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Full text of "Juristisch-psychiatrische Grenzfragen Band 3.1905"

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Juristisch-psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. $. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


III. Band, Heft 1/3. 


Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1905. 


HANS GROSS 


in aufrichtiger Verehrung gewidmet 


vom Verfasser. 


Wien, Ostern 1905. 


l. Begriff und Arten des Geständnisses in 
Strafsachen. 


Wenn im Folgenden das Geständnis in Strafsachen einer 
Betrachtung in juristischer und psychologischer Hinsicht unter- 
zogen wird und aus diesem Anlasse nach alter Autorensitte 
der Gegenstand der Erörterung determiniert werden soll, sei 
es gestattet, ehe wir darangehen, eine Definition des Geständ- 
nisses und insbesondere des Geständnisses in Strafsachen zu 
geben, bei dem Begriff, dem Wort „Geständnis“ als solchem 
zu verweilen. | 

Es gibt eine Menge Worte, welche im Munde des Juristen 
eine andere Bedeutung als in der Umgangssprache haben. Zu 
diesen gehört das Wort „Geständnis“. Nicht dass der Sinn. 
dieses Wortes im heutigen nicht-juristischen Deutsch von dem 
im Juristendeutsch gerade ein grundverschiedener wäre; aber 
als juristische termini technici haben die Worte „Geständnis“, 
,gestándig”, „gestehen“, im Verlaufe der Entwicklungs- 
geschichte unserer Sprache so verschiedene Bedeutungen 
gehabt, daß es immerhin in gewissem Sinne von Interesse sein 
dürfte, wenigstens einige dieser Bedeutungen festzuhalten. 
Denn dass nicht jede Erklärung, die ein Linguist gibt, vom 
Standpunkte des allgemeinen Sprachgefühls befriedigen, ge- 
schweige denn gar die Zustimmung des Juristen finden kann, 
mag ein Blick in das Sanders’sche Wörterbuch lehren. Nach 
Sanders bedeutet „gestehen“ soviel wie „mit Überwindung 
bekennen“ !) und „geständig* heisst „etwas Einem zur Last 
Fallendes oder Gelegtes eingestehend, nicht leugnend“ ?); dass 
hiermit Sanders das Wort „gestehen“ in einem viel zu engen 


1) Sanders, Wörterbuch II., 2. (Leipzig 1869), S. 1195. 
?) Sanders, a. a. O., S. 1176. 


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Sinne auffasst, ist — auch dem Nicht-Juristen — ebenso klar 
wie darüber — wiederum auch in nicht-juristischen Kreisen — 
ein Zweifel nicht bestehen kann, daß durch die von Sanders 
gegebene Erklärung damit, daß in die Umschreibung des Wortes 
„geständig* der Begriff ,eingestehend” Aufnahme gefunden 
hat, nur eine Tautologie geschaffen, aber keine Definition ge- 
geben worden ist. 

Während heute unter „Geständnis* an eine bestimmte Art 
von Parteierklärung gedacht wird, bedeutete „gestehen“ in der 
älteren Deutschen Rechtssprache soviel wie ein Obsiegen ver- 
mittels eines vollgiltigen Zeugenbeweises, also den Gegensatz 
zu „irvallen“, einen die Rechtshandlung ungiltig machenden 
Formfehler begehen.!) So heisst es im Freiburger Stadtrecht, 
c. 5, 2: „di iuncvrowe sweret also lange biz daz si gestet.* 
In einem anderen Sinne entspricht das Wort dem lateinischen 
stare juri, vor Gericht erscheinen, sich dem Richter stellen, so 
in Magdeb. blume, 2, 3, 28: „wer czu dinge geladin ist und 
nicht gesteit.“ In diesem Zusammenhange bedeutet also „ge- 
stehen“ soviel wie „persönlich vor Gericht erscheinen.“ Weit 
häufiger jedoch kommt es in einer Bedeutung vor, die sich 
seiner heutigen insofern nähert, als das Wort „gestehen“ zum 
Ausdrucke der Bekräftigung einer Behauptung gebraucht wird. 
In den Worten „uff das man on nicht hilde vor einen logener, 
so gestunt om des einer von Talwigk“ ?) soll mit „gestehen“ 
die Bestätigung einer Behauptung durch Beitritt eines Zeugen 
- für den Behauptenden ausgedrückt werden. 

Von diesem Sinne des Wortes war freilich der Weg zu 
jener Bedeutung nicht weit, in welcher es für „giltiges Zeugnis 
ablegen“, für „bezeugen“ überhaupt genommen wurde, wie z. B. 
im Freiburger Stadtrecht, c. 12. 4: „daz sullen ouch di boten 
vil rechte horen unde vernemen, daz si wizzen, wes si gesten 
sullen.“ Aber nicht nur für den Beitritt als Zeuge, sondern 
auch für die Partei-Ergreifung durch Beitritt als Bürge wandte 
die ältere Rechtssprache das Wort „gestehen“ an; in dieser 


1) Die folgenden Ausführungen folgen den Darstellungen des Brüder 
Grimm’schen deutschen Wörterbuches, IV. Bd., I. Abt., 2. Teil (Leipzig 
1879), S. 4210 ft. 

*”) Grimm, a. a. O., sub 22 b); Rothe, dür. chr. c. 659. 


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Bedeutung finden wir es in „keiser Maximilians lehr“ (45?) 
aus dem Jahre 1532: 

und wirt nit allein gestehn füsz und hendt, 

sondern dein seel wird darumb verpfendt. 


Daneben findet sich dieses Wort schon ın der der Bedeu- 
tung von ,Bekráftigung* sehr nahe verwandten der „Zustim- 
mung“, also um das Halten zu jemandem, ohne seine Hand- 
lungen als Prozesspartei direkt bekräftigen zu können. So zu- 
nächst in dem allgemeinen Sinne von „jemandes Partei er- 
greifen, zu ihm halten‘, wie z. B. im Parzival 471,15: „die 
newederhalp (niemandem) gestunden*. Es deutet ferner den 
Beistand als Parteienvertreter, als Fürsprech an, wenn es im 
Augsburger Stadtbuch (73,33 — Meyer) heisst: „und suln dem 
selbem, der im gestat oder behaltet, sagen, daz er im iht 
gestunden wan mit dem rehtem.“ Und der Höhepunkt 
der Zustimmung im Rechtsleben war der durch den sog. Um- 
stand, wenn die das Gericht umstehende Gemeinde zu Gunsten 
des Beschuldigten eine Frage beantwortete: „ich aber und die 
gantze gemein gestehen dir solches deines vorgehens in 
Keine weisz noch weg,“ so bei Ayrer, proc. 1,5. 


Diese Bedeutungen des Wortes „gestehen“ gehören der 
Vergangenheit an, aber sie sind die Vorläufer des Wortes in 
seinem heutigen Sinne, der im Grim m'schen Wörterbuch!) in 
einer freilich die Sache nicht erschöpfenden Weise mit „ge- 
richtlich, von den parteien, zugestehen, ein zugeständnis 
machen, einräumen“ umschrieben wird. 

Sehen wir zunächst davon ab, dass hier das Wort „ge- 
richtlich“ zuviel ist, da es ja auch aussergerichtliche Gestánd- 
nisse gibt, so können wir sagen, dass mit diesen Worten, ins- 
besondere mit dem Worte. „einräumen“ die Auffassung eines 
grossen Teiles der Juristenwelt widergegeben ist. 


Dadurch, dass man im Geständnis eine Einráumung er- 
blickt, gibt man zu, daß dem Geständnis zeitlich etwas voran- 
gehen müsse, was eingeräumt wird, und als dieses Antecedens 
wird oft nicht eine strafbare Handlung, sondern der durch 
eine dritte Person erfolgte Vorhalt, die strafbare Handlung 





1) a. a. O., S. 4215 sub 25). 


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begangen zu haben, angesehen. Ohne dieses Antecedens 
wollen viele ein Geständnis überhaupt nicht gelten lassen. 
Selbst ein Geständnisrechtler aus jüngerer Zeit, Schauberg') 
steht auf diesem Standpunkte, wenn er sagt: „Der natür- 
liche Begriff des Geständnisses, der confessio, ist der eines 
Sichstellens auf eine Herausforderung, eines Einstehens für 
eine geltend gemachte Rechtspflicht, es ist eine Erklärung, das 
auch zu kennen, was der Gegner behauptet, es ist eine mit 
der Aussage des Gegners übereinstimmende (con-fateri) Äusse- 
rung des Belangten, der damit constatirt, im Unrecht zu sein. 
Wie zum Begriffe des Unrechts zwei Parteien gehören, so ist 
Zweiseitigkeit, Verhältnismäßigkeit ein durchgehendes 
Characteristicum des natürlichen wie des juristischen Geständ- 
nisses. Wenn Nichts behauptet wird, kann Nichts gestanden 
werden; wenn noch Nichts dasteht, kann ich mich nicht dazu 
(gestehen, con-fiteri) stellen. Freilich braucht die Behauptung 
nicht direkt und ausdrücklich zu geschehen, obwohl dies das 
Regelmäßige ist. Wenn z.B. der Kläger in seiner Klagschrift 
schon eine Einräumung macht, so ist dies ein Geständnis, denn 
eine Behauptung des Beklagten ist selbstverständlich enthalten 
in dem natürlichen Gegeninteresse des Beklagten gegen den 
Kläger. Und wenn ein Verbrecher ganz freiwillig vor dem 
Richter erscheint und ein Geständnis ablegt, lag eine dazu 
veranlassende Behauptung in der Strafandrohung des dem Ver- 
brecher bekannten Gesetzes.“ Dass diese Schauberg'sche 
Auffassung zu eng ist, unterliegt keinem Zweifel. Vor allem 
was die letzten Worte Schaubergs betrifft, ist dagegen 
vieles einzuwenden; fürs erste, dass doch nicht jedem Ver- 
brecher das Gesetz bekannt sei, dass ferner Geständnisse von 
Handlungen vorkommen, für die es keine Strafdrohung gibt. 
Die Ansicht „Wenn nichts behauptet wird, kann nichts ge- 
standen werden“ trifft also nicht zu. Dem hat man Rechnung 
getragen, indem man das Geständnis in einem doppelten Sinne 
auffasste. So tat es der für seine Zeit beste Kenner des straf- 
prozessualen Geständnisrechts, Tittmann, indem er sagte: 
„Die Erklärung eines Angeschuldigten, dass das, was ihm 
Dd Schaube rg, Vergleichung des Geständnisses im Kriminal- und Zivil- 


prozess (Zürich 1869), 5. 17. 


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Schuld gegeben wird, wahr sey, oder dass er die strafbare 
Handlung begangen habe, heisst Geständnis“ ?). 

Nach Mittermaier?) ist Geständnis (Bekenntnis) „die 
Aussage eines Angeschuldigten, wodurch er ein bestimmtes 
Verbrechen begangen zu haben angibt, oder überhaupt eine 
die Verübung eines Verbrechens betreffende, ihm nachteilige 
Tatsache als wahr zugibt“. 

In ähnlicher Weise unterscheidet Geyer?) eine doppelte 
Bedeutung des Wortes „Geständnis“, je nachdem, ob es sich 
auf die Tat als solche oder lediglich auf einen Tatumstand 
bezieht. „Unter Geständnis“, sagt Geyer, „ist im Strafver- 
fahren jede Erklärung des Angeschuldigten oder Angeklagten 
zu verstehen, durch welche er die Wahrheit irgend eines: ihm 
nachteiligen Umstandes einräumt. Im engern Sinne versteht 
man darunter das Zugeständnis desselben, das Verbrechen be- 
gangen zu haben“. 

Während hiermit zu sehr daran festgehalten wird, dass 
ein Geständnis nur auf Vorhalt abgelegt werden könne, ist die 
von C. Gross gegebene Definition von dieser Beschränkung 
frei. Nach C. Gross) ist Geständnis „jene Erklärung einer 
Prozesspartei, durch welche dieselbe eine von ihrem Gegner 
angeführte Behauptung, welche gegen sie gelten soll, als wahr 
anerkennt oder eine solche Behauptung selbst anführt. 

Nach Vargha ist das Geständnis „die Erklärung einer 
Prozesspartei, durch welche sie eine gegnerische Behauptung 
für wahr anerkennt, sei es auch, dass dieselbe gegen sie 
wirken sollte“. 5) Hierzu wäre nur zu bemerken, dass der 
Nachsatz nicht richtig formuliert ist; denn dass diese Behaup- 
tung zum Nachteile der Partei wirken soll, gehört geradezu 
zum Wesen des Gestándnisses. Überdies ist aber ein Geständ- 
nis auch möglich, ohne dass eine gegnerische Behauptung 

1) Tittmann, Über Geständnis und Widerruf in Strafsachen (Halle 
1810), $. 1. 

?, Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II. (Heidelberg 1840), 
S. 246. 

$) Geyer in v. Holtzendorffs Hdb. d. Strafprozessr. I. Bd., $ 260. 

4) C. Gross, Die Beweistheorie im canon. Prozess, I. Teil (Wien 1867), 


S. 68. 
6, Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (Wien 1879), S. 539, 


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bereits vorliegt. Vargha scheint sich selber von diesen beiden 
Mängeln seiner Definition des Geständnisses überzeugt zu 
haben. Wenigstens hat er in der Folge den Geständnisbegriff 
ganz anders gefasst in die Worte: „Unter Geständnis versteht 
man das Bejahen von Tatsachen seitens einer Prozesspartei zu 
ihrem Nachteile“ !). Diese Definition hat vor andern auch das 
für sich, dass sie sich nicht auf den „Angeklagten“ oder „Be- 
schuldigten“ beschränkt, und bedarf nur insofern einer Bin- 
engung, als wir es eben nicht mit dem Geständnisse überhaupt, 
sondern mit dem Geständnis in Strafsachen insbesondere zu 
tun haben. „Die Merkmale einer Definition“, sagt Stahl ?) 
„sollen dem Definierten völlig adäquat sein, die Sache erschöpfen, 
diesen Merkmalen selbst wieder in gleicher Weise definiert, in 
schon gegebene allgemeine Vorstellungen umgewandelt werden 
können.“ Wenn dies berücksichtigt wird, scheint das Wesen 
des Geständnisses sich dahin zusammenfassen zu lassen: Ge- 
ständnis in Strafsachen ist jede Aussage, die, an 
sich betrachtet, einen strafrechtlich relevanten 
Nachteildes Aussagendenherbeizuführen geeignet 
ist. 

Ist der Begriff des Geständnisses auch in der verschie- 
densten Weise gegeben worden, so macht es doch den Ein- 
druck, dass über sein Wesen allzeit Klarheit herrschte und 
höchstens Formulierung und Vorstellung dieses Begriffes sich 
nicht immer deckten. Hingegen war die Frage nach seiner 
rechtlichen Natur lange ein Gegenstand lebhafter Erörterung, 
die sich jedoch von dem Rahmen des jeweiligen Grundprinzips 
einer Strafprozessordnung nicht loslósen lässt, weshalb wir auf 
diese Frage erst in Verbindung mit dem historischen Werde- 
gang des Geständnisses in Strafsachen zu sprechen kommen 
werden. 

Was die Arten des Geständnisses betrifft, wurden unter- 
schieden : 

I. Gerichtliches und aussergerichtliches Ge- 
ständnis, je nachdem, ob ein Geständnis vor dem zu- 
ständigen Gericht oder anderwärts abgelegt wurde. Beim 


1) Vargha, Das (österreichische) Strafprozessrecht (Berlin 1885), S. 199. 
2 Stahl, Die Philosophie des Rechts, I. Bd. (Heidelberg 1830), S. 53. 


liegen 














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aussergerichtlichen Gestándnis wurde wiederum das vor einer 
Behórde von dem vor Privatpersonen gemachten auseinander- 
gehalten. 

II. Vollgiltiges und unvollständig giltiges Ge- 
stándnis, eine Unterscheidung nach dem Momente, ob die 
etwa strafprozessual vorgeschriebene Form zur gerichtlichen 
Entgegennahme eines Gestándnisses vollkommen oder nur teil- 
weise gewahrt erscheint. 

II. Ausdrückliches, stillsehweigendes und ver- 
mutetes Geständnis; Einteilungsgrund ist hierbei die Er- 
wägung, ob ein Geständnis auf der eigenen expressis verbis 
gemachten Erklärung des Beschuldigten oder auf ein Schweigen, 
das man als Zustimmung anzusehen sich berechtigt hält, oder 
endlich auf solehen Handlungen beruht, welche die Vermutung 
zulassen, der Handelnde sei der Täter (z. B. Abschliessung 
eines Vergleichs mit dem Beschädigten). — Das ausdrückliche 
Geständnis wiederum kann bloss in Bejahung vorgehaltener 
Fragen oder in zusammenhängender Erzählung bestehen. Eine 
besondere Art des Geständnisses ist die Selbstanzeige 
(Selbststellung) bei der Behörde. 

IV. Erzwungenes und freies Geständnis, je nach- 
dem das Geständnis durch Anwendung von oder Bedrohung 
mit Gewalttätigkeit und anderen unerlaubten Mitteln erreicht 
wurde oder nicht. 

V. Nacktes (blosses) und umständliches (durch 
Umstände unterstütztes) Geständnis, eine Unter- 
scheidung, die darauf beruht, ob der Geständige lediglich seine 
Tat eingesteht oder überdies nähere Umstände anführt, die für 
den Fall ihrer Wahrheit zur Bekräftigung seiner Angaben ge- 
eignet sind. 

VI. Vollständiges und unvollständiges Ge- 
ständnis, ersteres liegt vor, wenn bei Deliktsmehrheit sämt- 
liche Delikte gestanden, letzteres, wenn einige gestanden, 
andere hingegen verschwiegen oder in Abrede gestellt werden. 

VII. Reines (einfaches, unumwundenes, unbe- 
schránktes) und qualifizierte (umwundenes, be- 
schránktes) Gestándnis, je nachdem, ob die Tat in einer 
zur Bestrafung geeigneten Art gestanden oder dem Geständnis 


— 12 — 


tatsächliche Umstände beigefügt werden, welche die Strafbar- 
keit vermindern oder schuld-, bez. strafausschliessend wirken. 

Die Bedeutung dieser Einteilungen der Geständnisse in 
Strafsachen ist vom Standpunkte unserer Zeit betrachtet, vor- 
wiegend historischer Natur; inwiefern die eine oder die andere 
Einteilung auch gegenwärtig praktischen Wert hat, ergeben die 
nachfolgenden Ausführungen. 


Literatur über das Geständnis in Strafsachen. 


Die frühere Zeit, deren Strafprozesse dem Geständnis eine 
bei weitem grössere Bedeutung, als dies gegenwärtig der Fall 
ist, beilegten, weist eine ziemlich umfangreiche Literatur über 
das Geständnis in Strafsachen auf. 

Diese Monographien hat in allerjüngster Zeit H a u Bn er!) 
zusammengestellt. Für das gegenwärtige Recht kommen haupt- 
sächlich die einschlägigen Partien in den systematischen Dar- 
stellungen des Strafprozessrechts, vor allem in denen von 
Glaser und Geyer, sowie Varghas „Verteidigung in 
Strafsachen“ in Betracht. Auf die rechtsgeschichtliche und 
kriminalpsychologische Literatur ist im Zusammenhange mit 
den entsprechenden Abschnitten der vorliegenden Abhandlung 
Bezug genommen. 


II, Geschichtliche Entwicklung. 


Soll die Bedeutung des Geständnisses im heutigen Straf- 
prozess richtig gewürdigt werden, so ist es nicht nur ratsam, 
sondern geradezu notwendig, die Rechtsgeschichte heranzu- 
ziehen. „Die Geschichte ist der einzig sichere Weg zur Er- 
kenntnis der Gegenwart“, sagt Vargha und diese Worte 
haben auch in Bezug auf die Lehre vom Geständnisse in 
Strafsachen ihre volle Berechtigung. 

Der im historischen Werdegange des Strafprozessrechts so 
bedeutsame Gegensatz des Anklageverfahrens zum Inquisitions- 
prozess spiegelt sich auch in der rechtlichen Bedeutung und 

1) Haußner im „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik” 
(in der Folge als „Gross sches Archiv“ zitiert), XIV. Bd., S. 5—8, 


== AN 


Behandlung des Gestándnisses wieder. Diesen Gegensatz hat 
man dahin charakterisiert, dass beim Akkusationsprozess die 
richterliche Tätigkeit von dem Auftreten eines Anklägers be- 
dingt und von seinen Anträgen abhängig sei, während beim 
Inquisitionsprozess das Gericht von Amtswegen einschreitet, 
ohne erst die Anträge eines Anklägers abzuwarten, bez. ab- 
warten zu müssen. 

In der Tat ist mit einer derartigen Charakterisierung zwar 
der Hauptunterschied zwischen den beiden Formen des Straf- 
prozesses gegeben, aber auch nur dieser. Es ist dies eine 
Unterscheidung, welche lediglich die äusseren Merkmale richtig 
erfasst, aber keineswegs die zwischen Akkusations- und Inqui- 
sitionsmaxime obwaltenden Gegensätze erschöpft. Ein Prozess 
lässt sich nicht nach lediglich äussern Merkmalen charakte- 
risieren, denn ein Prozess ist ein organisches Ganzes; nur als 
solches darf, nur als solches kann er überhaupt aufgefasst 
werden, wenn er verstanden werden soll. Und so finden wir 
denn, dass alle Phasen des Rechtsganzes, die Grundsätze der 
Beweisvornahme und ihrer Verwertung für den Urteilsspruch, 
die Stellung desjenigen, dem ein Delikt zur Last liegt, kurz 
alle Einrichtungen eines Strafprozesses im Ganzen wie im Ein- 
zelnen von dem Grundcharakter bedingt sind, auf dem er 
basiert, und sich bis ins kleinste Detail verschieden gestalten, 
je nachdem, ob er akkusatorischer oder inquisitorischer Natur 
ist. 

Diesem Gegensatz begegnen wir nun auch in der gesetz- 
lichen Behandlung des Geständnisses in Strafsachen. Beim 
Anklageprozess ist es die Sache des Anklägers, für seine Be- 
hauptungen den Beweis anzutreten und auch zu erbringen, 
wobei er freilich, wie dies ja im Wesen eines jeden Prozesses 
liegt, auf die Unterstützung von seiten des Gerichts nach Lage 
des Falles mehr minder angewiesen ist. Aber von einer Ver- 
pflichtung des Gerichts, unabhängig von den Anträgen des 
Anklägers die Erforschung der Wahrheit zu betreiben, kann 
hier nicht die Rede sein, wenn gleich das Gericht zu gewissen 
von amtswegen wahrzunehmenden Anordnungen und Verfüg- 
ungen berechtigt ist. So erscheint denn das Geständnis 
im Akkusationsprozess, wenigstens in dem früherer Zeiten, als 


a, a 3 


eine Erklärung, die, wie u. a. Mittermaier') hervorhebt, 
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Geständnis im Zivilprozess 
hat; mag diese Analogie auch ein wenig eine gegenteilige An- 
sicht zulassen — omnis analogia claudicat — so hat sie doch 
den Kern der Sache richtig erfasst: Das Geständnis im 
Akkusationsprozess ist eine Parteierklärung. 
Ganz anders verhält es sich jedoch mit dem Geständnisse 
im Inquisitionsprozess, wo der Richter von Amtswegen ein- 
schreitet. Mag auch dies insofern seine Vorteile haben, als 
der Richter eine am endgiltigen Ausgang des Prozesses de 
jure uninteressierte Person ist, so wurde gerade dieser Um- 
stand paralysiert durch das (hier nicht dem Ankläger obliegende, 
sondern) dem Richter zur Pflicht gemachte Bestreben, mit 
allen erlaubten Mitteln dahin zu wirken, dass der Beweis für 
die Behauptung der Täterschaft des vermeintlichen Missetäters 
erbracht werde. Zu diesem Zwecke ward der Inquirent mit 
den schärfsten Mitteln ausgestattet. Er war nicht der Richter 
in einem kontradiktorischen Verfahren, sondern er war ledig- 
lich die mit der Untersuchung des Straffalls betraute Amts- 
person, seine Aufgabe war nicht die, nach vorhandenen Be- 
weismitteln zu urteilen, ihm oblag vielmehr die Pflicht, die 
Mittel zur Erforschung der Wahrheit selbst herbeizuschaffen. 
Als die vorzüglichste Quelle zur Schöpfung der Wahrheit sah 
man nun das Geständnis an; in ihm erblickte man die regina. 
probationum; das Geständnis zu erlangen war das Ziel des 
ganzen Strafprozesses. Um die Art und Weise, wie das Ge- 
ständnis erlangt wurde, kümmerte man sich bei weitem nicht 
so sehr wie darum, dass es abgelegt ward. So brachte es 
denn der Inquisitionsprozess mit sich, dass der Inquisit nicht 
als Partei vor dem Richter erschien, sondern ein Untersuchungs- 
gegenstand in den Händen des Richters war, m. a. W. nicht 
als Prozesssubjekt, sondern als Prozessobjekt galt. So ideal 
der Inquisitionsprozess von der Gesetzgebung gedacht sein 
mochte, er litt daran, dass in seiner Anwendung selbst Gewalt 
und Zwang nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten waren, 
um ein Geständnis zu erlangen. Die formelle Wahrheit 
1) Mittermaier Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse 
(Darmstadt, 1834), S. 234. 








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d. h. die Erklärung einer Tatsache für wahr unter Hinweis 
auf die Mittel, die das Gesetz als Wahrheitsquellen ansah, 
war die Aufgabe der unter dem Zeichen der Inquisitionsmaxime 
stehenden Strafrechtspflege. 

Nur sehr langsam brach sich die Erkenntnis Bahn, dass 
eine Behauptung nicht deswegen, weil sie mit einem von dem 
Gesetz als Quelle der Wahrheitserforschung vorgeschriebenem 
Mittel erreicht sei, wahr sein müsse, sondern nur dann wahr 
sel, wenn sie mit den tatsächlichen Verhältnissen überein- 
stimme. Doch war diese Hintansetzung der formellen 
Wahrheit gegenüber dem Streben nach materieller Wahr- 
heit erst den Strafprozessen der neueren Zeit vorbehalten. 
Waren es auch zunächst Strafprozessordnungen des Inquisitions- 
prinzips, welche auf materielle Wahrheit Gewicht zu legen 
anfingen, so kann doch behauptet werden, dass erst mit der 
Einführung des Anklageverfahrens das Prinzip der Erforschung 
materieller Wahrheit voll und ganz zum Durchbruch gelangte. 


A) Römisches Recht. 


Welche Bedeutung dem Geständnis im Strafprozess der 
Römer zukam, ist einzig und allein aus der Natur der Ge- 
samtheit der öffentlich rechtlichen Verhältnisse des alten Rom 
zu verstehen. Der mächtige Aufschwung Roms und der Nieder- 
gang des römischen Weltreiches finden ihr treues Spiegelbild 
in der römischen Gesetzgebung u. zw. nicht in letzter Hinsicht 
in der römischen Kriminälgesetzgebung. Was jedoch insbe- 
sondere das Geständnis anlangt, sind nicht allein die poli- 
tischen Verhältnisse massgebend, vielmehr kommt ein Um- 
stand — modern gesprochen — soziologischer Natur noch 
hinzu, nämlich die Rücksichtnahme auf die Gliederung der 
Einwohner in Freie und Sklaven, eine Erscheinung, die nicht 
spezifisch römisch ist, vielmehr sich bei allen Völkern des 
Altertums findet, aber nirgends in so starkem Maße ausgeprägt 
war, wie bei den Römern. Keine Rechtsordnung des Alter- 
tums durchzieht dieser Gegensatz gleich einem roten Faden 
so sehr wie die römische. Nur der freie Römer war Person 
im Rechtssinn, nur ihm war die Möglichkeit gegeben, Rechts- 
subjekt zu sein; der Sklave hingegen war nicht Person im 


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Rechtssinue. Die Persónlichkeit mangelte ihm; von rechts- 
wegen war er Sache. Dieser Unterschied machte sich auf 
verschiedenen Rechtsgebieten in verschiedener Weise geltend, 
auf dem einen mehr, auf dem andern weniger. Und in der 
Natur der Sache liegt es, dass die Einteilung der Bevólkerung 
Roms in Freie und Unfreie fúr das Staats- und das Privat- 
recht von weitaus grösserer Bedeutung war als für das 
Kriminalrecht und seinen Prozess. Aber maßgebend war auch 
hier in erster Linie und ganz überwiegend doch der Umstand, 
dass dem Sklaven die Persönlichkeit fehlte. Dies war auch 
in strafprozessualer Hinsicht von weittragender Bedeutung, die 
nirgends mehr sich áusserte- als in der grundverschiedenen 
Wirkung, die einerseits dem Gestándnisse des freien Mannes, 
anderseits dem des Sklaven zukam. 

Der folgenden Darstellung sei die zuerst von Geib +) 
vorgenommene Einteilung der Geschichte des römischen Krimi- 
nalverfahrens in drei Perioden zugrunde gelegt. Demnach sind 
auch hinsichtlich des Geständnisses im römischen Strafprozesse 
drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: 1. Von der Gründung 
des römischen Staates bis zu den quaestiones perpetuae; 2. die 
Zeit der quaestiones perpetuae; 3. von dem Untergange der 
quaestiones perpetuae bis zum Tode Justinians. ?) 

I. Wenngleich Rom in der Rechtsgeschichte der gesamten 


1 Geib, Geschichte des römischen Kriminalprozesses bis zum Tode 
Justinian's (Leipzig 1842), S. 5. — Im Übrigen vgl. S. 187f., 273, 328 ff. 
und 612 ff. - 

2 Auf die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale der von Geib 
auseinandergehaltenen Zeitabschnitte des náheren einzugehen ist hier nicht 
der Ort. Eine derartige Erörterung käme zu sehr ausserhalb des Rahmens 
unserer übrigen Ausführungen zu liegen. Nur soviel sei bemerkt: In der 
Zeit vor den quaestiones perpetuae herrscht das akkusatorische Verfahren, 
welches von einem Magistrat eingeleitet wird. In der Zeit der quaestiones 
perpetuae gilt wohl auch das Anklageprinzip, jedoch Ankläger ist nicht 
die Behörde allein, sondern jeder durch die Rechtsordnung nicht für untaug- 
lich erklärte Bürger kann als Ankläger auftreten. Die Zeit nach dem 
Untergange der quaestiones perpetuae ist durch das inquisitorische Prinzip 
charakterisiert. Für die Bedeutung des Geständnisses ist diese G eib’sche 
Dreiteilung nur mittelbar von Belang; dennoch haben auch wir sie beibe- 
halten, da in jedem dieser drei Zeitabschnitte die rechtliche Bedeutung des 
Geständnisses Wandlungen unterlegen ist. 





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Kulturwelt eine derartige Bedeutung hat, dass es, wie Ihering') 
sagt, dreimal der Welt Gesetze gegeben hat, darf doch nicht 
ausser Acht gelassen werden, dass das römische Recht ebenso 
wie Rom selbst nicht an einem Tage erbaut worden ist. Die 
Rechtsentwicklung schreitet nur langsam vorwärts und nicht 
auf allen Rechtsgebieten in gleicher Weise. ?) Je weniger vor- 
geschritten die Rechtsentwicklung einer Nation ist, desto 
weniger hat bei ihr der Gedanke Raum, dass ein abgelegtes 
Geständnis falsch sein könne. Als ein derartiges Volk erscheinen 
uns auch die Römer. 


Wenn ein Angeklagter geständig ist, ein ihm zur Last 
gelegtes Verbrechen begangen zu haben, so ist das dem römi- 
schen Richter ein vollkommener Schuldbeweis. Das Geständnis 
genügt zur Verurteilung, ja es gibt keinen erdrückenderen Be- 
weis der Schuld als das Geständnis des reus, eine ihm zur 
Last gelegte Handlung wirklich vollbracht zu haben. 


Der römische Bürger war frei; frei sollte auch sein Ge- 
ständnis sein, wenn er sich als Angeklagter zu verantworten 
hatte. Ihm gegenüber war, wie Wasserschleben?) nach- 
gewiesen hat, jedwede Zwangsmaßregel verboten. Auch dem 
Angeklagten gegenüber sollte der Wert der Persönlichkeit 
voll und ganz respektiert werden. Nur war den Römer der 
Begriff der Persönlichkeit ein viel engerer als der des Menschen. 
Auch beim Geständnisse hatte das stolze Wort „civis Romanus 
sum“ seine Geltung, welcher gegenüber das „homo sum“ völlig 
zurücktreten musste. Der homo, der nicht civis war, hatte 
keine Persönlichkeit; nur der Persönlichkeit, nicht der Menschen- 
. würde trug der nüchterne Sinn der Römer Rechnung. 


Dies zeigte sich deutlich beim Geständnis des Sklaven. 
Während beim Freien auf ein freies Geständnis Gewicht ge- 
legt wurde, ward das Geständnis des Sklaven mit der Folter 
(eculejus) erzwungen. Die freie, nichterzwungene Aussage des 


1) Ihering, Geist des röm. Rechts (Anfang).” 
nv. Liszt, Lb. d. deutschen Straírechts, 10. Aufl. (Berlin 1900), 
S. 57, weist auf die „sekundäre“, „komplementäre‘‘, „sanktionatäre‘‘ Natur 
der Strafrechtssätze hin. 
% Wasserschleben, Historia quaestionum per tormenta apud Romanos 
(Berol. 1836), pag. 14. 
2 


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Sklaven war grundsätzlich unglaubwürdig, mochte sie Ge- 
ständnis oder Zeugenaussage sein. Dieser ausnahmslose Grund- 
satz ist m. E. nicht anders zu erklären als aus der rechtlichen 
Stellung des Sklaven: man erkannte ihm im Rechtsleben der 
ältesten Zeit keinen freien Willen zu. Nur der Wille seines 
dominus war es, kraft dessen er auszusagen hatte. Nicht nur 
gegen, sondern auch ohne diesen Herrenwillen war eine Aus- 
sage des Sklaven rechtlich unmöglich.) Von Belang war 
ferner der Umstand, ob das Verbrechen des Sklaven a) gegen 
seinen Herren. einer dessen patria potestas unterstehenden 
Person oder einen Sklaven ?) oder b) gegen eine dritte (phy- 
sische oder Juristische) Person gerichtet war. Im Falle a) war 
es der Heır. der ım Wege der Folter das Geständnis erzwang. 
Nur der Herr war rechtlich befugt zur Aburteilung derartiger 
Verbrechen; er war niemandem Rechenschaft schuldig über 
die Art der Mittel, derer er sich zur Erlangung des Geständ- 
nisses bedient hatte. Mit einer Strenge, die ruhig barbarische 
Rücksichtslosigkeit genannt werden kann, wurde oft seitens 
des Herrn von diesem Rechte Gebrauch gemacht. Hingegen 
stand im Falle b) die Prozedur zur Erlangung eines Geständ- 
nisses den ordentlichen Gerichten zu; die Folterung geschah 
über Antrag des durch das Verbrechen Geschädigten unter 
öffentlicher Autorität (wenn nicht nach Lage des Falles noxae 
datio des schuldigen Sklaven erfolgte). 3) 

II. Was die Beweiskraft des Geständnisses in der Zeit der 


1) Daraus ergibt sich die weitere, vom altrömischen Standpunkte er- 
klärliche, ja geradezu selbstverständliche Erscheinung, dass ein Sklave nur 
zu Gunsten seines Herrn, jedoch niemals gegen ihn (in caput domini) ver- 
nommen werden Konnte; vgl. Vargha, Verteidigung, S. 40. 

2) Im Falle eines Verbrechens eines Sklaven gegen einen andern Sklaven 
scheint es keinen Unterschied gemacht zu haben, ob letzterer im dominium 
des Herrn des Täters oder eines fremden Herrn stand; die Vornahme der 
Folterung dürfte auch in diesem Falle Sache des Herrn des Schuldigen gewesen 
sein; vgl. Valerius Maximus, VIII. 4 1, Wasserschleben,]. c., 
pag. 16 und Geib a. a. O., S. 140, A. 109. 

8) Ob schon in dieser Periode der verletzte Private, auf dessen Betrieben 
die Folterung vorgenommen wurde, dem Herrn des fraglichen Sklaven im 
Voraus für den etwaigen Schaden Kaution leisten musste, wie Geib a. a. 
O., S. 139 annimmt, scheint zweifelhaft. 


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— 19 — 


quaestiones perpetuae betrifft, hat sich im Verháltnisse zu dem 
über den vorangehenden Zeitabschnitten Gesagten so gut wie 
gar nichts geändert. Dies gilt auch hinsichtlich der Mittel 
zur Erlangung eines Geständnisses. Dass es Momente gibt, 
die einen zur Ablegung eines falschen Geständnisses veranlassen, 
dass selbst spontane Selbstanschuldigungen falsch sein können, 
von alldem hatte der nüchterne, psychologischen Erwägungen 
abholde Sinn der Römer keine Vorstellung. Aus dem Ge- 
ständnis klang ihm die höchste Wahrheit heraus. „Confessio 
conscientiae vox est“, sagt Seneca, controvers. VII. 3. Wo 
ein Geständnis vorlag, durfte und musste jede Beweisvornahme 
entfallen; sie wurde durch das Geständnis in dem Grade über- 
flüssig, dass das Gericht sich nicht einmal in eine Prüfung des 
Greständnisses einzulassen "brauchte, um zur Verurteilung des 
Angeklagten schreiten zu können. !) 


Ob angesichts eines Geständnisses überhaupt eine Ver- 
teidigung von rechtswegen möglich war, darüber herrschte bei 
den Römern Meinungsverschiedenheit. Manche Schriftsteller 
schlossen sie aus und verlangten auf Grund eines Geständ- 
nisses die sofortige Verurteilung. Andere hingegen liessen 
eine Verteidigung zwar zu, jedoch war diese ganz eigenartig 
gestaltet. Das Geständnis selbst konnte und durfte hinsicht- 
lich seiner Glaubwürdigkeit keiner Kritik unterzogen werden, 
sondern es war nur die deprecatio, d. i. der Antrag auf Frei- 
sprechung des geständigen Angeklagten mit Rücksicht auf 
seine persönlichen Verhältnisse, Verdienste, seine Gesinnung 
usw. zulässig.?) Insbesondere wurde demjenigen. der seine 
Mitschuldigen angab, Straflosigkeit zugesichert. 


1) Vgl. die bei Geib a. a. O., S. 329, A..250 Zitierten. 


2 Cicero de iuvent. I. 11 definiert die deprecatio folgendermaßen: 
„Deprecatio est, cum et peccasse et consulto peccasse reus se confitetur, et 
tamen, ut ignoscatur, postulat“. Die Form der deprecatio deutet Auctor 
ad Herminum (I. 14) an mit den Worten: Deprecatio est, cum et pecasse 
se et consulto fecisse reus confitetur, et tamen postulat, ut sui misereantur“. 
Tatsache ist es, dass die deprecatio nur im Falle eines Geständnisses ange- 
wendet werden durfte; ob, wie Cicero meint, nur ausnahmsweise oder ob 
gar nur bei den Senats- und Komitialgerichten, wie dies Quintilian an- 
nimmt, kommt für das Wesen des Geständnisses nicht weiter in Betracht, 
weshalb an dieser Stelle ein Hinweis auf die diesbezüglichen Ausführungen 
von Geiba. a. O., S. 280 genügen möge. 

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— W — 


In prozessualer Hinsicht ist nur insofern ein Fortschritt 
zu verzeichnen, dass über die durch Folterung erlangten Ge- 
ständnisse von Sklaven formelle Protokolle aufgenommen 
wurden, welche im Falle einer nichtöffentlichen Folterung 
durch obsignatores bekräftigt und unterschrieben wurden. !) 

Schliesslich ist zu erwähnen, dass für diese Zeit die An- 
fänge jenes Grundsatzes sich nachweisen lassen, der in der 
Folge als S. C. Silanianum seinen gesetzlichen Ausbau erhalten 
hat. Im Falle der Tötung eines dominus hat man seine sämt- 
lichen Sklaven der Folterung unterzogen, um auf diese Weise 
ihre Angaben zu gewinnen, die nach Lage des Falles entweder 
Geständnis (Schuld, bezw. Mitschuld am Tode des Herrn) oder 
Zeugenaussage (Angabe des dem Gefolterten etwa bekannten 
Täters) waren. 

III. Die rechtliche Bedeutung, welche dem Geständnis in 
den zwei ersten Perioden des römischen Kriminalprozesses zu- 
kam, blieb auch im Anfange der Kaiserzeit dieselbe Aus- 
drücklich sagte l. 1 D. de confessis 42, 2: Confessus pro ju- 
dicato est, qui quodammodo sua sententia damnatur. Dieser 
Rechtssatz war, wenigstens hinsichtlich der delicta privata, so 
festgewurzelt, dass man selbst dem unzweifelhaft falschen Ge- 
ständnis Beweiskraft beilegte. Deutlich geht dies herver aus 
l. 4 D. de confessis 42, 2: Si is, cum quo lege Aquilia agitur, 
confessus est, servum occidisse, licet non occiderit, si tamen 
occisus sit homo, ex confesso tenetur. Also auch noch in der 
Kaiserzeit begegnen wir der Anschauung, ein Geständnis sei 
bedingungslos und ohne Notwendigkeit, ja ohne Erlaubtheit 
seiner Prüfung pro veritate hinzunehmen. 

In diesem Zustande traten jedoch wesentliche Änderungen 
ein; wann, ist den Quellen nicht klipp und klar zu entnehmen. 
Soviel steht fest, zur Zeit der grossen Juristen, deren Namen 
mit ‘der Kodifikationsgeschichte des römischen Rechts aufs 
engste verknüpft sind, waren diese Änderungen bereits ein- 
getreten.) Es wurde nunmehr geprüft, ob das Geständnis 
in concreto glaubwürdig erscheine, d. h. ob es mit den anderen 

1) Vgl. Cicero pro Cluent, c. 65, 66 und Geib a. a. O., S. 331. 


2) Vgl. Tit. II. De confessis im 42. Buch der Digesten und Geib 
a. a. O., S. 612, A. 284. 


aa Di 


im einzelnen Falle vorliegenden Beweismitteln übereinstimme, 
bez. in ihnen und durch sie eine Unterstützung finde, oder 
nicht. Stimmte das Geständnis mit den übrigen Beweismitteln 
nicht überein, fand es in ihnen keine Unterstützung oder wurde 
es durch sie geradezu widerlegt, so gab es keine Basis ab, 
auf welcher man ein Schuldurteil aufbauen konnte; 1. 8, D. 
de confessis 42, 2: non omnimodo confessus condemnari debet 
rei nomine, quae an in rerum natura esset, incertum sit. Wurde 
jedoch ein Geständnis für glaubwürdig befunden, so machte es 
vollkommenen Beweis. 

Auch hinsichtlich der Art und Weise der Erlangung eines 
Geständnisses war nicht Alles beim Alten geblieben. In dieser 
Hinsicht ist vor allem hervorzuheben, dass im Gegensatze zu 
den früheren Perioden nicht lediglich in jure, sondern auch in 
judicio und gerade vorwiegend in judicio, also im Hauptver- 
fahren, förmliche Verhóre mit dem Angeklagten stattgefunden 
haben; und diese Verhöre mussten vom Richter vorgenommen 
werden, nicht, wie bisher, vom Ankläger. Ist uns über den 
Vorgang bei diesen Verhóren auch nichts Näheres bekannt, 
so darf doch mit Rücksicht auf die immer weitere Verbreitung 
der Inquisitionsmaxime mit Geib angenommen werden, dass 
das Bestreben des Richters auf Erlangung eines Geständnisses 
gerichtet war. Nicht einmal das steht fest, ob die Stellung 
von Suggestivfragen gestattet war oder nicht. 

Die Mittel, derer man sich zwecks Erlangung eines Ge- 
ständnisses bedienen durfte, waren zu Beginn der Kaiserzeit 
die bisherigen, d. h. die Folter durfte nur gegen Sklaven, je- 
doch nicht gegen Freie angewendet werden. Hingegen ergibt 
sich aus Tacitus, Suetonius u. a., dass die Praxis in scharfem 
Widerspruch zu dieser Norm stand, die Folter vielmehr ohne 
Ansehung der Person des Angeklagten, ohne Rücksicht auf 
das ihm zur Last gelegte Delikt und mit Hintansetzung der 
(gleich zu erwähnenden) Bedingungen, unter welchen das Ge- 
setz die Folterung zuliess, in Anwendung gebracht wurde. 
Erst in der späteren Kaiserzeit hörten diese Willkürlichkeiten, 
wenigstens für die Regel, auf. 

Der Persönenkreis, dem gegenüber der Gebrauch der Folter 
zur Erlangung eines Geständnisses gestattet war, hatte gleich- 


33, cs 


falls einige Änderungen erfahren. Die wesentlichste war wohl 
— in Bezug auf Sklaven -— diejenige, dass bei Delikten von 
Sklaven — ausgenommen selbstverständlich die Delikte am 
eigenen dominus — nur seitens des Gerichtes die Folter zur 
Erlangung eines Geständnisses gebraucht werden durfte, und 
zwar nachdem entweder der Herr des Sklaven seine Einwilligung 
hierzu erteilt hatte oder seitens des Anklägers eine Kaution 
geleistet worden war. 

Eine Singularitát ward geschaffen durch das S. C. Sila- 
nianum. Es wurden nicht mehr, wie in der früheren Periode, 
alle Sklaven des Ermordeten zwecks Erlangung eines Ge- 
ständnisses gefoltert, sondern lediglich diejenigen, welche tem- 
pore criminis facti in der Nähe des Tatortes gewesen zu sein 
verdächtig schienen; nur beschränkte man sich in dieser Hın- 
sicht nicht auf die betreffenden Sklaven des Ermordeten , son- 
dern unterzog dieser Prozedur auch die Sklaven seiner Ehefrau, 
bez. im Falle der Ermordung der Ehefrau auch die Sklaven 
ihres überlebenden Ehegatten. !) 

Bedeutsam war die Neuerung, dass nunmehr auch Freie 
gefoltert werden konnten. Die Härte dieser Maßregel ver- 
kannten die Römer allerdings keineswegs und liessen sie daher 
zunächst nur bei jenen Delikten zu, welche ihnen als die 
schwersten erschienen; das waren die Delikte, durch welche 
der Bestand des Staates gefährdet und Leben oder Gesund- 
heit des Staatsoberhauptes bedroht waren (crimen laesae maje- 
statis). Diese Deliktsreihe ward in der Folge erweitert. Dem 
crimen laesae majestatis wurde das crimen magiae gleichge- 
stellt; bei diesen Delikten wurde der Angeklagte ausnahmslos 
auf der Folter verhört. Bei anderen Delikten?) konnten Sena- 
toren und höhere Beamte sowie deren standesmäßigen Deszen- 


1) Geib, a. a. 0., S. 619, Dernburg, Pandekten III, 5. Aufl. (1897), 
S. 109, A. 3; hingegen dürfte Geib nicht zuzustimmen sein, wenn er die 
Folterung nur beim gewaltsamen Mord, nicht hingegen beim Giftmord für 
zulässig erklärt. Dass die Quellen nur vom eigentlichen gewaltsamen Mord 
sprechen, stützt seine Ansicht nicht. Bei Giftmord war Folterung sogar 
gegen Freie, also allgemein zulässig. Und die Sklaven günstiger zu stellen 
als die Freien, lag gewiss nicht in der Absicht der Römer. 

2) Als solche führt G eib a. a. O., S. 617 an: einige Dienstvergehen, 
Giftmord, Falsum, Magie und seit den Novellen auch Ehebruch. 


denten bis zum dritten Grade nicht gefoltert werden. Neben 
diesen relativen Ausschliessungsgriinden kannte das rómische 
Recht jedoch auch absolute, d. h. Griinde, bei deren Vorhanden- 
sein die Folter unter keinen Umstánden in Gebrauch kommen 
durfte; Unmiindige, Wahnsinnige, Schwangere und unter ge- 
wissen Voraussetzungen auch Blinde, Taube und Stumme 
durften nicht gefoltert werden. 

Während aber die Folterung der Sklaven lange Zeit als 
das einzige und ausschliessliche Mittel zur Erlangung eines 
giltigen Geständnisses war, konnte sie Freien gegenüber stets 
nur als subsidiäres Beweismittel angewandt werden. Und 
diese Subsidiarität war doppelter Natur. Fürs erste konnte 
nämlich nur dann die Folter in Betracht gezogen werden, 
wenn alle anderen Beweismittel zur Klarlegung der Schuld 
des Angeklagten versagten; nur dann, wie gesagt, konnte an 
die Folter von Rechtswegen überhaupt gedacht werden. Ge- 
braucht werden jedoch durfte sie nur dann, wenn aus Indizien 
und Umständen der Schein für die Richtigkeit der Anklage 
sprach. 

Die Vornahme der Folter stand ausschliesslich dem Ge- 
richte zu. Das Gericht hatte auch über Art. Maß und Dauer, 
sowie eine etwaige Wiederholung der Folterung zu entscheiden. 
Der Folterakt ging nicht während, sondern vor der Verhand- 
lung vor sich, u. zw. nicht an der Stätte des Gerichts, sondern 
an einem ad hoc bestimmten Platze, stets jedoch in Gegen- 
wart des Gerichtes, so dass von der förmlichen Protokollierung 
des Folteraktes, wie dies zur Zeit der quaestiones perpetuae 
der Fall war, nunmehr meistens Abstand genommen werden 
konnte. 

Von der Frage nach der Bedeutung des Geständnisses 
muss die nach seiner Notwendigkeit scharf getrennt werden. 
Während es sich bei ersterer Frage darum handelte, wie ein 
abgelegtes Geständnis zu behandeln sei, kommt bei letzterer 
das Moment in Betracht, ob ein Geständnis notwendig sei, um 
den Angeklagten verurteilen zu können, m. a. W. ob die Ab- 
legung eines Geständnisses conditio sine qua non eines Schuld- 
spruchs sei. Aus den vorstehenden Erörterungen geht zur 
Genüge hervor, welches Gewicht die Römer auf das Geständnis 


— 24 — 


legten, wie sehr es ihnen um das Geständnis des Angeklagten 
zu tun war. Aber anderseits ist daraus, dass die Anwendung 
der Folter zur Erlangung eines Schuldbekenntnisses lediglich 
subsidiär und selbst da nur unter gewissen (beschränkenden) 
Voraussetzungen statthaft war, deutlich zu erkennen, dass ein 
Geständnis des Angeklagten zu seiner Verurteilung rechtlich 
nicht erforderlich war. !) 


Geständniswiderruf war möglich bei den sog. Gesinnungs- 
verbrechen, bei welchen das abgelegte Geständnis, wie 
Mommsen betont, die weitere Verhandlung gegenstandslos 
machte, so dass auf Grund des Geständnisses allein das Urteil 
gefällt werden konnte. In diesen Fällen war dem geständigen 
Angeklagten unter Umständen ein dreissigtägiges tempus deli- 
berandi zur Zuriicknahme seines Geständnisses eingeräumt. ?) — 


Wenn wir die Bedeutung des Geständnisses im altrömischen 
Kriminalverfahren überblicken, gelangen wir zu dem Ergeb- 
nisse, dass das Geständnis den Römern nicht nur das hervor- 
ragendste Beweismittel war, sondern sogar ein Beweismittel, 
dem gegenüber lange Zeit hindurch jeder Gegenbeweis einfach 
unzulässig war. In eine richtige Psychologie des Geständnisses 
sind die Römer eben niemals eingedrungen. Die Prüfung der 
Glaubwürdigkeit des Geständnisses hatte für sie nur die Be- 
deutung, dass man bei unglaubwürdigem Geständnis Umschau 
nach anderen Beweismitteln hielt. Ob diese Umschau einen 
Erfolg hatte oder erfolglos blieb, war von lediglich unterge- 
ordneter Bedeutung angesichts der Bestimmung, dass auch das 
offensichtlich wahrheitswidrige Geständnis in der Regel die 
Verurteilung nach sich zu ziehen hatte. Bemerkenswert bleibt 
die Tatsache, dass in der späteren Zeit bei gewissen Delikten 
mit der Folter auch von Freien Geständnisse erzwungen werden 


1) Von dieser Regel will Mommsen, Römisches Strafrecht (Leipzig 
1899), S. 437 für einen Fall eine Ausnahme machen: „nur bei den Ver- 
brechen des Nächstenmordes soll nicht anders als nach abgelegtem Ge- 
ständnis verurteilt werden.‘ Doch stützt Mommsen seine Ansicht ledig- 
lich auf Suetonius Ang. 33; das corpus juris civilis enthält keine Stelle, 
welche die Richtigkeit dieser Annahme mit zwingender Notwendigkeit er- 
geben würde. 


2) Mommsen, a. a. 0., S. 438. 





— 25 — 


mussten. Vielleicht ist der Grund dieser Maßregel in der 
Skepsis zu suchen, die die Römer gegen ein freiwillig abge- . 
legtes Geständnis hatten und die soweit ging, dass Quinti- 
lianus (Declam. 314) sagte: „Ea natura est, alius ebrietate, 
alius errore, alius dolore, quidam quaestione. -Nemo contra 
se dicit nisi aliquo cogente“. Diese Auffassung ist um 
so merkwürdiger, als bei den Juden, die auf das materielle 
Strafrecht der Römer einen so grossen Einfluss ausgeübt haben, 
das Geständnis an sich keinen Beweis bildete und nur, insofern 
es seinem Inhalte nach durch mindestens zwei Zeugen Bestä- 
tigung fand, auf Glauben rechnen konnte. !) 

Ein psychologischer Gedanke war freilich auch den Römern 
nicht fremd, ein Gedanke, der sich bis heute erhalten hat, 
wenn auch in seiner Richtigkeit nicht unbezweifelt, ‘der Ge- 
danke nämlich, dass derjenige, der nichts verbrochen hat, es 
nicht notwendig habe, sich dem ihn etwa dennoch bevor- 
stehenden Verfahren zu entziehen oder das Verfahren irgend- 
wie auf unerlaubte Weise zu beeinflussen. Tut er trotzdem 
etwas derartiges, so spricht das für seine Schuld, m. a. W. in 
seiner diesbezüglichen Handlungsweise liege ein Geständnis 
seiner Schuld. Nur war nach römischer Rechtsanschauung 
nicht jede Strafe ein so grosses Übel, dass die vorerwähnte 
Annahme am Platze gewesen wäre. Sie war vielmehr auf die- 
jenigen Delikte beschränkt, welche mit dem Tode oder der 
Verbannung zu bestrafen waren. War jemand wegen eines 
derartigen Deliktes in Anklagestand versetzt und nahm er 
sich das Leben, so wurde er einem Geständigen ebenso gleich 
geachtet wie derjenige, der angesichts einer gegen ihn schwe- 
benden Kapitalanklage einen Bestechungsversuch an seinem 
Ankläger unternommen hatte. Mommsen?) bezeichnet diese 
Fälle als „impliziertes Geständnis“ und für implicite geständig 
sieht er auch den anlässlich der Begehung eines mit dem Tode 
oder mit der Deportation bedrohten Verbrechens auf frischer 
Tat Ergriffenen an, ohne dass sich freilich aus seiner Dar- 
stellung ein Anhaltspunkt dafür ergeben würde, warum andere 

1) Vargha, Verteidigung S. 11 und die hier in N. 19 Zitierten. 


» Mommsen, a. a. O., S. 438; vgl. auch Anm. 6—8 und S. 439, 
Ann. 1. 


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auf frischer Tat Ertappte nicht auch als geständig gegolten 
haben sollten. 


B. Älteres deutsches Recht. 

Wenn wir von den Trümmern des römischen Reiches 
unsern Blick jenem Volke zuwenden, welches das Erbe der 
Römer in der Weltgeschichte anzutreten berufen war, so sind 
es die Germanen, mit deren Recht wir uns nun zu befassen haben. 

