gute. Ich möchte jetzt lieber in Berlin
sein oder in Dresden. Freilich Joachim! Aber wir ennuyieren
uns hier im Duett." — „In einigen Tagen will mich Joachim
der Hofdame Gräfin Bernstorff vorstellen, die nach seinem
Urteil die am meisten musikalische, liebenswürdigste und geist-
vollste Hofpflanze sein soll, woran ich nicht zweifle. Aber — .
kann das Joachim ? d. h. pafst es sich, dafs er mich zu einer
unverheirateten Dame so hinführt? Das möchte ich bald von
Dir erfahren!"
Und am 1. Januar 1854 schreibt Bülow aus Braunschweig
an Raff: „Joachim arbeitet an einer wahrhaft genialen Ouver-
türe (man mufs nächstens eine bessere Bezeichnung erfinden) zu
Grimms Demetrius. Um ihn nicht zu sehr darin zu stören,
habe ich eigentlich die Exkursion hierher gemacht."
Wie lebhaft übrigens Joachims Verkehr mit Weimar blieb,
bezeugen die beiden folgenden Briefe:
„Am 29. Dezember 1853.
Lieber Liszt!
Auf Deinen mir von Brahms mitgeteilten Wunsch kann
ich Dir nun endlich die Partitur meiner Hamlet-Ouverture
senden; verfüge darüber wie Du willst, Steuermann, dessen
Lenkung ich willig folge. Bülow ist seit mehreren Tagen
hier, aufgeweckt und tapfer wie immer; wir haben uns des
Wiedersehens herzlich gefreut und Deiner oft gedacht. Er
reist abends nach Braunschweig und kommt dann wohl am
— 131 —
2. Jänner wieder, um am 7. in einem Konzerte hier die
Weber-Polonaise und eine Deiner Rhapsodies hongroises mit
Orchester zu spielen; die letztere raufs reizend originell
klingen, mit ihrer hellen Instrumentierung.
Yon mir ist wenig zu sagen: Ich habe, was den musi-
kalischen Teil meiner Existenz anlangt, zwei Ouvertüren-
Skizzen liegen, ohne vor Geschäftigkeit zum Ausarbeiten zu
gelangen; über den menschlichen, nicht specifisch musikali-
schen Teil meines Seins teile ich Dir nichts mit, in der Aus-
sicht, Dich Anfang des nächsten Jahres zu sehen, denn
sicherlich werde ich am 12. nicht nach Leipzig gehen, ohne
den festen Vorsatz, Dich in den darauffolgenden Tagen, und
wär's nur auf einen halben Tag, in Weimar zu besuchen. Wie
freue ich mich darauf ! Ich fühle mich hier bodenlos vereinsamt.
Bleibe mir im neuen Jahre gut, wie zuvor, trotz meiner
vielen unausstehlichen Seiten, die ich mir nicht verberge ; das
wünsche ich mir. Was könnte ich Dir wünschen, zu dessen
geistigem Reichtum Tausende hinaufblicken!
Dir immer und ewig mit allen Kräften zugethan, ver-
bleibe ich auch heute
Dein treu ergebener
Joseph Joachim.
Grüfse Reme"nyi, Cornelius, Cossmann und alle Freunde
Deines Hauses."
„Am 9. Januar 1854.
Lieber Liszt!
Du hast aus meinem letzten Schreiben erfahren, dafs ich
Dich auf jeden Fall am Freitag, den 13., besuchen wolle,
und natürlich habe ich seitdem meinen Vorsatz nicht geändert.
Ich werde mit Vergnügen die mir zugedachte Ehre annehmen
und in der Soiree bei Hofe gerne ein Stück spielen. Dafs
Du begleiten willst, macht mir die Sache zu einem Fest.
Wenn ich etwas vorschlagen soll, so wäre es das: die Raff-
sche Schweizer-Ekloge bei dieser Gelegenheit vorzuführen,
welche ich in diesen Tagen mit grofser Freude über die vor-
9*
— 132 —
zügliche Anordnung der Motive mit Hans (von Bülow) ge-
spielt habe. Hättest Du aufserdem zu der ungarischen Rhap-
sodie von Liszt Lust, die ich mit Stolz die meine nennen
darf? Natürlich kann bei alledem nur von Vorschlägen
meinerseits die Rede sein, die allemal gerne der gewichtigen
Hauptnote Deiner Meinung Platz machen. Hans hat mit
wahrhaft imponierender Virtuosität vorgestern Abend Deine
Weber-Polonaise und die Rhapsodie mit Orchester gespielt,
deren Feinheiten in schönster Weise zur Geltung kamen. Die
Freiheit der Form in der letzteren hat etwas so Fesselndes,
dafs selbst die eingefleischtesten ,Klassiker' mit wahrer Liebe
mitzigeunerten.
Hans reist morgen mit nach Leipzig, wo ich am 12. die
Schumannsche Fantasie und mein Violinkonzertstück spiele.
Du siehst, ich lege es auf Popularität beim Gewandhaus-
Publikum an.
Am 13. also auf Wiedersehen ; auf dahin sei alles ver-
spart, was ich Dir noch mitzuteilen hätte.
Von Herzen Dein
Joseph Joachim."
Von Leipzig und Weimar wieder an die Stätte seiner amt-
lichen Wirksamkeit zurückgekehrt, hatte Joachim die innige
Freude, Robert Schumann begrüfsen zu können, der mit seiner
Frau nach Hannover gekommen war, um einer Aufführung seines
„Paradies und Peri a beizuwohnen und mit den jungen Freunden
Joachim, Brahms und J. 0. Grimm 1 ) einige frohe Tage zu
*) Julius Otto Grimm, geb. 1827, ein ebenso feinsinniger wie hoch-
gebildeter Musiker, war schon in Weimar mit Joachim bekannt
geworden, zu dessen vertrauten Freunden er heute noch gehört.
Auch zu Schumann trat er in engere Beziehungen, worüber die Bro-
schüre seines Freundes A. Dietrich „Erinnerungen an J. Brahms"
nähere Aufschlüsse giebt. Grimm lebte einige Jahre als Musikdirektor
in Göttingen und wirkt seit 1860 in Münster i. W., wo er die hervor-
ragendsten Ämter bekleidet Von seinen Kompositionen haben besonders
zwei „Suiten in Kanonform" für Streichorchester grofse Anerkennung
gefunden.
— 133 —
verleben. Schumann hatte Joachim sein Kommen durch folgen-
den Brief angekündigt:
„Düsseldorf, den 6. Jan. 1854.
Zum neuen Jahr den ersten Grufs, lieber Joachim ! Möge
es uns oft zusammenführen ! Nun bald, hoffe ich. Sie wissen
wohl von dem Antrag des Herrn MD. Hille, den ich sehr
gern annehme. Doch verändert dies die früher zwischen uns
besprochene Zeiteinteilung. Wir möchten nun den 19. abreisen,
zum 21. konzertieren, und dann bis zur Aufführung der Peri
den 28. in Hannover bleiben, was alles sehr schöne Aus-
sichten sind. In der Pause vom 21. — 28. hoffen wir auch
nicht müfsig musikalisch sitzen zu bleiben und könnte man
vielleicht eine Soiree dem Publikum darbieten. Doch darüber
später noch.
. . . Nun — wo ist Johannes ? Ist er bei Ihnen ? Dann
grüfsen Sie ihn. Fliegt er hoch — oder nur unter Blumen ?
Läfst er noch keine Pauken und Drommeten erschallen ? Er
soll sieh immer an die Anfänge der Beethovenschen Sympho-
nien erinnern; er soll etwas Ähnliches zu machen suchen.
Der Anfang ist die Hauptsache; hat man angefangen, dann
kommt einem das Ende wie von selbst entgegen ; grüfsen Sie
ihn — ich schreibe ihm noch selbst in diesen Tagen.
Auch von Ihnen hoffe ich bald Neues zu sehen, am
liebsten zu hören. Auch Sie sollten sich der obengenannten
Symphonieanfänge erinnern — aber nicht vor dem Heinrich
und Demetrius.
Ich komme immer in guten Humor, wenn ich Ihnen
schreibe; eine Art Arzt sind Sie für mich.
Adieu !
Ihr
R. Seh."
Es waren Stunden reinster, ungetrübtester Freude, die die
jungen Künstler in Gesellschaft des „Herrlichen" verbrachten,
deshalb so unvergefslich , weil sie alle Schumann noch niemals
in so vergnügter Stimmung und mitteilsamer Fröhlichkeit ge-
. — 134 —
sehen hatten. Die Junggesellenwohnung Joachims war damals
der Schauplatz so mancher Allotria, die die Jüngeren mitein-
ander trieben und an denen sich der Meister mit innigem Be-
hagen ergötzte. Als eines Abends die fröhliche Stimmung eine
Höhe erreicht hatte, die eine Abkühlung nötig erscheinen liefs,
entfernte sich Joachim von seinen Gästen unter dem Vorwand,
dafs er sich von seinen Wirtsleuten den Hausschlüssel holen
müsse, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Die Zurückbleiben-
den hatten aber nicht lange Zeit, sich über den wunderlichen
Einfall ihres Freundes auszusprechen, denn schon nach wenigen
Minuten erschien Joachim wieder, einige Flaschen Champagner
im Arm tragend, die er bei einem benachbarten Weinhändler
erstanden hatte. An jenem Abend wurde der perlende Wein
„Hausschlüssel" getauft, und dieser Name ist ihm bei den Be-
teiligten geblieben.
In einem öffentlichen Restaurant, wo sich die drei Freunde
mit Schumann zu einem Abschiedstrunk vereinigt hatten, der
notwendigerweise in einigen Flaschen „Hausschlüssel" gipfelte,
wurde der wortkarge Tondichter geradezu redselig. So erzählte
er den lauschenden Jüngern von seinem eigenen künstlerischen
Entwicklungsgang und den Ungeschicklichkeiten und Mifsgriffen,
die ihm passiert waren, als er für Orchester zu schreiben an-
gefangen hatte. Speciell gedachte er dabei der für Hörner und
Trompeten gesetzten Einleitungstakte zu seiner B-dur-Symphonie,
die in der ursprünglichen Fassung eine gar nicht beabsichtigte,
aber deshalb um so komischere Wirkung machten. Um nun den
Freunden die Wirkung dieser Stelle drastisch zu veranschau-
lichen, sang ihnen der sonst so schweigsame Mann, unbekümmert
um die erstaunt aufhorchenden Fremden im Lokal, die ersten
fünf Noten des Themas mit lauter Stimme vor, hierauf die zwei
folgenden dumpf und geprefst, als wollte er gestopfte Hörner
imitieren, und den letzten Ton wieder mit der gröfsten Kraft.
Niemand konnte ahnen, dafs das Verhängnis so bald üben
Schumann hereinbrechen sollte! Er war, ungemein angeregt
durch den Verkehr mit seinen jungen Kunstgenossen, in bester
— 135 —
Stimmung nach Düsseldorf zurückgekehrt und hatte am 6. Fe-
bruar 1854 noch an Joachim geschrieben:
„Lieber Joachim,
Acht Tage sind wir fort und noch haben wir Ihnen und
Ihren Gesellen kein Wort zukommen lassen! Aber mit
sympathetischer Tinte habe ich Euch oft geschrieben und
auch zwischen diesen Zeilen steht eine Geheimschrift, die
später hervorbrechen wird.
Und geträumt habe ich von Ihnen, lieber Joachim; wir
waren drei Tage zusammen — Sie hatten Reiherfedern in
den Händen, aus denen Champagner flofs, — wie prosaisch! —
aber wie wahr!
Oft haben wir der vergangenen Tage gedacht; möchten
bald neue solche kommen ! Das gütige Königshaus, die treff-
liche Kapelle, und die beiden jungen Dämonen, die da-
zwischen springen — wir werden's nicht vergessen. . . .
Die Musik schweigt jetzt — wenigstens äufserlich. Wie
ist es bei Ihnen?
Die Leipziger haben sich nach Ihrem Phantasiesttick ge-
scheiter gezeigt, als diese prosaischen Schlendrian-Rheinländer.
Ja, ich glaub* es auch — die Virtuosenraupe wird nach und
nach abfallen und ein prächtiger Kompositionsfalter heraus-
fliegen. Nur nicht zu viel Trauermantel, auch manchmal
Distelfink! Wann reisen Sie nach Leipzig? Schreiben Sie
mir's! Ist die Demetrius-Ouverture fertig?
Die Cigarren munden mir sehr. Es scheint ein Brahms-
scher Griff zu sein, und, wie er pflegt, ein sehr schwerer,
aber wohlschmeckender! Jetzt seh' ich ein Lächeln über
ihn schweben.
Nun will ich schliefsen. Es dunkelt schon. Schreiben
Sie mir bald — in Worten und auch in Tönen!
R. Seh.
Meine Frau grüfst. Auch an Hrn. Grimm einen Grufs.
Er scheint seinem Namen nicht zu entsprechen."
Bald aber stellten sich jene Anzeichen heftigster nervöser
— 186 —
Aufregung bei Schumann ein, die am 27. Februar 1854 zu der
traurigen Katastrophe führten, dem Sprung in den Rhein!
Das fürchterliche Ereignis hat Joachim bis ins innerste
Mark erschüttert, denn seit Mendelssohn hatte er sich zu keinem
Künstler und Menschen wieder so hingezogen gefühlt, wie zu
der poetischen Natur Schumanns. In dieser ängstlich besorgten
Stimmung schrieb er an Dietrich , der ja in Düsseldorf Zeuge
des tragischen Vorfalls gewesen war:
„Lieber Freund!
Immer machte ich mir die letzten Tage her die künst-
lerische Sorge, Schumann wäre mir meiner letzten Arbeit
wegen ungünstig gestimmt und könne . sich deshalb nicht ent-
schliefsen, mir zu schreiben, wie sie ihm gefallen, obgleich
ich mir es mit meinem reinen Willen bei jeder Arbeit und
mit seiner Milde im Urteil gar nicht zusammen zu reimen
wufste.
Nun lese ich eben die ,Kölnische Zeitung*, und meine
künstlerische Sorge verwandelt sich in die noch ernstere um
das Wohl des teuren Freundes und Meisters.
Lieber Dietrich, wenn Du an Brahms und an mich nur
irgend in Freundschaft gedenkst, so erlöse uns von Kummer
und schreibe doch augenblicklich, ob es denn wirklich so
schlimm um Schumann steht, wie die Zeitung sagt, und gieb
uns immer Kunde, sobald eine Veränderung in seinem Zu-
stand eintritt. Es ist zu traurig, meilenweit getrennt Sorge
zu empfinden um das Leben von jemand, an den wir mit
unsern besten Kräften gebunden sind. Ich kann die Stunde
kaum erwarten, die mir Nachricht von ihm bringt; mir ist
ganz wirr vor Schreck !
Schreib' bald!
Dein J. Joachim."
Brahms, der durch keinerlei Verpflichtungen an Hannover
gebunden war, reiste sofort nach Eintreffen der Unglücksbotschaft
nach Düsseldorf; Joachim und Grimm folgten ihm einige Tage
später nach, um der schwerbetroffenen Gattin des Unglücklichen
— 137 —
trostreich zur Seite zu stehen. Leider konnte sich Joachim
nur einen Aufenthalt von wenigen Tagen in Düsseldorf gönnen,
denn Abmachungen mit Berlioz, der mehrere seiner gröfseren
Werke in Hannover zur Aufführung bringen wollte, trieben ihn
dahin zurück.
Auch Bülow war um jene Zeit wieder bei Joachim in Hannover
und schrieb darüber am 17. März 1854 an seine Schwester:
„Joachim holt mich am Dienstag von Braunschweig ab,
um mit mir nach Leipzig zu reisen, wo er eingeladen ist,
am Donnerstag seine Hamlet-Ouverture zu dirigieren *). Über
Joachims musikalische Natur bin ich noch nicht blasiert, und
ich freue mich so unendlich, wenn ich etwas habe, worüber
ich noch nicht abgestumpft bin."
Für den Sommer 1854 hatte Joachim von Richard Wagner
eine Einladung erhalten, an dem Musikfest in Sitten teil-
zunehmen ; nach den vielfachen Anstrengungen und Aufregungen
des Winters jedoch zog er es vor, musikalischen Veranstaltungen
aus dem Wege zu gehen. Er verbrachte die Sommerferien bei
seinen Angehörigen in der Heimat, die er längere Zeit nicht
gesehen hatte. Freilich, Ferien im landläufigen Sinne hat er
sich auch dort nicht gestattet, wie ihm denn bis auf den heutigen
Tag das Wort nur gleichbedeutend ist mit der „Befreiung von
Verpflichtungen anderen gegenüber". Dafs ihn die eigenartigen
Klänge der heimatlichen Zigeunermusik zukünftigen schöpferischen
Arbeiten anregten, sei hier nur flüchtig vorausbemerkt, wie es
auch einem späteren Kapitel vorbehalten sei, die Einflüsse, die
die ungarische Nationalmusik auf ihn ausgeübt hat, nachzu-
weisen. Der folgende Brief deutet jene Einwirkungen auch
schon leise an:
„Hannover, am 16. Nbr. 1854.
Lieber Liszt!
Die beiliegenden gedruckten Noten liegen schon die
längste Zeit gepackt bei mir — und noch immer habe ich
*) Die Ouvertüre erfuhr ein gänzliches Fiasko, denn sie wurde
seitens des Gewandhauspublikums mit eisiger Kälte aufgenommen.
— 138 —
»
eine Art Scheu, sie nach Weimar zu senden. Gedruckt und
mit so gewichtiger Dedikation lassen die Dinge anderes hoffen,
als man findet. Mir war es, als ich von euch aus Weimar
schied, darum zu thun, euch mit meinem innersten Ausdruck
zu sagen, dafs ich nicht aus euerm Andenken verklingen
möchte ; leider war die Stimmung der Ouvertüre damals meine
wahrste Empfindung — und auf Kosten der Schönheit hat
sie sich breit genug gemacht. So nehmt denn Konzert und
Ouvertüre, wie sie sind, als ein höchst getreues, un-
geschmeicheltes Porträt eines alten Bekannten, und wie man
bei einem solchen Konterfei zu thun pflegt, wirf beim Er-
öffnen des Pakets noch einen Blick der Güte darauf, bevor
Du es in irgend eine Ecke lehnst, des Weimarschen Musik-
schrankes etwa: da mag's ein zukünftiger grofsherzoglicher
Konzertmeister bestaubt wiederfinden, um aus Kuriosität zu
sehen und zu hören, was sein mürrischer Ahn an seinem
morschen Pult vor undenklichen Zeiten ausgeheckt hat. —
Die geschriebene Partitur schicke ich zu dem Zwecke
noch ein.
Frau Schumann, die kürzlich hier war, hat mir viel von
Weimar erzählt, und wie gut Du gegen sie gewesen seist.
Ich wufste, Du würdest es Dir nicht entgehen lassen, einer
so aufopfernden, ausgezeichneten Frau Rosen und Lorbeern
auf den kummerreichen Pfad des Konzertgebers zu streuen.
Welch' grofses Glück ist es, dafs Schumanns Zustand
merklich freier wird ! Ich hatte kürzlich Brief von ihm aus
Endenich. Er erzählt ganz klar manches gemeinschaftlich
Erlebte, mit einer freundlich milden Ausdrucksweise, als er-
wachte er eben vom Träumen; alles erscheint ihm wie neu,
und er möchte teilnehmen, fragt nach Kompositionen, nach
Freunden: man kann wohl das Beste hoffen.
Soll ich von mir erzählen? Ich war in der Heimat; der
Himmel ist mir dort musikalischer vorgekommen, als der
Hannoversche. In Wien, wo ich nur vier Tage war, wollte
ich Deinen Oheim aufsuchen; aber bald dachte ich, ohne
— 139 —
direkte Nachrichten von Dir könnte ich ihm nichts bedeuten ;
vielleicht lerne ich ihn durch Dich kennen, später. Die
Donau bei Pest ist schön, und die Zigeuner spielen noch
enthusiastisch, von Herz zu Herz geht der Klang, das weifst
Du. Es ist mehr Rhythmus und Seele in ihren Bogen,
als in allen norddeutschen Kapellisten zusammen genommen ;
' die Hannoverschen nicht ausgenommen. Seit fünf Wochen
bin ich hier zurück; ich hoffe, einen arbeitsamen Winter zu
verleben, und denke mehr für meine hörenden Ohren zu
musizieren, als tauben zu predigen, wobei nichts heraus-
kommt.
Das erste Konzert wird am neunten des künftigen Monats
sein, und dann sollen in jedem Monat zwei folgen. Man hat
mir für einen Abend die neunte Symphonie versprochen, das
war aber auch im vorigen Jahr geschehen. Im Theater will
man den Tannhäuser bringen; die Stimmen werden kopiert.
Denkst Du noch an Dein Versprechen, eine Deiner
symphonischen Dichtungen mir hier anzuvertrauen ; wenn Du
es thust, so denk' dann auch an meine Freude und an die
Anregung, die mir dadurch würde. Ich bilde mir ein, dafs
mein Fortschreiten und Gedeihen Dir nicht gleichgültig ge-
worden sei!
Darf ich Dich bitten, die beiden Ouvertüren im Manu-
skript durchzusehen und mir darüber etwas zu sagen, wenn
Du sie wiederschickst? Die eine zu Demetrius ist eine
gänzliche Umarbeitung der früheren, an der mich ein ge-
wisser heftiger Zug lockte, mich nochmals hinein zu vertiefen
und ein besseres Ganze daraus zu machen zu suchen. Auch
anderes habe ich seit der Zeit komponiert, und so hoffe ich,
ein fleifsiger Mensch mit der Zeit zu werden; nur in der
Arbeit ist Ruhe.
Lebe wohl für heut'; empfiehl mich angelegentlich den
Deinen und vergifs mich nicht.
Verehrungsvoll
Joachim. u
— 140 —
In der qualvollen Zeit des Hoffens und Fürchtens um
Robert Schumann, der umnachteten Geistes in Endenich bei
Bonn weilte, waren Brahms, Joachim, Dietrich und Grimm be-
müht, Frau Clara in ihrem Schmerz zu trösten und wieder
aufzurichten. Es ist eines der rührendsten Bilder der neueren
Musikgeschichte, zu sehen, wie die jungen Leute, jeder in seiner
Art, bestrebt waren, die Liebe und Verehrung für den un-
glücklichen Tondichter nun seiner edlen Gattin zu Füfsen zu
legen, die ihr herbes Mifsgeschick mit bewunderungswürdiger
Seelenstärke trug 1 ). Sie vermochten Frau Schumann, sich
wieder der gewohnten Beschäftigung mit Musik hinzugeben,
das beste Mittel, sie über das Kummervolle ihrer Lage hinweg-
zubringen. Nachdem sie aber ihr siebentes Kind geboren
hatte, trat die ernste Sorge um die materielle Existenz ihrer
Familie an sie heran, so dafs sie sich entschliefsen mufste, ihre
Konzertreisen wieder aufzunehmen. Auf diesen war nun be-
sonders in den folgenden beiden Wintern Joachim ihr treuer
Gefährte. Von den zahlreichen Konzerten, die die beiden grofsen
Künstler gemeinschaftlich gaben, sei desjenigen in der Sing-
akademie zu Berlin, am 4. November 1855, besonders gedacht.
Hans von Btilow referierte darüber in der „Berliner Feuer-
spritze" :
„Durch das gestern Abend stattgehabte Konzert von Frau
Clara Schumann und Herrn Joseph Joachim erfuhr der Saal
der Singakademie eine überaus glänzende Rehabilitation. Seit
Franz JLiszt ist in diesen Räumen nie so schöne Musik gehört
worden. Dieser Abend wird unvergefslich und einzig bleiben
in der Erinnerung der Teilnehmer an diesem Kunstgenufs, der
jeden mit nachwirkender Begeisterung erfüllt hat. Nicht
Joachim hat gestern Beethoven und Bach gespielt, Beethoven
selbst hat gespielt!
Das war keine Verdolmetschung des höchsten Genius, es
war eine Offenbarung. Auch der Ungläubigste mufs an Wunder
glauben; eine ähnliche Transsubstantiation ist noch nicht ge-
l ) Siehe Dietrich, Erinnerungen an Joh. Brahms.
— 141 —
schehen. Nie ist ein Kunstwerk so lebendig und verklärt vor
das innere Auge geführt worden, nie die Unsterblichkeit des
Genius so leuchtend und erhaben in die wirklichste Wirklichkeit
getreten. Auf den Knieen hätte man zuhören mögen! Jede
Schilderung des Eindruckes, den Beethovens zehnte Sym-
phonie gestern erregt hat, wäre eine Entweihung.
Frau Dr. Schumann übertraf sich selbst in dem Vortrage
von Robert Schumanns Klavierkonzert. Wenn die Kompositionen
des hevorragendsten modernen Instrumental-Komponisten mit
solch wunderbarer Vollendung, mit so schwunghafter Total-
auffassung und so ausgefeilter Nüancierung aller Einzelheiten
interpretiert werden, so brechen sie sich auch bei dem wider-
strebendsten , zurückhaltendsten Publikum Bahn. Schumanns
Klavierkonzert hat aller Sympathien errungen durch die grofse
Meisterin, die den ihr verwandten Geist so unvergleichlich zur
Mitteilung gebracht hat. Hierbei geben wir noch zu bedenken,
dafs die Klavierpartie dieses Orchestersttickes nichts weniger
als eine „dankbare" zu nennen ist. Wie äufserst dankbar be-
währte sich dieselbe aber für die Künstlerin!"
Eine Zeit lang hatte es den Anschein, als ob Schumanns
Zustand doch nicht ganz so aussichtslos wäre, wie es die ersten
Monate befürchten liefsen. In lichten Momenten wandte er
sich wieder leichterer musikalischer Beschäftigung zu und
schrieb auch ab und zu Briefe an vertraute Freunde. So den
folgenden an Joachim:
„Endenich, den 10. März 1855.
Hochverehrter Meister!
Ihr Brief hat mich ganz freudig gestimmt. Ihrer sehr
grofsen Lücken in Ihrer künstlerischen Ausbildung und das
sogenannte Violinen- Auge und die Anrede, nichts konnte
mich mehr belustigen. Dann dachte ich nach : Hamlet-Ouver-
ture, — Heinrich-Ouvertüre, — ,Lindenrauschen , Abend-
glocken , Ballade', — Hefte für Viola und Pianoforte, — die
merkwürdigen Stücke, die Sie mit Clara in Hannover im Hotel
einmal abends spielten — und wie ich weiter nachsann, kam
ich an diesen Briefanfang : Teurer Freund, hätt' ich doch die
— 142 —
Drei vollmachen können! Reinick erzählte mir immer von
dieser Stadt. Auch nach Berlin wäre ich gern nachgeflogen.
Johannes hat mir den vorigen Jahrgang der Signale gesandt
zu meinem grofsen Vergnügen. Denn mir war alles neu,
was während vom 20. Febr. geschehen. Und so einen
musikalischen Winter und den folgenden von 1854/55 gab
[es] noch nie ; so ein Reisen, Fliegen von Stadt zu Stadt —
Frau Schröder-Devrient , Jenny Lind, Clara, Wilhelmine
Claufs, Therese Milanollo, Frl. Agnes Bury, Frl. Jenny Ney,
J. J., Bazzini, Yieuxtemps, Ernst, die beiden Winiawski,
Frl. Schulhoff und als Komponist Rubinstein. Und was noch
für eine grofse Masse Salonvirtuosen und andere bedeutendere,
wie H. v. Bülow. —
Nun schau ich auf Sie aus; kommen Sie bald, wär's
mit der Leuchte in der Hand. Das würde mich erfreuen.
In Absicht hab' ich es, die Capricci von Paganinl, und
nicht auf kanonisch-komplizierte Weise wie die A-moll- Varia-
tionen, sondern einfacher zu harmonisieren, und deshalb an
eine gewisse geliebte Frau geschrieben, die sie in Verschlufs
hat. Ich fürchte, sie sorgt, es würde mich vielleicht etwas
anstrengen. Ich hab' schon viele bearbeitet, und es ist mir
nicht möglich, eine Viertelstunde unthätig zu bleiben, und
meine Clara sendet mir immer, dafs ich mich geistig unter-
halten kann. So komm' ich tiefer in des Johannes Musik.
Die erste Sonate, als erstes erschienenes Werk, war eines,
wie mir noch [keines] vorkam, und alle vier Sätze ein Ganzes.
So dringt man immer tiefer in die andern Werke, wie in die
Balladen, wie auch noch nie etwas da war. Wenn er nur,
wie Sie, Verehrter, jetzt in die Massen träte, in Orchester
und Chor. Das wäre herrlich. Nun wollen, wie wir in Ge-
danken an welche, die uns in Weihestunden so oft ergriffen,
gerade denken, uns wir für heute Lebewohl sagen — auf
baldiges Wiedersehen.
Ihr sehr ergebener
Robert Schumann."
— 143 —
Allein die Hoffnungen, die man auf seine Wiedergenesung
gesetzt hatte, erwiesen sich als trügerisch, denn mehr und mehr
umnachtete sich der Geist des Bedauernswerten. Am 29. Juli
1856 schlofs Robert Schumann die Augen zum ewigen Schlaf!
Das war für Joachim seit dem Hinscheiden Mendelssohns
der härteste Schlag in seinem jungen Leben, denn wieder hatte
er einen Freund verloren, von dem er nicht zu sagen wufste,
ob er den grofsen Künstler in ihm höher verehrte oder den
edlen Menschen inniger liebte. Mit Brahms und Dietrich
schritt er in tiefstem Schmerz hinter dem Sarge des verehrten
Meisters einher und gab dem geliebten Freunde das Geleite
zur letzten Ruhestätte !
Am 2. August 1856 schrieb er darüber nach Weimar:
Verehrter Liszt!
Es wird mir von Frau Schumann die ernste Pflicht über-
tragen, die Freunde von dem erschütternden Verlust, der sie
betroffen, zu benachrichtigen; ihnen das Hinscheiden Schu-
manns anzuzeigen. Dafs Du, der in frühen Tagen schon in
künstlerischer und freundlicher Beziehung zu dem ent-
schlummerten Meister gestanden, die Kunde besonders teil-
nehmend hören würdest, war einer meiner ersten Gedanken
— denn mag auch Schicksal: äufsere wie innere Erfahrung
die Wege von Euch beiden gerade verschieden im Leben ge-
staltet haben, — mir ist doch gewifs, dafs niemand den
vollen Wert des leider uns entrückten Mannes reiner zu
verstehen, schöner zu empfinden Macht und Willen hat, als
Du in diesem ernsten Moment.
Sicherlich thut es Dir leid, dafs es Dir nicht gegönnt
war wie mir, der Hülle des Meisters die letzte Ehre zu er-
zeigen, als sie Donnerstag in Bonn bestattet wurde. Es war
nicht im Sinn des Komponisten, der sich vorzugsweise in die
eigensten innerlich heiligen Gefühle versenkte, den Freunden
und Verehrern den Tag des Begräbnisses in öffentlichen
Blättern bekannt zu machen ; doch folgten viele Mitempfindende,
Trauernde der Leiche nach Bonn. Sie ward von Künstlern
— 144 —
und Kunstliebhabern der Ruhestätte entgegengetragen, den
irdischen Resten Niebuhrs und Schlegels nahe begraben.
Frau Schumann ist gestern hierher zurückgekehrt; die
Nähe der Ihren und des gleich einem Sohne von Schu-
mann geliebten Brahms gewährt der edlen Frau Trost, die
selbst im tiefsten Schmerz mir ein edles Beispiel gottergebener
Kraft erscheint. Ich bleibe wohl noch einige Tage hier in
Düsseldorf und rechne darauf, ein von Dr. Pohl mir ver-
sprochenes Schreiben von Dir bald zu erhalten, für das ich
im voraus danke, und das ich bald zu beantworten hoffe.
In herzlicher Verehrung
Joseph Joachim. u
Mit dem Tode Schumanns hatte Düsseldorf seine An-
ziehungskraft für die jungen Künstler verloren: Frau Clara
siedelte zu ihren Verwandten nach Berlin über, Brahms ging
nach Detmold, Grimm wurde Musikdirektor in Göttingen, Dietrich
nahm einen Ruf in gleicher Eigenschaft nach Bonn an und
Joachim kehrte in seinen Wirkungskreis nach Hannover zurück.
Hier hatte er schon Ende Januar 1856 die Bekanntschaft
Anton Rubinsteins gemacht, der darüber am 2. Februar an
Liszt berichtete:
„J'ai fait la connaissance de Brahms et de Grimm ä
Hanovre, et m§me celle de Joachim, je ne Pai faite que la;
des trois nommäs c'est lui qui m'a le plus intäressä; il m'a
fait l'effet d'un novice au couvent, qui sait qu'il peut encore
choisir entre le couvent et le monde, et qui n'a pas encore
pris son parti.
Pour ce qui est de Brahms, je ne saurais trop pr^ciser
Timpression qu'il m'a faite; pour le salon, il n'est pas assez
gracieux, pour la salle de concert, il n'est pas assez fou-
gueux, pour les champs, il n'est pas assez primitif, pour la
ville, pas assez general — j'ai peu de foi en ces natures-la.
Grimm m'a paru §tre une esquisse inachevöe de Schu-
mann."
(5 S3S r * )
3.
König Georg verfolgte mit lebhaftem Interesse und freudiger
Genugthuung die glänzende Künstlerlaufbahn seines jugendlichen
Konzertmeisters, der in raschen Sprüngen von Erfolg zu Ijrfolg
eilte und eine Stadt nach der anderen im Sturm eroberte. In
einem Alter, in dem sich sonst Talente erst zu entfalten pflegen,
erfreute sich Joachim bereits eines so hohen Ansehens, dafs
ihm selbst die gröfsten seiner engeren Fachgenossen neidlos
den ersten Bang unter ihresgleichen zuerkannten. Die Kritik
legte freudig die Sonde ihrer Untersuchungen beiseite, um
Hymnen anzustimmen zum Lobe des Meisters, der die unver-
gänglichen Schätze der Musiklitteratur in ungeahnter Vollendung
interpretierte. Die Musiker, alt und jung, neigten sich in
staunender Bewunderung vor seiner Vortragskunst, die, was
Adel und Vornehmheit betrifft, unerreicht geblieben ist bis auf
den heutigen Tag. Aber auch das Publikum, das sich bis da-
hin nur für glänzende Virtuosenleistungen enthusiasmiert hatte,
jubelte dem Zauberer in freudigster Anerkennung zu, wenn er
es mit kundiger Hand durch die Höhen und Tiefen eines
Meisterwerkes geleitet, das bisher in dem Rufe gestanden hatte,
unverständlich und unentwirrbar zu sein.
Der König bewunderte aber in Joachim nicht nur den
grofsen Künstler, sondern schätzte auch seine menschlichen
Eigenschaften so hoch, dafs er ihm eine wahrhaft freundschaft-
liche Gesinnung entgegenbrachte. Das schöne Verhältnis, das
sich auf diese Weise zwischen Joachim und der königlichen
Familie herausbildete, hat der unglückliche Fürst bis zu seinem
Tode aufrecht erhalten, und die überlebende Königin pflegt es
Moser, Joseph Joachim. 10
— 146 —
heute noch in rührender Treue. Äufserlich ehrte der König
Joachim durch die Ernennung zum Konzertdirektor, einer Stelle,
die eigens für ihn geschaffen wurde, nachdem er ihn schon
vorher ganz vom Konzertmeisterdienst in der Oper entbunden
hatte. Wie ungezwungen Joachims Verkehr mit dem Könige
war, geht aus der folgenden Erzählung hervor:
Der Dirigent einer hannoverschen Regimentskapelle hatte sein
Musikkorps so vortrefflich herangebildet, dafs es auch leichtere
Ouvertüren für gemischtes Orchester, ja selbst die ersten Sympho-
nien von Beethoven in anerkennenswerter Weise spielen konnte.
Um sich nun die Leistungsfähigkeit seiner Kapelle auch von einflufs-
reicher und fachmännischer Seite bestätigen zu lassen, lud der
Dirigent, ein Sachse von Geburt, Joachim zu einer Probe ein
lind spielte diesem einige Stücke vor. Joachim fand in der
That die Leistungen des Orchesters so respektabel, dafs er dem
Kapellmeister warmes Lob spendete. Als er nun einige Tage
darauf bei Hofe erschien, sagte der König: „Herr Joachim, ich
habe einen Auftrag an Sie ! Der sächsische Militärkapellmeister
hat mir heute Vormittag bei der Parade erzählt, dafs er Ihnen
unlängst mit seinem Orchester vorgespielt habe und Sie sehr
damit zufrieden gewesen seien."
Joachim: „Majestät, der Mann macht seine Sache auch
ganz vortrefflich."
Der König: „Na, dann kann ich ihn ja beruhigen. Er
sagte mir nämlich : ,Wissen Majestät, der Herr Konzertdirektor
Joachim ist Sie ein so sehr höflicher Mann, dafs ich seinen
Lobsprüchen keinen rechten Glauben schenke. Thun Sie mir
doch den Gefallen und horchen emal Herrn Joachim aus, ob
der's auch wirklich so gemeint hat.'"
Inzwischen hatte Joachim in den Brüdern Theodor und
Karl Eyertt und in dem Cellisten August Lindner ganz vor-
treffliche Partner zum Quartettspiel gewonnen. Von den beiden
Brüdern zeichnete sich besonders Karl durch musikalisches
Wesen und seinen wundervollen Ton auf der Bratsche aus.
Lindner gehört zu den hervorragendsten Cellisten der ver-
— 147 -
gangenen Periode; er hat sich auch als Komponist für sein
Instrument, besonders mit einem Violoncell-Konzert , einen ge-
achteten Namen erworben.
Im Verein mit seinen trefflichen Genossen veranstaltete
Joachim nun auch in Hannover regelmäfsige Quartettabende
und bot so Kennern und Liebhabern dieser vornehmsten Musik-
gattung reichliche Gelegenheit, ihn auch in seiner Eigenschaft
als berufensten Kammermusikspieler zu bewundern. Brahms,
der um jene Zeit zu wiederholten Malen längeren Aufenthalt
in Hannover nahm, um in der Nähe seines „Spiel- und Kampf-
genossen" zu sein, war natürlich oft mit von der Partie. Konnte
er sich doch für die Erstaufführungen seiner Instrumentalwerke
gar keinen idealeren Paten wünschen als Joachim, der in der
That, sowohl in Hannover wie später in Berlin, die meisten
seiner Kompositionen aus der Taufe gehoben hat. Die brüder-
lich innige Freundschaft, die die beiden grofsen Tonkünstler
seit dem Beginne ihrer Bekanntschaft miteinander verknüpfte,
läfst es fast wie selbstverständlich scheinen, dafs sie sich in
ihrem künstlerischen Schaffen und Wirken gegenseitig beein-
flufsten. Es wäre in der That für einen zukünftigen Brahms-
Biographen eine ganz interessante Aufgabe, Joachims Einflufs
auf Brahms' Arbeiten in jener Zeit einer näheren Betrachtung
zu unterziehen 1 ). Durch seine langjährige Vertrautheit mit
dem Wesen des Orchesters besafs Joachim naturgemäfs den
Vorteil der . praktischen Routine gegenüber Brahms , der in
orchestertechnischen Sachen ein ebensolcher Neuling war wie
seinerzeit Schumann, als er an die Komposition seiner ersten
Orchesterwerke ging.
*) Der Verfasser hatte Gelegenheit, Einsicht in das Manuskript
des Brahmsschen D-moll-Konzertes für Klavier und Orchester zu
nehmen, das im Besitze Joachims ist. Es findet sich darin eine ganze
Reihe von Änderungen, die von Joachim herrühren und von seiner
Hand in die Partitur eingetragen sind. Auch das F-moll-Klavier-
quintett hat seine jetzige Gestalt hauptsächlich der Anregung Joachims
zu verdanken, da es Brahms zuerst als Streichquintett mit zwei Celli
gesetzt hatte.
10*
— 148 —
Es darf rahig ausgesprochen werden, dafs Schumanns be-
geisterter Artikel „Neue Bahnen" für Brahms jahrzehntelang
die Bedeutung eines Danaergeschenkes hatte. Nicht nur das
Publikum, sondern auch der weitaus gröfsere Teil der Musiker ,
verhielt sich Brahms' Werken gegenüber so ablehnend, dafs nur
wenige Auserwählte dem Glauben an seine Künstlergröfse treu
blieben. Unter diesen wenigen nimmt Joachim ohne Frage
die erste Stelle ein. Er war nicht nur der erste überhaupt,
der Brahms' Genius in seiner ganzen Bedeutung erkannte,
sondern, was ungleich schwerer wiegt, er hat trotz aller Mifs-
erfolge, von denen die meisten seiner Werke bei ihrem Er-
scheinen begleitet waren, ungeachtet aller persönlichen An-
fechtungen, in unerschütterlicher Treue an ihm festgehalten und
keinen Tag seines Lebens das volle Vertrauen auf den end-
lichen Sieg seines Freundes verloren.
In einem Briefe, den Joachim anfangs der sechziger Jahre
an Av6 Lallemant 1 ) geschrieben, spricht sich sein fester Glaube
an Brahms in so überzeugender Weise aus, dafs jeder weitere
Kommentar überflüssig scheint.
„Lieber Freund!
Brahms' Konzert hat mir bei näherer Bekannt-
schaft immer mehr Liebe und Achtung eingeflöfst. Bei den
meisten Intelligenten, die ich aus dem Publikum und dem
Orchester gesprochen, hat sich eine hohe Meinung über
Brahms als Musiker kundgegeben; über sein eminentes Spiel
sind selbst Gegner seines Konzertes einig. Dafs teilweise
*) Ave Lallemant lebte als Klavierlehrer in Hamburg und hat
als Mitglied des Konzertkomitees der Philharmoniker grofsen Einflute
auf die dortigen Musikzustände ausgeübt. Ein tüchtiger Musiker,
war er zugleich ein Mann von besonders liebenswürdigen Umgangs-
formen. Das veranlafste den alten Brahms, seinen Sohn vor ihm zu
warnen mit den Worten: „Johannes, sieh Dich für, der schmeichelt
Dich mit falschem Honig." Das Mifstrauen war übrigens unbegründet,
denn Ave* Lallemant war stets ein aufrichtiger Bewunderer des
„grofsen Johannes". Er gehörte zu Joachims langjährigen intimen
Freunden und starb hochbetagt Ende der achtziger Jahre.
— 149 —
Vorurteile, dann das Befremden über eine so rücksichtslos
ideal sich gebende Individualität, wie die unseres Freundes,
dem Glanz des Erfolges hindernd entgegentreten würden, habe
ich von vornherein nicht anders erwartet. Auch werden einige
Längen in der Komposition, hie und da, selbst gut dis-
ponierte, an einzelnen Stellen im Yollgenufs stören. Trotz-
dem darf man sagen, es hat das Konzert einen Publikum
und Künstler gleich ehrenden Erfolg gehabt; so in Hannover.
Nun mögen Mäkler und böswillige Verleumder, wie W., aus-
streuen, was sje wollen, mich kümmert's nicht; wir haben
recht gethan. Die Leipziger haben [sich] aber in ihrer
Blasiertheit ein Testimonium der Ärmlichkeit und Herzlosig-
keit gegeben, das mir um so mehr leid thut, als ich dort
selbst erfahren, dafs so etwas trotz aller Philosophie schmerzt
den, welchem solche Teilnahmlosigkeit das kalte Wasser über
das warme Herz giefst. Nun mögt Ihr in Hamburg thun,
was Ihr wollt; aber wenn Sie, lieber Freund, das Konzert
im Philharmonie bringen, so komme ich und dirigiere. Das
ist ja längst abgemacht "
Und in einem Brief an denselben vom 2. Januar 1861
heifst es:
„Ich habe mich sehr gefreut, endlich Johannes' Sachen
für Orchester gedruckt vor mir zu sehen. Nun können sie
getrost von den Signalen und andern oberflächlichen Gesellen
verschimpfiert werden. Sie werden noch freundlich fort-
lächeln mit ihren schönen Motiven, wenn die plumpen Tadler
längst verstummt sind!"
Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein,
in welch regem Verkehr Joachim während der ersten Jahre
seines Aufenthaltes in Hannover mit den verschiedenen Häuptern
der widerstreitenden Musikrichtungen stand. Von Weimar, wo
man die „speeifischen" Musiker geringschätzig behandelte, eilte
er zu Schumann, der wieder von der modernen Programm-Musik
— 150 —
nichts wissen wollte ; in Strafsburg hatte er mit Wagner Brüder-
schaft getrunken und eine Woche später Berlioz die Hände
geschüttelt. Und dazu der fortwährende Verkehr mit Brahms
und den anderen gleichgesinnten Freunden ! Eine diplomatische
Natur, wie die Liszts, wäre ohne Zweifel imstande gewesen,
sich in einem solchen Wirrsal zurecht zu finden, ohne es mit
einer Partei ganz zu verderben. Aber ein so wenig kompli-
zierter Charakter, wie der Joachims, konnte auf die Dauer an
dem Herumlavieren zwischen den verschiedenen Lagern keinen
Gefallen finden.
Seine gereiftere Kunstanschauung, die besonders im Ver-
kehr mit Schumann und Brahms reiche Nahrung gefunden hatte,
machte es ihm nun leichter, als seinerzeit in Weimar, sich über
die Ursachen seiner Abneigung vor den Bestrebungen der
„ Neudeutschen 11 Rechenschaft zu geben. Überdies hatte sich
Joachims Eünstlertum mittlerweile zu einem so unteilbaren Ganzen
verdichtet, dafs ein ferneres Schwanken ausgeschlossen oder
künstlerischem Selbstverrat gleichgekommen wäre. Lieber wollte
er der Sache, die ihm recht und gut schien, mit ganzer Seele
dienen, als geteilten Herzens Kompromisse schliefsen, die doch
nur von üblen Konsequenzen begleitet sein konnten.
Bisher hatte er sich den symphonischen Dichtungen Liszts
gegenüber nur stillschweigend ablehnend verhalten; nun drängte
die „Propaganda der That a , zu der die Lisztianer vorgeschritten
waren, zu energischerer Stellungnahme. Liszt hatte den Parti-
turen seiner „Symphonischen Dichtungen", die Mitte der
fünfziger Jahre im Druck erschienen, folgende Erklärung bei-
gegeben :
„Obschon ich bemüht war, durch genaue Anzeichnungen
meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht,
dafs manches, ja sogar das Wesentlichste, sich nicht zu Papier
bringen läfst, und nur durch das künstlerische Vermögen, durch
sympathisch-schwungvolles Reproduzieren, sowohl des Diri-
genten, als der Aufführenden, zur durchgreifenden Wirkung
gelangen kann."
— 151 —
Dazu bemerkte Hanslick schon im März 1857 : „Ich über-
lasse es dem musikkundigen Leser, zu entscheiden, inwiefern
man es noch mit Tonwerken zu thun habe, wo das /Wesent-
lichste' derselben sich nicht in Noten wiedergeben läfst. Diri-
genten und Spieler müssen demnach für Lisztsche Kompositionen
mit einem besonderen Ahnungsvermögen ausgestattet sein, —
von den Zuhörern versteht sich diese Schuldigkeit von selbst."