In der ältesten Zeit, da die Blutrache eine Pflicht der 
Sippe war, konnte von einem Strafverfahren überhaupt nicht 
die Rede sein, weshalb ein Geständnis für diese Zeit (wenn es 
überhaupt vorgekommen ist) ganz irrelevant war. Denn es 
herrschte das Recht der Fehde als die einzige Form des — 
wenn man so sagen darf — Strafverfahrens; dem Angegriffenen 
oblag es, sich zu wehren. Die Fehde kannte keine prozessualen 
Formen und Stadien; ihr Kampf war ein Waffenstreit, bel 
welchem es nicht weiter darauf ankam, ob der Angriff objektiv 
gerechtfertigt war oder nicht. 

Erst seit der Zeit Karls des Grossen finden sich Statute, 
welche die Fehde wesentlich einzuschränken trachten, haupt- 
sächlich durch die Bestimmung, dass der Rächer zur Annahme 
der ihm angebotenen Komposition verpflichtet sei. Daneben 
entwickelte sich eine Art schiedsrichterlichen Verfahrens, vor 
welchem sich nunmehr auch die Gelegenheit zur Ablegung 
eines Geständnisses ergab. So steht dieses Verfahren ungefähr 
an der Grenze der Zeit der Blutrache und der der Anfänge 
eines geordneten Strafprozesses; es vermittelt gewissermaßen 
den Übergang von jener zu dieser. 

Die Stellung, die dem Geständnisse im germanischen Straf- 
verfahren zukam, ist nur aus einem Grundzuge des germanischen 
Volkscharakters zu erklären. Jede Verdächtigung, insbesondere 
diejenige, welche in der Erhebung einer Anklage zum Aus- 
druck gelangte, ward als ein empfindlicher Angriff auf die 
Ehre empfunden, gegen den der Angegriffene sich zu wehren 
hatte. Demgemäß oblag nicht dem Ankläger der Beschul- 
digungsnachweis, sondern der Angeklagte musste seine Unschuld 
beweisen. 

Eine derartige Auffassung war allerdings nur bei einem 


Volke, wie es die alten Germanen waren, móglich, denen die 
Wahrheitsliebe über alles ging, bei denen die dem freien 
Mannesworte entgegengebrachte Achtung und Glaubwürdigkeit 
auch durch eine Anklage keine Erschütterung zu erleiden ver- 
mochten. Gegen die Anklage hatte sich der Germane zu ver- 
teidigen; von ihr musste er sich reinigen. Misslang ihm dies, 
so war er verurteilt. Zu einer Verurteilung bedurfte es am 
allerwenigsteu eines ausdrücklichen Geständnisses. — 

Der germanische Prozess kennt lediglich den Grundsatz 
formeller Wahrheit; ein Streben nach materieller Wahrheit ist 
ihm fremd. Ihm ist es darum zu tun, ob die Ankláger oder 
die den Sachverhalt der Anklage in Abrede stellenden Ange- 
klagten mehr Glaubwürdigkeit verdienen. Diese dem Mannes- 
worte entgegengebrachte Glaubwürdigkeit bildete die Grund- 
lage des altgermanischen Strafprozesses (oder vielmehr — 
wenn wir genau sein wollen — des gerichtlichen Verfahrens 
überhaupt, da die Scheidung in Zivil- und Strafverfahren erst 
einer späteren Zeit angehört), in welchem sich oft die Behaup- 
tungen des Anklägers und des Angeklagten begreiflicherweise 
gegenüberstanden. Die Tätigkeit des Gerichtes bestand demnach 
in einer sorgfältigen Erwägung der für das Urteil grundlegenden 
Frage, wer von beiden Teilen dem Beweise, d. i. der richter- 
lichen Überzeugung von der Wahrheit seiner Behauptungen, 
näher gekommen war und ihn daher zu liefern hatte. 

Dieser Beweis konnte sogleich erbracht werden, es konnte 
aber auch dem Gegner der Gegenbeweis auferlegt werden; 
ebenso konnte der Beweis durch Gegenbeweis angefochten 
werden. 

Vom Standpunkte des Geständnisses kommt für uns nur 
die Person des Angeklagten in Betracht. Für die Erhärtung 
ihrer Behauptung gab es nun drei Wege; diese waren: 

A) der Eıd des Beschuldigten; 

B) der Eid der Genossen und 

C) das Gottesurteil. 

Der Eid der Genossen scheidet für die Zwecke unserer 
Darstellung aus; denn das war eine Art Zeugenbeweis, ein 
Beweis freilich nicht durch Zeugen der Tat oder ihrer Neben- 
umstände, sondern Glaubwürdigkeitszeugen. 


— 2g — 


Für den Werdegang des Geständnisses kommen nur die 
beiden anderen Beweismittel in Betracht, das Gottesurteil und 
der Beschuldigteneid. 

Ein Geständnis im heutigen Sinne des Wortes widersprach 
der germanischen Anschauung; um seine Erlangung bemühten 
sich auch niemals die Gerichte; denn — wie es im Sprichwort 
hiess — „es ist schwer zu glauben, dass jemand sein eigenes 
Heil verrät“. 

Wenn wir aber den Begriff des Geständnisses etwas abstrakt 
fassen und als Geständnis jede Betätigung, jedes Verhalten des 
Beschuldigten, wodurch er seine Schuld einräumt, ansehen, 
also davon, ob der Erfolg dieser Betätigung, bez. dieses Ver- 
haltens vom Willen des Beschuldigten abhängt, so Abstand 
nehmen, wie es das ältere germanische Recht getan hat, werden 
wir uns der Erwägung nicht verschliessen können, dass das- 
jenige Gottesurteil, das den Beschuldigten, der sich ihm unter- 
zog, im Stiche liess, ein Geständnis bedeutete. 

Für derartige Geständnisse hat unsere Zeit nur ein mit- 
leidiges Lächeln. Der ethische Gedanke, der darin lag, dass 
beim Ausgang des Gottesurteils die Gottheit den Ausschlag 
gebe, findet ja seine Anerkennung. Dass jedoch beispielsweise 
bei der Wasserprobe der Schwimmer besser daran war als der 
Nichtschwimmer, ist ebenso klar wie der Umstand, dass die 
Schwimmkunst kein Schuldausschliessungsgrund ist. 

Was den Reinigungseid anlangt, ist er an sich gewiss 
kein Geständnis; denn er belastete den Beschuldigten nicht, 
sondern sollte ja das Mittel zu seiner Entlastung sein. Hin- 
gegen war die Weigerung, einen Reinigungseid abzulegen, ein 
Schuldbekenntnis, freilich eines, das wir heutzutage nur als 
ein mit grosser Vorsicht aufzunehmendes indirektes Geständnis 
ansehen würden. Aber anders nach altgermanischem Recht, 
in welchem infolge des formellen Rechtsprinzips der Aussage 
des Beschuldigten eine ganz andere Bedeutung zukam als im 
späteren und auch im heutigen Rechte. 

Dieser Grundsatz prinzipieller Bedeutung des Reinigungs- 
eides des Beschuldigten galt nicht unbedingt. Es stand ihm 
nämlich der Weg zum Reinigungseide dann nicht offen, wenn 
handhafte Tat vorlag, d. h. wenn der Verbrecher auf frischer 





— 29 — 


Tat ertappt oder unmittelbar nach begangener Tat auf der 
Flucht festgenommen wurde; er galt ferner nicht bei moltiger 
Hand und bei blickenden Schein, d. h. wenn der Beschuldigte 
mit Spuren, welche vom Verbrechen herrührten, ergriffen 
worden war, und schliesslich war ein Reinigungseid nicht nur 
überflüssig, sondern rechtlich unmöglich bei gichtigem Munde, 
d. i. im Falle eines ausdrücklichen Gestándnisses des Täters'); 
dies die wichtigsten, wenn auch keineswegs einzigen?) Fälle, 
in denen es keinen Reinigungseid gab. 


Der Reinigungseid war nur bei einem Volke möglich, 
dessen Wesens Grundzüge Wahrheit und Rechtsgefühl waren 
und dem die unter Anrufung der Gottheit gewissermaßen poten- 
zierte Wahrheitsbeteuerung nebst der Vaterlandsliebe als das 
heiligste auf Erden galt. Bei solch einem Volke war die Tat- 
sache, dass jemand eines Verbrechens verdächtigt ward, nicht 
maßgebend, seine Vertrauenswürdigkeit zu erschiittern. Hier 
galt der Eid als das Mittel zur Tilgung des Verdachtes. 
Wurde der Eid geleistet, ging der Schwörende frei von Schuld 
und Fehle aus dem wider ihn schwebenden Strafverfahren 
hervor; andernfalls jedoch wurde in der Verweigerung des 
Reinigungseides ein Bekenntnis der Schuld, ein (fingiertes) Ge- 
ständnis erblickt, welches geeignet war, die Behauptung des 
Anklägers zu bekräftigen, ja sogar ihrem vollen Inhalte nach 
zu bestätigen. 

Das (direkte) Geständnis war somit von lediglich sub- 
sidiärer Bedeutung; kam es vor, so genügte es nicht immer 
zur Verurteilung. Vielmehr war in den meisten Gegenden 
ausserdem die Übersiebnung des Beschuldigten durch den An- 
kläger notwendig. Das Postulat der sechs Eideshelfer wurde 
im späteren Rechte des Mittelalters gemildert, indem man sich 
mit 3, ja sogar 2 begnügte. War der Ankláger nicht in der 
Lage, die entsprechende Anzahl von Eideshelfern aufzubringen, 
konnte es geschehen, dass ein Schuldiger trotz seines Geständ- 
nisses straflos ausging. 


Diese Grundsätze des altgermanischen Rechtes erhielten 





1) Klenze, Lehrbuch des Strafverfahrens (Berlin 1836) S. 77. 
% Vargha, a. a. O., S. 96, 


— 30 — 


sich ungemein lange in deutschen Landen und fanden auch 
ihren Übergang in das spätere Recht. 

Eine Einschränkung fanden sie nur im Verfahren vor den 
Vehmgerichten, welche seit dem 13. Jahrhundert auf West- 
phalens roter Erde tagten. Das Verfahren vor ihnen war ver- 
schieden, je nachdem es sich um handhafte Tat handelte oder 
nicht. Nur hat im vehmgerichtlichen Verfahren der Begriff 
der handhaften Tat insofern eine Erweiterung erfahren, als 
handhafte Tat stets angenommen wurde, wenn es eines weiteren 
Beweises nicht bedurfte. Wenn in einem solchen Falle min- 
destens drei Freischöffen einen betraten, konnten sie ihn so- 
fort auf den nächsten Baum aufknüpfen. Zur handhaften Tat 
wurde demnach auch „gichtiger Mund“ gerechnet, so dass wir 
sagen können, dass bei den Vehmgerichten ein Geständnis 
nicht nur Beweiserhebungen, sondern überhaupt jegliches Straf- 
verfahren überflüssig machte und sofortiger Strafvollzug mög- 
lich, ja geboten war. 

Bei nichthandhafter Tat hingegen wurde unterschieden, ob 
der Beschuldigte ein Freischöffe (Wissender, Vehmrichter) war 
oder nicht. Nur im ersteren Falle gab es für ihn ein Los- 
schwören, welches jedoch in der späteren Zeit nur dann ex- 
kulpierende Wirkung hatte, wenn nicht der Angeklagte vom 
Ankläger „überschworen“ wurde, wozu letzterer zweier Eides- 
helfer bedurfte. Dagegen stand dem Angeklagten ein Gegen- 
eıd mit sechs Eideshelfern frei, gegen welche der Ankläger 
vierzehn Eide aufbieten durfte, welche der Angeklagte mit 
einem 21fachen Eid übertrumpfen konnte. Versagte bei dieser 
Prozedur der Angeklagte, etwa weil es ihm an der Gelegen- 
heit zur Auftreibung der notwendigen Zahl von Eideshelfern 
gebrach, so war sein Schicksal besiegelt, da Geständnis ange- 
nommen wurde. Im letzteren Fall hingegen (Beschuldigung 
gegen einen Nicht-Wissenden) gab es keinen Reinigungseid 
des Beschuldigten allein; wohl aber bestand die Möglichkeit, 

sich mit (mindestens) zwei Eideshelfern, als welche jedoch nur 
Freischöffen in Betracht kommen konnten, von der erhobenen 
Beschuldigung loszuschwören, wenn nicht ein Geständnis an- 
genommen werden sollte. 

Gegen Ausgang des Mittelalters erfuhr das strafprozessuale 


La O e 


Geständnisrecht insofern Veränderungen, als in einzelnen 
Gegenden allmählich dem Geständnis volle Beweiskraft zukam. 
Es war dies eine Folge des sich immer mehr in deutschen 
Landen bahnbrechenden Inquisitionsprinzips. Dieser Schritt 
vollzog sich in einigen Territorien in der Weise, dass der Ge- 
richtsgebrauch diesbezügliche Abänderungen des geltenden 
Rechtes vornahm, während in anderen Gegenden dies durch 
Erteilung kaiserlicher Privilegien erfolgte. *) 

Bis hierher haben wir es mit reinem deutschen Rechte zu 
tun gehabt. Vom psychologischen Standpunkte aus bedeutsam 
ist wohl die Tatsache, dass es in deutschen Landen — im 
Gegensatz zum alten Rom — einen Geständniszwang nicht 
gab. Die Folter hatte bis dahin keinen Eingang nach Deutsch- 
land gefunden. An Zwangsausübung dachte man nicht, da 
man in der Achtung vor dem freien Worte des freien Mannes 
die beste Gewähr für die Wahrheit erblickte. Wohl aber gab 
es einen indirekten Geständniszwang in der Verpflichtung zum 
Reinigungseide. Allein für die Pression, welche in diesem 
Zwange lag, hatte man kein Verständnis. Wohl gab es Ge- 
ständnisse, die zum Schuldbeweise nicht ausreichten; allein 
der Grund war ein rein formaler und konnte nur im Mangel 
der erforderlichen Anzahl von Eideshelfern gelegen sein. Dass 
jedoch Gemütszustände die Ablegung eines falschen Geständ- 
nisses bewirken konnten, derartige Erwägungen kannte man 
nicht. Der Formalismus, in dessen Zeichen die gesamte 
Rechtspflege stand, verhinderte jedwede Rücksichtnahme auf 
die heute in ihrer Wichtigkeit erkannten Frage der Zurech- 
nungsfáhigkeit. Bis zu welchem Grade man sich in dieser 
Hinsicht im Unklaren befand, zeigen die sog. Tierprozesse 2), 
in welchen Tiere, die einen Schaden an Sachen, eine Körper- 
verletzung usw. zugefügt hatten, so vor dem Richter gestellt 
wurden wie Menschen; bei der geringen wissenschaftlichen 
Bearbeitung, welche die kulturgeschichtlich so interessante 
Erscheinung der Tierprozesse gefunden hat, ist es schwer zu 





H Vgl. darüber Vargha, a. a. O., S. 128. 

2% v. Amira, Tierstrafen und Tierprozesse (Innsbruck 1891); Separat- 
abdruck aus den Mitteilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung, 
XII. Band, 4. Heft, Seite 545—601. 


— 32 — 


sagen, ob auch für den (deutschen) Tierprozess Geständnisse 
angenommen wurden. Erwähnt sei, dass der Tierprozess keine 
spezifisch germanisch-rechtliche Institution war, dass er viel- 
mehr auch in Frankreich und in Osteuropa vorkam und sich sehr 
lange erhielt. Für den russischen Tierprozess hat die neuere 
Forschung festgestellt, dass tatsächlich in verschiedenartigen 
Äusserungen der tierischen Stimme ein Geständnis erblickt 
wurde, auf Grund dessen die Verurteilung des angeklagten 
Tieres erfolgen konnte.!) Sind für Deutschland derartige Be- 
weise bis zur Stunde auch nicht erbracht, so kann doch mit 
Rücksicht auf die fast überall gleichartige Entwicklung 
und Gestaltung des Tierprozesses eine ähnliche Erscheinung 
für Deutschland immerhin nicht von der Hand gewiesen werden. 
Aber selbst wenn sich diese Annahme als trügerisch heraus- 
stellen sollte, bleibt die blosse Tatsache, dass auch dem lieben 
Vieh Strafprozesse gemacht wurden, für die Unkenntnis, 
mit welcher man zu jener Zeit dem Zurechnungsfähigkeits- 
begriffe gegenüberstand, ungemein bezeichnend. Dass unter 
solchen Umständen in eine meritorische Prüfung der Geständ- 
nisse nicht eingegangen wurde, ist damit zur Genüge ein- 
leuchtend. 

Auf die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland, ins- 
besondere auch, was das Geständnis in Strafsachen anlangt, 
war das kanonische Recht von weitgehendem Einfluss; seinen 
für unsere Materie maßgebenden Bestimmungen werden wir 
uns daher im Folgenden zunächst zu widmen haben. 


C. Kanonisches Recht. 


Ganz anders als im römischen Kriminalprozesse wurde das 
Geständnis in Strafsachen nach kanonischem Rechte behandelt. 
Die katholische Kirche hat es verstanden, in ihrem Strafpro- 


1) Goldenweiser, Zurechnung und strafrechtliche Verantwort- 
lichkeit in positiver Beleuchtung (Berlin 1903), S. 38; seine Quelle ist, wie 
er mir in dankenswerter Weise mitteilte, Kantorowicz, Prozesse gegen 
Tiere im Mittelalter (Petersburg, obne Jahreszahl; jurist. Bibliothek), wo 
es — S. 10 — nach der mir von einem Wiener Russen mitgeteilten Über- 
setzung heisst: „da sie (die Tiere) sich ineiner allgemein verständlichen Sprache 
nicht verteidigen konnten, wurden die jeweiligen Laute, die sie von sich 
gaben, als Bekenntnis der Schuld oder als Verteidigung gedeutet.« 


HA nn nn on U 
In zus 


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zesse stets dem Rechte wie der Moral Rechnung zu tragen 
und so eine gewisse Verbindung zwischen dem forum externum 
und dem forum internum aufrecht zu erhalten. Demgemäß 
wurde in jedem Delikt nicht nur ein Verstoss gegen das Recht, 
sondern auch einer gegen die christliche Moral erblickt und 
als Konsequenz dieses Gedankens begegnet uns das Bestreben 
der kirchlichen Gerichte, nicht nur das Verbrechen, sondern 
auch die Sünde zu verfolgen. Der kanonische Strafprozess 
verfolgte demnach nicht nur den Verstoss gegen die Rechts- 
ordnung, sondern auch die Schuld vom ethischen Standpunkte 
aus; die Strafen der kanonischen Gerichte entspringen nicht 
nur dem Gedanken der Genugtuung, sie wollen vielmehr auch 
die Besserung des Sünders herbeiführen oder wenigstens an- 
bahnen, und deshalb begnügten sich die kanonischen Gerichte 
nicht mit der sog. formellen Wahrheit, sondern strebten nach 
Tunlichkeit materielle Wahrheit an. Nicht das strictum jus 
beherrschte die kanonische Praxis ausschliesslich; auch der 
aequitas, dem Billigkeitsgedanken, war ein weitgehender Ein- 
fluss gewahrt. Das Recht sollte sich mit dem Gedanken christ- 
licher Humanität vereinigen und der reumütige Sünder milder 
behandelt werden als der verstockte Missetáter. Darum war 
es der kirchlichen Strafrechtspflege stets um die Erlangung 
eines Gestándnisses zu tun. Aber das Geständnis, das die 
Kirche anstrebte, sollte keine Erklärung zwecks Ausserstreit- 
stellung einer anklägerischen Behauptung, sondern ein Zeichen 
aufrichtiger Reue/sein. Daher kam” für die Kirche nur das 
freiwillig abgelegte, wahrhaft reumütige Geständnis als 
Milderungsumstand in Betracht.! 

Diesem Gedanken !gemäß fungierten denn auch die kirch- 
lichen Oberen in der älteren Zeit, in welcher auch die Kirche 
dem Akkusationsprinzip huldigte, lediglich als Moralgerichte. 
Die einzige Strafe, die sie verhängten, war die Kirchenbusse. 
Bussfertigkeit des Sünders war die conditio sine qua non der 
Handhabung des kirchlichen Strafrechts. Es konnte daher im 
Falle einer denuntiatio nur dann, wenn der Denunzierte ge- 
ständig war, gegen ihn die Kirchenbusse verhängt werden. 
War dies nicht der Fall, verzichtete die Kirche auf jegliches 


weitere Verfahren. 
3 


— 34 — 


Als in der Folge, vor allem seit Papst Innozenz Ill., der 
Begriff des notorischen Delikts, des delictum manifestum, von 
der Kirche angenommen wurde, änderte die kirchliche Straf- 
gerichtsbarkeit ihren Standpunkt insofern, als sie die Ansicht 
vertrat, dass die Notorietät jegliches Beweisverfahren überflüssig 
mache. Lagen die Dinge so, dass der kirchliche Richter zu 
der Überzeugung gelangte, das Behauptete müsse von der 
als Täter bezeichneten Person begangen sein, so genügte diese 
Erwägung, um gegen die betreffende Person mit Verurteilung 
vorgehen zu können. „Notorium non eget probatione“ (C. 16. 
X. de acc.; c. 2. X. de ord. cogn.) und es trat Bestrafung 
ohne weitere Beweisführung ein. — Lag hingegen eine infa- 
matio vor, d. h. bezeichnete ein allgemein verbreitetes und in 
glaubwürdiger Form auftretendes Gerücht jemanden als Ver- 
brecher, so trat ein sog. Verfahren ex officio ein; das Gleiche 
war der Fall, wenn ein Ankläger keinen vollkommenen Be- 
weis zu erbringen vermochte. Für diese Fälle hat die Kirche 
das Institut des Reinigungseides aus dem germanischen Recht 
übernommen. Verlegte sich nämlich der infamatus aufs Leug- 
nen, erging an die Öffentlichkeit die Aufforderung, ob jemand 
als accusator auftreten wolle; war dies binnen 40 Tagen nicht 
der Fall, so stand dem Beschuldigten nicht etwa die blosse 
Möglichkeit, sich durch Eid zu reinigen, offen, es konnte viel- 
mehr ein Zwang hierzu gegen ihn ausgeübt werden. Je nach 
seinem Verhalten diesem Zwange gegenüber ging er entweder 
straffrei aus oder wurde er gleich einem Geständigen straf- 
bez. bussfállig.1) Ähnlich war .das Verfahren auch vor den 
Sendgerichten gestaltet. Geständnis bewirkte Kirchenbusse, 
Leugnen Verpflichtung zum Eide, welchem, falls er nicht 
vollkommen glaubwürdig erschien, ein Gottesurteil nachzu- 
folgen hatte. 

Allein seit Innozenz III. kam auch jene Art des kirch- 


1) Vgl. dazu und über Notorietät und Infamie im Allgemeinen Biener, 
Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprozesses (Leipzig 1827), S. 21, vor 
allem aber 22 ff; S. 27: „Vorher stand es dem Verdächtigen frei, nach ger- 
manischer Weise den Reinigungseid als ein Recht zu verlangen und sich 
so ohne weiteren Frozess zu befreien; jetzt musste sich der Verdächtige erst 
der Inquisition unterwerfen, und nur subsidär konnte ihm der Richter diesen 
Eid auferlegen‘“. 


— 3D — 


lichen Strafverfahrens auf, die als inquisitio bezeichnet wurde. 
Sie war ihrer Natur nach eine subsidiäre Verfahrensart in dem 
Sinne, als sie nur in Ermanglung einer accusatio Platz griff. 
Geleitet war sie einerseits von dem Gedanken materieller 
Wahrheit, anderseits von dem Bestreben, kein Delikt unge- 
straft zu lassen. Dem kirchlichen Richter oblag die Pflicht, 
zur Verfolgung eines jeden ihm zur Kenntnis gelangten Ver- 
brechens sich die notwendigen Behelfe zu verschaffen, um den 
Verdächtigen zur Verantwortung ziehen zu können; auf die 
Unterstützung der Parteien war der Richter angewiesen, jedoch 
nicht beschränkt und konnte daher secundum suam conscientiam 
Beweiserhebungen vornehmen. 


Hierbei kam dem Geständnis eine grosse Bedeutung zu; 
allein auch jetzt verliess die Kirche ihren früheren Standpunkt 
nicht; sie „erkannte das Geständnis mehr in seinen sittlichen 
Grunde und Folgen an“!), erblickte in ihm ein Zeichen reu- 
mütiger Gesinnung, welche zu erstreben der kirchliche Richter 
sich redlich zu bemühen hatte ?), jedoch ohne Anwendung von 
Zwang und Drohung, getreu dem Grundsatze: „Omnis con- 
fessio, que fit ex necessitate, fides non est.“ Und selbst das 
freiwillige Geständnis sollte mit grosser Vorsicht aufgenommen 
werden: „cumque diligentius a te fuisset admonita, ne ad sug- 
gestionem alicujus illud tam turpe contra se proponeret, ipsa 
id manifestius asserebat“ [c. 5. X. de divort. (IV.19)]. Daher 
perhorreszierte die Kirche die Tortur: „Nos in quemquam sen- 
tentiam ferre non possumus, nisi aut convictum, aut sponte 
confessum“ (Can. I., 2, 18: causs. IL, Q. 1). 


Die Einführung der Tortur zwecks Erlangung eines Ge- 
ständnisses hat in der Folge die Kirche dem römischen Kriminal- 
prozess entlehnt®) u. zw. zunächst für die sog. inquisitio hae- 


1) Klenze, a. a. O., S. 94. 


? Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse 
{Darmstadt 1834), S. 236. 

3) Glaser, Handbuch des Strafprozesses I. Bd. (Leipzig 1883), S. 77: 
„eine kirchliche Behörde kann auf ein reumüthiges Bekenntnis nie einen zu 
grossen Wert legen, für sie ist ja die darin liegende Unterwerfung der 
eigentliche Zweck des Verfahrens; so giebt es — selbst erpresst — noch 
Gelegenheit, auf das Gewissen des Sünders einzuwirken. Weltliche Straf- 

š 3* 


— 386 — 


retica pravitatis, die Ketzerinquisition. Diese vollzog sich im 
grossen und ganzen in der Form des für die Sendgerichte 
vorgeschriebenen Verfahrens. Jedoch erblickte man in der 
Ketzerei ein crimen laesae majestatis divinae, auf welches man 
die römisch -rechtlichen Bestimmungen über das Verfahren 
beim crimen laesae majestatis analog anwenden zu dürfen und 
zu müssen glaubte. Ja in Spanien bestand für die Ketzer- 
inquisition nach den Instruktionen von Toledo aus dem Jahre 
1561 sogar die Besonderheit, dass die Verteidiger der Ketzer 
eidlich angeloben mussten, ihre Klienten mit allen Kräften zur 
Ablegung von Geständnissen zu bewegen. 

Damit hat die Kirche leider den idealen Standpunkt, 
welchen sie dem Geständnis gegenüber eingenommen hatte, 
verlassen. Sie mochte dabei von der weltlichen Strafrechts- 
pflege beeinflusst gewesen sein, welche in dem Geständnisse 
lange Zeit das einzige und selbst nach der C. C. C. das wich- 
tigste Beweismittel erblickte. Wenn aber die Kirche schon 
dem freiwilligen Geständnis grosse Vorsicht entgegenbrachte, 
so unterliegt es gar keinem Zweifel, dass sie dem durch die 
Folter erpressten Bekenntnis mit grosser Skepsis gegenüber- 
stand. Daher. stellte die Kirche gewisse Vorsichtsmaßregeln 
auf, welche bei der Würdigung eines Geständnisses in Betracht 
zu kommen hatten. Es mussten Indizien vorliegen, damit die 
Folter überhaupt angewendet werden konnte; nach der Folter 
musste das Geständnis ohne Anwendung von Zwang wieder- 
holt werden, ja ehe man zur Folterung schritt, nahm man zu- 
erst die sog. Territion vor, die in der blossen Vorweisung der 
Marterwerkzeuge bestand. Diese Vorsichtsmaßregeln sind als 
die ersten historisch von Belang. 

In formeller Beziehung verlangte das kirchliche Strafrecht 
gewisse Erfordernisse zur Giltigkeit eines Geständnisses. Zu- 
nächst musste seine Ablegung vor dem zuständigen Richter 
erfolgen !), widrigenfalls es nur als aussergerichtliches Ge- 


gerichte aber hätten Gründe genug gehabt, dem Bekenntnisse keinen allzu- 
grossen Wert beizulegen und nicht, um es zu erlangen, von Rom nachzu- 
holen, was das ältere kanonische Recht nicht mit herüber nehmen wollte 
— die Tortur.* 


1) Tittmann, a. a. O., S. 42 erwähnt, dass dies zwar nur für das 


_— YN — 


stándnis galt und somit lediglich als Indiz in Betracht kommen 
konnte. Es musste ferner alle in subjektiver Hinsicht er- 
forderlichen Merkmale einer vollgiltigen gerichtlichen Aussage 
aufweisen und überdies solche Umstände enthalten, die nur der 
wahrhaft Schuldige wissen konnte und anzugeben in der Lage 
war. All dies musste in zusammenhängender Rede unter Ver- 
meidung von Suggestivfragen geschehen. Niemals jedoch hat 
das Geständnis den kirchlichen Richter seiner Verpflichtung, 
nach materieller Wahrheit zu streben, entbunden. Letztere 
auf Grund eines Geständnisses zu vermuten, war dem kirch- 
lichen Richter zu keiner Zeit gestattet. Das Geständnis galt 
der Kirche als das höchste Beweismittel — confessio est regina 
probationum —, aber doch nicht als Beweis, sondern eben 
lediglich als ein Mittel zum Beweis. 

Der Widerruf eines Geständnisses stand dem Beschuldigten 
jederzeit offen. Gleich dem Geständnis selbst war auch der 
Widerruf ein Gegenstand sorgfältigster richterlicher Prüfung, 
ob ein und — bejahendenfalls — welcher Einfluss auf das 
bereits abgelegte Geständnis dem Widerruf zuzukommen habe. 


Werfen wir einen Rückblick auf die Behandlung des Ge- 
ständnisses in der kanonistischen Praxis, so gelangen wir zu dem 
Ergebnis, dass die Bedeutung, welche die Kirche dem Geständ- 
nis beilegte, auf einem richtigen Grundgedanken beruhte, in- 
dem das Geständnis allein zur Verurteilung nicht genügte. 
Aber auch in psychologischer Hinsicht kann dem kirchlichen 
Strafverfahren das Zeugnis nicht versagt werden, dass es alle 
zeitgenössischen Strafprozessordnungen bedeutend überragte, 
indem es, wenn wir von der Ketzerinquisition absehen, nur 
das freiwillige, aus dem Motiv der Reue abgelegte Geständnis 
gelten liess, jedoch niemals als Beweis, sondern nur als Be- 
weismittel, u. zw. als ein keineswegs untrügliches Beweismittel, 
vielmehr als eines, das einer besonders vorsichtigen Würdigung 
bedurfte. Auch hat die kanonische Praxis einem richtigen psy- 
chologischen Gedanken durch Statuierung des Verbots verfäng- 


Verfahren gegen Geistliche gesetzlich ausgesprochen ist, allein da die in 
c. 4X de judiciis ausgesprochene Voraussetzungen auch beim Verfahren 
gegen Laien zutreffen, trägt er — wohl mit Recht — kein Bedenken, darin 
eine allgemein giltige Norm zu erblicken. 


— 38 — 


licher Fragen Ausdruck zu geben verstanden. Und es ist nur 
bedauerlich, dass die spätere Zeit den Dingen eine Wendung 
gegeben hat, die heutzutage selbst der überzeugteste Anhänger 
der römisch-katholischen Kirche kaum als Fortschritt ansehen 
dürfte. 


D. Einfluss des kanonischen Rechts in Deutschland. 


Zum Unterschiede vom römischen Recht, welches die Be- 
weislast ausnahmslos dem Ankläger auferlegte, war im germa- 
nischen und später im deutschen Strafprozess dem Beschuldigten 
eine nicht unwesentliche Tätigkeit an der Erbringung des Be- 
weises eingeräumt. Dieser Zustand erfuhr eine Änderung 
unter den kanonischen und italienischen Rechtseinflüssen, welche 
sich seit der Rezeption immer mehr und mehr in Deutschland 
geltend machten. Da sie auf römisch-rechtlicher Grundlage 
basierten, waren es römisch-rechtliche Grundsätze, die — wenn 
auch nur mittelbar — nunmehr in das deutsche Strafprozess- 
recht Eingang fanden. Der Kardinalsatz, welcher eine so grosse 
Umwälzung herbeiführte, war der, dass die Beweislast eine 
Sache des Anklägers sei. Um ihm diese ja recht leicht zu 
machen, scheute man vor keinem Mittel zurück. 

Als Krone aller Beweismittel galt das Geständnis; „con- 
fessio regina probationum“ hiess es jetzt auch in Deutschland. 
Ein Geständnis zu erlangen war die erste und oberste Auf- 
gabe der Strafrechtspflege. In dieser Hinsicht machte sich 
italienischer Einfluss geltend. Bei dringendem Verdacht war 
es nunmehr erlaubt, zwecks Erlangung eines sogenannten voll- 
giltigen Beweises (durch Geständnis), ganz so wie im alten 
römischen Rechte, die Tortur in Anwendung zu bringen. 

Das Wesen der Tortur in Deutschland erhellt wohl am 
besten aus dem Vorgang, welcher bei ihrer Vornahme einge- 
schlagen wurde. Bevor man zur Tortur schritt, hatte die 
Territion (Schreckung) Platz zu greifen. Sie zerfiel in zwei 
Stufen: die Verbal- und die Realterrition; bei ersterer wurde 
dem Inquirenten lediglich mit Worten, bei letzterer mit Vor- 
zeigung der Marterwerkzeuge gedroht. Es ward der Inquisit 
zu diesem Zwecke in die Folterkammer geführt, wo ihm der 
Scharfrichter die Foltervorrichtungen zeigte, unter Umständen 


— 89 — 


auch auf den entblóssten Kórper anlegte, ohne sie jedoch in 
Funktion treten zu lassen.!) 


Soviel sei noch bemerkt, dass zur Vornahme sowohl der 
Territion als auch der Tortur selbst ein fórmlicher Gerichts- 
beschluss erforderlich war; auch war der Übergang von der 
Territion zur Tortur in vielen Gegenden insofern ein allmäh- 
licher zu nennen, als es mehrere Foltergrade (— bis neun —) 
gab. Doch war das auf der Folter abgelegte Geständnis keines- 
wegs zur Verurteilung ausreichend; zu diesem Zwecke bedurfte 
es der Wiederholung vor ordnungsmäßig besetzter Richterbank; 
solch ein Geständnis hiess Urgicht. Bei der Urgicht entfiel 
jeder physische Zwang und so kam es denn sehr oft vor, dass 
das ursprüngliche Geständnis widerrufen wurde. In solchen 
Fällen ward zu einer — unter Umständen auch mehrmaligen 
— wiederholten Folterung geschritten. Dass darin eine ganz 
unverhältnismäßig hohe Grausamkeit lag, mag schon zu der 
Zeit, da man allen Ernstes an einem dem Folterungssystem 
zugrundeliegenden gesunden Gedanken glaubte, eingesehen 
worden sein. „Blumbacher bemühte sich jedoch u. A.“, 
wie Vargha?) mitteilt, „mit grossem Wortaufwande, das Ge- 
hässige dieses Anwurfs zu mildern, indem er zu beweisen ver- 
suchte, dass hier die zweite und dritte Tortur eigentlich keine 
neue oder wiederholte, sondern nur eine Fortsetzung der 
erstern, durch den ad bancum juris gemachten lügenhaften 
Widerruf nicht unterbrochene Tortur sei. Hierdurch glaubte 
er mit den ernsten Praktikern seiner Zeit allen Zweifel an der 
Rechtmäßigkeit dieser Anstalt behoben zu haben.“ 


Auch der deutsche Inquisitionsprozess kannte von der 
Tortur befreite Personen ; die Befreiungsgründe stützten sich 
einerseits auf den Stand, anderseits auf das Alter, die körper- 
liche Gesundheit und die geistige Beschaffenheit. 

So war der Boden beschaffen, dem die C. C. C. 
entsprosste. Psychologisch interessant war vor allem das 
Prinzip, dass einzig und allein auf Grund eines Ge- 
ständnisses oder — genauer gesagt — der Urgicht ein Straf- 


1) Vargha, a. a. O., S. 140 f. 
2 Vargha, a. a. O., S. 142. 


— 40 — 


urteil gefällt werden konnte. Das bis heute vielzitierte Wort 
„Confessio regina ¡probationum“ hatte somit — wenigstens in 
dieser Fassung — keine Berechtigung; denn das Geständnis 
war nicht ein, sondern geradezu der Beweis, so dass für 
die Zeit vor Beginn der C. C. C. für das Strafverfahren con- 
fessio und probatio identische Begriffe waren. Erst die Caro- 
lina hat hier Wandel geschaffen, indem sie auch den Zeugen- 
beweis zuliess. 


E. Constitutio Criminalis Carolina. 


&]In der Constitutio Criminalis Carolina vom Jahre 1533, 
auch Hals oder Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. 
und des H. Röm. Reiches genannt, hat das Geständnis des 
Angeklagten die eingehendste Behandlung erfahren, die ihm 
jemals in einem deutschen Gesetzbuche zuteil geworden ist. 
Wenn wir deren diesbezüglichen Bestimmungen uns zuwenden, 
müssen wir uns allerdings vor Augen halten, dass die C. C. C. 
nicht als einzige Quelle des deutschen Strafverfahrens ihrer 
Zeit in Betracht kommt. Ist die P. G. O. auch ein Reichs- 
gesetz, so waren doch nicht alle ihre Bestimmungen im ganzen 
Reiche verbindlich. Noch galt der Satz „Landrecht bricht 
Reichsrecht“ und auch die Normen der C. C. C. waren ledig- 
lich subsidiärer Natur, und dies im doppelten Sinne; fürs erste 
galten sie nur, wenn und insoweit die Landesgesetzgebung 
nicht etwas anderes bestimmte, fürs zweite nur, insolange 
die Landesgesetzgebung nicht etwas anderes angeordnet hatte, 
was mit Rücksicht auf die sog. salvatorische Klausel, die das 
landesherrliche Gesetzgebungsrecht ausdrücklich unberührt liess, 
oft der Fall war. Gerade was die Bestimmungen über das 
Geständnis betrifft, hat die Landesgesetzgebung, wie gleich 
hier gesagt sei, eine bedeutsame Abänderung vorgenommen 
durch Aufhebung der Tortur. Den Anfang machte der grosse 
Preussenkönig 1740, seinem glorreichen Beispiel folgten früher 
oder später die anderen Landesherren. Die Aufhebung der 
Tortur war das Ergebnis der Erfahrung, dass ein erzwungenes 
Geständnis nicht immer wahr war. Hatte sich diese Erkenntnis 
einmal Bahn gebrochen, hatte man aus ihr die Konsequenzen 
gezogen, blieb man dabei nicht stehen, sondern begann jedes 





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Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit zu prüfen. Es ent- 
wickelte sich ein Gerichtsgebrauch, der den Bestimmungen der 
Gesetze vielfach ergänzend zur Seite trat und insbesondere in 
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die in mächtiger 
Blüte stehende Strafrechtsliteratur eine erfolgreiche Förderung 
erhielt. So bildete sich ein Rechtszustand heraus, dass zwar 
die C. C. C. formell noch nicht aufgehoben war, jedoch unter 
dem Einflusse von Landesgesetzgebung, Juristenrecht und Ge- 
richtsgebrauch das Geständnis eine Behandlung erfahren hat, 
welche von seiner gesetzlichen Regelung durch die C. C. C. in 
nicht unwesentlichen Punkten abwich. 

Auch der C. C. C. war confessio regina probationum. Das 
Gestándnis war, wenn auch nicht das einzige, so doch das 
wichtigste Beweismittel und deshalb durfte es an Mitteln zu 
seiner Erlangung das Verfabren der C. C. C. nicht fehlen 
lassen; vor allem gehörte zu diesen Mitteln die Tortur. Aber 
weil das Bekenntnis des vermeintlichen Täters nicht mehr das 
einzige Beweismittel war, war der Gebrauch der Tortur zur 
Erlangung eines Geständnisses wesentlich eingeschränkt worden 
u. zw. dadurch, dass man ihre Vornahme an gewisse gesetz- 
liche Voraussetzungen knüpfte. Darin liegt der grosse. Fort- 
schritt der C. C. C. gegenüber dem früheren Recht. 

Die C. C. C. kennt zwar Indizien, aber sie kennt keinen 
Indizienbeweis: „dann soll jemand entlich zu peinlicher straff 
verurtheylt werden, das muss auss eygen bekennen, oder be- 
weisung — beschehen, vnd nit auff vermutung oder anzeygung“ 
(Art. 22].1) Mit diesen Worten ist das Wesen des Bekennt- 
nisses nach der C. C. C. charakterisiert; das Bekenntnis 
ist nicht Beweis, sondern Beweissurrogat.2) Die Indizien 
haben nur insofern Belang, als sie Voraussetzung zur Stellung 
der peinlichen Frage und zur Vornahme der Folterung sein 
können; ob sie in so ausreichendem Maße vorhanden waren, 
um gegen den Leugnenden die Anwendung der Folter zu 
rechtfertigen, das war geradezu das Um und Auf des karo- 





1) Vgl. C. C. C. Art. 62: „Item wo der beklagt nichts bekennen, vnd 
der ankleger die geklagten misshandlung beweisen wolt, damit soll er, als 
recht ist, zugelassen werden“; vgl. jedoch Tittmann, a. a. O., S. 18 ff. 

®) Vgl. Stü bel, das Kriminalverfahren, 11. Bd. (Leipzig 1811), S. 62. 


— 492 — 


linischen Strafprozesses. In dieser Hinsicht bestimmt Art. 6, 
dass die Tortur nicht auf den blossen Leumund oder Bericht 
vorgenommen werden könne, „es sei dann zuvor redlich, vnd 
derhalb genugsame anzeygung vnd vermutung von wegen der- 
selben missenthat auf jnen glaubwirdig gemacht“. Nur bei 
„vnzweiffentlichen missthaten*, d. i., wenn eine Misstat „offent- 
lich und vnzweiffenlich ist oder gemacht würde“ (Haupt- 
fall: Betretung auf frischer Tat) und dem Täter kein Schuld- 
ausschliessungsgrund zustatten kommen sollte, hat nach Art. 16 
der Richter den Täter mit peinlicher Frage zum Bekenntnis 
der Wahrheit zu verhalten; es ersetzt also die Unzweifelhaftig- 
keit der Tat im Sinne des Art. 16 das Vorhandensein von An- 
zeigungen als Erfordernis zur Vornahme der Folterung. In 
allen anderen Fällen müssen zuvor „redlich anzeygen der miss- 
that“ bewiesen werden; sind sie nicht vorhanden, soll die 
peinliche Frage unterbleiben und ein Bekenntnis „auss der 
marter“ hat keinen Glauben zu finden, geschweige denn gar 
als Urteilsgrundlage zu dienen (Art. 20). Jede Anzeigung 
auf Grund derer die peinliche Frage zu stellen ist, „soll mit 
zweyen guten zeugen bewisen werden“ (Art. 23); was jedoch 
die Hauptsache der Missetat betrifft, macht ein einziger tugend- 
licher Zeuge die Anzeigung glaubwürdig, so dass die Folterung 
vorgenommen werden kann. In den Artt. 25—44 ist per 
longum et latum vorgeschrieben, welche Anzeigungen zur 
Stellung der peinlichen Frage genügen, welche für sich alleın 
dazu nicht hinreichend sind und inwiefern mehrere an sich 
zur Anwendung der Tortur nicht hinreichende Anzeigen infolge 
ihres Zusammentreffens ausreichen. Art. 28 macht dem Richter 
zur Pflicht, sowohl die „argkwonigkeyt“ als auch „was die ver- 
dacht person, gutter vermuttung, die sie von der missethat 
entschuldigen mögen, für sich hab“, in Erwägung zu ziehen; 
nur dann, wenn sich als Ergebnis dieser Erwägung heraus- 
stellte, dass die Ursachen des Argwohns grösser als die der 
Entschuldigung sein, „so mag alssdann peinlich frag gebraucht 
werden“, im entgegengesetzten Falle hatte sie zu unterbleiben. 
Bei Zweifeln über das Verhältnis zwischen Entschuldigungs- 
und Verdachtsmomenten war der Rat der Rechtsverständigen 
einzuholen (Art. 219). War ein Geständnis ohne Anwendung 


er. AO ia 


der Tortur abgelegt worden, so war es unter der Voraussetz- 
ung des Vorhandenseins der gesetzlichen Erfordernisse pein- 
lich zu wiederholen (Art. 32). Bei Zulässigkeit der peinlichen 
Frage ward auf Begehren des Anklägers „eyn tag zu peinlicher 
frage“ angeordnet (Art. 45), was übrigens auch von amtswegen 
geschehen konnte. Stets sollte jedoch in solchem Falle der 
Gefangene in Gegenwart des Richters, zweier Gerichtsmitglieder 
und des Gerichtsschreibers ,fleiBiglich zu rede gehalten werden 
mit worten, die nach gelegenheyt der person, vnd sachen zu 
weitherer erfarung der übelthat oder argkwönigkeit allerbast 
dienen mögen, auch mit bedrohung der marter“ nochmals be- 
fragt werden (Art. 46). Ist das ergebnislos, soll der Verdäch- 
tige gemäß Art. 47 zu ausführlicher Darlegung des Gegenbe- 
weises ermahnt werden; wie er diesen zu führen habe, dazu 
hat ihn der Richter anzuleiten. „Vnd solcher erinnerung ist 
darumb not, dass mancher auss eynfalt oder schrecken, nit 
fürzuschlagen weist, ob er gleich vnschuldig ist, wie er sich 
des entschuldigen vnd aussfüren soll.“ Erst hiernach soll 
zur Vornahme der peinlichen Frage geschritten werden. 

Vom kriminalpsychologischen Standpunkte aus verdient 
gerade diese Bestimmung das meiste Interesse. Trägt sie ja 
dem Umstande Rechnung, dass das Geständnis eines Beschul- 
digten möglicherweise falsch ist. Diesen Gedanken hat also 
die C. C. C. bereits erfasst gehabt und nur eine Konsequenz 
dieses Gedankens ist es, wenn in den Art. 48—54 dem Inqui- 
renten ganz genau vorgeschrieben wird, was er den Inquisiten 
zu fragen habe. Stets wird dabei des Motivs und aller Um- 
stände gedacht und in Art. 54 a. E. dem Richter zur beson- 
deren Pflicht gemacht, nach solchen Umständen zu fragen, 
„die keyn vnschuldiger wissen kann“. Stellt es sich heraus, 
dass die gestandenen Umstände unwahr sind, ist die peinliche 
Frage zu wiederholen (Art. 55). 

Aber auch eine andere Bestimmung ist in kriminalpsycho- 
logischer Hinsicht besonders bemerkenswert: nach Art. 56 
war nämlich sowohl vor als auch bei der Vornahme der Folte- 
rung die Stellung von Suggestivfragen verboten; Zweck und 
Ziel der peinlichen Frage war es, der Wahrheit auf den Grund 
zu kommen, den wahren Sachverhalt zu ermitteln; „solchs 


is AR 


wiirdet aber etwa damit verderbt, wann den gefangenen jn an- 
nemen oder fragen, die selben vmbstende der missethat vor- 
gesagt vnd darauff gefragt werden.“ Die wáhrend der Tortur 
abgelegte Aussage wurde nicht protokolliert. Einen oder 
mehrere Tage danach wurde der Gefolterte nochmals einver- 
nommen und erst das, was er jetzt sagte, wurde aufgeschrieben 
und ihm zwecks seiner Äusserung vorgelesen. Bestätigte er 
seine Aussage, ersetzte dies noch nicht jeden Beweis, sondern 
es war das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit hin zu prüfen 
und als glaubwürdig galt es nur dann, wenn die gerichtlichen 
Erkundigungen und Nachfragen die Richtigkeit solcher Um- 
stände ergaben, „die keyn vnschuldiger also sagen vnnd wissen 
kundt*. 

Was den Widerruf des Gestándnisses anlangte, unterschied 
die Carolina den unbegriindeten von dem motivierten Widerruf 
(Art. 57). Für den erstern Fall nur verlangte sie die Wieder- 
holung der Tortur. Wenn aber der Gefangene in glaub- 
würdiger Weise die Ursachen des Widerrufs darlegte, hatte 
ihn der Richter „zu aussfürung vnd beweisung solchs irrsals“ 
zuzulassen. Wurde das Geständnis erst am endlichen Rechttag 
widerrufen, fand eine Wiederholung der peinlichen Frage nicht 
statt. Der Richter hatte den Beisitzern lediglich die Tatsache, 
dass ein Geständnis vorliege, bezeugen zu lassen, worauf dann 
zur Urteilsfällung übergegangen wurde. Der Widerruf blieb 
also unberücksichtigt [Art. 91].') 

Dies sind die wesentlichen Bestimmungen der Carolina 
über Geständnis und Tortur. Der grosse Fortschritt gegenüber 
dem früheren Rechte liegt auf der Hand. „Die Carolina“ 
sagt Glaser?), „war unzweifelhaft, was die Folter betrifft, 
ihrer Zeit voraus; das zeigt sich am besten darin, dass sie 
selbst kommenden Geschlechtern nicht laut genug sprach. 
Wie weit ging die spätere Praxis über das hinaus, was sie 
gestattete! Wie viele Jahre mussten noch vergehen, bis die 
einfache Bemerkung gemacht wurde, dass die Tortur ärger 


1 Tittmann, a. a. O., S. 83 ff.; über das durch Geltendmachung 
eines Schuldausschliessungsgrundes qualifizierte Geständnis vgl. Art. 151 
P. G. O. 

2) Vgl. die zitierten Worte G lasers. 


=: db == 


sel, als jede Strafe, und dass man ibr niemand unterwerfen 
dürfe als den, von dessen Schuld man überzeugt ist, und den 
zu strafen man bereits ohnehin ein volles Recht habe; dass 
sie dem Überwiesenen gegenüber nutzlose Marter, auf den 
Nichtüberwiesenen angewendet, unverantwortliche Bedrückung 
sel!” 

Spátere, auf den Gedanken der Carolina basierende Straf- 
prozessordnungen haben die Anwendung der Folter noch mehr 
beschränkt und ihre ‚Voraussetzungen verschärft. In dieser 
Hinsicht verdient vor allem die steirische L. G. O. vom Jahre 
1574 Beachtung; ihr zufolge durfte die peinliche Frage nur 
auf vorhergegangenen von mindestens fünf bis sechs verstän- 
digen und tauglichen Gerichts- oder anderen angesessenen 
Personen gefassten Beschluss, „dass die Indicia zu peinlicher 
Frage genügend sind“, vorgenommen werden (ll. Art. 27, 29 
und 41); auch kennt sie einen eigenen Artikel „Von zweifel- 
haften Bekenntnissen“ (II. Art. 30) für den Fall, „wenn der 
Gefangene über sich selbst, oder jemand anderen bekennt, 
worin ein Zweifel, und nach Gelegenheit der Sache auch 
mehr zu vermuthen wäre, dass er solches Bekenntniss aus 
Strenge oder Furcht der Marter gethan“; in II. Art. 35 ist 
sogar direkt davon die Rede, „dieweil sich wohl zuträgt, dass 
die Thäter oftmals aus übriger Peinigung mehreres als sie 
verbrochen haben, bekennen.“ !) 


F. Von der Carolina bis zum reformierten Strafprozess. 


Die Folgezeit überschritt jedoch in der Praxis die Be- 
stimmungen der C. C. C.; es war das jene Zeit, welcher in 
der deutschen Kulturgeschichte eines der dunkelsten Blätter 
bestimmt sein sollte. Die Hexenprozesse kamen an die Tages- 
ordnung und die Richter erblickten als ihre Aufgabe das Werk 
„göttlicher Vergeltung“. Treffend sagt Vargha?): „Niemals 
waren menschliche Gerichte bekanntlich unmenschlicher und 
grausamer, als wo sie angeblich im Namen Gottes auftraten.“ 


') Vgl. Herbst, Einleitung in das österreichische Strafprozessrecht 
(Wien 1860), S. 37, daselbst auch näheres über die Ferdinandeische L. G. O. 
vom Jahre 1656. 

23) Vargha, a a. O., S. 182. 


Dadurch, dass man die Folter im Hexenprozesse anwandte, 
liegt bereits der grosse Verstoss gegen den Geist und den 
Wortlaut der Carolina. Da finden wir, wie Hunderte und 
Tausende auf der Folter das Geständnis ablegten, mit dem 
Teufel paktiert, gebuhlt und wer weiss was sonst begangen 
zu haben. Allen diesen Geständnissen ward Glauben ge- 
schenkt; meinte man ja ein gewichtiges Kriterium ihrer Glaub- 
würdigkeit darin gefunden zu haben, dass sie alle übereinstimmend 
lauteten! Nicht begnügte man sich mit dem Geständnis der 
eigenen „Schuld“ des armen Gefangenen; man folterte ihn 
vielmehr so lange, bis er seine ,Mitschuldigen“ nannte. Gar 
die „freiwilligen“ Geständnisse der Hexerei! Dass bei ihnen 
Drohungen und Sophistik gemeinster Art mit im grausamen 
Spiele waren, darauf ward kein Bedacht genommen. ') Schliess- 
lich kam man spät, aber doch zu der Erkenntnis, dass einzig 
und allein das auf der Tortur beruhende Beweissystem der- 
artige Schandtaten von Strafrechtspflege gezeitigt hatte. Die 
Frucht dieser Erkenntnis war die Abschaffung der Tortur im 
Wege der einzelnen Landesgesetzgebungen seit dem Jahre 1740. 