Joachim fafste aber auch den Nachsatz der Notiz als eine
Überhebung auf, die ihn geradezu empörte. Rechnet denn
nicht jeder Komponist, welcher Zeit und Richtung er auch
angehöre, bei der Aufführung seiner Werke selbstverständlich
auf das künstlerische Vermögen des Dirigenten und der Aus-
führenden, sympathisch und schwungvoll zu reproduzieren?
Enthält eine Komposition bedeutende musikalische Gedanken,
so wird sie der intelligente Interpret zur Geltung zu bringen
wissen, ohne eine besondere Anweisung nötig zu haben; sind
aber keine Gedanken vorhanden, so kann von einem Kunst-
werk schlechterdings nicht mehr die Rede sein, auch wenn das
schönste Programm sich abmüht, das fehlende „Wesentlichste"
durch leere Redensarten zu ersetzen.
Aus diesen Erwägungen heraus schrieb Joachim am
27. August 1857 von seiner Sommerstation Göttingen den
folgenden Brief an Liszt:
„Die Beharrlichkeit der zutrauensvollen Güte, mit der
Du, vielumfassend kühner Geist, Dich zu mir neigst, um mich
dem Verein der von Deiner Kraft bewegten Freunde angefügt
zu sehen, hat für meinen bisherigen Mangel an Offenheit
etwas Beschämendes , das ich nicht jetzt zuerst fühle und
das mich, mir selbst gegenüber, tief demütigen müfste, hätte
ich nicht zugleich das tröstende Bewufstsein, dafs dieser
Mangel an Offenheit, der so schlimm gegen meinen Auf-
enthalt in Weimar und Deine immergleiche Herzlichkeit kon-
trastiert, nicht Feigheit sei und vielmehr dem besten Gefühl
verwandt war, das ich in mir trug, als müsse mein geringes
Selbst, so unbedeutend an geistiger Macht und Energie es
— 152 —
sich Dir gegenüber vorkommt, dennoch imstande sein, durch
die tiefe Wahrheitsliebe and die tiefe Neigung zu Dir, die
Da zugleich an ihm haftend wufstest, ein Stachel für Dich
zu werden, den ich nicht verwundend gebrauchen dürfte. —
Aber was hülfe es, wollt' ich noch länger zaudern klar aus-
zusprechen, was ich empfinde — meine Passivität Deinem
Wirken gegenüber müfst' es, unschön umnebelt, dennoch
offenbaren, Dir, der gewohnt ist, Enthusiasmus für sich
handeln zu sehen, und der auch mich echter, thatkräftiger
Freundschaft fähig hält. So will ich denn nicht mehr ver-
schweigen, was, ich gesteh' es beichtend ein, Dein männlicher
Geist früher zu hören fordern mufst', ja worauf er als solcher
ein Anrecht hat: Ich bin Deiner Musik gänzlich unzugäng-
lich ; sie widerspricht allem, was mein Fassungsvermögen aus
dem Geist unserer Grofsen seit früher Jugend als Nahrung
sog. Wäre es denkbar, dafs mir je geraubt würde, dafs ich
je dem entsagen müfst', was ich aus ihren Schöpfungen lieben
und verehren lernte, was ich als Musik empfinde", Deine
Klänge würden mir nichts von der ungeheuren, vernichtenden
Öde ausfüllen. Wie sollt* ich mich da mit denen zu gleichem
Zweck verbrüdert fühlen, die unter dem Schild Deines
Namens und in dem Glauben (ich rede von den Edlen unter
ihnen), für die Gerechtigkeit der Zeitgenossen gegen die
Thaten der Künstler einstehen zu müssen, die Verbreitung
Deiner Werke mit allen Mitteln zu ihrer Lebensaufgabe
machen? Vielmehr mufs ich darauf gefafst sein, mit dem, 4
was ich mich bescheide für mich zu erstreben, immer mehr
von ihnen abzuweichen, und das, was ich für gut erkannt, was
ich für meine Aufgabe halte, auf eigene Verantwortung, wär's
noch so still , zu üben. Ich kann euch kein Helfer sein und
darf Dir gegenüber nicht länger den Anschein haben, die Sache,
die Du mit Deinen Schülern vertrittst, sei die meine. So mufs
ich denn auch Deine letzte liebevolle Aufforderung zur Teil-
nahme an den Festlichkeiten in Weimar zur Feier Karl Augusts
unbefolgt lassen: ich achte Deinen Charakter zu hoch, um
— 158 —
als Heuchler, und das Andenken des Herrschers, der mit
Goethe und Schiller lebte und vereint zu ruhen wünschte, zu
heilig, um als Neugieriger gegenwärtig zu sein.
Vergieb mir, wenn ich in die Vorbereitungen zur Feier
einen Moment der Betrübnis mischte; ich mufst' es. Dein
Ehrfurcht gebietender Fleifs , die Menge Deiner Anhänger
werden Dich mich leicht verschmerzen lassen, aber wie Du
immer von diesen Zeilen denkst, glaube eins von mir: dafs
ich nie aufhören werde, für alles, was Du mir warst, für
die ganze oft überschätzende Wärme, die Du für mich in
Weimar hattest, für all das, was ich von Deinen göttlichen
Gaben oft lernend aufzunehmen strebte, von tiefstem Herzen
die volle, treue Erinnerung eines dankbaren Schülers in mir
zu tragen.
Joseph Joachim."
Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wird an der
gewundenen und gekünstelten Art der Einleitung des vorstehen-
den Briefes unschwer merken, welche Überwindung Joachim die
Formulierung seiner Absage an Liszt gekostet hat. Man mag
über den Inhalt des Briefes denken, wie man wolle — auch
seine Notwendigkeit ist von manchen angezweifelt worden — ,
aber niemand wird leugnen können, dafs es die That eines
ehrlichen Mannes war, der ein künstlerisches Glaubens-
bekenntnis ablegt und sein Verhalten vor falschen Deutungen
schützen will. Was die sonstige Schärfe dieses Briefes wesent-
lich mildert, das ist die wahrhaft rührende Art, mit der Joachim
dem älteren Meister seinen Dank ausspricht für alles andere,
was er von ihm gelernt hat. Auch hier wieder unterscheidet
er haarscharf zwischen dem Komponisten Liszt und seinen
übrigen verehrungswürdigen Eigenschaften. Das hat Liszt sehr
wohl empfunden, und wenn ihm auch Joachims Absage wehe
gethan, so hat er doch in seinem ganzen zukünftigen Verhalten
ihm gegenüber stets das versöhnende, nicht das trennende
Moment in den Vordergrund gestellt. Nicht so seine Anhänger,
_ 154 —
die diesen Brief als ein Attentat auf ihren Führer bezeichneten,
das nicht ungesühnt bleiben durfte.
Es entbrannte nun jener litterarische Kampf zwischen den
feindlichen Parteien, von dessen Heftigkeit sich die jetzige
Generation kaum eine rechte Vorstellung mehr machen kann.
In den „Grenzboten" führte Otto Jahn, der Biograph Mozarts,
die Sache der konservativen Partei und derjenigen Musiker,
deren Schaffen in den Traditionen der Klassiker wurzelte. Im
gegnerischen Lager vertrat Brendel mit einem Stabe gleich-
gesinnter Mitarbeiter durch die „Neue Zeitschrift für Musik"
den radikalen Fortschritt und pries Liszt als den Mozart unserer
Tage, dessen Werke die Bestrebungen und Resultate sämtlicher
Kunstepochen, von Palästrina bis auf die Gegenwart, als
krönendes Ganze in sich vereinigten.
In unglaublichem Durcheinander »warf man die Sache Liszts
mit der Wagner-Frage in einen Topf und behandelte beide ge-
wissermafsen als voneinander unzertrennlich. Aus jener Zeit
her datiert schon der unheilvolle Einflufs der „Wagnerianer",
die, mit Raff zu reden, der Sache ihres Meisters mehr geschadet
als genützt haben. Das hat auch Joachim an sich selber er-
fahren. Vom Tage der ersten Aufführung des Lohengrin in
Weimar an war er ein enthusiastischer Verehrer Wagners ge-
wesen, und die intime Bekanntschaft mit dem Tannhäuser konnte
seinen Respekt vor der gewaltigen Persönlichkeit des Meisters
nur noch steigern. Schon fünf Wochen nach seiner Anstellung
in Hannover, am 5. Februar 1853, dirigierte er zum erstenmal
die Tannhäuser -Ouvertüre in einem Symphoniekonzerte der
königlichen Kapelle. Wir haben überdies gesehen, welchen
Eindruck das Textbuch der Nibelungen auf ihn gemacht hat.
Die erste Einschränkung der grofsen Bewunderung Joachims
für Wagner ist auf seine Bekanntschaft mit Webers „Euryanthe"
zurückzuführen, die er erst in Hannover unter Marschners
Direktion kennen gelernt hatte und, was das Musikalische an-
langt, weit über den Lohengrin stellte. Er war durch sie zu
der Einsicht gekommen, dafs Wagner mit seinem Lohengrin
— 155 —
und Tannhäuser doch nicht so absolute Neuerungen vollbracht
hatte, als er bisher angenommen, dafs er vielmehr in Weber
einen Vorgänger gefunden, dessen eminentes Vermögen, Personen
und Situationen musikalisch-dramatisch zu charakterisieren, nur
insofern von "Wagner übertroffen wurde, als dieser alles dicker
auftrug und unterstrich, was Webers feinerer musikalischer
Sinn in mafsvollen Grenzen gehalten hatte.
Die weitaus gröfsere Abschwächung aber erfuhr sein
Enthusiasmus durch die rücksichtslose Propaganda, die die
„Wagnerianer" auf Kosten der Meister 1 ) ins Werk setzten,
denen Joachim persönlich nahe gestanden hatte. Überdies
witterte er Unheil in den Bestrebungen der Nachtreter Wagners,
die sich anschickten, die Principien ihres Abgottes auch auf
das Gebiet der reinen Instrumentalmusik zu übertragen, eine
Absicht, die übrigens Wagner selbst auf das schärfste mifs-
billigt hat. Von der ferneren Entwicklung unserer Musik hängt
es ab, ob die Kunstgeschichte für oder gegen Joachim zeugen
wird.
In seinen Befürchtungen stand aber Joachim nicht etwa
*) Ende Juni 1855 hatte Berlioz an Liszt geschrieben:
„ Wagner s'est perdu dans Fesprit du public de Londres
en paraissant faire peu de cas de Mendelssohn. Or Mendelssohn,
pour beaucoup de gens, est un Händel et demiü! D'un autre cöt6;
si je n'avais pas le mSme de7aut pour d'autres maitres que j'exerce
avec une violence de canon de 120, je dirais que Wagner a tort de
ne pas considärer comme une riche et belle individualite le puritain
Mendelssohn. Quand un maitre est un maltre, et quand ce maitre a
toujours et partout honore" et respecte* Part, il faut l'honorer et le respec-
ter aussi, quelle que soit la divergence existant entre la ligne que nous
suivons et celle qu'il a suivie. Wagner pourrait me rätorquer l'argu-»
ment s'il savait qui j'abomine si cordialement, mais je me garderai
de le lui dire. Quand j'entends ou quand je lis certains morceaux
de ce gros maitre, je me contente de serrer fortement les dents
jusqu'ä ce que rentre" chez moi et seul, je me degonfle en l'accablant
d'imprecations. ■
On n'est pas parfait u
— 156 —
allein, sondern sie wurden von eines ganzen Reihe bedeutender
Musiker geteilt. Um nun keinen Zweifel über ihre Ansichten
von dem Treiben und Gebahren der Verfechter der neuen
Richtung aufkommen zu lassen, beschlossen sie, öffentlich da-
gegen zu protestieren. Das Schriftstück, in dem sie ihre
Stellungnahme gegenüber den von der Brendelschen Zeitschrift
vertretenen Tendenzen präcisierten, sollte allen denen zur Unter-
schrift vorgelegt werden, die mit ihnen gleichen Sinnes waren.
Da aber von verschiedenen Seiten redaktionelle Änderungen
an dem Texte des Protestes gewünscht wurden, so kamen
schließlich die Urheber desselben überein, die ganze Angelegen-
heit fallen zu lassen. Nur durch eine unaufgeklärt gebliebene
Indiskretion ist dann das Schriftstück in die Öffentlichkeit ge-
drungen und im Berliner „Echo" abgedruckt worden. Es lautet :
„Die Unterzeichneten haben längst mit Bedauern das
Treiben einer gewissen Partei verfolgt, deren Organ die
Brendelsche Zeitschrift für Musik ist. Die genannte Zeitschrift
verbreitet fortwährend die Meinung, es stimmten im Grunde
die ersten strebenden Musiker mit der von ihr vertretenen
Richtung tiberein, erkennten in den Kompositionen der Führer
eben dieser Richtung Werke von künstlerischem Wert, und es
wäre überhaupt, namentlich in Norddeutschland, der Streit für
und wider die sogenannte Zukunftsmusik und zwar zu Gunsten
derselben ausgefochten. Gegen eine solche Entstellung der
Thatsachen zu protestieren halten die Unterzeichneten für ihre
Pflicht und erklären wenigstens ihrerseits, dafs sie die Grund-
sätze, welche die Brendelsche Zeitschrift ausspricht, nicht an-
erkennen, und dafs sie die Produkte der Führer und Schüler
der sogenannten „Neudeutschen" Schule, welche teils jene
Grundsätze praktisch zur Anwendung bringen und teils zur
Aufstellung immer neuer unerhörter Theorien zwingen , die dem
innersten Wesen der Musik zuwider, nur beklagen und ver-
dammen können.
Johannes Brahms. Joseph Joachim.
Julius Otto Grimm. Bernhard Scholz."
— 157 —
Auf welche Motive die Gegner Joachims Abfall von der
Partei der „ Zukunftsmusiker" zurückführten, darüber giebt
Wagners Brief „Aufklärungen über das Judentum in der Musik a
eigentümliche Aufschlüsse. Es heifst da: „Mit dem Abfalle
eines bisher warm ergebenen Freundes, eines grofsen Violin-
virtuosen, auf welchen das Medusenschild 1 ) doch endlich auch
gewirkt haben mochte, trat jene wütende Agitation gegen den
nach allen Seiten hin grofsmütig unbesorgten Franz Liszt ein,
welche ihm endlich die Enttäuschung und Verbitterung bereitete,
in denen er seinen schönen Bemühungen, der Musik in Weimar
eine fördernde Stätte zu bereiten, für immer ein Ziel steckte."
Es ist schon im Kapitel „Leipzig" erwähnt worden, dafs
Joachim in Gemeinschaft mit den übrigen Lehrern des Leipziger
Konservatoriums einen Protest gegen Brendel unterschrieben,
der den Aufsatz „Das Judentum in der Musik* in der „Neuen
Zeitschrift für Musik" aufgenommen hatte. Da jener Artikel
anonym erschienen war, so wird niemand an der Sachlichkeit
des Protestes zweifeln können. Dafs Joachim aber nun, da
Wagner sich zur Autorschaft des genannten Aufsatzes bekannte,
von demselben eine bessere Vorstellung bekommen hätte, wäre
ebenso widersinnig wie unnatürlich gewesen. Ohne hier näher
auf Wagners Broschüre eingehen zu wollen, die in der Be-
hauptung gipfelt: „Die Periode des modernen Judentums in
der Musik ist geschichtlich als die der vollendeten Unproduk-
tivität, der verkommenden Stabilität zu bezeichnen", so scheint
doch die folgende Überlegung am Platze zu sein : Joachim stand
schon als Jüngling, als er noch im Fahrwasser der „Neu-
deutschen" segelte, bei seinen Zeitgenossen, ob sie nun der
alten oder neuen Kichtung angehörten, in dem unbestrittenen
Ansehen, der berufenste Interpret der „deutschesten", im Sinne
Wagners also christlichen Musik zu sein. Denn darüber waren
sie alle einig — und Joachims ganzes Künstlerleben hat ihnen
n
J ) Wagners Mitte der fünfziger Jahre neu aufgelegte Broschüre :
Das Judentum in der Musik."
— 158 —
darin Recht gegeben — , so rein und keusch wie er hat kein
zweiter ausübender Tonkünstler seinen edlen Beruf erfüllt, bei
keinem anderen ist der Virtuose so im Musiker aufgegangen,
keiner hat seine Persönlichkeit so in den Hintergrund gerückt,
wenn es galt, ein Kunstwerk in seiner vollen Beine und Schön-
heit wiedererstehen zu lassen. Also kann auch Hanslicks Satz :
„In der höchsten Bildungsform ist die Virtuosität ungleich pro-
duktiver zu nennen, als eine mittelmäfsige Thätigkeit wirklichen
Hervorbringens" auf niemand mit gröfserem Recht angewendet
werden als auf Joachim, der uns zudem auch als Komponist
für sein Instrument mit einigen Werken beschenkt hat, die ihm
für immer einen Ehrenplatz in der Geschichte der Violinlitteratur
anweisen, und deren vollendete Wiedergabe noch auf Generationen
hinaus zu den höchsten Aufgaben geigender Musiker zählen wird.
Und nun auf einmal, da er sich von Liszt abgekehrt und
Wagner nicht mehr durch Dick und Dünn folgen wollte, nun
plötzlich wird er von letzterem mit in den Topf geworfen, in dem
auch der „ durch Einmischung jüdischen Wesens bis zu geheimnis-
voller Seichtigkeit verflachte Robert Schumann der zweiten
Periode" schmachtet 1 ). Die Kunstgeschichte ist über die
Wagnersche Denunciation Schumanns zur Tagesordnung über-
gegangen, und Joachim hat es Zeit seines Lebens als die höchste
Ehrung empfunden, zur Gesellschaft des „verjudeten" Schu-
mann verurteilt worden zu sein, der sich an dem Vorbilde
eines Künstlers wie Mendelssohn aufrichten und begeistern
konnte! —
Einen deutlichen Beweis für Joachims Sachlichkeit in der
Beurteilung von Kunstfragen liefert der folgende Brief an Av6
Lallemant, in dem er seine Ansichten über den Rubinstein der
ersten Periode ausspricht. Es ist bekannt, dafs sich später
J ) Siehe auch Weifsheimer: „Erlebnisse mit R. Wagner,
Franz Liszt etc.", der Seite 318 ausruft: „Fort mit dem Passus von
der vollendeten Unproduktivität aus der Judenbroschüre, — er ist
nicht wahr!"
— 159 —
zwischen den beiden grofsen Tonkünstlern ein schönes kollegiales
Freundschaftsverhältnis ausbildete, das auf neidloser gegen-
seitiger Anerkennung begründet war.
„Lieber Freund!
Rubinsteins Sinphonie liebe ich nicht, wie keine
seiner Sachen, Einzelheiten ausgenommen. Er schreibt
zu rasch — d. h. er entwickelt die Motive, die einer ideellen
Entwicklung fähig wären, nicht innerlich genug — , man merkt
keine Weihe bei seinen Schöpfungen. Zug, d. h. rasches
Fortschreiten der Phantasie, ist ihm oft nicht abzusprechen,
aber es ist keine Läuterung seines Stoffes vorangegangen —
Mendelssohn, Chopin, Beethoven, Italienisches, Tanzrhythmen,,
vermischt mit den Schlacken eines unruhig ehrgeizigen Triebes,
kommen vulkanisch hervor, oft in die steifesten Formen gewalt-
sam gezwängt. Ich habe mir bei seiner Ocean-Sinphonie Mühe
gegeben, einen gewissen Widerwillen gegen sein Schaffen zu
bemeistern, habe sie probiert und mit dem Interesse, etwas
Neues für Orchester zu hören, spielen lassen; aber leider
kann ich mich nicht entschliefsen , sie aufzuführen, was ich
so gern gethan hätte, da ich mich persönlich in London mit ihm
entzweit hatte und nun gern gerade mir und ihm gegenüber
künstlerisch unabhängig seine Werke von dem Manne ge-
trennt haben würde Dem guten Geschmack ge-
schieht kein Dienst mit Aufführungen solcher Werke, die
nicht als Anfänge eines talentvollen Menschen, sondern als
Meisterwerke neben und über die der gröfsten Meister aus-
posaunt werden. Da hört Nachsicht auf! Indes, besser als
Liszt und Eonsorten ist Rubinstein als Komponist noch
immer, und hätten Sie wie die Leipziger zwanzig Konzerte,
ich sagte doch, ,führen Sie seine Sinphonie auf!'"
Der Leser wird sich erinnern, wie Joachims erster wissen-
schaftlicher Lehrer in Leipzig, Magister Hering, seinen Schüler
mit dem Wesen der christlichen Religion vertraut machte und
ihm die hehre Lichtgestalt ihres Stifters vom ethischen Stand-
punkt aus darzustellen suchte. Dieser Unterricht war auf
— 160 —
fruchtbaren Boden gefallen, denn mehr und mehr fühlte sich
Joachim zu dem Glauben hingezogen, der als höchstes Ideal
die Liebe zum Nächsten hinstellt. In seinem tiefsten Innern
war er längst zum überzeugten Anhänger jener erhabenen Lehre
geworden, als er gelegentlich eines vertraulichen Gespräches
mit dem Könige den Wunsch durchblicken liefs, durch die Taufe
nun auch wirklich zum Christentum übertreten zu wollen. Es
sollte aber in aller Stille geschehen, damit seinen Eltern, die ja
dem Glauben ihrer Väter treu geblieben waren, dadurch keine
Kränkung widerführe. Der König zeigte sich dem Vorhaben
Joachims um so leichter geneigt, als er bis dahin von dessen
jüdischer Abstammung keine Ahnung gehabt hatte, und über-
nahm mit der Königin die Patenstelle bei der heiligen Hand-
lung, die eines frühen Morgens im Beisein der Gräfin Bemstorff
vom Pastor Flügge in der Ägidien-Kirche zu Hannover voll-
zogen wurde.
Wenn man Joachims reiche Thätigkeit in Hannover in
Betracht zieht und die vielen Konzertreisen, die ihn jedes Jahr
mehrere Monate von seinem Wohnorte fern hielten, so mufs
man erstaunt sein über die grofse Anzahl von Kompositionen,
die er in jener Zeit geschrieben hat. Nach der Hamlet-Ouver-
ture entstanden in rascher Folge die Ouvertüren zu „Demetrius",
„ Heinrich IV", zu einem Lustspiele von Gozzi und die „dem
Andenken an den Dichter H. v. Kleist" gewidmete. Nur die
Hamlet- und die Kleist-Ouverture sind im Druck erschienen,
die übrigen Manuskript geblieben.
In der Öffentlichkeit, d. h. beim grofsen Publikum, hat
Joachim mit seinen Orchesterwerken kein Glück gehabt, wenn
auch die beiden gedruckten Ouvertüren jetzt noch hie und da
an verschiedenen Orten zur Aufführung gelangen. Bei aller
Geschicklichkeit in der Anordnung der Themen, die jedes Be-
sondere an den rechten Ort zu stellen wufste, und manchen
bedeutungsvollen Momenten in der Durcharbeitung der Motive,
— 161 —
fehlt ihnen doch als Hauptsache das, was schliefslich den
bleibenden Wert eines Kunstwerkes bestimmt: die künstlerische
Reife, die dem Hörer das beruhigende Gefühl sichert, dafs der
Komponist seinen Gegenstand frei schaltend beherrsche. Das
braucht weiter nicht wunder zu nehmen. Sind doch die sämt-
lichen angeführten Werke Joachims für Orchester in seiner
Sturm- und Drangperiode entstanden, wo es ihn mit unwider-
stehlicher Gewalt trieb, seinen Schaffenseifer an der Lösung
gröfserer Aufgaben zu bethätigen. Mag er nun auch während
des Schaffens jenes befriedigende Glücksgefühl vollauf empfunden
haben, das die begeisterte Hingabe an künstlerische Bethätigung
stets mit sich bringt, so verhehlte er sich doch nach der Voll-
endung seiner Arbeiten nicht, dafs Wollen und glückliches Ge-
lingen miteinander nicht gleichen Schritt gehalten hatten, oder,
um ein Bild von Wilhelm Grimm zu gebrauchen: „Der Wein
nicht reichte, um den Becher bis an den Rand zu füllen." Zu
dieser strengen Selbstkritik brachte ihn die merkwürdige Früh-
reife seines eigenen künstlerischen Urteils ebensowohl, wie der
Vergleich mit den in jener Zeit entstandenen Werken seines
„Spiel- und Kampfgenossen". Wie nun niemand, der Joachims
Sachen für Orchester kennt, den künstlerischen Ernst leugnen
wird, der sie ohne Ausnahme durchweht, so haben sie ihm von
Seiten der hervorragendsten Musiker so viel warme Anerkennung
eingetragen, dafs er sich mit der Genugthuung bescheiden darf,
auch in dieser Hinsicht der vornehme Künstler geblieben zu
sein, wenn schon der äufsere Erfolg ausgeblieben ist.
Eine meisterliche Leistung aber mufs seine Orchestrierung
des Schubertschen Duos genannt werden, das auf eine An-
regung Schumanns zurückzuführen ist. Joachim hat das Werk
in dieser Form am 9. Februar 1855 zum erstenmal in rfannover
zur Aufführung gebracht. Wer das Stück in der ursprüng-
lichen Gestalt kennt und nun mit der Partitur in der Hand
den herrlichen Klangwirkungen der Orchesterbearbeitung lauscht,
der mufs doch einen tiefen Respekt bekommen vor Joachims
eminenter Instrumentationskunst. Er hat damit die Orchester-
Moser, Joseph Joachim. 11
— 162 —
litteratur um ein Stück bereichert, das wohl jeder, der es nicht
anders weifs, für eine Original-Symphonie des genialen Wiener
Meisters halten würde.
Unter den übrigen Kompositionen Joachims, die in Hannover
entstanden sind, nimmt das „Konzert in ungarischer Weise" für
Violine und Orchester, Op. 11, unstreitig den ersten Rang ein,
wie es denn zu den bedeutendsten Werken zählt, die überhaupt
für die Geige geschrieben worden sind. Es ist die ausgereifte
Frucht der Einflüsse, die Joachim der innigen Vertrautheit mit
der nationalen Musik seines Heimatlandes verdankt. Aus seinen
Kinderjahren wird er sich wohl kaum eines Tages entsinnen
können, an dem nicht die berauschenden Klänge ungarischer
Zigeunermusik sein Ohr trafen, und die wiederholten Besuche,
die er seinen Verwandten jenseits der Leitha abgestattet hat,
konnten ihn in seiner Vorliebe für die eigenartigen Melodien,
Harmonien und Rhythmen der magyarischen Volkslieder und
Tänze nur noch bestärken. In der That verleugnet sich auch
in seinen späteren Kompositionen für Violine der Ungar nirgends ;
aus allen Ecken gucken melodische und harmonische Wendungen
hervor, die dem Kenner Grüsse aus der Heimat des Meisters
zuflüstern.
Mit seinem ungarischen Konzert hat sich Joachim als
Ebenbürtiger neben die grofsen Meister gestellt, welche Werke
für die Violine als Soloinstrument geschaffen haben. Unter den
Kompositionen, die von Geigern für ihr Instrument geschrieben
wurden, können überhaupt nur drei darauf Anspruch erheben,
mit in Betracht gezogen zu werden: die Teufelssonate von
Tartini, das 22. Konzert (A-moll) von Viotti und die Spohrsche
Gesangsscene. Was den inneren musikalischen Wert der
genannten Stücke anlangt, so wäre es ein ebenso müfsiges wie
unfruchtbares Beginnen, sie gegeneinander abzuwägen; ver-
danken sie doch ihr Entstehen so verschiedenen Kunstepochen,
dafs sie gar nicht miteinander verglichen werden können. Das
„Ungarische" überragt sie aber sämtlich durch die Anforderungen,
die es an die geistigen und musikalischen Kräfte* des Vor-
j
— 163 —
tragenden stellt. Ein fast durchweg symphonisch gehaltenes
Werk, verlangt es von dem Spieler die unbeschränkte Herr-
schaft über das Griffbrett ebensowohl, wie die geschmeidigste
Bogenführung. Es gehört zu den schwierigsten Stücken, die es
überhaupt für die Geige giebt, und kann nur von solchen in
befriedigender Weise ausgeführt werden, die ihre Technik an
dem doppelgriffigen Spiel der Bachschen Sachen, der Solidität
der Spohrschen Schreibweise und dem geschmeidigen Passagen-
werk Ernsts gefestigt und geläutert haben. Zudem stellt es
auch an die physische Kraft und Ausdauer des Spielers ganz
enorme Anforderungen, denn es ist das längste und anstrengendste
aller Violinkonzerte. Für den NichtUngarn kommt noch die
weitere Schwierigkeit hinzu, beim Vortrag die nationale Physio-
gnomie des Konzertes zu charakteristischer Geltung zu bringen.
Sind zwar sämtliche Themen des Stückes, ohne Ausnahme,
Joachims ureigene Erfindung, so ist ihnen doch der Stempel
so echter Volkstümlichkeit aufgedrückt, dafs selbst der Kenner
sie kaum von alten ungarischen Zigeunermelodien zu unter-
scheiden vermag. Dafs das ungarische Konzert Joachims ebenso
dankbar für den Geiger wie interessant für den Musiker ist,
wird wohl jeder an sich erfahren haben, der Gelegenheit fand,
es gut interpretieren zu hören. Wäre es nicht so verteufelt
schwer, es würde ebenso oft gespielt werden und ebenso populär
geworden sein, wie nur das Mendelssohnsche oder das erste
Konzert von Bruch. So bleibt es selbst für ganz hervorragende
Violinisten eine Traube, die nur deshalb sauer befunden wird,
weil sie zu hoch hängt.
Opus 5, drei Stücke (Lindenrauschen, Abendglocken, Ballade)
für Violine und Pianoforte, sind fein empfundene Stimmungs-
bilder, die jeden geigenden Musiker interessieren müssen.
Mit Opus 9: Hebräische Melodien, und Opus 10: Varia-
tionen über ein Originalthema für Viola und Pianoforte hat
Joachim seiner Sympathie für die jetzt leider als Soloinstrument
äufser Kurs gesetzte Bratsche ebenso schönen wie vornehmen
musikalischen Ausdruck gegeben.
11*
— 164 —
Dagegen ist das Nocturno für "Violine und Orchester,
Opus 12 , ein Werk , das ganz zu Unrecht so selten gespielt
wird. Es ist ein durchweg nobles und bedeutendes Musikstück,
das nur zu lange und gleichmäfsig die trübe Nacht Stimmung
festhält. Wäre es durch einen Mittelsatz von etwas heitererem
Ausdruck oder leidenschaftlicher Bewegung unterbrochen, die
Geiger könnten sich kaum eine dankbarere Nummer für schöne
Tonentfaltung und gesangsreichen Vortrag wünschen.
In Hannover ist auch Joachims drittes Konzert, das in
G-dur, komponiert. Er hat es in den sechziger Jahren zu
wiederholten Malen öffentlich gespielt, dann aber liegen lassen.
Erst zwanzig Jahre später wurde es von ihm, hauptsächlich
auf Betreiben Bülows, wieder vorgenommen und in wesentlich
veränderter Gestalt im Druck veröffentlicht. Das Werk, dem
Andenken an Gisela von Arnim, der verstorbenen Gattin seines
Freundes Herman Grimm, gewidmet, ist zugleich ein schönes
Denkmal, das sinnige Freundestreue der edlen Frau gesetzt.
Der erste Satz ist nämlich auf das Thema eines Liedes von
Beans Beor (Bettina Brentano) *) aufgebaut , das sich in der
Erzählung „Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste
Jugendliebe" von Achim von Arnim vorfindet. Es gehört zu
Joachims schönsten und reifsten Arbeiten und stellt an den
Ausführenden fast ebenso hohe Anforderungen geistiger und
technischer Art wie das „Ungarische". Auch dieses Werk ist
durchweg symphonisch gehalten. Im ersten Satz liegt der
Schwerpunkt im Orchester, und die Sologeige findet ihre Haupt-
aufgabe darin, die Themen mit reicher Ornamentik und flüssigem
Passagenwerk geschmackvoll und sinnreich zu umspielen. Der
zweite Satz ist ein ergreifender Klagegesang im Charakter eines
Trauermarsches, gewissermafsen die Elegie auf den Tod der
heimgegangenen Freundin. In der Mitte des Stückes schiebt
sich allmählich der düstere Wolkenvorhang zur Seite, und wie
aus klarblauem Himmel senkt sich tröstend und mild eine ver-
*) Der Mutter von Gisela Grimm.
— 165 —
klärende Lichtgestalt hernieder , die uns leise zuflüstert , dafs
im Jenseits Ruh' und Frieden! Diese As-dur-Stelle gehört zu
dem Schönsten, was je für die Geige geschrieben worden ist.
Im letzten Satz mit seinen flotten, kecken Themen findet
der geistvolle Spieler reichste Gelegenheit, feurige Kühnheit zu
erweisen und mit bravourösen Terzen und brillanten Trillern
sein technisches Können in das hellste Licht zu setzen. Das
G-dur-Konzert kann Geigern, die es musikalisch und technisch
zu bewältigen imstande sind, nicht warm und eindringlich genug
empfohlen werden. Speciell die Schüler des Meisters Sollten
es sich angelegen sein lassen, das Stück nicht so oft zu
Gunsten des „Ungarischen" zu vernachlässigen.
Von den vielen Konzertreisen, die Joachim von Hannover
aus unternommen hat, fällt der weitaus gröfste Teil auf
England, wo er in den Jahren 1858, 1859 und 1862 so
glänzende Triumphe gefeiert hat, dafs er seither jedes Jahr
einige Monate während seiner dienstfreien Zeit in England kon-
zertiert. Mit seinem Erscheinen und Auftreten erreicht die
season in London erst ihren eigentlichen Höhepunkt, und die
musikliebenden Kreise Englands haben sich so an die alljährliche
"Wiederkehr von „Herr Joachim" gewöhnt, dafs sie sich eine
musikalische Wintercampagne ohne seine Beihülfe gar nicht mehr
vorstellen können. Für das Musikleben Englands ist Joachim
seit vierzig Jahren ein mindestens ebenso wichtiger Faktor, wie
er es seit nunmehr drei Jahrzehnten für die Berliner Musik-
verhältnisse geworden ist.
Der Schwerpunkt von Joachims Wirksamkeit in England hat
von jeher in seiner Eigenschaft als unerreichter Kammermusik-
spieler gelegen. Speciell in London hat er im Verein mit seinen
ausgezeichneten Genossen Louis Ries, Ludwig Straus und Alfred
Piatti so Herrliches geleistet, dafs die Entscheidung schwer
fällt, ob seinem Quartett-Ensemble in der Berliner Singakademie
— 166 —
oder dem der „Monday Populär Concerts" in London die
Palme zu reichen ist. Hierzu tritt noch der Umstand, dafs
sich Joachim durch die erste Vorführung der Werke von
Johannes Brahms das Verdienst erworben hat, für die An-
erkennung seines Freundes als epochemachenden Meisters in
England mehr gethan zu haben, als alle anderen Künstler-
vereinigungen zusammengenommen.
Von ganz besonderen Ehrungen war Joachims Erscheinen
im Frühjahr 1861 in Wien begleitet, wo er seit seiner Knaben-
zeit nicht mehr öffentlich aufgetreten war. Als zwölfjähriges
Bürschchen hatte er die Kaiserstadt verlassen, sich draufsen
im Reiche gründlich umzuthun; als Dreifsigjähriger kehrte er
nun wieder. Wie grofs auch die Hoffnungen gewesen sein
mochten, die man auf seine Zukunft gesetzt, er hat sie in einer
Weise erfüllt, welche die kühnsten Erwartungen überstieg. Eltern
und Lehrer hatten wohl gewünscht, dafs er im Laufe der Zeit
ein Virtuose, vielleicht gar ein sehr berühmter werden würde;
— sein guter Genius aber hat ihn weiter geführt und höher
gestellt, ihn einen unvergleichlichen Künstler, den gröfsten
geigenden Musiker der Welt werden lassen!
Es sei der Phantasie des Lesers anheimgestellt, sich das
Glücksgefühl auszumalen, das die Eltern Joachims empfunden
haben mögen, als sie ihren Sohn von der freudigen Begeisterung
Tausender umjauchzt sahen, und das Gefühl des Stolzes, das
die Brust seines alten Lehrers, Joseph Böhm, schwellen machte,
als er sagen durfte: Und dieser war mein Schüler!
Besser als alles andere schildert der Bericht Eduard Hans-
licks den Verlauf der künstlerischen Begebenheit.
„Das wichtigste Ereignis der abgelaufenen Woche war das
Auftreten Joseph Joachims. Vor so und so viel Jahren hatten
ihn zwar die Wiener als Wunderkind gehört, der Wundermann
war uns jedoch fremd geblieben. Wien, die Vaterstadt, wenn
auch nicht Joachims selbst, doch seiner Bildung und seines
Ruhms , hatte bereits einigen Grund , sich ob der anhaltenden
Zurücksetzung von seiten des vielgereisten Künstlers zu be-
— 167 —
klagen. Joachim, so jung er ist, gilt seit beinahe zehn Jahren
für den ersten lebenden Violinspieler, und wenn ihm hie und
da Vieuxtemps an die Seite gestellt wurde, so beweist schon
dieser Mafsstab, welch ungewöhnlicher Gröfse man sich gegen-
über fühlte. Es war dem Künstler nicht leicht gemacht, so
hochgespannten und langgenährten Erwartungen bei einem er-
fahrenen Publikum, wie das unsere, zu entsprechen. Joachim
hat es jedoch in glänzendster Weise vollbracht. Er begann
mit Beethovens D-dur-Konzert. Nach dem ersten Satze schon
mufste es jedermann klar sein, dafs man es hier nicht blofs
mit dem erstaunlichsten Virtuosen, sondern mit einer bedeuten-
den und eigentümlichen Persönlichkeit zu thun habe. Joachim
ist mit all seiner Bravour so ganz in dem musikalischen Ideal
aufgelöst, dafs man ihn eigentlich bezeichnen möchte als einen
durch die glänzendste Virtuosität hindurchgegangenen, vollendeten
Musiker. Sein Spiel ist grofs, edel, frei. Nicht der kleinste
Mordent klingt nach Virtuosentum ; was irgend im Solospiel
an Eitelkeit oder Gefallsucht mahnen kann, ist hier spurlos
getilgt. Dieser Adel künstlerischer Überzeugung tritt bei
Joachim mit solcher Macht auf, dafs man erst hinterher an die
Würdigung seiner grofsartigen Technik denkt. Welche Kraft-
fülle in dem Ton, den Joachims grofser, sicherer Bogen dem
Instrumente abzwingt! Es schien uns das erste Mal, dafs
selbst bei nachdrücklichster Behandlung der tieferen Violinlagen
keine Spur jenes eigentümlich materiellen Scharrens und
Schlürfens der Saite mitklang, welches wir auch bei den be-
rühmtesten Geigern stellenweise vernahmen. Unvergleichlich
an Reinheit und Egalität ist Joachims Triller; sein mehr-
stimmiges Spiel so verbunden zugleich und scharf gesondert,
dafs man oft zwei Spieler zu vernehmen glaubt. Im Verlauf
seiner Konzerte wird uns Joachim mit den Eigentümlichkeiten
seiner Technik noch näher vertraut machen. Nach dem ersten
Konzerte Joachims möchten wir allerdings annehmen, dafs der
Ausdruck des Grofsen, Edlen, Pathetischen der seiner Natur
homogenste sei. Ob das leichte Spiel der Anmut, der flüchtige
— .168 —
Witz, der frische Humor ihm ebenso überzeugend zu Gebote
stehen, wird er in anderen Kompositionen zeigen müssen. Das
Beethovensche Konzert, namentlich der fast improvisatorisch
freie, tiefbewegte Vortrag des Adagio, bewies die entschiedenste
Selbständigkeit der Auffassung. Unter Vieuxtemps' Bogen klang
dies Konzert glänzender, lebendiger, Joachim holte es mehr
aus der Tiefe und übertraf durch eine wahrhaft ethische Kraft
die Wirkung, die Vieuxtemps' Spiel durch hinreifsendes Tempera-
ment erzielt hat.
Die zweite Nummer war ein Spohrsches Adagio, dessen
Einförmigkeit in der markigen, dabei mannigfaltigen Spielweise
Joachims alle Schwere verlor. Am überraschendsten erschien
uns Joachim in dem Vortrag der ,Teufelssonate' von Tartini.
Wir glauben der Zustimmung der Violinspieler gewifs zu sein,
wenn wir dieses Aufgebot einer kolossalen und zugleich klassisch
geläuterten Technik bisher unerreicht nennen. Die schwierigsten
Bravouren dieses Stückes, mit deren anstandsloser Bewältigung
man sich sonst zufrieden zu geben pflegt, produzierte Joachim
nicht blofs mit sicherer Leichtigkeit, es gelang ihm überdies,
in dies brausende Tongewirr zahlreiche bedeutsame Accente
zu verteilen, ,Lichter aufzusetzen', welche dem Ganzen einen
neuen, ausdrucksvollen Charakter geben. Im ganzen ist uns
kaum ein zweiter Virtuose vorgekommen, dessen Leistungen so
vollkommen aus einem Gusse, dadurch so rein und harmonisch
in ihrer Wirkung gewesen wären.
Aus Joachims ,Konzert in ungarischer Weise' dürfen wir
wohl nur mit Vorsicht einen Schlufs auf den Umfang und die
Art seiner schöpferischen Begabung ziehen. Nicht nur ist
dieses Konzert die erste Komposition Joachims, die uns be-
kannt wurde, sie ist überdies zu umfangreich und kompliziert,
dabei durch ihr stark hervortretendes virtuoses Element zu
blendend, um in einmaligem Hören vollkommen erfafst zu
werden. Jedenfalls interessiert und beschäftigt sie den Hörer
auf das lebhafteste. Ein ganzes Konzert ,in ungarischer Weise'
zu schreiben, ist selbst für einen erfindungsreichen Tondichter
— 169 —
keine Kleinigkeit. Joachim hat die nationale Treue, das
musikalische Interesse und das Vorrecht des Virtuosen hier in
geistreicher Weise zu vereinigen getrachtet. Der erste Satz des
Konzerts, der am breitesten und reichsten ausgeführte, imponiert
durch den festgehaltenen Ton einer stolzen und fast verbissenen
Leidenschaftlichkeit ; in zügelloser Freiheit der Bewegung nimmt
er bisweilen den Charakter der Rhapsodie oder des Präludiums
an. Weniger reich in der Kombination hat uns der zweite
Satz, mit seiner tief melancholischen Klage, noch harmonischer
angesprochen und befriedigt. Auf die Elegie dieses Adagios —
gleichsam der Lassa dieses Stückes — stürzt im dritten Satz
die tolle Lustigkeit der ,Friska £ herbei. Hier sehen wir uns
in den wilden, alles mit sich fortreifsenden Tumult einer
Zigeunermusik gezogen.
Die weiteren Vorträge Joachims, wahre Riesenleistungen
einer virtuosen und doch stets sich unterordnenden Technik,
waren einige Sätze aus Seb. Bachs ,Violinsonaten c und eine
,Phantasie mit Orchester 4 von Schumann (Op. 121). Da
Joachim keine Virtuosen-Eitelkeit besitzt, so mochte es zumeist
Pietät sein, was ihn dies ebenso schwierige als unerfreuliche
Stück spielen liefs. Schumann hat es an der Neige seiner
lichten Tage geschrieben und Joachim gewidmet. Es ist ein
dunkler Abgrund, über dem zwei grofse Künstler sich die
Hände reichen. Martervoll, düster und eigensinnig ringt sich
die ,Phantasie' mit sehr geringem, melodischen Gehalt in fort-
währendem Figurieren weiter. Nur höchst selten wird das Er-
müdende dieser Erfindung durch eine geistreiche Harmonie oder
Orchestration unterbrochen. Beethovens Romanze in F-dur
(Op. 50) erinnern wir uns nicht früher öffentlich gehört zu
haben. Joachim spielte die Romanze wunderbar grofs und ruhig.
Die Melodie geigte er einfach auf der hellen E-Saite, während
wohl kein anderer Violinvirtuose sich versagt hätte, sie künst-
lich in ein tieferes Helldunkel zu ziehen. Diese schlichte,
schmucklose Grofse scheint uns der hervorragendste Zug in
Joachims Spiel. Dafs er sich damit mancher feineren, un-
1
— 170 —
mittelbar rührenderen Wirkung begiebt, verhehlen wir uns
nicht. Der grofse, pathetische Stil wird das Publikum immer
früher zur Bewunderung als zur Liebe bewegen, er beugt uns
den Nacken und kann darum nicht so schnell in unser Herz
sich stehlen. Wie in dem persönlichen Charakter der Menschen,
sehen wir in den künstlerischen Individualitäten gewisse An-
lagen fast regelmäfsig sich ausschliefsen und so gesondert grofse
Klassen von Vorzügen und Mängeln begründen. Mehr als eine
Stelle von Beethoven hätte Hellmesbergers feines , reizbares
Naturell uns unmittelbarer ins Herz gespielt als Joachims un-
beugsamer, römischer Ernst. Die Vortragsweise der beiden
verhält sich beinahe wie Weibliches und Männliches, oder um
ein musikalisches Bild zu brauchen, wie chromatisches und
diatonisches Klanggeschlecht."
4.
Marschner war 1859 mit dem Titel eines Generalmusik-
direktors in den wohlverdienten Ruhestand getreten. In seine
Stelle rückte der bisherige zweite Kapellmeister Fischer auf, und
in die dadurch entstandene Lücke wurde B. Scholz berufen 1 ).
Mit letzterem knüpfte Joachim bald freundschaftliche Beziehungen
an, denn Scholz war trotz seiner jungen Jahre damals schon
ein Künstler mit fest ausgesprochenen Kunstansichten, die sich
im wesentlichen mit denen Joachims deckten. Neben seiner
musikalischen Tüchtigkeit und geistigen Bildung schätzte Joachim
in ihm besonders den neidlosen Kollegen, dem die Sache höher
stand als die Person. In seinem Hause lernte er die Sängerin
Amalie Weifs, seine spätere Gattin, kennen.
Amalie Schneeweifs (Weifs war nur der angenommene
Btihnenname) ist am 10. Mai 1839 zu Marburg in Steiermark
als die Tochter des kaiserlichen Rates Schneeweifs und seiner
Gattin Leonore geboren. Der Vater war ein leidenschaftlicher
Musikliebhaber und pflegte als Geiger besonders das Quartett-
spiel mit hingebendem Eifer. Auch die Mutter, eine Tochter
des in den Kriegen gegen Napoleon 1805 gefallenen Obersten
*) B. Scholz, geb. 1835, lebte einige Jahre als Theorielehrer an
der königl. Musikschule in München; von 1859 — 1865 war er Hof-
kapellmeister in Hannover und siedelte dann nach Berlin über. 1871
bis 1883 dirigierte er in Breslau die Orchester- Vereinskonzerte und
leitet nun als Raffs Nachfolger das Hochsche Konservatorium in
Frankfurt a. M. Scholz ist ein ebenso vornehmer wie fruchtbarer
Tonsetzer und hat sich mit seinen den verschiedensten Gattungen an-
gehörigen Werken einen sehr geachteten Namen gemacht.