Die Abschaffung der peinlichen Frage bedeutete denn auch 
in der Tat einen Wendepunkt in der geschichtlichen Entwick- 
lung des Strafverfahrens. Trotzdem konnte von einer wesent- 
lichen Besserung der Lage des Beschuldigten nicht die Rede 
sein. Denn das inzwischen immer mehr ausgebaute Inqui- 
sitionsprinzip hatte ihn von der Partei zum Prozess objekt 
degradiert; der Beschuldigte war nicht die dem Ankläger 
gegenüberstehende Prozesspartei, welcher auf den Gang des 
Verfahrens irgend ein Einfluss zustand, sondern er war der 
Prozessgegenstand und als solcher Wachs in den Händen 
seiner Richter. Der Inquirent nahm zuerst die formlose Unter- 
suchung vor, deren Zweck nicht so sehr die Überführung des 
Beschuldigten als vielmehr die Herbeischaffung von Beweisen 
war; diese Untersuchung war die Generalinquisition. 
Erst in der folgenden Spezialinquisition war die Tätig- 
keit des Inquirenten auf die Überführung des Beschuldigten 
in Form Rechtens gerichtet; vor allem hatte der Inquirent die 
Beschuldigung und die Beweismittel dem Inquisiten vorzu- 

1) Vargha, a. a. O., S. 185, An. 5. 


halten. Die einzelnen Umstände, über die er sich zu äussern 
hatte, wurden in Artikel gebracht, m. a. W., die Einvernahme 
des Beschuldigten erfolgte in der Form des artikulierten 
Verhörs. Dass dieses der Absicht, der materiellen Wahrheit 
auf den Grund zu kommen, nicht genügte, sah man jedoch 
bald ein. Aus der Notwendigkeit, über diesen und jenen Um- 
stand vom Beschuldigten bereits früher Aufklärung zu be- 
kommen, „ehe die Beschuldigung schon fest um ihn sich zu- 
sammengezogen hatte, und ihm Gelegenheit zu geben, durch 
Aufklärung von verdächtigenden Umständen die Spezialinqui- 
sition abzuwenden“), entstand das Institut des summarischen 
Verhörs, das sich zwischen General- und Spezialinquisition 
einschob. Aus diesem Gang des Verfahrens ist ersichtlich, 
welche Bedeutung trotz der Aufhebung der Tortur noch immer 
dem Geständnis zukam, dass dieses noch immer als die regina 
probationum galt und den Kardinalpunkt bildete, um welchen 
sich der ganze inquisitorische Strafprozess drehte. Es war 
eben noch nicht die Zeit des entwickelten Beweisrechts ge- 
kommen und daher glaubte man, des Geständnisses nicht ent- 
behren zu können. Nach der dem Inquisitionsprozess zu 
Grunde liegenden Anschauung war der Beschuldigte eben das 
Objekt, das zwecks Ergründung materieller Wahrheit unter- 
sucht werden musste. Der Beschuldigte hatte die Pflicht, ein 
wahrheitsgemäßes Bekenntnis seiner Tat abzulegen; dieser 
seiner Pflicht entsprach auf Seite des Inquirenten die Berech- 
tigung, das Geständnis des Angeklagten zu erzwingen. Zur 
Ausübung dieser Berechtigung waren dem Inquirenten weit- 
gehende Befugnisse eingeräumt. Nicht nur durch Gründe des 
Verstandes und Ausnützung von Gemütsaffekten hatte er auf 
die Erlangung eines Geständnisses hinzuarbeiten, sondern ihm 
stand auch die Macht zu, durch gesetztliche Mittel, vor allem 
durch Androhung und Vollstreckung von Ungehorsam- und 
Lügenstrafen, durch Konfrontation oder durch Auferlegung 
des Reinigungseides, den Feuerbach, eine „Erpressung des 
Bekenntnisses durch die Furcht vor den göttlichen Strafen des 
Meineids“ genannt hat, die Ablegung eines Bekenntnisses zu 


1) Glaser, a. a. O., S. 97. 


es AB. das 


erzwingen. Auf diesem Standpunkte standen die partikuláren 
Gesetzgebungen des 18. Jahrhunderts.!) | 

Dem gegenüber bedeuten die drei grossen Kodifikationen 
des Strafrechts und -prozesses aus dem Anfang des 19. Jahr- 
hunderts, die Gesetzbücher von Österreich (1803), Preussen 
(1805) und Bayern (1813) immerhin einen Fortschritt.? Zwar 
kennen auch sie einen Zwang zur eingehenden und wahrheits- 
getreuen Verantwortung über die vorgebrachte Anschuldigung, 
einen Zwang, zu dessen Ausübung der Richter Ungehorsam- 
strafen verhängen konnte. Aber es ist doch eine Milderung 
gegenüber dem früheren Rechte in der erhöhten Aktenmäßig- 
keit und dem ausdrücklichen Verbote richterlicher Übergriffe 
(durch Gewaltanwendung, Suggestivfragen, Lügen etc.), sowie 
darin gelegen, dass gewisse innere Erfordernisse für die Giltig- 
keit eines Geständnisses und demgemäß auch eines Geständnis- 
widerrufs aufgestellt worden sind. So verlangt das öster- 
reichische Gesetz ($$ 399 und 400) u. a., „dass das Geständnis 
mit dem über die Umstände des Verbrechens eingeholten Er- 
fahrungen übereinstimme. Ein so beschaffenes Geständnis 
verliert nichts an seiner Beweiskraft, wenngleich nicht mehr 
möglich ist, die eingestandene Tat vollkommen nach allen 
Umständen zu erforschen; es ist genug, dass einige Um- 
stände, wodurch das geschehene Verbrechen bestätigt wird, 
erhoben sind, und dass nichts hervorkommt, was die Wahrheit 
des Geständnisses zweifelhaft macht. Wäre es aber durch- 
aus unmöglich, ausser dem Geständnisse eine 
weitere Spur von dem Verbrechen zu erhalten, so 
ist das Geständnis allein kein rechtlicher Beweis“. 
Ähnlich sind die Bestimmungen des preussischen und des bay- 
rischen Gesetzes. Das allg. Kriminalrecht für die preussischen 
Staaten (Teil I, $ 370) legt dem Geständnis nur dann volle 
Beweiskraft bei, „wenn es gerichtlich, ernstlich und ausdrück- 
lich, auf rechtmäßige Frage des Richters, oder von freien 
Stücken abgelegt ist und die Hauptumstände der Tat enthält, 
auch mit den andern erwiesenen Umständen nicht in Wider- 


1) Sie sind angeführt bei Glaser, a. a. O., S. 93 f., A. 4. 
2 $ 399 des österr. Ges.; vgl. dazu Kitka, die Beweislehre im 
österr. Krim.- Strafprozesse (Wien 1841), S. 37 ft. 


— 49 — 


spruch stehet“. Wird das Geständnis in einem Nebenumstand 
falsch befunden, so wird dadurch seine Beweiskraft nicht alte- 
riert; nur eine Unrichtigkeit bei den Hauptumstánden der Tat 
benimmt dem Geständnis seine Beweiskraft ($$ 375 und 376). 

Was den Widerruf eines Gestándnisses betrifft, machen 
nunmehr — im Gegensatze zur Carolina — Art und Zeitpunkt 
des Widerrufs keinen formellen Unterschied. Das öster- 
reichische Gesetz bestimmte diesfalls in $ 402: „Der Beweis 
aus dem Geständnisse wird durch darauf gefolgtes Leugnen ' 
oder Widersprechen des Beschuldigten nicht entkräftet; es sey 
denn, dass derselbe eine glaubwürdige Ursache, warum er das 
falsche Geständnis abgelegt habe, oder solche Umstände vor- 
bringe, welche nach der darüber eingeholten Erfahrung die 
Wahrheit des vorigen Geständnisses mit Grund in Zweifel 
ziehen lassen“; ebenso die preussische Gesetzgebung ($$ 378 
bis 381), die überdies dem Richter eine sorgfältige Prüfung 
der für den Widerruf geltend gemachten Gründe sowie eine 
Entscheidung darüber, ob das Geständnis oder der Widerruf 
den Vorzug verdiene, zur Pflicht machte. 


G. Die Anfänge der Strafprozessreform. 


Die Reform. welcher der Strafprozess um die Mitte des 
19. Jahrhunderts unterzogen worden war, hat auch auf die 
Bedeutung des Gestándnisses einen gewissen Einfluss genommen. 
Das Inquisitionsprinzip wurde durch die Anklageform verdrängt 
und der Beschuldigte vertauschte die Rolle eines blossen Unter- 
suchungsgegenstandes, zu welcher er bis dahin verdammt war, 
mit der Stellung einer Partei, welcher ein wesentlicher Ein- 
fluss auf den Gang des Verfahrens eingeräumt war. Dazu 
kam noch eine andere, nicht minder wichtige Neuerung, die 
Einführung der Jury. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, 
dass der gesetzlichen Beweistheorie und der als ihrer Konse- 
quenz sich darstellenden Entbindung von der Instanz die 
Sterbestunde geschlagen hat. Mit der gesetzlichen Beweis- 
theorie war beabsichtigt gewesen, den Richter vor unrichtiger 
Beurteilung der Ergebnisse des Beweisverfahrens, vor allem 
vor der Verurteilung eines Unschuldigen zu bewahren; es war 
jedoch dabei übersehen worden, dass durch die absolutio ab 

4 


=> 50 


instantia die Móglichkeit der Freisprechung von Personen ge- 
schaffen war, an deren Täterschaft und Schuld mitunter nicht 
der leiseste Zweifel bestand. Diesem Zustande suchte die 
Praxis in der Weise Abhilfe zu schaffen, dass der Inquirent, 
sobald er einen Verdächtigen für den wahren Täter hielt, mit 
aller Gewalt auf dessen Geständnis hinarbeitete, um der Justiz 
und auch sich selbst die beschämende Sıtuation, welche un- 
streitig in der Freisprechung jemandes, von dessen Schuld man 
~ überzeugt ist, gelegen war, zu ersparen. 

Mit dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine 
Umschwung war die gesetzliche Beweistheorie und die abso- 
lutio ab instantia beseitigt. Der nunmehr langsam, aber sicher 
in der Strafprozessreform zum Durchbruch gelangende Grund- 
satz freier Beweiswürdigung schwächte die Bedeutung des 
Geständnisses wesentlich ab. War es auch nach den meisten 
Gesetzgebungen dem Untersuchungsrichter noch immer zur 
Pflicht gemacht, auf die Erlangung eines Geständnisses hinzu- 
arbeiten, so entfiel doch jetzt die Geständnispflicht. Die Fälle, 
in denen das Geständnis den Schuldspruch formell konstituierte, 
waren auf Null herabgesunken; dem Geständnis konnte in 
formeller Hinsicht eine lediglich deklarative Bedeutung zu- 
kommen. Diese und die Befreiung vom Geständniszwang zählen 
zu den Kriterien des reformierten Prozesses nicht minder als 
das Akkusationsprinzip und die Jury. 

Der durch die neueren Gesetze!) geschaffene Rechtszustand 
ist folgender: Die Einveraahme des Verdächtigten hat den 
Zweck, ihm Gelegenheit zur Äusserung über die gegen ihn 
vorliegende Beschuldigung zu geben. Der Beschuldigte hat 
Anspruch auf rechtliches Gehör, er kann sich äussern, was an 
der Beschuldigung wahr, was an ihr unwahr ist, ihm steht das 
Recht zu, Mittel zu seiner Verteidigung geltend zu machen. 
Aber es besteht nicht mehr die Geständnispflicht; in sein Be- 
lieben ist es gestellt, zu antworten oder die Antwort (sei es 
überhaupt, sei es auf gewisse Fragen) zu verweigern. Ja 
nach braunschweigischem Rechte galt der (freilich vereinzelt 
gebliebene) Satz, dass der Untersuchungsrichter unter Straf- 


1) Erwähnt bei Planck, Syst. Darstg. des deutschen Strafverfahrens 
(Göttingen 1857) in der Einleitung. 





== Dl . 


drohung für ihn und den Schriftführer verpflichtet war, den 
Beschuldigten darauf aufmerksam zu machen, dass die Ver- 
weigerung der Aussage ihm freistehe.!) Jede, wie immer ge- 
artete Versprechung, Drohung etc. zur Erlangung eines Ge- 
ständnisses war unzulässig. Infolgedessen gab es jetzt keine 
Lügenstrafen mehr. Trotzdem hatte der Untersuchungsrichter 
bestrebt zu sein, ein Geständnis des Beschuldigten zu erlangen. 
Als Mittel hierzu kannten einige Strafprozessordnungen zu- 
nächst die seitens des Untersuchungsrichters an den Beschul- 
digten zu richtende und im Protokoll ersichtlich zu machende 
Ermahnung zu deutlicher und wahrheitsgemäßer Beantwortung 
der vorgelegten Fragen, den Vorhalt, dass durch Verweige- 
rung der Antwort die Untersuchung in die Länge gezogen, 
mancher: Verteidigungsumstand unerhoben bleiben könne, 
schliesslich, dass die Verweigerung der Antwort den Verdacht 
gegen den Beschuldigten verstárke. Dem (zwar die Aussage 
nicht verweigernden, jedoch) leugnenden Beschuldigten gegen- 
über waren seine eigenen Widersprüche und der Widerspruch, - 
ın welchem seine Aussage zu den Aussagen anderer (Zeugen, 
Mitbeschuldigter) oder sonstigen Erhebungen stand, vorzuhalten 
und, wenn hierdurch kein Erfolg zu erzielen war, konnte zur 
Konfrontation mit Mitbeschuldigten und Zeugen geschritten 
werden. Andere Mittel zur Erlangung eines Geständnisses, 
insbesondere die Stellung von verfänglichen und Suggestivfragen, 
waren verboten. 

Was das Geständnis in der Hauptverhandlung anlangte, 
stand es in dem Ermessen des Gerichtes, inwieweit angesichts. 
eines Geständnisses die weitere Beweisaufnahme zu entfallen 
hatte;?) ja, bei den Gerichten unterster Ordnung wurde zur 
Beweisaufnahme überhaupt nur dann geschritten, wenn der 
Angeklagte leugnete oder die Aussage verweigerte, sodass also 
hier das (sc. glaubwürdige) umfassende Geständnis vollgültigen 
Beweis machte.*) Eine noch weit grössere Bedeutung kam 
dem Geständnis vor den Geschworenengerichten in Württem- 


Planck, a. a. O., S. 247, A. 1 und Polzin im Groß’schen Archiv 
13. Bd., S. 58 ff. 
°) Planck, a. a. O., S. 467. 
%) Planck, a. a. O., S. 476. 
4* 


o e 


berg und Preussen zu.!) Vor Beginn der Verhandlung war, 
u. zw. nach württembergischem Recht vor, nach preussischem 
nach Bildung der Geschworenenbank der Angeklagte zu be- 
fragen, ob er sich schuldig bekenne. Im Falle der Verneinung 
dieser Frage nahm das Beweisverfahren seinen gewöhnlichen 
Verlauf; bei Bejahung war der Angeklagte durch entsprechende 
Fragestellung zur Ablegung eines umfassenden Gestándnisses 
zu veranlassen. Erachtete — in Preussen nach Anhörung des 
Staatsanwalts und des Verteidigers, in Württemberg, nachdem 
der Vorsitzende den Angeklagten auf die Folgen seines Geständ- 
nisses aufmerksam gemacht hatte — auf Grund dieses Ge- 
ständnisses das Gericht, sofern es kein Bedenken dagegen trug, 
die Tatfrage für im Sinne der Anklage erschöpft, so hatte die 
Beweisaufnahme zu entfallen, die weitere Verhandlung sich 
lediglich mit der Erörterung der Rechtsfrage zu befassen und 
sodann das Urteil gefällt zu werden. Es lag somit hier ein 
Fall vor, wo ausnahmsweise der Angeklagte auf die Beweis- 
aufnahme verzichten konnte, ein Fall, dessen Eigentümlichkeit 
vor allem darin gelegen war, dass gerade in den schwersten 
Kriminalsachen einer derartigen Dispositionsvornahme eine so 
grosse Tragweite zukam. Die Geschworenen kamen in solch 
einem Falle überhaupt nicht dazu, in ihre Rechte zu treten. 
Diese Bestimmung hat zu einer Kontroverse geführt für den 
Fall, dass das Delikt des Geständigen von gewissen Folgen 
begleitet war, die zu den Tatbestandsmerkmalen gehörten; 
z. B. A. hat gegen B. einen Schlag geführt; B. ist in der 
: Folge gestorben. Genügte nun das Geständnis des A., er sel 
der Mörder des B., um jegliche Beweisaufnahme und daher 
auch die Tätigkeit der Jury überflüssig zu machen, oder be- 
freite das Geständnis des A. lediglich von der Beweisaufnahme 
bezüglich des gegen B. geführten Schlages, während der 
Kausalzusammenhang zwischen Schlag des A. und Tod des B. 
noch nachzuweisen und daher die Beantwortung der Tatfrage 
den Geschworenen zu überlassen war? Das königliche Ober- 
tribunal hat diese Frage dahin entschieden, dass ein Schuld- 

1) Planck, a. a. O., S. 358 und Rulf in der Oesterr. Ztschr. für 


Rechts- und Staatswissenschaft (hg. v. Haimerl), 1. Bd., S. 160 ff., bes. 
S. 179 f. 


a DS o 


bekenntnis auf gleicher Linie mit einem formgerecht befundenen 
Wahrspruche der Geschworenen stehe, dass eine Trennung der 
verschiedenen Teile des Beweises (speziell für den subjektiven 
und objektiven Tatbestand) unstatthaft sei, dass die ganze 
Tatfrage durch das Schuldbekenntnis, welches nicht immer 
bloss auf Sinneswahrnehmung, sondern auch auf einer ander- 
weitig gewonnenen Überzeugung beruhen könne, ihre Erledi- 
gung finden dürfe und dass der Verteidiger zu einem Wider- 
spruche gegen das Geständnis seines Klienten nicht berechtigt 
sei. In der Literatur fand diese Entscheidung nicht allgemeine 
Billigung. Insbesondere Sundelin') hat in scharfer und 
scharfsinniger Polemik sich gegen diese Auffassung gewendet, 
indem er ein lediglich auf die Willkür des Angeklagten, auf 
seinen Entschluss: „Ja“ zu sagen, gegründetes Urteil im Straf- 
prozesse für undenkbar erklärte. „Der Strafrichter“, heisst es 
bei Sundelin, „kann sich nicht dabei beruhigen, dass der 
Angeklagte bereit ist, sich einer gewissen Strafe zu unter- 
werfen. Könnte doch z. B. die Last im (Gewissen denjenigen, 
der einen sündigen Vorsatz ausgeführt zu haben meint, wäh- 
rend dieser in Wahrheit gar nicht mit verbrecherischem Er- 
folg in die Aussenwelt getreten ist, bewegen, auch letzteren 
auf sich zu nehmen, — dann träfe die Strafe einen Unschul- 
digen im Sinne des Rechts, da ein „Verbrechen“ nicht existiert! 
—, könnte doch der lebensüberdrüssige Hypochondrist es 
seinem verschrobenen Gewissen höchst bequem finden, dem 
Henkerbeile statt der selbstgeknüpften Schlinge seinen Hals 
zu überliefern!® Sundelin gelangt zu dem richtigen Er- 
gebnis: „Was der Gestehende aus eigener Sinneswahrnehmung 
durch einen Schluss von allgemein anerkennender Sicherheit 
oder als Selbstdarstellung seines Innern mitteilen kann, dies 
allein bedarf keines weiteren Nachweises. Aber Urteile, die 
nicht auf solchen Schlüssen beruhen, Tatsachen , die er von 
Anderen gehört hat, beweisen in seinem Munde eben so viel 
und eben so wenig, als im Munde eines Zeugen, dessen Aus- 
sage in diesen Grenzen auch einer bestätigenden Stütze von 





') Sundelin, „Die Beweiskraft des Geständnisses in Beziehung auf 
den objektiven Tatbestand'* in Goltdammers Archiv, 8. Bd., S. 54 ff. 


Aussen her bedarf.“ Diese Worte haben ihre Berechtigung 
bislang nicht eingebüsst und verdienen auch heute noch die 
ihnen gebührende Beachtung. 


* * 
x 


Ehe wir zur Darstellung des geltenden Rechtes übergehen, 
sei eine kurze Erörterung über die Bedeutung des Geständ- 
nisses im materiellen Strafrecht eingefügt. Wenn- 
gleich es sich hier um Bestimmungen handelt, die zum Teil 
noch gegenwärtig in Geltung sind, gehören sie doch Gesetzen 
an, die älter als das in Österreich und Deutschland geltende 
Strafprozessrecht sind, weshalb ihre Darstellung im engsten 
Anschlusse an den historischen Teil unserer Arbeit gerecht- 
fertigt sein möge. 

Zur Zeit des Gestándniszwanges kam dem Bekenntnis eine 
materiell-strafrechtliche Bedeutung nicht zu. Mit dem Auf- 
hóren dieses Zwanges machte es jedoch fiir die Strafbemessung 
einen Unterschied, ob der Täter verstockt blieb oder reumütig 
seine Tat eingestand. 

So bildet nach dem geltenden österreichischen Strafgesetz- 
buch das Geständnis sowohl bei Verbrechen ($ 46 lit. h) als 
auch bei Vergehen und Übertretungen ($ 264 lit. I) einen 
mildernden Umstand; ja bei dem durch auf Hochverrat ab- 
zielende Verbindung begangenen Verbrechen ($ 62)!) bewirkt 
das in Form einer umfassenden (die Mitschuldigen etc. 
namhaft machenden) Selbstanzeige sich äussernde Geständnis 
bei gleichzeitiger Aufdeckung des Geheimbundes einen Straf- 
ausschliessungsgrund; ähnlich nach $ 10 Sprengstoff-Ges., Be- 
stimmungen, für deren Berechtigung gewisse kriminalpolitische 
Erwägungen sprechen. Hingegen kann der Bestimmung des 
§ 522 St. G., derzufolge bei verbotenen Spielen im Falle der 
Selbstanzeige dem Täter nicht nur Straflosigkeit, sondern auch 
ein Drittel der von den Mitschuldigen eingebrachten Straf- 
gelder zugesichert wird, aus einem vom Standpunkte der Ethik 
leicht begreiflichen Grunde nicht zugestimmt werden. 

Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich hat auf die 


Finger, Das [österr.] Strafrecht, II. Bd., (Berlin 1895), S. 370. 


o SB 


Aufzählung von Milderungsgründen verzichtet; doch gilt in 
der Praxis ein reumütiges Geständnis als mildernder Umstand 
und neuerdings hat Haußner!) den (allerdings nicht ein- 
wandfreien) Vorschlag de lege ferenda gemacht, bei Geständnis 
die Strafe analog der Strafe beim Versuch zu bemessen, 


Nur in einem Falle hatte das Geständnis eine viel weiter- 
gehende Bedeutung; eine Zeit lang durfte die Todesstrafe nur 
gegen Geständige vollzogen werden. Auf diese Weise wollte man 
Justizmorden nach Tunlichkeit vorbeugen, übersah{ edoch, dass, 
wie v. Holtzendorff?) bemerkt, „durch die grundsätzliche 
Nichthinrichtung Leugnender, die Lüge in Kapitalsachen privi- 
legiert werden würde. Das Ergebnis wäre also, dass die auf- 
richtig Reuigen, die trotz jenes Privilegiums ein Geständnis 
ablegten, hingerichtet, die hartnäckig Leugnenden andererseits 
verschont werden würden. Dieser Widerspruch würde das 
sittliche Gefühl des Volkes verletzen.“ 3) 


III. Das geltende Recht. 


Soweit das Geständnis in Strafsachen in Betracht kommt, 
erscheint das geltende Recht sowohl Österreichs als auch des 
Deutschen Reichs als eine konsequente Fortbildung jener deut- 
schen Strafgerichtsordnungen, die seit dem Jahre 1848 in Wirk- 
samkeit getreten waren und erst durch die nunmehr geltenden 
Strafprozessordnungen abgelöst worden sind. Es sind daher 
der österreichischen wie der deutschen Strafprozessordnung 
Zwangsmittel zur Erlangung eines Geständnisses fremd. Gleich- 
wohl besteht ein weitgehender Unterschied zwischen dem öster- 
reichischen und dem deutschen Strafprozessrecht. 


Bleiben wir zunächst beim österreichischen Recht. Zweck 


ı\Haußner im Groß’schen Archiv, 13. Bd., S. 278. 

» v. Holtzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die Todes- 
strafe (Berlin 187), S. 303. 

® Über die Bedeutung des Geständnisses bei untauglichem Versuch 
vgl. Delaquis, Der untaugliche Versuch (Berlin 1904), S. 175, 178, 179, 
181, 183, 198, vor allem aber S. 182 und 207. 


o 56 EZ 


des Strafverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts. 
Als ein Mittel zur Erreichung dieses Zwecks erscheint nach 
den Motiven zur ósterr. St. P. O. die Verpflichtung eines jeden, 
der von den Behörden darum angegangen wird, die Wahrheit 
zu sagen. Auch dem Beschuldigten obliegt diese Verpflichtung. 
Aber einerseits soll seine Stellung als Partei respektiert werden, 
anderseits wird aus Gründen der Humanität, welche die Tortur 
verbietet, von jedem Zwange zur Erfüllung dieser Pflicht Ab- 
stand genommen. So erscheint nach österreichischem Recht die 
Verpflichtung des in Voruntersuchung stehenden Beschuldigten, 
dıe Wahrheit zu sagen, zwar als eine von der Rechtsordnung 
vorgeschriebene und in diesem Sinne rechtliche Pflicht; sie ist 
aber eine nur unvollkommene Rechtspflicht, da es kein Mittel 
zur Erzwingung ihrer Erfüllung “gibt. Es gibt wohl I. Mittel, 
zur Ablegung eines Geständnisses hinzuarbeiten, es gibt aber 
II. keine Mittel ein Geständnis zu erzwingen. 

ad I. Vor Beginn der Vernehmung hat der Untersuchungs- 
richter den Beschuldigten zu ermahnen, „dass er die ihm vor- 
zulegenden Fragen bestimmt, deutlich und der Wahrheit gemäß 
beantworte“. Der Beschuldigte ist zu einer zusammenhängenden, 
umständlichen Erzählung über die den Gegenstand der An- 
schuldigung bildenden Tatsachen zu veranlassen ($ 199). Ver- 
weigert er die Antwort überhaupt oder auf bestimmte Fragen, 
simuliert er Körper- oder Geistesgebrechen, so ist er vom 
Untersuchungsrichter darauf aufmerksam zu machen, „dass 
sein Verhalten die Untersuchung nicht hemmen und dass er 
sich dadurch seiner Verteidigungsgründe berauben könne“ 
($ 203). Verwickelt er sich in Widersprüche oder widerruft 
er bereits abgelegte Geständnisse, ist er über die Veranlassung 
zu dem Abgehen von den früheren Angaben und die Gründe 
des Widerrufs zu befragen ($ 204). Weicht die Beschuldigten- 
aussage in erheblichen Punkten von den Aussagen eines Be- 
lastungszeugen oder Mitbeschuldigten ab, so ist, aber nur als 
äusserstes Mittel, bereits in der Voruntersuchung die Konfron- 
tation zulässig ($ 205). 

ad II. Hingegen ist kein Zwang gestattet, um ein Ge- 
ständnis zu erlangen, weder ein physischer noch ein psychischer 
Zwang. Weder Versprechungen oder Vorspiegelungen noch 


— 51 —' 


Drohungen oder Zwangsmittel diirfen gegen den Beschuldigten 
angewendet werden. Es ist den Sicherheitsbehórden ausdriick- 
lich ($ 25) verboten, durch insgeheim bestellte Personen je- 
manden zu Geständnissen, welche sodann dem Gericht hinter- 
bracht werden sollen, zu verlocken. Desgleichen darf die 
Voruntersuchung durch das Bemühen nach einem Geständnis 
keine Verzögerungen erfahren ($ 202). Überhaupt verboten 
sind kaptiöse oder sog. Fangfragen, „in welchen eine von dem 
Beschuldigten nicht zugestandene Tatsache als bereits zuge- 
standen angenommen wird“. Was hingegen sog. Suggestiv- 
fragen betrifft, welche $ 200 als „Fragen, wodurch dem Be- 
schuldigten Tatumstände vorgehalten werden, die erst durch 
seine Antwort festgestellt werden sollen, oder wodurch ihm 
die zu erforschenden Mitbeteiligten durch Namen oder andere 
leicht kennbare Merkmale bezeichnet werden‘, definiert, dürfen 
diese erst dann gestellt werden, wenn sich der Beschuldigte 
nicht in anderer Weise über die diesbezüglichen Umstände 
äussert. Suggestivfragen müssen wörtlich protokolliert werden 
($ 200). Liegt ein Geständnis vor, muss unterschieden werden, 
ob es umfassend ist und in den übrigen Ergebnissen der Unter- 
suchung seine Unterstützung findet oder nicht. Im erstern 
Falle hängt die Vornahme weiterer Erhebungen von den be- 
sonderen Anträgen des Anklägers ab. Ein Geständnis an sich 
entbindet aber den Untersuchungsrichter nicht von der Pflicht, 
den Tatbestand soweit als möglich zu ermitteln. 

Anders ist die Stellung des Beschuldigten nach der St. P. O. 
für das Deutsche Reich. Wohl hat es an dem Versuche nicht 
gefehlt, aus dem Mangel einer Bestimmung des Inhalts, der 
Beschuldigte sei zur Verweigerung der Antwort berechtigt, 
eine — sei es auch nur sittliche — Geständnispflicht zu dedu- 
zieren!); ein derartiger Versuch muss, ganz abgesehen von der 
Gewagtheit dieser Schlussfolgerung, an der Bestimmung des 
$ 136 R. St. P. O. scheitern. Denn einerseits ergibt sich aus 
dessen Wortlaut klipp und klar, dass eine Erwiderung auf die 
vorgebrachte Beschuldigung ganz in das Belieben des Beschul- 
digten gestellt ist: „der Beschuldigte ist zu befragen, ob er 


1) Mayer, Handbuch, Bd. I, S. 148; vgl. auch Mitterbacher, 
Die (österr.) St. P. O. (Wien 1882), S. 301, A. 2. 


— »B — 


etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle“. Anderseits hat 
die Vernehmung des Beschuldigten in der Voruntersuchung 
garnicht den Zweck, ihn zu einem Geständnis zu bewegen; sie 
soll vielmehr, abgesehen von der imperativischen Norm des 
$ 136 Abs. 3 R. St. P. O., die persönlichen Verhältnisse des 
Beschuldigten zu ermitteln, ihn lediglich „Gelegenheit zur Be- 
seitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur 
Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen 
geben“. ‘Schliesslich darf eine Geständnispflicht keineswegs 
aus § 58 Abs. 2 gefolgert werden, welche unter Umständen 
die Gegenüberstellung eines Zeugen mit einem Beschuldigten 
gestattet; denn aus dem Wortlaute dieser Bestimmung wie 
ihrer Stellung im Gesetzestexte ergibt sich, das nicht Geständ- 
niserreichung, sondern Zeugenprüfung hier die ratio legis ist. 

Das Verbot, Geständnisse zu erzwingen, hat im Strafge- 
setzbuch für das Deutsche Reich seine Sanktion in § 343 ge- 
funden: „Ein Beamter, welcher in einer Untersuchung Zwangs- 
mittel anwendet oder anwenden lässt, um Geständnisse oder 
Aussagen zu erpressen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren 
bestraft“, wobei, wie Frank!) hervorhebt, als Untersuchung 
„Jedes Verfahren, das die Ermittelung einer strafbaren Hand- 
lung und die Herbeiführung der gesetzlichen Repression zum 
Zwecke hat“, Untersuchung ist. „Gleichgiltig ist“, wie Frank 
weiter ausführt, „das Stadium, in dem sich die Sache befindet, 
Schon die ersten Schritte der Polizei- und Sicherheitsbeamten er- 
füllen den Begriff der Untersuchung“. Angesichts dieser klaren 
Bestimmung des Strafgesetzbuchs erregt es ein gewisses Be- 
fremden, wenn neuerdings Hellwig?) die listige Erzwingung 
eines Geständnisses mittels Hunden verteidigt, indem er sagt: 
„Der eine oder andere Formalist wird ja vielleicht gegen eine 
solche listige Erzwingung des Geständnisses an- 
führen, das widerspreche dem modernen strafprozessualen 
Prinzip, dass der Verbrecher auf keine Weise gezwungen 
werden dürfe, irgend etwas, insbesondere aber etwas ihn Be- 
lastendes, auszusagen, mindestens sei es aber eine Umgehung 
Fran k, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 3. und 4. 


Auflage (Leipzig 1903), S. 461. 
2) Gross'sches Archiv, 18. Bd., S. 222. 


- 9 — 


jenes Grundsatzes und daher verwerflich. Eine gesunde (?) 
Praxis wird sich aber über solche formale Bedenken auch in 
diesem Falle — wie sie es auch sonst vielfach tut — leicht 
hinwegsetzen, und mit Recht (?). Denn es ist wahrlich besser, 
dass das eine oder andere „Menschenrecht“ der Verbrecher 
bis zu einem gewissen Grade nicht beachtet wird, als dass eine 
Reihe schwerer Mordtaten infolge peinlicher Beachtung jenes 
Grundsatzes ungesühnt bleibt und so das so wie so schon sehr 
geringe Vertrauen des Volkes in die Rechtspflege mutwilliger- 
weise immer noch mehr erschüttert wird“. Demgegenüber 
wollen wir uns darauf beschränken, dem Wunsche Ausdruck 
zu geben, es möge kein Strafrichter und kein Sicherheits- 
beamter in der peinlichsten Beobachtung des Gesetzes, zu 
dessen Anwendung in erster Linie er berufen ist, einen Mut- 


willen finden. 


Dem österreichischen Strafgesetz mangelt eine dem $ 343 
R. St. G. B. analoge Bestimmung. Die Praxis erblickt in der 
Erzwingung eines Geständnisses das Verbrechen der Erpressung 
nach $ 98 St. G., mag der Täter wer immer sein. — 


Was die Hauptverhandlung anlangt, besteht kein so grosser 
Unterschied zwischen den Bestimmungen der österreichischen 
und der deutschen St. P. O. wie hinsichtlich der Vorunter- 
suchung. Der Angeklagte kann zu einer Aussage nicht ge- 
zwungen wurden ($ 245 ö. St. P. O., $8 242 und 136 R. St. 
P.0.). Weicht seine in der Hauptverhandlung gemachte Aus- 
sage von der in der Voruntersuchung abgelegten ab, so kann 
letztere verlesen werden, insbesondere zum Zwecke der Be- 
weisaufnahme über ein Geständnis ($8 245, 252 Z. 2 ö. St. P. 
0.; $ 253 R. St. P. O.). 1) 


Eine wesentliche Vereinfachung des Verfahrens bewirkt 
das Geständnis nur in Übertretungsfällen. In Österreich kann, 


1) $ 245 v. St. P. O. gestattet dem Angeklagten, der die Anklage mit 
der Erklärung, er sei nicht schuldig, beantwortet, ihr eine zusammenhängende 
Erklärung des Sachverhalts entgegenzusetzen. Im Sinne dieser Bestimmung 
richtet in Österreich der Vorsitzende an den Angeklagten die Frage, ob er 
‘sich schuldig fühle, eine Frage, die oft missverstanden wird, da es viele 
Angeklagte gibt, die den Unterschied zwischen Schuld und Täterschaft 
nicht verstehen. 


A BO 


wenn der Beschuldigte gestándig ist, sogleich, d. h. ohne weitere 
Beweiserhebungen, die Hauptverhandlung vorgenommen werden 
($ 451, Abs. 2 ö. St. P. O.); im Deutschen Reiche entbindet das 
Geständnis den Amtsrichter von der Zuziehung von Schöffen 
($ 211, Abs. 2 R. St. P. O.); doch darf (weder für Österreich 
noch für Deutschland) angenommen werden, dass in diesen 
Fällen das Geständnis stets straffällig machen müsse; es soll 
lediglich das Verfahren abkürzen, keinesfalls aber den Richter 
hindern, mit Freisprechung vorzugehen, wenn er sich von der 
Unrichtigkeit des Geständnisses überzeugt hat oder wenn er 
zu der Annahme gelangt, dass ein Schuld- (bez. Straf-) Aus- 
schliessungsgrund vorliegt. Bei Geständniswiderruf muss das 
Verfahren in die sonst gewöhnlichen Bahnen geleitet werden. 

Ein nach beendetem Verfahren gerichtlich oder ausser- 
gerichtlich abgelegtes Geständnis kommt als Grund der Wieder- 
aufnahme des Verfahrens zum Nachteile des Angeklagten in 
Betracht ($ 355 Z. 2 0.St.P.0.; $ 402 Z. 4 R.’St.P. O.). Hin- 
gegen kann im Falle einer Wiederaufnahme zu Gunsten eines Ver- 
urteilten ein Entschädigungsanspruch u. a. dann nicht mit Erfolg 
geltend gemacht werden, wenn die ungerechtfertigte Verurteilung 
durch den Verurteilten absichtlich herbeigeführt wurde ($ 1 
[ósterr.] Ges. v. 16. März 1892, Nr. 64 R. G. B.); ob jedoch 
Hoegel!) im Recht ist, wenn er, ohne sich um die Zurech- 
nungsfähigkeitsfrage zu kümmern, einfach sagt: „Beim fälsch- 
lichen Gestándnisse wird man jedenfalls nicht viel nach der - 
Absicht, die Verurteilung herbeizuführen, fragen dürfen“, er- 
scheint uns zumindest zweifelhaft. Einen ähnlichen Standpunkt 
wie das österreichische Gesetz nimmt das deutsche Strafhafts- 
entschädigungsgesetz und mutatis mutandis der deutsche Ent- 
wurf betr. Entschädigung für Untersuchungshaft ein. 

Soviel über die positiven Bestimmungen des österreichischen 
und des deutschen Strafprozessrechts über das Geständnis. 
Hiezu seien noch einige Bemerkungen gestattet. Der heutige 
Strafprozess steht unter dem Zeichen der Offizialmaxime. Auf 
die Erforschung der Wahrheit hat das Gericht hinzuarbeiten, 
ohne an die Anträge der Parteien gebunden zu sein. Geständnisse 


1) Hoegel. Das Gesetz betr. d. Entschädigung für 
Verurteilung (Wien 1901), S. 133. 


A e E 


sind nicht kraft des Umstandes, dass sie Übereinstimmung mit 
den klägerischen Behauptungen einhalten, Beweis, sondern sie 
sind gegebenenfalls Beweis nur kraft der ihnen innewohnenden 
Glaubwürdigkeit, deren Prüfung dem Gerichte obliegt. Die 
Wahrannahme, welche aus dem Geständnis abgeleitet wird, 
darf somit keine lediglich formelle, muss vielmehr eine materielle 
sein, d.h. das Gericht darf sich nicht darauf beschränken, 
die Wahrheit aus der Kongruenz der Behauptungen des An- 
klägers und des Angeklagten anzunehmen, sondern es muss 
feststellen, ob und inwiefern das Geständnis dem wahren Sach- 
verhalt entspricht. Gerade diese Behandlung des Geständnisses 
ist das Moment, welches den vom Offizialprinzip beherrschten 
Prozess von dem vom Dispositionsprinzip beherrschten Ver- 
fahren unterscheidet. Die Dispositionsmaxime galt im Inqui- 
sitionsprozess und hat ihre Bedeutung im Zivilprozess noch in 
weitem Umfange gewahrt. Wie im Inquisitionsprozess nur der 
nichtgeständige Angeklagte überwiesen werden musste, macht im 
Zivilprozess auch heute noch das Geständnis des Beklagten jede 
Beweisaufnahme überflüssig. Was der Beklagte zugesteht, ist als 
wahr anzunehmen, ist „ausser Streit gestellt“ 1); „wird nämlich 
eine Tatsache“, wie A. Rintelen treffend bemerkt, „ausdrück- 
lich zugestanden, so ist sie als wahr zu behandeln, auch wenn 
bereits vorliegende Beweise gegen “sie sprechen“?). In dem 
auf dem Dispositionsprinzip basierenden Verfahren trifft der 
Geständige eben durch sein Geständnis eine Verfügung über 


So Heinze in Goldammers Archiv, 24. Bd., S. 287 ff. und Bülow, 
Arch. f. civ. Praxis, 58. Bd., S. 330 f., 357 ff.; auch Wrany in der Allg. 
österr. Gerichts-Zeitung 1897, S. 143 erklärt das Geständnis für Beweis- 
befreiung. Diese Ansicht ist nicht unbestritten. Neuerdings erblickt man 
im zivilprozessualen Geständnis keinen Disposivakt, sondern eine Willens- 
erklärung; so Wittmaack, Arch. f. civ. Praxis, 58. Bd., S. 51, auch 
Skedl, Das österr. Zivilprozessrecht, I. Bd. (Leipzig 1901), S. 48, Nr. 35; 
S. 210, Nr. 10; S. 311, Nr. 13. Für den modernen Strafprozess kommt 
diese Streitfrage, die übrigens auch für den Zivilprozess vorwiegend theore- 
tische Bedeutung hat, nicht weiter in Betracht, da nach geltendem Recht 
der Angeklagte kein testis in propria causa ist und seine , Wissenserklirung* 
als solche somit von der Überprüfung durch Beweiserhebungen nicht entbindet. 

2) A. Rintelen in der (Prager) Jur. Vierteljahresschrift, 36. (N.-F. 
20.) Bd., S. 146; diese Regel gilt jedoch für Österreich nicht anangin on 
vgl. 8 99 a. b. G. B. und Art. VI Z. 1 E. G. z. Z. P. O. 


=> 69, 


ein seiner Willkür unterliegendes Rechtsverháltnis. In eine 
Prüfung der Wahrheit seiner Aussage wird nicht weiter ein- 
gegangen; maßgebend ist einzig und allein die Tatsache, dass 
die Partei vor Gericht die Richtigkeit der gegnerischen Be- 
hauptung zugibt. „Das gerichtliche Geständnis“, sagt bereits 
v. Savigny?), „ist eine Feststellung von Gegenständen, wo- 
rüber sich der Richter des eigenen Urteils zu enthalten hat“; 
es genügt daher zur Restitution gegen ein Geständnis nicht 
der Beweis der Unwahrheit, sondern es wird vielmehr der Be- 
weis des Irrtums erfordert). 

Anders ist es im Strafprozess. Das öffentliche Interesse 
geht hier mit dem Streben nach materieller Wahrheit Hand ın 
Hand und die Notwendigkeit der Beweisvornahme tritt in ihre 
vollen Rechte, aus denen sie kein Beweisverzicht, mag man 
ihn wie immer nennen, zu verdrängen vermag. Insofern ist 
das Geständnis kein Beweis, wohl aber hat es Bedeutung als 
Beweismittel. Da macht es nun freilich einen grossen Unter- 
schied, ob ein Geständnis gerichtlich oder aussergerichtlich 
abgelegt ist. Während das gerichtliche Geständnis unmittelbar 
von dem Gerichte wahrgenommen wird, muss das aussergericht- 
liche gleich jeder andern für die Urteilsfällung in Betracht 
kommenden Tatsache erst erwiesen werden. Ersteres ist eine 
gerichtsbekannte Tatsache, letzteres nicht. 

Auch kann im Strafprozesse der Täter niemals mehr ge- 
stehen, als er selbst begangen hat; nur die Handlung, nicht 
der Erfolg kann Gegenstand des Geständnisses sein. 

Unsere Taten sind nur Würfe 

In des Zufalls blinde Nacht. 

Ob sie frommen, ob sie tödten — 
Wer weiss das in seinem Schlaf? 
Meinen Wurf will ich vertreten, 
Aber das nicht, was er traf. 


Mit diesen Worten hat Grillparzer („Die Ahnfrau“) auch 
ein Stück strafprozessuales Geständnisrecht gegeben. Der 
Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg muss, 125° 

1) v. Savigny, Syst. VIJ., S. 41. 

2) v, Savigny, a. a. O., S. 30 ft, 42 f, Heinze, a. a. O., S. 28 
A. 2. 





besondere dort, wo der Erfolg eine verschiedenfache Beurteilung 
der Tat zulässt — man denke z. B. an Mord, Todtschlag, fahr- 
lässige Tötung, vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung 
mit nachträglich eingetretenem Tode — in anderer Weise fest- 
gestellt werden als bloss durch die Aussage des Täters. 

Ein besonderer animus confitendi ist nicht erforderlich. 
Ein Geständnis liegt nicht erst dann vor, wenn aus den Worten 
des Angeklagten sich ergibt, dass er sich mit seiner Aussage 
belasten will; es genügt, dass der seinen Worten entnehmbare 
Sinn gemeint ist; ob er sich mit seinen Worten einen recht- 
lichen Nachteil zufügen wollte oder nicht, kommt nicht weiter 
in Betracht, so dass auch die Aussage eines Zeugen, in welcher 
er eine Tatsache einräumt, durch die er, ohne es zu wollen, 
sich selbst belastet, für ihn als Geständnis von Bedeutung 
werden kann. Hingegen ist es ein Erfordernis des Geständ- 
nisses, dass es ausdrücklich abgelegt wird; es muss durch (ge- 
sprochene oder geschriebene) Worte oder solche Zeichen und 
Geberden, die nach allgemeiner Anschauung als unzweideutige 
Antwort auf eine vorgehaltene Frage in Betracht kommen, 
abgelegt werden. Aber die Geständnisse in Form der Be- 
jahung vorgehaltener Fragen stehen den in zusammenhängender 
Rede abgelegten an Glaubwürdigkeit nach, da jene bedeutend 
weniger als diese erkennen lassen, dass sie auf der eigenen 
Erinnerung des Beschuldigten beruhen. Hingegen darf dem 
alten Worte „qui tacet, consentire videtur“ keine gestándnis- 
mäßige Bedeutung beigelegt werden. Mag auch das Schweigen 
des Angeklagten zu manchen ihn belastenden Umständen ihn 
verdächtig erscheinen lassen, ist doch eine direkte Belastung 
darin nicht zu erblicken.. Der Angeklagte hat das unbestrittene 
Recht zu schweigen und, qui jure suo utitur, laedit neminem, 
also auch nicht sich selbst. Nur Vermutungen können aus dem 
Schweigen des Angeklagten gezogen werden, Vermutungen, mit 
deren Verwertung selbst bei Anwendung der grössten Vorsicht 
man nur dann zu der Ansicht, im Schweigen ein Zeichen des 
„Sich-überwiesen-fühlens* zu erblicken, gelangen kann, wenn 
der Schuldbeweis de facto hergestellt ist. Und selbst bevor 
man dies tut, muss man sich Gewissheit darüber verschaffen, 
ob der Umstand, zu dem der Angeklagte schweigt, ihm bekannt 


= Gl us 


gewesen oder erinnerlich sein muss. Gibt es ja fast in jedem 
Strafprozess eine Menge Dinge, die an sich garnicht deliktischer 
Natur sind und doch oft das Zünglein an der Wage bilden ?). 
Dann denke man an die vielen Fälle umfangreicher Zeugen- 
aussagen, nach denen der Angeklagte sich äussert; unterlässt 
er hierbei die Bestreitung des einen oder des andern (ihm viel- 
leicht nebensächlich vorkommenden oder gar von ihm über- 
sehenen) Umstandes, so spricht das gewiss noch nicht gegen 
ihn. Dasjenige Verhalten des Angeklagten, das man still- 
schweigendes Geständnis nennt, ist kein Geständnis und am 
allerwenigsten sollten diejenigen es für ein Geständnis erklären, 
die im Geständnis nur eine besondere Art der Zeugenaussag® 
erblicken. 

Kann und darf im Geständnis des Strafprozesses ein Be- 
weis nicht erblickt werden, so soll damit keineswegs gesagt 
sein, dass das Geständnis auf den Gang des Verfahrens ohne 
Einfluss ist. Zwar ist die Bedeutung des Geständnisses nicht 
in der Befreiung des Gerichtes von der Erhebung des Tatbe- 
standes zu suchen: aber einem geständigen Angeklagten gegen- 
über kann die Beweisvornahme in der Hauptverhandlung wesent- 
lich vereinfacht werden. Denn steht die Aussage eines An- 
geklagten zu den anderen Aussagen in keinem wesentlichen 
Widerspruch, so können in vielen Fällen Zeugeneinvernahmen 
in der Hauptverhandlung unterbleiben; denn wo keine einer 
Aufklärung bedürftige Widersprüche bestehen, kann auch von 
den Mitteln zu ihrer Aufklärung nicht die Rede sein. 


Keineswegs genügt das Geständnis zur Ver- 
urteilung. Diese Behauptung ist freilich nicht unbestritten. 
Vor allen ist es Glaser, welcher meint, die Frage nach der 
Zulässigkeit einer Verurteilung lediglich auf Grund des Ge- 
ständnisses könne nicht ernstlich bestritten werden. Glaser 
vertritt die Ansicht, dass „im heutigen Strafprozess jedes Be- 
weismittel nur gedacht wird mit dem Vorbehalt, dass es der 
den besonderen Verhältnissen des Falles entsprechenden sorg- 
fältigen Prüfung Stand hält“?). Verlangt jedoch Glaser 

1) Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Krimi- 
nalistik. | 

2 Glaser, a. a. O., S. 607 (unter dem Strich). 


Prüfung des Falles, so verlangt er auch, dass diese Prüfung 
nicht ergebnislos verlaufe. Die Ergebnisse dieser Prüfung, die 
den besonderen Verhältnissen des Falles entsprechen, können 
sich nur auf andere Beweismittel beziehen. Wenn Glaser 
denen, die, wie Geyer, daran festhalten, dass auf das Ge- 
stindnis allein keine Verurteilung gebaut werden darf, vorwirft, 
dass sie hier den Fall der Selbstanklage mit dem des im Laufe 
einer durch andere Veranlassungen herbeigeführten Untersuch- 
ung abgelegten Geständnisses verwechseln, „obgleich doch 
letzteres nie ganz ununterstützt sein kann“, so ist 
gerade in diesen Worten die Widerlegung seiner Ansicht ent- 
halten, daher die Behauptung von Geyer nicht widerlegt. 
Genügt also das Geständnis auch nicht zur Verurteilung, so 
kann es doch gewiss oft den Ausschlag geben. In solchen 
Fällen muss sorgfältig das Motiv des Geständnisses erforscht 
werden. Nur hüte man sich hiebei vor einer Verwechslung 
von Motiv und Motivierung. Jenes ist der Beweggrund einer 
Handlung, dieses die Angabe eines Grundes als Beweggrundes. 
Das wahre Motiv wird aber nicht immer angegeben. Viele 
Angeklagte wollen dies nicht tun, sehr viele aber können 
es nicht, auch wenn sie wollten. 

Beim Widerruf des Gestándnisses kommt dem Motiv eine 
noch weit grössere Rolle zu. Ist das Geständnis ein Beweis- 
mittel, so ist sein Widerruf nicht ın allen Fällen einer Annul- 
lierung dieses Beweismittels gleichzuachten; vielmehr muss der 
Widerruf eines Geständnisses mit der gleichen Sorgfalt wie 
dieses selbst geprüft werden; erst das Ergebnis dieser Prüfung 
kann als eine der Urteilsgrundlagen dienen. 

Viel erörtert wurde die Frage, ob ein Verteidiger berechtigt 
sei, seinen Klienten zum Geständniswiderrufe zu veranlassen. 
Die Frage kann an sich nur in bejahendem Sinne entschieden 
werden, da der Widerruf rechtlich zulässig ist und dem Ver- 
teidiger nicht verwehrt werden kann, etwas rechtlich zulässiges 
zu veranlassen, wenn er sich davon einen Erfolg verspricht!). 
Wann dies zutrifft, bleibt stets quaestio facti, über die der 
Verteidiger zu entscheiden hat. Anderseits kann es auch Sache 
des Verteidigers sein, seinen leugnenden Klienten zum Geständ- 


1) Ausführlich bei Vargha, a. a. O., S. 552. 


O 


nis za bewegen, wenn dessen Schuld so offenkundig ist, dass 
der Verteidiger zu erwägen hätte, „ob dem Angeklagten nicht 
damit zu nützen wäre, dass ihm der noch immer geltende 
schwerwiegende Milderungsgrund des Geständnisses gerettet 
bleibe“ ?). 

Stets muss das Geständnis geprüft werden. Nach welchen 
Regeln diese Prüfung vorzunehmen ist, sagt uns kein (Gesetz. 
Das einzige, was eine Strafprozessordnung in dieser Hinsicht 
sagen könnte, wenn sie dieser Prüfung überhaupt Erwähnung 
tut, wäre, dass sie sie vorschreibt. Diese Prüfungspflicht des 
Gerichtes versteht sich jedoch von selbst, da sie sich aus der 
Norm, alles sowohl für die Anklage wie für die Verteidigung 
Dienende mit gleicher Sorgfalt zu erheben, ergibt. Mit dieser 
Norm sind wir an die Grenzlinie verwiesen, welche zwischen 
dem Strafprozessrecht und der Kriminalistik gezogen ist. Nur 
dadurch, dass wir diese Grenze überschreiten und uns in das 
der Strafprozesstheorie nächstliegende Grenzgebiet der universitas 
litterarum begeben, können wir uns einer Lösung dieser Frage 
nähern. Welcher Weg hier einzuschlagen ist, hat Hans Gross 
durch die Begründung der Kriminalistik, insbesondere der 
psychischen Kriminalistik oder Kriminalpsychologie gezeigt; 
diesen Weg wollen wir im Folgenden betreten. 


IV. Die psychologische Würdigung 
des Geständnisses als Kriterium seiner 
Beweiskraft. 


A) Allgemeine Bemerkungen. 


Der Grundsatz der Strafprozesstheorie, dass nicht jedes 
Geständnis als wahr hingenommen werden darf, dass vielmehr 
das Prinzip der materiellen Wahrheit in Verbindung mit der 
Offizialmaxime eine Prüfung des Geständnisses in Strafsachen 
erheischt, stellt der Strafrechtspflege die Aufgabe, sich über 
gewisse Regeln klar zu werden, nach welchen diese Geständ- 


1) Vgl. Frydmann, Syst. Hdb. der Verteidigung im Strafverfahren 
(Wien 1878), S. 167. 


a OT: 


nisprúfung vorzunehmen ist. Wenn wir das Gestiindnis in 
Strafsachen ganz abstrakt betrachten, ergeben sich drei Mög- 
lichkeiten seines Vorkommens: 

a) Das Geständnis kann für das Strafurteil 
konstitutiv sein; d. h. es kann das einzige Moment sein, 
welches das Strafurteil rechtfertigt, in dessen Verkündung 
es dann den einzigen Urteilsgrund bildet. Fälle solcher Art 
werden wohl nur äusserst selten vorkommen. Vom rechtlichen 
Standpunkt aus wäre diesfalls als Erfordernis der Beweiskraft 
zu verlangen, dass mit ihrem Inhalt zugleich der- strafbare 
Tatbestand gesetzt wird, mit andern Worten: es hätten derartige 
Geständnisse nur bei sog. Verbaldelikten als Urteilsgrundlage 
ın Betracht zu kommen. Freilich werden diese Fälle zu den 
grössten Seltenheiten schon aus dem Grunde zäblen, da der- 
artige Gestándnisse nur als qualifizierte in der Praxis einem 
unterkommen dürften; z. B. A gibt ohne weiteres zu, den B 
des Diebstahls beschuldigt zu haben, fügt jedoch diesem Ge- 
ständnis sogleich eine exceptio veritatis unter Angabe der 
Zeugen etc. bel. 

b) Das Geständnis kann für das Strafurteil 
deklarativ sein; d. h. der von der Anklage behauptete Tat- 
bestand ist vollkommen durch andere Beweismittel als richtig 
hergestellt und es liegt überdies das Geständnis des Ange- 
klagten vor. Wenn sich auch von vornherein die Möglichkeit, 
dass selbst ein derartiges Geständnis falsch sei, nicht immer 
ausschliessen lässt — z. B. der Angeklagte sieht sich durch 
falsche Zeugen belastet und legt ungeachtet seiner Schuldlosig- 
keit ein Geständnis ab, nur um angesichts der ihm sicher be- 
vorstehenden Strafe einen gewichtigen Milderungsumstand für 
sich zu haben —, lässt sich doch im allgemeinen schlechter- 
dings nicht in Abrede stellen, dass ein derartiges Geständnis, 
mag es wann immer im Verlaufe eines Strafprozesses abgelegt 
worden sein, seitens des Gerichtes als eine Bestätigung der 
anderweitigen Ergebnisse des Beweisverfahrens angesehen werden 
und unter Umständen in nicht geringem Maße dazu beitragen 
wird, gewisse Zweifel, welche in die Glaubwürdigkeit des einen 
oder des anderen Beweismittels gesetzt wurden, zu zerstreuen, 
bez. gewisse Bedenken dieser Art überhaupt nicht aufkommen 

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= MS 


zu lassen, so dass Richter und Geschworene mit erhöhter Be- 
ruhigung ihres verantwortungsvollen Amtes walten können.') 