— 172 —
Lindes von Lindenau, teilte die Liebe ihres Mannes zur Musik,
war überhaupt eine Frau von hervorragenden geistigen und
menschlich schönen Eigenschaften. Bas Kind wuchs also in
einer solchen musikalischen Umgebung auf, dafs es sich gar
keiner Zeit zu entsinnen vermochte, in der nicht die Musik die
Hauptrolle gespielt hätte. Schon in frühester Kindheit stellten
sich bei dem Mädchen alle jene Anzeichen ein, die jeden anderen
Beruf, als den zur Sängerin, geradezu ausschliefsen mufsten.
Mit fünf Jahren trällerte Amalie Arien aus der „Norma" und
anderen italienischen Opern so rein und sicher nach, dafs die
Eltern sich veranlafst fühlten, ihr Singstunden geben zu lassen.
Dieser Gesangsunterricht, der vom fünften bis zu ihrem elften
Jahre währte, ist der einzige geblieben, den die herrliche
Künstlerin in ihrem Leben überhaupt genommen hat.
Die Zeit zwischen 1850 und 1853 verbrachte die Familie
Schneeweifs teils in Brück a. M. , teils in der schöngelegenen
Hauptstadt der „grünen Steiermark". Das häufige Hören guter
Musik in Graz bestärkte nun das junge Mädchen so sehr in
seinen Neigungen für die Bühne, dafs wir es als vierzehnjährigen
Backfisch schon sein erstes Engagement in Troppau absolvieren
sehen. Die nächste Saison führte die Kunstjüngerin in eine
ähnliche [Stellung nach Hermannstadt in Siebenbürgen. Hier
fand siejGelegenheit, das Theaterleben von seiner weniger ver-
lockenden Seite kennen zu lernen, denn durch das plötzliche
Verschwinden des Theaterdirektors mit der Kasse sah sie sich
eines Tages in die übelste Lage versetzt. Zwar winkte der
jungen Künstlerin sofort ein neues Engagement in Anspach,
allein es sollte gar nicht zum Antritt desselben kommen. Auf
der Fahrt, die sie mit ihrer Mutter zu Wagen durch die
ungarische Tiefebene machte, stürzte nämlich das Gefährt und
verurteilte die Reisenden zu achttägigem, unfreiwilligem Auf-
enthalt in einem abgelegenen Dorfe. In Wien angelangt, erfuhr
sie, dafs die Anspacher Stelle inzwischen anderweitig besetzt
worden war; also blieb nichts übrig, als in der Kaiserstadt
selber nach einer passenden Unterkunft Umschau zu halten.
— 173 —
Resolut und tapfer, wie gerade juüge Mädchen in schwierigen
Lagen zu sein pflegen, ging Fräulein Weifs zu Cornet, dem
Direktor des Kärntnerthortheaters , und sang diesem einige
Arien ihres Repertoires vor. Das hatte zur Folge, dafs sie
zunächst auf drei Monate für das genannte Theater verpflichtet
wurde. Aber schon nach ganz kurzer Zeit wandelte Cornet den
Kontrakt, in einen siebenjährigen um, nachdem er erst gemerkt,
welch wertvolle Acquisition er mit der jugendlichen Sängerin
gemacht hatte.
Durch eine so lange Sicherstellung schienen sich Fräulein
Weifs die schönsten Aussichten auf eine erfolgreiche Bühnen-
carriere zu eröffnen. Leider aber mufste Cornet bald darauf
aus hier nicht zu erörternden Gründen die Direktion nieder-
legen. An seine Stelle trat Kapellmeister Karl Eckert, der
aber unbegreiflicherweise das bedeutende Talent der fleifsigen
und strebsamen Künstlerin ganz unbeachtet liefs. Man beschäf-
tigte sie nur in kleinen, nebensächlichen Rollen, die ihr zwar
manche warme Anerkennung seitens des Publikums und der
Kritik eintrugen, aber keine Gelegenheit boten, ihre eminenten
gesanglichen und dramatischen Fähigkeiten zu entfalten.
Auch die Hoffnung, nach einem ungemein erfolgreichen
Gastspiel in Graz, wo sie die Lucretia, Rosina und Azucena
gesungen hatte, in Wien mit gröfseren Aufgaben betraut zu
werden, erwies sich als eitel, denn man übertrug ihr bei der
Wiederaufnahme des Freischütz die Rolle einer — Brautjungfer.
Was Wunder , dafs sich ob solcher Mifsachtung und Zurück-
setzung in der jungen Sängerin der Künstlerstolz aufbäumte
und sie in letzter Stunde „wegen Heiserkeit" ihre Absage ins
Theater schickte.
Das war nun einer von den seltenen Fällen, wo sich „der
Fluch der bösen That a in reichen Segen verwandelte, aber nicht
für unsere Künstlerin, sondern für eine andere. In der Suche
nach einem Ersatz für die heiser gewordene Kranzjungfer, er-
klärte sich eine bisher ganz unbemerkt gebliebene Choristin
bereit, die Rolle ohne weiteres zu singen und entschied damit
— 174 -
das Glück ihrer ferneren Laufbahn. Jene Choristin war die
nachmals so berühmt gewordene Gesangskünstlerin Pauline Lucca !
War nun auch ihre Zugehörigkeit zum Ensemble des
Kärntnerthortheaters eine fortlaufende Reihe von bitteren Ent-
täuschungen, so liefs sich Fräulein Weifs doch nicht entmutigen,
sondern arbeitete an ihrer künstlerischen Entwicklung rastlos
weiter. Von wesentlichster Bedeutung für ihr gesangliches
Können war der Umstand, dafs sie während der italienischen
Stagione, der am Kärntnerthortheater jedes Jahr die drei
Sommermonate gewidmet waren, die italienische Gesangsmethode
genau kennen lernte. Durch diese abwechselnde Beschäftigung
mit deutscher und italienischer Opernmusik legte sie den Grund-
stein zu ihrer späteren universellen Beherrschung der verschiede-
nen Stilarten; denn wir dürfen niemals vergessen, dafs die
Arien von Händel und Gluck zwar deutschen Geistes, aber nur
im Hinblick auf italienische Gesangskunst entstanden sind.
Während sich nun Fräulein Weifs vor der Öffentlichkeit in
Wien mit zweiten und dritten Rollen begnügen mufste, wurden'
doch Sachverständige auf ihr grofses Gesangstalent und ihre
dramatische Begabung aufmerksam. Allen voran erzählte der
ausgezeichnete Tenorist Dr. Gunz in Hannover so Rühmens-
wertes von der vielversprechenden Sängerin, dafs Kapellmeister
Scholz gelegentlich einer Reise nach Wien ermächtigt wurde,
Fräulein Weifs für die Hofbühne in Hannover zu verpflichten.
Auf der Fahrt nach der neuen Stätte ihrer Wirksamkeit
verweilte sie einige Tage in Linz, wo der seinerzeit in Hermann-
stadt durchgebrannte Direktor das Theater leitete. Um die der
Künstlerin vor sieben Jahren angethane Unbill einigermafsen
wieder gut zu machen, liefs er sie als Fides, Rosina und Romeo
gastieren. Der kolossale Erfolg, den sie als Gast mit ihren
Glanzrollen errang, bewirkte, dafs man versöhnt und in Frieden
voneinander schied.
Am 24. April 1862 trat Amalie Weifs im „Prophet" als
Fides zum erstenmal vor das hannoversche Publikum und erntete
mit ihrer gesanglichen und dramatischen Leistung so reiche
— 175 —
Beifallsehren, dafs ihr dreijähriger Engagementsvertrag sofort
perfekt wurde. Niemann, der den Johann von Leyden gesungen
hatte, war schon in der Probe, zu der er nur widerwillig er-
schien, von den eminenten Gaben der neuen Sängerin so ent-
zückt gewesen, dafs er von Stund' an zu ihren wärmsten Be-
wunderern zählte und ihr stets der neidloseste Kollege ge-
blieben ist.
Fünf Wochen später, nach einem Hofkonzert zu des Königs
Geburtstag, machte Scholz die junge Künstlerin mit dem Konzert-
direktor Joachim bekannt, der auf einige Tage von London
herübergekommen war, um das Festkonzert zu leiten, aber
sofort wieder nach England zurückreiste. Erst im darauffolgen-
den Winter sahen sich die beiden öfter im Scholzschen Hause
und wurden bald gute Freunde.
Über ihre beiderseitige künstlerische Bedeutung aber sollten
ihnen die Augen erst aufgehen, als sie am 13. Dezember 1862
in einem Symphoniekonzert der königlichen Kapelle gemein-
schaftlich vor die Öffentlichkeit traten. Fräulein Weifs sang in
demselben zuerst eine Arie aus dem Händeischen Oratorium
„Theodorä", und als zweites Stück die grofse Arie aus „Fidelio";
Joachim spielte das Konzert von Beethoven, und Scholz, der
gemeinschaftliche Freund, dirigierte. Es war ein bedeutsamer
Zufall, dafs die beiden grofsen Künstler sich gleich mit ihrem
ersten gemeinsamen Konzertieren in der Lösung solcher Auf-
gaben begegneten, die ihre Namen mit unvergänglicher Schrift
in die Geschichte der ausübenden Tonkunst eingetragen haben.
Der folgende Brief Joachims an Av6 Lallemant schildert die
Situation vollkommen und sei, weil er auch andere Vorkommnisse
von hohem Interesse beleuchtet, vollständig mitgeteilt:
„Hannover, den 81. Januar.
Lieber Av6!
Wenn ich warten soll, bis ich Dir sagen kann, ob ich
Ende April zu Euch komme, so dauert mir das zu lange, um
Dir für Deine herzlichen Briefe zu danken. Ich habe näm-
lich halb oder vielmehr a U die Idee, dafs ich Ende März
— 176 —
nach Bonn gehen werde, Ostern dort zubringen, dann nach
Florenz, und vielleicht später nach Neapel ! Aber entschieden
wird erst Ende Februars darüber. Frei bin ich Ende März :
denn mein neuer Kontrakt, den mir der König persönlich
nach meiner Kündigung an die Intendanz anbot, verpflichtet
mich blofs vier Monate jährlich (mit Beibehaltung des
Gehalts) in Hannover zu bleiben. So menschlich schön hat
sich der König persönlich benommen, so besorgt für mein
Wohl, und blofs immer betonend, dafs weder er, noch der
Geringste im Orchester mich entbehren wollten, nachdem man
sich einmal zehn Jahre an den Gedanken gewöhnt, mich hier
zu haben, dafs ich wirklich kein Herz im Leibe fühlen müfste,
sollte es nicht Eindruck auf mich machen. Und es ist doch
ein Segen für mich, dafs es so gekommen. Denke an die
Unabhängigkeit vom alltäglichen Konzerttreiben, und an den
Wirkungskreis, der mir für meine besten Kräfte geblieben!
Denn ich habe mir auch zwei Choraufführungen, regelmäfsige
Orchesterproben, und gröfsere Unabhängigkeit für die Pro-
gramme im neuen Kontrakt bedungen. Nun, mündlich
mehr über all dies; denn Du wirst doch wohl zur Faust-
Aufführung, etwa Mitte März, kommen? Stockhausen wird
den Faust singen! Ob er vorher beim Einstudieren viel
helfen wird, wollen wir dahingestellt sein lassen : Er
hatte den König zu dem Plan der Aufführung gebracht, durch
Vorschwärmen. Am 14. d. M. wollte er eintreffen, dann am
29., nun kommt wieder ein Brief, dafs er erst Anfang Februar
eintreffen würde ! Einstweilen haben Scholz und ich die erste
Probe mit der Singakademie gehalten, auch der Domchor soll
dazu genommen werden. Scholz, im Verkehr mit mir der.
unegoistischste Freund, hat von vornherein mir die Freude
zugedacht, die Sache schliefslich zu dirigieren, da er weifs,
wie nahe ich Schumanns stehe. Die geistige Arbeit des Ein-
studierens wollen wir uns teilen, und ich freue mich darauf,
denn Scholz ist ein fixer Musiker und ein nobler Mensch.
Aber Mühe wird die Sache kosten; der zweite Teil ist sehr
— 177 —
schwer, und die Kräfte sind sehr dilettantisch ! — Was soll
ich zu Eurem Plan mit Stockhausen nun eigentlich nach-
träglich noch sagen? Du weifst, ich habe die gröfste Hoch-
achtung vor Stockhausens Gesangstalent, und er ist wohl der
beste Musiker unter den Sängern; aber wie man bei der
Wahl zwischen ihm und Johannes als Leiter eines Konzert-
instituts sich für ersteren entscheiden kann, verstehe ich mit
meinem beschränkten Musikerverstand nicht! Gerade als
Mensch eben, auf den man bauen kann, steht mir Johannes
mit Begabung und Willen erst recht hoch ! Es giebt nichts,
das er nicht fassen und mit seinem Ernst erobern könnte!
Du weifst das ebenso gut wie ich — und wäret Ihr ihm mit
Vertrauen und Liebe alle im Komitee und Orchester ent-
gegengekommen (wie Du als Freund es privatim immer
thatest) , statt mit Zweifel und Protektormienen , es hätte
seiner Natur die Herbheit genommen, während es ihn bei
seinem Patriotismus für Hamburg (der fast kindlich rührend
ist) immer bittrer machen mufs, sich ( ) hintangesetzt
zu sehen. Ich darf nicht daran denken, um nicht zu traurig
zu werden, dafs seine engeren Landsleute sich das Mittel
aus der Hand gegeben haben, ihn befriedigter, milder und
in seinen genialen Leistungen geniefsbarer zu machen. Ich
möchte dem Komitee moralische Prügel (und körperliche dazu !)
geben, dafs es Dich mit Deinen Absichten im Stich gelassen
hat. Die Kränkung Johannes' wird die Kunstgeschichte
nicht vergessen! Doch basta!
In der Bewunderung der Altistin Fräulein Weifs treffen
wir wieder einmal recht zusammen, lieber Ave\ Ich meine,
man hörte es der Stimme schon an, eine wie reine, tiefe
Natur in dem Mädchen wohnt, das seit dem 18. Jahre den
Vater verloren hat, und später, Mutter und Schwester am
Totenbett pflegend, unberührt von jeder Spur des Theater-
treibens in der weltlichen Kaiserstadt geblieben ist. Da ist
die warme Kunstliebe einmal wieder recht eine Wundergabe
vom Himmel gewesen, und ich glaube, dafs das edle Mädchen
Moser, Joseph Joachim. 12
— 178 —
bei der Echtheit ihres Strebens immer Höheres erreichen
wird, sich und andern zum Trost. Bescheidenheit und Ehr-
geiz gehen aber auch hier, wie sie sollen, Hand in Hand!
Treu ergeben Dein J. J. a
Stockhausen, der sich um jene Zeit zu wiederholten Malen
in Hannover aufgehalten und alle Welt mit seiner unvergleich-
lichen Gesangskunst begeistert hatte, gewann sofort das leb-
hafteste Interesse an dem zu den schönsten Hoffnungen berech-
tigenden Talent des Fräulein Weifs. Da die Künstlerin in
Wien keine Gelegenheit gefunden, Händeische Musik kennen
zu lernen, machte er sich anheischig, mit ihr einige Partien
aus den Oratorien des gewaltigen Meisters durchzunehmen. Als
nun Stockhausen einmal verreisen mufste, bat er Joachim, ihn
während seiner Abwesenheit bei Fräulein Weifs zu vertreten.
Das führte denn bald zu einem vertrauten Verkehr zwischen
den beiden und am 11. Februar 1863 zu ihrer Verlobung.
„Darüber war nun alle Welt entzückt
Und keiner tadelte die rasche Fügung."
Am 14. April 1863, dem Geburtstage der Königin, sang
die junge Braut zum erstenmal den „Orpheus" in Glucks gleich-
namiger Oper und rifs die Zuhörer zur Bewunderung hin mit
ihrer herrlichen Kunstleistung, die in gesanglicher wie darstelle-
rischer Hinsicht gleich vollendet war. Die Königin, die an dem
Glück der beiden Verlobten innigen Anteil genommen, hatte
sich als sinnige Geburtstagsfreude ausbedungen, dafs der Bräu-
tigam die Festvorstellung leiten müsse. Also gewann jener Abend
die Bedeutung eines künstlerischen Ereignisses, das noch lange
in der Erinnerung der Beteiligten fortlebte. Das Glucksche
Meisterwerk ist übrigens die einzige Oper geblieben, die Joachim
in der Öffentlichkeit dirigiert hat.
Angesichts solcher Erfolge bedarf es kaum der Versicherung^
dafs sich Fräulein Weifs nur schweren Herzens dem Wunsche
ihres Verlobten fügte, der Bühne zu entsagen. Wenigstens er-
zählt die Künstlerin selbst, dafs sie in der Abschiedsvorstellung
als Fidelio vor innerer Erregung kaum imstande gewesen sei, ihre
— 179 —
Rolle zu Ende zu führen. Glücklicherweise aber war ihr Ab-
gang vom Theater nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von
der Kunst überhaupt, denn als die Gattin Joachims hat sie sich
als Oratorien- und Liedersängerin einen Namen gemacht, der
ihr einen Ehrenplatz unter den gröfsten Gesangskünstlern aller
Zeiten wahrt.
Am 10. Juni 1863 feierten die beiden herrlichen Künstler
im Freundeskreise ihr Hochzeitsfest.
Mit der Gründung seines eigenen Heims gestaltete sich
Joachims Leben in Hannover zu einem höchst angenehmen. Das
Königspaar überschüttete ihn und seine junge Gattin mit Huld-
beweisen, sein künstlerischer Euhm war in fortwährendem
Steigen begriffen und zahlreiche Schüler eilten herbei, um seiner
Unterweisung teilhaftig zu werden.
Als Lehrer ist Joachim Zeit seines Lebens Idealist ge-
wesen; denn niemals hat er von irgend einem seiner Privat-
schüler auch nur die geringste materielle Entschädigung für
erteilten Unterricht angenommen. Yielmehr fafste er es stets
als eine künstlerische Gewissenspflicht auf, junge Talente um
ihrer selbst willen zu fördern und fand sich hinreichend belohnt,
wenn seine Schüler nachher ihr Können in den Dienst echter
und wahrer Kunst stellten und das bei ihm Gelernte in seinem
Sinne weitervererbten.
Von Schülern, die Joachim in Hannover unterrichtet hat,
seien Leopold Auer (Petersburg), Richard Barth (Hamburg),
Bargheer (Basel), Pinelli (Rom), Fritz Strufs (Berlin), Deecke
(Karlsruhe) und Schiever (Liverpool) genannt. Dafs aber Joachim
seine Schüler nicht nur in künstlerischer Hinsicht förderte, son-
dern auch um ihr weiteres Fortkommen besorgt war, bezeugen
die beiden folgenden Briefe. Der erste ist an Lallemant in
Hamburg, der zweite an J. 0. Grimm in Münster gerichtet.
Lieber Ave',
Der junge Auer wird ja wohl zu Dir kommen, und da
ist's sicherer, Dir den inliegenden Brief für ihn anzuvertrauen,
12*
— 180 —
als poste restante zu schreiben. Wenn Du etwa für den be-
gabten Jungen etwas thun könntest, so wäre das sehr schön.
Mich dauert das junge Blut, das so in der Welt herumziehen
mufs; und der gute, alte Vater versteht den Konzertrummel
nicht einmal.
Zu meinen Bemerkungen über Stockhausen von neulich
mufs ich denn nun hinzufügen, dafs er Chorsachen mit grofsem
Enthusiasmus einstudiert. Und es hat doch einen ganz be-
sonderen Schick, wenn so ein Dirigent auch gleich mit der
Stimme zeigen kann, wie er's meint. Hat man Stockhausen
aber singen gehört, so gewinnt man ihn immer, trotz allem
was man gegen ihn hatte, wieder lieb ! A propos, meine Be-
merkungen über Fräulein Weifs bleiben ja wohl ganz unter
uns; Du verstehst so was, aber die meisten Leute könnten
meinen, ich wäre, was man so „verliebt" nennt, während, ich
nur ein ganz reines Interesse walten liefs, als ich schrieb.
Zum Faust sollst Du von Herzen willkommen sein.
Dein J. J."
„Liebster Ise,
Mama Barth ist hier — und sehr vernünftig. Sie denkt
nicht daran, dafs der Junge schon was verdienen müfste,
findet es auch natürlich, dafs seine Kleinheit ihm einiger-
mafsen für eine offizielle Konzertmeisterschaft im Wege steht.
Da ich nun positiv glaube, 1., dafs Ihr positive Freude an
dem Jungen haben würdet, und dafs dem Jungen 2. eine
praktische Orchesterthätigkeit , verbunden mit der Gelegen-
heit öfter öffentlich zu spielen, heilsam sein müfste, so gehe
ich aus meiner Defensive heraus und frage Dich aggressive:
Kannst und willst Du ihn verwenden? Bist Du nach reif-
licher Überlegung der Meinung, dafs Euch Barth (eine nicht
genug zu empfehlende liebenswürdige, echte Natur) in Eurem
Hause nicht genieren würde? Würde es Deiner Frau nicht
zu viel, das Mehr der Ausgaben aufzuschreiben und Frau
Barth zur Wiedererstattung zu behändigen ? (Ich weifs, dafs
dies ein Opfer wäre, mit solchen Plackereien behelligt zu
— 181 —
werden!) Würdest Du für die musikalischen Leistungen
Barths diesem Klavier- und Kompositionsstunden i. e. Kontra-
punkt zu teil werden lassen? Ich hielte es für ein Glück
für den jungen, mir sehr liehen Kerl, so einen Winter in
Deiner Umgebung zuzubringen. Überlege es und gieb mir
sofort Bescheid, ob ich Mutter Barth zu Dir (eventuell mit
Söhn) schicken soll.
Dein J. J. a
Alles wäre nun schön und gut gewesen, wenn sich in
gleicher Weise auch die Beziehungen zu seinem Chef, dem
Grafen Platen, gebessert hätten. Allein das gerade Gegenteil
war der Fall. Der Intendant verhielt sich Joachims künstle-
rischen Anforderungen und Wünschen gegenüber so ablehnend,
dafs der Meister zu wiederholten Malen seine Entlassung aus
dem königlichen Dienst nachsuchte. Der begütigenden Ver-
mittlung des musikliebenden Fürsten gelang es zwar immer
wieder, Joachim zum Verbleib in seinem Amte zu bewegen,
aber an ein gedeihliches Zusammenwirken der beiden Parteien
war für die Dauer doch nicht zu denken. Platens ganzes Ver-
halten ist nur so zu deuten , dafs er entweder von der künst-
lerischen Bedeutung eines Joachim keinen rechten Begriff hatte,
oder auf seine ihm durch des Königs Gunst gewordene Aus-
nahmestellung eifersüchtig war. Wie Joachim damals über
seinen Vorgesetzten dachte, geht aus dem folgenden Briefe
hervor :
„Liebster Ave'!
Ich habe mit gutem Bedacht gestern zu telegraphieren
gezögert. In der Voraussetzung, S. M. den König im Konzert
selbst zu sprechen, hoffte ich Dir zu Gefallen die Reise nach
Hamburg zum 4. noch möglich zu machen. Aber da der König
sagte, er käme den 1. von Herrenhausen zur Stadt und hoffte
recht nachzuholen, was er von Musik durch Trauer und Abwesen-
heit versäumt habe, und da ich ferner von Graf Platen, als ich
eben in die kgl. Loge trat, zugeflüstert bekam, mich selbst an
den König um Urlaub zum 26. nach Leipzig zu wenden, da er
— 182 —
es noch nicht gethan, so blieb mir nichts übrig, als herzlich
bedauernd meine Hamburger Freunde für diesmal aufzugeben.
Graf Platen hat nämlich die gütige Eigentümlichkeit, mir
gern ein ,Nein c zu sagen, und dann traut er sich dem König
gegenüber (nach Höflingsart) doch nichts zu verlangen, was
vielleicht ein angefangenes Lächeln einen Augenblick unter-
bräche ! Euch Republikanern kommt dies wohl wie Sklaven-
brut vor? Mit dirigier- und spielmüden Armen
Dein J. J. a
Die äufsere Veranlassung für Joachims thatsächlichen Rück-
tritt von seinem Amt als Konzertdirektor war ein Konflikt, der
sich zwischen ihm und Platen wegen eines Mitgliedes des Hof-
orchesters entspann. Joachim hatte bei seinem Vorgesetzten
beantragt, dafs der bisherige Hofmusikus Grün 1 ) wegen seiner
hervorragenden Leistungen zum Kammermusiker befördert werde,
als welcher er ordentliches und pensionsberechtigtes Mitglied
der Hofkapelle geworden wäre. Allein Platen machte Schwierig-
keiten und vertrat die Ansicht, dafs es ebensowohl ungesetzlich,
wie den Neigungen des Monarchen entgegen wäre, einen Juden
fest anzustellen und dadurch zum kgl. Beamten zu machen.
Auf Joachims Entgegnung, dafs man doch bei seiner Anstellung
mit lebenslänglichem Kontrakte keinerlei Bedenken wegen seiner
jüdischen Abstammung getragen habe, erwiderte der Graf, dafs
Joachims Einwände mit seinem Übertritt zum Christentum hin-
fällig geworden seien. Durch eine solche Auffassung der Dinge
glaubte sich Joachim in die Notwendigkeit versetzt, die ganze
Angelegenheit vom Standpunkt eines moralischen Prinzips auf-
fassen zu müssen; denn nichts hätte sein Feingefühl mehr ver-
letzen können, als die Annahme oder Unterstellung, dafs er um
materieller Vorteile willen seinen Glauben gewechselt hätte.
Der nachstehende Brief Joachims an Platen ist ein so
schöner Beweis seiner noblen Gesinnung, dafs dessen Mitteilung
gerechtfertigt scheint.
*) Später Konzertmeister am Hofoperntheater und Professor am
Konservatorium in Wien.
— 183 —
„Hannover, 23. August 1864.
Euer Hochgeboren Wunsch entsprechend, komme ich
schriftlich auf die mit Hoch dem selben vor Beginn der Ferien
gepflogene Unterhaltung, Herrn Grün betreffend, zurück. Ich
darf die Yersicherung geben, dafs ich seitdem die Sache oft
und gewissenhaft überdacht habe, wie Ew. Hochgeboren mir
empfahlen — ohne dafs ich indes vermocht hätte, sie in
anderem Lichte zu sehen.
Unmöglich konnte ich vergessen (und das ist's, worauf
ich nochmals besonders aufmerksam zu machen mir erlaube),
dafs Herr Grün durch mich im Auftrag der hohen Inten-
danz engagiert worden ist, mit der ausdrücklich erwähnten
Aussicht, er würde allmählich in die s. Z. durch Herrn
Kammermusikus Kömpel eingenommene Stellung vorrücken.
Könnte nun Herr Grün, ohngeachtet seiner von allen Vor-
gesetzten anerkannten trefflichen Leistungen und Pflichttreue
im Dienst, nach mehreren Jahren geduldigen Wartens, auf
meine erinnernde Bitte nicht befördert werden, weil er ein
Israelit ist, und gingen somit dadurch die von mir in
höherem Auftrage gegebenen Yersprechungen nicht in Er-
füllung, dann bliebe mir, nach meiner Auffassung von Ehre
und Pflicht, nichts anderes zu meiner Rechtfertigung übrig,
als eventuell mit Herrn Grün gleichzeitig von meinem Posten
zurückzutreten. Ohnehin würde ich, beim Beharren in meiner
jetzigen Stellung, nach Zurückweisung des Herrn Grün, die
rein persönliche Empfindung zeitlebens nicht überwinden
durch meinen früher hier erfolgten Übertritt zur Kirche Christi
in der kgl. hannoverschen Kapelle weltliche Yorteile zu ge-
niefsen, während meine Stammesgenossen in derselben eine
demütigende Stellung einnehmen."
Daraufhin erstattete Platen den folgenden Bericht an den
König :
„Eure Königliche Majestät geruhten auf meinen vor den
diesjährigen Theaterferien gehaltenen Vortrag, die von dem
Konzertdirektor Joachim verlangte feste Anstellung des im
- 184 —
hiesigen Hoforchester engagierten Violinisten Grün aas dem
Grande entschieden abzulehnen, weil er Israelit und bislang
das Prinzip beobachtet worden sei, dafs Angehörige solcher
Konfession von festen Anstellungen im Hofdienst ausgeschlossen
seien.
Ich hatte damals den Konzertdirektor von dieser Aller-
höchsten Entschlief sung neben Bezeugung des Allerhöchsten
Bedauerns, seine Verwendung nicht berücksichtigen zu können,
in Kenntnis gesetzt.
Jetzt nun erhalte ich von ihm die im Original hier bei-
gefügte Zuschrift, worin er nochmals mit dem Antrage her-
vortritt, dem p. Grün eine bestimmte Aussicht auf dem-
nächstige feste Anstellung als Kammermusikus zu eröffnen,
weil er selbst sich sonst veranlafst sehen mtifste, seine eigene
hiesige Stellung aufzugeben.
Es ist dem p. Joachim einstweilen von mir erwidert
worden, wie ich nicht unterlassen würde, Ew. Majestät diese
Angelegenheit wiederholt allerunterthänigst vorzutragen.
Das erlaube ich mir gegenwärtig in aller Ehrfurcht zu
thun, indem an Ew. Königl. Majestät ich die allerunter-
thänigste Anfrage zu richten wage, ob Allerhöchstdieselbe,
zur Vermeidung der Ausführung des von dem Konzertdirektor
gefafsten Entschlusses, vom Prinzipe des Ausschlusses israe-
litischer Konfessionisten von Anstellungen im Hofdienste ab-
zugehen geruhen wollen?
Ist dies einmal geschehen, so wird das bisherige Prinzip
für immer beseitigt sein, und das bedarf doch wohl der Über-
legung.
Wäre mir, als der p. Grün zum Engagement vorgeschlagen
worden, bekannt gewesen, dafs er Israelit sei, so würde ich
in keinem Falle darauf eingegangen sein. Nachdem der
Konzertdirektor zur christlichen Religion übergetreten war,
lag mir aber der Gedanke völlig fern, dafs er sich für einen
seiner früheren Stammesgenossen interessieren könne, da ihm
während seines hiesigen Engagements bekannt geworden sein
— 185 —
mufste, dafs Israeliten von einer lebenslänglichen Anstellung
im Hofdienst ausgeschlossen seien. u
(September 1864.)
Da die strittige Angelegenheit auf diese Weise zu keiner
Lösung gelangen wollte, so traf der König den Ausweg, Grün
zum Kammervirtuosen zu ernennen. Das war nun zwar für den
Betroffenen eine ebenso grofse wie unerwartete äufserliche Ehrung ;
da aber mit jenem Titel keinerlei Pensionsberechtigung ver-
bunden war, so erklärte sich Joachim durch den getroffenen
Ausweg für nicht befriedigt und legte am 25. Februar 1865
sein Amt mit der Begründung nieder, dafs er unter dem Inten-
danten, Graf Platen, nicht länger dienen wolle.
Zu diesem Schritt war er hauptsächlich durch das zwei-
deutige Verhalten des Intendanten veranlafst worden, der in der
Angelegenheit ein doppeltes Spiel getrieben hatte: ebenso wie
es sich später herausstellte, dafs die feste Anstellung Grüns
nicht ungesetzlich gewesen wäre, so hatte Joachim die wohl-
begründete Vermutung, dafs die Entscheidung des Königs nur
auf die Beeinflussung durch Platen zurückzuführen sei. Der
unbefangene Leser wird sich überzeugt halten, dafs Joachims
Annahme keine irrtümliche gewesen ist.
Der Humor von der Geschichte liegt darin, dafs Grün, das
Objekt des Konfliktes, für die ganze Streitfrage gar kein Ver-
ständnis gehabt zu haben scheint, denn während Joachim seine
Demission nahm, diente er ruhig als Hofmusikus mit dem Titel
eines Kammervirtuosen weiter.
Seine dadurch erlangte Freiheit und Unabhängigkeit be-
nützte nun Joachim zu fleifsigen Konzertreisen, auf denen er
in Gesellschaft seiner Gattin auch wieder einmal die französische
Hauptstadt besuchte.
Der nachstehende Brief an seinen Hamburger Freund orien-
tiert uns über seine damaligen Reisepläne:
„London, 18. Febr. 1866.
Lieber Avg, mir hat es sehr leid gethan, dafs ich Euch
für dies Jahr ausnahmsweise abschreiben mufste. Indes ist's
— 186 —
vielleicht gut, wenn das Hamburger Publikum einmal statt
,toujours perdrix' Auer als Auerhahn verspeiset! — Bis
Ende März habe ich in England zu thun, arbeite viel, habe
aber wenigstens die Genugthuung, dafs ich wirklich für die
Meinigen etwas Erkleckliches ausrichte. Wäre nur die lange
Trennung nicht! Den April und halben Mai werde ich in
Paris und den französischen Provinzen zubringen. Ich will
vier Quartette in Paris geben, auf die ich mich freue; der
Sinn für deutsche Musik ist allenthalben im Zunehmen; eine
erfreuliche Wahrnehmung.
Deine Sorge wegen Stockhausens Abgang verstehe ich.
Es ist schade, dafs er so bald die Geduld verliert; manches
Schöne hat er schnell erreichen können, viel hätte die Zu-
kunft gebracht; aber ich kann nicht urteilen, ohne seine
Gründe zu kennen. Dafs Ihr Euch nun aufrafft und dem
gröfsten Musiker unserer Tage (ich weifs, was ich
schreibe), dem Johannes Brahms aus Hamburg, die gebührende
Stellung anweiset, ist nach den philharmonischen Antecedentien
nicht wohl anzunehmen. Ein Stück Misere und Verkennung
scheint zur Entwicklung grofser Geister immer zu gehören,
und vielleicht hält das Komitee der philharmonischen Gesell-
schaft es sogar für landesväterliche Verpflichtung (wir haben
noch immer regierende Häupter genug zum nachahmens-
werten Beispiel!), der Zukunft von Brahms durch Entsagung
ein patriotisches Opfer zu bringen! — —
Dein J. J. a
In Paris erntete Joachim solche Triumphe mit seinen Vor-
trägen klassischer Meisterwerke, dafs dort lebende Musiker dem
Verfasser noch nach zwei Jahrzehnten die begeistertsten Schil-
derungen davon machten. Besonders nach der Wiedergabe des
Beethovenschen Konzerts und der Teufelssonate von Tartini
kannte der Enthusiasmus keine Grenzen; und auch hier waren
es gerade die Musiker, die den „grand et cel&bre violiniste
hongrois" am begeistertsten umschwärmten. Von den vielen
Ehrungen und Huldigungen, deren sich Joachim damals in
— 187 —
Paris zu erfreuen hatte, ist die Anerkennung Charles Gounods
die schönste, der dem Meister nach dem Konzert von
Beethoven mit den Worten die Hand drückte: „votre jeu est
si chaud et si sage en meine temps. a
Während Joachim seine Konzertausflüge in Frankreich bis
nach Bordeaux ausdehnte, war seine Gattin in Paris geblieben
und entzückte Berlioz durch den vollendeten Vortrag Gluckscher
Arien. Wer seine Memoiren gelesen hat, wird sofort begreifen,
was das zu sagen hatte.
In Hannover passierten inzwischen die merkwürdigsten
Dinge. Ein Charlatan Namens Sattler, der längere Zeit in
Amerika gelebt, Klavierspieler und nicht ohne musikalische
Fähigkeiten war, hatte Mittel und Wege gefunden, sich Zutritt
bei Hofe zu verschaffen und auch dem König vorgestellt zu
werden. In einer Abendgesellschaft von letzterem aufgefordert,
etwas auf dem Flügel zu improvisieren, flocht er in geschickter
Weise eine Melodie ein, die der musikliebende Fürst komponiert
hatte. Auf die freudig erstaunte Frage des Monarchen, ob er
auch wisse, von wem das Thema sei, das er soeben gespielt habe,
antwortete der kundige Thebaner dreist: „Ja gewifs, Majestät;
das ist eine Melodie, die bei uns drüben jedes Kind singt!"
Damit war Sattlers Stellung in der Gunst des geschmeichelten
Fürsten entschieden, und der schlaue Abenteurer zögerte nicht
lange, dieselbe für seine Zwecke auszunützen. Seine Vorschläge
und Wünsche fanden an allerhöchster Stelle so freundwilliges
Entgegenkommen, dafs man ihm beispielsweise die Leitung eines
Musikfestes in Hannover übertrug. Auch die Gründung einer
Musikschule, die Joachim bisher vergebens angestrebt hatte,
schien bereits ihrer Verwirklichung nahe, als die Entlarvung
des Schwindlers seinem Treiben ein plötzliches Ende bereitete.
Das Musikfest, das Sattler geleitet hatte, endete mit einem
kläglichen Fiasko des Dirigenten, und als es herauskam, dafs
die von ihm bei Hofe als seine Gattin vorgestellte „Dame"
nicht seine wirkliche Frau war, wurde er auf des Königs Befehl
des Landes verwiesen.
— 188 —
So standen die Sachen, als Joachim im Winter 1865 auf
1866 nach Hannover zurückkehrte, um sich einige Wochen im
Kreise seiner Familie von den anstrengenden Reisen der letzten
Zeit zu erholen. Seine Gattin hatte ihm am 12. September
1864 den ersten Sohn, Johannes, am 24. Januar 1866 den
zweiten Sprossen, Herman, geschenkt. Dem ersteren hat Brahms
seine Bratschenlieder als Patengeschenk in die Wiege gelegt,
bei dem Zweitgeborenen sind Herman Grimm mit seiner Gattin
Gisela und Bernhard Scholz die Paten gewesen. Das glück-
liche Familienleben jener Tage hat nur insofern eine Trübung
erfahren, als Joachim durch das plötzliche Hinscheiden seines
Vaters in tiefste Trauer versetzt wurde.
Als König Georg erfuhr, welch schwerer Schicksalsschlag
Joachim betroffen hatte, liefs er ihn zu sich entbieten und war
in so rührender Weise bemüht, den trauernden Sohn zu trösten,
dafs dieser heute noch die dankbare Erinnerung daran im Herzen
trägt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs gab dann der König
seinem Bedauern darüber Ausdruck, dafs Joachim nicht mehr
in seinen Diensten stehe, und meinte schliefslich, seinem Wieder-
eintritt stünde nun gar nichts im Wege, da ja Platen nicht
mehr Intendant sei. Auf Joachims Entgegnung, dafs auch noch
andere Vorkommnisse, die während seiner Abwesenheit passiert
seien, es ihm schwer machten, auf des Königs Anerbieten ein-
zugehen, antwortete dieser: „Ja, lieber Herr Joachim, ich weifs
schon, worauf Sie anspielen. Die Geschichte mit Sattler hat
mich erst recht davon überzeugt, wie nötig Sie uns hier sind.
Wären Sie bei uns geblieben, so hätten solche Dinge nicht
passieren können. Das ist nicht nur meine , sondern auch der
Königin Ansicht ! a Diese vertrauensvolle Huld des Königs und
die darin liegende Anerkennung von Joachims Verdiensten
mufsten naturgemäfs seine anfänglichen Bedenken zum Schweigen
bringen, und so erklärte er sich mit Freuden bereit, dem
Rufe des gütigen Fürsten von neuem Folge zu leisten.
Am 14. Juni 1866 waltete Joachim nach seiner Wieder-
anstellung zum ersten- und letztenmal seines Amtes in königlich
Joseph Joachim in Hannover
um 1866.
— 189 —
hannoverschen Diensten. Jenny Lind und er waren die Solisten
des denkwürdigen Hofkonzertes in der Orangerie zu Herren-
hausen, das an dem Ahend desselben Tages stattfand, an dem
in der verhängnisvollen Bundestagssitzung zu Frankfurt a. M.
die Würfel fielen, welche das Schicksal Hannovers als selb-
ständigen Königreichs besiegeln sollten. Die erwartungsvolle
Stille nach den musikalischen Vorträgen wurde nur durch das
geheimnisvolle Kommen und Gehen von Adjutanten unterbrochen,
die militärische Meldungen brachten oder leise geflüsterte Be-
fehle des Monarchen in Empfang nahmen. Plötzlich erhob sich der
König von seinem Sitz und verliefs den Saal zum Zeichen, dafs
das Konzert zu Ende sei. Die letzte Depesche hatte die Nach-
richt enthalten, dafs die Preufsen bei Minden die hannoversche
Grenze überschritten hatten. Noch in derselben Nacht fuhr
der König mit dem Kronprinzen zur Armee nach Göttingen und
übernahm den Oberbefehl. Der weitere Verlauf der geschicht-
lichen Ereignisse ist bekannt.
Nach der Kapitulation vom 28. Juni 1866, welche die Ein-
leitung zur Einverleibung Hannovers in Preufsen bildete, wurde
seitens der neuen Behörden auch an Joachim die Frage gerichtet,
ob er seine Stelle beibehalten wolle. Da er aber durch die Flucht
der königlichen Familie seinen hauptsächlichsten Wirkungskreis
verloren hatte, so glaubte er als rechtschaffener Mann auf die
Ansprüche, die ihm sein lebenslänglicher Kontrakt sicherte,
verzichten zu müssen. Er lehnte daher ab und zog es vor,
einstweilen wieder frei und unabhängig zu sein.
Abgesehen von seinen alljährlich wiederkehrenden Besuchen
in England, wo man ihn unter glänzenden Bedingungen zu
regelmäfsigem Auftreten in der season verpflichtet hatte, lenkte
nun Joachim seine Reisen in den beiden nächsten Wintern
hauptsächlich nach dem deutschen Süden. In Konzerten, die
er in Wien 1867 gemeinschaftlich mit Brahms gegeben hat,
feierte er solche Triumphe, wie sie seither wohl keinem anderen
Tonkünstler beschieden waren. Hanslick gab seiner Begeisterung
in nachfolgenden Sätzen beredten Ausdruck:
— 190 —
„Joseph Joachim, dem seilst der Neid den allerersten
Platz unter den Violinspielern nicht bestreitet, ist für uns die
Verkörperung der aufserordentlichsten und zugleich künst-
lerisch verklärtesten Virtuosität. Technisch kommt er der ab-
soluten Vollkommenheit so nahe , dafs unser Auge diese letzte
unmerkliche Distanz nicht mehr wahrnimmt. Dabei tritt der
Adel künstlerischer Weihe bei Joachim mit solcher Macht auf,
dafs man erst hinterher an die Würdigung seiner grofsartigen
Technik denkt. Wie süfs und mühelos geniefst sich das Voll-
kommene, wie schwer beschreibt es sich! Der entzückendste
Ton, der süfseste und stolzeste zugleich, der je einer Geige
entströmte; eine wunderbare und doch niemals wundersüchtige
Technik; ein Vortrag voll Adel, Geist und Empfindung — das
wären ungefähr die Grundzüge dieser musikalischen Erscheinung.
Charakteristisch für Joachim scheint mir vor allem der aus-
geprägte Zug ruhiger Gröfse, der jede seiner Produktionen
durchzieht, die Strenge und Reinheit des Stils, welche die
üppigen Reize der Virtuosität eher zu verschleiern als vorzu-
drängen trachtet. Es ist nicht möglich, Gröfseres einfacher
hervorzubringen ! a
Brahms war 1862 nach der Kaiserstadt „an der schönen
blauen Donau" gezogen und hatte daselbst als Komponist und
Klavierspieler eine so warme Aufnahme gefunden, dafs man
ihm die Leitung der dortigen Singakademie übertrug. Aber
schon 1864 legte er seine Stelle nieder, um sich in Süd-
deutschland und der Schweiz eine Zeit lang völliger Un-
gebundenheit zu erfreuen. Mit der Berufung seines Freundes
Th. Billroth nach Wien, 1867, zog es auch ihn wieder nach
der Stadt, die ihm von nun an zur zweiten Heimat werden
sollte. —
Die grofsen, stets wachsenden Erfolge, welche Joachim in
England einheimste, hatten ihn mehreremal vor die Frage
gestellt, ob er nicht besser thäte, ganz nach London überzu-
siedeln, um die Annehmlichkeiten der Weltstadt auch während
der konzertfreien Zeit zu geniefsen. Immer wieder aber zog
\
— 191 —
es ihn wie mit Zauberfäden nach Deutschland zurück, das er
als seine eigentliche künstlerische Heimat betrachtet.
Mit deutscher Kunst so innig verwachsen wie kein zweiter
ausübender Tonkünstler, sind ihm Wesen und Empfinden des
deutschen Volkes ebenso sympathisch, wie er mit dessen Sitten
und Gebräuchen innig vertraut ist. Er liebt sein zweites
Vaterland mit derselben begeisterten Hingebung wie nur irgend
einer, dessen Wiege in deutschen Landen gestanden hat. In
diesem Sinne schreibt er auch anfangs der sechziger Jahre aus
London an Lallemant:
„Nun, Du brauchst wahrlich keine Angst zu haben, dafs
ich mich allzusehr veranglisiere ; wenn ich auch lieber hier
bin als in Hannover, so vergesse ich deutsches Gemüt und
deutschen Geist zu segnen keinen Tag! London ist jetzt
ziemlich von aller Gesellschaft verlassen, aber es thut mir
gerade wohl, endlich einmal wieder in einer grofsen Stadt
zu wohnen, ohne die Furcht vor den Anforderungen der
Öffentlichkeit."
In diesen Sätzen sind alle Beweggründe ausgesprochen, die
Joachim veranlafsten, nicht nur in Deutschland wohnen zu bleiben,
sondern nun, da er durch keine Stellung mehr an Hannover
gebunden war, nach einer gröfseren Stadt überzusiedeln.
Die Stadt, wo er hoffen durfte, einen seinen künstlerischen
Neigungen und Wünschen zusagenden Wirkungskreis zu finden
oder vielmehr, wo er Aussicht hatte, sich einen solchen zu
schaffen , war Berlin, die nach den kriegerischen Erfolgen der
letzten Jahre so rasch aufblühende preufsische Hauptstadt.
Im Herbst 1868 bewerkstelligte er mit seiner Familie, die
am Geburtstage Franz Schuberts, dem 31. Januar 1868, durch
die Geburt seiner ältesten Tochter, Marie, vermehrt worden war,
den Umzug nach der Stadt, deren vornehmste Künstlergestalt
er seit nunmehr drei Jahrzehnten ist.
VI.
Berlin.
9
Moser, Joseph Joachim. 13
igilfrXjie preufsische Hauptstadt wäre zn wiederholten Malen
|KwJ() in der Lage gewesen, in der Musikgeschichte eine be-
^£Z° deutsame Rolle zu spielen, wenn man es verstanden
hätte, bereits ansässigen Tonkünstlern einen ihrer Bedeutung
entsprechenden Wirkungskreis zu schaffen, oder andere Musiker
von Ruf und Ansehen an ihre Mauern zu fesseln, als sich die
schönste Gelegenheit dazu bot.
Die erste Unterlassungssünde von grofser Tragweite findet
eine gewisse Rechtfertigung in dem Umstand, dafs nach dem
Siebenjährigen Kriege die Staatskassen so erschöpft waren, die
Bürgerschaft so schwere Opfer an Geld und Gut gebracht hatte,
dafs die paar hundert Thaler jährlich , die ausgereicht hätten,
Philipp Emanuel Bach, den Vater der neueren Instrumental-
musik, Berlin zu erhalten, nicht aufgetrieben werden konnten.
Der Sohn des gewaltigen Johann Sebastian, der bis dahin „der
Berliner Bach" geheifsen hatte, mufste 1767 den Wanderstab er-
greifen, um an einem anderen Orte sein Fortkommen zu suchen,
Nach der Stadt, die ihn bis zu seinem Tode gastlich be-
herbergte, führt er fortab die Bezeichnung „Hamburger Bach" *).
') In welchem Ansehen der Schöpfer der neueren Sonatenform
schon bei seinen Zeitgenossen stand, beweist der Ausspruch Joseph
Haydns: „Was ich weifs, das habe ich dem Philipp Emanuel Bach
zu verdanken!"
18*
— 196 —
Ebenso liefs man eine zweite Gelegenheit, Berlin auch in
musikalischen Dingen zu jenem Ansehen zu erheben, dessen es
sich in wissenschaftlicher Beziehung längst erfreute, unbenutzt
verstreichen, obzwar nach den Begeisterungstagen der Freiheits-
kriege die günstigsten Vorbedingungen auf dem Wege lagen.
Fichtes „Reden an die deutsche Nation" hatten ihre Wirkung
nach oben so verfehlt, als ob sie niemals gehalten worden wären.
Man liefs die eminenten Fähigkeiten und Kräfte des Schöpfers
der 1812 in Berlin mit grofsem Erfolge zur Aufführung ge-
langten Oper „Silvana" völlig unbeachtet, und während das
Volk sich an seinen Melodien zu Körners „Leyer und Schwert"
begeisterte, wurde Spontini in die oberste musikalische Stellung
am preufsischen Hofe berufen. Man stattete ihn mit künst-
lerischen Machtbefugnissen und einem so hohen Gehalt aus, wie
sie bislang keinem deutschen Tonkünstler gewährt worden
waren. Erst als 1821 „der Freischütz" im Berliner Opern-
hause mit beispiellosem Erfolg in Scene ging, wurde man sich
über die Bedeutung Carl Maria von Webers klar. Aber man
liefs ihn ruhig in seiner Stellung in Dresden, obschon er für
Berlin zu haben gewesen wäre, wenn die mafsgebenden Kreise
den guten Willen dazu verspürt hätten.
Noch schlimmer ist es um die „Kurzsichtigkeit" bestellt,
mit der man die Unterhandlungen, die Mendelssohns Berufung
nach Berlin zum Gegenstand hatten, zum schliefslichen Scheitern
brachte. Ein wahrer Ingrimm mufs den Kunstfreund erfassen,
wenn er den einfachen und klaren Forderungen, die Mendels-
sohn an seine Anstellung in Berlin knüpfte, den verzwickten
Weiterungen der mit den Verhandlungen betrauten Räte ent-
gegenhält 1 ). Da Mendelssohns Wünsche nach geebneten Ver-
hältnissen, „die es jedem guten Musiker möglich machen
sollten, sich für die Sache zu interessieren", nicht erfüllt
*) Siehe Mendelssohns Briefe aus den vierziger Jahren an seinen
Bruder Paul, an Geheimrat von Massow etc., die den genannten
Gegenstand behandeln.
— 197 —
wurden, so zog er es in seinem gerechten Ärger über die vielen
Gutachten und Konferenzen, die die verschiedenen Instanzen
von ihm verlangten, vor, die Leitung der Gewandhaus-Konzerte
beizubehalten und mit der Gründung des Konservatoriums Leipzig
auf Jahrzehnte hinaus zum musikalischen Vorort Deutschlands
zu machen.
Gewifs haben einzelne preufsische Herrscher der Musik
warme Sympathien entgegengetragen, so besonders Friedrich
der Grofse, der sich in hervorragender Weise ausübend mit ihr
beschäftigte; dann auch Friedrich Wilhelm IY. — Allein es
wurden jene Mafsnahmen verabsäumt, die einer That gleich-
gekommen und für die Bedeutung Berlins als Musikstadt von ent-
scheidender Wichtigkeit gewesen wären. Das war um so be-
dauerlicher, als es unter allen Künsten gerade die Musik ist,
durch welche sich Deutschland seit zwei Jahrhunderten der
unbestrittenen Hegemonie über alle Kulturstaaten der Welt er-
freut.
Auch der Adel, der in anderen Ländern den Künsten
ein ebenso eifriger wie einflufsreicher Beschützer war, verhielt
sich den musikalischen Bestrebungen in Preufsen gegenüber so
gleichgültig und kühl, dafs Max von Weber in der Biographie
seines Yaters sagen durfte: „Wie die Bedeutung der norddeut-
schen Aristokratie für die Entwicklung von Kunst, Wissenschaft
und Gemeinsinn fast Null ist, so knüpft sich in Österreich an
jede civilisatorisch bedeutende That fast immer der Name eines
der grofsen Adelsgeschlechter!"
Da auf diese Weise die Tonkunst auf eine thatkräftige
Unterstützung von oben verzichten mufste, so blieb sie zur
Hauptsache auf die Förderung angewiesen, die ihr aus den
Schichten der Bevölkerung entgegengebracht wurde. Das, was
Privatkreise und Vereine für das musikalische Leben Nord-
deutschlands, speciell in Berlin, gethan, ist so schwerwiegend,
dafs dadurch die Leistungen des Staates auf diesem Gebiete
völlig in den Schatten gestellt werden. Die 1791 von Fasch
gegründete „Sing- Akademie", der 1847 ins Leben getretene
— 198 —
„Sternsche Gesang-Verein", dem 1850 das „Sternsche Kon-
servatorium" auf dem Fufse folgte, die „Berliner Symphonie-
kapelle" unter Liebig und das „Bilsesche Orchester" sind so
sprechende Beweise für den regen Sinn und das liebevolle Ver-
ständnis, das die bürgerlichen Kreise den musikalischen Be-
strebungen entgegentrugen, dafs von einer wahrhaft volkstüm-
lichen Pflege der Tonkunst in Berlin gesprochen werden kann,
der kaum eine andere Stadt etwas Ähnliches an die Seite zu
stellen hat.
Die 1842 gestifteten Symphoniesoiröen der königlichen
Kapelle unter W. Taubert haben zwar auch ihren Anteil an
dem Berliner Musikleben. Sie wandten sich jedoch wegen der
verhältnismäfsig hohen Eintrittspreise mehr an die wohlhabenderen
Gesellschaftskreise , und ihre Programme berücksichtigten die
zeitgenössischen Komponisten allzu spärlich. Erst in den
letzten Jahren haben die Symphoniekonzerte des königlichen
Opernhauses einen solchen Aufschwung genommen, dafs sie nun
zu einem wesentlichsten Faktor des Musiktreibens der Haupt-
stadt geworden sind.
Wie einfach das musikalische Leben in Berlin noch anfangs
der sechziger Jahre war, geht schon aus der blofsen Thatsache
hervor, dafs in einem ganzen Jahre kaum so viele öffentliche
Konzerte stattfanden, als jetzt innerhalb eines Monates. Unter
diesen müssen die Orchesterkonzerte, welche Robert Radecke mit
der Liebigschen Kapelle veranstaltete, besonders genannt werden.
Ist es doch Radecke, dem die Berliner die Bekanntschaft mit
den Orchesterwerken Robert Schumanns zu verdanken haben,
die selbst nach dem Tode dieses Komponisten für die könig-
liche Kapelle immer noch nicht vorhanden waren.
Von grofsen ausübenden Tonkünstlern waren nur zwei,
Hans von Bülow und Ferdinand Laub, mehrere Jahre in Berlin
ansässig; indessen gelang es keinem von beiden, einen ihren
Neigungen und Fähigkeiten zusagenden Wirkungskreis zu finden.
Bülow gab Klavierunterricht und Laub Violinstunden am Stern-
schen Konservatorium. Der gewaltige böhmische Geiger ver-
— 199 —
anstaltete zwar in Gemeinschaft mit Robert Radecke, Richard
Wtierst und Dr. Bruns auch öffentliche Quartettabende und mit
Bülow und dem Cellisten Wohlers Triosoirgen; seine offizielle
Stellung aber war die, dafs er im königlichen Opernhause die
Violinsoli — bei Ballettaufführungen zu spielen hatte! Der
Schlendrian und die Schlafmützigkeit des damaligen Berliner
Musiklebens müssen in der That herzerquickend gewesen sein.
Auch fremde Virtuosen kamen nur selten, und selbst die
berühmteren erzielten keine bedeutenden Einnahmen. H. Ehrlich
erzählt, dafs er 1865 gerade bei Joachim zu Besuche war, als
ihm der Hauswart der Singakademie die Abrechnung seiner
Konzerte überbrachte. „Der unvergleichliche Künstler lächelte,
schüttelte den Kopf und meinte: ,Das war in Wien doch
anders'. tt
Wie aber Berlin nach dem Feldzug von 1866 eine immer
zunehmende Bedeutung in politischer Hinsicht gewann, so machte
auch das musikalische Leben der Residenz rasche und erfreuliche
Fortschritte. Mehrere hervorragende Musiker liefsen sich zu
längerem Aufenthalt in Berlin nieder, und auch die Besuche
auswärtiger Berühmtheiten wurden häufiger. Von ersteren seien
nur Clara Schumann, J. Stockhausen und B. Scholz genannt;
von letzteren Brahms und später Wagner. Während jedoch
die genannten Künstler auf das Musikleben der Hauptstadt nur
einen vorübergehenden Einflufs ausgeübt haben, bezeichnet die
Übersiedelung Joachims dahin einen Markstein und Wende-
punkt zugleich in der Entwicklung Berlins zur ersten Musik-
stadt Deutschlands.
Schon nach dem erstmaligen Auftreten Joachims in Berlin
hatten gewichtige Stimmen dem Wunsche Ausdruck gegeben,
dafs dieser aufserordentliche Künstler um jeden Preis für die
Hauptstadt gewonnen werden möchte. Dieser Wunsch fand
nach den wiederholten Besuchen Joachims in den fünfziger und
sechziger Jahren immer zahlreichere und eifrigere Vertreter, bis
man endlich nach seiner Niederlassung in der Residenz direkte
Unterhandlungen mit ihm einleitete, die 1869 mit der Gründung
— 200 —
der königlichen Hochschule für Musik ihren erfreulichen Ab-
schlufs fanden.
Von seiten der Regierung lag anfänglich die Absicht vor,
grofse Konzertaufführungen mit den vorhandenen Mitteln des
königlichen Opernhauses unter Heranziehung von Privatkräften
zu veranstalten, die Joachim leiten sollte; man kam also ge-
wissermafsen auf die Projekte zurück, die seinerzeit den Aus-
gangspunkt für die Verhandlungen mit Mendelssohn abgegeben
hatten. Da es aber bei der Realisierung dieser Pläne nicht
ohne jene Kompetenzstreitigkeiten abgegangen wäre, die Mendels-
sohn zur Ablehnung der angetragenen Stellung veranlafst hatten,
so verblieb es zunächst bei der Gründung einer „Lehranstalt
für ausübende Tonkunst" mit der Ernennung Joachims zum
Direktor derselben. In der Folge hoffte man dann mit selbst-
gezogenen Kräften künstlerisch abgerundete Aufführungen zu-
wege zu bringen.
Neben Joachim war man bemüht, auch andere Musiker von
Ansehen und Bedeutung zur Mitarbeiterschaft an dem neu-
gegründeten Institut zu gewinnen. Leider aber zerschlugen
sich die Verhandlungen mit Frau Schumann, Brahms, Stock-
hausen, Chrysander und anderen, so dafs die Hochschule im
Herbst 1869 nur mit Instrumentalklassen ins Leben trat, die
sich auf den Unterricht im Violin-, Violoncello- und Klavierspiel
beschränkten. Die Lehrkräfte, mit denen die Anstalt eröffnet
wurde, waren: Joachim, de Ahna und Schiever für die Geige,
W. Müller (Violoncello), Ernst Rudorff, A. Dorn und Haupt für
Klavier und Orgel, B. Härtel (Musiktheorie); am 1. Januar 1870
trat Friedrich Kiel als Lehrer für Komposition hinzu.
Gleichzeitig begann Joachim mit Schiever, de Ahna und
Müller seine Quartettabende in der Singakademie, über die
jedoch erst später ausführlich gesprochen werden soll.
Die Hochschule hatte ihr erstes Sommersemester noch nicht
beendigt, als der Krieg mit Frankreich ausbrach. Während
nun auf französischem Boden die gewaltigen Schlachten ge-
schlagen wurden, die als herrlichste Errungenschaft die Einigung
— 201 —
der deutschen Stämme und die Wiederaufrichtung des Reiches
zur Folge hatten, stöhnte man in der Heimat unter dem Druck,
den der Kultusminister H. von Mühler mit seinen reaktionären
Bestrebungen auf das Geistesleben des preufsischen Volkes
ausübte.
Joachims Anstellung als Direktor der Hochschule sicherte
ihm kontraktlich das Vorschlagsrecht in der Berufung von Lehr-
kräften; überdies hatte er sich ausbedungen, dafs keinerlei
Veränderungen künstlerischer Art in den Einrichtungen der von
ihm geleiteten Anstalt ohne sein Einverständnis vorgenommen
werden durften. Als nun Mühler über Joachims Kopf hinweg
Rudorff aus hier nicht zu erörternden, persönlichen Gründen
seines Lehramtes enthob, fand sich Joachim in seinen ihm zu-
stehenden Rechten so verletzt, dafs er dem Minister erklärte,
er würde, wenn die Absetzung Rudorffs nicht rückgängig ge-
macht würde, selber seine Entlassung nehmen und den Sach-
verhalt an den in Frankreich weilenden König berichten.
In einem Briefe vom 19. Dezember 1870 schrieb er an
Lallemant über das Ergebnis seiner Beschwerde:
„Der König hat auf meine Eingabe mir die freundlichsten
Gesinnungen durch seinen geheimen Kabinetssekretär schreiben
lassen: er könne mir meine Entlassung nicht geben, da das
junge Institut meiner ,be währten 4 Leitung nicht entbehren
dürfe; ich möchte bei Ausfüllung der durch den Minister
verursachten Lücke im" Lehrerpersonal mich nur durch mein
Pflichtgefühl leiten lassen, ,ohne Rücksicht auf die
letzten persönlichen Vorgänge 4 ; der Schule solle
künftig gröfsere Selbständigkeit in der Verwaltung eingeräumt
werden etc. etc. — Ist das nicht herrlich von dem tapferen
alten Herrn ? Wir müssen nun sehen, was Herr von Mühler
darauf thut, da ich die Wiederanstellung Rudorffs unbedingt
verlangen mufs. Wie ich des Königs Worte deute, erwartet
er das auch."
Der Konflikt, der sich in der Angelegenheit entsponnen
hatte, spitzte sich so zu, dafs Joachim sich weigerte, ferner mit
— 202 —
dem Minister persönlich zu verhandeln. Es wurde deshalb ein
Kuratorium, bestehend aus den Herren von Keudell, Löper und
Kiel eingesetzt, das den amtlichen Verkehr in Sachen der
Hochschule zwischen Joachim und Mühler und umgekehrt ver-
mittelte. Die Streitfrage endigte übrigens mit einem vollstän-
digen Siege Joachims, denn sein Antrag auf Rudorffs Wieder-
anstellung wurde von König Wilhelm huldvollst genehmigt und
damit die Berechtigung seiner Forderungen rückhaltlos an-
erkannt.
„Der Kladderadatsch", der den Konflikt in allen seinen
Phasen begleitet und mit zahlreichen Epigrammen glossiert hatte,
sang am 15. Januar 1871 :
„In Nibelungen Weise."
„Uns ist von einem Fiedler erzählt in alten Sagen,
Der mit dem Fiedelbogen der Helden viel erschlagen,
Nicht Wamms noch Eisenpanzer kunnten ihm widerstehn,
Vor seines Bogen Streichen mufsten sie in die Breste gehn.
So wird man einstmals preisen den Fiedler Joachim;
Was keinem nie gelungen, das ist gelungen ihm:
Des Feindes Wamms mit Schrecken durchhieb er ganz und gar,
Ob es gleich siebenfellig und schier gefeit von Zauber war.
Der Zauber ist gebrochen, kein Balsam nimmer wirkt;
Der Feind vor Schmerz sein Antlitz in der Frawe Busen birgt.
Dahin ist seines Armes einstmals so wuchtige Macht —
Das hat mit seiner Fiedel der Geiger Joachim vollbracht."
Mit dem Abgang des Ministers von Mühler 1872 waren
die Kinderkrankheiten des so schüchtern ins Leben getretenen
Instituts der Hauptsache nach überstanden. Durch die Schaffung
von Unterrichtsklassen für sämtliche Orchesterinstrumente, die
Berufung Adolf Schulzes zum ersten Gesanglehrer und die bald
darauf erfolgte Gründung des Vokalchores waren die Vor-
bedingungen zu einer schnelleren Entwicklung und umfangreicheren
Wirksamkeit gegeben.
Der Eintritt Philipp Spittas in den Lehr- und Verwaltungs-
körper trug ein weiteres zum raschen Aufblühen der Anstalt
— 203 —
bei. Wie Joachim, der unerreichte Dolmetsch unserer klassi-
schen Meister, als derjenige anzusehen ist, der die künstlerischen
Tendenzen der Schule nach aufsen hin verkörpert, so war ihm
Spitta der treueste Helfer und Berater in all den Fragen, wo
die endgültige Entscheidung künstlerischer Angelegenheiten nur
auf Grund eingehender Forschung und musikgeschichtlichen
Wissens getroffen werden kann. War er also gewissermafsen
Joachims Generalstabschef auf der Hochschule, so verband ihn
im aufseramtlichen Verkehr die innigste und treueste Freund-
schaft mit dem Meister.
Die Hochschule war im September 1869 mit 19 Schülern
eröffnet worden ; schon drei Jahre später betrug die Anzahl der
Studierenden über 100 und stieg bis zum Jahre 1890 allmählich
auf 250. Wie es einerseits im Interesse der Anstalt liegt, den
Hauptwert auf die Qualität ihres Schülermaterials zu legen, so
verbieten andererseits die vorhandenen Unterrichtsräume und
Lehrkräfte bis auf weiteres die Einstellung eines gröfseren Schüler-
kontingentes. Überdies ist der von der Behörde bewilligte Aus-
gabenetat so genau festgestellt, dafs ein Überschreiten desselben
nur in ganz seltenen Fällen stattfindet. Wollte und könnte man
den Schülerandrang zu Beginn eines jeden neuen Semesters in
vollem Umfang berücksichtigen, so würde die Anstalt längst
schon eine dreimal so starke Frequenz zu verzeichnen haben.
Im Mai 1873 fand die erste öffentliche Aufführung der
Hochschule unter hauptsächlichster Verwertung der von ihr
herangebildeten Kräfte statt. Die Leistungen des Orchesters
hatten sich von vornherein der freundlichsten, zum Teil geradezu
enthusiastischen Aufnahme in weiteren Kreisen des gebildeten
Publikums zu erfreuen. Besonders erregte der Streicherchor
mit der glänzenden Ausführung der Fuge aus dem Beethoven-
schen C-dur-Quartett, Op. 59, einen wahren Begeisterungsjubel.
Die Gleichmäfsigkeit in der künstlerischen Ausbildung, die
stramme geigerische Disciplin, die die jungen Leute als zu-
— 204 —
sammengehörig beherrscht, der unbedingte Glaube an das hohe
Künstlertum ihres Vorbildes, die hingebende Liebe, mit der sie
ihm jeden Wunsch und Wink an den Augen ablesen, all das
bringt Darbietungen zuwege, die mit der Bezeichnung „Glanz-
thaten" nicht zu hoch bewertet scheinen.
Der Chor, der anfänglich wegen der numerischen Schwäche
seiner Mitglieder einen schwierigeren Stand hatte, mufste sich
seine Rangstellung schon schwerer erkämpfen. Es dauerte aber
nicht lange und auch er konnte sich der höchsten Anerkennung
derjenigen rühmen, die an seine Leistungen einen vorurteilslosen
Mafsstab legten.
Für die musikverständigen Kreise, die unbefangenen Sinnes
jedem Parteigetriebe fernstanden, waren die Hochschul-Auf-
führungen, deren etwa 35 bis zum Jahre 1883 stattfanden, eine
Quelle erhebender und mächtig nachwirkender Kunstgenüsse.
Die sorgfältig vorbereiteten Darbietungen, die stilgerechte Ein-
heitlichkeit, mit der die grofsen Werke unserer Heroen aus-
geführt wurden, die Lust und Liebe, mit der die jugendlichen
Scharen ihrem kunstbegeisterten Führer Folgschaft leisteten,
haben jenen Konzerten mehr als nur eine vorübergehende Be-
deutung verliehen. Sie sind für manche Vereine Berlins und
gar viele in anderen Städten Deutschlands vorbildlich geworden
und haben somit in segensreicher Weise die Hoffnungen ver-
wirklicht, die man seiner Zeit an die Berufung Joachims ge-
knüpft hatte.
Was den am 1. Oktober 1884 geschaffenen a capella-Chor
der Hochschule anlangt, so glaubt der Verfasser der Zustimmung
aller Kunstverständigen sicher zu sein, wenn er dessen Leistungen
nicht nur als mustergültige, sondern, selbst auf den Verdacht
hin, pro domo zu schreiben, für unerreicht in deutschen
Landen hält.
Wie schon bei der Darstellung des „Mühler-Konfliktes" er-
wähnt, besitzt Joachim das Vorschlagsrecht in der Berufung
von Lehrkräften an die Hochschule. Er hat dasselbe stets nach
bestem Wissen und Gewissen ausgeübt, mit vollständiger Zurück-
— 205 —
setzung persönlicher Wünsche und Neigungen. Gerade dieser
Umstand aber hat ihm die heftigste Gegnerschaft vieler Musiker
eingetragen, die in ihrem Selbstgefühl darauf gerechnet haben
mochten, von Joachim zur Mitarbeiterschaft an dem neu-
gegründeten Institut herangezogen zu werden.
Zunächst war es die Anstellung Rudorffs, die ihnen zum
Vorwand für ihr feindseliges Verhalten der Hochschule gegen-
über diente. Der Verfasser trägt sich nun mit der Hoffnung,
durch völlige Klarlegung des Sachverhalts die endgültige Richtig-
stellung der Angelegenheit bewirken zu können und damit die
Verdächtigungen aus der Welt zu schaffen, denen die Betroffenen
so lange ausgesetzt waren.
Bekanntlich hat man Rudorffs Berufung mit seinen freund-
schaftlichen Beziehungen zur Familie des Herrn von Mühler in
Zusammenhang gebracht und es Joachim verübelt, dafs er sich
auf diese Weise einen Mitarbeiter octroyieren liefs, dessen künst-
lerische Fähigkeiten allein keine genügende Erklärung für die
Übertragung eines so gewichtigen Postens abgegeben hätten.
Dem gegenüber ist zunächst festzustellen, dafs Rudorff als
Zwölfjähriger schon die Bekanntschaft Joachims im Hause von
Wilhelm Grimm gemacht hat, wo et ihm im Dezember 1852
einigemal vorspielte. Die warme Anerkennung, die Joachim
den Leistungen des Knaben spendete, sind die hauptsächlichste
Veranlassung geworden, dafs Rudorff später die Musik zum Lebens-
beruf erwählte. Dem herzlichen Freundschaftsverhältnis, das sich
alsbald zwischen den beiden herausbildete, hat Joachim dadurch
auch äufserlichen Ausdruck verliehen, dafs er Rudorffs Sextett
zu wiederholten Malen öffentlich spielte, wie es ihm überhaupt
grofse künstlerische Befriedigung gewährte, sich mit dem jungen
Freunde häufig zu gemeinschaftlichem Musizieren zu vereinigen.
Rudorffs musikalische Frühreife, durch eine umfassende Geistes-
bildung unterstützt, die er sich auf den Universitäten von Berlin
und Leipzig angeeignet hatte, die Vielseitigkeit seiner künst-
lerischen Interessen und Fähigkeiten lassen es demnach be-
greiflich erscheinen, dafs Joachim bei der Gründung der Hoch-
— 206 —
schule sein Augenmerk in erster Linie auf diesen richtete.
Durch seine zahlreichen Konzerte mit Stockhausen, seine Thätig-
keit in Köln als Lehrer am Konservatorium und Dirigent des
von ihm gegründeten Bach-Vereins, sowie durch die von ihm
veranstaltete erste Partiturausgahe der Weberschen Euryanthe,
hatte er sich überdies einen klangvollen Namen in weiteren
musikalischen Kreisen gemacht. Aber Rudorff fand an seinem
"Wirkungskreise in Köln solche künstlerische Befriedigung und
fühlte sich in seiner rheinischen Stellung so wohl, dafs er
Joachims Ruf zur Mitarbeiterschaft an der Hochschule zunächst
ablehnte. Da aber Joachims Versuche, Brahms oder Frau
Schumann für die Schule zu gewinnen, keinen Erfolg hatten,
so richtete er den folgenden Brief an Rudorff:
„Berlin, 18. Juni 1869.
Verehrtester Freund.
Den Brief von Frau von Mühler, der diese Zeilen be-
gleitet, habe ich schon einige Tage in Händen. Er ist auf
meinen Wunsch geschrieben, weil ich in meinen Gedanken
immer wieder auf das Wünschenswerte für die Sache, ja auch
für Sie (verzeihen Sie mir!) zurückkomme, dafs Sie sich an
unseren Plänen beteiligen. Eine Entschuldigung habe ich
dafür, zum zweitenmal zu kommen: was vorigen Monat noch
unbestimmte Form hatte, naht Ihnen jetzt in festerer Organi-
sation. Ich bin verpflichtet, eine Klasse für Instrumental-
musik (d. h. für die Reproduktion derselben) zu gründen,
habe dafür eine lebenslängliche Anstellung (die ich nicht
einmal nachgesucht) und kann sogar mitteilen, dafs ich vor-
läufig de Ahna und den Cellisten vom Müller-Quartett (Wil-
helm Müller) als Mitlehrer gewonnen. Daraus sehen Sie,
dafs es Ernst ist, wie ich denn den Eifer des Ministers nicht
hoch genug anschlagen kann.
Ich würde mich nun aufserordentlich freuen, wenn es
Ihnen noch nachträglich erspriefslich scheinen könnte, sich
zu uns zu gesellen: als mein Vertreter in den alljährlich
wiederkehrenden Urlaubsmonaten für England, als Oberlehrer
— 207 — ,
für das Klavier und Meister fürs Partitur spiel. Wir wollten
ein gutes, kollegialisches Leben führen und auch schöne
Kammermusik gemeinschaftlich zu Gehör bringen. — Dies
vorläufig als positive Anerbietung; aber es wird hoffentlich
mit der Organisation eines Konzertorchesters nicht gar zu
lange dauern, und dann findet sich noch manche anregendere
Beteiligung für Sie.
Und glauben Sie mir, dafs nicht purer Egoismus mich
antreibt, Ihnen ein zweites Mal zu schreiben: ich kann es
nicht ohne Besorgnis sehen, dafs Sie sich so hartnäckig gegen
die Vorteile eines geistigen Mittelpunktes, wie Berlin, ver-
schliefsen. Ich will nicht dozieren, aber aus Erfahrung mit-
teilen, wie schmerzlich ich bisweilen bedauere, zu lange in
Hannover geblieben zu sein. Zudem würde Ihnen ja durch
einen (wir wollen sagen zweimonatlichen) Urlaub im Sommer
Zeit genug zu unabhängigem Einsammeln und Phantasieren
geboten. — Und wie würden sich Ihre Eltern, die so rührend
ihre Einmischung zu eigenen Gunsten von der Hand weisen,
freuen ! — Aber verzeihen Sie, dafs ich so weit mit Zureden
gehe; ich werde wenigstens auch das einfachste ,Nein' als
Beharren bei Ihren Ansichten und Plänen freundschaftlichst
verstehen. Ihr
Joseph Joachim."
Daraus geht doch wohl mit unwiderlegbarer Deutlichkeit
hervor, dafs die Berufung Rudorffs lediglich auf Erwägungen
künstlerischer Art zurückzuführen ist, vor allen Dingen aber,
dafs sie auf den ausdrücklichen Wunsch Joachims erfolgte, der
der festen Überzeugung war, in ihm einen wertvollen Helfer
und künstlerischen Glaubensgenossen zu gewinnen. Der Um-
stand, dafs Joachim sich hierbei auch der Unterstützung der
Frau von Mühler bediente, kann an dieser Thatsache nichts
ändern.
Während man aber die Anstellung Rudorffs in erster Linie
Herrn von Mühler in die Schuhe schob, wurde die Berufung
Schutzes und Spittas ausschliefslich auf das Konto Joachims gesetzt.
— 208 —
Den „Gymnasiallehrer" Spitta betrachteten die erbeinge-
sessenen Musikschriftsteller als einen Eindringling, dem Joachim
in unfafsbarer Verblendung und krassester Unwissenheit eine
so günstige Position geschaffen hatte, dafs er von zwei Ber-
liner Lehrstühlen gleichzeitig seinen dilettierenden Neigungen
auf dem Gebiete der Musikwissenschaft frönen konnte.
Es liegt weder in der Absicht des Verfassers, noch würde
es in den Rahmen seiner Darstellung passen, die Anzapfungen,
deren Gegenstand der berühmte Bach-Biograph war, einer ein-
gehenden Würdigung zu unterziehen. Vielmehr sei es der Ein-
sicht des Lesers überlassen, sich auf Grund nachstehender An-
gaben und Fingerzeige sein eigenes Urteil über den Haupt-
schreier in dieser Sache, Herrn August Reifsmann, zu
bilden.
In den Chrysanderschen „Jahrbücher für Musikwissenschaft"
(Bd. II, 1867) hat Heinrich Bellermann, der genaue Kenner der
alten Musik, Reifsmanns „Allgemeine Geschichte der Musik"
(Bd. I, 1863) einer ausführlichen Besprechung unterworfen,
deren Ergebnisse geradezu vernichtend sind. Der Beurteiler
hat mit so zwingender Beweisführung dargethan, dafs Reifsmann
sich der gröbsten Fehler und UnZuverlässigkeiten, Entstellung
wissenschaftlicher Thatsachen und falscher Deduktionen schuldig
gemacht, überdies ein Plagiator der allerschlimmsten Sorte ist,
dafs der Unbefangene sich ohne Bedenken sagen mufs: Der
wenigstens hat keine Berechtigung, Männer wie Chrysander und
Spitta des wissenschaftlichen Dilettantismus zu zeihen, da er
selber in keiner Weise den Anforderungen gerecht wird, die an
einen Mann der Wissenschaft gestellt werden müssen!
Was nun die „Beleuchtung" Joachims durch Herrn Reifs-
mann betrifft, so geht diese von der Beschuldigung aus, dafs
Joachim „einer nicht gerade edlen Kameraderie" huldige, indem
er durch das häufige Vorführen Brahmsscher Werke zum ein-
seitigen Parteimann geworden sei, der sich, „getreu dem dilet-
tantischen Zuge unserer Tage seinem Musikheiligen mit Leib
und Seele ergeben habe!" — Solcher Unsinn erledigt sich von
— 209 —
selbst, denn die Folge hat gelehrt, wie gerechtfertigt Joachims
unentwegtes Eintreten für Brahms gewesen ist. Gerade diesen
Umstand wird ihm die Kunstgeschichte als eine seiner segens-
reichsten Thaten sicherlich hoch anrechnen.
In ähnlicher Art wurde die Anstellung Schulzes erörtert
und er sowohl wie Joachim in mafsloser Weise befehdet. Haupt-
sächlich ereiferte man sich über die Thatsache, dafs bei den
öffentlichen Konzerten der Hochschule die Männerstimmen des
Chores durch eine Anzahl von Domsängern verstärkt wurden
und im Orchester einige Lehrer mitwirkten. Betrachten wir
uns die Sache näher.
Man wird sich erinnern, dafs bei den Verhandlungen, die
seitens der Regierung mit Joachim geführt wurden, um den
Meister für das Musikleben der Hauptstadt zu gewinnen, der
Gedanke, künstlerisch abgerundete Aufführungen grofser Werke
zu Wege zu bringen, eine wichtige Rolle gespielt hat. Es kam
also in der Folge nicht nur darauf an, die Leistungsfähigkeit
der Hochschule in das hellste Licht zu setzen, sondern zugleich
schwierige und umfangreiche Werke in einer Weise heraus-
zubringen, wie sie mit den vorhandenen Mitteln der Privat-
vereine nicht zu ermöglichen war.
Es sei hier nur an die Aufführung der Bachschen Matthäus-
Passion erinnert, für welche in der Garnisonkirche eine zweite Orgel
aufgestellt wurde, Joachim 8 oder 10 Oboen d'amore aufzutreiben
wufste, und Blasinstrumente zur Verwendung kamen, die heut-
zutage nicht mehr in Gebrauch sind. Auch die Aufführung der
Johannes-Passion, im Sommer 1894, war eine solche, wie sie
jedenfalls noch nicht da war und nicht leicht wiederkommen
dürfte. Der Verfasser und sein Kollege Rudolf Lentz hatten
sich für dieselbe der Mühe unterzogen, das Viola d'amour-Spiel
zu erlernen, der Cellist Leo Schrattenholz das der Gambe u. s. w.
War diese Aufführung auch keine öffentliche, so haben doch
die Mitwirkenden und 700 — 800 Zuhörer erfahren, wie ein
solches Werk in ursprünglicher Besetzung wirkt.
Moser, Joseph Joachim. 14
— 210 —
Die Heranziehung einiger Domsänger zur Ausgleichung der
Stimmenverhältnisse im Chore ist daher nicht von solchem
Belang, um die Leistungen der Schule, wenn sie buchstäblich
nur auf der Verwertung eigener Kräfte beruhten, in Zweifel zu
ziehen. — Ebenso hat man dem Umstand, dafs im Orchester
bei den Aufführungen einige Lehrer mitspielten, eine Bedeutung
zugemessen, die ihm gar nicht zukommt. Bei einem 50—60
Köpfe starken Streicherchor kann die Mitwirkung von drei oder
vier Lehrern nicht von so ausschlaggebender Wichtigkeit sein,
um die Anfeindungen zu rechtfertigen, mit denen man die Hoch-
schule in dieser Hinsicht bedacht hat. Selbst jetzt, wo die
Konzerte des Instituts nicht mehr in der grofsen Öffentlichkeit,
sondern vor geladenen oder sich um den Zutritt bewerbenden
Zuhörern stattfinden, spielen zeitweise einige Lehrer im Orchester
mit aus reiner Lust am Musizieren und um sich das Vergnügen
zu gönnen, unter Meister Joachim an der Ausführung eines be-
deutenden Werkes beteiligt zu sein.
Auch Richard Wagner konnte es sich nicht versagen, dem
früheren Parteigänger einen freundlichen Grufs und Glückwunsch
zum Antritt seines neuen Amtes ins Stammbuch zu schreiben.
In seinem geistvollen Aufsatz „Über das Dirigieren" heifst es
am Schlüsse:
„Wie ich erfahre, ist unter den Auspizien der königlichen
Akademie der Künste und Wissenschaften in Berlin eine ,Hoch-
schule der Musik 4 gegründet und die oberste Leitung der-
selben dem berühmten Violinisten Herrn Joachim bereits an-
vertraut worden. Eine solche Schule ohne Herrn Joachim zu
begründen, wo dieser zu gewinnen war, hätte jedenfalls als
bedenklicher Fehler erscheinen müssen. Was mich für diesen
hoffnungsvoll einnimmt, ist, dafs allem nach, was ich über sein
Spiel erfahren habe, dieser Virtuos genau den Vortrag kennt
und selbst ausübt, welchen ich für unsere grofse Musik fordere ;
somit dient er mir, neben Liszt und den zu seiner Schule Ge-
hörigen, als einziger sonst mir bekannt gewordener Musiker,
auf welchen ich für meine obigen Behauptungen als Beweis und
— 211 —
Beispiel hinweisen kann. Es ist hierbei gleichgiltig , ob es
Herrn Joachim, wie ich andererseits erfahre, verdriefslich ist,
in diesen Zusammenhang gestellt zu werden ; denn für das, was
wir wirklich können, kommt es schliefslich nicht in Betracht,
was wir vorgeben, sondern was wahr ist. Dünkt es Herrn
Joachim nützlich, vorzugeben, er habe seinen Vortrag im Um-
gange mit Herrn Hiller oder R. Schumann so schön ausgebildet,
so kann dies auf sich beruhen, vorausgesetzt, dafs er nur immer
so spielt, dafs man daraus den guten Erfolg eines mehrjährigen
vertrauten Umganges mit Liszt erkennt. Auch das dünkt mich
vorteilhaft, dafs man bei dem Gedanken an eine ,Hochschule
für Musik* sogleich den Blick auf einen ausgezeichneten Künstler
des Vortrages geworfen hat : wenn ich heute einem Theater-
kapellmeister begreiflich zu machen hätte, wie er etwas zu
dirigieren habe, so würde ich ihn immer noch lieber an Frau
Lucca, als an den verstorbenen Kantor Hauptmann in Leipzig,
selbst wenn dieser noch lebte, verweisen. Ich treffe in diesem
Punkte mit dem naivsten Publikum und selbst mit dem Ge-
schmacke unserer vornehmen Opernfreunde zusammen, indem
ich mich an denjenigen halte, der etwas von sich giebt und
von dem wirklich etwas uns zu Ohr und Empfindung dringt.
Bedenklich würde es mir aber dennoch erscheinen, wenn ich
Herrn Joachim, in der Höhe auf dem kurulischen Sessel der
Akademie, so ganz nur mit der Geige allein in der Hand ge-
wahren sollte , da es mir überhaupt mit den Geigern so geht,
wie Mephistopheles mit den ,Schönen', welche er sich ,ein für
allemal im Plural' denkt. Der Taktstock soll ihm nicht recht
pariert haben; auch das Komponieren scheint ihn mehr ver-
bittert als andere erfreut zu haben. Wie nun die ,Hochschule'
allein vom Hochstuhle des Vorgeigers aus zu dirigieren sein
soll, will mir nicht recht zu Sinn. Sokrates wenigstens war
nicht der Meinung, dafs Themistokles , Kimon und Perikles,
weil sie ausgezeichnete Feldherren und Redner waren, auch den
Staat zu seinem glücklichen Gedeihen zu leiten im stände ge-
wesen wären; denn leider konnte er an ihren Erfolgen nach-
14*
- 212 —
weisen, dafs dieses Staatsregieren ihnen selbst sehr übel bekam.
Doch ist dies vielleicht bei der Musik anders. — Nur eines
macht mich wieder bedenklich. Man sagt mir, dafs Herr
Joachim, dessen Freund J. Brahms alles Gute für sich aus
einer Rückkehr zur Schubertschen Liedermelodie verhoffe, seiner-
seits einen neuenMessias für die Musik überhaupt erwarte.
Diese Erwartung sollte er doch füglich denjenigen tiberlassen,
welche ihn zum Hochschulmeister machten! Ich dagegen rufe
ihm zu: Frisch daran! Sollte es ihm selbst begegnen, der
Messias zu sein , wenigstens dürfte er dann hoffen , von den
Juden nicht gekreuzigt zu werden!"
Offenbar hatte Wagner mit diesen Auslassungen die Ab-
sicht, seiner Schrift eine Coda von aktuellem Interesse anzu-
hängen. Das ist ihm denn auch zweifellos gelungen; nur steht
der Schlufspassus in keinem Verhältnis zu den sonstigen Aus-
führungen seines Artikels, der für jeden Musiker eine Fülle
von ausgezeichneten Ratschlägen und beherzigenswerten Winken
enthält. Was kann der Ausfall gegen die Geiger für einen
anderen Sinn haben, als den, dafs Wagner ihnen, allen mit-
einander, die Fähigkeit bestreitet, gröfsere Chor- und Orchester-
massen zu leiten!
Ein flüchtiger Blick in die Musikgeschichte belehrt uns
ohne weiteres , dafs es zu allen Zeiten Dirigenten — auch
solche allerersten Ranges — gegeben hat, die von Haus aus
Geiger waren. Es ist auch gar kein Grund, einzusehen, wes-
halb gerade Geiger nicht im stände sein sollten, sich ein Kunst-
werk geistig so vorzustellen und innerlich zu verarbeiten, dafs
sie demselben an der Spitze von Chor und Orchester eine
künstlerisch abgerundete Wiedergabe sichern können. So sind
Spohr und Habeneck sicherlich Geiger gewesen, und doch singt
Wagner an mehr als einer Stelle in seinen Schriften deren be-
geistertes Lob als Orchesterleiter.
Weitaus natürlicher ist es vielmehr, Musiker, die mit den
Orchesterinstrumenten von Haus aus vertraut sind und die
nötigen Fähigkeiten zum Lesen und Verstehen von Partituren
— 213 —
mit sich bringen, an das Dirigentenpult zu stellen, als Klavier-
spieler, die in der Kegel keine Ahnung von dem komplizierten
Apparat des Orchesters haben. Und wenn auch in letzter Zeit
mehrere Klavierspieler hervorragende Dirigenten geworden sind
— wie beispielsweise Bülow einer der glänzendsten des Jahr-
hunderts — , so verdanken sie das nicht etwa ihren pianisti-
schen Antecedentien, sondern besonderen Anlagen, mit denen
sie von der Natur ausgestattet waren. Auf alle Fälle aber ist
es besser, wenigstens ein Instrument — gleichviel welches —
gründlich zu beherrschen, als, wie es bei Wagner der Fall
war, keines !
Hätte "Wagner Joachim einmal dirigieren sehen und darauf-
hin erklärt, es sei mit seinen Kapellmeistereigenschaften übel
bestellt, dann würde ein solcher Ausspruch als die Meinung
eines sachverständigen Beurteilers ernst zu nehmen sein. So
aber müssen seine Bemerkungen über Joachim unter die Rubrik
„geistreichelnde Redensarten" verwiesen werden.
Die in Berlin ansässigen „Wagnerianer" hatten nun alle.
Mufse, die von ihrem Meister in die Wege geleiteten An-
zapfungen Joachims weiter zu betreiben. Der Hinweis auf
Brahms bot ihnen die geeignetste Handhabe dazu. Sie stempelten
ihn zum „Antiwagnerianer" und behandelten ihn als solchen,
weil er der Wagnerschen Sache nicht mehr dieselben Vorspann-
dienste leisten wollte, wie in früheren Jahren.
Im Kapitel „Hannover" ist ausführlich davon die Rede ge-
wesen, dafs es hauptsächlich die rücksichtslose Propaganda der
Lisztianer und Wagnerianer war, die Joachim veranlafst hatte,
seine Absage an die „Neudeutschen" zu richten. Aber zum
„Anti wagnerianer" war er deshalb noch lange nicht geworden.
Sonst hätte er doch wohl auf der Hochschule nicht ganze Akte
aus dem „Lohengrin" und „Fliegenden Holländer" aufgeführt,
würde er in Konzerten derselben nicht die Faust-, Tannhäuser-
und Meistersinger-Ouvertüren und das Siegfried-Idyll von Wagner
dirigiert haben.
Vor der gewaltigen Künstlererscheinung des Bayreuther
— 214 —
Meisters im ganzen hat Joachim stets einen tiefen Respekt ge-
habt, und seine kunsthistorische Bedeutung weifs er so gut zu
würdigen, wie nur irgend einer. Aber für die Einzelheiten
seiner Kunst behält er sich dasselbe Recht der freien Meinungs-
äufserung vor, das er jedem anderen schaffenden Musiker gegen-
über zur Anwendung gebracht hat, über den die Akten noch
nicht geschlossen sind. Und wenn einer sich die Fähigkeit be-
wahrt hat, die Sache von der Person zu trennen, so ist es
Joachim. Schreibt er doch anfangs der siebziger Jahre an
Lallemant:
„Der Wagner-Kultus ist hier lange nicht so grofs, wie
z. B. in Wien; die Ovationen sind von seiner Partei aus-
gegangen. Enthusiasmus war aber in keiner Weise beim
grofsen Publikum für ihn zu spüren. Dafs man aber einen
so hervorragenden Mann nicht ignoriert, finde ich ganz in
der Ordnung. Ich mufs meine Berliner gegen Dich ver-
teidigen! Dem Schlendrian der hiesigen Dirigenten gegen-
über thut das Wagnersche sorgfältige Einstudieren einer
Beethovenschen Symphonie ordentlich wohl, und. das ist's, was
hauptsächlich bei seinem Hiersein Wirkung machte. Der
Kerl empfindet doch ein Musikstück lebendig und hat die
Dirigentengabe , das dem Orchester . mitzuteilen , an dessen
Spitze er ein ganzer Mann ist ! Wäre er so bescheiden, wie
er tüchtig ist, es wäre schon ganz recht. Leider ist das
allerdings nicht der Fall!"
Das ist der Standpunkt eines ehrlichen Mannes, der das
Gute anerkennt, wo es ihm begegnet, der sich aber zugleich
auch das Urteilsvermögen bewahrt hat, Tadelnswertes mit dem
richtigen Namen zu bezeichnen. Und wie im Leben, so in der
Kunst: für die reichen Schönheiten mancher Wagnerschen
Werke hat Joachim einerseits so viel bewundernde Anerkennung
übrig, dafs nur der bare .Unverstand ihm die Freiheit bestreiten
kann, andererseits viele Stellen in seinen späteren Musikdramen
öde und langweilig, unschön, ja abscheulich zu finden. Also
— 215 —
fort mit der Verdächtigung Joachims als Antiwagnerianer !
Sie kommt einer Entstellung der Thatsachen gleich. —
Es bleibt noch zu betonen übrig, dafs Joachim und die
Hochschule all diesen Anfechtungen gegenüber beharrlich ge-
schwiegen und nicht einen Augenblick die vornehme Zurück-
haltung aufgegeben, die sie bei ihren Mafsnahmen stets beobachtet
haben. Vornehm war dieses Verhalten unter allen Umständen,
ob aber klug, darüber kann man verschiedener Ansicht sein.