In der Mitte dieser zwei Möglichkeiten liegt noch eine 
dritte; nämlich 

c) Das Geständnis kann für das Strafurteil 
suppletorisch sein; d. h. nach Lage des Falles würden weder 
das Geständnis für sich allein noch die Ergebnisse der übrigen 
Beweiserhebungen an sich zu einer Verurteilung genügen, allein 
in ihrer Gesamtheit bilden sie jene zur Verurteilung als hin- 
länglich angesehene Wahrscheinlichkeit, welche wir Wahrheit 
in prozessualem Sinne oder erbrachten Beweis nennen. Und 
gerade dieser „Fall eines Geständnisses, welches die anderweit 
nicht erbrachten oder unvollständigen Beweise der Tat und 
Täterschaft ersetzt oder ergänzt“, wie es Heinze?) charakte- 
risiert, hat in der Strafrechtspflege die grösste Bedeutung. Man 
denke an folgende Fälle: X wird eines Morgens in seiner 
ebenerdig gelegenen Wohnung ermordet aufgefunden. Im frisch 
gefallenen Schnee finden sich die Fussspuren mehrerer Personen. 
Man eruiert sie und alle erscheinen in gleicher Weise ver- 
dächtig oder besser gesagt nicht unverdáchtig. Nun kommen 
Zeugen und geben an, um eine gewisse Stunde in der Wohnung 


1) Eine dem Wortlaut und dem Geist unserer Gesetzgebung ent- 
sprechende Strafrechtspflege wird stets ihr Augenmerk nicht in letzter Hin- 
sicht darauf zu richten haben, dass diese Beruhigung im Augenblicke der 
Urteilsfällung bereits vorhanden ist; wenn der Verurteilte erst in der Strat- 
anstalt gesteht, mag dies unter der Voraussetzung der Richtigkeit seines 
Geständnisses ja immerhin eine Bestätigung des Strafurteils in merito sein, 
allein die von Amschl im Gross’schen Archiv, 12. Bd., S. 3. vertretene 
Ansicht, dass Geständnisse von Sträflingen „zur Beruhigung der Richter 
und Geschworenen, der Ankläger und Verteidiger, insbesondere aber des 
Publikums, um dessentwillen ja alle diese Personen ihrer Ämter walten, 
mächtig beitragen‘, vermögen wir aus dem Grunde nicht zu teilen, weil 
der Beweis der Urteilsfällung voranzugehen hat, ein in formali bedenkliches 
Urteil jedoch nie nnd nimmer durch späteres Bekanntwerden oder gar nach- 
heriges Vorkommen von Tatsachen einwandfrei wird, welche, wenn sie im 
Momente der Verurteilung dem Gericht bekannt gewesen wären, dessen 
Ausspruch von vornherein hätten unbedenklich erscheinen lassen. Vgl. auch 
Langer, Der progressive Strafvollzug in Ungarn, Kroatien und Bosnien 
(Berlin 1904), S. 98 f. 

2) Heinze, Strafprozessuale Erörterungen (Stuttgart 1875), S. 23. 


== 60 u 


des X ein Geräusch, einen Aufschrei, einen Lichtschein ode 
sonst etwas (sei es überhaupt, sel es für gewöhnlich um diese_ 
Zeit) Ausserordentliches wahrgenommen und bald darauf den 
A aus dem Hause des X kommen gesehen zu haben. Man 
hält dies dem A vor, der nunmehr ein umfassendes Geständnis 
seines Mordes an X ablegt. Das Geständnis des A beweist 
nicht, dass er der Mörder ist; die erwähnten Zeugenaussagen ` 
beweisen es noch weniger, wenn es auch klar ist, dass so- 
wohl das Geständnis wie die erwähnten Zeugenaussagen den 
A verdächtig erscheinen lassen. Wenn wir jedoch Geständnis 
und Zeugenaussagen summieren, können wir mit unendlicher 
Wahrscheinlichkeit — und meistens ist ja der Beweis im Straf- 
prozess nichts anderes als eine solche — sagen, dass A der 
Täter ist. Oder: N wird um die Sachen Y und Z bestohlen. 
In der Folge findet man diese Sachen beim B. Dies beweist 
gewiss nicht, dass B der Dieb ist; von letzterm kann sie ja B 
optima fide erworben haben. Auch der Umstand, dass B zur 
kritischen Zeit in der Nähe des Ladens des N war, wird dann 

nicht allzusehr ins Gewicht fallen, wenn erwiesenermaßen auch 
viele andere Leute um diese Zeit dort weilten. Allein ander- 
seits käme B als Täter sicher nicht weiter in Betracht, wenn 
ihm z. B. ein Alibibeweis für die kritische Zeit gelänge. Inso- 
fern werden die Tatsachen, dass man bei B die Gegenstände 
Y und Z gefunden hat und er sich zur kritischen Zeit in der 
Nähe des Ladens des N aufhielt, ihn doch verdächtig erscheinen 
lassen. Dieser Verdacht wird zur Gewissheit werden, wenn B 
den Diebstahl der dem N gehörigen Gegenstände Y und Z ein- 
gesteht. Dass ın solchen Fällen Irrtümer seitens der Zeugen 
nicht ausgeschlossen sind, kann ebenso richtig sein wie die 
Erwägung, dass das Geständnis falsch sein kann. Aber die- 
Regel bleibt doch, dass wenn auch ein halber Beweis kein Be- 
weis ist, zwei halbe Beweise einen ganzen Beweis bilden, und 
eben dies gar dann, wenn zu den einzelnen Momenten, deren 
Summe den Beweis bildet, das Geständnis des Verdächtigen 
gehört. Das ist schon so im Empfinden und Mitempfinden der 
Menschen gelegen und die Richter, die ja auch nur Menschen, 
allerdings Menschen mit grösserer Verantwortlichkeit sind, 
werden die einzelnen Momente mit Sorgfalt prüfen und, falls 


a TO 


diese Priifung die Annahmen, zu welchen sie vorgenommen 
wurde, nicht widerlegt, werden sie schwerlich anders urteilen. 
Aber die Momente, die einem Urteil, sei es Schuldspruch, 
sei es Freispruch, zugrundegelegt werden, miissen nicht bloss 
den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, sondern wie 
H. Gross sagt, auch materiell jeglicher Prüfung standhalten, 
„sei es in sachlicher, sei es in logisch-psychologischer Richtung*.*) 
Gerade das Geständnis in Strafsachen bedarf solch einer Prüfung. 
Wenn wir im Folgenden das Geständnis vom psychologischen 
Standpunkt aus einer Betrachtung unterziehen, dürfen wir nicht 
vergessen, dass wir Jurisprudenz und empirische Psychologie 
nur insoweit vereinigen können, als es der Natur der Sache 
nach geht und dass trotz vieler Berührungspunkte dieser beiden 
grossen Gebiete menschlichen Wissens doch der Hauptunter- 
schied darin besteht, dass die Jurisprudenz mit den Gesetzen 
des Staates es zu tun hat, die Psychologie hingegen mit den 
Gesetzen der Natur, jenen ewigen, ehrnen, grossen Gesetzen, 
nach denen wir alle — mit Goethe gesprochen — unseres 
Daseins Kreise beenden müssen, arbeitet. Diese Gesetze können 
sich mit jenen nicht decken. Und psychologisch wird mit mehr 
minder Berechtigung manches als wahr empfunden, was 
juristisch nicht als wahr gilt und nicht als wahr gelten kann, 
weil es nicht bewiesen und oft auch nicht beweisbar ist. 
Solch einem Gegensatz zwischen Jurisprudenz und Psychologie 
begegnen wir auch auf dem Boden des Geständnisses. 


B) Vermutetes und stillschweigendes Geständnis. 

Während die Strafprozesstheorie als Geständnis nur eine 
Aussage zum Nachteile des Aussagenden gelten lässt, ist man 
‚bis heute in weiteren Kreisen geneigt, ein Geständnis in jedem 
Verhalten einer Person, durch welches sıe sich nach weitver- 
breiteter Ansicht belastet, zu erblicken. Der Durchschnitts- 
mensch sagt sich einfach: Wäre jemand unschuldig, könnte er 
sich so und so verhalten; da er sich jedoch anders verhält, 
muss man annehmen, er sei schuldig. Solch einer Erwägung 
hat in früherer Zeit auch die Strafrechtspflege sich nicht ver- 
schlossen, wenn sie ein vermutetes oder stillschweigendes Ge- 


1) H. Gross, Kriminal-Psychologie 2. Aufl., (Leipzig 1905), S. 127. 


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ständnis, auch fingiertes Geständnis genannt, kannte. Im 
modernen Recht hat das fingierte Geständnis noch immer im 
Zivilprozess beim Verfahren in Versäumnisfällen seine Bedeutung, 
da bei Ausbleiben oder nicht gehöriger Vertretung einer Partei 
oder ihrer Weigerung, sich in die Verhandlung einzulassen, die 
gegnerischen Behauptungen, insofern sie nicht durch die 
Schriftsätze widerlegt erscheinen, für zugestanden und somit 
formell wahr gelten), wogegen es nur im Wege der Wider- 
einsetzung in den vorigen Stand Abhilfe geben kann. In Straf- 
sachen ıst das anders; gleichwohl erblickt das Volksbewusst- 
sein, die öffentliche Meinung in vielen Fällen im Verhalten 
des vermeintlichen Täters ein Bekenntnis seiner Schuld. — In 
dieser Hinsicht empfiehlt es sich, im Gegensatze zur älteren 
Lehre, welche die Begriffe „vermutetes“, „stillschweigendes“ 
und „fingiertes“ Geständnis, promiscue gebrauchte, zwischen 
vermutetem und stillschweigendem Geständnis zu unterscheiden. 


Was die Fälle des vermuteten Geständnisses anlangt, 
sind sie freilich derart, dass sie oft mit Einstellungsgründen 
zusammentreffen und daher strafprozessual bedeutungslos sind. 
Aber diese Regel ist nicht ausnahmslos. Auch ist der Fall 
denkbar, dass das Ereignis, in welchem die öffentliche Meinung 
ein vermutetes Geständnis erblickt, nur in Bezug auf einen 
von mehreren Tätern zutrifft und dann, insbesondere wenn Ge- 
schworene zur Entscheidung der Schuldfrage berufen sind, hın- 
sichtlich der Mittäter als gravamen empfunden wird. 


Der Hauptfall, in dem die Öffentlichkeit ein Bekenntnis 
der Schuld vermutet, ist der der Flucht, bez. des Flucht- 
versuchs. Allein es ist ein sehr gewagtes Unternehmen, 
einzig und allein aus Anstalten zur Flucht irgendwie die 
Schuld deduzieren zu wollen. Denn das Motiv der Flucht 
braucht nicht immer Schuldbewusstsein und Furcht vor Strafe 
zu sein; es genügt die Aussicht auf eine langwierige, mit Haft 


t) Vgl. 88 331 und 333 deutsche, §§ 396 und 399 österr. Z. P. O.; dazu 
Skedl,a.a. O., I. Bd., S. 85. Übrigensspieltauch im Strafverfahren das fingierte 
Geständnis insofern eine Rolle, als der ausgebliebene Angeklagte, der das 
in seiner Abwesenheit gefällte Strafurteil unangefochten liess, im Falle 
ungerechtfertigt erfolgter Verurteilung keinen Entschädigungsanspruch gegen 
den Staat hat. 


u, O 


und Seelenpein verschiedenster Art verbundene Untersuchung, 
um auch einen vóllig Schuldlosen, sofern es seine Mittel und 
Verhältnisse auch nur halbwegs gestatten, zu bewegen, seine 
Heimat für die Dauer der Untersuchung, bez. Verjährungszeit 
zu verlassen. Der Gedanke an eine strafgerichtliche Unter- 
suchung wirkt auf manche Näturen so stark, dass sie die Flucht 
selbst dann ergreifen, wenn ihre Unschuld sich mit der grössten 
Leichtigkeit erweisen lässt und zur Feststellung der Unmög- 
lichkeit ihrer Täterschaft gar keine allzu grosse Mühe gehört. 
Recht bezeichnend ist der Ausspruch eines französischen Arısto- 
kraten: „Wenn manmich beschuldigte, die Türme von Notre Dame 
gestohlen zu haben, würde ich unverzüglich Frankreich verlassen“. 

Die Flucht als Mittel zur Verhinderung einer Verhandlung 
ist entschieden contra legem und die öffentliche Meinung neigt 
gar leicht zu der Annahme hin, wer der Anwendung des Ge- 
setzes aus dem Wege zu gehen trachte, tue dies nicht ohne 
Grund. So denkt man vielfach auch in dem Falle, dass mit 
gesetzmäßigen Mitteln auf die Einstellung eines Strafver- 
fahrens hingearbeitet wird, und oft kann man zu hören be- 
kommen, ein Abolitionsgesuch ist Schuldbekenntnis. Viel- 
leicht hatte eine derartige Erwägung eine gewisse Berechtigung 
in manchen Fällen zu einer Zeit, wo demjenigen, hinsichtlich 
dessen eine Abolition erfolgte, ein Recht auf die gerichtliche 
Erhebung von Entlastungsbeweisen, die er für seine gänzliche 
Schuldlosigkeit liefern zu können glaubte, zustand, wie dies 
z. B. in Österreich nach $ 189 der 1853er St. P. O. noch der 
Fall war.!) Das heutige Recht kennt eine derartige Einrich- 
tung nicht mehr „und macht hiermit unmöglich die gerichtliche 
Feststellung der Schuld bez. Unschuld eines strafbarer Hand- 
lung Verdächtigen. “?) Darum wird auch in der Abolition 

1) Vgl. dazu Herbst, Einleitung in das österreichische Strafprozess- 
recht (Wien 1860), S. 181 und Lammasch, Grär. des (Usterr.) Strafrechts 
Leipzig 1899), S. 12. 

3 Finger, das (österr.) Strafrecht, I. Bd. (Berlin 1894), S. 323. In 
treffender Weise erkennt Finger den dem Wesen der Abolition anhaf- 
tenden Mangel an, „da dem Verdächtigen an autoritativer Feststellung seiner 
Unschuld viel gelegen sein kann.“ Man denke nur daran, dass die Abolition 


der Einleitung eines Disziplinarverfahrens und der damit möglicherweise 
verbundenen Suspendierung vom Amte nicht hinderlich im Wege steht. 


u YE SS 


als solcher keine moralische Verurteilung erblickt, da ja Zeiten 
und Zustánde kommen kónnen, welche die Abolition, z. B. bei 
politischen Delikten, geradezu im Staatsinteresse erheischen. 
Wohl aber steht leider nur zu oft die Öffentlichkeit demjenigen 
skeptisch gegenüber, der sich selbst um Abolition bewirbt, und 
ıst bereit, in diesem Bestreben ein Schuldbekenntnis zu er- 
blicken. „Wenn er unschuldig ist, warum fürchtet er sich vor 
dem Strafverfahren?“ So hört man reden, man denkt aber 
nicht daran, dass es nicht das Strafverfahren, sondern seine 
gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen sind, vor denen man 
sich fürchtet, während der Beschuldigung als solcher gegen- 
über man mitunter ruhig kaltes Blut bewahren könnte. Im 
Jahre 1897 befand sich ein österreichischer Advokat über An- 
zeige eines seiner Klienten in Strafuntersuchung wegen Be- 
trugs; er brachte ein Abolitionsgesuch ein, welchem stattge- 
geben wurde. Der betreffende Klient hatte sich in der Folge 
an einen andern Advokaten gewendet und 1903 auch diesen 
einer strafbaren Handlung beschuldigt. Diesmal wurde jedoch 
gegen den Klienten die Anklage wegen Verleumdung erhoben 
und das Strafverfahren endete mit seiner Verurteilung. In der 
Schlussrede nahm der Staatsanwalt Veranlassung, auch der 
Angelegenheit aus dem Jahre 1897 zu gedenken, der völligen 
Schuldlosigkeit des seinerzeit in Untersuchung gestandenen 
Advokaten Ausdruck zu geben und ihm auf diese Weise eine 
glänzende Satisfaktion zu gewähren, wie es im staatsanwalt- 
schaftlichen Plaidoyer hiess.) Wenn man bedenkt, dass es 
in diesem Falle der Angehörige eines juristischen Berufes war, 
der als völlig Schuldloser sich um die Einstellung des gegen 
ihn geführten Strafverfahrens im Wege eines Abolitionsge- 
suches bewarb, wird man sehr vorsichtig sein müssen mit der 
Behauptung, ein Abolitionsgesuch sei Schuldbekenntnis. 


Auch in der Unterlassung von Rechtsmitteln darf 
keineswegs ein Geständnis erblickt werden. Im Juli 1904 nahm 
in Korneuburg bei Wien ein fünfzehnjähriger Junge eine ein- 
monatige Arreststrafe wegen Diebstahlsteilnehmungen an. Seine 
Eltern ergriffen dagegen Berufung und trotzdem der Staats- 


1) ,Gerichtshalle, 48. Jahrgang (Wien 1904), S. 266. 


— 74 — 


anwalt den Strafantritt als Geständnis hinzustellen versuchte, 
musste hinsichtlich des einen Delikts in der Berufungsverhand- 
lung mit Freisprechung vorgegangen werden, da tatsächlich 
die Voraussetzungen der Anklage irrige waren. !) 


Was die Fälle der Privatanklage betrifft, ist man ebenfalls 
oft bereit, in dem Verhalten der Parteien ein Schuldbekenntnis 
zu erblicken, u. zw. nach Lage des konkreten Falles ein Ge- 
ständnis des Angeklagten, manchmal aber auch ein Schuldbe- 
kenntnis des Privatanklägers. Dies kommt mitunter, wenn auch 
seltener, bei Erledigung eines Beleidigungsprozesses durch 
Vergleich vor. Es ist garnicht in Abrede zu stellen, dass 
manche Privatanklage erhoben wird, „weil man eben klagen 
muss“, während es dem Privatankläger oft sehr angenehm ist, 
wenn sich der Angeklagte zu einem Vergleich herbeilässt, zu- 
mindest viel angenehmer, als wenn das Gericht der exceptio 
veritatis des Angeklagten stattgeben würde. Und es ist inter- 
essant, zu beobachten, wie leicht sich die öffentliche Meinung 
mit solch einem Ankläger abfindet. „Frisch behauptet — halb 
bewiesen.“ Wenn ein Beleidigter in Form einer Privatanklage 
sein Recht behauptet, erblickt die öffentliche Meinung darin 
diesen halben Beweis und sieht, gar wenn es sich um eine 
angesehene Persönlichkeit handelt, die andere Beweishälfte in 
der vom Angeklagten abgegebenen Ehrenerklärung, ohne zu 
bedenken, dass diese nicht so sehr im Schuldbewusstsein des 
Angeklagten als vielmehr in dessen Erwägung, dem sicheren 
Vergleich vor dem ihm noch ungewissen Urteil (erster oder gar 
höherer Instanz) den Vorzug zu geben, ihr Motiv hat. Dies zuerst 
erkannt zu haben ist das Verdienst des grossen Mittermaier, 
der aus einem derartigen Vergleichsabschlusse höchstens ein 
Indiz, nie aber ein Geständnis abzuleiten für zulässig erklärt, 
„weil sehr wohl auch ein Unschuldiger, um der Unbequemlich- 
keit der Untersuchung oder den Nachteilen einer Klage zu 
entgehen, oder aus Misstrauen gegen die Richter einen solchen 
Vergleich abschliessen kann.“ ?) Kehren wir zur Person des 
Beleidigten zurück, dem das Recht der Privatanklage einge- 

1) Vergl. dazu Lohsing im Gross'schen Archiv 18. Bd., S. 81 f. 

? Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, II. Teil (Heidelberg 
1840), S. 258 f. 


zs U s 


räumt ist; eine rechtliche Pflicht zur Klage besteht auf 
Grund der St. P. O. nicht‘). Aber eine moralische Ver- 
pflichtung kann oft vorliegen. Freilich mit Unterschieden. 
Wird jemand ein Lump oder ein Dummkopf genannt, so wird 
er gut daran tun, sich den Urheber dieser Ausdrücke erst ein 
wenig bei Licht zu besehen und das Ergebnis dieser Betrach- 
tung kann sein, dass er sich sagt: „Der Kerl kann mich nicht 
beleidigen, also klage ich ihn nicht erst.“ Anders aber ist es 
schon mit der Beschuldigung, eine (konkrete) unehrenhafte 
Handlung begangen zu haben. In diesem Falle wird Unter- 
lassung des Strafverfahrens oder Rücktritt von der Anklage 
ohne Abgabe einer Ehrenerklärung seitens des Angeklagten 
als ein Schuldbekenntnis des Klägers aufgefasst werden, und 
wenn auch ein derartiges Verhalten nicht als prozessuales Ge- 
ständnis aufgefasst werden kann, wird doch der Angegriffene 
damit rechnen müssen, als verdächtig in Strafuntersuchung zu 
kommen. 


Beachtenswert sind aber die näheren Umstände, unter 
welchen ein Rücktritt von einer Privatanklage erfolgt. In Prag 
hat sich der Fall ereignet, dass ein gewesener Bezirkshaupt- 
mann, der wegen Adelsfälschung verurteilt worden war, einen 
Verteidiger (eines andern Adelsfälschers) wegen Ehrenbelei- 
digung belangte, weil er ihm in einer tschechischen juristischen 
Zeitschrift Bestechung zur Last legte. Der Angeklagte ver- 
mochte zu seiner Verteidigung lediglich bona fides geltend zu 
machen, worauf der ehemalige Bezirkshauptmann seine Anklage 
fallen liess „zur allgemeinen Verwunderung“, wie sich ein 
Zeitungsbericht ausdrückte. Der Kläger hatte vermutlich durch 
den bisherigen Verlauf der Verhandlung genug Satisfaktion 
empfangen, die er im Falle eines Freispruchs (wegen Irr- 
tums des Angeklagten) nicht einbüssen wollte. In einem der- 
artigen Rücktritt von einer Privatanklage ein stillschweigendes 
Geständnis zu erblicken wäre natürlich ganz verfehlt. Wo, 
wie in Österreich, Verleumdungen durch die Presse der Judi- 
katur mit Heranziehung der Geschworenen anheimgestellt sind, 
wird man aber auch in der Unterlassung der Privatanklage 





1) Finger, a. a. O., S. 105. 
g 


nicht immer ein Schuldbekenntnis sehen djirfen, insbesondere 
dann nicht, wenn anderweitig, z. B. im Wege eines Disziplinar- 
verfahrens, die Schuldlosigkeit des Angegriffenen festgestellt 


worden ist. 


Was gar den Selbstmord eines Beschuldigten, bez. Ver- 
urteilten betrifft, kann nicht genug daran erinnert werden, dass 
„post hoc“ noch nicht „propter hoc“ ist. Gewiss kann nach Lage 
des Falles ein Selbstmord als Schuldbekenntnis angesehen 
werden; es sei z. B. an den vor einigen Jahren erfolgten Selbst- 
mord eines Hauptmannes ungefähr zwei Stunden vor Beginn 
einer Verhandlung über eine Klage hingewiesen, die dieser im 
Auftrage des Regimentskommandanten gegen den Redakteur 
‘eines Blattes, das den Hauptmann der Soldatenmisshandlung 
beschuldigte, eingebracht hatte. Aber andererseits können eine 
Menge anderer Motive in Betracht kommen, vor allem Ver- 
zweiflung. „Wenn oft behauptet wird“, sagt v. Holtzendorff'), 
„es könne nicht vorkommen, dass Unschuldige wirklich zum 
Tode gebracht würden, so ist daran zu erinnern, dass ein un- 
schuldig zum Tode Verurteilter sich 1856 in Hannover das 
Leben aus Verzweiflung nahm“; und dieser Fall steht gewiss 
nicht vereinzelt da. Es sei nur an das Schicksal eines jungen 
Mädchens erinnert, das zu Beginn der achtziger Jahre in Prag 
unter der Beschuldigung des Diebstahls verhaftet wurde und 
während der Eskortierung von der Karlsbrücke aus plötzlich 
den Tod in den Wellen der Moldau suchte; dass sie ihn nicht 
fand, ist das Verdienst eines pflichteifrigen Wachmannes, der 
dem Mädchen beherzt nachsprang und unter grosser Gefahr 
dessen Rettung bewerkstelligte; diese Tat fand nicht nur An- 
erkennung durch eine Ordensverleihung, sondern später auch 
den Dank der Geretteten, welche aus der Untersuchung völlig 
unschuldig hervorging und heute als Gattin eines Kanzlei- 
beamten in glücklichster Ehe in einer Stadt Deutschböhmens 
lebt. 


- Angesichts solcher Erscheinungen wollten wir eben darauf 
hinweisen, dass ein vermutetes Geständnis nicht nur juristisch 


') v, Holtzendorff, a. a. O., S. 366; vgl. dazu „Neuer Pitaval“, 
27. Teil, „Der Stillwächter von Edagsen.“ 


e IT 


unmóglich, sondern auch psychologisch keine einwandfreie 
Sache ist. Es wäre eine Voreingenommenheit, wenn man in 
all den vorerwähnten Fällen ein Schuldbekenntnis hätte an- 
nehmen wollen. Man könnte dadurch grosse Fehler begehen, 
wenn schon nicht in dem betreffenden Fall selbst, so doch in 
anderen Fällen, die zu jenen in gewissen inneren Beziehungen 
stehen, sei es, dass sie für diese in logisch-psychologischer 
Hinsicht präjudiziell sind, sei es, dass sie Mitschuldige betreffen 
oder dass andere logische Konnexitätsgründe vorliegen. 

Von diesem vermuteten Geständnisse zu unterscheiden ist 
dasjenige Verhalten einer Person, das wir, wenn schon darin 
— mit Unrecht — ein Geständnis erblickt wird, stillsch wei- 
gendes Geständnis nennen möchten. Mit dem vermuteten 
Geständnis hat das stillschweigende das gemeinsam, dass ein 
Schuldbekenntnis expressis verbis nicht erfolgt. Während aber 
beim vermuteten Geständnis dasjenige, was man mit einer zu 
mindest sehr fraglichen Berechtigung als Schuldbekenntnis an- 
zusehen geneigt ist, meistens aus dem ausserhalb des Beschul- 
digtenverhöres einer Person an den Tag gelegten Verhalten 
dieser Person gefolgert wird, handelt es sich beim stillschwei- 
genden Gestándnis um die Unterlassung der Verteidigung beim 
Verhöre als Beschuldigter, bez. Angeklagter, also um ein 
Schweigen einer Person in demjenigen Stadium des Verfahrens 
und gegenüber denjenigen Individualisierungs- oder Konkreti- 
vierungsmerkmalen !) einer bestimmten strafbaren Handlung, 
wo die prozessuale Möglichkeit einer Gegenäusserung ge- 
geben ist; wohlgemerkt: Möglichkeit; denn ein Zwangsmittel 
zur Ablegung einer Aussage gibt es einem Beschuldigten, bez. 
Angeklagten gegenüber nicht. 

In den meisten Straffällen gibt es eine Menge Umstände, 
zu denen der Angeklagte schweigt, die er bei seinem an die 
Verlesung der Anklageschrift sich anknüpfenden Verhör selbst 
bei ausführlicher und mit der Anklage nicht in jeglichem Punkte 
übereinstimmender Schilderung des Sachverhalts nicht weiter 
in Abrede stell. Wenn A, des Diebstahls angeklagt, zu der 
vom Bestohlenen B entworfenen Schilderung der gestohlenen 
Sache schweigt, wird unter der Voraussetzung, dass das übrige 


') Vgl. über diese Begriffe Finger, a. a. O., S. 70. 


— 718 — 


Beweismaterial den A als den Täter erscheinen lässt, das Gericht 
wohl mit Recht annehmen, dass die von B näher bezeichneten 
Gegenstände tatsächlich die vom A gestohlenen sind; und sagt 
der X, seine schwere Verwundung sei ihm vom N "am letzten 
Sonntag im Gasthause „Zum Bären“ beigebracht worden, dürfte, 
wenn N diesen Angaben nicht widerspricht, schwerlich das 
Gericht sich veranlasst fühlen, diesfalls noch Erhebungen an- 
zustellen.!) Hauptsache bleibt nur, dass sich das Gericht der 
Art und Weise der Verteidigung des Angeklagten bewusst 
bleibt, so dass, wenn ein Angeklagter z. B. die Beantwortung 
der an ihn gerichteten Fragen überhaupt verweigert, in einem 
Schweigen auch zu Umständen der angeführten Natur ein still- 
schweigendes Geständnis nicht erblickt werden darf. Wenn 
aber ein Angeklagter die Verantwortung in der Hauptsache 
nicht ablehnt und lediglich zur Mitteilung dieser indirekt rele- 
vanten Umstände nichts bemerkt, dürfen sie in der Regel als 
von ihm zugestanden angesehen werden. Aber keine Regel 
ohne Ausnahme. Das Schweigen kann Gründe haben, welche 
ihrer Natur nach das Vorhandensein von Zugeständnissen aus- 
geschlossen erscheinen lassen, so wenn der Angeklagte der 
Verhandlungssprache nicht zur Genüge mächtig ist, insbesondere 
wenn die Zeugen in einem ihm nicht geläufigen Dialekt aus- 
sagen. Wenn nun gar der Angeklagte sich in einem Teile der 
Verhandlung aufs Leugnen bereits erwiesener Tatsachen ver- 
legt, in der Folge jedoch diese prinzipielle Negation aufgibt, 
erblickt man in diesem Verhalten mitunter ein stillschweigendes 
Geständnis und dies umsomehr, wenn der Angeklagte jeglichen 
Schritt zu seiner Verteidigung unterlässt. Diese Annahme eines 
Schuldbekenntnisses kann sich aber gerade bei Angeklagten, 
die die landesübliche Sprache nicht vollkommen beherrschen, 
als trügerisch erweisen, wie folgender Fall zeigen möge: Es 
sind jetzt ungefähr zwanzig Jahre her, da wurde in Nieder- 
österreich ein italienischer Arbeiter, Carlo Gaötano Girola mit 


1) Die von Glaser, a. a. O., S. 603 in der Anmerkung, in dieser 
Richtung erwähnten Umstände, welche einer genaueren Überprüfung durch 
das Gericht wegen erhöhter Relevanz bedürfen, können als. ausserhalb un- 
seres Themas liegend hier übergangen werden; immerhin sei auf seine treffen- 
den Bemerkungen a. a. O. verwiesen. 


Namen, auf Grund einer Strafanzeige wegen Raubes verhaftet, 
den er an einer gewissen Loucky begangen haben soll. Während 
die Belastungszeugin Loucky den besten Eindruck machte, war 
Girola ziemlich befangen und verantwortete sich in einer wenig 
Vertrauen erweckenden Weise; selbst evident erwiesene Um- 
stände stellt er in Abrede und zur Agnoszierung der angeblich 
geraubten Sachen schwieg er vollkommen, was auf Richter 
und Geschworene den Eindruck eines stillschweigenden Zuge- 
ständnisses machte, zumal Girola nichts zu seiner Verteidigung 
unternahm. So wurde er denn auch verurteilt. Einige Monate 
später erschien eine gewisse Blau bei der Staatsanwaltschaft 
und gab an, die Loucky habe ihr gegenüber gestanden, dass 
ihre Aussagen betreffs des Girola erfunden waren, was dessen 
im Wiederaufnahmeverfahren erfolgte Freisprechung zur Folge 
hatte. ’) 

Dieser Fall lehrt, dass das stillschweigende Geständnis 
einer Prüfung nach seinem Grunde zu unterziehen ist. Sowie 
hier mangelnde Kenntnis der Sprache kann in anderen Fällen 
Furcht vor einem Zeugen, zu dem der Angeklagte in einem 
Abhängigkeitsverhältnisse steht, Scheu vor dem Gerichte und 
vielleicht nicht in letzter Linie Teilnahmslosigkeit wegen zu 
langer Dauer der Verhandlung der Grund sein, aus welchem 
ein Widerspruch unterbleibt. Es erwächst daher allen an der 
Strafrechtspflege beteiligten Personen und insbesondere der 
Verteidigung die Pflicht, die persönlichen Verhältnisse des 
Angeklagten und das Gesamtbild, das seine Verantwortung 
bietet, zu berücksichtigen. Nur so nähert man sich einer 
richtigen Beantwortung der Frage, ob und inwiefern ein 
Schweigen des Angeklagten als Zugeständnis aufgefasst werden 
darf. 

C) Das ausdrückliche Geständnis. 

Aus den grossen Gefahren, welche mit der Annahme eines 
vermuteten, bez. eines stillschweigenden (Grestándnisses ver- 
bunden sind, ergibt sich die Folgerung, dass ein derartiger 
Geständnisbegriff vom Standpunkte der Strafrechtspflege aus ein- 
fach unhaltbar ist und wir gelangen daher zu dem Ergebnisse, 


1) Vgl. über diesen Fall Gernerth in Goltdammers Archiv, 31. Bd., 
S. 494, 


— 80 — 


dass wie in juristischer so auch psychologischer Hinsicht nur 
ein ausdrückliches Geständnis als dasjenige Beweis- 
mittel, das wir Geständnis nennen, in Betracht -zu kommen 
geeignet ist. Es ist nicht erforderlich, dass ein derartiges Ge- 
ständnis gerade aus gesprochenen Worten oder aus Worten 
überhaupt bestehe. Eine schriftliche Äusserung, deren Inhalt 
den Schreiber belastet, !) kann diesfalls ebenso in Betracht 
. kommen wie z. B. eine Geste, die gemeiniglich für „ja“ oder 
„nein“ hingenommen wird. Wenn man durchaus von einem 
animus confitendi, so verworren dieser Begriff auch ist, reden 
will, so kann er sich nur auf das Moment der Ausdrücklich- 
keit, also darauf beziehen, dass das, was durch Worte oder 
Geberden vom Verdächtigen zu seinem Nachteil geäussert 
wurde, tatsächlich geäussert werden wollte; daher kann eine 
im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit zum Nachteile des 
Aussagenden gemachte Äusserung nicht als Geständnis gelten, 
desgleichen eine erzwungene Aussage nicht, da der Zwang den 
Willen ausschliesst. Wohl kann eine im Rausche gemachte Be- 
merkung zu Beweismitteln führen und insofern mag 
nach Lage des Falles dem „in vino veritas“ auch für 
die Strafrechtspflege eine gewisse Bedeutung nicht ganz abzu- 
sprechen sein; aber als Beweismittel selbst kann solch eine 
Äusserung nicht betrachtet werden. Auch Anschuldigungen, 
die jemand im Schlafe oder im Fieberdelirium gegen sich erhebt, 
sind keine Gestándnisse, „da sie“, wie v. Krafft-Ebing ?) 
betont, „aus dem unbewussten Geistesleben hervorgingen und 
es leicht begreiflich ist, dass ein Angeklagter im Sinne der 
Anklage träumt oder deliriert.* 

Keineswegs erscheint es uns jedoch erforderlich, dass die 
Absicht auch auf Zufügung eines Nachteils, einer Belastung 
im strafrechtlichen Sinne gerichtet ist, so dass also auch die- 
jenigen Selbstbelastungen Geständnisse sind, die der Volks- 
mund als „herausgerutscht“ bezeichnet und hinsichtlich deren 
Urheber die Erwägung zutrifft: „Doch kaum ist ihm das Wort 


entfahren — Möcht’ er’s im Busen gerne bewahren.“ — 


1) In dieser Hinsicht kommt vor allem die kriminalpsychologisch mehr- 
fach interessante Schrift von Ferriani, Schreibende Verbrecher (Über- 
setzung von Ruhemann, Berlin 1900) in Betracht. E 
167% 2 v. Krafft-Ebing, Grundzüge der Kriminalpsychologie (Erlangen 

y da 


Wa BA s 


Schon die älteren dem Grundsatz gesetzlicher Beweis- 
theorie huldigenden Kodifikationen kannten denn auch nur ein 
ausdrückliches (expressis verbis abgelegtes) Geständnis an und 
nur das gerichtliche (d.h. vor dem erkennenden Richter 
abgelegte) Geständnis machte vollen Beweis, anfangs ohne, 
später mit Zulassung eines Gegenbeweises. Streng prozessual 
betrachtet hat sich eigentlich in dieser Hinsicht nur soviel ge- 
ändert, dass unter dem Grundsatze der freien Beweiswürdi- 
gung auch ein Geständnis durch Geberden anerkannt werden 
muss, nämlich insofern, als nur solche gerichtliche Geständnisse 
zur unmittelbaren Wahrnehmung durch das Gericht geeignet 
sind. Alle anders gearteten Geständnisse kommen nur mittel- 
bar als Geständnisse in Betracht, mittelbar nämlich in dem 
Sinne, dass sie noch einer Ergänzung durch das Beweisver- 
fahren mehr minder bedürftig sind; diese Ergänzungen können 
verschiedener Art sein. Hauptsächlich ist es hier wiederum 
das Geständnis selbst, welches suppletorisch dem aussergericht- 
lichen Geständnis zur Seite tritt, so, wenn der Angeklagte ge- 
ständig ist, einen ihn belastenden Brief geschrieben, einen 
Aufsatz strafbaren Inhaltes zum Druck befördert, einer anderen 
Person gegenüber im Sinne seiner Täterschaft sich geäussert, 
im Vorverfahren eine Aussage zu seinem Nachteil gemacht zu 
haben. Weigert er sich jedoch, seinem aussergerichtlichen 
Geständnis durch eine derartige Bestätigung den Stempel eines 
unmittelbaren Beweismittels aufzudrücken, so kann das ausser- 
gerichtliche Geständnis selbst Beweisgegenstand werden, d. h. 
einer Beweisaufnahme bedürftig sein, die durch Schreibsachver- 
ständige (denen unterallen Sachverständigen man am vorsichtig- 
sten gegenüberstehen muss), Verhór von Mitschuldigen, Einver- 
nahme von Privatpersonen, Beamten der Sicherheitsbehörden, 
ev. Untersuchungsrichtern und deren Schriftführern hergestellt 
werden muss. 

Doch sind das rein strafprozessuale Erwägungen. Liegt 
em gerichtliches Geständnis vor oder ist ein aussergericht- 
liches Geständnis in der eben angeführten Weise vor Ge- 
richt bestätigt worden, so hört der Unterschied zwischen 
gerichtlichem und aussergerichtlichem Geständnis auf — das 
Gericht ist in die Lage versetzt, in den Urteilsgründen sich 

0 


— 82 — 


auf ein Geständnis (unmittelbar oder mittelbar) zu berufen. 
Ob und welche Beweiskraft es dem Geständnis beilegt, hat es nach 
den Grundsätzen freier Beweiswürdigung zu beurteilen und 
das kann nur in der Weise geschehen, dass das Geständnis 
picht nur nach seiner äussern Seite, d. h. danach, ob es mit 
den anderen Beweismitteln übereinstimmt oder wenigstens ver- 
einbar ist, sondern auch nach seinem innern Werte, m. a. W. so- 
wohl auf seine objektive als auch auf seine subjektive Glaubwürdig- 
keit geprüft wird; das Geständnis muss, um es kurz zu sagen, 
einer Prüfung in logischer wie psychologischer Hinsicht unter- 
zogen werden. Psychologisch macht es allerdings einen bedeut- 
samen Unterschied, vor wem ein Geständnis abgelegt worden ist. 
Wenn Rulf!) die Gestándnisse einteilt in solche, die vor 
dem erkennenden Richter oder einem andern Richter, vor 
einem nichtrichterlichen Beamten oder. einer Privatperson ab- 
gelegt werden und im Anschlusse an diese Einteilung die An- 
sicht äussert, „die Glaubwürdigkeit des Geständnisses stuft 
sich im Allgemeinen in dieser Reihenfolge nach unten hin ab,“ 
so steckt darin (wenn davon abgesehen wird, dass dies nicht 
das einzige Moment ist, das bei der Geständnisprüfung in Be- 
tracht kommt) gewiss ein Kern psychologischer Wahrheit. 
Dass der Durchschnittsmensch es Behörden gegenüber viel 
strenger mit der Wahrheit nimmt als im Verkehr mit Privat- 
personen, ist eine bekannte Sache. Selbst Leute, die nicht 
im mindesten psychopathisch veranlagt sind, werden oft ım 
Verkehre mit Privatpersonen falsche Geständnisse ablegen, sei 
es, dass sie die von ihnen angeredete Person anulken, ohne 
dass letztere es merkt, sei es, dass sie, wenn „(Gesinnungs- 
genossen“ sich begangener Delikte rühmen, nicht zurück- 
stehen zu dürfen glauben?), sei es, dass sie durch Zuge- 


1) Rulf, der österreichische Strafprozess, 3. Aufl. (Wien, Prag, Leipzig 
1895), S. 151. 

2 Dies kann aus den verschiedensten Gründen geschehen; Renomier- 
sucht spielt dabei eine grosse Rolle. Auch ist es denkbar, dass man durch 
ein falsches Geständnis einem Verbecher gegenüber das Vertrauen gewinnen 
will, um, falls dessen Delikt zur Kenntnis der Behörde gelangt, man nicht 
in den Verdacht der Urheberschaft der Anzeige kommt und sich so der 
Gefahr der Rache des Verbrechers aussetzt. Schliesslich — aber nicht zuletzt 
— denke man auch an den agent provocateur. 


e. O es 


stándnis eines ihnen zur Last gelegten Deliktes einen 
willkommenen Anlass zum Abbruch lästiger Beziehungen, 
z. B. bei längst beabsichtigter Änderung des Dienst- 
herrn, erblicken. Was die vor einem nichtrichterlichen 
Beamten gemachten Bekenntnisse anlangt, kommen fast aus- 
schliesslich die beim Verhöre vor der Sicherheitsbehörde 
(Polizei) abgelegten in Betracht. Dass manche polizeilichen 
Geständnisse falsch sind, ist eine längst bekannte Tatsache, 
die wohl hauptsächlich darin ihren Grund hat, dass die Krimi- 
nalpolizei fast überall die am meisten in Anspruch genommene 
Behörde, daher nolens volens oft zu summarischer Tätigkeit 
gezwungen ist, was zur Folge hat, dass sie sich auf die Fest- 
stellung des objektiven Tatbestands beschränkt und vielleicht 
mehr als der Untersuchungsrichter auf die Erlangung eines 
Geständnisses hinarbeitet. Schon Mittermaier !) steht den 
vor einer Polizeibehörde abgelegten Geständnissen sehr skeptisch 
gegenüber, Haußner ?) klagt neuerdings über „Polizeibeamte, 
die in blindem Übereifer entlastende Tatsachen nicht beachten,“ 
und Wilhelm 8) scheint auch gewisse Bedenken nicht ganz 
unterdrücken zu können wenn er unlängst in bezug auf einen 
konkreten Fall wörtlich sagt: „Ob das polizeiliche Protokoll 
ein ursprüngliches Zugeständnis des K, tatsächlich richtig 
wiedergegeben hat, oder ob es übertrieben ist, lässt sich nicht 
feststellen.“ Der Untersuchungsrichter lasse sich niemals von 
der Prüfung eines in einem polizeilichen Protokoll niederge- 
legten Geständnis abhalten. 


Die Sicherheitsbehörde hat die Gerichte in der Ausübung 


Mittermaier, a. a. O, S. 257 weil „die gewöhnliche, oft nicht 
schr vorsichtige Verhörsweise der Polizeibeamten erhebliche Zweifel be- 
gründet, ob das Geständnis ernstlich genug abgelegt war;'* vgl. auch 
Mittermaier, Die Lehre vom Beweise (Darmstadt 1834), S. 253: „Ge--- 
gen die vor Polizeibehörden abgelegten Geständnisse spricht noch die Rück- 
sicht, dass nach der häufig sehr summarischen Vernehmungsweise der 
Polizeibeamten, welche es mit Suggestionen und captiösen Fragen nicht ge- 
nau nehmen, Besorgnisse wegen der Art der Erlangung des Geständnisses 
entstehen.“ 

?, Haußner im Gross'schen Archiv. 14. Bd., S. 156. 
3 Wilhelm im Gross'schen Archiv, 14. Bd., S. 58; vgl. auch Auer, 
Zur Psychologie der Gefangenschaft (München 1905), S. 103. 
6* 


> DE es 


der Strafrechtspflege zu unterstützen; in dieser ihrer Tätigkeit 
hat sie jedoch die Grundsátze des Strafverfahrens zumindest 
insoweit zu beachten, als sie nichts vornehmen darf, was 
diesen Grundsätzen widerspricht. Wenn nun hinsichtlich der 
Erlangung von Geständnissen diese Grundsätze nicht immer 
beachtet werden, ist dies sehr bedauerlich; falsch jedoch ist 
es, zu behaupten, dass in Sachen des Geständnisses der Polizei 
manches erlaubt sei, was dem Richter verboten ist. ?) 

Diese Ansicht findet in keiner einzigen strafprozessualen 
Bestimmung auch nur den schwächsten Anhaltspunkt.’ 

Es erübrigt nunmehr das gerichtliche Geständnis und, was 
das betrifft, gibt Rulf dem Geständnisse vor dem erkennenden 
Richter den Vorzug vor dem vor einem andern Richter abge- 
legten. Wenn Rulf unter dem „andern Richter“ den in einer 
andern Sache als der des Beschuldigten tätigen Straf- oder 
Zivilrichter meint, ist ihm im allgemeinen wohl nicht zu wider- 
sprechen. Soll aber, wie es den Anschein hat, unter dem 
„andern Richter“ der Untersuchungsrichter gemeint sein und 
sonach das Geständnis vor dem erkennenden Richter in bezug 
auf seine Glaubwürdigkeit höher eingeschätzt werden als das 
vor dem Untersuchungsrichter, so kann die von Rulf vertre- 
tene Ansicht nicht als einwandfrei gelten. 

Gewiss ist es erlaubt, das, was Hans Gross?) über die 
Zeugenaussage bemerkt, mutatis mutandis auch auf die Be- 
schuldigtenaussage anzuwenden. Wie die meisten wichtigen 
Zeugen, haben auch die meisten Beschuldigten drei Aussagen 
abzulegen, vor dem Gendarmen, vor dem Untersuchungsrichter 
und in der Hauptverhandlung, und die von Gross für seine 
Behauptung, dass ın der Regel die vor dem Untersuchungs- 
richter abgegebene Aussage die weitaus beste ist, angeführten 
Gründe haben m. E. für die Beschuldigtenaussage mindest 
dieselbe Berechtigung. Um die Ausführungen von Gross 
kurz zu resumieren: In der Amtsstube des Untersuchungs- 
richters herrscht die Ruhe, welche den zu Vernehmenden in 
eine gesammelte, andächtige Stimmung bringt. Wird auch 
einem Beschuldigten gegenüber der Untersuchungsrichter nicht 

-1 Weingart, Kriminaltaktik (Leipzig 1904), S. 10. 

2) Gross in seinem Archiv, 13. Bd., S. 196. 


u BB a 


sagen können, dass Schuld oder Unschuld eines Menschen von 
diesem Verhöre abhänge, so ist es doch der Untersuchungs- 
rıchter, der mehr als der Beamte der Sicherheitsbehörde, aber 
auch mehr als der Vorsitzende in öffentlicher, feierlich-gemes- 
sener Hauptverhandlung als Mensch zum Menschen, in dem 
er „stets seinen gefallenen oder unschuldig verdächtigten 
Mitbruder sieht“ 1) zu sprechen Gelegenheit hat, zumal ausser 
dem Gerichtsschreiber in der Regel niemand anderer zugegen 
ist. Diese Gelegenheit soll der Untersuchungsrichter ausnützen 
und er kann leicht, ohne sich verpönter Mittel zu bedienen, 
ein Geständnis erlangen. Haußner stellt ın seiner äusserst 
lesenswerten Abhandlung über „Das Geständnis des Ver- 
brechers“ ? als Voraussetzung zur Erlangung eines Gestánd- 
nisses die psychologisch wichtige Forderung auf, „den Be- 
schuldigten kennen zu lernen,“ sich ein Bild über seine Persön- 
lichkeit, seine häuslichen Verhältnisse, seine wirtschaftliche 
Lage u. s. w. zu bilden und auf diese Weise das rein Mensch- 
liche anstatt des Bureaukratischen hervorzukehren, um auf 
diesem Wege das Vertrauen des Beschuldigten zu gewinnen. 
Hat man einmal die Kenntnis der wirtschaftlichen und häus- 
lichen Verhältnisse, dann hat man in vielen Fällen Anhalts- 
punkte (— mit dem von Haußner gebrauchten Wort „Auf- 
schluss“ ist vielleicht zuviel gesagt —) über das Motiv des 
Verbrechens, das man in der Folge auch ergründen kann. 
Merkt der Beschuldigte, dass man seine Gesinnung erkannt hat, 
dann ist auch oft die Möglichkeit vorhanden, dass er vom 
Leugnen zum Gestehen übergeht. Kommt auch das Geständ- 
nis nicht immer sofort, so lässt sich doch solch ein Verbrecher 
ins Gewissen reden. Der auffahrende Verbrecher verstummt, 
sein Jautes Benehmen verwandelt sich in stillen Trotz, bis die 
Stille durch ein oft unter heissen Tränen der Reue über die 
Tat und des Kummers wegen des den Angehörigen zugefügten 
Herzleides erfolgendes Geständnis unterbrochen wird. Und 


derartige Geständnisse — dies sei, unsern weiteren Aus- 
führungen vorgreifend, schon hier erwähnt — haben immer 


1) Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Krimi- 
nalistik, 4. Aufl. (München 1904) I. Bd. S. 114, 
2) Im Gross'schen Archiv, 13. Bd., S. 267 ff. 


=> B 


einen grossen Kern von Wahrheit; denn „wess das Herz voll 
ist, dess geht der Mund über.“ Werfen wir uns aber die 
Frage auf, wer mit dem Verbrecher so umgehen kann, so 
lautet die Antwort: Nur der Untersuchungsrichter. Aus diesem 
Grunde schienen uns die vor dem Untersuchungsrichter abge- 
legten Geständnisse die wertvollsten, selbst für den Fall, dass 
sie nicht immer umfassend sind und erst in späteren Verhören, 
vielleicht gar erst in der Hauptverhandlung ihre Ergänzung 
erfahren. In unserer Zeit, die ja keinen Fall mehr kennt, in 
welchem das Geständnis die conditio sine qua non zur Verur- 
teilung oder auch nur zur Verhängung einer ausserordentlichen 
Strafe wäre, liegt die kriminalpolitische Bedeutung des Ge- 
ständnisses vor allem darin, dass es über das Motiv der Tat 
Aufschluss gibt. Den ihre Tätigkeit lediglich auf die Fest- 
stellung objektiver Verhältnisse konzentrierenden Sicherheits- 
behörden kann dies aber ebenso selten gelingen wie der Haupt- 
verhandlung, bei deren Öffentlichkeit der Verbrecher sein Herz 
nicht so ausschüttet wie vor dem Untersuchungsrichter. 
* $ 
* 

An dieser Stelle sei auch der sog. qualifizierten Geständ- 
nisse gedacht, welche die ältere Terminologie dahin charakte- 
risiert, dass bei ihnen die Verdächtigen zwar die Handlung 
eines Verbrechens einräumen, dabei aber einen und den andern 
Umstand, um die Strafbarkeit aufzuheben oder wenigstens zu 
vermindern, hinzusetzen, !) eine Begriffsbestimmung, die in der 
Hauptsache auch von der Doktrin des geltenden Strafprozess- 
rechts festgehalten wird. Allein wenn wir einerseits uns die 
Begriffe der Konkurrenz des materiellen und der Konnexität 
des formellen Strafrechts vor Augen halten, anderseits damit 
rechnen, dass diese auch in kriminalpsychologischer Hinsicht 
Umfang und Inhalt eines Geständnisses zu beeinflussen geeignet 
sind, werden wir vom letztern Standpunkte aus das qualifizierte 
Geständnis nach folgendem Schema zu betrachten haben: 


a) ; Be ein Delikt; 
b) a mehrere Delikte; 


1) So Stübel, Kriminalverfahren, II. Bd., (Leipzig 1811), S. 64. 


a O se 
c) , ein Delikt; 
d) l mehrere Verdächtige | mehrere’ Delta: 

Ad a). Wenn einem Verdächtigen nur ein Delikt zur 
Last liegt, so ist ein qualifiziertes Geständnis hauptsächlich in 
der Weise möglich, dass zwar die Täterschaft zugegeben, 
jedoch ein anderer als der zu dem vorgehaltenen Delikte ge- 
setzlich erforderlicher Vorsatz, ein Schuld- oder Strafaus- 
schliessungsgrund oder ein Milderungsgrund behauptet wird. 
Was den auf Entlastung abzielenden Teil solch einer Beschul- 
digtenaussage anlangt, bietet er in psychologischer Hinsicht 
weiter nichts besonderes, da das Streben nach Einstellung des 
Strafverfahrens , Freisprechung oder wenigstens möglichst 
glimpflicher Behandlung aus der menschlichen Natur leicht er- 
klärlich ist. Hierher gehören die Fälle, in denen Angriffe auf 
Leib und Leben zugestanden, jedoch mit Notwehr zu ent- 
schuldigen versucht werden, ferner der so häufige Fall des 
Geständnisses eines Tötungsdelikts unter gleichzeitiger Be- 
streitung der Tötungsabsicht, des Geständnisses einer eines 
Raubes verdächtigen Person, die als geraubt bezeichneten 
Sachen zwar weggenommen, dies jedoch ohne Gewaltanwen- 
dung getan zu haben u. dgl. m. 

Ad b). Liegen einem verdächtigen mehrere Delikte 
zur Last, so muss sein qualifiziertes Geständnis hauptsächlich 
in doppelter Richtung in Betracht kommen, nämlich in bezug 
auf jedes einzelne Delikt und in bezug auf ihre Gesamtheit. 
In erster Hinsicht ist es möglich, dass sich ein qualifiziertes 
Geständnis in der ad a) erwähnten Linie bewegt. Was jedoch 
die Gesamtheit der Delikte anlangt, hat die Möglichkeit in 
Betracht zu kommen, dass einige Delikte gestanden, andere 
in Abrede gestellt werden. Als Gradmesser der Glaubwürdig- 
keit eines derart qualifizierten Geständnisses kann innerhalb 
gewisser Grenzen die Härte der angedrohten Strafe dienen. 
Ist A wegen Mordes und Diebstahls in Untersuchung, betreffs 
des Diebstahls geständig, betreffs des Mordes nicht, so ist die 
Annahme der Richtigkeit dieses Geständnisses viel weniger er- 
laubt als in dem umgekehrten Falle, wenn nämlich der Mord 
vollinhaltlich, d. h. ohne Behauptung von Notwehr, Zwang usw: 
zugegeben und nur der Diebstahl in Abrede gestellt wird. Ein 


— 88 — 


anderer Gradmesser ist die sozialethische Bedeutung der ein- 
zelnen Delikte; wenn z. B. A ein Duell mit tödlichem Aus- 
gange zugibt, eine ihm gleichzeitig zur Last liegende Wechsel- 
fälschung jedoch hartnäckig in Abrede stellt, berechtigt dieses 
Verhalten nicht zu der Annahme, dass mit Rücksicht auf das 
Geständnis des mit härterer Strafe bedrohten tödlichen Zwei- 
kampfes und das Leugnen der nicht so streng zu ahndenden 
Wechselfälschung diese Aussage richtig sei; der Zweikampf ist 
eben kein entehrendes Delikt wie der Betrug, wird daher trotz 
eventuell schwererer Strafdrohung leichter eingestanden als 
letzterer. Ob nun die Wahrheitsprüfung solch einer Aussage 
nach dieser, jener oder sonst einer Erwägung vorzunehmen ist, 
bleibt stets quaestio facti und dürfte nicht immer auf besondere 
Schwierigkeiten stossen, wenn der Grund für das Bekennen 
des einen und das Leugnen des anderen Delikts einmal er- 
mittelt ist. 