Dafs man die Deppesche Broschüre gegen die Hochschule keiner
Entgegnung für wert erachtete , kann weiter nicht wunder
nehmen. Wufsten doch die beteiligten Kreise gleich beim Er-
scheinen des Pamphlets, dafs Deppe *) nur ein Strohmann, der
eigentliche Autor desselben aber in ganz anderen Kreisen zu
suchen und zu finden war.
Was aber die übrigen Angriffe betrifft, so neigt der Ver-
fasser sich der von den beiden gröfsten schriftstellernden
Musikern Deutschlands praktisch geübten Auffassung zu, dafs
ein lustiger Federkrieg Meinungen und Ansichten zu rascherem
Durchbruch verhilft, als das gottergebene Zuwarten auf das
Schiedsrichteramt der Zeit.
Indessen hat das Verhalten der Schule die unleugbare That-
sache für sich, dafs man gegenwärtig in tiberwiegenden Kreisen
des Publikums und der Presse die Leistungen und Resultate
der Anstalt ruhiger und besonnener beurteilt, ja, dafs der Haupt-
sache nach ein Umschwung zu Gunsten der Hochschule zu kon-
statieren ist.
Der Verfasser möchte nun aber keinesfalls zu dem Ver-
dachte Anlafs geben, als ob er die Einrichtungen der Hoch-
schule samt und sonders für so vollendete und einwandsfreie
hielte, dafs nicht über dieselben diskutiert werden könnte.
Vielmehr ist er der Ansicht, dafs die Anstalt an gar manchen
*) Siehe auch H. v. Bülows Briefe und Schriften Bd. III, wo
S. 387 zu lesen ist: „, Manns contra Wagner 4 , das ist doch wahrlich,
wie ,Deppe contra Joachim 4 , selbst vom liberalsten Standpunkte aus
nur als polizeiwidrig zu bezeichnen!"
— 216 —
Unvollkommenheiten leidet, die verbesserungsfähig oder reform-
bedürftig sind. Allein wo in aller Welt wäre eine Institution
zu finden, die, von Menschenhänden geschaffen, den Anforde-
rungen aller in gleicher Weise entspräche! Die Ausführungen
des Verfassers sollten blofs dem Zwecke dienen, ungerechtfertigte
Anfeindungen abzuweisen oder auf ihren wahren Wert zurück-
zuführen. Dazu veranlafste ihn die Erkenntnis, dafs der weit-
aus überwiegende Teil jener Angriffe nicht der Sache galt, sondern
vielmehr den Persönlichkeiten, die mit ihr in Verbindung standen. —
Mitte 1882 wurden die bisher selbständig nebeneinander
wirkenden Abteilungen der Hochschule, nämlich die für Kom-
position mit Friedrich Kiel als Direktor und die für ausübende
Tonkunst mit Joachim an der Spitze , zu einem Ganzen ver-
schmolzen. Das Institut gliedert sich seither in vier Unter-
abteilungen: für Komposition, für Gesang, für Orchesterinstru-
mente und für Klavier und Orgel. Die Vorsteher der betreffen-
den Sektionen und der Chef der Verwaltung (Spitta) bildeten
das Direktorium der Anstalt. Bis zum Jahre 1895 wechselte
der Vorsitz im Direktorium alljährlich unter den verschiedenen
Abteilungsvorständen in alphabetischer Ordnung. Gegenwärtig
aber ist Joachim wieder alleiniger Direktor der Hochschule.
In die durch das Ableben Friedrich Kiels frei gewordene
Stellung eines Vorstehers der Kompositionsabteilung wurde am
1. Oktober 1885 Heinrich Freiherr von Herzogenberg berufen.
Gesundheitsrücksichten zwangen ihn jedoch, schon anfangs 1887
sein Lehramt aufzugeben, das nun Woldemar Bargiel, dem Stief-
bruder von Clara Schumann, übertragen wurde. Als auch dieser
1897 starb, trat Herzogenberg von neuem an die Spitze der
Kompositionsklasse an der königlichen Hochschule , zu deren
vornehmsten Zierden er gegenwärtig gehört und es hoffentlich
noch lange bleiben wird.
Im Jahre 1883 beschlofs das Direktorium, die bisherigen
öffentlichen Konzerte in Aufführungen (Vortragsabende) vor ge-
ladenen Zuhörern umzuwandeln. Zu diesem Entschlufs sah man
sich durch die Erwägung veranlafst, dafs Orchesterleistungen
— 217 —
von stets gleichbleibender Güte und Abrundung nur dann zu
ermöglichen sind, wenn der Bestand der Orchestermitglieder ein
wenigstens einigermafsen stabiler ist. Was den Streicherchor
betrifft, so ist der fortwährende Wechsel, dem er jedes Semester
durch den Abgang einer Anzahl von Schülern unterworfen ist,
nicht von ausschlaggebender Wichtigkeit; bei der numerisch
starken Besetzung desselben bleibt immer ein Stamm von
tüchtig geschulten Kräften übrig, der das Hinzutreten neu ein-
gestellter Rekruten ganz gut vertragen kann. Bei den Bläsern
jedoch, wo jedes Instrument nur einfach besetzt ist, macht sich
der beständige Wechsel in der empfindlichsten Weise fühlbar.
Es ist ja ganz natürlich, dafs auch die Bläser, wenn sie es bis
zu einer gewissen Leistungsfähigkeit gebracht haben, danach
trachten, sobald als möglich in eine praktische Orchesterthätig-
keit zu kommen. Ist aber für die durch ihren Abgang ent-
standenen Lücken kein brauchbarer Ersatz vorhanden, so mufs
der Orchesterleiter seine Sisyphus-Arbeit von vorne beginnen,
kann also nicht immer künstlerisch abgerundete Darbietungen
zuwege bringen.
Der Umstand, dafs gegenwärtig die Hochschule ihre Ver-
anstaltungen nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfinden läfst,
darf aber nicht etwa zu der Annahme führen, als ob deren
Leistungen unzulängliche geworden wären. Im Gegenteil ! Eine
grofse Anzahl jener Vortragsabende bringt, wenn das vorhandene
Schülermaterial ein günstiges ist, Darbietungen von solcher
Vollendung zuwege, dafs sie den höchsten Anforderungen ge-
recht werden, die an Schtileraufführungen überhaupt gestellt
werden können.
Und wenn ausnahmsweise die Hochschule mit einem Wohl-
thätigkeitskonzert vor die grofse Öffentlichkeit tritt, wie im
Jahre 1897 zum Besten der durch Wassersnot heimgesuchten
Schlesier, wo das Brahmssche Requiem aufgeführt wurde und
Joachim mit dem Schülerorchester das Beethovensche Konzert
spielte, so werden auch Gegner, wenn sie ehrlich sind, vor
solchen Leistungen respektvoll den Hut lüften müssen.
— 218 —
Es dürfte schwer fallen, für die hingebende Treue und ge-
wissenhafte Pflichterfüllung, mit der Joachim vom Tage der
Gründung bis auf die heutige Stunde dem Ausbau und der
Entwicklung der Hochschule seine besten Kräfte gewidmet
hat, ein auch nur annäherndes Beispiel an die Seite zu
stellen. Nur der lauterste Idealismus und das freudige Be-
wufstsein, Gutes und Segenbringendes zu stiften, können die
aufopfernde Mühewaltung erklären , die er an seine Schöpfung
gewendet hat. Sie hat ihm in der Freiheit seiner Bewegung
und der unbeschränkten Verwertung seiner Zeit solche Fesseln
auferlegt, dafs selbst nahestehende Freunde und Kunstgenossen
kein genügendes Verständnis dafür gewinnen können. Während
andere Künstler den gröfsten Teil ihrer Mufse zu produktivem
Schaffen oder weit ausgedehnten Konzertreisen benützen, die
ihnen Ruhm und Geld in schwerer Menge eintragen, ist Joachim
den gröfsten Teil des Jahres an seine Stellung in Berlin ge-
bunden und verwertet blofs seine drei winterlichen Urlaubs-
monate zu Konzertzwecken.
Dafs nicht die Höhe des Gehaltes, das er vom Staate be-
zieht, ihn bestimmt, solche Opfer zu bringen, leuchtet ohne
weiteres ein, wenn man bedenkt, dafs er sich mit Konzerten in
einer Woche bequem ebensoviel erspielen könnte, als ihm seine
Stellung als Hochschuldirektor im ganzen Jahre einträgt. Und
dafs es nicht Titel und Auszeichnungen, Ämter und Würden
sind, um derentwillen er seine Aktionsfreiheit aufgegeben hat,
bedarf bei der vornehmen und schlichten Denkweise gerade
dieses Künstlers keiner besonderen Auseinandersetzung. Es
bleibt also nur die reine Liebe zur Sache und das völlige Auf-
gehen in seiner, einer Mission gleichkommenden Thätigkeit übrig,
um eine so seltene Uneigennützigkeit erklärlich zu machen.
Dafür kann er aber auch mit stolzer Befriedigung auf die
glänzenden Resultate blicken, die seine Lehrthätigkeit an der
Hochschule gezeitigt hat. Von den berühmtesten Pädagogen
des Violinspiels kann keiner auf eine solche Reihe trefflicher,
zum Teil ausgezeichneter Schüler blicken, wie Joachim. Wie
— 219 —
er durch sein persönliches Wirken im Konzertsaal vorbildlich
geworden ist für jeden ausübenden Tonkünstler, der seinen
Beruf von einem höheren, idealen Standpunkt auffafst, so hat
er der Kunst des Violinspiels im verflossenen halben Jahr-
hundert geradezu den Stempel seiner Individualität aufgedrückt.
Durch seine Schüler hat er überdies für einen Nachwuchs ge-
sorgt, der seine Lehren bis tief ins nächste Jahrhundert hinein
weiter vererben und auch späteren Geschlechtern noch zum Be-
wufstsein bringen wird, dafs sie „seines Geistes einen Hauch
verspürt haben".
Es sei dem Verfasser gestattet, hier eine fachmännische
Erörterung einzuflechten, die in dem Rahmen seiner Darstellung
nicht fehlen darf.
In weiteren Kreisen des musikliebenden Publikums, ja selbst
in solchen, die Joachim nahe stehen, spricht man häufig von
einer „Joachimschen Schule" in dem Sinne, als ob er der
Gründer einer neuen oder besonderen Art des Violinspiels wäre.
Das ist richtig und unrichtig zu gleicher Zeit. Unrichtig in-
sofern, als die Spielweise Joachims, d. h. seine Art der mechanisch-
technischen Behandlung der Geige, keineswegs von ihm erfunden,
sondern auf die Lehre Joseph Böhms zurückzuführen ist, die
wieder in den Traditionen der klassischen französischen Geiger-
schule wurzelte. Verfolgen wir Joachims künstlerische Ahnen
über Böhm, der ja ein Schüler Kodes war, weiter zurück, so
kommen wir über Viotti, Pugnani und Somis direkt auf Corelli,
den ehrwürdigen Begründer der römischen Geigerschule. In
dieser Hinsicht kann man also nicht von einer „Joachimschen
Schule" reden, sondern nur von einer Verpflanzung der klassi-
schen italienisch-französischen Traditionen, die auf dem Umweg
über Wien nun in Berlin ihren vornehmsten und bedeutendsten
Vertreter gefunden haben. Das ist von ausschlaggebender Wich-
tigkeit für die Beurteilung von Joachims Spielweise und der
seiner Schüler, da man diese ganz irrtümlicherweise als „deutsche
Schule" der modernen französisch-belgischen gegenüberstellt.
Der Unterricht Joachims im Violinspiel beruht auf den
— 220 —
Überlieferungen der durch das Dreigestirn „Viotti-Rode-Kreutzer B
repräsentierten klassischen französischen Schule, die wieder auf
das Vorbild zurückführt, das in dem bei canto der alten italie-
nischen Meister gegeben war. Und wie im heutigen Italien
Palästrina, Corelli und Tartini für das Musikleben des Landes
so gut wie tot und vergessen sind, so haben sich auch im
gegenwärtigen Frankreich die Spuren fast vollständig verloren,
die von der einstigen Gröfse und Bedeutung der Kunst des
französischen Violinspiels beredtes Zeugnis abgeben könnten.
Wie in vorigen Jahrhunderten deutsche Musiker scharen-
weise nach Italien pilgerten, um an der Wiege der Instru-
mentalmusik das Wesen ihres Berufes gründlich kennen zu
lernen, so kommen nun italienische und französische Kunst-
jünger nach der deutschen Hauptstadt, um bei Joachim zu er-
fahren, in welcher Weise ihre Vorväter die Kunst des Geigens
betrieben hatten.
Wohl aber ist es richtig, Joachims Namen mit der Be-
gründung einer neuen Ära des Violinspiels in Zusammenhang zu
bringen, insofern als er das von seinen Ahnen überkommene
Rüstzeug höheren Zwecken unterthan gemacht, es mit einem ganz
anderen Gehalte: seinem bis in die tiefsten Tiefen dringenden
musikalischen Geist, erfüllt hat. Er ist der Erste gewesen, der
die Geigerei nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern sie
in den Dienst einer idealeren Sache, in den der Kunst, gestellt
und damit seinen Beruf von einem handwerksmäfsig körper-
lichen zu einem innerlich geistigen emporgehoben hat. Auf
diese Weise hat er in seiner Sphäre etwas Ähnliches vollbracht,
wie die grofsen schaffenden Meister unseres Vaterlandes, die
die von Italien überkommenen Formen mit deutschem Geist und
Gemüt, deutscher Tiefe und Innerlichkeit erfüllt haben.
Und wie er der Erste war der Zeit nach, so ist er bis
auf den heutigen Tag auch der Gröfste geblieben, nicht nur
auf seinem enger begrenzten Gebiete als musikalischer Geiger
und geigender Musiker, sondern im ganzen Bereich der aus-
übenden Tonkunst überhaupt. Tausig hat das mit den Worten
— 221 —
ausgesprochen: „Was der aus der Tiefe einer Beethovenschen
Komposition zu Tage fördert, das bringt kein anderer zu-
wege ! a
Um nun dem Leser eine annähernde Vorstellung von der
reichen Lehrthätigkeit zu geben, die Joachim an der Hoch-
schule entfaltet (Privatunterricht hat er in Berlin niemals er-
teilt), hat der Verfasser unter seinen Schülern — etwa 300
im ganzen — eine Blumenlese *) veranstaltet, die zugleich den
künstlerischen Einflufs veranschaulicht , den er durch seine
Jünger auf das Musikleben der Gegenwart ausübt.
I. Damen:
1. Dora Becker, Amerika.
2. Emma Borchardt (f), Berlin.
3. Nora Clentsch, England.
4. Eleonore Jackson, Amerika.
5. Geraldine Morgan, New- York.
6. Maude Powell, Amerika.
7. Betty Schwabe, Berlin.
8. Shinner-Liddell, London.
9. Soldat-Roger, Wien.
10. Gabriele Wietrowetz, Berlin.
IL Herren:
1. Arbos, Lehrer am Royal College, London.
2. Bandler, Konzertmeister, Hamburg.
3. Beel, Virtuose, San Francisco.
4. Bild, Virtuose, Paris.
5. Blankensee, Konzertmeister, Nürnberg.
6. Bleuer (f), Konzertmeister, Berlin.
*) Der Verfasser bittet die übrigen Schüler Joachims, die in diesem
Verzeichnis nicht angeführt sind, inständig um kollegiale Nachsicht: der
Umfang des Buches durfte nicht noch mehr anwachsen; überdies war
es unmöglich, eine vollständige Liste aufzustellen, da drei Jahrgänge
von Schülerverzeichnissen nicht mehr aufgefunden werden konnten.
— 222 —
7. Bögner, Virtuose, Amerika.
8. Brode, Professor, Konzertmeister, Königsberg.
9. Brun, Konzertmeister, Zürich.
10. Courvoisier, Tonkunstler, Liverpool.
11. Davidson, Konzertmeister, Danzig.
12. Eidering, Konzertmeister, Meiningen.
13. Ellenberger, Tonkünstler, Nottingham.
14. Exner, Kammervirtuos, Berlin.
15. Farkas (f), Tonkünstler, Budapest.
16. Freund, Konzertmeister, Berlin.
17. Friedrich, Tonkünstler, Frankfurt a. M.
18. Axel Gade, Tonkünstler, Kopenhagen.
19. Gompertz, Lehrer am Royal College, London.
20. Gregorowitsch, Virtuose, Berlin.
21. Gülzow, Kammermusiker, Berlin.
22. Hänflein, Konzertmeiser, Hannover.
23. Hagemeister, Kammermusiker, Berlin.
24. Halir, Konzertmeister, Prof. an der Hochschule, Berlin.
25. Hefs, Konzertmeister, Köln.
26. Himmelstofs, Konzertmeister, Breslau.
27. Hösl, Kammermusiker, München.
28. Holländer, Professor, Berlin.
29. Hubay, Professor, Budapest.
30. Jacobsen, Professor an der Hochschule, Berlin.
31. Jahn, Konzertmeister, Bern.
32. Kahl, Konzertmeister, Zürich.
33. Kemönyi, Konzertmeister, Königsberg.
34. Kefs, Kapellmeister, Moskau.
35. Koch, Konzertmeister, Magdeburg.
36. Kotek (f), Lehrer an der Hochschule, Berlin.
37. Kruse, Professor, London.
38. Kummer, Tonkünstler, London.
39. Lentz, Professor (f), Budapest.
40. Listemann, Tonkünstler, Chicago.
41. Ludwig, Tonkünstler, London.
— 223 —
42. Markees, Lehrer an der Hochschule, Berlin.
43. Marsick, Professor am Conservatorium, Paris.
44. Melani, Tonkünstler, Buenos Ayres.
45. Messias, Konzertmeister, Rotterdam.
46. Meyer, Professor, Berlin.
47. Müller, Kammermusiker, Berlin.
48. Müller, Konzertmeister, Wiesbaden.
49. Müller, Tonkünstler, Leeds.
50. Nach&z, Virtuose, London.
51. Nicking, Kammermusiker, Berlin.
52. Olk, Konzertmeister, Berlin.
53. Petri, Professor, Konzertmeister, Dresden.
54. Polo, Professor, Turin.
55. Prill, Professor, Konzertmeister, Wien.
56. Quants, Virtuose, Rufsland.
57. Rampelmann, Kammermusiker, Berlin.
58. Rosenmeyer, Tonkünstler, Erfurt.
59. Rofs, Virtuose, Liverpool.
60. Salzwedel, Kammermusiker, Berlin.
61. Schäffer, Tonkünstler, Berlin.
62. Schleicher, Konzertmeister, Bremen.
63. Schmidt, Tonktinstler, Philadelphia.
64. Schnierlin, Tonkünstler, Berlin.
65. Schnitzler, Virtuos, Boston.
66. Schuster, Konzertmeister, Strafsburg i. E.
67. Seubert, Konzertmeister, Köln.
68. Skalitzki, Konzertmeister, Bremen.
69. Spiering, Tonkünstler, Chicago.
70. Stiehle (f), Tonkünstler, Mühlhausen i. E.
71. Such, Tonktinstler, London.
72. Tofte, Konzertmeister, Kopenhagen.
73. Treichler, Konzertmeister, Zürich.
74. Werner, Tonkünstler, London.
75. Wiggers, Tonkünstler, Berlin.
2.
Wie schon erwähnt, war es unter den preufsischen Herr-
schern besonders Friedrich der Grofse , welcher der Tonkunst
warme Sympathien entgegengebracht hat. Konnte sich das
musikalische Leben an seinem Hofe auch nicht entfernt mit
dem der Höfe von Dresden und Mannheim messen, so standen
doch einige Künstler in seinen Diensten, die sich um die Ent-
wicklung der Kammermusik in Berlin verdient gemacht haben.
Neben Philipp Emanuel Bach sind es besonders zwei Geiger,
die hierbei in Betracht kommen: Franz Benda (1709 — 1786)
und Joh. Peter Salomon (1745—1815).
Des Ersteren Ruhm besteht darin, dafs er einer der gröfsten
Geigenmeister seiner Zeit war, der besonders als Adagiospieler *)
Herrliches geleistet haben mufs, dafs er die ältere Kammer-
musik in hervorragender Weise gepflegt hat und dafs aus seiner
Schule eine Anzahl von Geigern hervorgegangen ist, deren Ein-
flüsse noch tief in unser Jahrhundert hinein zu spüren waren.
Die Bedeutung Salomons beruht neben seinen geigerischen
Qualitäten hauptsächlich darin, dafs er es war, der die Kammer-
musik der Wiener Meister, besonders Haydns, in Berlin ein-
geführt hat. Auch war er einer der wenigen, die zu jener
Zeit den Kompositionen J. S. Bachs für Violine allein noch so
viel Geschmack abgewinnen konnten, um sie in der Öffentlich-
keit vorzutragen.
*) Salomon sagte; „Wenn Benda, so alt er ist, ein Adagio
spielt, so glaubt man, die ewige Weisheit rede vom Himmel herab."
(Wasielewski, „Die Violine und ihre Meister".)
— 225 —
Von den zahlreichen Schülern Bendas interessiert uns Karl
Haak insofern , als er der Lehrer Mosers und Maurers war.
Moser trat in Hamburg zu Viotti und Rode in nähere Be-
ziehungen und ist der Lehrer Karl Friedrich Müllers geworden,
der später als Führer des Quartetts der älteren Gebrüder
Müller zu so hohem Ansehen gelangte. Maurer, der Freund
Rodes und Baillots, ist der Komponist des Konzertante für vier
Violinen, dem wir im Laufe unserer Darstellung schon einigemal
begegnet sind.
War durch das Vorgehen Salomons auch der erste Schritt
zur Einführung der neueren Kammermusik in Berlin gethan, so
kam man doch über Haydn, Mozart und den Beethoven der
ersten Periode nur schwer hinaus. Zelter „bewunderte Beethoven
mit Schrecken", und das Publikum war nach den schweren
Kriegen um die Wende des Jahrhunderts in musikalischer Hin-
sicht so träge geworden, dafs es mit der zeitgenössischen Pro-
duktion vollständig die Fühlung verloren hatte.
In einigen Familien, so besonders im Hause Mendelssohn,
pflegte man zwar die Kammermusik in intimer Weise; in der
Öffentlichkeit aber war nichts von dem frischen Hauche zu
spüren, der das Musikleben anderer deutscher Städte belebte.
Erst um die Mitte des Jahrhunderts läfst sich eine Wen-
dung zum Besseren konstatieren: die königlichen Kammer-
musiker Zimmermann, Ronneburger, Richter und Espenhahn
veranstalteten öffentliche Quartettabende, und Löschhorn mit den
Gebrüdern Stahlknecht Triosoireen. 1854 vereinigte sich der
von Leipzig nach Berlin übergesiedelte Robert Radecke mit dem
Violinisten Grünwald zu regelmäfsigen Kammermusiken, und
ziemlich um dieselbe Zeit wurde auch das Trio „Bülow, Laub
und Wohlers" gegründet. Im Jahre 1856 endlich trat das
„Laubsche Quartett" ins Leben, das insbesondere durch % die
hervorragenden Leistungen seines genialen Primarius grofsen
Anklang fand. Die Genossen desselben waren Robert Radecke,
Richard Wüerst und ein vorzüglicher Dilettant, Dr. Bruns.
Moser, Joseph Joachim. 15
— 226 —
Freilich, die Anerkennung, deren sich diese Quartettver-
einigung zu erfreuen hatte, konnte nur in qualitativer Hinsicht
eine grofse genannt werden, da die zuhörende Gemeinde eine
für unsere jetzigen Begriffe wenig zahlreiche war. Fafste doch
der kleine Arnimsche Saal, Unter den Linden 44, wo die ersten
Konzerte dieser Genossenschaft stattfanden, nur 150 his 200
Personen. 1857 siedelte das Quartett zwar nach dem „Eng-
lischen Hause" in der Mohrenstrafse über; indessen dürften
auch dort die Zuhörer die Zahl 300 kaum überschritten
haben.
Eines aber mufs bei den Veranstaltungen des Laubschen
Quartetts besonders hervorgehoben werden: es hat an jedem
seiner Abende als dritte Programmnummer eines der letzten
Quartette von Beethoven gebracht, von denen die meisten
bis dahin in Berlin noch nicht öffentlich gespielt worden
waren.
Wie Robert Radecke dem Verfasser schreibt, „kann man
wohl sagen, dafs das Laubsche Quartett zur Hebung des Sinnes
und Verständnisses dieser intimsten Musikgattung ein Wesent-
liches beigetragen und so den Boden für die Offenbarungen des
unerreichten Joachim-Quartetts wohl vorbereitet und gepflügt
hat. Mit der Übersiedlung Laubs nach Moskau mufsten natür-
lich diese Konzerte aufhören; das letzte fand am 80. April
1862 statt."
Neben den grofsen Erfolgen, mit denen sich Joachim als
Solist die Gunst der musikliebenden Kreise Berlins erobert
hatte, war auch die Kunde von den glänzenden Triumphen, die
er als Quartettspieler in London und Paris erntete, nach der
preufsischen Hauptstadt gedrungen, lange bevor er daran ge-
dacht hatte, sich in derselben niederzulassen. Da seit dem
Abgang Laubs kein Geiger ersten Ranges in Berlin ansässig
war, sah man naturgemäfs Joachims Darbietungen als Quar-
tettist mit der gröfsten Spannung entgegen.
Der Andrang zu den Quartettabenden, die er vom Herbst
1869 ab in Gemeinschaft mit seinem Schüler Schiever als
— 227 —
zweitem Geiger, de Alma x ) als Bratschisten und Wilhelm Müller,
dem früheren Cellisten des jüngeren „Müller-Quartetts", ver-
anstaltete, war von vornherein ein so gewaltiger, dafs sie lange
Zeit unter dem Zeichen „Ausverkauft!" standen. Aber auch
später blieb der Besuch dieser Konzerte immer noch ein so
glänzender, dafs man sagen kann, kein zweites künstlerisches
Unternehmen habe sich einer auch nur annähernd so hohen
Gunst seitens der musikliebenden Kreise Berlins zu erfreuen,
wie das nunmehr seit dreifsig Jahren bestehende Joachim-
Quartett. Und wenn auch Joachims mitwirkende Genossen im
Laufe dieser Zeit einigemal wechselten, so hat das die Qualität
der Leistungen niemals beeinflufst. Der geniale Führer hat
für den Ausscheidenden stets vollwertigen Ersatz zu finden
gewufst und den Neueintretenden in so kurzer Zeit mit dem
künstlerischen Geiste vertraut gemacht, der von ihm ausgeht,
dafs auch Schwankungen im Ensemble selten oder kaum zu be-
merken waren.
Nach der zweiten Wintercampagne schied Schiever aus der
Vereinigung aus; dafür setzte sich de Ahna an das zweite
Geigenpult, und Eduard Rappoldi übernahm die Bratsche. Als
dieser dann einem Rufe nach Dresden Folge leistete, trat im
Oktober 1877 Emanuel Wirth a ) an seine Stelle. In die durch den
*) Heinrich de Ahna, geb. 1835 zu Wien, 1892 in Berlin ge-
storben, war Schüler von Mayseder in Wien und Mildner zu Prag.
Ob schon 1849 vom Herzog von Koburg-Gotha zum Kammervirtuosen
ernannt, schlug er 1851 die militärische Laufbahn ein und machte
als österreichischer Offizier den italienischen Feldzug von 1859 mit.
Die Aufmunterung Joachims, dem er als Lieutenant in Wien vor-
gespielt hatte, veranlafste ihn jedoch, wieder zum Künstlerberufe
zurückzukehren. 1862 wurde er Mitglied der königlichen Kapelle in
Berlin und 1868 zu deren Konzertmeister ernannt In dieser Stellung
blieb er bis zu seinem Tode.
a ) Emanuel Wirth, geb. 1842 zu Luditz in Böhmen, auch ein
Schüler Mildners, war eine Zeitlang Konzertmeister der Kurkapelle
zu Baden-Baden, dann von 1864 — 1877 Konzertmeister und Lehrer
des Violinspiels am Konservatorium zu Rotterdam. Seither lebt
15*
— 228 —
Abgang Müllers entstandene Lücke berief Joachim den Cellisten
Robert Haasmann 1 ). Während der längeren Krankheit de Ahnas
versah Joh. Kruse das Amt desselben und trat im Winter
1892/98 als wirkliches Mitglied ein, das er bis zum Frühjahr
1897 blieb. Gegenwärtig ist das Quartett so formiert, dafs
der Führer die drei ausgezeichneten Künstler Karl Halir,
Em. Wirth und Robert Hausmann zu Genossen hat.
Seiner nun folgenden Besprechung Joachims als Quartett-
spieler hat der Verfasser jene Epoche zu Grunde gelegt, in
der neben den jetzigen Mitwirkenden, Wirth und Hausmann,
de Ahna noch dem Quartett angehörte. In dieser Zusammen-
setzung hat es am längsten bestanden und seinen bleibenden
Ruf als die vornehmste Künstlervereinigung der Welt begründet.
Damit soll jedoch keineswegs angedeutet sein, dafs die gegen-
wärtigen Leistungen des Quartetts nicht auf derselben Höhe
geblieben wären, wie zu Lebzeiten de Ahnas. Der Verfasser
empfindet es nur als einen Akt der Pietät, den kurzen Diensten,
die Halir dem Verbände bisher geleistet, die mehr als zwanzig-
jährige Thätigkeit de Ahnas in demselben vorauszustellen.
Wie das Streichquartett unter den Musikgattungen, bei
welchen der innere geistige Gehalt ausschlaggebend für den
Wert des Kunstwerkes ist, eine besonders bevorzugte Stellung
W. in Berlin, wo er nach dem Tode de Ahnas dessen Nachfolger in
den Triosoireen mit Barth und Hausmann wurde. Gleichzeitig ist er
Violinprofessor an der königlichen Hochschule und erfreut sich als
solcher eines weitverbreiteten Rufes.
*) Robert Hausmann, zu Rottleberode am Harz 1852 geboren,
genofs den Unterricht der beiden Cellisten des älteren und jüngeren
Müller-Quartetts und hierauf noch den Piattis in London. Von 1872
bis 1876 war er Mitglied des Hochbergschen Quartetts in Dresden
und vereinigte sich hierauf in Berlin mit Barth und de Ahna zu
Kammermusik- Abenden , die besonders in den letzten 10 Jahren zu
hoher Blüte gekommen sind. 1879 trat er die Nachfolgerschaft
W. Müllers als Lehrer des Violoncells an der königlichen Hochschule
an und entfaltet in dieser Stellung eine ungemein erspriefsliche Lehr-
tätigkeit.
— 229 —
einnimmt, so wird der Kenner beim Anhören des Joachimschen
Quartetts vor allem den Eindruck gewinnen, dafs hier vier
grofse Künstler ihr Bestes einsetzen, die musikalischen Gedanken
einer ihrer Ausführung anvertrauten Komposition zu erschöpfender
Darstellung zu bringen. Einer von ihnen bestimmt naturgemäfs
die Richtung, in welcher das Ziel einer so hohen Aufgabe zu
suchen, und die Art, in welcher sie selbst zu lösen ist. Dieses
Amt übt Joachim, der Führer des Quartetts, mit einer so un-
fehlbaren Sicherheit aus, dafs ihm seine Genossen unbedingt
vertrauen und der Zuhörer stets das wohlthuende Gefühl hat:
so, und nicht anders, mufs es gemacht werden!
Es ist ganz unmöglich, zu bestimmen, ob die Zuverlässig-
keit, mit der Joachim den Stil und Charakter eines Werkes zu
treffen weifs, auf sein musikalisches Ahnungsvermögen zurück-
zuführen ist, auf die sorgfältige künstlerische Erziehung und
Bildung, die er genossen, oder auf den Umstand, dafs er seit
seiner frühesten Kindheit schon mit dem Wesen der Kammer-
musik so innig vertraut und verwachsen ist, wie kein zweiter
ausübender Tonkünstler. Es werden wohl alle diese Faktoren
zusammenwirken, um jenes souveräne Schalten und Walten über
die geistigen Ausdrucksmittel seiner Kunst erklärlich zu machen,
das im eigentlichen Sinne genial zu nennen ist.
Was zunächst auffallen wird, das ist das fein abgetönte
Ensemble des Joachim-Quartetts. Die vier Spieler verstehen
einander so vollkommen, als ob ihre verschiedenen Funktionen
von einem gemeinsamen Willen ausgingen. Handelt es sich um
accordische Harmoniefolgen, wie beispielsweise im Thema der
Variationen des D-moll-Quartetts von Schubert, so mufs man er-
staunen über die dynamische Gleichmäfsigkeit, mit der sich die,
vier Stimmen zu einem Ganzen verschmelzen. Hat aber eines
der Instrumente etwas Besonderes, im Vergleich zu den übrigen
Wichtiges zu sagen, so ist es ebenso bewundernswürdig, wie
sich die anderen unterzuordnen wissen, der Hauptsache Platz
machen, ohne in ein bedeutungsloses Säuseln oder Geflüster zu
versinken.
— 230 —
Die glänzenden Leistungen des Quartetts gliedern sich
äufserlich in zwei Gruppen: zur ersten gehören die Sätze mit
schnellem Zeitmafs, in denen hauptsächlich das virtuose Zu-
sammenspiel der vier Herren zur Geltung gelangt, zur zweiten
alle langsamen Stücke, die vorzugsweise beschauliche Ruhe
atmen, tiefe Empfindung ausströmen oder zu andächtiger Stim-
mung anregen.
Als besonders markante Vertreter der ersten Gruppe
möchte der Verfasser den ersten Satz des Harfen-, das Scherzo
des Cis-moll- und die Finales der Rasoumoffsky - Quartette von
Beethoven hinstellen 1 ). Auch der Laie mufs beim Anhören
solcher Leistungen den Eindruck gewinnen, dafs hier das
Menschenmögliche im Ensemblespiel erreicht ist; um wie viel
mehr der Kenner, der sich der Schwierigkeiten bewufst ist, die
hier fast immer mit siegreichem Gelingen überwunden werden.
Das Joachimsche Quartett begnügt sich aber nicht nur mit der
anstandslosen Bewältigung intrikater Stellen, sondern es weifs
dieselben in solcher Vollendung auszuführen, dafs auch die auf
das Höchste gespannten Erwartungen des Zuhörers übertroffen
werden.
Man vergegenwärtige sich nur die geschickte Art, mit der
die vier Spieler sich gegenseitig die Pizzicati im ersten Satz
des Beethovenschen Quartetts, Op. 74, abnehmen und so voll-
ständig die Illusion hervorrufen, als ob eine Harfe die Aus-
führung der dem Stück den Namen gebenden Stelle besorgte.
Oder man denke an das Scherzo des Cis-moll-Quartetts, wie die
vier Instrumente sich gegenseitig die kleinen Bruchstücke der
dem Hauptthema zu Grunde liegenden Begleitungsfigur zuwerfen,
als ob ein Spieler das ganz allein bewerkstelligte; und gar,
*) Er weifs wohl, dafs sich unter den „letzten Quartetten" manche
Sätze befinden, die noch weit gröfsere Anforderungen an die geistige
Anspannung jedes einzelnen Spielers stellen; aber die Schwierig-
keiten sind dort mehr intimer und versteckter Art, die nicht zu so
unmittelbarer Anschauung des Zuhörers gelangen, wie in den oben an-
geführten Sätzen.
— 231 —
wie sie jedesmal nach dem Ritardando das Presto wieder ein-
zuleiten wissen, ohne dafs der geringste Ruck zu spüren wäre !
Daran hätte Richard Wagner seine helle Freude haben müssen,
wenn man sich der geistvollen Auseinandersetzungen über die
Modifikation des Tempos in seinem Aufsatz „Über das Diri-
gieren" erinnern will. In den schnellen Sätzen der Rasou-
moffsky-Quartette ist es wieder die rhythmische Präzision, mit
der die schwierigen Taktverschiebungen und -Rückungen zu
vollendet klarer Ausführung gelangen, die imponierend wirkt;
und so ist des Bewundernswerten hier kein Ende.
Wie sich das Wesen der Poesie schwer beschreiben läfst,
so ist es um die Schilderung der andachtsvollen Stimmung be-
stellt, in die man beim Anhören getragener Sätze vom Joachim-
schen Quartett versetzt wird. Schliefslich ist es ja Empfindungs-
und Geschmackssache, ob man die wonnige Milde eines Haydn-
schen Adagios, die himmlische Schönheit eines langsamen
Stückes von Mozart neben den romantischen Zauber stellt,
welchen getragene Sätze von Schubert, Schumann und Brahms
ausströmen, oder über die tief verhaltene Leidenschaft, atem-
lose Spannung und verklärte Weise, die bei Beethoven so er-
greifend zum Ausdruck kommen.
Die Hauptsache ist, dafs Joachim all diese verschieden-
artigen Stimmungen in gleich vollkommener Weise zur Geltung
und eindringlichen Wirkung zu bringen versteht. Und wenn
der Verfasser die Wiedergabe der Cavatine des grofsen B-dur-
Quartetts von Beethoven als den geistigen Höhepunkt der Inter-
pretationskunst Joachims hinstellt, so thut er es mit dem Ee-
wufstsein, wenigstens keine schlechte Wahl getroffen zu haben
und der Zustimmung der meisten Sachkenner gewifs zu sein.
Nach dem Gesagten leuchtet es ohne weiteres ein, dafs
Joachim nicht etwa immer „die erste Geige" spielt und von
seinen Partnern unterthänige Dienstverrichtungen fordert. Viel-
mehr gehen alle vier so in dem vorzutragenden Kunstwerk
auf, dafs stets gerade das zur Geltung gelangt, worauf es an-
kommt.
— 232 —
Die geistige Herrschaft, die Joachim über seine Mitspieler
ausübt, geht immer nur auf das grofse Ganze; in allen Einzel-
heiten aber läfst er ihnen volle Aktionsfreiheit, so dafs jeder
seinem individuellen Empfinden Ausdruck geben kann, wenn die
Reihe an ihm ist. Es sei hier nur an die Bratschenvariation
des Harfenquartetts von Beethoven, das Intermezzo des Brahms-
schen B-dur-Quartetts und an das Thema der Variationen im
B-dur-Sextett desselben Komponisten erinnert. Da kann Meister
Wirth vollständig sein Eigenes geben, seinem persönlichen Ge-
schmack folgen, in seinem schönen Ton schwelgen, kurz, nach
seiner Fagon selig werden. Und er thut es in einer Weise,
die ihm den Beifall und die Zustimmung aller Sachverständigen
sichert.
Die Eigenart Hausmanns kommt im Quartett zu besonderer
Erscheinung, wenn es sich darum handelt, als Unterlage für die
breite Tonentfaltung der anderen Instrumente dicke Bässe zu
bringen oder durch straffe rhythmische Accente dem Ensemble
in rasch dahin eilenden Sätzen feste Stützpunkte zu gewähren.
Ganz meisterlich versteht er es überdies, durch dynamische
Abstufungen spannende Wirkungen zu erzielen, wie mit dem
Crescendo am Schlufs der Malinconia des kleinen B-dur-Quar-
tetts von Beethoven, oder mit den Einleitungstakten des zweiten
Satzes von Beethovens F-moll-Quartett die Grundstimmung des
ganzen Stückes festzustellen.
Ungemein reizvoll war es, wie de Ahna seiner schwierigen
Situation am zweiten Geigenpult gerecht zu werden verstand,
schwierig insofern, als die zweite Violine, im Vergleich zu den
anderen Stimmen, die am wenigsten selbständige im Quartett
zu sein pflegt. Sie hat sich meistens damit abzufinden, die
Themen, welche die erste Geige oder ein anderes Instrument
bereits als Hauptsache hingestellt haben, in anderen Lagen und
Tonarten zu imitieren oder mit beweglichem Passagenwerk zu
umspielen. Und wenn der Primarius ein Künstler von der
Genialität eines Joachim ist, der sich überaus häufig den Ein-
gebungen des Augenblicks hingiebt, so wird man zugeben, dafs
— 288 —
de Ahna ein ebenso heikles wie undankbares Geschäft zu ver-
richten hatte. Aber er that es fast immer mit dem besten Ge-
lingen. Seine aalglatte Bogenfühnmg and ein unübertroffenes
Anpassungsvermögen befähigten ihn ganz besonders zu diesem
Amte. Wer wird sich nicht mit dem innigsten Vergnügen an
das geschwätzige Finale des Beethovenschen D-dur-Quartetts
erinnern, wo die zweite Geige das von der ersten flüchtig hin-
geworfene Hauptthema eine Terz tiefer aufnimmt und dann
beide in sprudelnder Lustigkeit nebeneinander dahin jagen!
Wollte man eine Untersuchung darüber anstellen, welche
Stilgattung das Joachimsche Quartett vorzugsweise pflegt, welchen
Meister es besonders gut interpretiert, ob die Wiedergabe der
Klassiker, Romantiker oder Zeitgenossen einen Unterschied in
der Qualität seiner Darbietungen erkennen läfst, so würde man
insofern einer schwierigen Aufgabe gegenüberstehen, als das-
selbe im Grunde keine Specialitäten kultiviert. Diese Beobach-
tung führt uns zu einem der wichtigsten Faktoren von Joachims
Künstlertum, seinem Stilbewufstsein.
Spielt er mit seinen Genossen ein Haydnsches Quartett, so
hört man unter dem Eindruck einer solchen Leistung gar oft
den Ausruf : „Das ist doch sein eigentliches Feld ; darin kommt
ihm keiner gleich!" Aber nicht seltener hört man ähnliche
Meinungsäufserungen , wenn das Werk eines anderen Meisters
zu vollendeter Ausführung gelangt war. Naturgemäfs am
häufigsten bei Beethoven, dessen sämtliche Quartette so wenig
von ihrer ursprünglichen Lebenskraft eingebüfst haben, dafs sie
in regelmäfsiger Wiederkehr auf den Programmen stehen. Sie
vor allen scheinen das in sich zu tragen, was man in geistiger
Hinsicht als „für die Ewigkeit geschaffen" zu bezeichnen
pflegt.
Versucht man es nun, dem Wesen dieser universellen Be-
gabung Joachims nachzuspüren, so kämen hiebei hauptsächlich
drei Faktoren in Betracht:
Erstlich: die liebevolle Hingabe, mit der sich Joachim in
den geistigen Inhalt des zu reproduzierenden Kunstwerkes ver-
— 234 —
senkt, zweitens : sein merkwürdiges, auf besondere künstlerische
Instinkte zurückzuführendes Stilgefühl, das ihn befähigt, jeden
Meister in seiner Eigenart zu charakterisieren, und drittens:
sein technisches Vermögen, das innerlich Gewollte auszuführen
und zur wirklichen Erscheinung zu bringen.
Über den ersten Punkt ist schon an einer anderen Stelle
gesprochen worden.
Der zweite führt uns gewissermafsen in die geistige Werk-
stätte des Künstlers, wo wir ihn die Thätigkeit verrichten
sehen, die unsere höchste Bewunderung herausfordert. Freilich
dürfen wir unsere Ansprüche nicht auf das Unmögliche richten :
wir sehen zwar die Funktionen des Genius, können sie aber
nicht erklären, freuen uns der Gegenwart des „göttlichen
Funkens ", ohne sein Entstehen zu begreifen.
Hanslick nennt Joachim „einen durch die glänzendste
Virtuosität hindurch gegangenen vollendeten Musiker". Das will
so viel sagen, dafs er, wenn er ein Kunstwerk wieder erstehen
läfst, ganz in demselben aufgegangen ist, dafs wir nicht mehr
ihn zu hören vermeinen, sondern den Komponisten selber, der
durch ihn zu uns redet. Man könnte diese Eigenschaft
Joachims mit einem Spiegel vergleichen, der, gegen ein Objekt
gehalten, dieses in seiner ungetrübten Beine und Wahrheit
wiedergiebt.
Spielt er ein Haydnsches Quartett, so kommt das Charak-
teristische dieses Meisters zu so plastischer Gestaltung, dafs
man geradezu verblüfft ist über die Fülle von Ausdrucks-
mitteln, die ihm hierbei zu Gebote stehen. Gilt es die Wieder-
gabe Mozarts oder Beethovens, so machen wir die gleiche Wahr-
nehmung: immer stehen wir ganz bestimmt ausgeprägten Phy-
siognomien gegenüber, die nur ihre eigenen Merkmale tragen,
niemals die des Darstellenden. Geradezu fascinierend ist die
Wirkung, wenn ungarische oder wenigstens magyarisierende
Stücke in Frage kamen, die besonders bei Haydn, Schubert
und Brahms so häufig die Schlufssätze bilden. Da kommt das
stammverwandte Blut in Wallung und das heimatliche Empfinden
zu seinem Recht.
— 285 —
Immer also sehen wir den Blick des Meisters auf den
geistigen Gehalt, die charakteristischen Merkmale, den Stil des
Werkes gerichtet, das unter seinem Bogen zur Wiedergabe ge-
langt; niemals stellt er sein Ich zur Schau oder kokettiert mit
Äufserlichkeiten.
Der mit der Kunstlerschaft Joachims weniger Vertraute
könnte nun wohl zu der Ansicht gelangen, dafs diese Eigen-
schaften bewufste Manifestationen eines im Dienste der Kunst
ergrauten Mannes sind, der sich über das Wie, Was und Warum
seiner Leistungen völlig im klaren befindet. Über die beiden
ersten dieser drei Fragewörter kann ja wohl ein Zweifel nicht
Platz greifen; denn wenn irgend ein Künstler weifs, was er
will, so ist es Joachim, und ebenso ist es um das „Wie" be-
stellt. Ein anderes ist es aber mit dem „Warum", d. h. um
die Rechenschaft, die er sich bei seinen künstlerischen Absichten
und ihrer Ausführung giebt.
Joachim ist ein so wenig zur Reflexion geneigter Künstler,
dafs ihm in dieser Hinsicht nur noch Anton Rubinstein an die
Seite zu stellen ist. Wie dieser bei seinen Darbietungen haupt-
sächlich inneren Impulsen folgte, den Eingebungen des Augen-
blickes freien Zulafs gewährte, so sind auch die Kunstleistungen
Joachims nur der Ausdruck tiefsten musikalischen Empfindens,
das mit der eigentlichen Gehirnthätigkeit in so gut wie gar
keinem Zusammenhang steht. Mit dem Unterschied freilich^
dafs Rubinstein sich manchmal von seinem Temperament zu
Übertreibungen fortreifsen liefs, deren sich Joachim niemals
schuldig macht. Eine wahrhaft ethische Kraft nnd ein idealer.
Schönheitssinn lassen ihn auch bei den leidenschaftlichsten Stellen
die Linie niemals tiberschreiten, wo das Charakteristische auf-
hört schön zu sein. Diese Eigenschaften vorzugsweise haben
seinen Vorträgen die Weihe der Vollendung verliehen.
Wenn also die Genialität Rubinsteins in mancher Hinsicht
der Joachims ähnelte, so war die Bülowsche eine diesen ver-
wandten Künstlernaturen durchaus entgegengesetzte. Das soll
die Bewunderung für Bülow keineswegs einschränken, denn es
— 286 —
führen bekanntlich verschiedene Wege anf den Parnafs. Aber
für die Zwecke unserer Darstellung ist es von Belang, diese
Unterschiede festzustellen.