Grosse Schwierigkeiten ergeben sich erst dann, wenn von 
mehreren Delikten derselben Gruppe einige in Abrede gestellt, 
andere gestanden werden. Dass es nicht gleichgiltig ist, ob 
man x oder x + y Diebstähle auf dem Kerbholz hat, ist ja mit 
bezug auf die Frage der Strafzumessung ganz klar. Die 
Schwierigkeit der Beurteilung solcher teilweiser Geständnisse 
besteht eben darin, dass, wie Gross treffend hervorhebt, *) 
einerseits der Beweis für das Nichtgestandene um so schwerer 
zu erbringen ist, anderseits das Gestandene durch das Nicht- 
gestehen des Restes zweifelhaft erscheint. Wenn A beschuldigt 
wird, die bei ihm gefundenen Sachen x und y, überdies aber 
auch die Sache z entwendet zu haben und den Diebstahl von 
x und y gesteht, den von z jedoch leugnet, kann eine der- 
artige Aussage an sich betrachtet objektiv wahr sein, sie m uss 
es aber nicht; A kann auch der Dieb der Sache z sein, hofft 
jedoch in diesem Punkte freigesprochen zu werden; es ist aber 
auch der Fall denkbar, dass mit Rücksicht darauf, dass A beim 
Diebstahl von x und y ertappt wurde, der ungerechtfer- 
tigte Verdacht aufkommt, A sei auch der Dieb der Sache z. 
Aber auch der Fall ist möglich — und gerade beim Dieb- 


1) Gross , Kriminal-Psychologie S. 132. 


— 8 — 


stahl kommt er öfter vor, als man anzunehmen geneigt sein 
mag, — dass sich A im Stillen sagt: „Ich bin zwar nicht der 
Dieb der Sache z; aber wegen des von mir begangenen Dieb- 
stahls von x und y werde ich ohnehin verurteilt. Da nehme 
ich auch den von meinem Freunde B begangenen Diebstahl 
von z, auf mich, da es mir, wenn ich schon verurteilt werde, 
nicht weiter darauf ankommt, ob ich paar Wochen länger gut 
aufgehoben bin. B wird mir dafür, dass er durch meine 
Liebenswürdigkeit straflos ausgeht, dankbar sein und während 
der Dauer fmeiner Haft für meine Geliebte sorgen.“ Doch 
wird nur in den seltensten Fällen ein derartiges Geständnismotiv 
zur Kenntnis des Gerichts gelangen. 

Die Geständnisprüfung muss dann die Erwägung in den 
Vordergrund treten lassen, dass einer nur seine eigene Tat 
gestehen kann; man wird also gut daran tun, ihm solche 
Fragen zu stellen, deren richtige Beantwortung nur dem wahren 
Täter möglich ist, in unserm Fall z.B. den A fragen, wie die 
Sache z aussieht, woher er sie genommen hat u. s. w. 

Anders liegt die Sache, wenn die Wertsumme der ge- 
stohlenen Gegenstände für das Strafmass ausschlaggebend ıst 
und nur bis zur Höhe jener Summe, die eine strafrechtlich 
relevante Wertgrenze bedeutet, eingestanden wird. Hier liegt 
ein triftiger Grund für das nur teilweise Geständnis klar zu 
tage. Fehlt es aber an der Kenntnis solch eines Grundes, 
muss der Beweis für die in Abrede gestellten Delikte erst 
recht auf anderem Wege gewonnen werden. 

Ad c). Wird ein Delikt mehreren Personen zur Last 
gelegt und sind einige von ihnen geständig, so können sie das 
in der Weise tun, dass sie entweder die Schuld allein auf 
sich nehmen und so die leugnenden Mitbeschuldigten entlasten 
oder durch ihre Aussagen mitbelasten. So sehr im ersten 
Falle der Regel noch die Vermutung für die Richtigkeit des 
Geständnisses spricht, kann es doch nach dem ad b) Gesagten 
vorkommen, dass hier (ganz oder teilweise) Unschuldige die 
Schuld anderer auf sich nehmen. Werden hingegen durch 
Geständige leugnende Mitbeschuldigte belastet, so muss die 
Aussage der Geständigen geteilt werden in Geständnis und in 
Zeugnis zum Nachteile der Mitbeschuldigten, d. h. es muss zu- 


— 90 — 


nächst, wie Gross sagt, !) „Alles bei Seite geschoben werden, 
was zur eigenen Entlastung dienen und dem anderen Schuld 
zuschieben soll.“ Als weitere Tätigkeit empfiehlt Gross die 
Erwägung, wie der Fall ohne und wie er mit Belastung der 
Mitschuldigen sich konstruieren lässt. Lässt sich sodann ein 
Plus in der Selbstbelastung feststellen, so ist der Gegenwert 
zu suchen, „den der Gestehende für sich darin fand, dass er 
mit dem Mitbeschuldigten auch sich selbst belastet hat.“ Hier- 
bei werden die verschiedensten Motive zu Tage gefördert, 
deren Prüfung für die Würdigung der Beweiskraft des Ge- 
ständnisses bedeutsam ist, | 


Ad d). Was schliesslich den Fall anlangt, dass von 
mehreren wegen mehrerer Delikte Verdächtigen ein Teil 
geständig ist, der andere sich aufs Leugnen verlegt, kommt 
diese Möglichkeit lediglich als Kombination des ad a — C) 
Gesagten in Betracht, weshalb auf das dort Angeführte ver- 
wiesen sei. Hauptsache bleibt immer, davon auszugehen, 
welcher Anteil der einzelnen Mitschuldigen an den mehreren 
Delikten behauptet wird, und danach sich bei der Prüfung des 
Geständnisses zu richten. — 


Diese Prüfung des Geständnisses muss, wie bereits er- 
wähnt in logischer und psychologischer Richtung vorgenommen 
werden; diese beiden Richtungen können im einzelnen Falle 
nicht immer scharf getrennt werden; auch kann man im Allge- 
meinen nicht sagen, ob die logische Prüfung, d. i. die Erórte- 
rung der Frage, in welchem Verhältnisse ein Geständnis zu 
den anderen Beweismitteln steht, vor der psychologischen Prü- 
fung, d. i. hauptsächlich der Erforschung des Geständnismotivs 
den Vorzug verdient. Logik und Psychologie arbeiten aber 
hier ineinander und beiden Standpunkten muss bei der Prü- 
fung des Geständnisses Rechnung getragen werden. 


D) Das Motiv des Geständnisses im Allgemeinen. 


Bereits des óftern haben wir mit der Möglichkeit gerechnet, 
dass ein Geständnis falsch sein könne; es erwächst uns daher 
die Aufgabe, zu untersuchen, wann dies der Fall ist, und dies 


1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 13t. 


an e ss 


können wir nur in der Weise, dass wir uns Klarheit zu ver- 
schaffen trachten darüber, warum, aus welchem Grunde, zu 
welchem Zwecke, ein Geständnis abgelegt worden ist; m. a. 
W. die Ergründung des Motivs ist einer der Prüfsteine des 
Geständnisses in Strafsachen. Trotzdem sei gleich hier — 
unseren Ausführungen vorgreifend — erwähnt, dass die Er- 
gründung des Motivs gar oft mit grossen Schwierigkeiten ver- 
bunden ist, einerseits, weil nicht immer das wahre Motiv an- 
gegeben wird, ja nicht angegeben werden kann, anderseits, 
weil falsche Motivierungen keine Seltenheiten sind. 

Ganz abstrakt betrachtet erscheint das Geständnis als eine 
Tat, als Erfolg einer Handlung, also — mit v. Liszt?) ge- 
sprochen — einer willkürlichen Verursachung [oder Nicht- 
hinderung] einer Veränderung in der Aussenwelt; diese Tat 
nennen wir Geständnis, die Tätigkeit (Handlung), als deren 
Erfolg das Geständnis erscheint, das „Gestehen.“ Festhalten 
müssen wir jedoch daran, dass dieser Erfolg willkürlich 
herbeigeführt sein muss. Die Willkür oder das Wollen ist es, 
was diese Verursachung zur Handlung macht. Nun giebt es 
kein Wollen an sich, sondern nur ein Wollen eines bestimmten 
Etwas. Treffend bemerkt Finger, ?) dass wir uns nicht als 
schlechthin wollende, sondern als Etwas wollende finden. Die- 
ses gewollte Etwas ist der Zweck unseres Wollens. Den In- 
halt unseres Wollens bilden Vorstellungen (und die Summe 
derjenigen Vorstellungen, durch die wir uns einen Erfolg als 
Zweck der Handlung vergegenwärtigen, nennen wir Absicht). 
Der Vorstellungsprozess ist ein Bewegungsprozess gedanklicher 
Natur. Vorstellungen und Gedanken bedingen den Willens- 
prozess, indem sie Gefühle und Empfindungen erwecken, bez. 
beeinflussen. Das Wollen ist nicht nur von intellektuellen, 
sondern auch von motorischen Momenten bedingt, indem Em- 
pfindungen allein kein Wollen bewirken, wenn nicht aus ihnen 
Triebe hervorgehen, welche auf die Handlung abzielen. Da- 
mit nun diese Triebe zum Wollen sich entfalten, bedarf es der 
Mitwirkung einer Reihe anderer bewegender Faktoren, der sog. 


1) v. Liszt, Lehrbuch d. d. Strafrechts (10 Aufl.) S. 102. 
?) Finger a. a. O., I. Bd., S. 150. 
3 Janka, Die Grundlagen der Strafschuld (Wien 1885), S. 25. 


ut. > Yon 


Willensmotoren, die man, je nach dem, ob sie im Menschen 
oder in der den Menschen umgebenden Aussenwelt ihren 
Ursprung haben, innere, bez. äussere Willensmotoren nennt. 
Das Verhältnis dieser beiden Arten von Willensmotoren ist 
ein wechselseitiges; äussere können die inneren, innere die 
äusseren Willensmotoren in Bewegung setzen, wenn auch 
letzteres nur scheinbar der Fall ist; denn auch das einem 
innern Motor entspringende Wollen steht, wie Janka!) be- 
merkt, „mit der Aussenwelt nicht ausser Zusammenhang, da 
auch die Vorstellung, der Gedanke, wenn auch auf langem, 
verschlungenem, nicht verfolgbarem Wege stets und überall 
auf äussere Eindrücke sich zurückführt.“ Dennoch sind die 
inneren Willensmotoren die bei Weitem bedeutsameren; sie 
sind es ja, welche die Verbindung des Wollens mit dem Innern 
des Menschen bewirken und daher bedingt sind von der per- 
sönlichen Natur des Wollenden, von seiner Individualität. Mag 
ein äusserer Anreiz noch so stark sein, vermag er doch für 
sich nicht das Mindeste, wenn er nicht im Intellekt des Indi- 
viduums ein Echo findet; denn nur der Intellekt ist es, der die 
inneren und äussern Motoren zum Willensakt auszuspinnen ver- 
mag. Den durch einen äussern Anreiz bewirkten Vorstellungen 
können nun aus dem menschlichen Bewusstsein, in welchem 
eine Summe latenter Vorstellungen gebunden ist, Gegenvor- 
stellungen entgegenwirken, welche ihrerseits Gegenmotoren 
erzeugen und eine Wechselwirkung zwischen Motoren und 
Gegenmotoren hervorrufen. Dies bewirkt dann einen innern 
Kampf, der, wenn auch stets dem Gefühlsleben ein gewisser 
Einfluss zukommt, dewegen für gewöhnlich nicht jenen Um- 
fang anzunehmen braucht, dass er im Innern des Menschen 
kein genügend grosses Gebiet findet und etwa äussere Erschei- 
nungsformen annimmt; aber ein Kampf bleibt diese Wechsel- 
wirkung von Motoren und Gegenmotoren unter allen Umstän- 
den und zwar ein Kampf, der niemals unentschieden verläuft, 
mag die Entscheidung auch längere Zeit auf sich warten lassen, 
m. a. W. ein Gefühl des Zweifels und der Unentschlossenheit 
platzgreifen. Am Ende siegen doch entweder die Gegen- 


— 


1) Janka, a. a. O., S. 35. 


u, G un 


motoren; der Willensprozess nimmt dann einen negativen Ver- 
lauf, ein Wollen kommt nicht zustande. Oder die Motoren 
tragen den Sieg. davon: es kommt das Wollen zustande. Der 
Sieg der Motoren über die Gegenmotoren ist der Entschluss. 
Die dem Entschluss zum Durchbruche verhelfende Kraft, bez. 
die Summe dieser Kräfte ist das Motiv. Ob das Motiv im 
Entschlusse selbst enthalten ist. wie Janka !) anzunehmen 
scheint, wenn er sagt: „Die in dem Entschlusse durchtretende 
Kraft oder die durchtretenden Kräfte sind sohin als das Motiv 
oder als die Motive zu bezeichnen“ oder ob man das Motiv 
ausserhalb des Entschlusses verlegt, wie dies Fin ger ?) und 
Kraus 3) tun, ist eine Frage von nebensächlicher Bedeutung 
gegenüber dem Umstande, dass wir es, wie eben schon das 
Wort sagt, im Motiv mit dem Beweggrund der Tat zu tun 
haben, weshalb am ehesten eigentlich Thom sen t) zuzustim- 
men ist, bei dem auf eine Definition des Motiv verzichtet 
und Motiv gleichbedeutend mit movens (f. agens) als „das 
Bewegende,“ „das Treibende“ bezeichnet wird. Es dürfte 
somit keine Handlung, wenigstens keine vorsätzliche Handlungohne 
Motiv denkbar sein (wohl aber das umgekehrte: unausgeführte 
Entschlüsse). Das Wort „unmotiviert“ bedeutet aber nicht 
nur „ohne Motiv,“ sondern auch „ohne Motivierung,“ d. h. ohne 
Angabe des Motivs. 


ıı Janka, a. a. O, 5. 35 

> Finger, a. a. 6. I. Bd., S. 134:,, Der Endpunkt der Handlungs- 
reihe ist das die Aktivität des Individium eigentlich bestimmende Mo- 
ment; in das Bewusstsein reflektiert, wird dieser Endpunkt der Handlungs- 
reihe Motiv genannt!“ vgl. auch van Calker, Strafrecht und Ethik (Leipzig 
1897», S. 22, | 

3 Kraus, Zeitschrift f. d. ges. Str. R. W., 17. Bd., S. 468, ver- 
stebt unter Motiv den „Motor, den wirkenden Beweggrund, die bewusste 
Ursache des Handlungs- oder Unterlassungswillens“, „jene aktuelle Be- 
gierde, deren Befriedigung vorgezogen wird der Verwirklichung anderer, 
ihr etwa widerstreitenden Bedürfnisse (den sogenannten „Gegenmotiven“); 
die also, den Glauben an ihre Realisierbarkeit vorausgesetzt, wie die Ur- 
sache die Wirkung den Realisierungswillen zur notwendigen Folge hat ” 
Ähnlich Mi ricka, Formen der Strafschuld (Leipzig 1903), S. 118. Gegen 
den (von ihm and Kraus gebrauchten) Ausdruck „Gegenmotiv" vgl. 
Janka a. a. O. S. 33. 4. 22 

% Thomsen, Zeitschrift f. d. ges. St. R. W., 17. Bd., S. 276. 


== “Ob a 


Was die Motivierung betrifft, so hat sie freilich ihre 
ganz besonderen Schwierigkeiten. „Es ist,“ wie Paulsen ?) 
sagt, „überhaupt eine seltsame Vorstellung, dass jede Hand- 
lung ein Motiv habe. Vielmehr, wie zu jeder Bewegung in 
der physischen Welt viele Ursachen konkurrieren, so zu jeder 
Willensbestimmung viele Motive.“ Diese Mehrheit der Motive 
begründet an sich schon eine Schwierigkeit für die Motivie- 
rung einer Tat durch den Handelnden und in noch erhöhtem 
Maße durch eine fremde Person. Jetzt denke man aber gar 
an den Fall, dass der Täter das wahre Motiv nicht angeben 
will; man halte sich ferner die vielen. psychopathologischen 
Fälle vor Augen, in denen es schwer zu entscheiden ist, ob 
jemand ein Motiv nicht angeben will oder nicht angeben kann, 
dazu kommen noch Sinnestäuschungen und Gedächtnisfehler 
der verschiedensten Art, nicht zuletzt der Einfluss von Bildung, 
Geschlecht, Herkuoft u. s. w. ?) 

Haben wir im Vorstehenden vom Motiv im Allgemeinen 
gesprochen, so können wir nunmehr zum Geständnismotiv über- 
gehen. Hat man den Beweggrund eines Geständnisses ergründet, 
steht der Prüfung der subjektiven Glaubwürdigkeit des Geständ- 
nisses in der Regel kein Hindernis mehr entgegen. Das Motiv 
kann im Geständnis mitenthalten sein, indem der Verbrecher ein 
Motiv des Geständnisses angibt; in diesem Falle ist erst nach der 
Richtigkeit des Motivs zu forschen. Auch wenn das Geständnis 
selbst vollkommen richtig zu sein scheint, sollte diese Prüfung nicht 
immer unterbleiben, da ja z. B. der Fall öfter vorkam, dass 
ein wahres Geständnis in heuchlerischer Weise mit Reue motl- 
viert wurde, um sich dem Gerichte gegenüber für alle anderen 
Fälle Glaubwürdigkeit zu sichern, also z. B. auch für den Fall, 
dass früher oder später die Versuchung heranträte, ein schwerer- 
wiegenderes Delikt unter Berufung auf die bereits „erprobte 
Wahrheitsliebe“ in Abrede zu stellen. In solch einem Fall 
sind eben Geständnismotivierung und Geständnismotiv von ein- 
auder weit entfernt. Aber festhalten müssen wir, dass jedes 
Geständnis ein Motiv hat, jedoch nicht jedes Geständnis unter 


1) Paulsen, System der Ethik, 5. Aufl. (Berlin 1900), I. Bd., S. 363 
u auch Schauberg, a. a. O., S. 33, wo die Begriffe „Motiv“ und 
„Motivierung“ oft ineinander übergehen. 

2) Näcke im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 102. 


2.05: ne 


richtiger Motivierung (wenn überhaupt mit einer Motivierung) 
abgelegt wird. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne ist 
es allerdings erlaubt, auch von unmotivierten Geständnissen zu 
sprechen. Die von H. Gross!) vertretene Ansicht, es sei 
„beiläufig“ richtig, dass bei einem Geständnisse irgend ein 
Motiv vorliege, „es muss aber nicht zutreffen,“ vermögen wir 
nicht zu teilen. Liegt ein Geständnis vor, so hat es u. E. auch 
ein Motiv, wenn auch die Erkenntnis des Motivs schwieriger 
sein mag als die Entgegennahme des Gestándnisses selbst. 
Hätte der Beschuldigte kein Motiv zum Geständnis gehabt, so 
hätte er nicht gestanden, nicht gestehen können; wie zu jeder 
vorsätzlichen Handlung ist auch zum Geständnis ein Motiv 
notwendig. 

Für die Strafrechtspflege kommt das Motiv des Geständ- 
nisses in doppelter Hinsicht in Betracht. Haben wir als Motiv 
mit Thomsen das movens, agens angenommen, so haben wir 
es einerseits mit der Stärke, anderseits mit dem Inhalte 
des Motivs zu tun. Die Stärke des Motivs erkennen wir an 
der Form, in der sich das Geständnis äussert, seinen Inhalt 
nach dem Grunde, aus welchem es abgelegt wurde, m. a. W., 
es kommt sowohl das „Wie“ als auch das „Warum“ des Ge- 
ständnisses in Betracht, wenn wir sein Motiv in Erwägung 
ziehen. Form und Inhalt lassen sich freilich hier oft schwer 
von einander getrennt beurteilen; aber im konkreten Falle 
kann diese Trennlinie bedeutsam werden. 

Was die Stärke des Motivs anlangt, können wir verschie- 
dene Arten von Geständnissen unterscheiden. Als die stärkste 
ist die anzunehmen, bei welcher der Täter aus freien Stücken 
behufs Ablegung eines umfassenden Geständnisses dem Gerichte 
sich stellt; eine andere Art ist jene, dass er bei seinem Ver- 
hör wahrheitsgemäß den Sachverhalt in zusammenhängender 
Rede schildert, die schwächste Form wohl jene, dass der Ver- 
brecher erst nach langem Zureden und nach Vorhaltung der 
Widersprüche, in welchen einerseits seine bisherige Aussage 
zu anderen Beweismitteln steht, sowie jener anderseits, in die 
er sich selbst verwickelt hat, das Leugnen aufgibt und die an 





') Gross, Kriminal-Psychologie, S. 131. 


— 96 — 


ihn gerichteten einzelnen Fragen mehr minder wahrheitsgemäß 
beantwortet. Das sind natürlich nicht alle Formen, die wir 
nach der Stärke des Motivs unterscheiden können, vielmehr 
gibt es noch eine Reihe Zwischenstufen, so z. B. wenn das 
Sich-Stellen bei Gericht erst dann erfolgte, nachdem in der 
Beichte dem Sünder nur für den Fall der Selbstanzeige die 
Absolution in Aussicht gestellt worden war, wenn das Geständ- 
nis aussergerichtlich abgelegt wurde, u.s.w. 

Diese Art der Form des Geständnisses kann prozessual 
sehr stark ins Gewicht fallen, da, wie z.B. in dem Falle der 
Selbstanzeige, die ganze Beweiserhebung durch das Geständ- 
nis von vornherein eine bestimmte Direktive bekommt. 


E) Motive und Stimmungen bei Geständnissen in Straf- 
sachen. 

Weit wichtiger als die Erwägung, wie, wann und wo das 
Geständnis abgelegt wurde, ist die Erörterung der Frage, warum 
wurde gestanden, was hat den Beschuldigten bewogen, die 
Täterschaft eines begangenen Verbrechens auf sich zu nehmen? 
Es mag nicht einem jeden das als zwingender Grund gelten, 
was den Beschuldigten zum Geständnis veranlasst hat. Allein 
in dieser Hinsicht darf nicht ein lediglich objektiver Massstab 
angelegt, sondern muss vielmehr auch die subjektive Seite voll- 
auf in Rechnung gezogen werden. Mag das Geständnis nur 
die Tatsachen selbst oder überdies, wie Vargha sagt, „die 
Beziehungen dieser Tatsachen“ enthalten und so den innern, 
den psychologischen Konnex durchschimmern, ja mitunter klar 
erkennen lassen, mag es einfach, gekünstelt, geschraubt oder 
wie immer sein, mag es — ganz oder teilweise — auf Wahr- 
heit beruhen oder nicht: stets liegt es in der Natur des Menschen 
dass er grundlos sich nicht seiner Verurteilung in die Hände 
arbeiten wird. | 

Wenn es sich nun darum handelt, die Geständnisse in 
Strafsachen nach ihren Motiven einzuteilen, sei nach dem be- 
reits Erwähnten betont, dass diese Arbeit lediglich einer Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung gleichkommt, da einerseits Motiv und 
Motivierung sich nicht immer decken, anderseits für uns nur 
dasjenige in Betracht kommen kann, was vorwiegend die 


— 97 — 


Ablegung des Geständnisses beeinflusst hat, m. a. W. aus einer 
Mehrheit von Motiven wird das anscheinend stärkste heraus- 
gegriffen und als Motiv schlechtweg in Rechnung gestellt: 
Nur in diesem Sinne wollen wir verstanden sein, wenn wir im 
Folgenden die Geständnisse in vier Gruppen nach der Art (dem 
Inhalte) der Motive einteilen, indem wir unterscheiden, ob das 
Motiv a) ethischer, b) unethischer, c) opportunistischer Natar 
oder d) in einem besonderen Affektzustande oder einer psycho- 
pathischen Veranlagung zu suchen ist. 

Dies soll uns nicht hindern, eine Art von Geständnissen 
vorwegzunehmen, welche gewissermassen als der Normalfall 
des Geständnisses gelten kann, jener Fall nämlich, in 
welchem der Beschuldigte über Vorladung oder vor- 
geführt bei Gericht erscheint und über untersuchungsrichter- 
liche Aufforderung entweder in zusammenhängender Rede oder 
durch Beantwortung einzelner Fragen den ihm zur Last ge- 
legten deliktischen Tatbestand der Hauptsache nach wahrheits- 
gemäß angibt. Eine Menge Motive üben hierbei ihren Ein- 
fluss aus; vor allem die Achtung vor dem Gericht, dem die 
Wahrheit zu sagen mitunter auch arge Bösewichter sich an- 
getrieben fühlen, die Zerknirschung oder wenigstens „gedämpfte“ 
Stimmung infolge der Untersuchungshaft, bez. der Einleitung 
des Strafverfahrens überhaupt, die Aussicht auf eine mildere 
Behandlung mit Rücksicht auf das Geständnis, ein Gefühl von 
Resignation, wenn der Beschuldigte weiss, dass der Sachver- 
halt ja ohnedies durch Zeugenaussagen und andere Beweis- 
mittel festzustellen ist, schliesslich auch etwas Selbstachtung, 
da einerseits Leugnen doch nicht jedermanns Sache ist, ander- 
seits die peinliche Situation, sich in arge Widersprüche ver- 
wickelt zu sehen, von manchem zu vermeiden gesucht wird. 
Sehr oft sind diese Geständnisse qualifiziert, meistens in dem 
Sinne, dass nur der objektive Tatbestand unumwunden zuge- 
geben, hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes jedoch der 
Sachverhalt oft auf Kosten der Wahrheit entlastend darge- 
stellt wird; es wird die Urheberschaft des Todes des X zuge- 
standen, die Tötungsabsicht jedoch in Abrede gestellt; die 
schwere Verwundung wird bekannt, aber dolus geleugnet und 
lediglich culpa behauptet, u. s. w. Und selbst wenn ein Ge- 

7 


.— 98 — 


ständnis ganz wahrheitsgetreu ist, scheut sich dennoch der Be- 
schuldigte oft, das Kind beim rechten Namen zu nennen und 
sucht nach x möglichen und unmöglichen Behauptungen nur 
zu dem Zweck, um nicht z. B. das Wort „Diebstahl“ über 
seine Lippen zu bringen. ?) 

Hingegen gibt es auch Geständnisse, die ruhig aus dem 
Motiv der bona fides abgelegt werden, weil sich nicht nur der 
Beschuldigte, sondern auch weitere Kreise dessen nicht bewusst 
sind, welch ungeheures Verbrechen in ihrem Verhalten liegt, 
z.B. im Ansichbringen von Mazzini-Losen und Kossuth-Dollar- 
noten, das in Österreich merkwürdigerweise noch immer das 
Verbrechen der Mitschuld am Hochverrat begründet, so dass 
es vielleicht manchen Numismatiker gibt, der gegebenfalls die 
Überraschung erleben könnte, als Hochverräter behandelt zu 
werden. 

I. Geständnisse aus ethischen Motiven, d. h. solchen Be- 
weggründen, die auf einen gesunden bez. gesund gebliebenen 
Kern von Sittlichkeit im Menschen schliessen lassen. 

a) Die Stimme des Gewissens. Psychologisch be- 
trachtet ist das Gewissen nichts anderes als ein Teil des geis- 
tigen Lebens des Menschen; auch das Gewissen setzt sich zu- 
sammen aus Vorstellungen und Gefühlen. Aber diese Vor- 
stellungen und Gefühle sind zumindest vom subjektiven Stand- 
punkte aus ethischer Natur; der Wille des Individiums unter- 
wirft sich dem höhern Willen der Sitte. „Das Gewissen,“ sagt 
Paulsen „stellt sich dem natürlichen Willen gegenüber als 
eine höhere Willensform dar, der dieser sich zu unterwerfen 
hat. Im Gewissen tritt dem Wollen das Sollen gegenüber“ ?). 
Treffend bezeichnet Oppenheim ?) das Gewissen als „die Tat- 
sache des Regewerdens unserer sittlichen bez. religiösen 
Vorstellungen und Gefühle in bezug auf von uns vorgenommene 
oder erst vorzunehmende oder in der Ausführung begriffene 
Handlungen. Stimmt das Gewissen unserm Willen zu, so bil- 
ligt es die von uns vorgenommenen, begonnenen oder beab- 
sichtigten Handlungen. Wenn jedoch die das Gewissen bilden- 

1) Gross, Hab. f. UR., I, Bd., S. 118. 


3 Paulsen, a. a. O., I. Bd., S. 320 
3) Oppenheim, Das Gewissen (Basel 1898), S. 12. 


— 9 — 


den ethischen Gefühle und Vorstellungen unseren Absichten 
entgegentreten, dann verwirft das Gewissen sie (sog. „mahnen- 
des Gewissen.“) Das Gewissen kann dem natürlichen Wollen 
bei verschiedenen Menschen zu verschiedener Zeit in verschie- 
dener Stärke gegenübertreten. Dem trägt auch der Sprach- 
gebrauch Rechnung, wenn es heisst, „sich aus etwas kein 
grosses Gewissen machen“ usw. Kriminalpsychologisch verdient 
vor allem die Tatsache Beachtung, dass das Gewissen vor Be- 
gehung einer Tat anders sprechen kann als nachher. Der ge- 
wöhnliche Fall ist der, dass es nach der Tat stärker und ein- 
dringlicher spricht als vorher. Als Grund dieser Erscheinung 
haben wir den Umstand anzusehen, dass nach Begehung eines 
Verbrechens eine grössere innere Sammlung platzgreift, der 
Kreis der individuellen Erfahrungen eine Bereicherung erfährt, 
mitunter nachher auch eine gewisse Ernüchterung eintritt, 
welche allerdings bald durch die Stimme des Gewissens ver- 
scheucht wird. Vor der Begehung der Tat sagt das Gewissen zum 
Täter: „Du sollst das und das nicht tun.“ Setzt sich das In- 
dividuum über diese Mahnung hinweg, so besiegt es eben diese 
Stimme des Gewissens; der Wille wird zur Tat. Nach voll- 
brachter Tat tritt aber das Gewissen viel stärker auf. Vor 
der Tat war es noch möglich, der Stimme des Gewissens nach- 
zugeben; nach der Tat sagt das Gewissen: „Das und das, 
was du hättest unterlassen sollen, hast du dennoch begangen; 
nun kannst du dich winden und drehen, soviel du willst: die 
vollbrachte Tat ungeschehen zu machen, ist dir doch unmög- 
lich.“ Halten derartige Erwägungen an, so können sie jenen 
psychischen Zustand bewirken, den wir Gewissensbisse 
nennen; sie bewirken im Gemüte des Täters eine Unruhe, 
welche eine Steigerung erfährt durch die Angst, dem rächen- 
den Arm der Gerechtigkeit zu verfallen. Unter solchen Um- 
stánden erblickt der Verbrecher in der sicheren Aussicht auf 
harte Bestrafung ein kleineres Übel als in dem Zustande an- 
haltender Seelenpein, dem er dadurch ein Ende zu bereiten 
sucht, dass er die Tat gesteht, u. zw. entweder durch Auf- 
geben seimes bisherigen Leugnens oder dadurch, dass er in 
Form einer Selbstbeschuldigung als erster zu seiner Entdeckung 
beiträgt. 


T* 


— 100 — 


„Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ von Schiller kann 
bier als typisches Beispiel angeführt werden. Einer, der beim 
Wilddiebstahl vom Förster ertappt wurde, kam wegen seines 
‚Verbrechens vor Gericht. „Die Richter sahen in das Buch der 
Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsfassung des Beklagten.“ 
So kam der Wilderer auf die Festung „als ein Verirrter und 
verliess sie als ein Lotterbube.*. Niemand wollte mit ihm ver- 
kehren; selbst ein kleiner Knabe, dem er einen Groschen schenkte 
-warf das.Geldstück von sich. Durch all dies tief gekränkt 
ging er an die Ermordung des Fórsters, welcher ihn seinerzeit 
dem Gericht überstellt hatte. Allein das Gewissen liess dem 
‚Verbrecher aus verlorener Ehre keine Ruhe mehr und so ge- 
'stand er zunächst in mehreren Briefen an seinen Landesherrn 
seine Tat ein, schliesslich stellte er sich selbst dem Gericht. — 
Gewiss mag dichterische Freiheit an dieser Darstellung ihren 
Anteil haben; wenn wir in diesem Zusammenhange sie trotz- 
dem anführten, mag dies einerseits durch den Umstand, dass 
Schiller selbst diesen Fall als „eine wahre Geschichte“ be- 
zeichnet, andererseits dadurch, dass Altmeister des Strafrechts 
wie Berner!) und v. Liszt?) auf Schiller Bezug nehmen, 
zur Genüge gerechtfertigt sein. 


Am 24. August 1904 erstattete eine gewisse Julie Herzig, 
die vor Jahresfrist aus längerer Strafhaft entlassen worden 
war, in Prag bei einem Polizeikommissariat die Anzeige, sie 
habe vor vier Jahren bei Auscha in Böhmen eine Scheuer in 
Brand gesteckt und statt ihrer sei ein gewisser Wenzel in 
Haft genommen worden. 


Die Geschwornen in Brüx sprachen 1903 die Bergarbeiters- 
gattin Marie M. vom Morde an ihrem Gatten frei. Am Syl- 
vestertage 1904 erschien die Freigesprochene beim Staatsanwalt 
und erzählte ihm, dass sie die Last ihres bösen Gewissens 
nicht länger ertragen könne und deshalb eingestehe, ihren 
Gatten durch Gift beseitigt zu haben. Die neuerlichen Er- 
hebungen ergaben, dass der Bergarbeiter Andreas M. am 
8. Juli 1903 im Ellyschachte in Freistadtl den schwarzen 


1) Berner, Lb. d. D. Strafr., 18. Auti. (Leipzig 1898), S. 48 f. 
2) v. Liszt in seiner Ztschr., 20. Bd., S. 166. 


— 101 — 


Kaffee, den ihm seine Frau zum Frühstücke mitgegeben hatte, 
trank und dass ihm daraufhin übel wurde. Tags darauf starb 
er an einer konstatierten Arsenikvergiftung. Bei der ersten. 
Verhandlung leugnete die Angeklagte und ein strikter Schuld- 
beweis war nicht vorhanden. Auf Grund ihres Geständnisses, 
dem Gatten eine Messerspitze Arsenik in den Kaffee gemengt 
zu haben, um mit ihrem Liebhaber ungestörter leben zu können, 
wurde nun die Anklage auf Meuchelmord erhoben. Die Ge- 
schwornen sprachen die Angeklagte jedoch nur des Totschlages 
schuldig, worauf sie zu 8 Jahren schweren Kerkers verurteilt 
wurde. | 

Aber nicht immer folgt der Verbrecher sogleich der Stimme 
des Gewissens. Die Aussicht auf sichere Bestrafung, der Ge- 
danke, im Zuchthaus das Leben beschliessen zu müssen, seinen 
Kindern den Makel zu hinterlassen, sie seien die Kinder eines 
Verbrechers, hält manchen davon ab, ein reumütiges Geständnis 
abzulegen. Jedoch nicht immer wird durch derartige Gegen- 
erwägungen und Gegenvorstellungen die Stimme des Gewissens 
unterdrückt. Der Seelenkonflikt kommt zum Ausbruch in dem 
Augenblicke, da sich der Täter dem himmlischen Richter näher 
glaubt denn je, und oft hat die Sterbestunde manch reumütiges 
Geständnis gezeitigt. Bei den Gestiindnissen, welche in arti- 
culo mortis abgelegt werden, spielen gewöhnlich eine Menge 
von Motiven mit. Gewissensbisse, die lange im Innern des 
Täters genagt haben, die durch die Vorstellung von einem 
postmortalen Leben in einer andern Welt erzeugte Furcht vor 
dem Tode, manchmal (wenn auch nicht immer) Momente 
religiöser Natur, vor allem das Bestreben, mit der Welt ver- 
söhnt vor den ewigen Richter hinzutreten: all dies wirkt auf 
den Täter ein, mächtig durch das Zusammentreffen verschie- 
dener Motive und — wenn ich so sagen darf — beschleunigend 
durch den Gedanken, dass jeden Augenblick der unerbittliche 
Tod kommen könne. Gewiss muss anderseits — namentlich 
bei Fieberkranken — sorgfältig darauf gesehen werden, ob 
nicht der physische Zustand auf den psychischen zurückwirkt 
und eine klare Erinnerung durch wilde Fieberphantasie ver- 
drängt wird; ist jedoch letzteres nicht der Fall, so kann mit 
der Richtigkeit des auf dem Sterbebette abgelegten Geständ- 


— 102 — 


nisses stets gerechnet werden, vor allem dann, wenn ein der- 
artiges Gestándnis, wie dies meistens der Fall sein diirfte, frei- 
willig abgelegt worden ist. 


Ein typisches Beispiel hierfür teilt der ehemalige Wiener 
Polizeikommissär Meissner!) im „Evangelimann“, einem 
„getreuen sittengeschichtlichen Bild des Wiener Volkslebens“ 
mit. Auf dem Sterbebette gesteht jemand, seinen Bruder aus 
Neid, Eifersucht und Rache fälschlich der Brandstiftung be- 
schuldigt, ferner seiner Vaterpflichten gegenüber einem un- 
ehelichen Kinde sich durch einen Meineid entledigt zu haben. 
— Vor ungefähr fünf Jahren gestand irgendwo im Elsass 
eine Frauensperson vor ihrem Tode, einige bayrische Offiziere 
und Soldaten, die während des deutsch-französischen Krieges 
bei ihr Quartier bezogen hatten, im Schlafe getötet und ihre 
Leichen im Keller vergraben zu haben, ein furchtbares Ge- 
ständnis, dessen Inhalt sich als völlig wahr herausstellte. 


Auf grässliche Weise war 1900 in einer Schonung zwischen 
Schmöckwitz und Zeuthen die Ehefrau Grasnick ermordet 
worden; der Täter hatte an der Unglücklichen, deren Leiche 
vollständig unbekleidet gefunden wurde, einen Raub- und Lust- 
mord verübt. Alle Bemühungen, den Täter zu ermitteln, 
blieben damals erfolglos. 1905 hat eine der seinerzeit als ver- 
dächtig festgenommenen, später aber wieder freigelassenen 
Personen, der unverheiratete Schlächtergehilfe Teichmann auf 
dem Sterbebett die Mordtat eingestanden. Er ist, bald nach- 
dem er sein Geständnis abgelegt hatte, gestorben. 


Eine bedeutende Steigerung erhalten derartige Gewissens- 
bisse dann, wenn zum Bewusstsein der eigenen Schuld das 
noch weit drückendere Gefühl hinzutritt, ein Unschuldiger 
werde fälschlich für den Täter gehalten. Droht diesem gar 
die irreparable Todesstrafe, so ist der Gedanke an diese stark 
genug, um undecima hora durch ein Geständnis die Vollbring- 
ung eines Justizmordes zu verhindern; dieser Gedanke liegt 
der eine wahre Begebenheit darstellenden Erzählung „Der 


1) Meissner, Aus den Papieren eines Polizeikommissärs, I. Bdch. 
Reclam’sche Universalbibliothek. 


— 103 — 


linke Schacherer“ von Achleitner zugrunde.') In anderen 
Fällen gibt das Bestreben, unschuldig Verurteilte aus Kerker- 
haft zu befreien und ihnen zur Wiedererlangung des ehrlichen 
Nämens zu- verhelfen, mit den Ausschlag. Solch einen Fall 
weiss die jüngste Geschichte österreichischer Strafrechtspflege 
zu verzeichnen, nämlich das umfassende Geständnis des durch 
seine eigene Tochter verratenen Matthias Kaufmann zu Kirch- 
berg in Oberösterreich, er sei der Täter jenes Raubmordes, 
den eine gewisse Giezinger im Kerker abbüsse, während ihr 
vermeintlicher Mitschuldiger inzwischen im Kerker gestorben 
war. 

Auch auf dem Sterbebette kommen derartige Geständnisse 
vor. Der in dieser Hinsicht interessanteste Fall dürfte wohl 
der sein, der den achtzehn Jahre schuldlos im ärgsten Ge- 
fängnis Europas, nämlich auf dem Spielberg zu Brünn, ge- 
fangen gehaltenen Revierförster Anton betrifft. Er war be- 
schuldigt worden, einen sächsischen Reisenden ermordet und 
seines Geldes beraubt zu haben; Anton hatte um die Hand 
einer schönen Weberstochter angehalten, deren Vater in die 
Ehe nur unter der Bedingung einwilligen wollte, wenn ihr 
Zukünftiger 100 Taler mitbrächte. Antons Ersparnisse machten 
jedoch nur die Hälfte dieses Betrages aus. Ein reicher Holz- 
händler, dem er seine Lage schilderte, schenkte ihm die fehlen- 
den 50 Taler. So war Anton in der Lage, seine Werbung zu 
wiederholen. Da dies knapp nach dem erwähnten Morde ge- 
schah, fiel der Verdacht der Täterschaft auf Anton, zumal 
einer seiner persönlichen Feinde ihn durch ein falsches Zeugnis 
belastete. Der wahre Mörder wurde auf dem Sterbebette von 
Gewissensbissen gepeinigt und legte dem Geistlichen gegenüber 
ein Geständnis ab, das er dann vor Zeugen wiederholte.?) 

b) Geständnisse aus Reue. Nahe verwandt mit den 
Geständnissen, deren Ablegung auf Gewissensbisse zurückzu- 
führen ist, sind diejenigen, bei welchen das Motiv in auf- 





1) Achleitner, Geschichten aus den Bergen 1. (Reclam’sche Universal- 
bibliothek), Amschl im Gross’schen Archiv 17. Bd. 94 ff. 

2 v. Costa-Rossetti, Der Briinner Spielberg, 7. Aufl. (Brünn 1903) 
S. 60 f. 


— 104 — 


richtiger Reue zu suchen ist. „Reue“, sagt Paulsen!), „ist 
ein Zeichen, dass die Verletzung nicht der dauernden Willens- 
richtung des Verletzenden entspricht, dass sie aus Irrtum, 
Versehen, Übereilung, Leichtfertigkeit entsprang.“ Aber dies 
gilt nur von der aufrichtigen Reue, als deren besonderes 
Kennzeichen die Beharrlichkeit gelten kann, mit der .der 
Verbrecher an dem einmal abgelegten Geständnisse festhält. 
Die Prüfung dieser Aufrichtigkeit ist freilich eine sehr schwere 
Sache, wenn wir auch nicht gerade Paulsen zustimmen wollen, 
wenn er die Ansicht vertritt, dass „es dem Richter in der 
Regel an Mitteln, die Echtheit der Reue zu erkennen, fehlt.“ ?) 
Doch hüte man sich wohl vor der Gefahr des Simulierens, 
„wie es in Zucht- und anderen Häusern gedeiht, wo ein reuiges 
Wesen als Symptom des Wohlverhaltens angesehen wird‘, wie 
Paulsen, den Nagel auf den Kopf treffend, hervorhebt. Ins- 
besondere wäre es also verfehlt, mit Amschl?°) in dem Ge- 
ständnisse des Sträflings eine Beruhigung zu erblicken. 

Die Geschichte der Strafrechtspflege ist reich an reu- 
mütigen Geständnissen, auch wenn wir die in articulo mortis 
abgelegten Bekenntnisse, bei denen ausser der Reue ja noch 
andere Motive mitwirken, ausscheiden. Ganz besonderes Inter- 
esse verdienen diejenigen Geständnisse aus Reue,. welche sich 
in der Form von Selbstanzeigen und Selbststellungen bei Ge- 
richt äussern. Im Jahre 1850 hat zu Klenowitz in Mähren 
ein Philipp Smutny sein Weib und seine Kinder umgebracht; 
Smutny hatte sich dadurch, dass er seiner Magd Liebesbezeu- 
gungen machte, die Erbitterung seiner Gattin zugezogen. Aus 
Wut darüber tötete er sie des Nachts und, als durch deren 
Schrei die Kinder erwachten, zu weinen und zu schreien an- 
fingen, auch diese. Am anderen Morgen ging er zu Gericht 
und gestand, von Reue erschüttert, seine Tat aus eigenem An- 
triebe ein. Das Urteil lautete auf zwanzig Jahre Kerker, die 
er in der Strafanstalt auf dem Spielberg zu Brünn verbüsste. 
„Smutny soll sich dort eines Attentates auf einen Aufseher 
schuldig gemacht haben, indem er ibn nach einem Wort- 


1) Paulsen, a. a. O., IL Bd, S. 148. 
3 Paulsen, a. a. O., H. Bd., S. 148. 
8) Amschl im Gross'schen Archiv, 12. Bd., S. 3. 


— 105 — 


wechsel mit aller Gewalt gegen eine Mauer schleuderte, so 
dass dieser regungslos liegen blieb. Man glaubt, dass Smutny 
den Aufseher tödten wollte, um zum Tode verurtheilt zu 
werden“.!) | 

c) Gestándnisse aus religiösem Motive. Der 
Irieb, der durch ein begangenes Verbrechen hervorgerufenen 
Seelenpein zu entgehen, veranlasst den Verbrecher nicht immer 
zu einer Selbstbeschuldigung bei Gericht. Dem Bestreben, 
dieser Seelenpein zu entgehen, ohne sich der Gefahr einer 
schweren gerichtlichen Bestrafung auszusetzen, entspringt der 
Gang zur Beichte. Es ist nicht nur für solche Leute ein Ge- 
fühl grosser Beruhigung, in dem Beichtvater einen Menschen 
auf der weiten Welt zu wissen, den man getrost sein Schick- 
sal anvertrauen und sein Herz ausschütten kann, sondern es 
ist dies auch eine Institution der christlichen Kirchen, welcher 
der moderne Staat mit Recht seine Anerkennung zollt dadurch, 
dass er Geistlichen Zeugnisbefreiungen betreffs ihrer im Beicht- 
stuhl gemachten Erfahrungen einräumte.?) Sind daher im 
Beichtstuhl abgelegte Geständnisse an sich betrachtet für den 
Verlauf eines Strafverfahrens irrelevant, so können sie doch 
dann bedeutsam werden, wenn die Absolution nur für den 
Fall eines Geständnisses bei Gericht oder öffentlicher Behörde 
in Aussicht gestellt wird, bez. wenn an den Beichtenden die 
Aufforderung ergeht, zuvor eine falsche Aussage vor einem 
richterlichen Beamten zu berichtigen. Ob derartige Aufforde- 
rungen oft ergehen und Beachtung finden, ist nach der Natur 
der Sache schwer zu ermitteln. Doch glauben wir, dass in 
unserer Zeit, welche wiederholt den Satz, die Religion sei 
Privatsache, vernommen hat, ein Geständnis seitens des Täters 
nicht immer ausdrücklich auf die Beichte zurückgeführt wird, 
wenn auch die Anregung dazu dort erfolgte. In den öster- 
reichischen Alpen hat sich vor Jahren der Fall zugetragen, 
dass ein Wilderer im Beichtstuhle die in Gemeinschaft mit 
einem Genossen begangene Ermordung eines Försters gestand 
und hierauf sich dem Gerichte stellte. — Nach der durch un- 





Y v. Costa-Rossetti, a. a. O., S. 62. 
?) Deutsche St. P. O., $ 52, 1; österr. St. P. O., $ 151, 1. 


— 106 — 


vorsichtiges Hantieren mit einer Grubenlampe entstandenen 
schrecklichen Katastrophe im Silberbergwerk zu Pribram in 
Böhmen ward ein Bergarbeiter Kriz als verdächtig in Haft 
genommen; lange Zeit bestritt er jede Schuld, indem er be- 
hauptete, der von ihm weggeworfene Lampendocht habe weder 
gebrannt noch geglimmt, eine Angabe, die der mitverhaftete 
Bergmann Havelka vollinhaltlich bestätigte. Eines Tages je- 
doch ward Havelka andern Sinnes; er gestand, der Docht des 
Kriz habe noch gebrannt, u. zw. gestand er es deswegen, weil 
nach seiner eigenen Angabe ihm nur für den Fall des Geständ- 
nisses Absolution im Beichtstuhle versprochen worden war. 


Auch wenn wir von der Beichte absehen, begegnen wir 
mitunter Geständnissen, die im religiösen Gefühl des Ge- 
stehenden ihren Beweggrund haben. Wo ein religiöses Gefühl 
im Herzen nicht vorhanden ist, wird es dem Untersuchungs- 
richter nicht gelingen, es zu schaffen. Ist es aber da, dann 
wird es zuweilen nicht schwer fallen, es wachzurufen. Um 
ein einschlägiges Beispiel anzuführen, sei auf einen Verbrecher 
hingewiesen, der nach den Worten des Untersuchungsrichters 
„Halt, falle auf die Knie und bete, dass du die Wahrheit voll 
und ganz sagen wollest, wie sie der Allwissende weiss, vor 
dem du hier kniest“ ein ausführliches Geständnis seiner Tat 
abgelegt hat.!) 


d) Geständnisse aus Liebe. Schon im Hohenliede 
Salomos finden wir das Wort: „Liebe ist stark wie der Tod.* 
Im menschlichen Leben begegnen wir der Liebe als der Trieb- 
feder vieler Handlungen, ethischer wie unethischer. Auch die 
Kriminalistik hat die Liebe als movens agens erkannt und auch 
beim Geständnis in Strafsachen mag sie oft ausschlaggebend 
sein. Dass die Liebe als Motiv derjenigen Geständnisse, die 
(erst) anlässlich einer Vorladung, bez. Vorführung abgelegt 
werden, dürfte doch nur selten der Fall sein; dass dies aber 
dennoch der Fall sein kann, möge in Folgendem seine Be- 
stätigung finden: Zu Valencia wurde Ende August 1827 Domi- 
nicus S. von seiner eigenen Mutter und seiner Gattin, welche 


1) In Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege in den Österr. 
Staaten, hgg. von Pratobevera, 3. Bd. (Wien 1817), S. 140. 


== 107. = 


es dem bestehenden Ehebande zu Trotz mit Philipp R. hielt, 
ermordet. Obwohl Philipp R. erst nachträglich von dem 
Morde erfahren hatte, war doch der Verdacht auf ihn gefallen 
und aus Liebe für die Frau des Dominicus S. bekannte er 
sich als den Mörder und ward zum Tode verurteilt.!) Auch 
Kitka?) rechnet mit Selbstanklagen, die in der Absicht, den 
vom Selbstankläger geliebten Verbrecher der Bestrafung zu 
entziehen, erhoben werden. Solche Geständnisse brauchen 
nicht einmal stets falsch zu sein, wie man nach den Ausfüh-. 
rungen von Kitka annehmen könnte. Ein derartiges Geständ- 
nis kann gewiss wahr sein; z. B. Vater und Sohn befinden 
sch in demselben Amte und eines Tages werden in der 
Kassengebarung Unregelmäßigkeiten entdeckt. Der Sohn ist 
es, der Gelder unterschlagen hat. Allein der Verdacht richtet 
sich gegen seinen in Ehren ergrauten Vater, der unschuldig 
ist, und der Sohn stellt sich dem Gerichte, um von der Person 
des geliebten Vaters jeden Makel fern zu halten. Aber es ist 
ebensogut der umgekehrte Fall denkbar); Liebe zum Vater, 
Sorge um das Fortkommen der Familie, wenn der Vater, der 
Beamter ist, durch seine Verurteilung nicht nur seines guten 
Namens, sondern auch seines Postens verlustig würde, können 
es bewirken, dass der Sohn die Schuld des Vaters auf sich 
nimmt, also ein Geständnis, durch das ein Schuldiger entlastet, 
ein Unschuldiger belastet wird, ablegt. 

Ein Fall eines wahren Geständnisses aus Liebe ist vor 
einigen Jahren in Wien vorgekommen. Am 1. April 1895 
wurde der Advokat Dr. Rothziegel ermordet in seiner Kanzlei 
aufgefunden; der Täterschaft schien sein Sollizitator Eichinger 
dringend verdächtig und so ward er in Haft genommen. 
Eichinger leugnete standhaft. Unter dem Verdachte entfernter 
Mitschuld ward auch seine Frau verhaftet und dies wirkte auf 
Eichinger, der dies zufällig erfuhr, derart ein, dass er nach 
sechstägigem Leugnen endlich mit der Wahrheit herausrückte: 





1) Hitzigs Annalen der deutschen und ausländischen Criminalrechts- 
pflege, Bd. I., Heft 2, S. 373 ff. 

? Kitka, Beitrag z. L. v. d. Erhebung des Thatbestandes der Ver- 
brechen (Wien 1843). S. 121 f. 

3 Kitka, a. a. O., S. 122. 


— 108 — 


„Meine Frau ist unschuldig! Jetzt sag’.ich’s, ich hab’s getan!“ 
Hierauf legte er ein umfassendes Geständnis ab. 

In Galizien ward im Jahre 1874 ein Adalbert A. trotz 
seines Leugnens des Mordes an Franz B. schuldig befunden, 
hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil A. zur kritischen 
Zeit in der Nähe des: Tatortes gesehen und neben der Leiche 
des B. eine blutige Hacke gefunden wurde, die unleugbar dem 
A. gehörte. Am Morgen nach der Verurteilung erschien je- 
mand beim Verteidiger des A. mit der Mitteilung: „Ich bin 
der Bruder des verurteilten Adalbert und will meinen Bruder. 
nicht länger leiden lassen“, gab eine ausführliche Schilderung. 
der Tat und sagte schliesslich: „Nun aber, da mein Bruder 
unschuldiger Weise verurteilt worden ist, lässt mir das Ge- 
wissen keine Ruhe. Ich fühle mich doppelt schuldig, weil 
mein Bruder, der mich nicht verraten will, anstatt meiner. 
leidet. Er ist, wie Sie sehen, an dem Tode des B. ganz un- 
schuldig, und ich allein bin der wirklich Schuldige. Machen 
Sie nun, dass mein Bruder so schnell als möglich frei kommt, 
ich stelle mich selbst dem Gerichte.“ Diesen Fall hat seiner- 
zeit Rosenblatt ausführlich mitgeteilt. 

Auch wäre die Annahme falsch, dass derjenige, der aus 
Liebe ein falsches Geständnis ablegt, dies in der Absicht tun 
müsse, um die von ihm geliebte Person vor dem Verdachte 
gerade der Handlung, die der Gestehende auf sich nimmt, zu 
bewahren; vielmehr kann ein derartiges falsches Geständnis 
auch dem Triebe entspringen, die geliebte Person überhaupt 
nicht — sozusagen — ins Gerede zu bringen. Ich erinnere 
mich an einen Fall, in welchem ein Dieb zur Nachtzeit in 
einem Landhause gesucht und ein junger Mann, den „der 
Liebe Wellen“ an Ort und Stelle verschlagen hatten, als ver- 
.meintlicher Dieb. ergriffen ward; um. die Ehre des Mädchens 
zu retten, bekannte er sich des ibm zur Last gelegten Dieb- 
stahls schuldig, verriet jedoch in seinem Verhör eine derartige 
Unkenntnis des wahren Sachverhalts, dass gegen die Richtig- 
keit seines Geständnisses Bedenken aufkamen, die dadurch, 
dass das betreffende Mädchen als Entlastungszeugin vernommen 
wurde, sich als gerechtfertigt herausstellten. 

Im allgemeinen wird man nicht fehl gehen, wenn man in 


— 109 — 


dem seltenen Falle eines aus Liebe abgelegten Geständnisses 
ein wenig skeptisch ist. Die Liebe ist ein altruistisches Ge- 
fühl und bei altruistischen Gefühlen prävaliert gar oft die 
Rücksichtnahme auf andere gegenüber der Berücksichtigung 
seiner selbst. — Verwandt mit diesen Geständnissen sind * 

e) Geständnisse aus Rücksichten der Freund- 
schaft und der Kameradschaft. Wenn man die Freund- 
schaft mit Paulsen!) als „ein besonders inniges und indivi- 
dualisiertes geselliges Verhältnis“ auffasst, wird man ihre 
Bedeutung mit der Geselligkeit ähnlich finden: „Die Berührung 
mit dem fremden Leben wirkt erregend und befruchtend auf 
das eigene zurück“. Aber die wahre Freundschaft geht weiter, 
indem sie auch ein vollkommenes inneres Verständnis zwischen 
den befreundeten Personen bewirkt, derart, dass man sich 
mehr minder in des Freundes Lebenslage wie in die eigene 
hineinversetzt fühlt. „Einen Freund haben“, sagt Paulsen, 
„heisst um ein Leben reicher sein.“ Die Kameradschaft 
wiederum schafft zwischen mehreren Personen eine gleiche 
Interessenspháre, die sich jedoch nicht auf alle Lebenslagen 
erstreckt, sondern vorwiegend auf einen gemeinschaftlichen 
(erlaubten oder unerlaubten) Beruf beschränkt. 