Bei Btilow nahm die Reflexion einen so breiten Raum ein,
dafs man ihn die Verkörperung der analytischen Methode in
musikalischen Dingen nennen könnte. Sein scharfer, durch-
dringender Geist suchte immer nach Gründen, die ihm das
„Wie" und „Was" seiner Kunst erklären sollten. Und wie er
uns in einer Menge von Abhandlungen und Ausgaben die Re-
sultate seiner kritischen Untersuchungen tiberliefert hat, so
spielte auch in seiner musikalischen Praxis, trotz der hohen
Vollendung seiner Vorträge, das Lehrhafte eine grofse Rolle.
Diese Tendenz ist Joachim durchaus fremd. Er läfst sich in
all seinen Kunstäufserungen nur von seinem Geschmack, Schön-
heitssinn und Stilgefühl leiten; kritischen Erörterungen darüber
geht er geradezu aus dem Wege. Beispiele werden das am
besten erläutern.
Vor einer langen Reihe von Jahren wurde die Frage auf-
geworfen, ob der Triller des Hauptthemas im ersten Satze der
G-dur-Sonate, Op. 96, von Beethoven mit oder ohne Nachschlag
auszuführen sei. Erkundigungen, die darüber bei einer Reihe
hervorragender Künstler eingezogen wurden, ergaben, dafs die
meisten musikalischen Philologen sich für den Triller ohne
Nachschlag aussprachen, und Bülow schlofs sich dieser Ansicht
in einer ungemein geistvollen Abhandlung an. Als nun Joachim
befragt wurde, wie er über jenen Punkt denke, antwortete er:
„Ja, ich mache den Triller mit Nachschlag." Weiter befragt,
welche Gründe er dafür angeben könne, meinte er kurz : „Weil
ich es schöner und natürlicher finde." —
Einen ähnlichen Fall kann der Verfasser aus eigener Er-
fahrung mitteilen.
Vor etwa 15 Jahren veranstalteten Joachim und Rubin-
stein im Hause des Kunstfreundes Martin Levy eine Soiree,
deren Ertrag für einen hülfsbedürftigen Kunstjtinger be-
stimmt war. Unter anderem spielten die beiden Künstler ger
— 237 —
meinschaftlich die Kreutzer-Sonate. Auf die vor Beginn des
Stückes im Flüsterton erfolgte Anfrage Joachims, ob sie hei
gewissen Stellen der Sonate die Triller mit oder ohne Nach-
schlag ausführen wollten, bemerkte Rubinstein : „Das ist ja ganz
egal, wenn wir's nur hübsch machen."
Joachim: „Ich finde allerdings im vorliegenden Falle Nach-
schläge schöner."
Rubinstein: „Ich auch; also trillern wir mit Nachschlägen."
Und die beiden herrlichen Künstler spielten hierauf das
Beethovensche Werk in so wunderbarer Vollendung, dafs diese
Wiedergabe zu des Verfassers schönsten Erinnerungen zählt.
Der dritte Punkt unserer Untersuchung über die Univer-
salität von Joachims Kunstleistungen bringt uns auf die Wür-
digung seiner grofsartigen Technik, an die man während seines
Musizierens zunächst gar nicht denkt. Seine Darbietungen ge-
niefsen sich so mühelos, dafs sie stets in dem Zuhörer ein wohl-
thuendes Gefühl der Befriedigung hinterlassen. Wollen und
Können sind bei ihm eins.
Wie er unbeschränkter Herr ist über das Griffbrett und
die raffiniertesten Schwierigkeiten spielend zu überwinden weifs,
welche die gröfsten Virtuosen aller Zeiten ausgeklügelt haben, so
verfügt er über eine Bogenftihrung, die an Unabhängigkeit und
Geschmeidigkeit im wahrsten Sinne einzig ist. Ihr vor allem
verdankt er sein Ausdrucksvermögen und die modulationsfähige
Tongebung, die, bald hell, bald dunkel, verklärt und duftig,
üppig und strahlend — je nachdem es der Augenblick erheischt — ,
uns den unerschöpflichen Farbenreichtum ahnen läfst, den er
auf seiner Palette zur Verfügung hat. Wir sehen also in
Joachim jede einzelne Vorbedingung zur Künstlerschaft in so
reichem Mafse erfüllt, dafs ihr zusammenfassendes und inein-
ander greifendes Wirken jenes Idealbild verkörpert, das wir
mit seinem Namen bezeichnen.
Man pflegt Joachim den gröfsten Interpreten Beethovens
zu nennen. Diese Ehrung verdankt er dem Umstand, dafs man
sich gewöhnt hat, die Werke dieses Gewaltigen als den Kul-
— 288 —
minationspunkt unserer Kunst zu bezeichnen, also auch die
vollendete Wiedergabe derselben als das Höchste hinstellt, was
einem ausübenden Tonkünstler erreichbar ist. An dieser Auf-
fassung ist an und für sich nichts auszusetzen; nur wüfste der
Verfasser einen noch unbedingteren Ehrentitel für Joachim,
und dieser wird sich aus der folgenden Betrachtung von selbst
ergeben.
. Unter Joachims Schülern ist keiner, der auch nur an-
nähernd im stände wäre, ihn in der Gesamtheit seiner geige-
rischen Leistungen zu ersetzen 1 ). Indessen befinden sich
unter seinen Jüngern einige grofse Talente, die so Vortreffliches
bieten, dafs, wenn man einzelnen ihrer Vorträge geschlossenen
Auges lauscht, man den Meister selber zu vernehmen meint.
Merkwürdigerweise kann der Verfasser nur Beethovensche
Stücke citieren, bei denen ihm diese Wahrnehmung gekommen
ist. So bei Kruse, wenn er, gut disponiert, die Adagios aus
dem Harfen- und E-moll-Quartett spielt, bei Petri mit dem
Adagio des kleinen F-dur-Quartetts und bei Halir im ersten
Satz des in F-moll, Op. 95.
Es giebt also einzelne Momente bei Beethoven, wo manche
Schüler dem Meister nahe genug kommen, um mit ihm um die
Palme ringen zu dürfen.
Diesen Eindruck hat der Verfasser niemals gehabt, wenn
es sich um die Wiedergabe eines Werkes von Mozart handelte.
Nicht nur seine Schüler, sondern überhaupt alle Geiger der
Gegenwart sind so himmelweit von der unbeschreiblich duftigen,
liebenswürdig anmutigen Weise entfernt, mit der Joachim
Mozartsche Werke zum Vortrag bringt, dafs hier im eigent-
*) Der Einzige, der in dieser Hinsicht vielleicht in Frage ge-
kommen wäre, RudolfLentz, hat die Hoffnungen, welche auf seine
aufserordentlichen Fähigkeiten gesetzt wurden, nicht verwirklichen
können: er ist am 9. Juli 1898 in einem Anfall von Schwermut über
ein hartnäckiges Ohrenleiden, drei fs ig Jahre alt, aus dem Leben ge-
schieden.
— 289 —
lichsten Sinne von unerreichter Interpretationskunst gesprochen
werden mufs.
Kehren wir zu dem Ausgangspunkt unserer Erörterungen,
dem Joachim-Quartett, zurück.
Die Bedeutung, welche dasselbe für das Musikleben Berlins
gewonnen hat, kommt schon dadurch zum Ausdruck, dafs seine
Konzerte seit ihrem Bestehen den Höhepunkt aller künstlerischen
Veranstaltungen in der Residenz bezeichnen. Tausende , von
Kunstfreunden verdanken demselben ungezählte Stunden reinsten,
ungetrübten Genusses, der nicht mit dem Augenblick entflieht,
sondern fest in der Erinnerung haften bleibt. Wie grofs die
Anhänglichkeit vieler Besucher dieser Konzerte ist, geht schon
daraus hervor, dafs eine ganze Anzahl von Abonnenten heute
noch auf denselben Plätzen sitzen, die sie an Joachims erstem
Quartettabend in der Singakademie eingenommen, also dreifsig
Jahre lang dem künstlerischen Unternehmen unentwegte Treue
bewahrt haben. Aber nicht nur Kunstfreunde zählt die Ver-
einigung zu ihren regelmäfsigen Besuchern, sondern fast ebenso
viele, die neben der Freude an den herrlichen Darbietungen
auch noch Anregung und Belehrung für sich suchen: Künstler
und Kunstbeflissene.
Die Mission, die das Joachimsche Quartett auf diese Weise
erfüllt hat und immer noch ausübt, gipfelt in zwei Punkten:
in der Verbreitung des Verständnisses für die letzten Quartette
Beethovens und in dem Eintreten für Brahms. Denn während
noch vor dreifsig Jahren es nur ein kleines Häuflein war, das
sich für den späteren Beethoven interessierte, kann man nun
sagen, dafs, dank der unermüdlichen Ausdauer und Hingabe
Joachims, die Gemeinde, welche für „die letzten Quartette"
schwärmt, eine recht stattliche geworden ist.
Diese Wahrnehmung gilt nicht nur für Berlin und London,
.wo Joachim seine ständigen Quartette hat, nicht nur innerhalb
der Grenzen unseres Vaterlandes, sondern weit hinaus, bis in
den fernsten Westen Amerikas. Überall, wo Joachimsche
Schüler leben, wird der Versuch gemacht, das Beispiel des
— 240 —
Meisters nachzuahmen and in seinem Sinne weiterzuwirken.
Aber nicht nur seine unmittelbaren und seine Schüler im Geiste
hat er in dieser Hinsicht beeinflufst, sondern gar viele andere
Künstler, die mit Joachim in keinem anderen Zusammenhang
stehen, als dafs er ihnen für ihr eigenes Wirken zum Vorbild
geworden ist.
In demselben Mafse, als man Joachims Absichten um die
Einbürgerung der letzten Quartette Beethovens mit dem wohl-
wollendsten Interesse entgegenkam, verhielt sich das Publikum
bei der Einführung der Kammermusik von Brahms kühl und
ablehnend bis zur Feindseligkeit. Die einzige Ausnahme hier-
von bildete das B-dur-Sextett , das mit seinen gesangreichen
Themen und der farbenprächtigen Behandlung aller Instrumente
solchen Eindruck machte, dafs es Joachim an zwei aufeinander
folgenden Quartettabenden zur Wiedergabe brachte. Man kann
wohl sagen, dafs dieses blühende Stück von allen Brahmsschen
Instrumentalwerken dem Komponisten die meisten Verehrer zu-
geführt hat.
Die ablehnende Haltung, welche das Publikum Brahms
gegenüber zunächst beobachtete, ist nicht zum geringsten Teil
auf die Beeinflussung durch die Presse zurückzuführen, in der
man Joachims Eintreten für seinen „Kriegskameraden" als
Parteizwecken unterworfene Freundschaftsdienste hinstellte. Am
bezeichnendsten hierfür ist der Widerstand, auf den er stiefs,
als er vor etwa 18 Jahren das Violinkonzert von Brahms in
einer Hochschulaufführung zum erstenmal in Berlin öffentlich
spielte. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, fielen fast
sämtliche hauptstädtischen Blätter in der heftigsten Weise über
Joachim her, nicht nur weil er persönlich ein so „dürres
Geistesprodukt" der Ehre einer Vorführung für würdig erachtet
hatte, sondern weil er überdies auch noch das Schülerorchester
„zwang", solch „unqualifizierbares Zeug" zu accompagnieren !
Heute gehört dieses ehedem so vielgeschmähte Stück zum
eisernen Bestand unserer Konzertprogramme.
Dienste waren es freilich, die Joachim seinem „Spiel- und
S
3
a
E
1
V,.
— 241 —
Kampfgenossen" geleistet hat, aber nicht um der Person, sondern
um der Sache willen, nicht aus freundschaftlichen Gründen, son-
dern aus künstlerischen Erwägungen. Wir wissen aus seinen
Briefen, dafs er Brahms für „den gröfsten Musiker unserer
Tage" hielt, als ihn noch alle Welt mit dem Beinamen eines
„Messias" bespöttelte und es nur ganz wenige waren, die mit
ihm an den endlichen Sieg seiner Offenbarungen glaubten.
An dieser Geltendmachung Brahms' als Epochanten darf
sich Joachim und die von ihm geleitete Hochschule den Löwen-
anteil der Verdienste zuschreiben. Nicht nur die sämtlichen
Kammermusikwerke dieses Komponisten hat er in Berlin ein-
geführt, sondern in Hochschulkonzerten auch die meisten Chor-
und Orchestersachen desselben zur erstmaligen Aufführung in
der Residenz gebracht.
Bülows Verdienste um die Popularisierung der Brahmsschen
Orchesterwerke sollen in keiner Weise geschmälert werden;
allein die Thatsache bleibt bestehen, dafs Brahms in 25 Jahren
über ein halbes Hundert Werke, den verschiedensten Gattungen
angehörig, geschrieben und veröffentlicht hatte, bevor es Bülow
einfiel, davon auch nur Notiz zu nehmen. Vielmehr zog er es
vor, „dem tragischen Ringen dieses Komponisten" in kühler
Reserve jahrzehntelang. zuzusehen. Erst als die C-moll- Symphonie,
Op. 68, erschien, ging er mit fliegenden Fahnen und klingendem
Spiel zur Brahms - Gemeinde über und hat für den „grofsen
Johannes" eine Propaganda entfaltet, die ihm die Kunstgeschichte
nicht hoch genug anrechnen kann.
Aber die Hauptarbeit für die künstlerische Anerkennung
Brahms' war bereits geschehen; die hat Joseph Joachim ver-
richtet !
Der Ruhm des Joachimschen Quartetts ist selbstverständlich
nicht auf das Weichbild der Stadt Berlin beschränkt geblieben.
In der gesamten musikalischen Welt steht es in dem un-
bestrittenen Ansehen, dafs seine Darbietungen den Höhepunkt
dessen bezeichnen, was in der vollendeten Wiedergabe der
Kammermusik überhaupt geleistet werden kann.
Moser, Joseph Joachim. 16
— 242 —
Erklärlicherweise treten an die Künstlervereinigung eine
Menge von Anerbietungen heran, sich auch an anderen Orten
bewandern zu lassen. Da aber die vier Künstler ihre Lehr-
tätigkeit an der Hochschule nicht so ohne weiteres auf längere
Zeiträume hinaus unterbrechen können, so folgen sie Einladungen
nach aufserhalb nur in beschränkter Weise. Wiederholte Auf-
forderungen, auch in Amerika zu konzertieren, mufsten trotz
der glänzendsten Bedingungen aus demselben Grunde abgelehnt
werden. Immerhin haben sie in acht- bis vierzehntägigen Aus-
flügen zu öfteren Malen Wien, Paris und London besucht und
auch am Rhein, in Süddeutschland und der Schweiz die be-
geisterte Aufnahme gefunden, die ihre sieggewohnten Leistungen
stets im Gefolge haben.
Schliefslich sei auch noch des musikalischen Handwerk-
zeugs gedacht, dessen sich das Joachim-Quartett in der Öffent-
lichkeit bedient. Seit einer Reihe von Jahren schon spielen
die vier Künstler nur auf Instrumenten, die von der Hand des
gröfsten Geigenbauers aller Zeiten, des Antonio Stradivari in
Cremona (1644 — 1737), angefertigt sind. Die Yiola, auf der
Meister Wirth spielt, gehört zwar nicht der Genossenschaft, der
kunstsinnige Besitzer derselben, Herr Robert von Mendelssohn,
stellt sie aber dem Quartett bei seinem öffentlichen Auftreten
stets in munificenter Weise zur Verfügung. Der Wert der vier
Instrumente, die sämtlich allerersten Ranges sind und aus der
Blütezeit Stradivaris stammen, repräsentiert das hübsche Sümm-
chen von rund einmalhunderttausend Mark!
*&
3.
Neben seiner Lehrthätigkeit an der Hochschule, den Quar-
tettabenden in der Singakademie und den regelmäfsigen Be-
suchen Englands hat Joachim auch von Berlin aus häufige
Beisen nach anderen Ländern unternommen und allüberall
seinen Künstlernamen zu höchstem Ansehen und allgemeiner
Geltung zu bringen gewufst. In England haben ihn die Uni-
versitäten von Oxford, Cambridge und Glasgow zum Ehren-
doktor ernannt ; in Petersburg begleitete die kaiserliche Kapelle
seinen Vortrag des Beethovenschen Konzertes stehenden Fufses ;
in Kopenhagen feierte man ihn nicht nur als den grofsen
Künstler, sondern ehrte in ihm zugleich den Jugendfreund
N. W. Gades, aus Stockholm brachte er die Geige seines ersten
Lehrers mit; in Italien fand man, dafs er in der Wiedergabe
der Teufelssonate von Tartini ein Engel und ein Teufel gleich-
zeitig wäre, und für die Franzosen blieb er nach wie vor „le
grand et celebre violiniste hongrois", da man sich nicht ein-
gestehen wollte, dafs es im Grunde ein deutscher Künstler sei,
in dem sich alle Tugenden eines Musikers zu völliger Harmonie
vereinigen.
Kurze Zeit nach seinem Eintritt in königlich preufsische
Dienste konzertierte Joachim auch wieder in Wien und wurde
bei seinem Auftreten mit dem gewohnten Begeisterungsjubel
empfangen. In der ersten Reihe des Zuhörerraumes war es
besonders ein blinder Herr, der ihn mit demonstrativem Beifall
begrüfste: König Georg von Hannover, Joachims alter Gönner
und huldvoller Verehrer, der nach der Katastrophe von 1866
seinen Hofhalt in Hietzing bei Wien aufgeschlagen hatte.
16*
— 244 —
Der Künstler wufste wohl, dafs der unglückliche Fürst in
der Nähe von Wien im selbstgewählten Exil lebte, hatte es
aber vermieden, demselben seine Aufwartung zu machen, um
der Auffrischung wehmütiger Erinnerungen aus dem Wege zu
gehen, um so mehr, als er nun in Diensten desjenigen Staates
stand, den König Georg der Vergewaltigung seiner angestammten
Herrscherrechte zieh. Da der erblindete Monarch aber die
Initiative zur Wiederannäherung ergriffen hatte, holte Joachim
am Tage nach dem Konzert den bisher unterlassenen Besuch
nach und wurde von dem König mit huldvollster Herzlichkeit
aufgenommen. „Es ist mir eine rechte Beruhigung," meinte
der Fürst, „dafs Sie in Deutschland geblieben sind und Ihren
Wohnsitz so nahe meiner früheren Residenz aufgeschlagen haben.
Weifs ich doch, lieber Herr Joachim, dafs ich Sie dann wieder
haben kann, wenn ich in mein verlorenes Land zurückkehre.
Giebt es eine gerechte Vorsehung, so wird das früher oder
später der Fall sein. Dann wollen wir alles Versäumte an
schöner Musik nachholen, denn so gut klingt es doch nirgends,
wie in meinem Schlosse zu Hannover!"
Die Hoffnungen, welche der König im Herzen trug, haben sich
bekanntlich nicht verwirklicht; er siedelte 1871 nach Gmunden
über und starb 1878 in Paris.
Ein ebenso ergreifendes Wiedersehen hatte Joachim an-
fangs der achtziger Jahre in Budapest, wo er einige Konzerte
im grofsen Redoutensaal der ungarischen Hauptstadt veranstaltete.
Der Zufall wollte es, dafs er in demselben Hotel abstieg, wo
Liszt wohnte , dem seine Landsleute die Ehrenpräsidentschaft
der musikalischen Landesakademie übertragen hatten. Die beiden
grofsen Künstler hatten sich seit Joachims Absagebrief an den
Komponisten der symphonischen Dichtungen, also seit etwa
25 Jahren, nicht wieder gesehen.
Da wir wissen, dafs Joachim in jenem Schreiben den
übrigen verehrungswürdigen Eigenschaften Liszts die aufrich-
tigste Bewunderung gezollt, Liszt sich überdies in der An-
gelegenheit in ritterlichster Weise, ohne persönliche Ranküne,
— 245 —
benommen hatte, so brauchte sich Joachim nichts zu vergeben,
wenn er den ersten Schritt zur Begrüfsung des älteren Meisters
unternahm.
Das Wiedersehen nach so langer Zeit und inhaltsreicher
Vergangenheit war denn auch ein geradezu rührendes. Nur
dafs sich Liszt Joachim gegenüber nicht mehr des vertraulichen
„Du" bediente, liefs den Unterschied zwischen einst und jetzt
leise erkennen. Nachdem die beiden Künstler sich in längerer
Unterhaltung über Vergangenes und Gegenwärtiges ausgesprochen
hatten, wollte sich Joachim mit dem Bemerken empfehlen, dafs
er zu einer Probe müsse, in der er seine kurz vorher kompo-
nierten „Variationen für Violine und Orchester" zu spielen
habe. Darauf sagte Liszt: „Ja, die kenne ich schon, und sie
haben mir ganz ausnehmend gefallen. Wenn Sie nichts da-
gegen einzuwenden haben, möchte ich dabei sein; denn wenn
ich auch weifs, dafs Sie meine Sachen nicht mögen, so mache
ich mir um so mehr aus den Ihrigen und freue mich immer,
wenn ich Gelegenheit zu näherer Bekanntschaft mit ihnen finde.
Und dann, Hand aufs Herz, lieber Joachim, au fond gehören
wir beide ja doch zusammen!"
Wie vornehm Liszts Gesinnung Joachim gegenüber stets
geblieben ist, auch wenn letzterer nicht gegenwärtig war, davon
hat Halir dem Verfasser eine schöne Probe mitgeteilt.
Während seiner Thätigkeit als grofsherzoglicher Konzert-
meister in Weimar war Halir ständiges Mitglied der intimen
Zusammenkünfte in der Hofgärtnerei, bei denen Liszt mit einigen
ihm besonders nahestehenden Schülern der letzten Zeit Karten
zu spielen pflegte. Als eines Abends das Jeu in keinen
rechten Flufs kommen wollte, rief der bekannte Pianist Fr.
dem gegenüber sitzenden Halir in ärgerlichem Tone die Worte
zu : „Das ist ja heute eine so verdammt langweilige Geschichte,
als ob Joachim, Brahms und die Berliner Hochschule mit von
der Partie wären!" Darauf erhob sich Liszt, ging auf den
Sprecher zu und sagte in vorwurfsvoll gereizter Weise : „Lieber
Fr., lassen Sie sich's ein für allemal gesagt sein: solange ich
— 246 —
lebe, wünsche ich unter allen Umständen, dafs der Name
Joachim in diesem Hause nur mit der gröfsten Hochachtung
und Verehrung ausgesprochen werde!"
Aber nicht nur als Solist und Quartettspieler liefs sich
Joachim aufserhalb bewundern, sondern er fand auch als "Diri-
gent so hohe Anerkennung, dafs man eine ganze Anzahl von
Musikfesten seiner Leitung anvertraut hat. Von diesen seien
nur diejenigen angeführt, die zu gleicher Zeit eine musik-
geschichtliche Bedeutung besitzen: die beiden Schumann-Feiern
in Bonn und das Bach-Fest in Eisenach.
Von den Schumann-Feiern fand die erste vom 16. bis 18.
August 1873 statt. Es gelangten nur Kompositionen des Meisters
zur Aufführung, dessen Andenken die Feier galt ; Joachim und
Wasielewski waren die Festdirigenten; Clara Schumann, Julius
Stockhausen und Ernst Rudorff befanden sich unter den Solisten.
Der Reinertrag dieses Festes bildete den Grundstock für die
Errichtung eines Schumann-Denkmals, das am 2. Mai 1880 auf
der Grabstätte des Komponisten enthüllt wurde. Im Anschlufs
an die Einweihung des Monumentes fand die zweite Feier statt,
bei der wieder, bis auf eine Nummer, nur Schumannsche Werke
aufgeführt wurden. Dieses eine Stück war das Violinkonzert
von Brahms, das Joachim zum Vortrag brachte. In die Leitung
des Festes hatten sich diesmal Brahms und Joachim geteilt.
Das Bach-Denkmal in Eisenach wurde am 28. September
1884 eingeweiht. Zu Leitern des Musikfestes, das im An-
schlufs an die Enthüllungsfeier stattfand, hatte das Komitee
zwischen den drei grofsen Künstlern zu wählen, die für das
Denkmal die namhaftesten Beträge aufgebracht hatten: Liszt,
Joachim und Bülow. Liszt lehnte die Direktion mit der Be-
gründung ab, dafs er als katholischer Geistlicher nicht gut
protestantische Kirchenmusik in der Öffentlichkeit leiten könne,
Bülow aus Überlegungen privater Natur; also kam nur noch
Joachim in Frage, der nun von dem Komitee mit der Leitung
des Festes betraut wurde. Selbstverständlich kamen hierbei
nur Bachsche Werke zur Aufführung.
— 247 —
Die Errichtung des Monumentes war ursprünglich für das
Jahr 1885 geplant gewesen , da erst mit diesem das zweite
Jahrhundert seit der Geburt des gewaltigen Meisters verstrichen
war. Liszt aber hatte den Wunsch ausgesprochen, bei der
Einweihung des Denkmals gegenwärtig zu sein, da es ihm
fraglich schien, ob er das nächste Jahr noch erleben würde.
Dies der Grund, weshalb die Enthüllung schon 1884 geschah.
Bei den Vorproben zu der musikalischen Feier dieser Be-
gebenheit, von denen manche in Weimar gemacht wurden, ergab
es sich ganz von selbst, dafs Joachim auch Liszt besuchte, der,
den Gast auf der Treppe seines Hauses erwartend, diesen mit
derselben Inbrunst ans Herz schlofs wie ein zärtlicher Vater,
der den verloren geglaubten Sohn wiederfindet.
Bei der reichen, anstrengenden und zeitraubenden Thätig-
keit, die Joachim während der dreifsig Jahre seines Aufenthaltes
in Berlin entfaltet hat, scheint es erklärlich, dafs er mit
schöpferischen Arbeiten nur noch selten an# die Öffentlichkeit
getreten ist. Zum Schaffen gehören Ruhe und Mufse, und diese
sind ihm in den letzten Jahren immer weniger vergönnt gewesen.
Das ist um so bedauerlicher, als die Violinlitteratur keineswegs
reich genug ist, um auf die Mitarbeiterschaft und Beihtilfe einer
so aufsergewöhnlichen Kraft, wie die Joachims, verzichten zu
können. Selbst sehr milden Beurteilern dürfte es schwer fallen,
mehr als etwa drei Dutzend gröfserer Werke für Violine namhaft
zu machen, die von der Art sind, dafs sie dem eisernen Be-
stände der Geigenlitteratur zugezählt werden müssen.
Ein solches Werk hat uns Joachim während seiner Berliner
Zeit geschenkt, leider aber auch nur eines: seine „Variationen
für Violine und Orchester", die anfangs der achtziger Jahre
erschienen und Sarasate als Gegendedikation des ersten Heftes
seiner „spanischen Tänze" gewidmet sind.
Wer etwa der Ansicht gehuldigt hatte, dafs der Born der
Erfindung bei Joachim versiegt sei, der mufste sich in der
— 248 —
angenehmsten Weise enttäuscht fühlen, denn nach der geistigen
Seite bezeichnen die Variationen vielleicht den Höhepunkt von
Joachims gesamter schöpferischer Thätigkeit. Sie sind kein
dankbares Stück im landläufigen Sinne ; aber, je näher man sie
kennt, um so höher lernt man sie schätzen, je öfter man sie
hört, um so lieber gewinnt man sie. Und das ist entscheidend
für den inneren Wert eines Kunstwerkes. Jede einzelne
Yariation zeigt die Erfindungsgabe und das Kombinations-
vermögen des Komponisten von einer neuen und überraschenden
Seite, und das ganze Stück stellt ebenso hohe Anforderungen
an die geistigen Kräfte und das technische Können des Aus-
führenden, wie das ungarische oder das G-dur- Konzert des
Meisters.
Es giebt in der gesamten Yiolinlitteratur nur ein Werk,
welches, derselben Kunstform angehörig, die Joachimschen
Yariationen in geistiger Hinsicht um ein Beträchtliches überragt :
Die Chaconne von Bach für Yioline allein. Da aber schon die
Bezeichnung „für Violine allein" einen äufserlichen Gegensatz
in der ganzen Art der Behandlung gegenüber einem Stück mit
Orchester erkennen läfst, die Joachimschen Yariationen überdies
einen weit gröfseren Reichtum an geigerischen Kombina-
tionen aufzuweisen haben, der schon durch die Errungenschaften
der modernen Technik erklärt ist, so kann füglich ein Vergleich
zwischen den beiden Stücken nur einen problematischen Wert
haben.
Die Hauptsache ist, dafs Joachim mit seinen Yariationen
die Geiger mit einem Werk bedacht hat, das auch späteren
Generationen noch erzählen wird, dafs er nicht nur einer der
gröfsten ausübenden Tonkünstler aller Zeiten, sondern auch
einer der bedeutendsten Komponisten für sein Instrument ge-
wesen ist.
Ein anderes Werk, das Ende der siebziger Jahre in Berlin
entstanden ist, zeigt uns Joachim auf einem bisher nur ganz
flüchtig von ihm berührten Gebiet : als Gesangskomponist. Seine
„Scene der Marfa aus Schillers unvollendetem Drama ,Deme-
— 249 —
trius* für Mezzo - Sopran und Orchester" ist ein so durchaus
edles und zugleich dankbares Gesangsstück, dafs es unbedenk-
lich neben die besten Konzertarien gestellt werden darf, die
in den letzten Jahrzehnten komponiert worden sind. Freilich
erfordert es zu erschöpfender Wiedergabe nicht nur eine
pastose Stimme von bedeutendem Umfang, sondern auch grofse
musikalische Sicherheit im Gestalten und die höchste Ausdrucks-
fähigkeit in der Richtung des leidenschaftlich Pathetischen.
In seiner Frau, für die er ja die „Marfa-Scene" geschrieben
hat, fand er alle diese Vorbedingungen in so hohem Mafse er-
füllt, dafs das Stück überall, wo sie es sang, zu eindringlichster
Wirkung gelangte. Unsere Konzertsängerinnen sollten es sich
deshalb angelegen sein lassen, ein so bedeutendes Werk nicht
der Vergessenheit preiszugeben, da es den Musiker ebenso
fesselt, wie es das Publikum erwärmen mufs. Um die reichen
Schönheiten des Stückes zur völligen Geltung zu bringen, ist
die Ausführung mit Orchester unerläfslich , da der Klavier-
auszug das glänzende Kolorit der Instrumentierung nur not-
dürftig andeutet.
Joachim wohnte mit seiner Familie während der ersten
Zeit seines Berliner Aufenthaltes in der Eichen -Allee (jetzt
„In den Zelten"), siedelte aber anfangs der siebziger Jahre in
sein eigenes Haus, Beethoven-Strafse 3, über. Die Bezeichnung
„Beethoven-Strafse" für die kleine, von den Zelten abzweigende
Gasse konnte Joachim nur mit grofser Mühe durchsetzen, da
die Nachkommen Meyerbeers, der ja in einem der in der Nähe
befindlichen Häuser geboren wurde, wünschten, dafs sie den
Namen dieses Komponisten trüge. Joachim wieder bestand auf
seinem Vorschlag mit dem Hinweis, dafs die hundertste Wieder-
kehr des Geburtstages von Beethoven die geeignetste Ver-
anlassung wäre, die Erinnerung an diesen erhabenen Genius
durch die Widmung einer Strafse auch in der Hauptstadt des
neugegründeten Deutschen Reiches lebendig zu erhalten. Kaiser
Wilhelm, dem die Streitfrage unterbreitet wurde, entschied, dafs
— 250 —
das Gäfschen eigentlich „Joachim-Strafse" heifsen müfste. Da
aber in Berlin schon eine Strafse dieses Namens vorhanden sei,
so wolle er, dafs die Benennung derselben nach dem Meister
geschähe, in dessen Interpretation Joachim das Höchste leiste,
also „Beethoven-Strafse" getauft werde
Die Familie Joachims erweiterte sich durch die Geburt
dreier Kinder auf sechs Nachkommen, die seinen Namen tragen.
Am 25. Februar 1869 erblickte seine zweite Tochter, Josepha,
das Licht der Welt, am 7. Mai 1877 der dritte Sohn, Paul,
und die jüngste Tochter, Elisabeth, ist am 26. Juni 1881 zu
Salzburg geboren.
Das bis dahin so glückliche Eheleben zwischen Joachim
und seiner Gemahlin erfuhr um die Wende der achtziger Jahre
eine solche Trübung, dafs sich die beiden grofsen Künstler 1882
voneinander scheiden liefsen und seither ihre eigenen, getrennten
Wege wandeln.
Von den Söhnen Joachims hat der älteste, Johannes, die
Gelehrtenlaufbahn eingeschlagen, der zweite, Hermann, die
militärische Carriere, und Paul, der jüngste, studiert Natur-
wissenschaften. Joachims älteste Tochter, Marie, ist Sängerin
geworden und hat als solche die Bühne zum Schauplatz ihres
Wirkens erwählt. Im Besitze einer geradezu phänomenalen
Stimme und unterstützt von ganz eminenten dramatischen Fähig-
keiten, leistet sie speciell in leidenschaftlichen und heldenhaften
Frauenrollen so Bedeutendes, dafs ihr ohne Frage eine glänzende
Zukunft beschieden ist. Ihre Wiedergabe der „Oceanarie" aus
Webers „Oberon" gelegentlich eines vor etwa fünf Jahren statt-
gehabten Konzertes der vorzüglichen Geigerin Betty Schwabe
in der Singakademie war eine künstlerische Darbietung so
hohen Ranges, dafs der Verfasser keine dramatische Sängerin
der Gegenwart zu nennen wüfste, die ihr in dieser Rolle eben-
bürtig wäre.
Fräulein Marie Joachim debütierte im Frühjahre 1889 am
Theater zu Elberfeld als Elisabeth in Wagners „Tannhäuser tt
und blieb vier" Jahre in i^rem dortigen Engagement. Hierauf
— 251 —
gehörte sie zwei Jahre der Bühne zu Dessau und ein Jahr dem
Weimarschen Hoftheater an; gegenwärtig wirkt sie am Hof-
theater zu Kassel. Dafs sie nicht längst schon Mitglied einer
Bühne ersten Ranges ist, erinnert einigermafsen an die Schick-
sale ihrer grofsen Mutter am Kärnthnerthor - Theater in Wien
und vermehrt die unbegreiflichen Seltsamkeiten, an denen unser
Theaterleben ohnehin schon so reich ist.
Joachims zweite Tochter, Josepha, war eine Zeitlang an
verschiedenen Theatern als Schauspielerin erfolgreich thätig,
hat es aber vorgezogen, der Bühne zu entsagen und als die
Gattin eines Gelehrten dessen Heim als fürsorgende Hausfrau
zu einem traulichen zu gestalten. Elisabeth, die jüngste
Tochter des Meisters , ist bei ihrer grofsen Jugend noch ein
unbeschriebenes Blatt, und dem Griffel der Zeit bleibt es vor-
behalten, darauf noch Schönes und Freundliches zu verzeichnen.
Frau Amalie Joachim hat sich nach der Trennung von
ihrem Gatten wieder mit ganzer Seele dem Künstlerberuf hin-
gegeben und von verschiedenen Stationen aus weite Konzert-
reisen unternommen, die sie zwischen ihren längeren Aufenthalts-
orten Elberfeld und München auch nach Amerika geführt haben.
Überall hat sie sich mit ihrer vornehmen, durchgeistigten Vor-
tragskunst den Ehrennamen zu erringen und zu erhalten gewufst,
die erste deutsche Liedersängerin der Gegenwart und eine der
gröfsten Gesangsmeisterinnen aller Zeiten zu sein. Seit einer
Reihe von Jahren hat sie ihren ständigen Wohnsitz wieder in
Berlin aufgeschlagen und entfaltet neben ihrem fortgesetzten
Wirken in der Öffentlichkeit auch eine ungemein erspriefsliche
Thätigkeit als Gesanglehrerin.
Nachdem Joachim sein Haus in der Beethovenstrafse ver-
äufsert hatte, bewohnte er eine Zeitlang die erste Etage des
Hauses Friedrich Wilhelmstrafse 5 und siedelte dann nach der
Bendlerstrafse 17 über, allwo sich sein Heim auch gegenwärtig
noch befindet.
— 252 —
Der Winter von 1888 auf 89 war für Joachim eigentlich
nichts anderes, als eine fortlaufende Serie von Ehrungen und
Auszeichnungen, die ihm in einer Fülle und mit solcher Be-
geisterung entgegengetragen wurden, wie kaum einem zweiten
Künstler je zuvor. Am 17. März 1889 waren nämlich fünfzig
Jahre seit seinem ersten öffentlichen Auftreten in Pest ver-
flossen; er konnte also an jenem Tage das Fest der goldenen
Hochzeit mit seiner Kunst begehen. Gehört ein solches Jubi-
läum schon an und für sich zu den seltenen Ereignissen, so
war es im vorliegenden Falle um so denkwürdiger, als es einem
Künstler von der Bedeutung und Rangstellung Joachims galt.
Sonst pflegen fünfzigjährige Jubiläen einen etwas wehmütigen
Beigeschmack zu haben, da der Gefeierte, wenn er auf ein so
inhaltsreiches Künstlerleben zurückblicken darf, wie Joachim,
in der Regel von der Zukunft wenig mehr zu erhoffen hat.
Von alledem war bei dieser Jubelfeier nichts zu spüren : Joachim
hat sie nicht nur in vollster körperlicher Rüstigkeit und un-
angetasteter geistiger Frische über sich ergehen lassen, sondern
bei allen Teilnehmern die hoffnungsreiche Erwartung wach
gerufen, dafs er noch eine lange Reihe von Jahren seinen edlen
Beruf in ungeschwächter Kraft ausüben werde zum Heil für
die Kunst und zur freudigen Genugthuung seiner Freunde und
Yerehrer.
Das Charakteristische bei diesem Jubiläum war der Um-
stand, dafs es nicht ein für allemal an einem bestimmten Tag
und Ort gefeiert, sondern während mehrerer Monate tiberall da
festlich begangen wurde, wo sich der Jubilar im Laufe jenes
Winters aufhielt oder hören liefs; naturgemäfs am imposan-
testen in Berlin, und der Bedeutung entsprechend, die er
für das Musikleben dieser Stadt gewonnen hat. Der Festtag
fiel für die Berliner Verehrer des Meisters auf den 1. März
1889; den eigentlichen Jubeltag, den 17. März, beging er in
England, wohin ihn seine kontraktlichen Verpflichtungen be-
rufen hatten.
Es kann nicht in der Absicht des Verfassers liegen, all
— 253 —
die Ehrungen einzeln anzuführen, die Joachim bei diesem An-
lafs zu teil wurden; vielmehr beschränkt er sich darauf, aus
der Fülle der Ovationen nur die bedeutsamsten Momente heraus-
zugreifen.
Das Hauptinteresse konzentrierte sich begreiflicherweise
auf die Feier in der Hochschule, die in einem Festkonzert
ihren künstlerischen Ausdruck fand. Der Chor und das Orchester,
durch frühere Schüler und andere hervorragende Künstler
wesentlich verstärkt, leiteten die Feier mit einer Bachschen
Kantate ein, welche Bargiel dirigierte. Hierauf trat Spitta auf
das Podium und betonte in warmen Worten die Beziehungen
des Jubilars zur Hochschule als Gründer, Direktor, Lehrer und
Kollege. Über Joachim als Künstler glaubte der Redner sich
um so kürzer fassen zu dürfen, als seine Verdienste bereits in
die Musikgeschichte eingetragen seien. Auf diese Ansprache
erfolgte die Übergabe der von Donndorf ausgeführten Büste des
Jubilars, welche hauptsächlich Ktinstlerkreisen angehörige Ver-
ehrer desselben als Festgabe gestiftet hatten. Mit herzlichen,
von tiefer innerer Erregung durchzuckten Worten dankte der
Gefeierte dem Redner „für die warme Anerkennung aus so
kompetentem Munde, dafs seine Arbeit und sein Streben nicht
vergeblich gewesen seien", und zugleich allen anderen, die ihm
an diesem Tage so vielfache Beweise liebevollen Anteils und
treuer Freundschaft bekundet hatten.
Und nun begann unter Rudorffs Leitung das eigentliche
Festkonzert. Es kamen nur Kompositionen von Joachim dabei
zur Ausführung : Die Ouvertüren zu Hamlet und zu Heinrich IV.
und das Violinkonzert in ungarischer Weise. Da Rudorff dem
stattlichen Orchester die beiden erstgenannten Stücke mit der
liebevollsten Sorgfalt einstudiert hatte, so erfuhren sie selbst-
verständlich eine überaus glänzende Wiedergabe.
Die dadurch in die Wege geleitete festliche Stimmung der
Zuhörer steigerte sich nach dem Vortrag des ungarischen Kon-
zerts bis zu jubelnder Begeisterung. Drei hervorragende
Schüler Joachims hatten sich in die Wiedergabe desselben ge-
— 254 —
teilt: den ersten Satz spielte Hugo Olk, den zweiten Johann
Kruse, den letzten Henri Petri. Den Beifall, mit dem die drei
Künstler überschüttet wurden, wufsten diese in zartsinniger
Weise auf den Jubilar abzulenken, der ja das Werk geschaffen
und sie in die Wiedergabe desselben eingeweiht hatte. Immer
und immer wieder mufste er auf das Podium treten, den Solisten
die Hand drücken, dem Orchester warme Worte der An-
erkennung zurufen und sich vor dem enthusiasmierten Publikum
verbeugen.
Als die Ovationen kein Ende nehmen wollten, nahm Joachim
Olk die Geige aus der Hand, zum Zeichen, dafs er selber etwas
vortragen wolle, um seinem Dank Ausdruck zu geben. Mit den
Worten: „Kehren wir zu Bach zurück!" setzte er die Geige
ans Kinn und spielte die Bachsche Chaconne in solcher Voll-
endung, wie man sie von ihm kaum jemals in früheren Jahren
vernommen hatte. Nach der atemlosen Stille, die während
seines Vortrages geherrscht hatte, brach nun ein Beifallsgetose
aus, das sich schlechterdings nicht beschreiben läfst. Wild-
fremde Leute im Publikum schüttelten einander die Hände und
beglückwünschten sich gegenseitig, dafs sie Zeugen einer Be-
gebenheit waren, bei der ein unvergleichlicher Künstler den
Beweis erbracht hatte, dafs man ein halbes Jahrhundert seinem
edlen Beruf dienen und dabei doch jung wie ein Dreifsig-
jähriger bleiben könne!
Ein solennes Bankett mit allen erdenklichen Beigaben ver-
einigte nach dem Konzert mehrere Hunderte von Joachims
persönlichen Freunden, Verehrern und Schülern bis zur frühen
Morgenstunde in den Räumen der „Gesellschaft der Freunde".
Natürlich hatten es sich die Schüler des Meisters nicht
nehmen lassen, demselben auf der Fahrt von der Hochschule
zum Banketthause die Pferde vor dem Wagen auszuspannen.
Im Taumel der Begeisterung zogen und stiefsen sie nun das
den lenkenden Kutscher entbehrende Gefährt in so rasendem
Lauf über die Potsdamerbrücke, dafs beim Anprall an das Ge-
länder die Deichsel des Wagens brach. Der Verfasser bildet
— 255 —
sich ein, dafs nur durch sein energisches Dazwischentreten eine
Katastrophe verhindert wurde: der Sturz des verschlossenen
Wagens in den Kanal !
Ein sprechender Beweis für die warmen Sympathien, deren
sich Joachim in weiteren Kreisen der gebildeten Gesellschaft
Berlins erfreut, war die Ehrengabe, die ihm zu seiner fünfzig-
jährigen Jubelfeier in Gestalt eines Kapitals von einmalhundert-
tausend Mark überreicht wurde. Von diesem Betrage waren
80 000 Mark für ihn persönlich bestimmt, der Rest seiner Ver-
fügung zu wohlthätigen Zwecken im Interesse der Kunst anheim-
gestellt. Diese 20 000 Mark bilden nun den Grundstock der
„Joseph Joachim-Stiftung", aus deren Zinsen alljährlich Preise
in Gestalt von Streichinstrumenten an talentvolle, aber unbemittelte
Musikstudierende auf Joachims Vorschlag zur Verteilung ge-
langen.
Von den vielen Adressen, welche künstlerische und wissen-
schaftliche Korporationen an den Jubilar gerichtet hatten, war
wohl die des „Verein Beethovenhaus in Bonn" die bedeut-
samste und ehrenvollste.
Zwölf kunstsinnige Bonner Bürger hatten zu Anfang des
Jahres 1889 den Entschlufs gefafst, das Geburtshaus Beethovens
zu erwerben, um es „in den Zustand zur Jugendzeit Beethovens
zurück zu versetzen und es auszustatten mit allem, was er selbst
geschaffen, was ihm zu Ehren hervorgebracht wurde, also zu
einem wirklichen Beethoven-Museum einzurichten, das in jedem
Besucher weihevolle Stimmungen, edle Gefühle erwecken und
das Andenken an den erhabenen Meister beleben und wach er-
halten soll" *).
An dem Tage seiner goldenen Jubelfeier in Berlin wurde
Joachim, „dem berufensten Künder Beethovenscher Kunst", die
Übernahme der Ehrenpräsidentschaft dieses pietätvollen Unter-
nehmens angetragen, welches daraufhin auf seinen Vorschlag
l ) Bericht des „Verein Beethovenhaus in Bonn".
— 256 —
den Namen „Verein Beethovenhaus in Bonn" annahm und als-
bald mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit trat.
Um die nötigen Mittel zur Verwirklichung des schönen
Gedankens zu beschaffen, veranstaltete der Verein bis jetzt drei
Beethoven-Feiern in Form von Kammermusikfesten, bei denen
eine grofse Anzahl hervorragender Tonkünstler in uneigen-
nützigster Weise mitwirkten, so dafs der volle Ertrag dieser
Aufführungen den idealen Zwecken des Unternehmens zu
gute kam.
Die erste vom Verein veranstaltete Feier fand in den
Tagen vom 11. bis 15. Mai 1890 statt, die zweite vom 10. bis
14. Mai 1893 und die letzte vom 23. bis 27. Mai 1897. Bei
den ersten zwei Eammermusikfesten kamen ausschliefslich
Beethovensche Kompositionen zur Aufführung, beim dritten nur
Werke von Beethoven und Brahms, der am 3. April 1897 aus
dem Leben geschieden war. Da man noch unter dem frischen
Eindruck dieses betrübenden Ereignisses stand, so ergab sich
die Veranlassung von selbst, dem gröfsten Meister seit Beethoven
eine würdige Trauerfeier durch Vorführen seiner bedeutendsten
Werke auf dem Gebiete der Kammermusik zu veranstalten.
Joachim beteiligte sich mit seinen Quartettgenossen de Ahna,
Wirth und Hausmann beim ersten Beethoven-Fest an der Aus-
führung folgender Werke : C-dur-Quintett, Op. 29 (2. Bratsche :
G. Jensen), und Quartette in Cis-moll, Op. 131; F-dur, Op. 59;
F-moll, Op. 95; B-dur, Op. 130; mit Karl Reinecke und Alfred
Piatti spielte er überdies noch das Klaviertrio in Es-dur,
Op. 70.
Den fünf Konzerten der zweiten Feier „Zur Weihe des
Beethoven-Hauses" ging am Morgen des 10. Mai eine überaus
feierliche Ceremonie voraus, indem das Joachimsche Quartett
(diesmal mit Kruse als zweitem Geiger) in dem Raum, in welchem
der hehre Genius das Licht der Welt erblickt hatte, die Cava-
tine aus dem Quartett Op. 130 und das Adagio aus dem Harfen-
quartett, Op. 74, auf Beethovens Streichinstrumenten vortrug.
Im übrigen war Joachims und seiner Genossen Beteiligung an
Joseph Joachim
r der Kgl. Akademie der Küi
— 257 —
der Ausführung des diesmaligen Programmes ebenso umfang-
reich, wie im Jahre 1890.
Auf dem letzten Kammermusikfest bestanden die Darbietungen
des Joachim-Quartetts in folgenden Werken von Brahms : Quar-
tett A-moll, Op. 51; Klarinettenquintett, Op. 115 (mit Mühl-
feld) ; Sextett B-dur, Op. 18 (mit Koning als zweitem Bratschisten
und Grützmacher am zweiten Cellopult); zudem spielte Joachim
mit Borwick und Hoyer noch das Es-dur-Trio, Op. 40, für
Klavier, Violine und Hörn. Von Beethoven trug er die Quar-
tette in Es-dur, Op. 127, F-dur, Op. 135, und Cis-moll,
Op. 131, vor.
Schliefslich sei noch erwähnt, dafs Joachims Wohnung zu
seiner fünfzigjährigen Jubelfeier durch die Fülle von Gaben,
welche Privatkreise dem Gefeierten verehrt hatten, in ein kleines
Museum verwandelt wurde. Eine grofse Anzahl von Diplomen
und Huldigungsadressen, Zeichnungen und Gemälden berühmter
zeitgenössischer Maler, wertvollen Autographen und Manuskripten,
sowie kunstgewerblichen Gegenständen halten in dem Meister
die Erinnerung an diesen seinen Ehrentag lebendig. Ein be-
sonders sinniges Geschenk widmeten eine Anzahl edler Frauen
aus der Berliner Gesellschaft, die ein riesiges Tafeltuch mit
sinnreichen Sprüchen und Zeichnungen eigenhändig bestickt hatten ;
die langjährigen Abonnenten seiner Quartettabende in der Sing-
akademie stifteten kunstvoll ausgeführte Notenpulte für seinen
Hausgebrauch und die Verehrer in England eine prachtvolle Stra-
divari-Geige aus der Glanzzeit des berühmten Geigenmachers.
Der frohe Ausblick und die zuversichtliche Hoffnung, dafs
Joachim nach seiner goldenen Jubelfeier noch lange seines edlen
Priesteramtes im Dienste der Kunst walten werde, haben sich
in der erfreulichsten Weise verwirklicht : wir stehen im Begriffe,
sein sechzig jähriges Künstlerjubiläum festlich zu begehen !
Moser, Joseph Joachim. 17
VII.
Rückblick und Sehlufs.
9
17
JgSSSfSill man sich die Bedeutung klar machen, welche Joachim
BÄralf ^ iir ^ as Musikleben der Gegenwart gewannen hat, und
5^1?*» die Ausnahmestellung verstehen, die er unter seinen
Zeit- und Kunstgenüssen einnimmt, so ist es vor allem nötig,
sich den Stand der ausübenden Tonkunst zu der Zeit zu ver-
gegenwärtigen, als er in die Öffentlichkeit trat und seine künstle-
rische Potenz in die Wagschale warf. Die beiden Virtuosen,
welche in diesem Jahrhundert das gröfste Aufsehen in der Welt
gemacht haben, Paganini and Liszt, bieten den besten Aus-
gangspunkt zu dieser Umschau. Der erstere, mit seiner sagen-
umsponnenen Persönlichkeit und dem mystischen Zauber seines
Spiels, ist so recht die Verkörperung des Virtuosem ums par
excellence. Doch verkennt man seine künstlerische Bedeutung
vollständig, wenn man sie an der charlatan haften Art seines
Wirkens in der Öffentlichkeit oder an den Kompositionen messen
wollte, die er für den Konzertgebrauch geschrieben hat. Dafs
Paganini nicht nur ein Hexenmeister war, der die technische
Seite des Violinspiels bis zur andersten Grenze der Leistungs-
fähigkeit gesteigert hat, sondern auch ein tüchtiger und geist-
voller Musiker, das bezeugen seine als Op. 1 erschienenen
Capricen. Sie haben einer ganzen Anzahl von hervorragenden
Komponisten zum Gegenstand von Bearbeitungen und Trans-
Bkriptionen gedient, wie Brahms zum Vorwand eines seiner ge-
waltigsten Klavierstücke, der Paganini- Variationen.
— 262 —
Diese Erscheinung ist in der Violinlitteratur nicht ver-
einzelt. Auch noch zwei andere glänzende Geigenvirtuosen sind
in ihren Konzertkompositionen mehr oder weniger Sklaven des
oberflächlichen Geschmacks ihrer Zeit gewesen, haben uns
aber Werke pädagogischer Richtung hinterlassen, die von
ihrem musikalischen Wesen und echtem Künstlertum eine un-
gemein günstige Vorstellung gehen: Ch. de Bgriot mit seiner
„Ecole transcendante" und H. W. Ernst mit seinen „Freunden
und Kunstbrüdern gewidmeten mehrstimmigen Studien", von
denen die dritte Joachim zugeeignet ist.
. Paganini hat mit seinen Zauberkünsten aber nicht nur das
grofse Publikum bis zur Ekstase begeistert, sondern auch auf
ernsthafte Musiker einen tiefgehenden Eindruck gemacht, wie
z. B. auf den Heidelberger Studenten Robert Schumann. Der
Ansicht Spohrs über seinen sieggekrönten Zeitgenossen darf
man kein allzu grofses Gewicht beimessen, da er sich zu eng
in seine Eigenart eingesponnen hatte, um über neue und fremd-
artige Erscheinungen unbefangen urteilen zu können. So ist er
wohl für den Beethoven der ersten Periode mit grofser Wärme
eingetreten, aber schon für die Rasoumoffsky-Quartette und die
C-moll-Symphonie dieses Gewaltigen hatte er kein Verständnis
mehr; von den letzten Quartetten und der neunten Symphonie
gar nicht zu reden. Bezeichnend ist die Äufserung, die er
Joachim gegenüber that, als dieser ihm einmal das Beethoven-
sche Konzert in Hannover vorgespielt hatte: „So, lieber Herr
Joachim, das war ja alles ganz hübsch; aber nun möchte ich
mal ein ordentliches Violinstück von Ihnen hören!"
War nun Paganini die sensationellste aller Virtuosen-
erscheinungen , so war Liszt die gewaltigste und universellste.
Während der Geiger in der Öffentlichkeit nur solche Sachen
spielte, in denen er seine violinistischen Qualitäten zu blenden-
der Wirkung bringen konnte, zierten die Programme des Klavier-
heros auch die Namen der Klassiker, von deren Werken er
manche zum erstenmal öffentlich spielte oder vom Staube der
Vergangenheit befreit hat. Freilich erschienen sie meist in
— 268 —
sehr fragwürdiger Umgebung, denn Liszt hatte sich während
seiner Virtuosenlaufbahn daran gewöhnt, den Eindruck seiner
Vorträge an dem Beifall zu messen, der ihnen zu Teil wurde.
So konnte er der Versuchung nicht widerstehen, alten Meister-
werken ein modernes Mäntelchen umzuhängen, Passagen, die
der Komponist in schlichten Tonfolgen gesetzt hatte, in Oktaven
oder Terzen zu spielen, einfache Triller in Sexten auszuführen
u. dergl. , nur um eine gröfsere Wirkung damit zu erzielen.
Wie der Virtuose Liszt den pietätvollen Musiker in ihm manch-
mal zu Boden schlug, davon ist schon im Kapitel „Weimar"
die Rede gewesen. Das Verdienst, den grofsen Meistern die
ihnen zukommende Stellung in den Programmen ausübender
Tonkünstler verschafft und ihre Werke in unangetasteter Ur-
sprünglichkeit wiedergegeben zu haben, gebührt Felix Mendels-
sohn, Clara Schumann und Joseph Joachim.
Von der Natur mit ganz aufsergewöhnlichen geigerischen
Anlagen ausgestattet, hatte sich Joachim bei Joseph Böhm in
den Vollbesitz eines allen Schwierigkeiten gewachsenen tech-
nischen Könnens gesetzt und dazu im Hause seines Wiener
Lehrers die vertraute Bekanntschaft mit dem Quartettspiel ge-
macht. Unter der fürsorgenden Obhut Mendelssohns gelangten
in Leipzig hauptsächlich die musikalischen Fähigkeiten
des Knaben zu rascher Entwicklung. Das hohe Streben, das
ihn erfüllte, und der sittliche Ernst, mit dem er sich den
geistigen Idealen seiner Kunst zuwandte , zeitigten nun jene
merkwürdige Frühreife, die Mendelssohn in seinem Briefe an
Witgensteins in so ergreifender Weise geschildert hat.
Mit welcher Macht die Lehren des edlen Meisters auf den
empfänglichen Sinn des Knaben eingewirkt hatten, und wie
lebendig in ihm die Erinnerung an sein leuchtendes Vorbild
geblieben war, als es längst nicht mehr unter den Lebenden
weilte, davon geben die nachstehenden Bruchstücke von
Briefen Joachims an seinen Bruder Heinrich in London be-
redtes Zeugnis.
— 264 —
„Leipzig, 30. Juli 1848.
Doch, einen Freund fand ich nicht, der nicht
wiederkehren wird, der mir sonst Leipzig zum Paradies ge-
macht hat. Er ist weg 1 ). Weg über Wunsch und Furcht,
gehört nicht mehr den betrüglich wankenden Planeten. 0, ihm
ist wohl , wohler als uns allen , die wir ihn nun entbehren
müssen! Doch wir sollen sehen, dafs wir in seinem Geiste
weiter arbeiten, und wollen nicht ruhen und nicht aufhören,
zu streben, auf dafs wir dem erhabenen Ideale immer näher
rücken, damit wir einst mit gutem Gewissen vor unsern
Meister treten können. Wenigstens ich will nicht ruhen in
dem Streben, nach seinem Geiste meine Kunst auszuüben
und zu fördern, ihm so auch jetzt noch nahe zu stehen."
„Leipzig, Frühjahr 1849 [?].
Es fehlt mir wieder an einem: an hinlänglichen
Kompositionen 2 ). Verdamme mich nicht ; glaube es mir, lieber
Heinrich, ich kann mich nicht anklagen; es mangelte mir
wahrlich auch an dem besten Willen nicht, ja, ich kann sogar
sagen, dafs ich keineswegs den Winter über unthätig war.
Doch es scheint ein eigenes Unwetter darüber zu schweben,
welches meine Seele sehr drückt. Ein Konzertstück, das
ich für England schrieb, ist mifslungen und nicht für öffent-
liches Spiel brauchbar, obwohl ich mir die gröfste Mühe
damit gegeben habe. Auch das hat mich entmutigt. Es ist
fast, als ob ich dazu verdammt wäre, in der Musik nichts
zu leisten .... Und ich meine es doch so gut mit der
Kunst; sie ist mein Heiligtum, ich könnte mein Leben mit
Freude für sie hinopfern; aber trotzdem leiste ich nichts in
ihr — fast gar nichts; — als ob ein tragisches Fatum,
gegen das ich nicht ankämpfen kann, darüber schwebte!
Wird es über mein ganzes Leben verhängend hangen? —
Doch nein — ich will, ich kann es mir nicht denken.
*) Mendelssohn.
2 ) Für eine beabsichtigte Konzertreise nach England.
— 265 —
Wenigstens ankämpfen will ich gegen dieses Fatum mit aller
Macht. „Audaces fortuna juvat" soll mein "Wahlspruch
werden, und vielleicht oder vielmehr gewifs werde ich es
doch noch besiegen. Ich möchte so gerne was Grofses in
der Kunst leisten!"
„Leipzig, Frühjahr 1849 [?].
.... Als ich vorgestern an Dich schreiben wollte, kam
Gade zu mir mit der Bitte, im nächsten hiesigen Konzert
zweimal zu spielen. Nun wollte ich nicht gerne schon be-
kannte Sachen spielen, und solches Zeug wie Vieuxtemps,
Be'riot, Ernst, David u. s. w. (entre nous) kann ich nicht
mehr spielen ohne Widerwillen. Wir brachten daher lange
Zeit damit zu und suchten unter allen Musikalien und bei
allen Musikalienhändlern herum, ob wir was finden könnten,
was man mit Lust spielt: Viotti, Rode, Kreutzer, Spohr.
Endlich entschlofs ich mich zu einer Romanze von Beethoven
und einem Concertino von Spohr. Ich kannte beide noch
nicht und wollte sie gerne auswendig und hübsch bis zum
nächsten Donnerstag einstudieren. Nun dachte ich, Ruhe zu
haben und Dir heute schreiben zu können. Aber so gegen
zwei kommt David zu mir und sagt, dafs ich ihm aus einer
grofsen Verlegenheit helfen müfste und ihm eine grofse Freund-
schaft erweisen könnte. Er hätte versprochen gehabt, am
Mittwoch in Bremen zu spielen, und ist nun abgehalten durch
ein triftiges Hindernis, sein Wort zu halten. Ich könnte ihm
und den Bremern einen grofsen Dienst erweisen, wenn ich
dahin reiste und statt ihm spielte. Nun war ich schon längst
aufgefordert worden von der dortigen Konzertdirektion, in
einem von ihren Konzerten (die sehr schön und respektiert
sind) zu spielen, und will David den Gefallen erweisen und
seine Stelle dort (so weit als möglich) vertreten. Einer mufs
dem andern, wenn er kann, aus der Klemme helfen, denke
ich. David spielt am Donnerstag hier für mich und ich am
Mittwoch für ihn in Bremen."
— 266 —
„Leipzig, 3. März 1849.
.... Um nun auf die Quartette zu kommen , so glaube
ich nicht, dafs es damit geht; denn als ich Dir schrieb,
dachte ich gar nicht an die Beethoven-Society, und Du sagst
sehr richtig, dafs ich mit dieser Society in Opposition treten
müfste. Dazu habe ich nun nicht im geringsten Lust. Vor
allen Dingen ist die Beethoven-Society ein Institut, welches
man im Gegenteil eher mit aller zu Gebot stehenden Kraft
unterstützen sollte, und für das ich vielmehr, wenn es nötig
wäre, Opfer zu bringen im stände wäre. Es ist die einzige
Gesellschaft in London von wirklich musikalischer Bedeutung
und Gesinnung, wo die Musik rein und mit wahrer Liebe,
um ihrer selbst, nicht um des leidigen Geldes willen, be-
trieben wird. Es liegt mir auch sehr viel daran, wieder zur
Gesellschaft zu gehören, und Du würdest mir einen grofsen
Gefallen thun, lieber Bruder, wenn Du es Rousselot oder Hill
durch ein paar Zeilen wissen liefsest, dafs ich komme. Ich
wünsche sehr, wieder da zu spielen, denn es war immer der
einzige Ort, an dem ich mit wirklicher Lust und Liebe Musik
machte.
Was die Mendelssohnschen Sachen anlangt, so habe ich
nichts darüber gehört, ob und wann sie publiziert werden,
doch hoffentlich recht bald. Ich würde sie dann mit be-
sonderer Vorliebe auch in London spielen und namentlich
das Quartett, welches ein grofses Lieblingsstück von mir ist
wegen seiner düsteren Stimmung, aber wenig dazu geeignet
sein dürfte, vor einer gröfseren (englischen) Versammlung
Eindruck zu machen. Keinesfalls jedoch würde ich darum
bitten, dafs mir die Kompositionen als Manuskript mitgegeben
würden. Erstens würde ich nicht gerne die Verantwortlich-
keit auf mich nehmen: ein Mendelssohnsches Manuskript ist
ein Heiligtum, und man kann nicht wissen, was geschehen
möchte. Zweitens : würde, wenn die Mendelssohnschen Manu-
skript-Quartette in meinen Quartett-Partys die Attraktion bilden
sollten, ich nicht, sondern eben Mendelssohn das Konzert
— 267 —
geben, von dem ich das Geld nehmen sollte; und dies wäre
ein sehr drückendes Gefühl, dem ich gewifs nie untergehen
möchte. Drittens: sieht mir das Ganze eben zu sehr wie
eine Spekulation aus, die man nie mit der Kunst, ich aber
am wenigsten mit den Kompositionen des grofsen Toten
machen sollte u
„Leipzig, 28. März 1849.
.... Du hast Deinen vorigen Brief selbst als einen Ge-
schäftsbrief bezeichnet; lasse mich den Versuch machen,
kaufmännisch zu antworten! Yor allem also gehe ich mit
Freude auf Euer Wohlgeboren Vorschlag ein, mit H. Ernst
& Co. in Geschäftsverbindung zu treten. Auch ich hatte bei
Ernsts Hiersein die Idee, dafs es hübsch wäre, mit ihm
etwas Derartiges auszuführen, und mein einziges Bedenken
war, als ungefeierter Kunstjünger einem old established house
und einem in der Weise gefeierten Virtuosen, wie Ernst es
ist, einen derartigen Antrag zu stellen, da es doch sehr
zweifelhaft ist, ob es ihm angenehm sein könne und ob es
ihn nicht in Verlegenheit setzen würde, mir eine abschlägige
Antwort zu geben. Doch, da auch Du und Onkel Bernhard
und noch andere die Idee gehabt haben, so mufs sie nicht
so schlecht sein, und es wäre schade, wenn sie unausgeführt
bliebe. Ich ermächtige daher Euer Wohlgeboren, in meinem
Namen das (ich mufs es doch wohl so nennen!) Geschäft
einzuleiten und womöglich zu einer Konklusion zu bringen,
da ich mich von Herzen freuen würde, wenn das Letztere ge-
schähe. Es versteht sich wohl von selbst, dafs die Herren
Ernst & Co. (da ihre Firma besseren Klang als Joachim & Co.
hat und also auch ein gröfseres Kapital in die Kasse legt)
durch einen gröfseren Anteil an der Brutto - Einnahme ent-
schädigt würden. Doch, das mufs ich nun schon meinem
Bevollmächtigten überlassen, das verstehst Du besser. Nur
um eines bitte ich Euer Wohlgeboren noch , nicht die hohe
Achtung aus den Augen zu lassen, die ich vor den Leistungen
des Künstlers, und die Liebe und Freundschaft, die ich für
— 268 —
den Menschen Ernst hege. — Was übrigens Opposition an-
langt, so mache ich mir gar nichts daraus, da ich im Verein
mit Ernst im stände sein würde, Besseres zu leisten als selbst
die Beethoven - Society , und wenn man das kann, so ist es
im Interesse der Kunst sogar Pflicht, zu opponieren" x ) . . . .
Wie sich nun in diesen brieflichen Mitteilungen der hohe
Ernst ausspricht, mit dem Joachim seinen Künstlerbcruf auf-
gefafst hat, so sehen wir ihn als Jüngling schon die Bichtung
einschlagen, in der er binnen kurzem seine einsame Höhe er-
reichen sollte. Während seine Genossen in der Wiedergabe
glänzender, aber nichtssagender Virtuosenstücke Befriedigung
fanden und der oberflächlichen Geschmacksrichtung des Publi-
kums zu Diensten waren, wählte er zum Vortrag nur solche
Werke, in denen die Kunst zu ihrem geheiligten Rechte kommt
und die sich an die edlen Triebe im Menschen wenden, un-
bekümmert um den äufserlichen Erfolg. Wie sehr sich Joachim
darüber klar war, dafs ein solches Verhalten dem Glanz eines
Virtuosennamens wenig förderlich sein könne, geht aus einer
Äufserung hervor, die er Liszt gegenüber in einem Briefe
that, der die Mitteilung enthielt, dafs er in Leipzig sein
G-moll-Konzert und die Schumannsche Phantasie spielen werde :
„Du siehst, ich lege es auf Popularität beim Gewandhaus-
Publikum an ! u
Zwar haben Vieuxtemps und David lange vor Joachim
auch schon das Konzert von Beethoven und andere klassische
Werke in der Öffentlichkeit gespielt, aber sie machten es wie
Liszt; auf den Vortrag eines gehaltvollen Werkes liefsen sie
ihre faden, aber blendenden Phantasien über beliebte Themen
*) Es war der Gedanke angeregt worden, dafs Joachim mit
Ernst in London ständige Quartettabende veranstalten sollte; er kam
jedoch in dieser Form nicht zur Ausführung: Joachim trat der
Beethoven-Society bei, wo er mit Ernst, Vieuxtemps und anderen be-
rühmten Geigern abwechselnd die erste und zweite Violine spielte.
Hill als Bratschist und Rousselot am Cellopult waren ständige Mit-
glieder des Quartetts.
— 269. —
folgen, gleichsam als ob sie das Publikum um Verzeihung bitten
wollten, dafs sie es vorher mit ernster Musik behelligt hatten.
Andererseits war ihnen bei der unausgesetzten Beschäftigung
mit hohlem Virtuosenkram die ethische Kraft verkümmert
worden, ein Kunstwerk in seiner ganzen Tiefe zu erfassen, und
die Fähigkeit, es um seiner selbst willen in voller Reine dar-
zustellen.
Die schlichte Vornehmheit und geschlossene Einheitlichkeit,
mit denen nun Joachim die Konzerte von Beethoven, Mendels-
sohn, Spohr und Viotti, Sätze aus Bachschen Werken für Violine
allein, Sonaten von Tartini, die Schumannsche Phantasie u. s. w.
zum Vortrag brachte, wirkten geradezu wie eine Offenbarung
und führte den Zeitgenossen bisher unbekannte Begriffe von
der Aufgabe eines ausübenden Tonkünstlers zu.
Hatten sich die besten seiner Berufsgenossen im aller-
günstigsten Falle damit begnügt, ein Kunstwerk wie das Bcet-
hovensche Konzert in notengetreuer Korrektheit auszuführen,
so drang Joachim in seinen geistigen Gehalt und förderte aus
•
der Tiefe desselben all die hehren Schönheiten zu Tage, die
so lange in unberührter Verborgenheit geschlummert hatten.
Unter seinen Händen kam ein ganz neues Gebilde zum Vor-
schein, das, wie ein Phönix aus seiner Asche emporsteigend,
den Hörern erst zum Bewufstsein brachte, welch weihevolle
Stimmung ein Werk zu erregen im stände sei, wenn es mit dem
Adel künstlerischer Überzeugung zu neuem Leben erweckt wird.
Das edle Pathos und die erhabene Gröfse, die Joachim in
dem ersten Satz des Konzertes von Beethoven zum Ausdruck
brachte, der schwungvolle Aufstieg zum Hauptthema, der üppige
Schmelz seiner Tongebung in den Gesangsstellen und das kernige
Mark der charakteristischen Stricharten mufsten ebenso impo-
nieren wie das höchste Erstaunen hervorrufen über eine so
unbeschränkt gebietende Gestaltungskraft. Im Larghetto be-
wunderte man zunächst die improvisatorisch freie Art, mit der
er die Figurationen über dem herrlichen Thema in den höchsten
Geigenlagen zu silberhellem Klingen brachte, und lauschte dann
— 270 —
in andächtigem Schauer der Melodie selbst, die in unbeschreib-
licher Verklärung aus den Saiten quoll. War es bisher der
hohe Ernst gewesen, der die Zuhörer in seinem Banne gehalten
hatte, so bestrickte nun das Finale mit seinem frischen Wesen
und der frohsinnigen Laune, die darin zum Ausdruck kamen.
Der schalkhafte Humor, mit dem Joachim den letzten Satz be-
handelte, wurde nur in der Mitte des Stückes durch die von
leiser Melancholie durchzogene Gesangsstelle in G-moll unter-
brochen, die, eine der genialsten Eingebungen Beethovens,
seinem berufensten Künder Gelegenheit gab, die „Wonne der
Wehmut" zu singen, wie sie nach ihm wohl niemals wieder zu
Ohr und Herzen dringen wird.
Auch der Kadenzen, die Joachim zum Beethovenschen
Konzert geschrieben hat, sei in kurzen Worten noch gedacht.
Es giebt deren zwei vollständige Garnituren, von denen die
erste schon in Jünglingsjahren entstanden ist, die zweite wesent-
lich später. Beide legen Zeugnis ab von dem vornehmen Ge-
schmack des Künstlers und seiner Fähigkeit, den Stil eines
Werkes in rhapsodischer Weise nachzuahmen, ohne aus dem
Rahmen desselben herauszufallen. Sind die früher komponierten
Kadenzen die geigerisch dankbareren, so darf man die späteren
als die musikalisch reiferen und bedeutenderen bezeichnen.
Freilich sind sie alle so schwer, dafs sie nur bei besonders
guter Disposition des Vortragenden zu tadelloser Wiedergabe
kommen. Die meisten Geiger, welche das Beethovensche
Konzert spielen, benützen Joachims ältere Kadenzen.
Welch ungeheures Aufsehen Joachim bei seinem ersten
Auftre'ten in Berlin mit dem Konzert von Beethoven gemacht
hat, und wie gewaltig der Eindruck war, den er selbst auf einen
so besonnenen Beurteiler wie Gumprecht ausübte, davon ist
der Leser bereits unterrichtet. Über den Erfolg, den er auf
dem Düsseldorfer Musikfest von 1853 damit errungen hat, sei
der Bericht eines französischen Musikschriftstellers mitgeteilt,
der in der „Indöpendance beige" seinem Enthusiasmus in
folgender Weise Luft machte:
— 271 —
„Der Löwe des Festes war Joachim. Seit zehn Jahren
war uns dieser Name bekannt. Mendelssohn hatte ihn in London
unter seinen Schutz genommen, wo der junge Joachim Wunder
that Seitdem ist das Wunderkind ein Künstler geworden, ein
sehr bedeutender Künstler. Gereift an den Batschlägen und
der Freundschaft Mendelssohns und Liszts, verwirklicht Joachim
bereits das höchste Ideal, das man träumen kann. Das kolossale
Konzert von Beethoven wird unter seinem magischen Bogen-
strich noch gewaltiger. Die Erhabenheit des Stils, die Gröfse
des Ausdrucks, die Gedankentiefe des Meisters, das alles hat
Joachim verstanden, und er giebt das alles mit der Einfalt des
Genies und der wannen und innigen Leidenschaft des grofsen
Dichters wieder. Die Vergleiche in Sachen der Kunst taugen
nichts , die Parallelen sind nicht anwendbar , denn die an-
gewandten Mittel sind verschieden, und doch fallen einem die
berühmtesten Namen ein, wenn man mit Wort und Schrift aus-
drücken will, dafs Joachim der gröfste Violinist der Gegen-
wart ist.
Vieuxtemps — wir können der Versuchung nicht wider-
stehen — Vieuxtemps ist ein Virtuose, der unbestreitbar in
erster Linie steht, und seinen Buhm erhöht noch die wohl-
begründete Achtung, die man seinem Talent als Komponist
schenkt; aber hörte Vieuxtemps Joachim in dem Konzerte von
Beethoven, wir sind gewifs, dafs er es nicht mehr spielen
würde. Joachim, der die Vieuxtempsschen Konzerte nicht
komponieren würde, würde in die innersten Gedanken des
Autors eindringen und sie ausführen. Wir werden nichts von
dem Erfolge Joachims sagen; es war französischer Wahnsinn,
italienischer Fanatismus — und das in dem kalten Deutsch-
land! Uns schwindelt noch davon. Sie werden, das ist unser
heifser Wunsch, eines Tages den berühmten ungarischen Vio-
linisten hören, Sie werden den wunderbaren Orgelklang hören,
wenn er alle melodischen Gedanken Beethovens wiederholt, Sie
werden eine in Oktaven niedersteigende chromatische Tonleiter
hören, die die zweitausend Zuhörer aufschreien liefs, als ob
— 272 —
ihnen der Bogen des Künstlers das Rückenmark hinabführe.
(Dieser bizarre Vergleich kann und mufs sonderbar erscheinen ;
ich habe ihn nicht gesucht, aber er drückt zu gut die unbe-
schreibliche Empfindung aus, als dafs ich ihn nicht hätte wagen
sollen.) Sie werden Joachim in der ganzen Kraft und Reife
des Talents hören — er ist 23 Jahre alt — , und wenn Sie jetzt
über unseren Enthusiasmus vielleicht lächeln, jener Tag wird
Ihnen unsere Prophezeiung ins Gedächtnis rufen, und das wird
unsere einzige Rache sein!
Händel, Gluck, Beethoven, Joachim, wo werden wir euch
wiederfinden? In Köln oder Aachen? Wir kommen!" —
Der rheinische Korrespondent der „Hannoverschen Morgen-
zeitung" schilderte den Verlauf des künstlerischen Ereignisses
in derselben Weise und schlofs mit den Worten: „Selbst die
grofsen Künstler, die nach Herrn Joachim auftraten, waren von
seiner Kunstleistung, die den Brennpunkt des ganzen Festes
bildete, so beherrscht, dafs sie nicht mehr Herr und Meister
ihrer vollen Kraft waren, dafs Hiller z. B. seine Fantasie auf
einmal mit einer Bewegung und einem Ausrufe unterbrach, in
dem sehr klar lag: „Nach einem Beethovenschen Konzert, von
Joachim vorgetragen, hört alles auf!" —
Die Konsequenzen dieser künstlerischen That ergaben sich
nun ganz von selbst. Überall, wo Joachim sich in Zukunft
hören liefs, wollte man ihn vor allem in seiner Wiedergabe des
Beethovenschen Konzertes bewundern, und so ist es gekommen,
dafs man sich seit einem halben Jahrhundert daran gewöhnt
hat, seine Auffassung zum Mafsstab für die Beurteilung aller
übrigen Künstler zu machen, die sich an dieses Werk heran-
wagen. Man hat sich darin bis zu Ungerechtigkeiten fortreifsen
lassen. Denn wenn Joachim bis zur Stunde immer noch keinen
Rivalen gefunden hat, der ihm in dieser Leistung auch nur
nahe käme, so darf man jüngere Kräfte nicht entmutigen, die
so viel künstlerische Selbständigkeit besitzen, um die Lösung
der hohen Aufgabe auf eigene Faust versuchen zu dürfen. Wie
es in keiner Kunst ein Werk von so hohem Range giebt, dafs
— 273 —
es alle anderen überflüssig machte, so steht keine Auffassung so
hoch, um die übrigen ohne weiteres auszuschliefsen. Gäbe es
eine solche, so wäre es um den Fortschritt in der Kunst übel
bestellt. Joachim liefert das glänzendste Beispiel für diese
Behauptung durch sich selbst.
In weiteren Kreisen ist nämlich die Ansicht verbreitet, als
ob Joachim von Anfang an das Beethovensche Konzert immer
in derselben Weise gespielt, wie er es heute noch thut, also
ein für allemal die Art seiner Phrasierung, Stricharten und
Fingersätze festgenagelt hätte, um nicht wieder davon abzu-
weichen. Ein solches Verfahren würde den Künstler zum
Kunsthandwerker degradieren.
Wie mit den fortschreitenden Jahren seine künstlerische
Reife immer noch zunahm, so modifizierte sich auch seine Auf-
fassung nicht nur des Beethovenschen Konzertes, sondern über-
haupt jedes Werkes, das er während seiner langen Künstler-
laufbahn auf dem Repertoire hatte; und seine Vorträge wirken
hauptsächlich darum so hinreifsend, weil sie, von den Ein-
gebungen des Augenblicks beeinflufst, niemals stereotypisch
sind. Vielmehr mufs der aufmerksam Lauschende den Ein-
druck davontragen, dafs er auch bei der Wiedergabe eines
hundertmal gespielten Stückes immer noch nachschöpferisch
thätig ist und dem Kunstwerk neue Seiten abzugewinnen weifs.
So kommt es, dafs Joachim in seinem Künstlertum nichts von
jener sogenannten akademischen Trockenheit hat: er schüttelt
beim Verlassen der Schulstube das Lehrhafte wie Staub von
den Füfsen und spielt in der Öffentlichkeit so frei und un-
gezwungen, als ob er niemals in seinem ganzen Leben eine
Geigenstunde erteilt hätte.
Diese Bemerkungen werden es erklärlich machen, weshalb
Joachim niemals zu bewegen war, Ausgaben oder Bearbeitungen
der von ihm gespielten Stücke zu veröffentlichen. Er wies
dahin gehende Anerbietungen von Verlegern stets mit der Mo-
tivierung ab, dafs die geistige Auffassung eines Kunstwerkes
doch nicht durch Schriftzeichen wiedergegeben werden könne,
Hos er, Joseph Joachim. 18
— 274 —
und dafs solche, welche selbständig an das Studium von Meister-
werken herantreten, so viel geigerisches Können und künst-
lerischen Geschmack mitbringen müssen, um sich Stricharten
und Fingersätze selber zurechtlegen zu können.
Seine Ausgabe des Mendelssohnschen Violinkonzerts wird
von diesen Ausführungen insofern nicht berührt, als sie sich in
der Hauptsache darauf beschränkt, den Urtext der Komposition
wieder herzustellen, der durch die Bearbeitungen anderer Heraus-
geber Gefahr lief verloren zu gehen. Ein Beispiel wird das
klar machen.
In fast allen Ausgaben , auch in der Davidschen , hat das
Hauptthema des ersten Satzes die folgende Gestalt angenommen :
t=fc
£ £*£ tttit
t=t=t
«=t=t
etcn
während es Mendelssohn so geschrieben hat:
I
m
t ?=
9=
t=t=t
££*£
t=i-=t=t
t
etc.
Das ist doch offenbar ein ganz anderes Ding, und nicht nur ein
anderes, sondern das einzig sinngemäfse und korrekte, das die
Bearbeiter um der geigerischen Bequemlichkeit willen ihrer
Spielweise zum Opfer gebracht haben.
In derselben Weise wie mit dem Konzert von Beethoven
ist Joachim auch durch seine Interpretation Bachscher Werke
für die Zeitgenossen vorbildlich geworden. Geigerisch hat er
das polyphone Spiel zu einer solchen Vollendung gebracht, dafs
eine Steigerung darüber hinaus nicht gut möglich scheint.
Welchen Eindruck er damit auf Lipinski gemacht hat, ist schon
im Kapitel „Leipzig" erzählt worden. Weitaus bedeutungsvoller
aber ist der geistige Einflufs, den er in dieser Hinsicht aus-
geübt hat.
— 275 —
Man hatte bis zu Joachims Erscheinen der Meinung ge-
huldigt, Bachsche Stücke seien wegen ihres „gelehrten Habitus"
nur mit buchstabengläubiger Strenge auszuführen, da jede Mo-
difikation des Tempos oder die Bethätigung subjektiven Em-
pfindens gegen den geschlossenen Charakter und die starre
Würde dieser Musik verstofse. Joachim, der durch Mendels-
sohn eines Besseren über die Bachsche Kunst belehrt worden
war, zeigte nun den erstaunten Zeitgenossen, dafs unter den
„starren Formen" frisch pulsierendes Leben verborgen sei, das
nur verschüttet war und deshalb nicht bemerkt und verstanden
werden konnte.
Wie Grillparzer in seinem schönen Gedicht „An Clara
Wieck, als sie Beethovens F-moll-Sonate spielte", das junge
Mädchen in der Meeresflut den Schlüssel zum Verständnis der
Werke Beethovens finden liefs, so wurde nun Joachim „der
beste Dolmetsch der Bachschen Wundermusik", als welchen ihn
Robert Schumann bezeichnet hat. Den Schlüssel dazu hat er
in seiner eigenen Brust gefunden und Tausenden und Aber-
tausenden die Schätze gezeigt, die bis dahin lebendig begraben
waren.
In welcher Weise Joachim als Bachspieler auch andere
grofse Tonkünstler beeinflufst hat und ihnen vorbildlich ge-
worden ist, das wolle man in der Vorrede nachlesen, mit der
H. v. Bülow seine bei Bote & Bock erschienene Ausgabe des
italienischen Klavierkonzerts von Bach versehen hat.
Ein grofses Verdienst hat sich Joachim durch sein warmes
Eintreten für Spohr erworben, dessen Konzerte er besonders
häufig öffentlich gespielt und sie dadurch den Zeitgenossen
lebendig erhalten hat. Sie waren schon Mitte der fünfziger
Jahre nahe daran , aus dem Konzertsaal zu verschwinden und
nur pädagogischen Zwecken in der Schulstube zu dienen, da
die oberflächliche Geschmacksrichtung jener Zeit dem hohen
Ernst des gröfsten Lyrikers der Geige wenig günstig war.
Joachim verehrte aber in Spohr nicht nur den Altmeister des
deutschen Violinspiels, sondern auch den grofsen Tonsetzer, der,
18*
— 27« —
wie er im März 1855 an Albert Dietrich schrieb, „wie eine
ehrwürdige Pyramide, unbaufällig und felsenfest — nicht blofs
körperlich — in die Jetztzeit hineinragt. u
Wie Joachim den deutschen Meister zu neuem Leben
wiedererweckt hat, so den Begründer der Paduaner Geiger-
schule, G. Tartini, dessen „Teufelssonate" durch seine unver-
gleichliche Wiedergabe sozusagen populär geworden ist. Vom
violinistischen Standpunkt bezeichnet diese Leistung Joachims
wohl den Höhepunkt seines Könnens, denn sie giebt ihm gleich-
zeitig Gelegenheit, sich als den edelsten Sänger auf der Geige
zu erweisen, wie sein kolossales technisches Vermögen ins
glänzendste Licht zu setzen. Die dämonische Leidenschaft und
das hinreifsende Feuer, welche er in diesem herrlichen Kunst-
werk zum Ausdruck bringt, finden nur in seinem Vortrag des
ungarischen Konzerts ihr Gegenstück. Die heifse Glut und
üppige Sinnlichkeit, mit denen er dem Zuhörer die warmblütigen
Melodien des ersten Satzes in die Seele geigt, und die tolle,
aufgeregte Lustigkeit in dem Finale a la Zingarese, sie üben
eine berauschende Wirkung aus, die in Worten wiederzugeben
nicht gut möglich ist.
Wie in der Besprechung Joachims als Quartettspielers seine
universelle Begabung für die Darstellung der verschiedenen
Stilarten betont wurde, so mufs seine Fähigkeit, der natio-
nalen Eigenart mancher Kompositionen gerecht zu werden,
eine womöglich noch gröfsere Bewunderung hervorrufen. In
den vaterländischen Meisterwerken bringt er den Tiefsinn ger-
manischer Kunst zu erhabenem Ausdruck, in den Sonaten von
Tartini die blühende Schönheit und dramatische Leidenschaft
des alten Italieners, im A-moll-Konzert von Viotti die anmutigen
Reize, welche die Kunst der französischen Klassiker zierten,
und in seinem ungarischen Konzert das feurige Temperament
des Magyaren, — eine Vielseitigkeit, die nur durch ganz be-
sondere Anlagen und in Hinsicht auf die heterogenen Einflüsse,
denen er von Kindheit an ausgesetzt war, erklärt werden kann.
Schliefslich sei noch zweier Eigenschaften Joachims aus-
— 277 —
drücklich gedacht, weil sie in ähnlicher Vollendung kaum wieder
vorkommen dürften : seine Fähigkeit, vom Blatt zu spielen und
seine Improvisationsgabe. Nur wer Gelegenheit hatte, ihn in
der Bethätigung dieser Eigenschaften bewundern zu dürfen,
kann sich einen Begriff machen von seiner unbeschränkten
Herrschaft über das Griffbrett, der absoluten Dienstwilligkeit
seiner Bogenführung und der Schlagfertigkeit, das Gewollte in
die That umzusetzen. Sie erst geben die richtige Vorstellung
davon, was es heifst, ein Meister seines Instruments zu sein;
und wenn einer diesen Ehrentitel mit vollem Recht tragen
darf, so ist es Joseph Joachim!
2.
Das Manuskript eines Schumannschen Werkes, das Joachim
besitzt, trägt die folgende Inschrift:
„Sy mphonie
(D-moll)
für Orchester.
(Skizziert im Jahre 1841, neu instrumentiert im Jahre 1853.)
Als die ersten Klänge dieser Symphonie entstanden, da
war Joseph Joachim noch ein kleiner Bursch; seitdem ist
die Symphonie und noch mehr der Bursch gröfser gewachsen,
weshalb ich sie ihm auch, wenn auch nur im stillen, widme.
Düsseldorf, den 25. Dezember 1858.
Robert Schumann."
Diese Zueignung führt uns auf die Kompositionen, welche
im Hinblick auf Joachim entstanden oder ihm gewidmet sind.
Wenn man die verhältnismäfsig kurze Zeit der Intimität
zwischen Schumann und Joachim in Betracht zieht, so stellt
sich ganz von selbst die Wahrnehmung ein, dafs Schumann, mit
Ausnahme seiner Gattin, von keiner anderen Persönlichkeit zu
solchem Schaffenseifer angeregt wurde, wie durch Joachim.
Innerhalb weniger Monate entstanden die Phantasie für Geige
und Orchester, das Violinkonzert und die in Gemeinschaft mit
Brahms und Dietrich komponierte „F. A. E.-Sonate". Zu Weih-
nachten 1853 widmete er Joachim die kurz vorher fertig ge-
wordene D-moll-Symphonie, und in den lichten Momenten seines
Endenicher Aufenthaltes arbeitete er an der Klavierbegleitung
zu den Capricen von Paganini. Die erste und letzte davon
— 279 —
hat Joachim in dieser Bearbeitung noch im Herbst 1853 mit
Frau Clara in Düsseldorf öffentlich gespielt.
Diese Wahrnehmung mufs bei den Geigern im Hinblick auf
die Violinlitteratur unwillkürlich die Erinnerung an die von
Grillparzer verfafste Inschrift auf dem Grabdenkmal Schuberts
wachrufen: „Der Tod begrub hier einen reichen Besitz, aber
noch schönere Hoffnungen." Wir wollen aber nicht Vermutungen
Raum geben, sondern uns des Besitzes freuen, in den wir durch
Joachims Eünstlertum und seine Beziehungen zu zeitgenössischen
Tonsetzern gelangt sind. Die Anzahl der Joachim gewidmeten
Kompositionen geht in die Hunderte ; hier folgen nur diejenigen,
die von mehr als vorübergehender Bedeutung sind:
Bargiel: Symphonie C-dur,
Brahms: Sonate C-dur und Violinkonzert,
Bruch : Erstes und drittes Violinkonzert und Symphonie F-moll,
David: „Bunte Reihe" für Violine und Klavier,
Dvof äk : Violinkonzert,
Ernst: Nr. 8 der „mehrstimmigen Studien" für Violine,
Gade: Symphonie Nr. 5,
Hauser: Adagio cantabile für Violine und Klavier,
v. Herzogenberg: Sonate A-dur für Klavier und Violine, und
Legenden für Bratsche und Klavier,
Hiller: Violinkonzert und „Drei Stücke für Violine undKlavier",
Kiel: „Deutsche Reigen" für Violine und Klavier, und Kla-
viertrio Es-dur,
Klughardt: Klavierquintett G-moll,
Liszt: Rhapsodie hongroise Cis-moll,
Raff: Ekloge für Violine und Klavier,
Ries: Suite für Violine und Klavier,
Rubinstein: „Drei Stücke" für Violine und Klavier,
Rudorff: Serenade für Orchester,
Sarasate: 1. Heft der „spanischen Tänze" für Violine und
Klavier,
R. Schumann: Phantasie für Violine und Orchester, und
Symphonie D-moll,
— 280 —
Cl. Schumann: Drei Romanzen für Violine und Klavier,
Stanford: Suite für Violine und Orchester,
Violinschulen von H. Ries und Friedr. Zimmer.
Damit ist aber der Reichtum von Joachims Beziehungen
zu den hervorragendsten Musikern des Jahrhunderts keines-
wegs erschöpft; denn von Mendelssohn, Spohr, Berlioz, Franz,
Cornelius und Marschner abgesehen, hat er auch noch mit
Spontini, Rossini und Gounod, Macfarren, Sterndale-Bennett und
vielen anderen in mehr oder weniger lebhaftem Verkehr ge-
standen. Dafs er überdies mit fast allen ausübenden Ton-
künstlern seines Zeitalters bekannt war und mit vielen von
ihnen eng befreundet, bedarf wohl kaum der Erwähnung.
Aber nicht nur mit Berufsgenossen hat Joachim Freund-
schaften geschlossen, sondern auch mit einer grofsen Anzahl
von berühmten Männern auf den verschiedensten Gebieten der
Kunst und Wissenschaft. So mit Charles Dickens, bei dem er
anfangs der sechziger Jahre mehrere Tage in Gads Hill bei
Rochester, der durch Falstaffs Räubereien denkwürdigen Gegend,
wohnte. Der feinsinnige Schriftsteller war zwar nicht besonders
musikalisch, gesangvollen Vorträgen auf der Geige aber lauschte
er doch mit innigem Behagen. Vor allem war es Joachims
Wiedergabe der Teufelssonate von Tartini, die mit ihrer phan-
tastischen Romantik auf den Dichter grofsen Eindruck machte.
Über den Beginn seiner Bekanntschaft mit Carlyle erzählt
Joachim selbst die folgende Geschichte : „Mein und Thackerays
Freund, Brookfield, stellte mich anfangs der siebziger Jahre
dem grofsen Philosophen in seinem eigenen Hause zu Chelsea
als den bekannten Musiker vor, entfernte sich jedoch bald
darauf mit dem Bemerken, dafs er anderweitiger Verpflichtungen
wegen nicht länger verweilen könne. Carlyle, der eben im
Begriff war, seine Morgenpromenade zu machen, bat mich, ihn
auf derselben zu begleiten. Während unseres langen Spazier-
ganges durch den Hyde Park verbreitete sich nun der Weise
von Chelsea in ununterbrochenem Redeflufs über Deutschland,
die Könige von Preufsen, Bismarck und Moltke, den Krieg etc.
— 281 -
Endlich glaubte ich, doch auch etwas sagen zu müssen und
fragte den leicht erregbaren Herrn ganz unschuldig: ,Eennen
Sie Sterndale-Bennett?' ,Nein!' antwortete er kurz, und nach
einer Pause : ,Ich mag im allgemeinen die Musiker nicht leiden ;
das ist eine so leere und windbeutlige Sorte von Menschen!'"