Sowie Freundschaft und Kameradschaft in Sachen der 
Mittäterschaft wichtige Anhaltspunkte bilden, kommt ihnen 
auch hinsichtlich des Geständnisses in Strafsachen eine bedeut- 
same Rolle zu. Insbesondere mag dies dann der Fall sein, 
wenn ein falsches Geständnis dem Beschuldigten nichts oder 
doch wenigstens nicht viel schadet. Z. B. der A. ist überwiesen, 
6 Diebstähle ausgeführt zu haben und nimmt nun einen siebenten 
einen auf sich, den B. begangen hat, da B. sein guter Freund 
ist und sich gegebenenfalls revanchieren dürfte. . 

Interessant ist eine Art des Gestándnisses, die nach 
Löwenstimm!) in Russland öfters vorkommt. Haben 
mehrere vor einem Gewohnheitsdieb, der es auf Pferde ab- 
gesehen hät, sich nicht anders helfen können, als dass sie ihn er- 
mordéten, so nimmt mitunter ein einzelner die ganze Schuld auf 
sich, um die Genossen, die in gleicher Weise wie er am Morde 


1) Paulsen, a. a. O., II. Bd., S. 309. 
7 Löwenstimm im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 15. 


— 10 — 


beteiligt waren, durch sein Geständnis vor der Verurteilung zu 
bewahren. ! 

In diesem Zusammenhange sei eines interessanten Falls 
aus jüngster Zeit gedacht, der sich auch unter die Geständ- 
nisse aus Opportunismus einreihen lässt. Am 2. November 
1904 wurde in Budapest der Taglöhner Stephan Bango in 
: einer Rauferei durch einen Messerstich getötet. Der Verdacht 
der Täterschaft lenkte sich auf den Handlungsgehilfen Eugen 
Batori, der infolgedessen in Haft genommen ward. Beim Ver- 
hör stellte er jede Schuld in Abrede unter Hinweis darauf, 
ein siebzehnjähriger Fabriksarbeiter, Johann Molikant mit 
Namen, habe ihm die Tat eingestanden. Molikant wurde da- 
rauthin verhaftet und war in der Voruntersuchung der ihm 
zur Last gelegten Tat geständig, weshalb gegen ihn die An- 
klage erhoben wurde. Bei der Hauptverhandlung am 11. Januar 
1905 bekam jedoch die ganze Sache ein anderes Bild. Molı- 
kant erklärte jetzt, bei der Tat gar nicht zugegen gewesen zu 
sein. Batori habe ihn jedoch überredet, die Schuld auf sich 
zu nehmen; Batori werde ihm hierfür 1200 K. geben, für die 
Dauer der Haft seine Mutter unterstützen und überdies für 
die Beistellung eines Verteidigers sorgen; Molikant werde 
höchstens zu drei Monaten verurteilt werden. Bei Gericht 
möge er sagen, nur aus dem Grunde das Messer gezogen zu 
haben, weil Bango auch sein Messer gezückt hielt. Die Staats- 
anwaltschaft liess die Anklage gegen Molikant fallen, da sein 
Alibi durch Zeugen bestätigt wurde. Batori ward nunmehr 
neuerdings verhaftet. 

f) Gestándnisse aus Patriotismus und National- 
gefühl. Geständnisse dieser Art liegen wohl ausschliesslich 
nur dann vor, wenn das Motiv der Tat, die vollbracht oder 
versucht worden ist, ebenfalls auf derartige Beweggründe sich 
zurückführen lässt, so dass Verbrechensmotiv und Geständnis- 
.motiv gleichartig sind. Dennoch besteht zwischen. beiden ein 
weitgehender Unterschied. Während ein derartiges Ver- 
brechen ein Ausfluss des sogen. „verkehrten Gewissens“ 
ist, dessen Wesen nach Oppenheim!) darin besteht, „dass 


1) Oppenheim, Gewissen S. 29. 


— 11 — 


es gute Handlungen als schlecht und schlechte Handlungen 
als gut bezeichnet“ , kann dieser Vorwurf das Motiv des Ge- 
ständnisses solcher Handlungen nicht treffen. Diese Ge- 
ständnisse haben ihr Motiv in der Erwägung, dass hier eine 
patriotische Tat beabsichtigt war und mit patriotischem Stolze 
wird dies eingestanden, ungeachtet der Folgen, die solch ein 
Geständnis haben kann. 

Zwei Fälle aus der deutschen Geschichte mögen als ein- 
schlägig hier Platz finden. 


Am 13. Oktober 1809 ward zu Schönbrunn bei Wien der 
siebzehnjährige Friedrich Staps aus Leipzig, der Sohn eines 
Pastors in Naumburg, auf Befehl des französischen Generals 
Rapp festgenommen; Staps hatte Napoleon I. zu sprechen ver- 
langt und dadurch Verdacht erregt. Man fand bei ihm ein 
grosses scharfgeschliffenes Küchenmesser. Auf die Frage 
Napoleons, wozu er das Messer bei sich trage, erwiderte 
Staps, er sei ein Feind des Franzosenkaisers und mit der 
festen Absicht seiner Ermordung hierher gereist. Auf Napo- 
leons weitere Frage: „Würden Sie mir nicht danken, wenn 
ich Sie begnadigte?“, gab Staps unumwunden zur Antwort: 
„Ich würde Sie doch zu töten versuchen.“ Am 17. Oktober 
1809 ward Friedrich Staps erschossen.) . 

Der zweite Fall betrifft Karl Ludwig Sand, den Mörder 
Kotzebues; ein Schwärmer für Freiheit, Ehre und Vater- 
land und ein begeisterter Anhänger der deutschen Burschen- 
schaft, verliess er am 9. März 1819 Jena und begab sich nach 
Mannheim in der Absicht, Kotzebue, den Feind der Burschen- 
schaft zu töten. Am 23. März 1819 führte er seine Absicht 
aus; frei und offen gab er seine Tat zu und behauptete, sie 
seiner Überzeugung schuldig gewesen zu sein. Nationalgefühl 
hatte ihn zur Tat, Nationalgefühl hatte ihn zum Geständnis 
getrieben und opferfreudig neigte er am 20. Mai 1820 Haupt 
und Nacken dem Schwerte des Scharfrichters. 

g) Geständnisse aus Ehrgefühl. Diese Geständnisse 
nehmen unter den aus ethischen Motiven abgelegten einen her- 
vorragenden Platz ein. Wenngleich wir von jenen Gestánd- 


Omana ee 


*) v. Gottschall in der „Gartenlaube“ 1894, S. 766. 





— 112 — 


nissen, welche wir vorhin als Normaltypus des Gestiindnisses 
in Erórterung gezogen haben, sagten, bei ihnen gebe die Er- 
wägung, man sei sich selbst soviel Achtung schuldig, für seine 
Taten einzustehen, mit den Ausschlag, so war dort dieses 
Motiv eigentlich nur von sekundärer Bedeutung. Bei den Ge- 
ständnissen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, gibt das 
Ehrgefühl den Ausschlag. 

Nicht ohne Absicht bedienen wir uns anstatt des Aus- 
drucks „Ehre“ in diesem Zusammenhange der Bezeichnung 
„Ehrgefühl“. Wir wollen damit dem für die Frage des Ge- 
ständnisses doch nur in untergeordnetem Maße relevanten 
Streit, ob die Ehre innere oder äussere Ehre sei, ausweichen, 
indem wir uns kurzweg für das erstere entscheiden. Innere 
Ehre ist der innere Wert des Menschen !), äussere Ehre die 
Achtung der Mitmenschen vor dem Individuum in bezug auf 
seinen innern Wert. Mag somit auch die Rücksicht auf das, 
was man äussere Ehre nennt und besser Ehrung nennen sollte, 
den innern Wert des Menschen beeinflussen: dort, wo uns der 
Mensch als Individuum wichtig ist, wo wir uns mit seiner 
Psyche zu befassen haben, kommt die Achtung der Mitmenschen 
vor ihm nur soweit in Betracht, als sie sein Tun und Lassen 
beeinflusst, m. a. W. als wir es lediglich mit seiner Ge- 
sinnung zu tun haben. Ist nun die Gesinnung eine derartige, 
dass die Rücksichtnahme auf die Ehre das Individuum von 
einer Unwahrheit abhält, dann haben wir es mit einem Falle 
zu tun, in welchem ein Geständnis aus Ehrgefühl vorliegt. 
Einen derartigen Fall hat die Geschichte der Affaire Dreyfus 
zu verzeichnen gehabt: Am 7. Juli 1898 hatte sich der Kriegs- 
minister Cavaignac für die Echtheit eines Dreyfus belastenden 
Billets verbürgt. Allein Oberst Picquart erklärte sich bereit, 
nachzuweisen, hier liege eine Fälschung vor. Ward auch 
Picquart daraufhin verhaftet, so wurde seinen Worten doch Ge- 
wicht beigelegt und Oberst Henry, der Entdecker dieses Be- 
lastungsdokuments, ins Kriegsministerium beschieden, um nähere 
Auskünfte zu erteilen. Cavaignac verlangte von Henry, er 


1) Über die verschiedenen Auffassungen der innern Ehre vgl. Eckstein, 
Die Ehre in Philosophie und Recht (Leipzig 1889), S. 63 fl. 


— 113 — 


solle auf Offiziersehrenwort erkláren, an der von Picquart be- 
haupteten Fälschung unbeteiligt zu sein. Henry erwiderte, 
das könne er nicht, und gestand, er sei der Fälscher. Am 
30. August 1898 richtete er sich selbst.!) 

lI. Gestándnisse aus unethischen Motiven, d. h. solchen 
Beweggründen, welche vom Standpunkte der Sittlichkeit aus 
Missbilligung verdienen, mögen sie auch manchmal erklärlich 
sein. 


a) Gestándnisse aus Rache, Dass Gestándnisse aus 
Rache abgelegt werden, mag etwas paradox klingen. Rache 
ist der Trieb, Böses mit Bösem zu vergelten, also jemandem, 
in dem man (mit Recht oder Unrecht) seinen Feind erblickt, 
einen empfindlichen Nachteil zuzufügen, um in dem Bewusst- 
sein, den persönlichen Feind empfindlich geschädigt zu haben, 
ein Gefühl der (nicht selten zur Schadenfreude sich steigernden) 
Genugtuung zu empfinden. Diese Genugtuung erleidet natur- 
gemäß eine beträchtliche Einbusse, wenn die Handlung, welche 
zur Befriedigung des Rachetriebs gesetzt wurde, dem Rächer 
selbst zum Nachteil gereicht. Und geradezu für undenkbar 
sollte man es halten, dass derjenige, der Rache nehmen will, 
zu diesem Zwecke eine Handlung begeht, von der er voraus- 
sehen kann, ja voraussehen muss, dass ihre Folgen nicht nur 
auf seinen Gegner, sondern in gleicher Weise auch auf ihn 
fallen werden. Erklärlich ist ein derartiger Vorgang leicht 
für den Fall, dass die gegen den Feind gerichtete Handlung 
nicht einzig und allein dem Motiv der Rache, sondern auch 
dem des Lebensüberdrusses auf Seiten des Rächers entspringt 
(wofür die deutsche Heldensage in der durch K. E. Ebert 
dichterisch verherrlichten Person des Sachsenherzogs Schwerting, 
der als Gast seines Besiegers dessen Haus in Flammen steckt, 
um mit ihm gemeinsam den Feuertod zu erleiden, einen Beleg 
gibt). Dass aber ein Verbrecher sich selbst dem Gerichte 
überliefert, nur um seinen Mitschuldigen, mit dem er sich nach 
der Tat (und wegen der Tat) verfeindet hat, aus Rache ins 
Zuchthaus zu bringen, ist und bleibt eine immerhin seltene 





a 


1) Mittelstädt, Die Affaire Dreyfus (Berlin 1899), S. 23 ff. ; andere 
Geständnisse aus Ehrgefühl siehe bei Weingart, Kriminaltaktik (Leipzig 
1904), S. 13. 

8 


— 114 — 


Erscheinung. Hans Gross teilt einen derartigen Fall in 
seiner „Kriminalpsychologie“* mit, der hier wörtlich angeführt 
sein möge: „1879 war ein alter Mann, Blasius Kern, Morgens 
vollkommen eingeschneit, todt und mit einer schweren Kopf- 
wunde aufgefunden worden. Verdacht eines Raubmordes lag 
nicht vor, und so wurde angenommen, der Mann sei auf dem 
Heimwege, trunken wie gewöhnlich, von einem hoch über 
dem Fundorte führenden Wege abgestürzt und habe sich hier- 
bei den Schädel eingeschlagen. 1881 erschien ein junger 
Bursche, Peter Seyfried, bei Gericht und gab an, er sei von 
der Tochter des Blasius Kern, Julie Hauck, und deren Mann, 
August Hauck, gedungen worden, den alten Mann, der durch 
seine Trunksucht und fortwährendes Zanken unerträglich wurde, 
zu erschlagen, was er auch getan habe. Dafür sei ihm ver- 
sprochen worden — eine alte Hose und drei Gulden; erstere habe 
er bekommen, letztere nicht, und da alles Mahnen nichts helfe, 
so zeige er die Eheleute Hauck nunmehr an. Als ich ihn fragte, 
ob er denn nicht wisse, dass er nunmehr auch gestraft werde, 
sagte er: „Das macht nichts, wenigstens werden es die Anderen 
auch — warum halten sie ihr Versprechen nicht“. Und dieser 
Bursche war zwar sehr einfältig und etwas mikrozephal, aber 
nach gerichtsärztlichem Ausspruche vollkommen zurechnungs- 
fähig. Seine Angaben bewahrheiteten sich bis zum letzten 
Pünktchen.“ *) 


Interessant ist folgender Fall eines Geständnisses aus 
Rachsucht, bei welchem das Geständnis auf eine eigenartige 
Weise erfolgte: 


Anfang Februar 1904 brachten Wiener Zeitungen die 
Nachricht von der Verhaftung des Schneidermeisters Bernhard 
Steinhardt in Wien wegen Verdachtes der versuchten Bank- 
notenfälschung. Die Anzeige war auf eine sehr romantische 
Weise erfolgt. Auf einer tirolischen Heerstrasse fand man im 
Januar 1904 ein anonymes Schreiben, an den „Finder“ 
gerichtet,:] worin ein gewisser Franz; Schlenkrich und 
Bernhard Steinhardt beschuldigt werden, dass sie falsche 
Zehnkronennoten fabriziert hätten. Dieses Schreiben wurde 


1) Gross, Kriminal-Psychologie, 8. 135 f. 


— 115 — 


an die Wiener Polizeidirektion befórdert, und es stellte sich 
heraus, dass Franz Schlenkrich selbst der Briefschreiber sei. 
Er hatte sich im vergangenen Jahr an den Schneidermeister 
mit dem Ansinnen herangedrángt, ihm bei der von ihm ge- 
machten Erfindung eines Luftschiffes behilflich zu sein, hatte 
auch wiederholt von ihm grössere Geldbeträge empfangen, 
wurde aber schliesslich abgewiesen, da sich die Erfindung als 
eine vollkommen missglückte herausstellte. Nun wurden so- 
wohl Schlenkrich als auch Steinhardt verhaftet; die Unter- 
suchung fand in umfassender Weise statt und wurde schliess- 
lich infolge Rücktrittes der Staatsanwaltschaft eingestellt. 

So selten derartige Geständnisse auch vorkommen mögen, 
darf Geständnissen aus Rache immerhin ein gewisses Vertrauen 
auf ihre Richtigkeit, wenigstens in der Hauptsache entgegen- 
gebracht werden. | 

Gestándnisse aus Wut dürften wohl noch seltener vor- 
kommen als die aus Rache, mit denen sie das gemeinsam 
haben, dass auch bei ihnen der Antipathie gegen einen andern 
in drastischer Weise Ausdruck verliehen werden soll. Mir ist 
nur ein einziger Fall eines Geständnisses aus Wut bekannt. 
1904 bedrohte in der Nähe Wiens S. eine Frauensperson mit 
den Worten: „Ich bring’ Sie so um, wie ich den Robl umge- 
bracht hab'*. Robl ist der Name eines Gendarmen, der vor 
mehreren Jahren in Ausübung seines Dienstes ermordet wurde, 
ohne dass man bis heute von dem Täter eine Spur hat. Darüber, 
ob das erwähnte Geständnis des S. auf Wahrheit beruht oder 
nicht, wurde weiter nichts bekannt. 


b) Geständnisse aus Renommiersucht. Solche Ge- 
ständnisse sind vermutlich keine Seltenheiten; als gericht- 
lich e Geständnisse kommen sie wohl nicht weiter in Betracht. 
Aber dass ein Dieb einen andern, den er für seine Absichten 
zu gewinnen trachtet, viel von seinen verwegenen Stückchen, 
darunter auch solchen, die in Wirklichkeit nicht er, sondern 
jemand anderer ausgeübt hat, erzählt, mag ebenso vorkommen, 
wie der Fall sich ereignet hat, dass ein sog. Satisfaktions- 
fáhiger von Duellen zu erzählen wusste, die er de facto nie 
gehabt hat. Anderseits kommt ¡es vor, dass Ereignisse auf- 
gebauscht und mit einem heldenhaften Nymbus umgeben 

gt 


— 116 — 


werden, der bei näherer Untersuchung leicht als Schwefelduft 
erkannt werden kann. In dieser Hinsicht haben es jene Stu- 
denten der Medizin, die bei ihren ersten Sektionsversuchen 
manchen Schnitt, welcher der Leiche zugedacht war, in die 
eigene Hand führten, die sie dann in einem Verband tragen, 
von dem sie behaupten, er wäre ihnen auf dem Kampfplatze 
der Ehre angelegt worden, zu einer gewissen Sprichwörtlich- 
keit gebracht. Oft handelt es sich in solchen Fällen um harmlose 
Scherze, wie man sich sie nur mit seinesgleichen erlaubt. 
Und obwohl der Scherz an sich gewiss nicht unethisch ist, 
möge ein Hinweis auf ihn als Motiv eines (aussergerichtlichen) 
Geständnisses in diesem Zusammenhange gestattet sein. 


c) Geständnisse aus Opportunismus. Darunter 
seien jene in den verschiedensten Absichten abgelegten Ge- 
ständnisse, speziell spontane Selbstbeschuldigungen, zusammen- 
gefasst, als deren gemeinsames Motiv das Streben gelten kann, 
durch das Geständnis einen Vorteil zu erlangen, auf welchen 
dem Verdächtigen ein Anspruch kraft Gesetzes nicht zusteht. 
Es scheiden daher in diesem Zusammenhange jene Geständ- 
nisse aus, deren Motiv in dem Streben nach Schaffung eines 
Milderungsgrundes zu suchen ist, zumal wir dieser Geständ- 
nisse unter dem Gesichtspunkt des bereits erwähnten Normal- 
falls von Geständnissen in Strafsachen gedacht haben. Die 
hierher zu subsummierenden Fälle sind der mannigfachsten Art. 

Es werden Gestándnisse abgelegt in der Absicht, sich 
einer Verurteilung gänzlich zu entziehen. Zwei Möglichkeiten 
sind hierbei auseinander zu halten: Entweder ist die Strafe, 
deren Verbüssung jemand durch sein Geständnis entgehen 
will, bereits zuerkannt (dass sie in Rechtskraft erwachsen sei, 
ist keineswegs hierzu erforderlich), oder die Verurteilung steht 
noch bevor. Selbstverständlich ist ein aus diesem u. zw. 
nur aus diesem Motive abgelegtes Geständnis stets falsch. 
Der Vorgang ist ungefähr nachstehender: Ein Verbrecher, der 
ein ihm zur Last gelegtes Verhalten bereits zugestanden hat, 
bez. deswegen schon verurteilt ist, gesteht nunmehr ein 
Verbrechen ein, welches er nicht begangen hat. In der 
sicheren Erwartung, sein Geständnis werde sich als unwahr 
erweisen, rechnet er etwa damit, dass man diesem Umstande 


— 117 — 


quasi „rückwirkende Kraft“ beimessen und auch das früher 
abgelegte Geständnis der wirklich begangenen Tat als hinfällig 
oder doch zumindest erschüttert ansehen und ihn straflos aus- 
gehen lassen werden; und ist dies nicht gerade der Fall, so 
hofft der Gestehende doch, sich persönliche Vorteile zu ver- 
schaffen. Über ein falsches Geständnis, abgelegt in der Ab- 
sicht, einer bereits zuerkannten Strafe zu entgehen, teilt 
Kitka!) Folgendes mit: „Ein Sträfling, welcher wegen Ver- 
brechens des Diebstahls zu mehrjährigem schweren Kerker 
verurteilt wurde, zeigte bei dem Kriminalgerichte inB.. 

an, dass er einen ihm den Namen nach unbekannten Menschen 
ermordet und den Leichnam verscharrt habe. Derselbe be- 
schrieb den Ort, an welchem die Tat verübt und der Er- 
mordete verscharrt wurde. Das Kriminalgericht konnte aber 
ungeachtet aller angewandten Mühe diesen Ort nicht ausfindig 
machen und erhob mehrere Umstände, welche mit der Angabe 
des Sträflings in einem offenbaren Widerspruche standen. 
Nachdem man den Selbstankläger das Unwahrscheinliche seiner 
Aussagen vorgehalten und ihn hierüber zur Verantwortung 
gezogen hatte, gestand derselbe ein, dass er durch seine falsche 
Selbstanklage beabsichtigt habe, zum Auffinden des Leichnams 
an den bezeichneten Ort geführt zu werden, um hierdurch die 
Gelegenheit zur Ergreifung der Flucht zu erhalten!“ 


Auch der Dieb, von dem H. Gross?) erzählt, hat nach 
seiner Verurteilung wiederholt, angeblich von Gewissensbissen 
getrieben, Geständnisse darüber abgelegt, wo er das viele Geld 
vergraben habe. Jedesmal war es ein ganz anderer Ort und 
jedesmal von der Strafanstalt weiter entfernt; gefunden wurde 
nie etwas und als (beim letzten Versuche) wieder gegraben 
wurde, schrie der Dieb plötzlich: „Da ist's!* und wollte die 
so hervorgerufene Aufregung zu einem Fluchtversuche be- 
nützen. Als er aber sah, dass alles vergeblich sei, bekam er 
keine Gewissensbisse mehr und „gestand“ auch nichts weiter. 

Haben wir es in diesen beiden Fällen mit falschen Ge- 
stándnissen, welche in der Absicht, einer bereits zuerkannten 





iKitka,a a. O., S. 112, Anm. **, 
2 Gross, Hdb. f. UR., II. Bd., S. 280. 


— 118 — 


Strafe sich zu entziehen, abgelegt worden waren, zu tun, han- 
delte es sich in dem durch v. Feuerbachs!) Darstellung 
berühmt gewordenen Fall des Xaver Reth darum, durch ein 
falsches Geständnis des Vatermordes der Verhängung einer 
Diebstahlsstrafe vorzubeugen. Der Fall ist nie ganz klar ge- 
worden, die Möglichkeit jedoch, dass Reth damit rechnete, 
wenn sein Geständnis wegen Vatermordes sich als unwahr 
herausstellen, der ihm zur Last gelegte Diebstahl nicht tragisch 
genommen werde, nicht ganz von der Hand zu weisen. So 
wurde er denn auch in letzter Instanz freigesprochen, „weil 
es immer als ebenso möglich gedacht werden müsse, dass 
das Bekenntnis des Vatermordes von Xaver Reth in der Ab- 
sicht abgelegt worden sei, um es glaubhaft zu machen, dass 
er schon zur Zeit seines früheren Bekenntnisses der Diebstähle 
an einer Abwesenheit oder Verwirrung seines Verstandes ge- 
litten habe, sohin um den aus diesem Bekenntnisse der Dieb- 
stähle wider ihn hervorgehenden Beweis, wo nicht zu heben, 
doch zu schwächen, — als es möglich sei, dass er aus Reue 
und um sein Gewissen durch das Erleiden der verdienten 
Strafe zu beruhigen, abgelegt habe“ (?). 


Im Juni 1904 ward ein Th. T. in Floridsdorf bei Wien 
unter dem Verdachte des Mordes verhaftet. Es gelang ihm 
zwar der Alibibeweis; allein Blutflecken und ein für seine 
Verhältnisse hoher Geldbetrag liessen den Mann immerhin 
wegen eines andern Verbrechens dringend verdächtig erschei- 
nen. Die Flecken führte der Verhaftete auf Nasenbluten zu- 
rück; betreffs des Geldbetrages legte er ein Geständnis ab, die 
Summe in einer Geldbörse auf dem Floridsdorfer Bahnhof ge- 
funden und sich angeeignet zu haben; um einen Teil dieses 
Geldes habe er sich Hemd, Hose, Unterhose und Stiefel ge- 
kauft. Diesem Geständnis stand die Wiener Polizei sehr skep- 
tisch gegenüber und wandte sich an die Heimatsgemeinde des 
T. mit der Anfrage, ob nicht in ihrer Umgebung ein Verbrechen 
verübt worden sei, bei welchem Blut geflossen sein müsse. 
Die Antwort bestätigte den Verdacht; in der Nähe der Ge- 


1) v. Feuerbach, Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, 
3. Aufl. (Frankfurt a. M. 1849), S. 111—119. 


— 119 — 


meinde war tatsächlich ein blutiger räuberischer Überfall vor- 
gekommen und die Personsbeschreibung des Täters passte 
genau auf T. Sein Geständnis war daher in der Absicht ab- 
gelegt worden, um nur wegen eines minder schweren als des 
begangenen Verbrechens abgeurteilt zu werden. 

Aber auch in der Absicht, die Gewährung eines augen- 
blicklichen Genusses zu erreichen, werden (restándnisse ab- 
gelegt. So wird!) erzählt von einem Inquisiten, der einem vorbei- 
gehenden Kriminalbeamten über Hunger klagte und ihm dann 
vor Freude darüber, dass dieser ihm ein Leib Brot reichte, 
ein umfassendes, vollkommen wahrheitsgemäßes Geständnis ab- 
legte. In Budapest stellte vor einigen Jahren ein Verbrecher, 
der beim Anblick des gemütlich rauchenden Beamten Tantalus- 
qualen empfand, diesem für den Fall, dass er ihn einige Tabaks- 
züge machen lasse, ein Geständnis in Aussicht. Der Beamte 
kam diesem Ansinnen nach und der Verbrecher erfüllte sein 
Wort. 

III. Geständnisse aus anderen Veranlassungen. Eine er- 
schöpfende Anführung aller Geständnismotive ist ein Ding der 
Unmöglichkeit. Auch wäre es ungemein schwer, wenn nicht 
geradezu unmöglich, die Motive der Geständnisse und die Ge- 
mütsstimmungen, in welchen sie abgelegt werden, nach einem 
einheitlichen Gesichtspunkte einzuteilen; denn eine derartige 
Gruppierung hätte einerseits den Erfolg, dass diese oder jene 
Geständnisart eine Gruppe für sich bilden würde, während es 
anderseits Gattungen von Geständnissen geben würde, hinsicht- 
lich welcher die Einreihung in diese oder jene Gruppe auf 
unüberwindliche Schwierigkeiten stossen würde. Es sei daher 
gestattet, ehe wir zu den psychopathischen Geständnissen über- 
gehen, einiger anderer sub I und II nicht gut unterzubringender 
Geständnisarten zu gedenken, welche das gemeinsam haben, 
dass neben dem Motiv hauptsächlich die Gemütsverfassung den 
Ausschlag gibt. 

a) Geständnisse aus Reue. Die Reue ist nicht nur 
eine ethische Eigenschaft, sondern sie bewirkt in den meisten 
Fällen auch eine psychische Veränderung des Individuums und 





1) *,* in Pratobeveras Materialien für Gesetzkunde und Rechts- 
pflege, 3. Bd. (Wien 1817), S. 140. 


— 120 — 


auch von diesem letzteren Gesichtspunkte aus kommt sie für 
das Geständnis in Betracht, weshalb wir dieser Art der Ge- 
ständnisse auch in diesem Zusammenhange gedenken wollen. 
In gewisser Hinsicht verhält es sich mit der Reue so wie mit 
der religiösen Gesinnung: es müssen auch bei der Reue An- 
sätze, Keime schon vorhanden sein. Ist dies der Fall und 
wird an die Reue appeliert, kann dies Erfolg haben. Ist aber 
kein Funken von Reue da, so wird es auch dem redegewand- 
testen Untersuchungsrichter nicht gelingen, eine reumütige Ge- 
sinnung erst wachrufen zu können. 

Einen bemerkenswerten Fall eines reumütigen Geständ- 
nisses hat Kitka!) verzeichnet. Eine Mutter hatte ihren 
zwölfjährigen Sohn ums Leben gebracht und war lange Zeit 
zu einem Geständnisse nicht zu bewegen; da sagte Kitka zu 
ihr: „Andere Mütter freuen sich, Kinder zu haben. Du hast 
einen einzigen Sohn gehabt, er war brav, arbeitsam, lernte 
sehr fleissig, und diesen einzigen Sohn, der vielleicht die ein- 
zige Stütze in deinem späteren Alter für dich geworden wäre, 
hast du umgebracht.“ Da brach die Beschuldigte in heisse 
Thränen aus, schluchzte einige Minuten und nach den wohlge- 
meinten Worten: „Bekenne lieber!“ legte sie ein Geständnis 
ihrer Tat ab. 

b) Geständnisse aus Resignation. Die Resignation 
ist die Ergebung in das Schicksal: und insofern mit der Reue 
verwandt. Mehr minder kommt Resignation vielleicht bei jedem 
Geständnis in Strafsachen in Betracht, wenn auch nicht immer 
in dem Maße, dass wir von jedem Geständnisse behaupten 
könnten, es sei aus Resignation abgelegt. Allein es gibt Fälle, in 
denen unter allen zur Ablegung eines Geständnisses hinwirken- 
den Momenten das der Resignation in dem Grade prävaliert, 
dass wir es schlechthin als die nächste und hauptsächlichste 
Veranlassung des Geständnisses ansehen können. Insbesondere 
gilt dies von jenen gar nicht seltenen Geständnissen, die Leute 
ablegen, welche als letztes Mittel, das sie aus einer verzweifelten 
Lebenslage ihrer Ansicht nach noch hätte retten können, eine 
verbrecherische Handlung erblicken, dann aber, wenn sie zu 
der Erkenntnis gelangt sind, auf diesem Wege weder ein noch 

1) Kitka, a. a. O., S. 221. 


— 121 — 


aus zu können, sich selbst der Behörde stellen, wie z. B. Wechsel- 
fälscher, die, wenn der Zahlungstag, der ihre wirtschaftliche 
Passivität vor aller Welt enthüllen und auch die Fälschungen 
über kurz oder lang an den Tag bringen muss, herannaht, 
„der Not gehorchend“ und doch aus eigenem Trieb ihre Machi- 
nationen der Behörde eingestehen. Geständnisse, welche aus 
solchen Motiven abgelegt sind, beruhen denn auch meistens 
der Hauptsache nach auf Wahrheit. 


Aber auch der Tätigkeit der Behörden kann es erst ge- 
lingen, derartige Geständnisse zu erlangen. Insbesondere dann, 
wenn jemandem eine tatsächlich von ihm begangene Tat zur 
Last gelegt wird, aber ausser dieser noch andere sein Gewissen 
belasten, denkt er sich „wenn schon — denn schon“ und ge- 
steht auch die anderen ein. Ein vor einigen Jahren ver- 
storbener Professor der Wiener medizinischen Fakultät er- 
stattete im Januar 1900 die Anzeige, aus seiner Kasse sei eine 
wertvolle Brillantbroche gestohlen worden. Die Erhebungen 
belasteten des Professors Diener und dieser gestand nicht nur 
den zur Anzeige gebrachten Diebstahl, sondern gab zu, auch 
andere Wertsachen entwendet zu haben. — In Teschen (Österr.- 
Schlesien) wurde 1904 ein gewisser Tazaba zum Tode ver- 
urteilt, weil er vor ca. drei Jahren seine Schwiegermuttter 
ermordet hatte; einige Wochen nach seiner Verurteilung liess 
er sich dem Untersuchungsrichter vorführen und legte das 
Geständnis eines Doppelraubmordes ab. — Anfang August 1904 
meldete sich in Jägerndorf (Österr.-Schlesien) ein 22 jähriger 
Kellner bei der Polizei als unterstandslos und gestand bei 
dieser Gelegenheit, im Jahre 1901 einen Einbruchsdiebstahl in 
Wien begangen zu haben, den ein Unschuldiger mit sechs 
Monaten Kerker büssen musste. 


In diesem Zusammenhange sei darauf hingewiesen, dass 
die modernen technischen Hilfsmittel der Polizei manches Ge- 
ständnis zu Tage gefördert haben. Nur ein Fall sei hier mit- 
geteilt: Ein Diener ward in der Wohnung seines Herrn erhängt 
aufgefunden und ringsherum war alles ausgeraubt. An einer 
zerbrochenen Fensterscheibe fand man einen Daumenabdruck, 
den Bertillon photographierte, vergrösserte und unter einer 


éso 199 = 


Million von Abdrücken identifizierte, was zur Eruierung des 
Täters führte und diesen zum Geständnis brachte.!) 


In der reumütigen Resignation liegt ein ungemein mäch- 
tiger Trieb zur Wahrheit; ihn mit erlaubten und zweckmäßigen 
Mitteln zu fördern, sollte in schwierigen Fällen oft versucht 
werden. 


Mächtig ist auch der Einfluss des Tatortes auf den Ver- 
brecher. Wenn jeder Baum, jeder Strauch, jeder Stein den 
Täter daran erinnert: „Hier bin ich, hier ist er gestanden, als 
es geschah“, gibt manch Verstockter sein Leugnen auf, legt 
ein Geständnis ab und solch ein Geständnis ist wohl immer 
buchstäblich wahr. Feuerbach?) erzählt von einem Mörder, 
der drei Jahre standhaft leugnete, allein an die Stätte seines 
Verbrechens geführt vom Wahrheitstrieb geradezu überwältigt 
wurde und seine Tat gestand. — Kindesmörderinnen, denen 
stets ihre kleinen, unschuldigen Opfer erscheinen 3), werden ge- 
ständig am Orte der Tat. 


Auch einzelne Gegenstände, die zur Tat in Bezienungen 
stehen, können zum Geständnisse drängen. Zwei Wilderer 
hatten einen Förster ums Leben gebracht. Der eine der Täter 
legte nach einer Beichte ein Geständnis ab, der andere hin- 
gegen leugnete beharrlich, ungeachtet des bereits abgelegten 
Geständnisses seines Genossen. Als man ihm aber am Orte 
der Tat des ermordeten Försters Gewehr zeigte, welches diesem 
im Handgemenge entglitten und hernach von den Mördern in 
einem Gebüsch verborgen ‚worden war, hielt auch der zweite 
Täter mit der Wahrheit nicht länger zurück. 


c) Gestándnisse aus Verblüffung. Während die 
Resignation als Geständnisveranlassung ein allmählich vor sich 
gehender Seelenvorgang ist, kann die Verblüffung als Geständ- 
nismotiv als das gerade Gegenteil von ihr aufgefasst werden. 
Geständnisse aus Verblüffung zählen wohl zu den grössten 
Raritäten der Strafrechtspflege. Ein reicher Landmann be- 


1) Näcke im Gross’schen Archiv, 14. Bd., S. 362; vgl. auch Paul, Hdb. 
d. Kriminal. Photographie (Berlin 1900), S. 17. 

2 v. Fenerbach, Kriminalrechtsfälle, II. Bd., S. 15. 

2) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 612. 


— 123 — 


merkte den Abgang etlicher silberner Lóffel; er nahm seine 
Dienstleute ins Gebet — erfolglos. Da liess er alle seine Leute 
an einem Feierabend um einen grossen Tisch treten, steckte 
seinen Kopf unter den Tisch und hiess sie, dasselbe zu tun. 
Dann fragte er: „Haben alle das getan?“ Ein einstimmiges 
„Ja“ war die Antwort. „Der Dieb auch?“ „Ja“, lautete die 
vereinzelte Stimme des Stallknechts, bei dem das gestohlene 
Gut auch wirklich gefunden wurde. Der schlaue Landwirt 
hatte einen richtigen psychologischen Gedanken ausgeführt: es 
hatte sich ihm um eine so ausgefallene Idee gehandelt, dass 
ihre Durchführung bei den Beteiligten einen Zustand schaffen 
werde, der alle andere Erwägung ganz in den Hintergrund 
treten lassen werde; dies war ihm gelungen: der Täter hatte 
sich verraten. | 

Bei Naturvölkern gibt es noch heute eine Menge Triks, 
welche Verblüffung hervorzurufen bezwecken, die den wahren 
Täter zu einem Geständnis veranlasst. !) 

d) Geständnisse aus Zwang. Dem Zwang als Ge- 
ständnismotiv kommt in der Gegenwart gewiss. keine so grosse 
Bedeutung zu wie einstens, da im Dienste des Inquisitionspro- 
zesses die Folter als Mittel zur Beantwortung der peinlichen 
Frage ihre Dienste zu versehen hatte. Gleichwohl kommt er 
als Geständnismotiv leider auch heute noch dann und wann 
vor, u. zw. sowohl als absoluter, wie auch als psychologischer 
Zwang, welcher durch Furcht und Angst, also vor allem durch 
Drohungen und Misshandlungen begründet wird. 

Es ist, wenn wir nach Beispielen Umschau halten wollen, 
gar nicht notwendig erst auf einen Untersuchungsrichter aus 
dem Anfang des 19. Jahrhunderts zurückzugehen, der in roher 
Weise einen Mörder in das Zimmer, in welchem der Mord 
vollbracht wurde, zur Nachtzeit einsperren liess und als der 
Mörder unter dem Eindrucke einer Vision ein Geständnis 
ablegte, seiner hehren Aufgabe als Untersuchungsrichter ge- 
recht geworden zu sein glaubte. Schliesslich wird heutzutage 
niemand einem Untersuchungsrichter einen Vorwurf daraus 
machen, wenn zufällige Umstände einen Beschuldigten in Furcht 


') Vgl. Hellwig im Gross'schen Archiv, 18. Bd., S. 221. 


— 124 — 


versetzen, unter deren Eindruck er dann ein Geständnis ab- 
legt; einen derartigen Fall teilt Gross!) mit. Die Tatsache, 
dass ein richterlicher Beamter einen bei einer Studentenmensur 
beschlagnahmten Säbel in die Hand nahm, um ihn einer harm- 
losen Betrachtung zu unterziehen, veranlasste einen Dieb, welcher 
eben verhört wurde und sich hierbei aufs Leugnen und Lügen 
verlegte und beim Anblick der scharfen Waffe meinte, im 
nächsten Augenblick zumindest gespiesst oder geköpft zu werden, 
zu einem ausführlichen Geständnis. 


Hingegen kommen Fälle vor, in welchen in geradezu 
barbarischer Weise Geständnisse erpresst wurden. Was von 
solchen Geständnissen zu halten ist, möge aus Folgendem her- 
vorgehen: Im Jahre 1882 war die Bauersfrau A. unter dem 
Verdachte der Brandstiftung beim Schnapshändler L. zu X. in 
Galizien verhaftet worden. Laut Gendarmerieanzeige war sie 
vollkommen. geständig und auch in der Voruntersuchung legte 
sie ein Geständnis ab. Das Geständnis vor dem Gendarmen 
war nach dessen Zeugenaussage freiwillig abgelegt worden. 
Beide Geständnisse stimmten inhaltlich vollkommen überein 
und schienen auch insofern glaubwürdig, als die anderweitigen 
Beweiserhebungen die Anwesenheit der Beschuldigten am Tat- 
orte zur kritischen Zeit ergeben hatten. Da kam die Haupt- 
verhandlung und — der Widerruf der Geständnisse; er be- 
= wirkte eine Konfrontierung mit dem Gendarmen, der verwirrt 
wurde, zu stottern begann und schliesslich sagte, die A. habe 
vor ihm kein Geständnis abgelegt. „Es ist nicht wahr“, donnerte 
ihn die A. an, „ich habe vor Ihnen gestanden, weil Sie mich 
mit der einen Hand würgten und mit der andern so lange 
auf den Kopf schlugen, bis ich zu gestehen gezwungen war, 
um Ruhe zu haben.“ Der Gendarm wurde blass und schwieg. 
Vor dem Untersuchungsrichter wollte die A. ihr Geständnis 
widerrufen, doch schrie er sie an und sagte, wenn sie leugne, 
verzögere sie die Untersuchung und erhalte eine grössere 
Strafe, da sie sich eines Milderungsgrundes beraube, worauf- 
hin die A. ihr Geständnis aus Furcht wiederholte.? — Franz 
T. ward unter dem Verdachte, einen alten Dorfschullehrer um 

1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 640. 

*) Rosenblatt in Goltdammers Archiv. 31. Bd., S. 447 f. 


— 125 — 


6000 Gulden bestohlen zu haben, verhaftet. Nach anfäng- 
lichem Leugnen legte er ein Geständnis ab, durch welches er 
auch seine Familie stark belastete. Nach zwei Monaten 
Untersuchungshaft widerrief er es mit der Begründung, er sei 
vom Gendarmen K. zum Geständnis gezwungen worden; dieser 
habe ihn ans Bett angekettet, an Händen und Füssen ihm 
Schellen angelegt und ihn so lange mit einem Rohr geschlagen, 
bis er, um weiteren Folterungen zu entgehen, die im ganzen 
Ort allgemein bekannten Einzelheiten der Tat wiederholte, die 
Schuld auf sich nahm und über Andrängen des Gendarmen 
seine Angehörigen mitbeschuldigte; und — horribile dictu — 
diese Entstehungsgeschichte seines Geständnisses stellte sich 
als vollkommen richtig heraus.) 

Im November 1903 widerrief ein 16 jähriger Majestäts- 
beleidiger vor den Geschworenen in Prag sein auf der Polizei 
abgelegtes Geständnis und erklärte, er habe sich beim polizei- 
lichen Verhör durch das Versprechen, er und seine Mitverhaf- 
teten würden dadurch auf freien Fuss gesetzt werden, bewegen 
lassen, Taten einzugestehen, die er nicht begangen habe. Auf 
dieses Geständnis sei auch die Zitation seines Vaters auf die 
Polizei maßgebend gewesen, der ihm die Sorge geschildert, 
die ihm seine Verhaftung verursacht habe, und ihm sagte, 
seine Mutter sei darob erkrankt; so wenigstens wurde das 
widerrufene Geständnis motiviert. In diesem letztern Falle 
haben wir es mit psychologischem Zwange zu tun. 

In einem andern Fall, der im März 1905 vor den Ge- 
schworenen in Wien zur Verhandlung kam, hatte der An- 
geklagte anlässlich des polizeilichen Verhörs ein wahres Ge- 
ständnis abgelegt, jedoch fälschlicherweise einen Mittäter ge- 
nannt. Bei Gericht rechtfertigte er sich dahin, es sel der ihn 
verhörende Polizeikommissär in ihn gedrungen und habe ihm 
die Enthaftung in Aussicht gestellt, wenn er seinen Komplizen 
nenne. Zwischen dem als Zeugen vernommenen Polizeikommissär 
und dem Präsidenten der Hauptverhandlung entspann sich hier- 
über folgender Dialog: Zeuge: Ich habe nur gesagt, er kann 
eher frei werden, wenn er ein volles Geständnis ablegt. — 
Präs.: Das war etwas weit gegangen, denn über die Enthaf- 

') Rosenblatt, a. a. O., S. 448 f. 


— 126 — 


tung in solchen Fällen hat nicht die Polizei zu entscheiden. 
— Zeuge: Ich habe nicht gesagt, ich werde ihn enthaften, 
sondern er kann eher enthaftet werden, wenn er die Wahrheit 
angibt. — Präs.: Sie waren eben der Überzeugung, dass ein 
zweiter dabei gewesen sein müsse. — Zeuge: Ja, nach der 
Sachlage schien dies gewiss. 


Als eine besondere Art des psychologischen Zwanges kann 
die Suggestion gelten. So bestritten ihre Natur ist: darin 
kommen alle Definitionen ein, dass Suggestion soviel wie Be- 
einflussung, Eingebung bedeutet, dass jeder Mensch mehr 
minder suggestibel ist und daher mehr minder dem Zwange 
der Suggestion unterliegt, ohne Rücksicht auf die ihm zuteil 
gewordene Vorbildung, wenngleich die Annahme, dass der Ge- 
bildete nicht in dem Maße wie der minder Gebildete suggestibel 
sei, zweifelsohne vollauf gerechtfertigt ist. Nach Placzek?) ist 
Suggestion die Eingebung von Vorstellungen, durch die ein 
Mensch auf den anderen psychisch einwirkt. Ist nun auch 
mehr minder jeder Mensch suggestibel, so ist er es doch nicht 
für alle Eingebungen ?2); maßgebend sind auch hier persönliche 
Momente, unter ihnen nicht in letzter Linie das sittliche Niveau, 
auf welchem das Individuum steht. Dass nun derartige Ein- 
gebungen falsche Geständnisse zeitigen können, hat die Erfah- 
rung gelehrt. Im Fall Borras begegnen wir einem falschen 
Geständnisse des Mordes, unter dem Einflusse der Suggestion 
abgelegt, wie Bernheim ausgeführt hat, und Liégeois er- 
zählt von einer Adele B., die sich fälschlich der Leibesfrucht- 
abtreibung bezichtigte; sie hatte sich durch intensives Zureden 
seitens ihrer Eltern, die volle Wahrheit zu sagen, ein Geständ- 
nis suggerieren lassen; dass dieses falsch war, ergab sich aus 
dem Befunde des Gefängnisarztes, der sie nach ihrem Straf- 
antritt untersucht und ein vorgerücktes Stadium der Schwanger- 
schaft an ihr festgestellt hatte.3) Und auf nichts anderes als 
Suggestion, freilich gefährlichster Art, nämlich durch die Presse 


1) Placzek im Gross'schen Archiv, 2. Bd., S. 133. 

2) v, Schrenck-Notzing im Gross'schen Archiv, 5. Bd., S. 10. 

2) v. Schrenck-Notzing, a. a. O., S. 16; derselbe, Über Sugges- 
tion und Erinnerungsfälschung im Berchthold-Process (Leipzig 1897), S. 75. 


— 127 — 


führt es v. Schrenck-Notzing!) zurück, dass sich wäh- 
rend der 14tágigen Dauer des Münchner Berchthold-Prozesses 
nicht weniger als sieben Personen mit dem Geständnis meldeten, 
den dem Berchthold zur Last gelegten Mord begangen zu haben, 
obwohl nach Lage des Falles nur einer als Täter in Betracht 
kommen konnte; als solcher wurde Berchthold verurteilt; ob 
mit Recht, wollen wir dahingestellt sein lassen. | 


Das eine sei aber schliesslich erwähnt, dass suggerierte 
Aussagen an sich betrachtet keineswegs ein Symptom einer 
anormalen psychischen Veranlagung sind und daher an dieser 
Stelle und nicht erst im Folgenden sie zu erwähnen gerecht- 
fertigt ist. 

IV. Geständnisse aus psychopathischen Gründen. Hier- 
unter seien jene Geständnisse und insbesondere Selbstanzeigen 
zusammengefasst, die in einer ganz individuellen psychologischen 
oder richtiger psychopathischen Veranlagung der sie ablegenden, 
bez. erstattenden Personen ihren Beweggrund haben, sei es, 
dass die Tat selbst aus einem mehr oder minder psychopathischen 
Grunde begangen wurde, sei es, dass lediglich das Geständnis 
en derartiges Motiv hat. Wenn v. Krafft-Ebing sagt, die 
Tat des Wahnsinnigen könne ganz gut so ein Motiv haben, 
wie die des geistig Gesunden ?), wenn Spielmann?) direkt 
sagt, dass Reue Geisteskrankheit nicht immer ausschliesse, so 
ist es nicht im mindesten unsere Absicht, hierhinein eine 
Bresche zu schlagen; vielmehr sollen hier nur jene Geständnisse 
angeführt werden, die unter Umständen erfolgen, die wir beim 
geistig Gesunden nicht antreffen, Geständnisse, deren Glaub- 
haftigkeit oft nur mit grosser Reserve angenommen zu werden 
verdient, dies sowohl nach den Ergebnissen der Psychiatrie als 
auch nach den bisherigen Erfahrungen der Praxis. 

Heimweh kann eine derartige psychopathische Veränderung 
hervorrufen, dass der sonst ganz ethisch veranlagte Mensch 





1) v. Schrenck-Notzing im Gross'schen Archiv, 5. Bd., S. 14; 
le Über Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchthold-Process 
. 93, 


*) Vgl. dazu Gross, Hdb. f. UR., I. Bd., S. 175. 
%) Spielmann, Diagnostik der Geisteskrankheiten (Wien 1855), S. 
516; vgl. daselbst ff. auch über das Geständnis. 


— 128 — 


zum Verbrechen schreitet, nur um die dadurch bedingte Ver- 
änderung seiner Lebenslage herbeizuführen. Was das Ge- 
ständnis derartiger Leute anlangt, sagt Gross'): „In der Regel 
leugnen solche höchst bedauernswerten Individuen die Tat um 
so weniger, als sie sich ohnehin so unglücklich fühlen, dass 
ein Mehr ihres Jammers durch die Haft nicht deutlich empfunden 
wird.“ Ja mehr als das, sie leugnen nicht nur nicht, sie ge- 
stehen sogar mehr als sie begangen haben und sind „staats- 
anwaltlicher als der Staatsanwalt“. Aber nicht nur Heimweh 
kommt als Beweggrund ihrer Geständnisse in Betracht; die 
verschiedensten Motive wirken hier auf diese Selbstankläger ein. 
Wichert, der „Richter und Dichter“ hat in seiner Erzählung 
„Sie verlangt ihre Strafe“ einen solchen Fall geschildert. Diese 
Erzählung machte von Anfang an auf mich den Eindruck, dass 
sie eine wahre Begebenheit behandle, und ihr inzwischen ver- 
storbener Verfasser hat diese meine Ansicht mir auf eine An- 
frage hin bestätigt mit den Worten: „Im Jahre 1871 habe ich 
selbst beim Königsberger Schwurgericht mitgesessen, als ein 
sehr ähnlicher Fall zur Verhandlung kam. Ich habe in meinem 
Tagebuch angemerkt, dass ich von daher das Motiv zu meiner 
Novelle genommen habe, doch besinne ich mich nicht mehr, 
was etwa im Einzelnen abweichend war. Das psychologische 
Moment ist jedenfalls treu aus der Wirklichkeit übernommen, 
denn dies reizte mich ja eben, die Novelle zu schreiben. Ich 
glaubte aber auch, dass die Tatsachen ungefähr stimmten“. 
Da somit Wahrheit und Dichtung sich der Hauptsache nach 
decken, sei der Inhalt der erwähnten Erzählung kurz ange- 
führt: Marie Zwinger stand unter der Anklage der Brand- 
legung vor den Königsberger Assissen. Sie hatte sich selbst 
der Brandstiftung an dem Hause ihres früheren Dienstgebers 
beschuldigt. Zeugen der Tat gab es nicht, doch liessen die 
Angaben der Zwinger einen „wenigstens schwachen“ Indizien- 
beweis zu. Nur das Motiv, aus welchem die Brandlegung hätte 
geschehen sein können, war nicht zu ergründen. „Das Ge- 
ständnis war“ nach Wicherts Angabe „in jeder Hinsicht, was 
der Richter „ausreichend“ nennt, das heisst, es enthielt ın 
seiner Zusammenstellung alle diejenigen Umstände, welche die 


1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 92, 


— 129 — 


begangene Tat zu der verbrecherischen Handlung stempelten, 
wegen deren die Anklage erhoben war.“!) Aus dem Gange 
der Verhandlung ergab sich, dass die Angeklagte bereits zwei- 
mal vor Gericht gestanden, beidemal jedoch freigesprochen 
worden war. Sie hatte ihr neugeborenes Kind getötet und sich 
deswegen wegen Kindesmord zu verantworten gehabt; obwohl 
siesich selbst dem Gericht gestellt hatte, war ihre Freisprechung 
erfolg. Seit damals konnte ihr Gewissen nicht zur Ruhe 
kommen und so stellte sie sich wiederum dem Gerichte unter 
der Selbstbeschuldigung der Brandstiftung, die sie in der Tat 
begangen hatte. Trotzdem war es ihr nicht gelungen, ihre 
Richter von ihrer Schuld zu überzeugen und so war sie aber- 
mals freigesprochen worden. Und nun stand sie wiederum 
unter der Anklage wegen Brandlegung, zu welcher sie sich, 
obwohl völlig unschuldig, selbst bekannt hatte und wiederum 
erfloss ein freisprechendes Urteil, das sie mit den Worten auf- 
nahm: „Das mögen sie vor Gott verantworten, dass sie eine 
Schuldige freisprechen!“ Noch am selben Tag stürzte sie sich 
in den Mühlteich. 


Auch v. Krafft-Ebing?) teilt einige hochinteressante ein- 
schlägige Fälle mit. Ein gewisser W. stand unter der Anklage. 
einen Waldhüter erschossen zu haben. Einige Zeit nach seiner 
Verhaftung trat Irrsinn ein, während dessen Dauer W. wieder- 
holt ausrief: „Ich habe geschossen, ich gestehe es, lasst mich 
jetzt in Ruhe!“ Nach seiner Genesung erklärte sich W. für 
schuldlos. Ein Beweis seiner Tat fehlte, es musste daher 
Freisprechung eintreten. 


In einem andern Falle handelte es sich um die Selbst- 
beschuldigung eines Notarschreibers, seinem Herrn einen be- 
deutenden Geldbetrag veruntreut zu haben. Während der 
Untersuchung trat Erkrankung an Typhus ein und in diesem 
Zustand rief er öfters: „Dieb, ich habe gestohlen — Bank- 
billete — 1700 — im Gefängnis — Guillotine — entehrt, — 
her mit Richter — haltet den Dieb — ich bin ein Dieb — 

) Wichert „Nur Wahrheit! Sie verlangt ihre Strafe.“ Zwei Er- 
“hlungen (Reclam'sche Univ.-Bibl.) 

? v. Krafft-Ebing, Lb. d. gerichtl. Psychopathologie, 2. Aufl. (Stutt- 
gart 1881), S. 326. 

9 


— 130 — 


verhaftet mich!“ Nach seiner Genesung behauptete er Schuld- 
losigkeit und das Ergebnis der Strafverhandlung war sein 
Freispruch, da die Richter so vernünftig waren, lediglich auf 
ein derartiges Geständnis keinen Schuldspruch zu bauen. 