Ein grofser Bewunderer Joachims war Tennyson, dessen
Sohn in der Biographie seines Vaters die nachstehende Episode
mitteilt :
„Mein Vater liebte es sehr, Joachim zu bitten, ihm in
seinem Hause vorzuspielen, und ich erinnere mich besonders
eines Abends, an dem Joachim uns und unsere Freunde durch
den Vortrag einer ganzen Menge von ungarischen Tänzen er-
freut hatte. Mein Vater war so entzückt über Joachims
Meisterschaft auf der Geige, dafs ich ihn bat, Joachim als
Dank für seine herrliche Musik eines seiner Gedichte vor-
zulesen. Nachdem die Gäste sich verabschiedet hatten, lud er
den grofsen Musiker ein, mit ihm auf seinem Turmzimmer eine
Cigarre zu rauchen. Dort sprachen sie von Goethe und seinem
,westöstlichen Divan', und dann las mein Vater ,The Revenge'.
Als er zu der Stelle kam
,And the sun went down, and the stars came out far over the
summer sea'
fragte er Joachim: ,Könnten Sie das auf Ihrer Geige wieder-
geben — den Frieden in der Natur nach dem Schlachten-
donner?' Dann wandte er sich plötzlich zu mir und sagte:
,Nun darf ich aber nicht mehr weiter lesen, sonst wecke ich
unsere Köchin auf, die an der Thür nebenan schläft.' "
Von deutschen Gelehrten waren es besonders die Brüder
Grimm, welche Joachim mit herzlicher Wärme zugethan waren.
Joachims Exemplar ihres „Deutschen Wörterbuches" trägt an
der Innenseite die Widmungen:
„Beim Aufschlagen dieses Buches bitte ich meiner sich
zuweilen zu erinnern. Jacob Grimm."
„Wenn Sie ein gutes Wort, wie z. B. angenehm, in
dem Buche finden, und Sie wollen es auf Ihren Aufenthalt
— 282 —
in Berlin and auf die Erinnerung an uns bezieben, so würde
es micb freuen.
Berlin, September 1854. Wilhelm Grimm."
Die Bekanntschaft mit Helmholtz datiert noch aus der
Heidelberger Zeit des grofsen Denkers, wo er mit Joachim
akustische Beobachtungen anstellte, deren Resultate der Leser
in seiner „Lehre von den Tonempfindungen" S. 423 und 525
einsehen kann. Die freundschaftlichen Beziehungen zwischen
den beiden Männern haben erst mit dem Tode des tiefsinnigen
Forschers geendet.
Besonders zahlreich sind die Maler unter Joachims engeren
Freunden vertreten, von denen Bendemann und Preller in erster
Reihe genannt seien, weil die innigen Beziehungen zu denselben
noch bis in die Leipziger Zeit Joachims zurückreichten.
Jedem regelmäfsigen Besucher der Quartettabende in der
Singakademie wird die kleine Gestalt des „grofsen" Menzel
gegenwärtig sein, der seiner Freundschaft für den Kollegen
von der anderen Fakultät dadurch äufserlichen Ausdruck giebt,
dafs er jahraus, jahrein von demselben Platze dessen Vorträgen
lauscht.
Wie die beiden in Berlin ansässigen musikbegeisterten
Maler Passini und Hertel, so gehören auch einige ihrer be-
rühmten Genossen in England: Herkomer, Leighton (f), Alma
Tadema und Watts zu Joachims nahestehenden Freunden.
Von grofsen Musikgelehrten waren Jahn, der Biograph
Mozarts, und Thayer, der Beethovenforscher, Joachim in der-
selben Weise freundschaftlich gesinnt, wie heute noch Chry-
sander, Grove und Hanslick, welch letzterer einige besonders
schöne Aufsätze über den Meister verfafst hat. Im Anschlufs
daran sei auch des berühmten Klinikers Th. Billroth gedacht,
der ein solcher Verehrer der Brahmsschen Muse war, dafs er
Ende der siebziger Jahre nur zu dem Zwecke auf einige Tage
nach Berlin kam, um die beiden ihm zugeeigneten Quartette
von Brahms, Op. 51, von Joachim und seinen Genossen inter-
pretieren zu hören. Das dritte Streichquartett, B-dur, Op. 67,
— 283 —
hat Brahms dem grofsen Physiologen Th. W. Engelmann ge-
widmet, durch dessen Niederlassung in Berlin Joachim eine lange
vorher schon angeknüpfte Bekanntschaft wieder aufnehmen und
in herzlichster Weise weiter fortführen konnte. Seine Gattin, die
unter ihrem Mädchennamen Emma Brandes rühmlichst bekannte
Pianistin, hat sich zwar vom öffentlichen Musikleben zurück-
gezogen; im häuslichen Kreise aber — und besonders im
Zusammenspiel mit Joachim — erbringt sie fortwährend den
Beweis, dafs sie trotzdem eine grofse Künstlerin geblieben ist.
Mit der Übersiedlung Heinrich von Herzogenbergs und
seiner Gattin Elisabeth nach Berlin (1885) trat ein Künstler-
paar in den Kreis von Joachims engeren Freunden, das mit
Spitta und Rudorff eine Reihe von Jahren gewissermafsen das
musikalische Vertrauenskomitee des Meisters bildete. Wie
Herzogenberg nicht nur einer der vornehmsten schaffenden
Tonkünstler ist, der uns mit einer ganzen Reihe wahrhaft be-
deutender Werke bedacht hat, sondern auch über einen reichen
Schatz allgemeiner Bildung verfügt, wie nur die auserwähltesten
seiner Kunstgenossen, so war seine Gattin nicht nur eine aus-
gezeichnete Klavierspielerin, sondern auch in allen anderen
musikalischen Dingen in einer Weise bewandert, dafs Joachim
sie die bedeutendste deutsche Musikerin nach Clara Schumann
nannte. Leider war der edlen Frau und Künstlerin nur ein
kurzer Lebenslauf beschieden: sie starb schon am 7. Januar
1892 im Alter von vierundvierzig Jahren. Bald darauf, am
13. April 1894, folgte ihr Philipp Spitta, der langjährige
Freund und treue Mitarbeiter Joachims auf der Hochschule, ins
Jenseits nach.
Wie grofs die Bewunderung war, die Moltke Joachim
und seinem Geigenspiel entgegenbrachte, ist allbekannt. Der
gewaltige Schlachtendenker hatte eine besondere Vorliebe für
getragene Sätze von mildem Ausdruck, die zu andachtsvoller
Stimmung anregen. Hatte ihn Joachim durch den empfindungs-
vollen Vortrag eines langsamen Stückes erst einmal in eine
solche versetzt, so wollte er den ganzen Abend hindurch nichts
— 284 —
hören, was ihn ans seiner Beschaulichkeit herausgerissen hätte.
Das Lieblingsstück des grofsen Strategen war der Mittelsatz
des Bachschen D-moll-Konzertes für zwei Geigen.
Weniger bekannt dürfte es sein, dafs Joachim auch den
Fürsten Bismarck mit seiner Kunst erfreut hat. Die beiden
Männer trafen sich zum erstenmal am 1. September 1865 in
einer Abendgesellschaft beim Grafen Flemming in Baden-Baden.
Der preufsische Ministerpräsident war damals in Süddeutschland
eine nichts weniger als populäre Persönlichkeit, und die Freunde
Joachims sahen es nur mit schlecht verhehltem Yerdrufs,
welchen fascinierenden Eindruck der gewaltige Staatsmann auf
den Künstler gemacht hatte. Bismarck wieder schrieb noch an
demselben Abend an seine Frau: „ Abends Quartett bei Graf
Flemming mit Joachim, der seine Geige wirklich wunderbar
gut streichelt." Dafs Joachim seine Kunst inzwischen nicht
verlernt hatte, davon konnte sich der Fürst überzeugen, als
der Künstler im Sommer 1896 bei ihm zu Gaste war. Mit
dem Musikdirektor Spengel aus Hamburg spielte er dem Alt-
reichskanzler in Friedrichsruh eine Menge von Sachen vor, die
dieser gern hören wollte, und gegenseitig trennte man sich in
dem Gefühl, einander anregende Stunden verschafft zu haben.
Während sich Bismarck aber nur in ganz vorübergehender
Weise für die Musik interessiert hatte, tritt uns in seinem
langjährigen vertrauten Mitarbeiter , Robert von Keudell , ein
Staatsmann entgegen, in dessen Leben die Musik von jeher
eine bedeutsame Rolle spielte. Die noch aus der hannover-
schen Zeit des Künstlers stammende Freundschaft der beiden
Männer hat dadurch noch eine besondere Förderung er-
fahren, dafs Frau von Keudell eine ganz vorzügliche Pianistin
ist, mit der sich Joachim nicht nur mit Vorliebe zu ge-
meinschaftlichem Musizieren im Freundeskreise vereinigt, son-
dern mit der er auch schon zu wiederholten Malen vor die
Öffentlichkeit getreten ist.
Die weitaus bedeutsamsten Beziehungen von allen, die
Joachim während seines inhaltsreichen Lebens angeknüpft und
— 285 —
big auf den heutigen Tag weitergeführt hat, sind aber die,
welche ihn mit der Familie Mendelssohn verbinden. Wir wissen
schon aus dem Kapitel „Leipzig", dafs Joachim durch Felix
Mendelssohn den in Berlin lebenden Verwandten des Meisters
zugeführt und von allen mit der gröfsten Herzlichkeit auf-
genommen wurde. Neben Paul Mendelssohn-Bartholdy war es
besonders ein Vetter von Felix, Alexander Mendelssohn, der
dem jungen Künstler von Anfang an so warme Sympathien
entgegenbrachte, als ob er das innige Freundschaftsverhältnis
vorausgesehen hätte, das sich im Laufe der Zeit zwischen
seinem Sohne Franz und Joachim entwickeln sollte. Franz
von Mendelssohn war ein begeisterter Kunstfreund, der zwar
selber kein Instrument spielte, sich aber in um so höherem Mafse
für die Musik interessierte, als seine edle Gattin, Enole geborene
Biarnez, eine wahrhaft grofse ausübende Tonkünstlerin war.
Frau Enole hatte schon als Kind im elterlichen Hause zu
Bordeaux eine so sorgfältige musikalische Erziehung genossen,
wie sie sonst nur Fachmusikern zu teil wird. Ihre Mutter
spielte die Harfe, zwar nur zu ihrem Vergnügen, aber mit
solcher Vollendung, dafs sie beispielsweise den Klavierpart der
Beethovenschen Sonaten für Pianoforte und Violine auf ihrem
Instrument ausführen konnte. H. W. Ernst, der während seines
Aufenthaltes in Bordeaux oft im Hause Biarnez verkehrte,
pflegte hierzu die Geigenstimme zu spielen.
Aus der Art und Weise, wie ihre Eltern Ernst behandelten
und von ihm sprachen, schlofs die kleine Enole, dafs der Geiger,
dessen Haupt damals im üppigsten Lockenschmuck prangte, ein
berühmter Mann sein müsse. Für ihr Leben gern hätte sie
nun ein Andenken an den grofsen Violinisten besessen, wagte
es jedoch nicht, ihn um ein solches anzugehen. Eines Abends
aber, als Ernst mit ihrer Mutter im eifrigsten Musizieren war,
nahm sie eine Schere, schlich sich an den Virtuosen heran
und schnitt ihm unbemerkt eine Locke ab, die sie dann sorg-
fältig verwahrte. Viele Jahre später, als die kleine Attentäterin
längst schon die Gattin Franz von Mendelssohns war, sah sie
— 286 —
den berühmten Geiger in Berlin wieder und gestand ihm die
in kindlicher Unschuld verübte That. Darauf wurde Ernst
nachdenklich, fuhr sich mit der Hand durch das inzwischen
spärlicher gewordene Haar und meinte: „Geben Sie mir
doch die Locke wieder, ich könnte sie jetzt ja so gut ge-
brauchen."
Frau Enole von Mendelssohn war eine so vortreffliche
Pianistin und ausgezeichnete Musikerin, dafs sie es mit den
allerersten Künstlern ihres Geschlechts aufnehmen konnte. Den
gröfsten Teil der klassischen Kammermusik kannte sie auswendig,
und zwar so genau, dafs ihr auch beim Zuhören nicht leicht
eine Note entging. Eine Probe davon:
Der Verfasser war während seiner Studienzeit an der Hoch-
schule aufgefordert worden, an den regelmäfsigen Quartetten im
Hause Mendelssohn als Bratschist teilzunehmen. Das erste Stück,
bei dem er mitwirkte, war ein Cherubinisches Quartett, von dessen
Existenz er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Als das Stück
zu Ende gespielt war, kam die Frau des Hauses, die im Neben-
zimmer zugehört hatte, an die Quartettisten heran und meinte:
„Herr Moser hat wirklich sehr gut vom Blatt gelesen; nur hat
er einmal im letzten Satz e statt es gespielt." Auf den Ein-
wand des Verfassers, dafs in seiner Stimme an der betreffenden
Stelle e stünde , wurde rasch die Partitur 'hervorgesucht , aus
der sich ergab, dafs in der That ein Druckfehler in der Stimme
vorgelegen hatte, der aber dem scharfen Gehör der würdigen
Dame nicht entgangen war.
Wie grofs ihr pianistisches Können war, und welch aufser-
ordentliches Gedächtnis sie dabei unterstützte, geht schon daraus
hervor, dafs sie Joachim einen grofsen Teil seines ständigen
Repertoires auswendig begleiten konnte. Sie kannte die
Viottischen und Spohrschen Konzerte ebenso genau wie die
Tartinischen Sonaten, die Konzerte von Beethoven und Mendels-
sohn ebenso gut wie das ungarische von Joachim. Und wie
sie den gröfsten Teil der Kammermusik und alle hervorragenden
Werke der Violinlitteratur im Kopfe hatte, so war sie mit der
— 287 —
Violoncell-Litteratur durch ihren ältesten Sohn, Robert, und den
intimen Freund des Hauses, Dr. Schaper, wohlvertraut.
Unvergefslich wird den Teilnehmern der fünfzigste Geburts-
tag Joachims sein, der am 28. Juni 1881 im Hause Mendels-
sohn festlich begangen wurde. Joachims Freund, der Maler
Hertel, stellte lebende Bilder, die einige der wichtigsten Momente
aus des Gefeierten Künstlerlaufbahn veranschaulichten. Be-
sonders schön waren zwei davon: „Joachims Antrittsbesuch als
Zwölfjähriger bei Felix Mendelssohn" und „Tartinis Traum
vom Teufelstriller". Die Wirkung des ersten Bildes bestand
darin, dafs Joachims jüngster Sohn, Paul, der damals eine ver-
blüffende Ähnlichkeit mit seinem Vater als Kind hatte, die Figur
des kleinen Besuchers darstellte. Tartinis Traum gipfelte in
dem Effekt, dafs, solange das Bild stand, zwei Schüler Joachims
hinter der Coulisse den Teufelstriller ausführten. Sie hatten
sich das schlauerweise so eingerichtet, dafs, während der eine
blofs den Triller schlug, der andere in aller Behaglichkeit das
darunter liegende Thema spielte. Die Wirkung war eine so
täuschende, dafs Joachim im ersten Moment an Hexerei glaubte,
denn so gut hatte er die schwierige Stelle niemals ausführen
hören.
Nachdem der Vorhang gefallen war, setzte sich Frau von
Mendelssohn an den Flügel und bat Joachim, nun die ganze
Sonate mit ihr zu spielen. In mächtiger Ergriffenheit über
die sinnige Geburtstagsfeier trug er hierauf das wunderbare Stück
in so idealer Weise vor, dafs gar manches Auge feucht wurde
und alle Anwesenden darin einig waren : So schön wie an jenem
Abende habe Joachim das Tartinische Meisterwerk in seinem
ganzen Leben nicht gespielt!
In diesem kunstsinnigen Hause verkehrt nun Joachim schon
in der dritten Generation in so intimer Weise, als ob er ein
nahestehender Verwandter der Familie wäre. Die wahrhaft
brüderliche Freundschaft, welche ihn mit Franz von Mendels-
sohn und seiner Gattin zeitlebens verband, hat er nach dem
Hinscheiden des Ehepaares als väterliche Zuneigung auf deren
— 288 —
Söhne, Robert und Franz, übertragen, die wieder ihrerseits
dem angestammten Freunde eine liebevolle, ja schwärmerische
Verehrung entgegenbringen.
Frau Enole hatte es sich angelegen sein lassen, die warme
Liebe zur Musik auch in die Herzen ihrer Söhne zu verpflanzen.
Und wenn auch keiner von ihnen die aufserordentlichen
Gaben der Mutter geerbt hat, so ist doch Robert von Mendels-
sohn ein so vortrefflicher Violoncellist geworden, dafs er es im
Quartettspiel mit Fachmusikern aufzunehmen imstande ist. Auch
Franz von Mendelssohn hat es zu solcher Fertigkeit im Violin-
spiel gebracht, dafs er sich in geradezu künstlerischer Weise
an dem gemeinschaftlichen Musizieren beteiligen kann, zu dem
Joachim im Hause Mendelssohn stets gerne bereit ist.
Die herrlichen künstlerischen Gaben, mit denen Joachim
von der Natur ausgestattet ist, die sorgfältige Erziehung und
Bildung, die er genossen, und die mannigfaltigen Einflüsse,
denen er im Verkehr mit so vielen bedeutenden Persönlichkeiten
von Jugend auf ausgesetzt war, mufsten naturgemäfs ein reiches
geistiges Innenleben bei ihm zeitigen, das ihn vor einseitigem
Aufgehen in seinen Beruf geschützt hat. Die Vielseitigkeit
seiner Interessen äufsert sich in einer lebhaften Anteilnahme
an allem, was Geist und Gemüt des gebildeten Menschen be-
schäftigt. Wie er als hannoverscher „Hof- und Staatskonzert-
meister" seine Sommermonate in Göttingen verbrachte, um durch
fleifsigen Besuch der Vorlesungen seinem Wissensdrang Genüge
zu leisten, so hat er auch noch in den achtziger Jahren in
Berlin seinen ältesten Sohn gar oft ins Kolleg begleitet, um
geistige Anregung zu erfahren und neuen Bildungsstoff in sich
aufzunehmen.
Hand in Hand damit geht ein warmer Sinn für die Be-
strebungen und Einrichtungen, welche dem Wohl und Weh
unserer Nebenmenschen dienen. In vielen Wintern hat Joachim
mehr als ein Dutzendmal seine Kunst in den Dienst der Wohl-
— 289 —
thätigkeit gestellt, und die durch seine uneigennützige Mit-
wirkung erzielten Erträge werden wohl manche Thräne ge-
trocknet, manche Not gelindert haben. Unvergessen vor allem
sei die Hochherzigkeit, mit welcher er, Franz Liszt und andere
Tonkünstler sich durch Konzerte an der Aufbringung eines
Kapitals von etwa 30 000 Thalern beteiligten, das Robert Franz
als Ehrengabe überreicht wurde, um von seinen letzten Lebens-
jahren die Not und Sorge fernzuhalten. Von mehreren Briefen
des Liederkomponisten an Joachim sei nur der mitgeteilt,
welcher sich auf ein solches Benefizkonzert bezieht.
„Verehrter Herr und Freund !
Je mehr ich in die Lage komme, die Resultate der
Leipziger Aufführung zu tibersehen, um so tiefer mufs ich
mich Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin für die liebenswürdige
und selbstlose Bereitwilligkeit, mit der Sie dieselbe unter-
stützten, verpflichtet fühlen. Zwar glaube ich dergleichen
bereits mündlich gegen Sie ausgesprochen zu haben, doch
macht mich mein unseliges Ohrenleiden im Gespräch der-
mafsen unsicher, dafs ich eigentlich nie recht weifs, was ich
sage — schon deshalb finde ich mich veranlafst, lieber dem
Papier anzuvertrauen, was ich sonst gern unvermittelt in
Worte fafste.
Ganz der echten Künstlernatur entsprechend, werden
Sie wahrscheinlich in Ihrem Verhalten kaum etwas erblicken
können, worüber man viel Aufhebens machen darf. Sollte
es aber nicht gerade deshalb so überaus wertvoll sein? In
Zukunft kann ich nur noch von der Vergangenheit zehren:
was mir nun der 11. Mai bot, wird sicherlich zu den schönsten
Erinnerungen meines Lebens gehören. Da Sie beide den
Mittelpunkt bildeten, in welchem das Interesse der Matinee
gipfelte, ohne den sie vielleicht gar nicht zustande gekommen
wäre, so ist es mir ein wahres Bedürfnis, Ihnen hiermit noch-
mals in schlichter Weise den Dank auszusprechen, von welchem
mein Herz erfüllt ist. Dafs derselbe, solange ich lebe, an-
halten wird, davon mögen Sie fest tiberzeugt sein.
Moser, Joseph Joachim. 19
— 290 —
Mit den herzlichsten Grüfsen an Sie und Ihre Frau Ge-
mahlin bin ich in dankbarer Verehrung
Ihr
Halle, den 13. Mai 1878. Robert Franz."
Ein schönes Gegenstück dazu bietet der Vorfall, welcher
sich am 11. November 1878 im Krollschen Theater zugetragen
hat. Henri Wieniawski, der ausgezeichnete polnische Geiger,
hatte seit einer Reihe von Jahren nicht mehr in Berlin gespielt
und veranstaltete deshalb gleich mehrere aufeinander folgende
Konzerte in der Residenz, die für den geistvollen Virtuosen
ebensoviele Triumphe bedeuteten. Joachim, der von jeher ein
neidloser Bewunderer Wieniawskis war, hatte gerade zum dritten
Konzert viele seiner Schüler veranlafst, hinzugehen, um sich
von dessen temperamentvollen Vorträgen begeistern zu lassen.
Sichtlich leidend, trat Wieniawski vor das Publikum und bat um
die Vergünstigung, sitzend spielen zu dürfen. Nach wenigen
Augenblicken aber schon mufste er die Geige sinken lassen,
da ein Anfall von Asthma den etwas korpulenten Herrn zu er-
sticken drohte. Eine Scene peinlicher Aufregung spielte sich
nun ab : während man den erkrankten Künstler von der Bühne
wegtrug, eilte Joachim aus dem Zuhörerraum hinter die Coulissen,
um teilnehmend nach dem Freunde zu sehen. Nach mehreren
Minuten erwartungsvoller Spannung trat Joachim dann vor die
Rampe, entschuldigte sich, dafs er im Strafsenanzug sei, und
bat das Publikum um die Erlaubnis, für den unpäfslich ge-
wordenen Kollegen einspringen zu dürfen. Auf Wieniawskis
Geige spielte er hierauf die Chaconne von Bach so herrlich,
dafs der tosendste Beifall das Haus erdröhnen machte. Als
nun gar Wieniawski noch wankenden Schrittes aus den Coulissen
hervorkam und Joachim vor Rührung und Dankbarkeit in die
Arme sank, wollte der Begeisterungsjubel schier kein Ende
nehmen. Allen Anwesenden wird der ergreifende Moment
gewifs lange noch in der Erinnerung geblieben sein. Der
„Kladderadatsch" hat das Ereignis in folgender Weise besungen:
— 291 —
Das Lied vom braven Mann.
(Wahrhaftige Begebenheit, so sich zugetragen zu Berlin am 11. November bei Kroll.
Hoch klingt das Lied vom braven Mann,
Wie ich euch hier vermelden kann.
War einst ein Geiger, weltbekannt,
Henri Wieniawski zubenannt;
Könnt 1 spielen kunst- und anmutvoll
Und wollt' es thun im Saal bei Kroll.
Trat für — da lauschte alles stumm —
Und neigt sich vor dem Publikum.
Doch bei dem ersten Geigenstrich —
Was ist gescheh'n? — entfärbt er sich
Und bricht zusammen schwach und krank.
Doch jetzt herfür ein Retter sprang,
Der schwingt zur Bühne sich behend,
Erfafst des Geigers Instrument,
Verneigt sich und beginnt dann fein:
„Ich tret' für den Kollegen ein."
Da zu dem Retter rauscht empor
Der Freud' und der Bewunderung Chor;
Denn wie er kaum die Saiten streicht,
Rings jeder Seele Kummer weicht.
Genesung giefset er und Lust
Auch in des kranken Kollegen Brust,
Und alles jauchzt zum Danke ihm,
Dem braven Mann — Herrn Joachim.
In besonders schönem Lichte erscheint Joachims Warm-
herzigkeit, wenn es sich um die Unterstützung und Förderung
junger Talente handelt, denen widrige Verhältnisse das Fort-
kommen erschweren. Der Verfasser kennt eine ganze Reihe
von Musikern, denen Joachim durch Zuwendung von Subsistenz-
mitteln ihr Studium ermöglicht, in Krankheitsfällen eine Er-
holungsreise verschafft oder durch das Geschenk einer Geige
die Carriere erleichtert hat. Was Wunder, dafs seine Schüler,
frühere und gegenwärtige, in rührender Treue an dem Meister
hängen: verehren sie doch in ihm nicht nur den grofsen
19*
— 292 —
Künstler, sondern in gleicher Weise den edlen Menschen, der
stets zu helfen bereit ist, wenn es einer guten Sache gilt.
Joachim ist kein Lehrer in landläufigem Sinne. Wer von
seinem Unterricht profitieren will, mufs so viel musikalische
Intelligenz besitzen und mit einem solchen Quantum technischen
Vermögens ausgerüstet sein, dafs er den Winken und Rat-
schlägen des Meisters folgen und ohne weitere Umstände das
Gewollte in die That umsetzen kann. Sind diese Vorbedin-
gungen der Hauptsache nach erfüllt, dann erst setzt die eigent-
liche künstlerische Unterweisung Joachims ein und zeitigt die
schönen Resultate, von denen im vorigen Kapitel bereits aus-
führlich gesprochen worden ist.
Aus der Fülle von scharfsinnigen Bemerkungen, die Joachims
Unterricht zu begleiten pflegen, seien nur einige Äufserungen
angeführt, bei denen der Verfasser gegenwärtig war und die
den feinen Humor Joachims zum Ausdruck bringen.
Als ihm anfangs der achtziger Jahre ein Schüler, der aus
Königsberg gebürtig war, das Adagio aus dem neunten Konzert
von Spohr zwar geigerisch tadellos, aber recht trocken vor-
gespielt hatte, meinte Joachim: „Lieber B . . . n, es ist gewifs
kein Schade, in der Stadt der reinen Vernunft geboren zu sein,
aber beim Musizieren würde ich das doch nicht so merken lassen."
Einem anderen Schüler, der das Finale des Mendels-
sohnschen Konzerts sehr bedächtig und schwerfällig ausgeführt
hatte, sagte er: „Für die nächste Stunde bitte ich mir aber
aus, dafs die Elfen nicht wieder in Reiterstiefeln angezogen
kommen."
Wieder ein anderer Jünger konnte ihm eine schlank auf-
strebende Geigenfigur, die mit Pralltrillern verziert werden
sollte, nicht leicht und flott genug machen, blieb vielmehr
immer an den Trillern kleben, wodurch die Passage in ihrem
Flufs gestört wurde. Um nun dem Schüler den Charakter der
betreffenden Stelle zu veranschaulichen, rief er ihm die Worte
zu: „Das soll eine Guirlande sein, an der Blüten hängen, aber
keine Kartoffeln."
— 293 —
Eines Tages frag Joachim den Verfasser, der schon als
Zwanzigjähriger einen Vollbart trug, der ihn älter scheinen
liefs, als er wirklich war, ob er ein Stück in den Fingern
hätte, das er im nächsten Vortragsabend der Hochschule spielen
könnte. Der Verfasser: „Ja wohl, Herr Professor, ich möchte
es gern mit der Othello - Phantasie von Ernst versuchen."
Darauf Joachim: „Und mit dem Bart, lieber Moser, wollen Sie
solche Sachen noch spielen?"
Eine junge Dame, die die Beethovensche F-dur-Romanze
ganz hübsch, aber mit kindlicher Tongebung gespielt hatte, bat
er „ums Himmelswillen, doch mehr Ton aus der Geige heraus-
zuholen, sonst könne er es vor Hunger nicht länger aushalten".
Im Anschlufs daran mögen auch noch einige Anekdoten
hier Platz finden, die Joachim zum Gegenstand haben und ihn
in verschiedenartigen Situationen beleuchten.
Nach den glänzenden Triumphen, die Joachim im Februar
1861 in Wien geerntet hatte, gab er auch einige Konzerte in
Pest, wo natürlich der Enthusiasmus, den er erregte, noch weit
gröfser war: feierte man doch in ihm nicht nur den genialen
Künstler, sondern ebensosehr den berühmten Landsmann, auf
den das Vaterland alle Ursache hatte, stolz zu sein. Bei einem
Bankett, das die Studenten dem hannoverschen Konzertdirektor
zu Ehren veranstalteten, verstieg sich einer der Redner im
Überschwang nationaler Begeisterung zu dem Ausspruch, es sei
eine Schande für die Nation, dafs einer ihrer gröfsten Söhne
in Diensten eines Staates stehe, der nicht einmal so grofs sei
wie manches ungarische Komitat. Darauf erhob sich Joachim,
entschuldigte sich, dafs er in deutscher Sprache antworten
müsse, da er das Ungarische inzwischen verlernt habe, und gab
dem Redner zu bedenken, dafs es doch nicht gerechtfertigt
wäre, von Deutschland so geringschätzig zu reden. Nirgend wo
anders habe man der ungarischen Litteratur so warme Sym-
pathien entgegengebracht wie gerade in Deutschland, und er
selber habe Petöfi nur durch deutsche Übersetzungen kennen
und lieben gelernt. Da er aber ein zu schlechter Redner sei,
— 294 —
um seinen Dank für die dargebrachten Ovationen in Worte zu
kleiden, wolle er der Versammlung lieber etwas auf der Geige
vortragen. Mit jubelnder Begeisterung begrtifsten die Studenten
den • Vorschlag Joachims, der dem Primas der für das Bankett
engagierten Zigeunerkapelle die Geige aus der Hand genommen
hatte, um seinen Worten die That folgen zu lassen. „Ich werde
Ihnen einen deutschen Xanz vorspielen, von Bach", rief er der
Versammlung zu, indem er die Geige ans Kinn setzte. Wie
ein kaltes Sturzbad wirkte dieser Zuruf auf die Anwesenden,
von denen die meisten keine Ahnung von der Existenz des
grofsen Thomaskantors gehabt haben mochten. Sie waren viel-
mehr der Meinung gewesen, der von Joachim vorgetragene
Tanz wäre von Bach, dem verhafsten österreichischen Polizei-
minister, unter dessen absolutistischem Regime das ungarische
Volk so lange geschmachtet hatte. Erst nachdem sie eines
Besseren belehrt worden waren, erbrauste ein solches Eljen-
Rufen durch den Saal, wie es Joachim nicht leicht wieder ver-
nommen haben dürfte.
Während eines Mittagessens bei dem mit Joachim eng be-
freundeten Schwesternpaar Anna und Julie von Asten spielte
sich die folgende Episode ab.
Joachim: „Sagt mal, Kinder, weshalb habt ihr denn heute
gar keinen Rotwein auf dem Tisch?" Eine der beiden Gast-
geberinnen: „Ja, lieber Joachim, du hast doch das letzte Mal
gesagt, dafs du beim Mittagessen nicht gern Wein tränkest;
deshalb haben wir Münchener Bier kommen lassen." Joachim:
„Heute hätte ich aber doch grofse Lust, ein gutes Glas Rot-
wein zu trinken, und ich glaube, ihr thätet gut, das Gleiche
zu thun, denn Wein ist entschieden viel bekömmlicher und ge-
sünder als Bier." Selbstverständlich beeilten sich die Damen,
den Wunsch des Gastes zu erfüllen und beauftragten ihr Haus-
mädchen, sofort aus einer benachbarten Weinhandlung einige
Flaschen guten Rotweins zu holen. Mit herzlichem Lachen
verhinderte Joachim den dienstbaren Geist an der Ausführung
des Auftrages, griff in seine Brusttasche und las den erstaunten
Gastgeberinnen einen Brief folgenden Inhaltes vor:
— 295 —
„Sehr geehrter Herr Professor! Da wir in Erfahrung
gebracht haben, dafs Sie viel in wohlhabenden und hoch-
gestellten Kreisen verkehren , so gestatten wir uns die An-
frage, ob Sie geneigt wären, durch Empfehlung von Rot-
weinen unserer Firma neue Kunden zuzuführen. Sie könnten
auf diese Weise leicht und bequem Ihr Einkommen durch
einen beträchtlichen Nebenverdienst vermehren, da wir Ihnen
für jeden durch Ihre Vermittlung zustande gekommenen Auf-
trag eine Provision von 25 Prozent gewähren.
Hochachtend N. N., Weingrofshandlung."
Das ganze Manöver mit dem Rotwein hatte Joachim blofs
zu dem Zweck in Scene gesetzt, um zu sehen, ob er wohl mit
einer solchen Empfehlung Erfolg haben würde. Unter stür-
mischem Gelächter bescheinigte man ihm die ausgesprochene
Qualifikation zur Übernahme einer Weinagentur.
Eines Tages, anfangs der achtziger Jahre, traf der Ver-
fasser Joachim am Potsdamer Thor und begleitete ihn bis zur
Hochschule, die damals an der Stelle des jetzigen Reichstags-
gebäudes, am Königsplatz, stand. Als sie am Goethe-Denkmal
vorbeikamen, lüftete der Verfasser seinen Hut. Joachim, der sich
nach allen Seiten umgesehen hatte, frug ganz erstaunt: „Sagen
Sie mal, Moser, wen haben Sie denn soeben gegrtifst; es ist ja
weit und breit kein lebendiges Wesen zu sehen?" Der Ver-
fasser: „Ich bin ein so grofser Verehrer Goethes, dafs ich an
seinem Standbild nicht vorübergehe, ohne den Hut abzunehmen."
Joachim: „Das ist ja sehr schön von Ihnen, Moser; aber dann
dürfen Sie das nicht in so vertraulicher Weise thun. Ich war
der Meinung, Sie grüfsten einen regelmäfsigen Besucher Ihres
Stammtisches. Lassen Sie uns umkehren!" Wieder vor dem
Denkmal angelangt, klopfte Joachim seinem Begleiter auf die
Schulter und sagte: „Sehen Sie, so verneigt man sich vor
einem Goethe." Dabei entblöfste er sein Haupt und machte
eine so tiefe Reverenz vor dem Standbilde, dafs sein Hut die
Erde streifte.
— 296 —
Von ganz eigenartigem Reiz ist es, Joachim zuzuhören,
wenn er aus dem reichen Schatz seiner Erinnerungen auf
Künstlergestalten zu sprechen kommt, deren Geburt noch in
das vorige Jahrhundert fällt, oder die, wie es bei Mendelssohn
der Fall ist, schon seit mehr als fünf Jahrzehnten nicht mehr
am Leben sind. Es kommt dabei weniger das absolute Alter
des Meisters in Betracht, als der Umstand, dafs er sich schon
als Jüngling an der Entwicklung seiner Kunst mithelfend be-
teiligt hat, also ein gut Stück Musikgeschichte des letzten
halben Jahrhunderts in sich verkörpert. Am deutlichsten prägt
sich diese Erscheinung in seinem Freundschaftsverhältnis zu
Johannes Brahms aus, in dessen Erdenwallen er als Künstler
und Mensch eine so wichtige Rolle gespielt hat. Wie die
Trauer, in welche Joachim durch das Hinscheiden von Mendels-
sohn und Schumann versetzt wurde, nicht nur den edlen Künstler-
gestalten, sondern in gleichem Mafse den verlorenen väterlichen
Freunden gegolten hat, so bedeutete der Heimgang Brahms' für
ihn nicht nur den Verlust eines grofsen Meisters der Tonkunst,
sondern den Abschlufs einer mehr als vierzigjährigen innig-
brüderlichen Freundschaft mit seinem „Spiel- und Kampfgenossen".
Joachim hatte noch im Sommer 1896 bei Brahms angefragt,
ob er ihm und seinen Genossen die Freude machen wolle, den
Klavierpart des F-moll-Quintetts an einem ihrer Quartettabende
des darauffolgenden Winters in Wien zu spielen. Darauf ant-
wortete Brahms auf einer Postkarte:
„. . . . Unter gar keinen Umständen ! Und wenn Ihr
vier liebe, liebliche Geliebte wäret, wie Ihr ernste, verehrte
Männer seid ! Ich aber bin nur vierundzwanzig Stunden hier
und fahre heute noch nach Karlsbad — so verzeih 7 , wenn
ich einstweilen hierdurch nur herzlich danke, mich auf den
Dezember freue und um einen Haydn im Programm bitte!
So eilig wie herzlich Dein
Wien, 2. September 1896. J. Br. a
Am 17. Dezember 1896 schrieb Joachim an J. 0. Grimm
in Münster:
— 297 —
„Lieber Ise!
Von Herzen Dank für Dein Zeichen treuen Gedenkens,
das mich aufserordentlich erfreut. Auch ich halte das An-
denken an unser oft so trautes Zusammensein hoch, das darf
ich mit Aufrichtigkeit sagen. Noch in Wien habe ich Deiner
letzte Woche gedacht, wo ich sehr viel mit Brahms, einst
der Dritte im hannoverschen Bunde, verkehrte. Es wird Dir
tröstlich sein, zu vernehmen, dafs seine Krankheit nicht die
unheilvolle ist, von der so erschreckende Gerüchte zu uns
drangen. Die Ärzte erklären dies positiv. Aber freilich ist
sein Zustand nicht unbedenklich; er ist abgemagert, sieht
fahl aus und fühlt sich schwach infolge der nun schon so
lange anhaltenden Gelbsucht. Gleichwohl darf man bei seiner
kraftvollen Konstitution und seiner tapfern Art auf Heilung
hoffen. Er soll im April wieder nach Karlsbad. Seine Teil-
nahme für unser Quartett war reizend und erfreulich, und er
war meist mit uns bis spät in die Nacht. Wieviel haben
wir verloren, seit wir uns nicht gesehen, mein teurer Ise!
Man lebt seinen Kindern weiter" . . .
Leider haben sich die Hoffnungen, die auf Brahms' Wieder-
genesung gesetzt wurden, nicht verwirklicht. Am 3. April 1897
schlofs der Meister die Augen für immer.
Joachim, der zu jener Zeit gerade mit seinen Berliner
Quartettgenossen in London konzertierte, konnte es sich kon-
traktlicher Verpflichtungen wegen nicht vergönnen, dem heim-
gegangenen Freunde das letzte Geleit zu geben, und mufste
sich damit bescheiden, ihm aus der Ferne seine Grüfse ins
Jenseits nachzurufen.
Der folgende Brief möge die inhaltsreichste Epoche in
Joachims Künstlerleben zum Ausklang bringen.
„Berlin, 29. April 1897.
Mein teurer Rudorff, Deine lieben Zeilen haben mich
sehr gerührt; ich kenne kaum jemand, der so feinfühlig zu
trösten weifs. Mir ist es immer ein Genufs, Deine Em-
pfindungen und Gedanken auf mich wirken zu lassen, so noch
— 298 —
neulich, als mir die gute, treue Frau Marie Benecke Deine
Zeilen über die Orgelvariationen Mendelssohns in London
mitteilte. Wie weifst Du tiberall ins Innerste zu dringen!
Ich kann nur sagen, dafs ich mich schon herzlich auf Dein
Wiederkommen freue. — Ja, es war ein harter Schlag,
Brahms zu verlieren. Ihn so allmählich die Lebenskraft ver-
lieren zu sehen, war ein vorbereitender Schmerz; man mufs
dankbar sein, dafs er nicht noch länger zu leiden hatte.
Die fast tibermenschliche Energie, mit der er sich wehrte,
war staunenswert! Mit Wehmut denke ich daran, dafs wir
ihm in Wien noch eine Freude machen konnten, die er mit
ungewohnter Weichheit auf sich wirken liefs; ich habe ihn
seine Dankbarkeit nie so herzlich aussprechen hören, als
nach dem Anhören seines G-dur-Quintetts : eine Befriedigung
über sein Schaffen fast. Wir behalten seine Werke — per-
sönlich konnte ich ihm in den letzten Jahren wenig sein.
Es wird Dich interessieren, und Du wirst im Geist mit-
geniefsen, wenn ich Dir das Programm schicke, das wir im
Mai für Bonn entworfen haben. Auch hier wollen wir am
7. Mai sein Andenken in der Philharmonie hochhalten und
viele daran teilnehmen lassen, die andere Konzerte nicht be-
suchen können: F-moll-Quintett, B-dur-Quartett, Klarinetten-
Quintett mit Mtihlfeldt. Im Juni bringt die Schule das
Requiem; da nimmst Du hoffentlich wieder teil.
Sei mit Deiner lieben Gertrud aufs innigste gegrtifst.
Dein Joseph Joachim."
Ein glückliches Zusammentreffen von seltenen körperlichen
und seelischen Eigenschaften hat es zuwege gebracht, dafs
Joachim bei voller Reife des Mannesalters noch die Spannkraft
eines Jünglings besitzt. Das köstlichste Geschenk, das die
Götter dem Genius verleihen können, scheinen sie auch Joachim
in die Wiege gelegt zu haben: die ewige Jugend!
Die Widerstandsfähigkeit, mit der sein Körper den Strapazen
ausgedehnter Reisen trotzt, ist ebenso erstaunlich wie seine
— 299 —
Arbeitskraft, die keine Ermüdung kennt. Es kommt gar nicht
selten vor, dafs er nach einer zwanzigstündigen Eisenbahnfahrt
seine Wohnung eben nur betritt, um die Kleider zu wechseln.
Eine halbe Stunde später ist er schon auf der Hochschule, erteilt vier
bis fünf Geigenstunden, macht dann eine kleine Frühstückspause
und dirigiert nachmittags eine anstrengende Orchesterübung.
Ist diese beendigt, steigt er in einen Wagen und fährt zu
Mendelssohns, die ihn zum Diner erwarten, nach welchem er
dann mit den Freunden noch ein paar Quartette spielt!
Ebenso bewundernswert ist die Stahlkraft seiner Nerven
und seine Geistesgegenwart in kritischen Momenten. Ein Bei-
spiel dafür: Im vergangenen Winter war Joachim aufgefordert
worden, in einem Konzert in Brandenburg mitzuwirken. An-
gesichts der künstlerischen Begebenheit hatte man das Orchester
durch eine Anzahl junger Musiker aus Berlin verstärkt, was
wieder eine Yergröfserung des Podiums nötig machte. Leicht-
fertigerweise war das dadurch bewerkstelligt worden, dafs man
einfach über Tische, Stühle und Bänke Bretter gelegt hatte.
Als nun Joachim vor die Rampe treten wollte, machte er einen
Fehltritt und stürzte durch eine unbedeckt gebliebene Öffnung
des improvisierten Podiums in die Tiefe. Bei der Schnellig-
keit, mit der sich der Unfall ereignete, war an ein Beispringen
seitens der Orchestermitglieder gar nicht zu denken gewesen.
Sie sahen nur, wie Joachim rücklings in der Tiefe verschwand
und dabei Geige und Bogen in die Höhe gehalten hatte. Der
dumpfe Knall, der auf den Absturz erfolgte, liefs die entsetzten
Musiker befürchten, dafs sich Joachim wenigstens Arme und
Beine gebrochen haben müsse. Aber im nächsten Augenblick
schon stand er auf den Ftifsen und rief den zu Hülfe Geeilten
beruhigend zu: „Geige und Bogen ist nichts passiert; ich selber
bin mit einigen Beulen und Schürfungen davon gekommen ! u
Wenige Minuten darauf betrat er das Podium wieder und
spielte sein Konzert von Beethoven so schön und ruhig, als
ob nicht das Geringste vorgefallen wäre.
Was aber Joachim geistig so frisch erhält und sein Jugend-
— 800 —
liches Empfinden zu sprechendstem Ausdruck bringt, das ist
vor allem die freudige Hingabe an seinen Beruf, den er zeit-
lebens mit solcher Lust und Liebe ausgeübt hat, dafs er sich
auch ein geselliges Zusammensein ohne Musizieren gar nicht
recht vorstellen kann. Selbst eine Familienfestlichkeit, zumal
in seinem eigenen Heim, gewinnt für ihn erst dann ihre voll-
inhaltliche Bedeutung, wenn sie durch Musik verherrlicht wird.
So hat er der freudig-ernsten Stimmung, in die er jedesmal bei
der Taufe eines seiner Kinder versetzt worden war, keinen
würdigeren Ausdruck geben zu können geglaubt, als durch die
Ausführung eines schönen Eammermusikstückes, zu der er sich
nach vollzogener heiliger Handlung mit einigen Freunden ver-
einigte.
Diese Lust am Musizieren und die erhebende Wahrnehmung,
dafs er mit seiner Kunst immer noch den freudigsten Wieder-
hall in den Herzen Tausender zu wecken imstande ist, lassen
es kaum glaublich scheinen, dafs in wenigen Monaten schon
sechzig Jahre seit seinem ersten Auftreten in der Öffentlich-
keit verflossen sind. Die Hoffnungen und Wünsche, welche sein
goldenes Jubiläum wachgerufen hatte, kehren nun in verstärkter
Form wieder, denn der Zeitraum, welcher uns von seiner fünfzig-
jährigen Jubelfeier trennt, ist an dem Meister so spurlos vor-
übergegangen wie eine Meereswoge, die von einer anderen
hinweggespült wird. Wir haben nicht einen Künstler zu feiern,
der in weltabgeschiedener Beschaulichkeit auf die Früchte seines
inhaltsreichen Lebens und die Segnungen seines hohen Strebens
zurückblickt, sondern einen Mann, der, in der Vollkraft seiner
Jahre und unberührt von den Stürmen der Zeit, immer noch
thätig eingreift und handelnd mitwirkt an den künstlerischen
Bestrebungen der Gegenwart.
Konnten die Gefährten seiner Jugend von ihm sagen, dafs
er schon als Zwanzigjähriger die volle Keife eines im Dienste
der Kunst ergrauten Meisters besafs, so dürfen wir den Satz
umkehren und der Wahrnehmung freudigen Ausdruck geben,
dafs er nun, am Vorabend seines sechzigjährigen Künstler-
— 801 —
Jubiläums stehend, seines hehren Priesteramtes mit der Frische
eines Jünglings waltet, dem der Genius den Kufs der Weihe
aufgedrückt hat.
Und wie er sich schon in frühen Mannesjahren durch das
unentwegte Festhalten an den Idealen der Kunst eine Aus-
nahmestellung unter den Besten der mitstrebenden Genossen
gesichert hatte, so ragt er nun, da fast alle, die mit ihm ge-
rungen und gestritten haben, der kühle Rasen deckt, wie ein
Wahrzeichen aus vergangener Zeit in die Gegenwart und Zu-
kunft hinein: Eine Rieseneiche im vollen Schmuck
der grünen Blätter, die von der lebendigen Kraft
zeugt, die ihrem Stamme innewohnt.
Möge sie noch lange grünen und gedeihen!
Inhalt.
Seil«
Vorwort V
I. Kindeijahre 1
II. Wien 11
III. Leipzig 35
IV. Weimar 69
V. Hannover 105
VI. Berlin 193
VII. Rückblick und Schliifs 259