Ganz besonderes kriminalpsychologisches Interesse dürfte 
der Fall einer jungen Frau finden, die eines Tages sich dem 
Gerichte stellte mit dem umfassenden und in den Einzelheiten 
ziemlich plausibel begründeten Geständnis, ihr siebenjähriges 
rhachitisches Kind zu Tode misshandelt zu haben, während 
de facto das Kind eines natürlichen Todes ın Abwesenheit 
seiner Eltern gestorben war und die Mutter, die ihr Kind mit 
geradezu rührender Sorgfalt gepflegt hatte, aus Kummer über 
ihre Abwesenheit in der Todesstunde ıhres Lieblings gemüts- 
krank geworden war und im Zustande der Melancholie sich der 
. Tötung des Kindes beschuldigt hat. Es mag hier der Vor- 
wurf, den sich diese bedauernswerte Frauensperson über den 
Tod ihres Lieblings machte, in Verbindung mit der irrigen 
Meinung, im Falle ihres Verweilens an Seiten des Kindes 
durch sorgsamste Pflege dessen Tod verhindert haben zu können, 
sie gewissermaßen vor ihrem Gewissen als Mörderin erscheinen 
gelassen haben und aus dieser Vorstellung heraus dürfte die 
Geisteskrankheit entstanden, die falsche Selbstanschuldigung 
erfolgt sein. 

v. Holtzendorff!) berichtet von einem in Schlesien ein- 
gesperrten Sträfling, der unter Angabe aller näheren Umstände 
eine von dem Tode eines Menschen gefolgte Brandstiftung ein- 
gestand, während aktenmäßig sein Alibi feststand, was die 
Richter, die ihn zum Tode verurteilten, einfach übersehen 
hatten. Vielleicht mag in diesem Falle Lebensüberdruss als 
Geständnismotiv mitgewirkt haben. Die Geständnisse, welche 
in der Absicht abgelegt sind, aus Lebensüberdruss die Todes- 
strafe oder wenigstens diejenige Weltabgeschiedenheit, welche 
notwendigerweise mit einer langjährigen Freiheitsstrafe ver- 
bunden ist, herbeizuführen, brauchen nicht immer jeder tat- 
sächlichen Grundlage zu entbehren. Der Lebensüberdruss führt 
eben nicht immer direkt zum Selbstmord, sondern gar oft auch 
zur Beabsichtigung eines nur indirekten Selbstmordes. Das 


1) yv. Holtzendorff, a. a. O., S. 302. 


— 131 — 


Individuum will von der übrigen Welt abgesondert sein; daher 
Begehung einer strafbaren Handlung, daher deren zumindest 
unumwundene, manchmal sogar unter Hinzufügung schwererer als 
den Tatsachen entsprechenden Umständen erfolgende Einbekenn- 
ung. Insbesondere bei Melancholikern ist dies häufig der Fall. 
„Dass hier die Willenslenkung gehemmt sei und keine psy- 
chische Freiheit mehr angenommen werden könne, wenn es sich 
um die Beurteilung einer dem Strafgesetze verantwortlich ge- 
wordenen Handlung handelt, darf als Grundsatz ohne alles 
Bedenken angenommen werden“, hat Schürmayer!) schon 
vor einem halben Jahrhundert richtig erkannt. v. Krafft- 
Ebing?) teilt einige hierher gehörige Fälle mit, in denen 
Melancholie zu Verbrechen trieb, die dann ohne weiteres ein- 
gestanden worden sind.*) 


Interessant ist ein von Amschl*) mitgeteilter Fall, in 
welchem es sich um einen Zwängling handelt, dem der Aufent- 
halt im Arbeitshaus, dem er nach seiner eigenen Äusserung 
jede Strafe, sogar den Tod vorzog, so verhasst war, dass er, 
nachdem ein von ihm beabsichtigter Selbstmord verhindert 
worden war, sich fälschlich eines Raubmordes bezichtigte, nur 
um dem Arbeitshaus entrissen zu werden. ' 


Vielleicht gehört in diese Gruppe auch das im Fall Bra- 
tuscha abgelegte Geständnis, ein Fall, der durch sein sensatio- 
nelles Nachspiel in der letzten Zeit so viel Aufsehen erregte. *) 
Im Jahre 1900 verschwand in Untersteiermark die 12 jährige 
Tochter Johanna des Winzers Franz Bratuscha. Nach einiger 
Zeit las letzterer in einer Zeitung, es wäre die Leiche eines 
unbekannten Mädchens gefunden worden und er begab sich an 
Ort und Stelle, wo er die ihm gezeigten Kleider des Mädchens 
als die seiner verschwundenen Tochter agnoszierte und sich 
ausfolgen liess. Da um dieselbe Zeit auch ein anderes Mädchen 


1) Schür mayer, Lb. d. ger. Medizin, 2. Aufl. (Erlangen 1854), S. 885. 

2) v. Krafft-Ebing, a a. O., S. 91 ff. 

3) Über den Begriff der Schwermut vgl. auch Otto Gross, Die cere- 
brale Sekundärfunktion (Leipzig 1902), S. 28. 

1) Gross'sches Archiv, 5. Bd., S. 296 ff. 

5) Vgl. dazu Nemanitsch in Gross’schen Archiv, 7. Bd., S. 300 ff. 


und Gross in der D. Jur.-Ztg. 1904, Nr. 3. 
g* 


— 132 — 


vermisst wurde, behielt die Gendarmerie die Sache im Auge 
und ein Gendarm nahm dem Bratuscha die Kleider, die dieser 
sich hatte ausfolgen lassen, wieder ab, als sich herausstellte, 
es handle sich hier um die Kleider des anderen Mädchens. 
Bratuscha erhielt eine gerichtliche Vorladung; zuvor ging er 
jedoch zum Gendarmeriewachtmeister, sich erkundigen, worum 
es sich handle Dieser schöpfte Verdacht, nahm eine Haus- 
suchung vor, fand hierbei Kleider, in denen er die der Johanna 
Bratuscha und an denen er Blutflecken vermutete, und als er 
Auskunft über den Verbleib des Kindes verlangte, legte Franz 
Bratuscha ein Geständnis des Inhaltes ab, er habe sein Kind 
erwürgt; dieses Geständnis wiederholte er vor dem Bezirks- 
gericht Pettau, vor dem Untersuchungsrichter, vor den Ge- 
schworenen, schliesslich nach seiner Verurteilung vor dem 
Vorsitzenden der Verhandlung; dem Untersuchungsrichter liess 
er sich einmal sogar behufs freiwilliger Ergänzung seiner An- 
gaben vorführen; er habe sein Kind im Walde gefunden, mit 
den Händen erwürgt und die Leiche verborgen, abends dann 
nach Hause gebracht, mit einem Messer unter Hilfe seiner Frau 
zerstückelt und die Leiche teils verbrannt, teils gebraten und 
gegessen. Die Frau des Bratuscha war anfangs geständig, 
dann leugnete sie, nach einer Beichte legte sie jedoch wieder 
ein Geständnis ab. Gegen Franz Bratuscha erging ein Todes- 
urteil, das im Gnadenwege in lebenslangen schweren Kerker 
umgewandelt wurde, seine Frau wurde wegen Vorschubleistung 
zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt. — Im August 1903 
befand sich nun beim Bezirksgericht Gurkfeld in Krain eine 
Diebin in Haft; lange wollte sie ihren Namen nicht nennen, 
auf einmal sagte sie, Johanna Bratuscha zu heissen. Genau 
gepflogene Erhebungen ergaben, dass man es tatsächlich mit 
der Tochter des Franz Bratuscha zu tun hatte. Nun war über 
jeden Zweifel erwiesen, dass Bratuscha ein falsches Geständnis 
abgelegt hatte. Von allen Erklärungen, wieso dieses zustande 
gekommen sein mochte,!) scheint doch die, dass Bratuscha 
geistesgestört ist, die einleuchtendste zu sein. 


Ende April 1904 stellte sich in Wien ein junger Mensch 


1) Vgl. darüber G ross in der D. Jur.-Ztg. ex 1904, der nicht weniger 
als fünf Möglichkeiten erúrtert. 


— 133 — 


der Behörde mit der Selbstanzeige, 24 Einbruchsdiebstähle be- 
gangen zu haben; über das Motiv befragt, gab er an, dass er 
sich deshalb selbst ausliefere, weil er sonst seine Frau und 
seine Schwiegermutter ermorden müsste. Man fand den Mann 
geistesgestört. Ñ , 2 

Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass Ge- 
ständnisse einerseits aus den verschiedensten Motiven abgelegt, 
anderseits mit den verschiedensten Motiven begründet werden, 
ohne dass es in diesen letzteren Fällen stets möglich ist, das 
wahre Motiv des Geständnisses (ebenso wie das wahre Motiv 
der Tat) auch nur mit annähernder Gewissheit ergründen zu 
können. Unter solchen Umständen erwächst der Kriminal- 
psychologie die wichtige Aufgabe, auf die Prüfung der Geständ- 
nisse an sich, aber auch der Beziehungen eines Geständnisses 
zu den Ergebnissen der anderweitigen Beweiserhebungen mit 
dem grössten Nachdrucke zu dringen und vor solchen Justiz- 
irrtümern zu warnen, die nur zu oft in Überschätzung und 
kritikloser Hinnahme eines Geständnisses ihren Ursprung haben. 


F) Der Widerruf des Geständnisses in Strafsachen. 


Welche Wandlungen die prozessuale Bedeutung des Wider- 
rufs eines Geständnisses in Strafsachen im Verlaufe der Jahr- 
hunderte durchgemacht hat, ergibt sich aus den rechtsgeschicht- 
lichen Abschnitten der vorliegenden Darstellung. Lange Zeit 
hat man im Geständniswiderruf den contrarius actus eines Ge- 
ständnisses erblickt, im Falle des Widerrufs das Geständnis als 
einfach nicht vorhanden betrachtet und man hat in solchen 
Fällen entweder die Verurteilung auf andere Gründe als das 
Geständnis gestützt oder, wenn solche nicht vorlagen, ab instantia 
absolviert. Dieser Standpunkt wurde lange Zeit konsequent 
festoehalten und erst um die Wende des 18. und 19. Jahr- 
hunderts verlassen. Ä 

Heute liegen die Dinge so, dass einerseits trotz Geständ- 
nisses freigesprochen, anderseits trotz Geständniswiderrufs ver- 
urteilt werden kann. 

Der Geständniswiderruf muss ebenso wie das Geständnis 
selbst einer Prüfung auf seine äussere wie innere Haltbarkeit 


— 134 — 


unterzogen werden, d.h. es muss einerseits auf die übrigen 
Beweisresultate, anderseits auf den durch sorgfältige Erforschung 
seines Motivs zu ermittelnden inneren Wert des Widerrufs 
Rücksicht genommen werden. Denn ebenso wie es glaubwürdige 
und unglaubwürdige (Grestándnisse gibt, gibt es auch unglaub- 
würdige und glaubwürdige Geständniswiderrufe; Geständnis 
und Geständniswiderruf dürfen eben niemals als Dinge an sich 
in Betracht gezogen, müssen vielmehr als Teile jenes grossen 
Ganzen, das man Beweisverfahren nennt, logisch und psycho- 
logisch geprüft werden. 

In psychologischer Hinsicht erscheint freilich auch heut- 
zutage der Geständniswiderruf als contrarius actus des Geständ- 
nisses. Reue als Motiv des Geständnisses ist Reue ob des 
begangenen Verbrechens; wenn aber die Reue wegen des ab- 
gelegten Gestándnisses zu dessen Widerruf führt, erscheint das 
Gegenteil von Reue, nämlich Trotz als Motiv des Geständnis- 
widerrufs; und der Trotz ist wohl das hauptsächlichste Motiv 
des Geständniswiderrufs, wenn auch nicht immer und überall 
sein einziges. Auch beim Geständniswiderruf mögen oft Momente 
opportunistischer Natur mit im Spiele sein. Der Gedanke, 
durch das abgelegte Geständnis das, was zum vollkommenen 
Beweis gefehlt hat, nunmehr selbst herbeigeschafft und auf 
diese Weise gewissermaßen sich sein eigenes Grab geschaufelt 
zu haben, die Erwägung, ohne Geständnis straflos ausgehen zu 
können oder wenigstens wegen eines geringern Verbrechens 
behandelt werden zu müssen (wenn es sich z. B. um die 
— subjektive — Kenntnis eines Moments erhöhter objektiver 
Strafbarkeit handelt), mögen manchen Verbrecher oftmals zum 
Widerruf des Geständnisses bewogen haben. Schliesslich kommt 
— allerdings nur beim teilweisen Geständniswiderruf — auch 
das Motiv des Irrtums oder besser gesagt der Erkenntnis eines 
das Geständnis herbeigeführt habenden Irrtums in Betracht, 
z.B. es hat sich einer dem Gerichte mit der Selbstanzeige 
eines vollendeten Verbrechens gestellt und erfährt nun Um- 
stände, die seine Tat lediglich als Versuchshandlung in einem 
mitunter bedeutend milderen Lichte erscheinen lassen; doch 
kommen derartige Geständniswiderrufe als solche für die Straf- 
rechtspflege minder in Betracht, da die Momente, mit denen 


sie begründet werden könnten, gewöhnlich durch die behörd- 
lichen und insbesondere gerichtlichen Erhebungen unzweifelhaft 
festgestellt werden. 

Die Motive, aus denen Geständnisse widerrufen zu werden 
pflegen, sind in der Regel leicht zu finden, wenn man sie ver- 
glechungsweise den Motiven der früher abgelegten und nun- 
mehr widerrufenen Geständnisse gegenüberstell. Da kommen 
hauptsächlich folgende Widerrufs-Motive in Betracht: 


a) Der Trotz; hiervon war bereits die Rede. 


b) Die Behebung von Furcht und Zwang. Das 
unter dem Einflusse von Furcht und Zwang abgelegte Geständnis 
wird zurückgenommen in einem Augenblicke und einem Ge- 
mütszustande des Verdächtigen, in dem er sich von diesen 
Einflüssen frei füblt. Doch darf der Umstand allein, dass das 
seinerzeit abgelegte Geständnis als durch Furcht oder Zwang 
beeinflusst sich darstellt, den Geständniswiderruf nicht unter 
allen Umständen glaubwürdig erscheinen lassen, da derartige 
Geständnisse doch dann und wann einen wahren Kern haben. 


Beispiele von Widerrufen erzwungener Geständnisse haben 
wir bereits angeführt. 

c) Die Genesung von psychischer Erkrankung, wobei 
bemerkt sei, dass sie wohl einen Geständniswiderruf erklärlich 
erscheinen lassen kann, streng genommen aber kein Widerrufs- 
motiv ist; denn es fehlt meistens das Bewusstsein, ein Ge- 
ständnis abgelegt zu haben, und die spätere widerrufsähnliche 
entlastende Aussage erfolgt daher nicht mit dem Vorsatze, den 
contrarius actus des Geständnisses setzen zu wollen. 


d) Die bestellte Schaffung falscher Entlastungs- 
momente. Ein Verbrecher, der geständig war, ist auf einmal 
andern Sinnes und widerruft seine ihn belastenden Angaben. 
Der Grund eines solchen Vorgehens ist mitunter darin zu 
suchen, dass es dem Beschuldigten auf unerlaubtem Wege 
gelungen ist, gefälschtes Beweismaterial zu seinen Gunsten her- 
beizuschaffen, insbesondere durch inzwischen enthaftete Zellen- 
genossen sich einen künstlichen Alibibeweis konstruiert zu 
haben. *) 


1) Gross, Hdb. f£. UR., I. Bd, S. 106. 


— 136 — 


e) Das durch beunruhigtes Gewissen einerseits, 
durch Aussicht auf strenge Bestrafung anderseits 
hervorgerufene Schwanken im Gemite des Ver- 
dächtigen. Als geradezu klassisches Beispiel kann das wieder- 
holte Geständnis und oftmals widerrufene Geständnis des 
Lehrlings Wilhelm im Fall Ziethen gelten. Ziethen war wegen 
Ermordung seiner Gattin verurteilt worden. Von Anfang an 
leugnete er jede Schuld, ward jedoch schuldig befunden, da 
seine Frau — allerdings im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit 
— ihn als Täter bezeichnete, da ferner in seinem Messer ein 
1—1.3 mm grosses angeblich blutiges Holzteilchen sich vorfand 
und da schliesslich sein Lehrling Wilhelm belastend gegen ıhn 
aussagte. Wiederholt hat Ziethen Wiederaufnahme angesucht, 
immer vergeblich; nie aber hat er aufgehört seine Unschuld 
zu beteuern und es sind in der Tat berechtigte Zweifel gegen 
seine Verurteilung laut geworden, Zweifel, auf die wir hier 
nicht eingehen können und auch nicht eingehen wollen, zumal 
wir uns wiederholt ausführlich für Ziethens Unschuld ausge- 
sprochen haben.!) Nur die Geständnisse und die Geständnis- 
widerrufe des Wilhelm sollen uns hier beschäftigen.?) Als 
Ziethen in der Mordnacht für verhaftet erklärt wurde, sprang 
Wilhelm mit den Worten, sein Meister sei unschuldig, hinzu, 
woraufhin auch seine Verhaftung erfolgte. In der Hauptver- 
handlung ward Wilhelm freigesprochen. Allein in der Folge 
legte Wilhelm ein umfassendes Geständnis vor einem Kriminal- 
inspektor zu Berlin ab, dahin gehend, er habe Frau Ziethen 
getötet, ihr Mann sei unschuldig. Nicht weniger als viermal 
wiederholt er dieses Geständnis, überdies ward festgestellt, 
dass er auch aussergerichtlich gestanden habe. Auch seiner 
Tante gegenüber legte er unter lautem Weinen ein Bekenntnis 
seiner Mordtat ab. „Am andern Tage aber“, sagt Wilhelm, 
„war mir mein Geständnis schon wieder leid, und es hätte 
wenig gefehlt, so hätte ich es zurückgenommen. Heute fühle 


1) Lohsing im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 218 fft., 5. Bd., S. 163 
ff. und in „Eth. Kultur“, 9. Jhrgg. S. 282 f. 

2) Unseren Ausführungen legen wir die Darstellung, die Ziethens letzter 
Verteidiger, Fraenkl, Der jetzige Stand des Rechtsfalls Ziethen (Wies- 
baden 1902) gibt, zugrunde. 


— 137 — 


ich mein Gewissen erleichtert und sehe meiner Bestrafung mit 
Ruhe entgegen.“ In der nächsten Zeit wurde er vom Unter- 
suchungsrichter auf die strenge Bestrafung, der er sich aussetze, 
aufmerksam gemacht; trotzdem erklärte er: „Ich kann meine 
Aussage nicht ändern und sehe auch einer derart hohen Strafe 
mit Ruhe und Gleichmut entgegen.“ Drei Tage später jedoch 
erfolgte der Widerruf seines Geständnisses mit der Begründung, 
Überredung und Aussicht auf Belohnung hätten ihn zum Ge- 
ständnis veranlasst, jetzt sei er jedoch müde, für andere Leute 
den Kopf ins Loch zu stecken. Als er aber später seine Tante 
zufällig erblickte, ward er andern Sinnes, kehrte zu seinem 
Geständnis zurück und ward nunmehr dem unglücklichen 
Ziethen gegenübergestellt, zu welchem er mit tränenerstickter 
Stimme sagte: „Verzeihen Sie mir, ich bin es gewesen, Sie aber 
unschuldig. — Verzeihen Sie mir, dass ich Sie ins Unglück 
gestürzt habe.“ Einige Tage darauf sagte Wilhelm, er käme 
wieder in die Versuchung, sein Geständnis zu widerrufen; die 
Sehnsucht nach Freiheit stiege wieder in ihm auf und sein 
Hass gegen Ziethen erneuere sich. Dann kommt wiederum ein 
Geständniswiderruf, später ein aussergerichtliches Geständnis. — 
Als Wilhelm nach der Tat verhaftet war, hatte er von der 
Zelle aus einen schwindelhaften Entlastungsbeweis versucht; 
da dieser an dem Widerstande eines Zellengenossen scheiterte, 
hatte Wilhelm bereits ein Geständnis abgelegt und gelegentlich 
wiederholt, also zu einer Zeit und unter Umständen, angesichts 
welcher fremde Einwirkung auf ihn völlig ausgeschlossen war. 
Auch nur einige Stunden nach seiner Enthaftung bekannte er 
sich des Mordes schuldig. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass 
Wilhelm der Täter ist und finden auch in einer von Fraenkl!) 
mitgeteilten Episode, deren Darstellung an dieser Stelle zu 
weit führen würde, ihre Bestätigung. Wenn wir von den 
gerichtlichen Entscheidungen, die mit einer einzigen Ausnahme 
an Ziethens Schuld festhalten, absehen, gibt es nur einen 
Juristen, der Ziethens Schuld schriftstellerisch vertreten hat, 
und das ist Barre.?) Doch kann die Bemerkung nicht unter- 
drückt werden, dass seine Darstellung an Ungenauigkeiten leidet. 


1) Fraenkl, a.a. O., S. 56 und 57. 
2 Barre in „Preuss, Jahrbücher“ 68. Bd. (1891), S. 635 ff. 


— 138 — 


Wilhelm hat einmal gesagt, der Umstand, dass Ziethen an ıhn 
denken werde, sei bei seinem (Wilhelms) Geständnisse „am 
wenigsten“ mitbestimmend gewesen; Barre ersetzt dieses „am 
wenigsten“ durch „wenigstens“, was natürlich einen ganz 
andern Sinn gibt. Und einer den Wilhelm belastenden Zeugen- 
aussage tut Barre in seinem Aufsatze überhaupt keine Er- 
wähnung. Für uns unterliegt es jedoch gar keinem Zweifel, 
dass Wilhelms Geständnis glaubwürdig und sein Widerruf un- 
glaubwürdig ist. Wird einmal der Tag kommen, an welchem 
die zuständigen Gerichte auch diese Überzeugung haben und 
einen der grössten Irrtümer deutscher Strafrechtspflege gut 
machen werden? 


V. Schlussbetrachtung. 


In den vorstehenden Ausführungen haben wir das Ge- 
ständnis in Strafsachen einer Erörterung in rechtlicher und 
psychologischer Hinsicht unterzogen. Wir haben gesehen, welch 
hoher Wert ihm seit den ältesten Zeiten beigemessen wurde, 
ein Wert, der bis in die Neuzeit in stetigem Steigen begriffen 
war und erst in der neuesten Zeit rapid gesunken ist. Wir 
sind Strafprozessgesetzgebungen begegnet, denen das Geständnis 
alles bedeutete; heute sind wir so weit, dass ein Geständnis zu 
einer Verurteilung nicht notwendig ist, aber auch einem Frei- 
spruch nicht hinderlich zu sein braucht. Es ist eine Tatsache, 
dass falsche Geständnisse abgelegt werden und Glauben finden, 
dass aber auch mitunter wahre Geständnisse für falsch ge- 
halten werden und der Täter straflos ausgeht. 

Wenn es die Aufgabe der Strafrechtspflege ist, kein Delikt 
ungesühnt, aber auch keinen Unschuldigen büssen zu lassen, 
können wir die Erwägung schlechterdings nicht von der Hand 
weisen, dass in der Möglichkeit falscher Geständnisse eine grosse 
Gefahr für die Strafrechtspflege gelegen ist, dass aber diese 
Gefahr trotz aller Vorsichtsmaßregeln niemals ganz gebannt 
werden kann. Wir haben ausgeführt, wie notwendig die 


— 139 — 


Prüfung eines Geständnisses in logischer und psychologischer 
Hinsicht ist, wie wichtig, aber auch wie schwer es ist, das 
Motiv eines Geständnisses in Strafsachen zu ergründen; trotz- 
dem stehen wir, wenn wir das Geständnis abstrakt betrachten, 
vor einem grossen Rätsel, zu dessen Lösung wir keine allge- 
meinen Regeln aufstellen, sondern nur Ratschläge geben können. 
Dies haben wir getan und wenn wir unsern diesbezüglichen Aus- 
führungen noch etwas hinzuzufügen haben, ist es der warme 
Appell an die Rechtspflege, sich vor jeder, wie immer gearteten 
vorgefassten Ansicht!) zu hüten. An vielem sind ja doch die 
unseligen Vorurteile schuld. Noch immer gibt es zuviel Unter- 
suchungsrichter, welche im Beschuldigten meistens bereits den 
Schuldigen von vornherein vermuten, es gibt Richter und Ge- 
schworene, welche im Geiste den einzelnen Phasen eines Straf- 
prozesses auf mitunter unrichtiger Fährte voraneilen und ım 
Angeklagten bereits den Verurteilten erblicken; und diese 
Männer der Strafrechtspflege sind es, welche im Falle eines 
Geständnisses des Beschuldigten, bez. Angeklagten vorzeitig 
eine Bestätigung ihrer vorzeitig gefassten ‘Meinung erblicken, 
sie sind es, die sich in ein Vorurteil so sehr hineinsuggerieren, 
dass sie sogar einem wohlbegründeten Wiederaufnahmeantrag 
zu Gunsten eines Angeklagten mit grösster Skepsis gegenüber- 
stehen. Es kann, insbesondere nach den Erfahrungen der 
jüngsten Zeit, vor der Gefahr eines derartigen Vorurteils nicht 
genug gewarnt werden. Der Richter sei frei von jedem Vor- 
urteil; nur dann ist er der geeignete Prüfer der Aussage eines 
Beschuldigten. 


Ein anderer Fehler, in den leider viele Untersuchungs- 
und Erkenntnisrichter verfallen, liegt darin, dass man an die 
Prüfung der Aussage des Beschuldigten, bez. Angeklagten 
zweierlei Maß anzulegen geneigt ist, indem alles Belastende für 
glaubwürdig, alles Entlastende für unglaubwürdig oder doch 
minder glaubwürdig angenommen und dass gerade in den- 
jenigen Fällen, in welchen es auf nur einen Zeugen ankommt, 
diesem zuviel, dem Beschuldigten zu wenig Glauben geschenkt 





1) Gross, Hdb. f. UR., I. Bd., S. 22 ff. und Kriminal-Psychologie, 
S. 544 ff. 


— 140 — 


wird. Dass ein derartiger Vorgang in einzelnen Fällen oft 
seine Berechtigung haben mag, wollen wir gar nicht in Ab- 
rede stellen; aber das Bedenken können wir doch nicht 
unterdrücken, ob hierin nicht zu sehr generalisiert wird, und 
dies nicht nur zum Nachteile der Angeklagten, sondern auch 
der Justiz selbst. 


Ein weiterer Mangel unserer heutigen Strafrechtspflege 
liegt in der grossen Abneigung vieler Richter, einem Antrag 
des Verteidigers auf Untersuchung des Geisteszustandes seines 
Klienten stattzugeben oder eine derartige Untersuchung gar 
von amtswegen vornehmen zu lassen. Und wenn dieser Vor- 
wurf auch nicht immer zutrifft, ist man doch meistens der 
vielfach aufgestellten Forderung, es solle in solchen Fällen 
wenigstens einer der Gerichtsärzte ein Psychiater sein, fast 
durchwegs abhold. Und doch sollte das eine wie das andere 
ausnahmslose Regel sein zumindest in allen wichtigeren Fällen, 
bei welchen das Geständnis nicht eine nur deklaratorische, 
sondern eine suppletorische Bedeutung hat, m. a. W. bei wel- 
chen das Geständnis einen Schuldbeweis nicht bestätigt, 
sondern in der Weise ergänzt und bilden hilft, dass er ohne 
das Geständnis überhaupt nicht als erbracht angesehen werden 
könnte. Keineswegs sei damit gesagt, dass Justizirrtümer dann 
ganz und gar ausgeschlossen wären; aber dass ihnen mehr als 
bis jetzt vorgebeugt würde, ist sicher und unbestreitbar. 


Gross!) hat es richtig ausgesprochen: „In wichtigen Fällen 
darf das Geständnis für den Untersuchungsrichter einfach nicht 
existieren, er hat ebenso genau vorzugehen, als ob der Be- 
schuldigte leugnete.* Wenn Gross aber anschliessend an diese 
Worte die Frage aufwirft, ob die alten Strafprozessordnungen 
nicht Recht hatten, wenn sie eine Verurteilung wegen Mordes 
verboten, wenn nicht die Leiche des Ermordeten zustande ge- 
bracht war, so tragen wir kein Bedenken, zu erwidern: Nein, 
sie hatten nicht recht! Aus dem Grunde nicht recht, weil 
dadurch für den Mörder auf hoher See, der sein Opfer in den 
Fluten des Ozeans versenkt, ein Privilegium der Straflosigkeit 


1) Gross in der D. Jur.-Ztg. 1904, Nr, 3. 


— 14i — 


geschaffen würde, das mit der Ethik und dem Gerechtigkeits- 
gedanken unvereinbar wäre. 


Aber das steht fest, dass in solchen Fällen die Geständnis- 
prüfung mit ganz besonderer Sorgfalt vorgenommen werden 
muss und ohne einen Psychiater nicht vorgenommen werden 
soll. — 


Ein Moment noch wollen wir erörtern. Als einstens die 
Todestrafe nur an Geständigen vollzogen werden durfte, ward 
es vielseitig mit Recht schmerzlich empfunden, dass der reu- 
mütige Sünder ärger daran sei als der verstockte Verbrecher, 
da dieser schlimmsten Falls lebenslänglich ausgefüttert, jener 
aber hingerichtet werden könne. Heute sind wir soweit, dass 
wir trotz Vereinfachung des Verfahrens bei kleineren Delikten 
der Ansicht sind, die Schuldfrage wie die Straffrage seien ohne 
Rücksicht auf den Grad des Verbrechens stets nach gleichen 
Grundsätzen zu regeln. Da drängt sich denn für die Fälle, dass 
der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten 
nur dadurch gewinnen kann, dass den andern Beweismitteln 
das Geständnis (nicht etwa — bloss — bestätigend, sondern) 
ergänzend zur Seite tritt, die Frage auf, ob es denn stets recht 
und billig sei, jemanden zu verurteilen, wenn er gesteht, während 
man ihn im Falle seines Leugnens straflos ausgehen lassen 
müsste. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt darin, dass das 
Geständnis kein Strafausschliessungsgrund sein dürfe, da sonst 
die von vorherein gefasste Absicht, im Falle der Anklage zu 
gestehen, einer Straflosigkeitsgarantie gleichkäme. Es wird hier 
nichts anderes übrig bleiben, als nach der Art der einzelnen 
Delikte und nach den persönlichen Verhältnissen der Täter zu 
individualisieren und auf dem Wege der bedingten Verurteilung 
jene ausgleichende Gerechtigkeit zu üben, deren generelle 
Normierung dem sorgfältigst ausgearbeiteten Strafgesetzbuch 
nicht zugemutet werden kann. 


In Strafurteilen sollte auf das Geständnis in anderer Weise 
Bezug genommen werden, als dies bis jetzt geschieht, indem 
das Geständnis lediglich konstatiert und allenfalls als Milde- 
rungsgrund angeführt wird. Es soll vielmehr, vor allem in 


— 142 — 


jenen Fállen, in denen das Gestándnis als suppletorisches Be- 
weismittel anzusehen ist, zum Ausdruck gebracht werden, aus 
welchen Gründen und in welchem Umfange die Aussage eines 
Angeklagten, bez. sein Geständnis für wahr angenommen wurde; 
denn mit Worten, „der Schuldspruch stützt sich auf Geständnis,“ 
bez. „das teilweise Geständnis des Angeklagten“, wie man sie 
oft ın Urteilsbegründungen lesen kann, ist im Zeitalter der 
freien Beweiswürdigung und der Offizialmaxime die Aufgabe 
des Richters nicht erfüllt. 


Heynemann'sche Buchdr., Gebr. Wolff, Halle (S.) 


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Juristisch -psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


- Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


I. Band, Heft 4. 


Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold 
1905. 


Uber Gemeingefáhrlichkeit vom árztlichen 
Standpunkte aus. 


Von Prof. Dr. A. Cramer-Góttingen. 


Meine Herren! 

In dem Thema zu meinem Vortrage habe ich ausdriick- 
lich von Gemeingefáhrlichkeit vom árztlichen Standpunkte 
aus gesprochen, weil ich der Überzeugung bin, dass die ganze 
Frage der Gemeingefährlichkeit keine rein ärztliche, sondern 
eine verwaltungs-technische ist. Gemeingefährlichkeit ist kein 
juristischer Begriff. Sie steht zur Medizin nur in entfernter 
Beziehung. Gemeingefährlichkeit ist ein Begriff, der rein auf 
dem Verwaltungs-Verkehrs-Wege entstanden ist. 

Es ist auch nicht meine Absicht, diesen Begriff der 
Gemeingefährlichkeit irgendwie abgrenzen zu wollen; ich 
möchte aber hervorheben, dass in der neuesten Auflage von 
Schlockow „Der Kreisarzt* (Roth-Leppmann p. 582) und 
noch mehr von dem Hannoverschen Gerichtsarzt Schwabe 
in seinem Referate auf der Versammlung der Verwaltungs- 
und Medizinalbeamten des Reg.-Bez. Hannover im Sommer 
vorigen Jahres dieser Begriff der Gemeingefährlichkeit wesent- 
lich eingeengt worden ist. 

Es werden viele sagen, dass ich mir damit meine 
Aufgabe sehr bequem mache. Ich möchte hierzu bemerken, 
dass ich eine exakte, kurze Abgrenzung dieses Begriffes 
für unmöglich halte. Das könnte nur der, der imstande 
ist, Kautschuk in harten Stahl zu verwandeln. 

Die Veranlassung zu meinem Vortrage liegt auch auf 
anderem Gebiete; ich habe die Überzeugung gewonnen 
nach dem, was ich von Laien in Privatunterredungen gehört, 
nach dem, was ich von Laien geschrieben gelesen, und nach 
dem, was auch von anscheinend sachkundiger Seite geschrieben 
ist: dass, wenn es so weiter geht mit der Diskussion über 
die Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken, entschieden die 


2 e 


Kranken, die unserem Schutze befohlen sind, die 
Anstalten, deren Fórderung uns in jeder Richtung 
am Herzen liegen muss, einen schweren Schaden 
nehmen,. und dass damit auch die Angehörigen, 
welche Patienten in unseren Anstalten haben, einen 
grossen. Nachteil erleiden. 

Vor 50 Jahren etwa hat man in der Überzeugung, dass 
das Publikum bald die Wohltätigkeit der öffentlichen Irren- 
anstalten kennen lernen würde, diese Anstalten ruhig „Irren- 
anstalten“ genannt. Heute — das ist nicht zu leugnen — 
ist man im Publikum so eingenommen gegen die Irrenanstalten, 
dass man, dieser Stimmung des Publikums Rechnung tragend, 
die Anstalten „Heil- und Pflegeanstalten“ nennt. Natürlich 
hat dies nur den Erfolg gehabt, dass diese Voreingenommen- 
heit sich jetzt gegen die Heil- und Pflegeanstalten richtet, 
und so wird es weiter gehen, auch wenn wir unsere Irren- 
anstalten „Anstalten für Kranksinnige oder Gehirnkranke“ 
nennen. 

Es hängt das mit der alten Anschauung zusammen, 
dass Geisteskranke und Verbrecher, aus demselben Übel, aus 
der Sünde entsprungen, auch eine ähnliche Behandlung be- 
dürfen, und dass die Behandlung in unseren modernen An- 
stalten, soviel auch darüber von berufener Seite gesprochen 
und geschrieben wird, sich nicht wesentlich von dem unter- 
scheide, wie die Verbrecher in modernen Zucht- und 
Besserungsanstalten behandelt werden. 

In der Zeit der freien Behandlung, der Dauerbäder und 
der Familienpflege ist man erstaunt, wenn man immer wieder 
selbst von gebildeten Laien nach Gummizellen, Zwangsjacken 
und dergl. gefragt wird, ja wenn selbst von Behörden Er- 
suchen um Übersendung einer Zwangsjacke eingehen. Man 
darf sich deshalb aber auch nicht wundern, wenn bei besonders 
krassen Fällen, in welchen es sich darum handelt, dass ein Geistes- 
kranker, dessen Geisteskrankheitdas Pnblikum nicht versteht und 
erkennt, ein Verbrechen begeht, von nicht sachkundiger Seite zur 
Beruhigung des Publikums geschrieben wird: das Gericht 
würde dafür sorgen, dass der Betreffende auf Lebenszeit 
einer Heil- und Pflegeanstalt übergeben würde. Das konnte 


E: A 


man zZ. B. häufig lesen, als es sich um den Fall Arenberg 
handelte. Das Resultat derartiger Mitteilungen ist natüriich 
im Publikum die festgewurzelte und nicht zu erschütternde 
Überzeugung, dass die Irrenanstalt doch so eine Art „Straf- 
anstalt“ sei. Und doch sind unsere Irrenanstalten 
Krankenhäuser, wie jedes andere Krankenhaus auch» 
und über den Aufenthalt in einer Irrenanstalt hat 
nur zu bestimmen der Umstand, ob Krankheit vor- 
legt oder nicht. Ist die Krankheit verschwunden, 
so hat auch die Entlassung zu erfolgen. 

Die Krankheit, um die es sich handelt, ist Geistes- 
krankheit. 

In neuerer Zeit ist die Frage der Gemeingefährlichkeit 
wieder dadurch in Fluss gekommen, dass man vielfach über 
die strafrechtliche Behandlung der geistig Minder- 
wertigen diskutiert hat. Es ist wohl jedem der Aufsatz 
von v. Liszt bekannt: „Schutz der Gesellschaft gegen ge- 
meingefährliche Geisteskranke und vermindert Zurechnungs- 
fähige“ (Aschaffenburgsche Zeitschr. 1904, p. 8). Jeder weiss, 
dass v. Liszt in diesem Artikel in ausgezeichneter Weise 
praktische Vorschläge gemacht hat, wie in Zukunft mit den 
geistig Minderwertigen, die mit dem Strafgesetzbuch in Kon- 
flikt geraten sind, zu verfahren sei. Vielleicht‘ wäre es 
besser gewesen, wenn er den Titel etwas anders gefasst 
hätte. Denn sehr bald las man: nicht Schutz gegen gemein- 
gefährliche Geisteskranke und vermindert Zurechnungsfähige, 
sondern: Schutz gegen gemeingefährliche Menschen, und 
diese wurden eingeteilt: a) Verbrecher, b) Geisteskranke. 
Wenn man diese Dinge durchlas, hatte man die Überzeugung, 
dass es auf der Welt nur zweierlei Sorten von gemeinge- 
fährlichen Menschen giebt, auf der einen Seite Verbrecher, 
auf der anderen Geisteskranke bezw. geistig Minderwertige. 
Man war dabei angelangt, wo wir vor 100 Jahren standen: 
Geisteskrankheit und Verbrechen waren in Gefähr- 
lichkeit und Behandlung eins. Ich will dabei nicht ver- 
schweigen, dass wir nach vielleicht abermals 100 Jahren 
auch auf diesen Standpunkt hinauskommen können, dass aber 
dann das Wort „Strafe“ vor „Behandlung“ fehlt. 


= 6 — 


Bei diesen Ausführungen war man sich darüber klar, 
dass die Geisteskrankheit ein ebenso strafwürdiges Vergehen 
sei wie das Verbrechen selbst. Das Resultat war, dass das 
Misstrauen gegen die Anstalten noch grösser wurde sehr 
zum Nachteil unserer Kranken, dass sich die Angehörigen 
-noch mehr wie bisher stráubten und ihre Kranken nur in die 
Anstalt brachten, wenn mit dem stärksten Druck gewirkt 
wurde, wenn es hiess, dass der Kranke gemeingefährlich sei. 

Dass gerade die Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken 
nicht selten dadurch bewirkt wird, dass sie zu spät in An- 
stalten kommen und nicht selten einer unsachgemässen Be- 
handlung unterworfen werden, davon sprach niemand, obschon 
im Jahre 1903 die statistische Kommission an der Hand von 
Zahlen deutlich nachgewiesen hatte, dass in einem grossen 
Teile der Ungliirksfálle, die durch Geisteskranke 
verursacht waren, die rechtzeitige Aufnahme diese 
Unglücksfälle hätte vermeiden lassen (Hoche- 
Aschaffenburg, Neurol. Centralbl. 1903, p. 436). 

Der Umstand, dass unsere Anstalten in erster 
Linie zur Heilung und Behandlung von Geisteskranken 
da sind, scheint vollständig in Vergessenheit geraten zu 
‚sein. Denn wenn man die Aufnahmeatteste durchsieht, so 
ist immer wieder die Gemeingefährlichkeit betont, welche 
bei den Haaren herbeigezogen wird. Glücklicherweise 
hat der Erlass des Herrn Ministers an die Medizinalbeamten 
dieses Verfahren etwas eingeschränkt. Ich will nicht ein- 
gehen auf das Motiv, das zu diesem Erlasse geführt hat; 
ich bin aber überzeugt, dsss die Verhandlungen, die jetzt 
darüber schweben, ob der Fiskus für die Kosten für die im 
öffentlichen Interesse zugeführten Geisteskranken aufzukommen 
hat oder nicht, für unsere Kranken und unsere Anstalten 
von ‚grossem Vorteile sein können, wenn nur von unserer 
Seite mit der nötigen Bestimmtheit darauf. hinge- 
wiesen wird, wie bei Geisteskrankheit Gefährlichkeit 
zustande kommt und wie sie vermieden werden kann. 

In erster Linie kommt hier in Betracht, wie ich bereits aus- 
geführt habe, die möglichste Erleichterung der Aufnahme 
und die Bekämpfung des Vorurteils, .das noch in 


en I E 


weiten Kreisen gegen die Irrenanstalten besteht. 
Als bestes Mittel würde ich dazu vorschlagen, dass jeder 
heilbare Geisteskranke umsonst.und womöglich ohne Papiere 
aufgenommen wird, dass aber innerhalb 24 Stunden mit dem 
zuständigen Kreisarzte die Geisteskrankheit authentisch fest- 
gestellt werden muss. Auf diese Weise würden all die Un- 
glücksfälle, die sich draussen ereignen, weil das Aufnahme- 
verfahren sich zu lange verzögert, entweder weil die Ange- 
hörigen die Geldausgabe scheuen oder den Gang zur Behörde 
fürchten, vermieden werden. Ich fürchte, dass dieser Vor- 
schlag von mir, welcher vielfach auch von anderer Seite 
gemacht ist, eine Utopie bleiben wird, weil er am Wider- 
stande und Misstrauen des Publikums scheitern wird. 
Allerdings sehe ich nicht ein, dass das, was bei einer Privat- 
anstalt bis auf den Kostenpunkt geht, nicht auch, an einer 
öffentlichen Anstalt gehen sollte. Auf jeden Fall würde mit 
einem solchen oder ähnlichen Verfahren auch das Misstrauen 
des Publikums gegen die Anstalten herabgemindert werden, 
wenn es sieht, dass man in eine Irrenanstalt einen Geistes- 
kranken wie in ein anderes Krankenhaus auch bringen kann. 


Um nicht zuviel und zunächst nicht Erreichbares so- 
fort zu verlangen, möchte ich die eben genannte Forderung 
nicht unbedingt stellen, sondern nur die These aufstellen, 
dass gemeingefährliche Handlungen bei Geistes- 
kranken umsoweniger vorkommen, je mehr die Auf- 
nahme in die Irrenanstalt erleichtert wird, und je 
mehr das Misstrauen gegen die Anstalt schwindet. 


Psychologisch interessant ist auch, dass man immer nur 
von der Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken so 
ganz besonders spricht; dass, wenn einmal ein Geistes- 
kranker etwas anstellt, dies sofort wie ein Lauffeuer durch 
alle Blätter geht mit sachgemässen und unsachgemässen Be- 
merkungen und, wie das heute Mode ist, immer mit ent- 
sprechenden Reformvorschlägen ausgestattet wird, sodass man 
es dem Publikum garnicht übel nehmen kann, dass es den 
Geisteskranken im allgemeinen und speziellen als einen un- 
geheuer gefährlichen Menschen ansieht und ihn gleich hinter 


— 84 - = 


den Verbrecher stellt, welcher bewusst nach dem Leben und 
Gut seines Mitmenschen trachtet. l 

Im Jahre 1900 waren in deutschen Anstalten 115 8821) 
Geisteskranke untergebracht. Wir dürfen annehmen, dass 
sich ausserhalb der Anstalten ebensoviele Geisteskranke be- 
fanden. Wenn man damit vergleicht die Vergehen und Ver- 
brechen, welche von Geisteskranken im Laufe eines Jahres 


begangen werden — eine bestimmte Zahl kann ich darüber 
leider nicht geben, sie wird aber nicht hoch in die Hunderte 
gehen —, so wird man sagen müssen, dass die Gemein- 


gefährlichkeit der Geisteskranken im allgemeinen 
doch nicht so gross ist, als man in weiten Kreisen 
anzunehmen geneigt ist. 

Ich gebe gern zu, dass die „Tat eines. Wahnsinnigen“, 
wie es in den Zeitungen heisst, erschütternd und tragisch 
sein kann. Man darf aber darüber die Kritik und das Urteil 
nicht verlieren und darf vor allen Dingen dadurch sich nicht 
verleiten lassen, zu Massnahmen zu greifen, welche die Ver- 
wandlung eines gemeingefährlichen Geisteskranken 
in einen sozial Brauchbaren erschweren. 

Hier kommt in erster Linie wieder die rasche Aufnahme 
in die Anstalt in Betracht. 


Psychologisch ist weiter interessant, dass es noch eine 
ganze Reihe von Menschen, welche man als gemeingefährlich 
betrachten könnte, gibt, die man garnicht als solche be- 
zeichnet, von denen man überhaupt nicht spricht, obschon sie 
in ihrer Gemeingefährlichkeit weit über das hinausgehen, was 
Geisteskranke in Dutzenden von Jahren an Gefährlichkeit mit 
sich gebracht haben. Ich meine in erster Linie die Ge- 
schlechtskranken. Wenn ein Mensch mit florider Syphilis 
eine Reihe von Prostituierten und nicht Prostituierten an- 
steckt und dadurch das Virus der Syphilis vervielfältigt, 
weiter verbreitet wird und bei den Infizierten selbst und 
ihren Nachkommen seine unheilvolle Wirkung entfaltet, so 
fällt es keinem Menschen ein, davon als von etwas Gemein- 
gefährlichem zu sprechen; das wird sogar meist mit Still- 


1) Veröffentlichung des Kaiserl. Gesundheitsamtes 1904. 
0 





im: Di 


schweigen übergangen. Allerdings können wir ja hoffen, 
dass es der „Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts- 
krankheiten“ gelingen wird, auch hier energisch Wandel zu 
schaffen. 

Auch wenn durch reine Nachlässigkeit der Keim zu 
einer gefährlichen Seuche, z. B. Scharlach, Typhus, anderen 
Menschen übermittelt wird, spricht man nicht von Gemein- 
gefábrlichkeit. Das tut man nur dem armen, bedauerns- 
werten Geisteskranken an. Die Geisteskrankheit wird so 
wenig aus der Welt zu schaffen sein, wie unsere modernsten 
Verkehrsmittel, die ich persönlich sehr schätze, das Automo- 
bil und die Eisenbahn. Auch dabei giebt es viele Unglücks- 
fälle. Niemandem fällt es ein, diese segensreichen Verkehrs- 
institute als gemeingefährlich zu bezeichnen. Dieser Vergleich 
hinkt nicht etwa; denn wie jeder Fortschritt im Verkehr 
anfangs mit Unglücksfällen naturnotwendig verbunden ist, 
ebenso kann unser Bestreben, die gefährlichen Kranken in 
ungefährliche durch die freie Behandlung zu verwandeln, 
nicht ohne gelegentliche und seltene Unglücksfälle verlaufen. 
Die freie Behandlung ist die einzige Möglichkeit, 
bei den geeigneten Fällen die Gefährlichkeit zu 
beseitigen, während fast jeder Geisteskranke, der 
im Sinne eines durch keine Sachkenntnis in seinem 
Urteil getrübten Laien sicher hinter Schloss und 
Riegel verwahrt ist, gefährlich wird. 

Wenn wir verstehen wollen, woher das kommt, dass 
namentlich bei leichtsinniger Verbreitung *von Geschlechts- 
krankheiten, bei Infektionskrankheiten nicht von „gemein- 
gefährlich“ die Rede ist, so müssen wir weiter zurückgehen. 

Es ist noch nicht allzu lange her, dass man die 
Geisteskrankheit von der Sünde und der Leidenschaft abhängig 
gemacht hat, dass man von theologisch-philosophischen Ge- 
sichtspunkten unsere Patienten betrachtete und somit immer 
geneigt war, dieselben in ihrer Strafwürdigkeit einem Ver- 
brecher gleichzustellen und sie als eine Art Schande zu 
betrachten. Und so kommt es auch,. dass heute noch häufig 
der Lokalreporter, der gewissenhaft jedes Verbrechen regist- 
riert, auch ‚Nachricht von der erschütternden Tatsache bringt, 


sis OR es 


dass jemand geisteskrank geworden und in eine Austalt über- 
führt worden ist. 

Es ist also lediglich Vorurteil im Publikum, 
das diesen Geisteskranken, namentlich wenn sie in Konflikt 
mit den Gesetzen und Verordnungen geraten sind, eine so 
ganz besondere Beachtung zuteil werden lässt. Wir würden 
über dies Vorurteil kein Wort verlieren, wenn es nicht für 
das Wohl unserer Schutzbefohlenen von so ganz ausserordent- 
lichem Nachteil wäre. 

Nach meiner Überzeugung wird man nach Vorstehen- 
dem den Satz aufstellen dürfen, dass es andere Krank- 
heiten gibt, welche den Menschen in viel breiterem 
Grade gemeingefáhrlich machen als Geistes- 
krankheiten. | 

Selbstverständlich liegt mir ganz fern — das geht ja 
auch aus meinen bisherigen Ausführungen hervor — zu 
leugnen, dass Geisteskranke gefährliche und zwar recht ge- 
fährliche Handlungen, welche sich gegen Leib uud Gut des 
Nächsten und gegen sich selbst richten, unternehmen können. 
Wenn man aber diese Tatsache bespricht und Vorbeugungs- 
massregeln treffen will, so muss man sich vor allen Dingen, 
um kein Unrecht zu tun, darüber klar sein, dass ebenso, wie 
der Zustand der Geisteskranken sich ändern kann, 
auch die Gefährlichkeit der Geisteskranken sich 
ändert, und dass weiter die Gefährlichkeit der 
Geisteskranken in bestimmten Fällen nicht etwa 
durch die Geisteskrankheit allein, sondern durch 
allerlei Momente, die auf den Geisteskranken ein- 
gewirkt haben, bedingt ist. 

‚Was den ersten Punkt betrifft, so möchte ich besonders 
hervorheben, dass zahlreiche Geisteskranke, bei denen vor 
der Aufnahme in die Anstalt von einer Gemeingefährlichkeit 
nicht gesprochen worden ist, die aber zur rechten Zeit der 
Anstalt zugeführt wurden, im Verlaufe ihrer Krankheit sehr 
wohl gefährlich werden könnten, wenn sie sich ausserhalb 
einer Anstalt in nicht sachkundiger Behandlung befänden, 
und ebenso, dass es zahlreiche Geisteskranke gibt, welche 
vor ihrer Aufnahme eine gefährliche Handlung vorgeuommen 


>, o E 


haben, aber schon nach kurzer Anstaltsbehandlung sich der- 
artig verändern, dass eine gefährliche Handlung nicht mehr 
zu erwarten ist. So sehen wir denn auch, dass es in sehr 
vielen Fällen gelingt, derartige, als besonders gefährliche 
Patienten bezeichnete Kranken bei geeigneter Be- 
handlung nach längerer oder kürzerer Zeit in sozial 
brauchbare Individuen zu verwandeln, wenn nur bei 
der freien Behandlung keine Schwierigkeiten ge- 
macht werden. 

Unter 90 schwer-gefährlichen Kranken, die sich z. Z. 
in meiner Irrenanstalt befinden, sind 65 nach längerer oder 
kürzerer Zeit wieder sozial brauchbar geworden und kommeu 
zu einem kleinen Teil nächstens zur Entlassung; ein Teil ist 
bereits entlassen, ein weiterer Teil ist in Familienpflege 
untergebracht. Ich bemerke, dass unter den 90 sich nicht etwa 
solche Fälle befinden, bei denen davon gesprochen wird, dass 
sie gelegentlich mit dem offenen Licht auf den Boden ge- 
gangen sind, dass sie die Drohung ausgesprochen haben, 
jemanden zu erstechen etc. Es befinden sich darunter zwei 
Mörder, darunter ein Raubmórder, ein Fall von Stuprum vio- 
-lentum etc. Wenn wir also das Interesse von unseren Geistes- 
kranken wahrnehmen wollen, so müssen wir darauf bedacht 
sein, dass, wenn gesetzgeberische Massregeln zum 
gewiss berechtigten Schutz des Publikums ge- 
troffen werden sollen, in fast blindem Eifer nicht zu 
weit gegangen wird, sondern dass bei diesen Massnahmen 
der Zukunft mit der Möglichkeit gerechnet wird, 
dass die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken 
auch wieder verschwinden kann. 

Ist die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken ver- 
schwunden, was ja z. B. immer der Fall sein wird, wenn der 
Geisteskranke genesen ist, aber auch für den Fall eintritt, 
dass nur eine Besserung eingetreten ist oder eine Veränderung 
der Art, dass gefährliche Handlungen nicht mehr zu erwarten 
sind und man erwarten darf, dass sich der Kranke draussen 
im Leben behaupten kann, so wird man ihn in einer Irren- 
anstalt nicht mehr behalten dürfen; er wird zur Entlassung 
kommen müssen. 


— 12 — 


Dass der Staat dem Publikum in dem Wunsche 
nachkommt, dass hier mit der grössten Vorsicht 
verfahren wird, wird jeder von uns nach jeder 
Richtung unterstützen. Denn nichts liegt uns ferner 
als eine frivole Spielerei mit der Gesundheit und dem 
Gute unserer Mitmenschen dadurch, dass wir gefährliche 
Geisteskranke entlassen. Ich kann deshalb auch durchaus 
nicht die in Preussen getroffene Einrichtung, dass drei 
Wochen vor der Entlassung derartiger Kranken der betr. 
Ortspolizei, wo der Kranke sich hinwenden will, Nachricht 
gegeben wird, für unberechtigt und unzweckmässig erklären. 
Nur gegen das eine möchte ich mich wenden und zwar auch 
nur unter dem Gesichtspunkte, dass vielleicht später eine 
andere Reglung dieser Frage in Betracht gezogen wird, dass 
für die Entlassung eines Geisteskranken etwas 
anderes massgebend werden könnte als sein Zu- 
stand. Für die Entlassungsfähigkeit eines Kranken kommt 
nur in Betracht sein Zustand und das, was man bei seinem 
Zustande von ihm erwarten kann, nicht aber das, was er 
etwa in seiner Krankheit gemacht hat. Würde der letztere 
Gesichtspunkt massgebend sein, dann wären unsere Irren- 
anstalten keine Krankenanstalten, sondern Straf- 
anstalten.. 2 | 

Wir haben im Str.G.B. den $51, welcher eine straf- 
bare Handlung als nicht vorhanden hinstellt, wenn sie im 
Zustande von Geisteskrankheit begangen ist. Es ist deshalb 
nicht einzusehen, dass ein Mensch, der das Unglück hat, 
geisteskrank zu werden, und das weitere Unglück hat, durch 
diese Geisteskrankheit ein Vergehen oder Verbrechen zu be- 
gehen, nun lebenslänglich oder wenigstens viele Jahre, wenn 
das sein Zustand nicht erfordert, in einer Irrenanstalt bleiben 
‚soll. Er würde ja dadurch viel mehr gestraft sein als jeder 
Verbrecher. | 

Es würde hier nahe liegen, auch auf die ganze Frage 
der geisteskranken Verbrecher einzugehen, d. h. der Ver- 
brecher, welche im Strafvollzuge geistig erkrankt sind. Dass 
sie nicht länger in einer Anstalt bleiben dürfen, als sie 
geisteskrank sind, liegt auf der Hand. Auf die anderen 


— 13 — 


Punkte einzugehen, welche sehr wichtig sind, muss ich mir 
versagen, weil es nicht streng zum Thema gehört. Ich habe 
an anderen Stellen diese Fragen schon gestreift. 

Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit von Geistes- 
kranken kommt nun zweitens in Betracht, dass es häufig 
eine Verkettung von unglücklichen Zufällen ist, 
dass ein Geisteskranker überhaupt in Konflikt mit 
dem Strafgesetzbuch kommt. Hier kommen in Betracht 
ungeschickte Behandlung von Seiten der Angehörigen, Alko- 
holexzesse, starke Affekte, Aufregung, Not, Kummer und 
Sorge, Strapazen, Überarbeitung, starke Temperaturdifferenzen, 
Hunger und Durst etc., dabei noch die einzelnen Phasen 
beim Manne und Weibe, die mit der Entwicklung und Fort- 
pflanzung zusammenhängen: die Pubertät, das Senium, das 
Sexualleben, die Menstruation, die Schwangerschaft, das 
Puerperium und das Klimakterium. Man findet häufig Fälle, 
wo eine ganze Kette von derartigen ungünstigen Momenten 
auf den Geisteskranken einwirken mit dem Erfolg, dass eine 
strafbare Handlung zustande kam; und wenn man sich die 
Sache mit Ruhe besieht, wird man nicht selten sagen müssen, 
dass eine Fülle von derartigen Komplikationen kaum für das 
spätere Leben denkbar ist. Man wird auch hier kein Be- 
denken tragen können, ... nach gehöriger Prüfung natürlich, 
nachdem sich der Zustand wesentlich gebessert hat, an die 
Entlassung zu denken. 

Es wird jedem von Ihnen schon ergangen sein, 
dass in derartigen Fällen, wo es sich um‘ Entlassung 
eines gefährlich gewesenen Kranken handelt, eine allzu 
vorsichtige Behörde einen Garantieschein verlangt der 
Art, dass in Zukunft nichts wieder vorkommt. Es liegt 
auf der Hand, dass es unmöglich ist, eine derartige Garantie 
zu übernehmen. Eine derartige Garantie würde ich weder 
für Gesunde noch für mich selbst übernehmen. Wir können 
nicht in die Zukunft blicken und nicht übersehen, was aufs 
neue wieder auf den Kranken einstúrmen mag. Das darf aber 
kein Grund sein, einen Menschen, der draussen sein 
Brot verdienen kann, wider Willen in einer Anstalt 
zurückzuhalten. Denn wenn man so etwas verlangen wollte, 


o AD, se 


dann müsste man auch von der Polizei verlangen, dass sie jedes 
Verbrechen im Entstehen erstickt und voraussieht. Natürlich 
wird es notwendig sein, dass solche Geisteskranke noch 
längere Zeit ausserhalb der Anstalt unter Aufsicht 
stehen. Dazu ist notwendig, dass genaue Listen über die ausser- 
halb der Anstalten lebenden Geisteskranken geführt werden. 
Diese Listen müssen aber etwas mehr wie den Namen ent- 
halten, sie müssen auch darüber etwas enthalten, was für eine 
Krankheitsform es ist und woraufhin der Kranke zu beauf- 
sichtigen ist; und diese Aufsicht muss sachgemäss durch- 
geführt werden, nicht vom Gendarmen, sondern vom Arzte. 
Am besten wird sich der psychiatrisch gebildete Medizinal- 
beanıte eignen. Das wird Geld kosten, aber entschieden 
wird es weniger Geld kosten, als alle diese Fälle, 
welche ausserhalb der Anstalt sich ihren Lebens- 
unterhalt selbst wieder erwerben können, auf 
Kosten desGemeinwesensin Anstalten zu füttern. 
Mit Bedingung zur besseren Beaufsichtigung der Kranken 
ausserhalb der Anstalten ist, dass das Publikum über 
Wesen und Bedeutung und Art der Geisteskrankheit 
aufgeklärt wird, beobachten lernt und so allmählich 
weiss, wann es Zeit ist, dass der Arzt geholt wird 
und eventl. die Rückführung in die Anstalt be- 
werkstelligt wird. Das kann aber nur erreicht werden, 
wenn jeder von uns seine Pflicht tut und in Wort und Schrift 
für die nötige Aufklärung des Publikums gerade auch über 
diesen Punkt sorgt. 

Ganz allgemein möchte ich noch hinzufügen, dass es 
als geradezu selten bezeichnet werden muss, dass derartige 
entlassene Geisteskranke irgend ein schweres Vergehen gegen 
Leib und Gut des Nächsten unternehmen. Würde das öfters 
vorkommen, dann würden wir heute in der Presse und im 
Parlament nicht Erörterungen darüber haben, wie man die 
Aufnahmen in die Irrenanstalten erschweren soll, sondern es 
würden Erwägungen angestellt werden, wie man die Ent- 
lassung verhindern oder erschweren kann. | 

Neben den Geisteskranken, welche gefährlich werden 
können, spielen nun neuerdings im Laien- und sachkundigen 


ae A 


Publikum die geistig Minderwertigen, welche ge- 
fährlich sind, eine grosse Rolle. Man muss sich nach meiner 
Überzeugung ganz ausserordentlich hüten — namentlich unter 
dem Gesichtspunkte der modernen strafrechtlichen Reform- 
bewegung —, Geisteskranke und geistig Minderwertige zu- 
sammenzuwerfen. Ich habe schon oben erwähnt, dass die 
strafbare Handlung eines Geisteskranken nicht vorhanden 
ist; für den geistig Minderwertigen geht aber die allgemeine 
Meinung nach den Kongressen der letzten Jahre dahin, dass 
zwar auch eine Behandlung, aber eine strafrechtliche Be- 
handlung am Platze sei. Die Irrenanstalten sind bestimmt 
zur Behandlung von Geisteskranken, aber nicht zu einer 
strafrechtlichen Behandlung von geistig Minderwertigen. 
Es gehört also der geistig Minderwertige unter keinen Um- 
ständen in die Irrenanstalt; denn mit dem Strafvoll- 
zuge haben unsere Irrenanstalten nichts zu 
tun: sie sind rein Krankenanstalten. An dem Tage, wo das 
geschehen würde, dass auf dem Wege des strafrechtlichen 
Strafverfahrens oder auch auf dem Wege des Zivilverfahrens 
der Entmündigung jemand einer Irrenanstalt zur strafrecht- 
lichen Behandlung überwiesen würde, würde die Anstalt 
den Charakter eines Krankenhauses verlieren 
und dieganzemoderneBehandlung der Geistes- 
kranken, welche gerade in den letzten Jahr- 
zehnten zum Wohle unserer Patienten unge- 
ahnte Fortschritte gemacht hat, unmöglich 
werden. Es würde das ein grosses Unglück für 
unsere Kranken sein und ein Schlag ins Ge- 
sicht für die Angehörigen, die ihre Kranken 
vertrauensvoll den Anstalten zur Behandlung 
übergeben, und ferner ein Rückschritt fast 
ins finstere Mittelalter; denn es würden 
Geisteskranke in der Behandlung mit ver- 
brecherischen Naturen auf gesetzlichem Wege 
gleichgestellt. 

Es soll dabei nicht unerwähnt bleiben, dass heute nicht 
selten geistig Minderwertige, welche irgendwelche Verbrechen 
begangen haben, den Irrenanstalten zugeführt werden; nament- 


zs Jë a 


lich kommt das häufig aus dem Strafvollzuge vor. Sie sind 
das Kreuz für die moderne Anstaltsbehandlung der Geistes- 
kranken. Je mehr wir uns dagegen wehren, desto eher wird 
man auch für diese Grenzfälle geeignete Institute zur Be- 
handlung errichten. Je eher das geschieht, um so besser 
wird es für unsere Geisteskranken sein. 

Ich komme damit zum Schlusse und glaube, nachge- 
wiesen zu haben, dass die Gemeingefährlichkeit 
der Geisteskranken entschieden überschätzt 
und übertrieben wird, dass ein nicht geringer 
Teil der gemeingefährlichen Handlungen der 
Geisteskranken vermieden werden kann, wenn 
dadurch für rechtzeitige Aufnahme der Geistes- 
kranken gesorgt wird, dass das Publikum 
immer mehr aufgeklärt und das Aufnahme- 
verfahren nach Möglichkeit erleichtert wird 
und die Kranken ausserhalb der Anstalten in 
sachgemässer Weise überwacht werden, dass 
die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken 
sich auch wieder verlieren kann, dasser dann 
selbstverständlich entlassen werden muss, 
dassesaberdas guteRecht des Staates bleibt, 
zun Schutze desPublikums gewisseVorsichts- 
massregeln zu treffen, z.B. die vorherige An- 
meldung der Entlassung an die Ortspolizei- 
behörde, dass aber darüber, ob ein Kranker 
entlassen werden kann, nur sein Zustand und 
nicht, was er begangen hat, entscheidet, und 
dass das Urteil also nur beim Arzte liegen 
kann, und dass schliesslich die scharfe Be- 
tonung der Gemeingefährlichkeit der Geistes- 
kranken in der neueren Zeit auf Grund der 
verschiedensten Vorurteile entsteht und nur 
zum Schaden unserer Kranken und Anstalten 
weiter verbreitet wird. 


Hofbuchdruckerei C. A. Kaemmerer & Co., Halle a. S. 


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IV 





Juristisch -psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. ' 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


III. Band, Heft 5. 


Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1905. 


Ueber die unverbesserlichen Gewohnheits- 
verbrecher und die Mittel der Fürsorge zu ihrer 
Bekámpfung.*) 

Von 


Dr. Ernst Siefert, leitendem Arzt der Beobachtungsstation fiir 
geisteskranke Gefangene am Strafgefángnis zu Halle a, S. 


E, ist das Schicksal der modernen Gefangenen-Fürsorge- 
bestrebungen, dass ihr Wirken mit zahlreichen Misserfolgen zu 
kämpfen hat. 

Sieht man den Dingen ohne Selbsttäuschung ins Auge, so 
ergibt sich, dass erfolgreiche Objekte der Fiirsorge eigentlich 
nur diejenigen sind, welche auf Grund einer besonderen Kom- 
bination von Zufälligkeiten oder äusseren Bedingungen ein- 
mal oder auch ófter gleichartige oder verschiedenartige straf- 
bare Handlungen begehen, wáhrend die, bei denen das Ver- 
brechen die Folge innerer Vorgánge, besonderer Charakter- 
veranlagung ist, sich als unzugänglich und ungeeignet erwiesen. 
Machen wir uns eine landläufige Ausdrucksweise zu eigen, so 
heisst dass: die Erfolge der Fürsorge begrenzen sich 
im Allgemeinen in dem Gelegenheitsverbrechen 
und dem sozial bedingten Rückfallverbrechen, dem 
Verbrechen aus Not, Unerfahrenheit, Verführung, Leichtsinn, 
gewissen Affekt- und Trunkenheitsverbrechen etc.; siescheitern 
in dem Kampfe gegen das Gewohnheitsverbrechen, 


*) Nach einem auf der XXI. Jahresversammlung der „Gefängnisgesell- 
schaft für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt“ gehaltenem 
Vortrag. 

1* 


— 4 — 


den unverbesserlichen Verbrecher aus Anlage, der sich uns in 
den Trunksüchtigen, einem grossen Teil der Prostituierten, 
vielen ewig rückfälligen Dieben und Schwindlern, den arbeits- 
scheuen Vagabonden, gewissen habituellen Affektverbrechern, 
den geschlechtlich Perversen und anderen Menschenkategorien 
darstellt. 

Was ist der Grund für diese auffällige und unbestreitbare 
Tatsache? Der zunächst liegende Gedanke ist der, dass viel- 
leicht ein zu geringerinnerer Wertderfiirsorgenden 
Kräfte dafür verantwortlich gemacht werden könnte, und dass 
es möglich sein müsste, durch Steigerung der Mittel und um- 
fassendere Organisation der Fürsorge aus diesen refraktären 
Elementen beizukommen. Nun lässt sich zwar eine derartige 
Auffassung nicht strikte widerlegen, da sichere Schlüsse eben 
nur auf Grundlage des jemals vorhandenen Status quo gezogen 
werden können; und es lässt sich auch nicht ableugnen, dass 
die Organisation der Fürsorge, ihre Mittel und vor allem die 
werktätige Energie, mit der sie gebraucht werden, einer weit- 
gehenden Verstärkung noch zugänglich und bedürftig sind; alle 
Erfahrungen drängen aber doch zu dem Wahrscheinlichkeits- 
schluss, dass eine hierauf gegründete Hoffnung eine triigerische 
ist, und dass auch eine ideal ausgestaltete Fürsorge im Ralımen 
der gegebenen Verhältnisse auf das Gewohnheitsverbrechen in 
der oben gemachten Umgrenzung nach wie vor ohne Einfluss 
bleiben wird. 

In dieser Beziehung steht die Fürsorge nicht allein da; 
sie hat in dem modernen Strafvollzug einen Schicksalsgenossen, 
der zwar mit ganz andersartigen Mitteln operiert, in seinen 
Resultaten aber gegenúber dieser Menschenklasse dasselbe, 
d. h. negative Ergebnis erzielt. Auch hier finden wir den Ge- 
danken, teilweise mit extremer Schärfe, verfochten, dass es 
vorwiegend oder ausschliesslich die Unvollkommenheiten des 
Strafvollzuges sind, welche die Erfolglosigkeit seiner Absichten 
gegenüber dem Gewohnheitsverbrecher bedingen; auch hier 
glaubt man durch Reformen in der einen oder anderen Richtung 
einen weiter gehenden Einfluss noch erzielen zu können; auch 
hier macht sich aber mehr und mehr die Einsicht geltend, 
dass eine selbst ideale Ausgestaltung des Strafvollzuges — 


= Deo 


mag man sie nun in der intensiveren Betonung der Besserungs- 
tendenzen oder in der Steigerung der physischen Zwangsmittel 
erblicken — mit grösster Wahrscheinlichkeit den im Gewohn- 
heitsverbrecher umschriebenen Teil der strafbarwerdenden 
Menschen nicht wird beeinflussen können. 

Wenn wir nun sehen, dass die verschiedenartigsten Mittel 
sämtlich und geradezu gesetzmäßig einer bestimmten Klasse 
von Menschen gegenüber versagen, wenn wir sehen, dass hier- 
an auch mit dem Fortschreiten der angewandten Methoden zu 
ihrer jetzigen Höhe nichts nennenswertes geändert worden ist, 
so drängt sich ganz von selbst der Gedanke auf, dass 
der wahre Grund dieser Erscheinung nicht in der Unzu- 
länglichkeit der Mittel an sich, sondern in einer besonderen 
Eigenart der in Frage kommenden Individuen liegt, 
die sich durch äussere Mittel eben überhaupt nicht beeinflussen 
lässt. 

Dieser Gedanke, dass die Ursache der Misserfolge der 
Fürsorge und des Strafvollzuges in der spröden Besonderheit 
des Materials begründet ist, das bearbeitet werden muss, ent- 
hält meiner Überzeugung nach die Wahrheit; tausendfältige 
Erfahrungen sprechen überzeugend für seine Richtigkeit und 
die zu lösende Aufgabe kann kaum noch in der Herbeitragung 
neuer Beweismomente, sondern lediglich in der genauen 
Analysierung der die Unbeeinflussbarkeit bedingenden Be- 
sonderheit des Gewohnheitsverbrechers bestehen. 

Diese Besonderheit lässt sich meines Erachtens kurz in 
dem Worte „Krankhaftigkeit oder Minderwertigkeit“ 
präzisieren. Der Gewohnheitsverbrecher ist nicht ein normaler, 
sondern der Regel nach ein minderwertiger Mensch, nicht eine 
geistige Vollkraft, sondern eine „halbe Geisteskraft“; sein 
Handeln ist kein lediglich psychologisch, sondern in grösserem 
oder geringerem Umfange pathologisch bedingtes. Da aber 
Seelenzustände, bei denen krankhafte Elemente mit ins 
Spiel kommen, erfahrungsgemäß jeder äusseren Einwirkung 
unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten, da andererseits der 
Strafvollzug, wie auch die Fürsorge, auf ein normales 
Geistesleben zugeschnitten ist, so erklärt sich hieraus un- 
gezwungen das Charakteristikum der Unbeeinflussbarkeit. 


Sa or 


Das Pathologische im Seelenleben des Gewohnheitsver- 
brechers liegt nun teilsaufdem Gebiete desIntellektes, 
teils und vorwiegend auf dem der Affekte. 

Ist ein grösserer oderer geringerer Schwachsinn vorhanden, 
so liegen die Dinge verhältnismäßig klar und unbestritten. 
Eine einfache Exploration enthüllt dann mit Leichtigkeit die 
Defekte des Gedächtnisses, den Tiefstand der Urteilskraft, den 
Mangel an einfachsten Kenntnissen, die Unfähigkeit, vorhandene 
Kenntnisse durch logische Assoziationen beim Denken und 
Handeln zu verwerten, und das hieraus sich ableitende kindische 
und leicht beeinflussbare, unselbständige und haltlose Ge- 
bahren. Niemand wird erwarten können, dass das reduzierte 
Geistesleben einer solchen „halben Geisteskraft* sich den 
Reizen und Schwierigkeiten der Umgebung gegenüber ebenso 
verhalten wird, als eine geistige Vollkraft. 

Viel komplizierter wird dagegen die Beurteilung, sobald, 
bei guter Intelligenz, Anomalien der affektiven Seite des 
Seelenlebens in Frage kommen, Anomalien, die man nicht 
zahlenmäßig fixieren, nicht auch dem Laienauge beweisend vor- 
führen kann. Hier stehen sich denn auch zwei verschiedene 
Anschauungen unversöhnlich gegenüber, die eine, die in dem 
Gewohnheitsverbrecher einen bewussten und nur aus Freude 
am Bösen handelnden Übeltäter erblickt, die andere, die ihn 
als ein pathologisches, in seinem Wollen durch_ krankhafte 
Momente beeinflusstes und beschränktes Individuum auffasst, 
die eine, die in seinem Handeln nur bewusste und absichtliche 
Bosheit und Rohheit, arbeitsscheue Genusssucht etc. erkennt, 
die andere, der sein Handeln als der Ausfluss eines patho- 
logischen Affektlebens erscheint; die eine, die die Unverbesser- 
lichkeit als eine Folge böswilliger Verstocktheit auffasst, die 
andere, die in ihr die notwendige Folge eines abnormen an- 
geborenen oder erworbenen Seelenzustandes erblickt. 

Für mich ist auch der nicht nachweisbar schwachsinnige 
echte Gewohnheitsverbrecher der Regel nach ein seelisch 
Minderwertiger; sein Seelenleben erscheint mir allenthalben 
getragen und durchsetzt von pathologischen Affekten und 
Trieben; überall tritt mir eine abnorm schwache oder abnorm 
starke oder direkt perverse Affektbetonung entgegen, die die 


e Y 


eigentliche Ursache des verbrecherischen Handelns wird, überall 
sehe ich Übergänge, Anklänge, Analogien und Beziehungen zu 
Zuständen, die mir aus dem Studium der Geisteskrankheiten be- 
kannt sind; ich erkenne, dass der qualitativen Unterschiede 
nicht all zu viele sind, und dass oft nur eine quantitative 
Differenz festzustellen ist; ich sehe, wie ein bestimmter, auf- 
fallender Geisteszustand oft gesetzmäßig eine bestimmte Ver- 
brechensart erzeugt; ich sehe, wie derselbe Seelenzustand bei 
leichter Ausprägung seiner Symptome einen Verbrechertypus 
bildet, bei schärferer Ausprägung dagegen als unverkennbare 
Geisteskrankheit sich zu erkennen gibt; ich sehe dieselben 
Geisteszustände in einem Falle unverändert das ganze Leben 
hindurch herrschen und zum Träger einer verbrecherischen 
Individualität werden, und ich sehe sie in anderen Fällen nur 
als Episoden auftreten und dann auch von Laien ohne Weiteres 
als Krankheitszustände anerkannt. 


So ergibt sich mir, wie jedem psychiatrisch Geschulten, 
schon 'aus der einfachen Beobachtung die Annahme der krank- 
haften Minderwertigkeit des Gros der Gewohnheitsverbrecher 
als eine sich unmittelbar aufdrängende Abstraktion. *) 


*) Es ist unmöglich, im Rahmen dieser skizzenhaften Ausführungen 
detailliertere Angaben über das, was man als klinische Symptomatologie 
des unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers bezeichnen könnte, zu machen 
und insbesondere die zahlreichen Formenbilder darzustellen, die, obne Be- 
stehen einer intellektuellen Schwäche, antisoziales Handeln nach sich ziehen. 
Leider ist es auch nicht möglich, ein Werk hier namhaft zu machen, 
welches der Lektüre empfohlen werden könnte, da es trotz einer unendlichen 
Fülle forens-psychiatrischer und kriminal-anthropologischer Literatur eine wirk- 
lich umfassende Darstellung dieser Dinge nicht gibt. Nachdem das Lom- 
brososche Phantasieprodukt des „delinquente nato“, der als einheitlicher 
Typus, als atavistischer Rückschlag in die Urzustände der Menschheit auf- 
gefasst werden sollte, zu Grabe getragen worden ist, und mehr und mehr 
sich die Überzeugung durchringt, dass im Gegenteil der minderwertige Ge- 
wohnheitsverbrecher nach Ursachen und Erscheinungsformen eine unendliche 
Vielgestaltigkeit in sich schliesst und durchaus keinen Rückschlag, sondern 
eine wahrhaft moderne, durch die sozialen Umstände geschaffene Krankheits- 
erscheinung am Volkskörper darstellt, dürfte es wohl an der Zeit sein, dass 
eine umfassende Symptomatologie dieser Krankheitserscheinung geschaffen 
würde. Bouhöffer-Breslau hat in einer glänzenden Studie die Bettler 
und Vagabunden in diesem Sinne analysiert und ist zu bemerkenswerten 


= 8 m 


Aber diese Anschauungsweise erklärt mir auch allein eine 
ganze Reihe anderer eigentümlicher Erscheinungen. Sie macht 
mir die absolute Unverbesserlichkeit des Gewohnheitsverbrechers 
erst verständlich, den langsamen Selbstmord, wie ein klassischer 
Autor das Wüten dieser Menschen gegen sich selbst durch die 
Art ihres Handels gezeichnet hat; sie macht mir verständlich, 
warum in degenerierten Familien so häufig neben echten 
Geisteskrankheiten, Selbstmorden und abnormen Charakteren 
plötzlich eine Verbrecherindividualität auftaucht, dadurch ihre 
Verwandtschaft zu Krankheitszuständen deutlich dokumen- 
tierend; sie lässt mich begreifen, warum die Gewohnheitsver- 
verbrecher so leicht selbst den kurzen Schritt zur echten 
Geistesstörung tun, warum sich bei ihnen so massenhaft 
nervöse Störungen und körperliche Entartungszeichen finden ; 
warum sie häufig eigenartigen, auf inneren Vorgängen be- 
ruhenden und exquisit krankhaften Stimmungsschwankungen 
unterliegen, die als periodische Trunksucht, als periodischer 
Wandertrieb, als periodische Steigerung des sexuellen Trieb- 
lebens, als periodisch gesteigerte Reizbarkeit etc. uns vor Augen 
treten und für das soziale Verhalten des Verbrechers, sein dis- 
ziplinares Verhalten in der Anstalt und insbesonders für seine 
Rückfälligkeit von einschneidendster Bedeutung werden. Sie 
gibt mir aber auch den Schlüssel in die Hand, der mir das 
Verständnis für den Verteilungsmodus des Gewohnheitsver- 
brechens, die Ursachen seines Anwachsens und das Wesen des 
jugendlichen Rechtsbrechers vermittelt. 

Auf diese letzteren Punkte will ich mit einigen Worten 
eingehen. 

Es gibt jedenfalls eine nicht ganz geringe Zahl von Fällen, 
in denen ein verbrecherischer Hang im Laufe des individuellen 
Lebens erworben wird. Z. B. können Geisteskrankheiten 
Defektzustände hinterlassen, die mit verbrecherischen Neigungen 
sich komplizieren; die Epilepsie, Schädelverletzungen können 


Resultaten gekommen, Mönke möller-Osnabrück hat die jugendlichen 
Minderwertigen in einer ausgezeichneten Arbeit psychopathologisch und 
ätiologisch untersucht u. a. m. Aber der erwachsene Gewohnheitsverbrecher 
hat im Allgemeinen noch nicht die ihm gebührende monographische Berück- 
sichtigung gefunden. 


== O. 


Gehirnveránderungen setzen, die die Persónlichkeit zu einer 
kriminellen Individualität umwandeln ; die Altersveränderungen 
des Gehirns können Störungen mit sich führen, die — ich er- 
innere an die Sittlichkeitsdelikte der Greise — ausgesprochen 
verbrecherische Neigungen erzeugen; der übertriebene Alkohol- 
missbrauch kann, auch ohne dass eine angeborene Anlage be- 
steht, endlich den krankhaften Zustand der Trunksucht mit 
seinen kriminellen und sozialen Folgeerscheinungen erzeugen ; 
schliesslich mag es auch vorkommen — jedenfalls wird es 
oft behauptet — dass gelegentlich die Ungunst der Verhältnisse 
allein, ohne Disposition und rein. psychologisch, einen echten 
und unbeeinflussbaren Verbrechercharakter hervorbringt. Ebenso 
sicher ist es mir aber, dass wir in solchen Fällen nicht die 
Regel, sondern die Ausnahme zu erblicken haben, und dass 
der Regel nach die Minderwertigkeit des Gewohnheitsverbrechers 
aus einer ererbten und angeborenen Anomalie ent- 
springt, die sich als eine besondere Form geistiger Entartung 
darstellt. *) | 

Mit einer solchen Annahme erklären sich eine ganze Reihe 
von Tatsachen; zunächst die eigentümliche Erscheinung, dass 
wie schon erwähnt, sich der Verbrechercharakter ausserordent- 
lich häufig familiär mit Entartungszuständen verschiedenster 
Art vergesellschaftet. 


Ferner die Erscheinung, dass das Gewohnheitsverbrechen 
in ausgesprochener Weise an die soziale Schicht des städti- 


*) In der an diesen Vortrag sich anschliessenden Diskussion fand die 
Auffassung der Unverbesserlichkeit des Gewohnheitsverbrechers als Krank- 
heitsphänomen — wenigstens in zahlreichen Fällen — von geistlicher 
Seite uneingeschränkte Anerkennung. Widerspruch aber erhob sich gegen 
die Zurückführung des verbrecherischen Charakters auf eine in Anlage und 
Vererbung wurzelnde Degeneration; man glaubte vielmehr, an den Anfang 
der Verbrecherlaufbahn das freie Wollen und schuldhafte Sündigen 
stellen zu müssen und fasste den krankhaften und unfreien Zustand des 
ausgebildeten Gewohnbeitsverbrechers als das Endprodukt einer Reihe von 
körperlichen und geistigen Schädigungen auf, die das ursprünglich freige- 
wollte Leben in Sünde und Unmoral nach sich ziehen müsse. — Ich bin 
ausser stande, diese Anschauung als richtig zu akzeptieren; die Differenz 
hat aber gegenüber der praktisch unendlich wichtigeren sonstigen Über- 
einstimmung im Grunde genommen nur eine mehr theoretische Bedeutung. 


a LO a 


schen Proletariats gefesselt ist, und dass es in unbestreitbarem 
Wachsen begriffen ist. Wir wissen námlich, dass dem modernen 
Kulturmilieu eine gewisse Entartungstendenz eigentümlich ist, 
die nicht nur vorhanden, sondern auch noch in offenbarer Zu- - 
nahme begriffen ist, und die sich in gleicher Weise auf körper- 
lichem und geistigem Gebiete geltend macht; ich erinnere in 
dieser Beziehung nur an die zunehmende Verschlechterung der 
Widerstandskraft des Gebisses, an die immer mehr um sich 
greifende Kurzsichtigkeit, an die von vielen behauptete, steigende 
Unfähigkeit der Weiber, ihre Kinder zu stillen; auf geistigem 
Gebiet an das Anwachsen degenerativer Störungen des Nerven- 
systems, von der einfachen Neurasthenie an bis zu der, aus- 
schliesslich die modernen Kulturnationen heimsuchenden 
schrecklichsten Geisteskrankheit, der Gehirnerweichung; wir 
wissen ferner, dass diese Entartungserscheinungen da am 
stärksten in die Augen springen, wo die heutigen Kultur- 
formen am schärfsten ausgeprägt sind, d. h. in den Städten, 
namentlich den Grossstädten, und in den vom Industrialismus 
in Mitleidenschaft gezogenen Gesellschaftsschichten. Hieraus 
wird nun begreiflich, warum auch das Gewohnheitsverbrechen, 
als ein Spezialfall der Entartung, gleichfalls eine gewisse zu - 
nehmende Tendenz zeigt, während die allgemeine Krimi- 
nalität eher im Fallen begriffen ist, und warum es uns im 
städtischen Proletariat, das auch sonst die meisten entarteten 
Glieder zählt, am häufigsten entgegentritt. 


Drittens macht mir meine Anschauung die relative Unab- 
hängigkeit des verbrecherischen Charakters vom Milieu ver- 
ständlich. Wir sehen nämlich, dass weder die moralische und 
materielle Not mit gesetzmäßiger Notwendigkeit das Gewohnheits- 
verbrechen nach sich zieht, noch dass auch das sozial günstigste 
Milieu vor der Ausbildung eines verbrecherischen Charakters 
regelmäßig schützt; ich brauche Sie in dieser Beziehung nur 
an die zahllosen „verlorenen Söhne“ der höheren Stände zu er- 
innern, die trotz Fernhaltung aller schädlichen Reize, trotz 
Beispiel, Erziehung und Bildung mit schrecklicher Sicherheit 
ihrem Ruin entgegen gehen, und denen man in den Gefäng- 
nissen noch viel häufiger begegnen würde, wenn sie nicht 
durch Unterbringung in Anstalten oder durch Versehickung in 


u. dh 


fremde Länder rechtzeitig unschädlich gemacht würden; ich 
erinnere Sie auch an die Dirnencharaktere unter den weiblichen 
Angehörigen unserer höheren Gesellschaftsschichten, die rätsel- 
haft aus der reinsten und zartesten Atmosphäre eines edlen 
Familienlebens emporwachsen können. 

Viertens aber erklärt mir meine Auffassung auch das 
Wesen und die Verteilung des jugendlichen Verbrechertums. 
Ich gebe zu, dass ein Teil der Verbrechen der Jugendlichen 
durch schlechte häusliche Erziehung und hässliche Lebensbe- 
dingungen, durch Anstiftung seitens Erwachsener etc. hervor- 
gerufen wird, und dass diese Elemente, sofern das Versäumte 
auf die eine oder andere Weise nachgeholt, die Milieuschäd- 
lichkeiten beseitigt werden, natürlich gebessert werden können; 
ich glaube aber nicht, dass das Jugendverbrechen hierin sich 
erschöpft, muss vielmehr nach allem, was ich selbst gesehen 
und gelesen habe, annehmen, dass gerade das jugendliche Ver- 
brechen häufig den charakteristischen Typus des Verbrechens 
aus minderwertiger Anlage darstellt. Bei jugendlichen Rechts- 
brechern sehen wir die Anlage als ausschlaggebenden Faktor 
am reinsten und unkompliziertesten sich uns darstellen; denn 
hier fallen die Trunksucht, die Vagabondage. die Prostitution, 
die äusserste materielle Not, in der die erwachsenen Gewohn- 
heitsverbrecher gewöhnlich leben und von denen man zweifel- 
haft sein kann, ob sie die Folge einer abnormen Organisation 
oder die eigentliche Ursache des Gewohnheitsverbrechens sind, 
zum guten Teil fort. Wenn wir nun ferner sehen, dass bei 
dem Gros der jugendlichen Rechtsbrecher dieselben Eigentüm- 
lichkeiten und Abnormitäten das Charakterbild beberrschen, wie 
bei den erwachsenen Gewohnheitsverbrechern, wenn wir er- 
kennen, dass auch diese jugendlichen Individuen, die normaler 
Weise noch vollkommen bildsam sein müssten, gegen alle 
Mittel der Erziehung und der Strafe refraktär erscheinen, wenn 
wir sehen, dass die überwiegende Masse der echten Gewohn- 
heitsverbrecher aus dem jugendlichen Verbrechertum hervor- 
gegangen ist, in ihm ihren Nährboden hat, ihren Nachschub 
erhält, so dass es geradezu charakteristisch ist, dass erwachsene 
Unverbesserliche als halbe Kinder bereits oder in den Entwick- 
lungsjahren zum Verbrecher geworden sind; wenn wir schliess- 


= O ze 


lich sehen, dass auch das Jugendverbrechen den allgemeinen 
Gesetzen der Entartung folgt, in den grossen Stádten viermal 
häufiger beobachtet wird, als auf dem platten Lande, vorwiegend 
an die proletarische Gesellschaftsschicht gefesselt ist, andererseits 
aber doch auch wieder in den besten Milieuverhältnissen empor- 
wachsen kann, so kann auch aus allen diesen Tatsachen meiner 
Überzeugung nach nur der Schluss auf eine angeborene ab- 
norme Anlage auch des Gros der jugendlichen Rechtsbrecher 
gezogen werden. 

Wie man sieht, lege ich zwar dem Milieu als Entartungs- 
zustände erzeugendem Moment eine hervorragende Wichtigkeit 
bei, stelle aber im Übrigen seine Bedeutung — gerade im 
Gegensatz zum Gelegenheitsverbrechen — erst in zyeite Linie. 
Damit soll natürlich die verhängnisvolle Rolle, *die es durch 
Gewährung der Anreize spielt, die die verbrecherische 
Anlage in die Tat umsetzen, nicht im geringsten bestritten 
werden; denn es kann ja keinem Zweifel unterliegen, dass, je 
ungünstiger die Daseinsverhältnisse sind, um so leichter der 
rechtliche Konflikt resultiert, dass die kriminelle Gefahr mit 
der Ungunst der äusseren Verhältnisse wächst. So erscheinen 
mir Armut, Hunger, Verführung und schlechtes Beispiel, Trink- 
unsitte, Laxheit der sexuellen Moral, Aufwachsen in einer ver- 
kommenen und verbrecherischen Umgebung nicht als eigentliche 
Ursachen des Gewohnheitsverbrechens, der Trunksucht und der 
Prostitution, sondern im wesentlichen nur als der agent 
provocateur, dem eine abnorme Anlage, je wuchtiger die Masse 
der schädlichen Reize auf sie einwirkt und je stärker sie 
selbst ausgebildet ist, um so bedingungsloser unterliegt. Leider 
sorgt auch der natürliche Verlauf der Dinge dafür, dass der 
Minderwertige mit einer gewissen schrecklichen Sicherheit ge- 
rade in dieses gefährlichste Milieu, wo er sich am aller- 
wenigsten rein zu halten vermag — wenn ihn nicht eine 
fremde Hand hält — hinuntergezogen wird; denn es ist be- 
kannt, dass der geistig Minderwertige zumeist auch wirtschaft- 
lich minder tauglich ist, woraus dann ein successives Tiefer- 
sinken auf der sozialen Stufenleiter mit Notwendigkeit folgen 
muss. 

Ich habe damit meine Anschauungen über Wesen und 


u IR 


Entstehung des unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers in 
skizzenhaften Umrissen dargelegt, sie gipfeln in folgenden 
Sätzen: 

1. Der (Grewohnheitsverbrecher ist durch äussere Mittel im 
allgemeinen nicht beeinflussbar. 

2. Der Grund dieser Unbeeinflussbarkeit liegt zumeist in 
einer seelischen, als krankhaft anzusprechenden Minderwertig- 
keit. 

3. Diese Minderwertigkeit ist selten eine erworbene, der 
Regel nach vielmehr eine angeborene und als eine besondere 
Form der Entartung aufzufassen. 

4. Der jugendliche Rechtsbrecher stellt in einem grossen 
Prozentsatz das erste Entwickelungsstadium des Gewohnlıeits- 
verbrechers dar; er folgt daher auch dem gleichen Gesetz wie 
dieser. 

5. Das soziale Milieu hat eine doppelte Bedeutung; es 
erzeugt die verbrecherischen Entartungsformen und es schafft 
die Reize, durch die die Anlage in die antisoziale Handlung 
umgesetzt wird. 

Es erhebt sich nun die Frage: Was kann man und 
was kann insbesondere die Fürsorge für diese 
Menschenklasse tun, die aus Gründen ihrer sozialen 
Gefährlichkeit und ihrer sozialen Hilfslosigkeit 
der Führung und der Hilfe am allerdringendsten 
bedarf? 

Beginnen wir mit dem Negativen ! 

Zwecklos erscheinen zunächst alle Besserungstendenzen; 
es wird der Fürsorge niemals gelingen, etwa die Anlage zur 
Trunksucht, die blinde Reizbarkeit des Affektmenschen, die 
Halt- und Energielosigkeit des Geistesschwachen, die Unstetig- 
keit des arbeitsscheuen Vagabunden, die Perversitäten des 
Geschlechtstriebes etc. durch liebevollen Zuspruch oder durch 
eine Art suggestiver Erweckung von religiósen und moralischen 
Gegenvorstellungen zu beseitigen, und ebenso wenig wird es 
dem Strafvollzug jemals gelingen, durch Gewaltmaßregeln 
diese krankhaften und für das verbrecherische Handeln maß- 
gebenden Anomalien zu eliminieren. 


e E 


Alle Opfer an Zeit, Kraft, Geld und Kredit, die die Für- 
sorge dem Besserungszwecke der Unverbesserlichen bringt, 
müssen daher grundsätzlich als nutzlos, als verschwendet be- 
zeichnet werden. 

Wenig aussichtsvoll ist ferner der Kampf gegen das soziale 
Milieu. Wir sind machtlos gegenüber der Entwickelung des mo- 
dernen Kulturmilieus zu immer einseitigeren industrialistischen 
und merkantilistischen Wirtschaftsformen ; wir können den aus den 
Abnormitäten unseres Kulturlebens resultierenden Entartungsten- 
denzen nur höchst unwirksam entgegentreten, wir vermögen nicht, 
der Landflucht, der zunehmenden Rücksichtslosigkeit des Dasein- 
kampfes, dem spezifischen Pauperismus der Städte, der Prosti- 
tution in ihren widerlichen modernen Formen, all den zer- 
setzenden und degenerierenden Einflüssen der städtischen Milieus 
einen festen Damm entgegen zu setzen; wir sind sogar nicht 
einmal im Stande, selbst ein so wohl umschriebenes und in 
seinen Wirkungen so wohl bekanntes degenerierendes Element, 
wie es der Alkoholismus in seiner heutigen Form ist, trotz 
einer beispiellosen Agitation und trotz zahlreichster Maßnahmen 
verschiedenster Art wahrhaft erfolgreich zu bekämpfen. Daraus 
ergibt sich nun von selbst, dass die Fürsorge mit ihrem eng- 
umschriebenen Wirkungskreis und ihren beschränkten Mitteln 
als ein selbständig wirkender Faktor zur Bekämpfung dieser 
Schäden nicht ernsthaft in Frage kommt. 

Was vermögen wir nun aber Positives und Erfolgver- 
sprechendes zu leisten? 

Nun, meine Herren, meiner Überzeugung nach gibt es 
ein Mittel, ein einziges, aber wirksames, mit dem wir dem 
Gewohnheitsverbrechen aus minderwertiger Anlage entgegen- 
treten können. Wir müssen die Einzelindividualität genau 
studieren und künstlich ein Milieu schaffen, in dem die schäd- 
lichen Reize ausgeschaltet und die Lebensbedingungen derartige 
sind, dass das Individuum, ohne sich und anderen zu schaden, 
darin zu existieren vermag. Grundsätzlich muss dabei daran 
festgehalten werden, dass die Versetzung in dieses Milieu keine 
vorübergehende, sondern eine dauernde zu sein hat, und dass 
es den individuellen Eigentümlichkeiten angepasst werden 
kann. 


e A see 


Verfolgen wir diesen Gedanken etwas eingehender und 
betrachten wir die verschiedenen schon heute bestehenden 
künstlichen Milieuformen, mit denen der minderwertige Ge- 
wohnheitsverbrecher in Berührung kommt, auf ihren Wert und 
ihre Bedeutung für ihn. 


Es sind deren im Wesentlichen vier namhaft zu machen: 


Das erste künstliche Milieu, das ich nur der Voll- 
ständigkeit halber erwähne und in das auch die abnorm 
Organisierten sehr häufig hineingezwungen werden, ist das 
militärische; es ist unstreitig als ein für alle Minderwertigen 
höchst gefährliches zu bezeichnen. Denn charakteristischer 
Weise wird das militärische Leben, dieses grossartigste Er- 
ziehungsmittel für die normalen Erwachsenen unseres Volkes, 
bei einer grossen Zahl der geistig abnormen Individuen zu 
einer verhängnisvollen Quelle von Konflikten; ja manche von 
ihnen, die den Verhältnissen ihrer gewöhnlichen sozialen Um- 
gebung gerade noch gewachsen waren, erliegen unter den 
eigenartigen Schwierigkeiten dieses Milieus und stellen ein 
‚grosses Kontingent zu den spezifischen militärischen Verbrechen. 
Dadurch, dass die verhängten Strafen aus Gründen der Disziplin 
besonders drakonische sein müssen, gestaltet sich die Situation 
für diese Minderwertigen noch viel kritischer, und es wäre 
daher ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, dass nicht nur die 
körperlich, sondern auch die geistig und moralisch Minder- 
wertigen den Gefahren dieses Milieus nach Möglichkeit ent- 
zogen würden. 


Das zweite künstliche Milieu ıst das der Irren- 
anstalten, der Siechenhäuser und ähnlicher Ein- 
richtungen. 

Die in diesen Institutionen geschaffene Daseinsform ist 
auch für einen nicht unwesentlichen Teil der minderwertigen 
Gewohnheitsverbrecher als die beste, ja als die oft allein taug- 
liche zu bezeichnen; und es ist nur zu bedauern, dass aus 
mancherlei Gründen ihre Anwendung eine zu beschränkte bleibt, 
ja sogar hinter dem zurück bleibt, was auf Grund der heutigen 
gesetzlichen Regelung erreichbar wäre. Es steht fest, dass, 
bei vorsichtiger Schätzung, ca. 3% der Insassen von Zucht- 


=> I 


häusern etc. bereits bei der Einlieferung derart seelisch ab- 
norm sind, dass sie unbedingt die Voraussetzungen der Geistes- 
krankheit, wie sie der $ 51 des R. Str. G. B. umgrenzt, er- 
füllen; es steht fest, dass ein noch grösserer Prozentsatz 
namentlich des vagabundierenden Teils der Minderwertigen auch 
körperlich so dekrepied ist, dass an eine Fristung des Daseinsdurch 
eigenen Erwerb garnicht zu denken ist; es ist Tatsache, dass 
zahlreiche Gewohnheitsverbrecher einen fortwährenden Kreis- 
lauf zwischen Gefängnis, Arbeitshaus. Landstrasse und Irren- 
anstalt durchmachen, dass heute wegen Geisteskrankheit Frei- 
gesprochene morgen bereits wieder verurteilt werden. Und 
dabei besteht leider noch die rückschrittliche Neigung, die 
Grenze des $ 51 eher noch enger zu ziehen, wozu der in ihm 
enthaltene Begriff der Aufhebung der freien Willensbestimmung, 
der ganz subjektiv und dehnbar ist, eine bequeme Handhabe 
bietet. 


Es ist daher als erforderlich zu bezeichnen, dass der $51 
des R. Str. G. B. eine zweckmäßigere Fassung und eine libe- 
ralere und gesichertere Anwendung erhält, damit alle der 
Irrenanstaltsbehandlung Bedürftigen ihr auch wirklich zuge- 
führt werden können; es ist anderseits auch darauf hinzu- 
arbeiten, dass die körperlich dekrepieden Minderwertigen in dem 
durch die Umstände geforderten Maße in dem Milieu der 
Siechenhäuser untergebracht werden. 


Das drittekünstlicheMi lieu, in dem derminderwertige 
Gewohnheitsverbrecher einen kleineren oder grósseren Teil 
seines Daseins regelmäßig verbringt, ist das der Gefängnisse, 
der Strafanstalten und der Arbeitshäuser. Aber 
es scheint mir, dass gerade dieses Milieu aus den verschieden- 
sten Gründen ein ungeeignetes und unvollkommenes für sie 
ist, und dass es auch für den Strafvollzug selbst besser wäre, 
wenn er von diesen Elementen nach Möglichkeit entlastet 
würde. 

Der Strafvollzug soll sittlich bessern; aber hier erreicht. 
er sein Ziel nicht, kann es nicht erreichen. 


Der Strafvollzug soll abschrecken; aber beim Minder- 
wertigen versagt die Wirkung der Strafe als Übel in Folge 


s y sr 


seiner geistigen Stumpfheit oder in Folge der ihn stets von 
Neuem überwältigenden krankhaften Antriebe. 


Der Strafvollzug soll die äusseren Ursachen des Ver- 
brechens, soweit sie ihm zugänglich sind, beseitigen; er soll 
die Unerzogenen erziehen und bilden, die in Not und ver- 
kommener Umgebung Verwahrlosten an Ordnung, Disziplin und 
Arbeitsfreudigkeit gewöhnen; er soll in Gemeinschaft mit der 
Fürsorge die Grundlage schaffen, auf der der Rechtsbrecher 
wieder in den bürgerlichen Erwerbsmechanismus und die 
Rechtsordnung des Staates eingegliedert werden kann; aber 
der Gewohnheitsverbrecher ist damit nicht zu fassen; wir 
können ihn nur äusserlich zustutzen, ihm allerlei Kenntnisse 
zuführen ; seine verbrecherische Eigenart, die innere Ursache 
seiner Verbrechen bleibt unverändert. 


Der Strafvollzug soll sich in einer strengen aber reinen 
Atmosphäre abspielen; dadurch aber, dass er sich mit minder- 
wertigen Unverbesserlichen oft übelster Sorte abquälen muss, 
wird eine geradezu vergiftete und vergiftende Atmosphäre er- 
zeugt, gegen die selbst die geschicktesten und kostspieligsten 
Maßnahmen wenig wirksam sind. 


Der Strafvollzug soll vergelten, aber kann man wirklich 
das ungetrübte Gefühl sittlicher Genugtuung empfinden, wenn 
der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher mit härteren und 
immer härteren Strafen belegt wird ? 


Die Strafe soll züchtigen, aber nicht vernichten, aufbauen, 
nicht zerstören, entwickeln, nicht unterdrücken; beim Minder- 
wertigen erreicht sie nur den gegenteiligen Erfolg; denn er, 
der Jahre- und Jahrzehnte lang unter dem schweren Druck 
dieses Milieus steht, verkümmert geistig und körperlich und 
fällt, in Folge seiner starken Disposition, häufig genug durch 
die Haft erzeugten Geistesstörungen anheim, die ihn bis aufs 
Mark und oft unheilbar destruieren. 


Aus diesen und manchen anderen Gründen wäre zu 
wünschen, dass der Strafvollzug von den minderwertigen und 
unverbesserlichen Elementen nach Möglichkeit befreit würde; 
er würde dann unzweifelhaft an Wert und innerer Gerechtig- 
keit gewinnen; seine Erfolge würden sich klarer beurteilen 

2 


as J8 se 


lassen; seinen Hassern würde die gewichtigste Waffe, mit der 
sie einsichtslos-fanätisch operieren, entwunden werden; zahllose 
Schwierigkeiten, die ihm durch diese Elemente entstehen — 
ich erinnere nur an die schreckliche Krux der wahrhaft wider- 
wärtigen Gefängnispsychosen — würden sich vermeiden lassen. 


Das letzte künstliche Milieu, ein Produkt der neuen 
Zeit, ist das der Fürsorge- und Zwangserziehung. 


Da ich über diese Einrichtung nicht genauer unter- 
richtet bin, so muss ich es mir leider versagen, auf ihre 
Wirkung und ihre Bedeutung näher einzugehen. Wenn ich 
mir ein Urteil überhaupt erlauben darf, so ist es dieses: Wert- 
voll ist die Fürsorgegesetzgebung selbstverständlich für die 
normalen Jugendlichen, die durch sie einer entsittlichenden und 
verwahrlosenden Umgebung entzogen werden, wertvoll ist sie 
auch für die Minderwertigen insofern, als sie die das Verbrechen 
erzeugende Wechselwirkung von sozialem Milieu und abnormer 
Anlage ausschaltet; unvollkommen und auf halbem Wege 
stehen bleibend aber erscheint sie mir dadurch, dass ihr Bin- 
fluss bei einer bestimmten Altersgrenze erlischt. 


Auf Grund aller Erwägungen müssen wir zu 
dem unabweislichen Schluss gelangen, dass eine 
allen Anforderungen genügende Daseinsform für 
die unverbesserlichen Verbrecher aus minderwer- 
tiger Anlage zur Zeit noch nicht existiert, und dass 
unsere Bestrebungen daher darauf gerichtet sein 
müssen, ein solches Milieu künstlich erst für sie 
zu schaffen. Dieser Gedanke ringt sich aus einem Wust 
von Vorschlägen und Programmen zu immer grösserer Klar- 
heit empor und ernstlich diskutierbar erscheint eigentlich nur 
noch das Wie, die Umsetzung der Idee in die praktische Tat. 


Ich halte mich nicht für berechtigt noch für befähigt zur 
Aufstellung eines eingehenden Programmes und detaillierter 
Thesen; mit aller Reserve will ich daher nur versuchen, 
einige allgemeine Richtungslinien zu zeichnen, auf denen man 
sich vielleicht, in Konsequenz meiner Ausführungen, zweck- 
mäßig zu bewegen hätte, und folgende Punkte zur Erwägung 
zu stellen. 





== Jo „ae 


1. Wenn man gesagt hat, dass die Einrichtungen, in denen 
die minderwertigen Gewohnheitsverbrecher unterzubringen 
wären, denen der Strafanstalten rechtähnlich sein müssten,so kann 
ich mich dieser Anschauung nicht anschliessen; grundsätz- 
lich muss vielmehr das Streben dahin gehen, eine 
Institution zu schaffen, die dem Gefängnismilieu 
möglichst wenig ähnlich ist. Dass dies durchführbar 
ist, erscheint mir zum mindesten denkbar, und jedenfalls 
sprechen zahlreiche Erfahrungen dafür, dass die Gefährlichkeit 
dieser Individuen in der Mehrzahl der Fälle ein gefängris- 
artiges Regime nicht verlangt, ja dass sie leichter zu behandeln, 
besser zu führen sind, wenn Arbeits- und Lebensbedingungen 
nicht gefängnismäßige sind. Für diese Auffassung sind mir 
unter anderem gewisse Beobachtungen bemerkenswert gewesen, 
die ich während meiner Tätigkeit am Stadt-Irren- und Siechen- 
haus in Dresden zu machen Gelegenheit hatte. Ich habe dort 
eine grosse Zahl von Arbeitshausinsassen kennen gelernt, die 
uns zugeführt wurden, weil die Anstaltsdisziplin sich auch bei 
rigorosester Anwendung ihnen gegenüber machtlos erwies. Es 
versteht sich von selbst, dass das Personale dieser Menschen 
eine Charakterbeschaffenheit enthüllte, in der nur die schlech- 
testen menschlichen Eigenschaften und Abnormitäten figurierten, 
sodass fasst jeder auf den ersten Blick als ein gefährlicher 
und höchst ungemütlicher Gast bezeichnet werden musste. 

Ich kann aber versichern, dass alle diese Menschen — 
wenigstens haftet in meiner Erinnerung kein gegenteiliger Fall 
— in ihrem neuen Milieu, obwohl es wahrlich kein beneidens- 
wertes war und Schloss und Gitter nicht fehlten, zu den am 
leichtesten zu Behandelnden gehörten, dass sie nicht boshaft, 
wie sie geschildert wurden, sondern gutmütig, nicht túcki»ch, 
sondern zugänglich, nicht roh, sondern hilfsbereit, nicht faul 
und ausbruchssüchtig, sondern leidlich fleissig und fügsam 
waren. ‘Da haben sie einen unwiderleglichen Beweis, Cass 
diese Menschen, dieser Auswurf des Auswurfes, überhaupt gar- 
nicht so unsozial waren, wie es sich in Reaktion auf eine un- 
geeignete Umgebung — soziales und Gefängnismilieu — ge- 
äussert hatte; da sehen sie den merkwürdigsten Umschlag 
durch eine nur ganz geringfügig erscheinende Milieuänderung 
sich vollziehen. 2* 


— 2% — 


Wir miissen bedenken, dass wir den. minderwertigen Ver- 
brecher eigentlich überhaupt nur in seiner Reaktion gegen 
soziales und Gefängnismilieu kennen, und dass wir garnicht 
wissen, wie er sich verhalten wird, wenn er dauernd unter 
Arbeits- und Lebensbedingungen steht, die für ihn geeignet 
sind, wenn namentlich auf die für ıhn so charakteristischen, auf 
inneren Ursachen beruhenden Affektschwankungen die erforder- 
liche Rücksicht genommen werden kann, die in der Freiheit 
das . Verbrechen, in der Haft die zahllosen, für ihn so verhäng- 
nisvollen, groben und sinnlosen Verstösse gegen Hausordnung 
und Disziplin bedingen.*) 

Ein Teil wird, wie sich leider nicht bezweifeln lässt, gewiss 
auch dann so antisozial bleiben, dass Gewaltmittel unvermeid- 
bar sein werden; für den anderen, und wie ich überzeugt bin, 
den weitaus grösseren Teil erscheint es mir nicht nur berech- 
tigt, sondern Forderung der humanen Pflicht und des gesell- 
schaftlichen Interesses, den Versuch wenigstens mit der 
Schaffung eines nicht gefängnisartigen Milieus zu unternehmen.**) 


2. Da es sich bei den minderwertigen Gewohnheitsver- 
brechern um Individuen handelt, die von den verschiedensten 


*) Es scheint, dass von den schweren Disciplinarstrafen — Dunkel- 
arrest mit und ohne Fesselung — gerade die Minderwertigen, die ganz 
Minderwertigen besonders oft getroffen werden. 

**) Vergleiche hierzu die schroffe Gegensätzlichkeit, wie sie beispiels- 
weise bei Gennat (Das Strafensystem und seine Reform, XX. Jahrbuch 
der Gefängnisgesellschaft für die Provinz Sachsen etc. pag. 97) sich findet: 
„Ein unbekanntes Gebiet in dem Strafgesetzbuch ist die Unverbesserlich- 
keit. Und doch ist sie da und zeigt sich immer häufiger, so dass je länger 
je mehr die Notwendigkeit hervortritt, ibr durch gesetzliche Maßnahmen 
zu begegnen. Dass es Unverbesserliche im kriminalistischen Sinne... ..... 
gibt, läst sich füglich nicht bestreiten und wird ernstlich nicht bestritten. 
Sie handeln durchaus nicht immer geschäfts-, gewerbs- oder gewohnheits- 
mäßig und sind nicht identisch mit den Rückfälligen, vielmehr ..... 
Leute, die die unausrottbare Neigung besitzen, strafbares Unrecht zu be- 
gehen. Die unverbesserlichen erfordern besonders straffe Behandlung in 
eigenen Anstalten oder doch Anstaltsabteilungen und bei langer Strafzeit, 
in schwersten Fällen eventuell lebenslängliche Einsperrung. Die Kost soll 
schmal, die Arbeit hart, die Disziplin eisern, Strafort nicht. das Arbeits- 
sondern das Zuchthaus und Aussenarbeit nur zug: sein, wenn sie die 
Kraft bis zum letzten erschöpft“. 


— 21 —. 


Richtungen aus und in fliessendem Übergange in das Gebiet 
der eigentlichen Geisteskranken hinüber führen, so wird das 
geeignete Milieu in Anlehnung an dasjenige gesucht werden 
müssen, welches sich für die Irrenpflege bewährt hat; da ferner 
die Besonderheiten des modernen Kulturmilieus die zeugenden 
und treibenden Kräfte des Gewohnheitsverbrechens sind, so 
muss das künstlich zu schaffende das möglichst extreme 
Gegenbild desselben darstellen. 


Diese beiden Bedingungen werden am besten erfüllt durch 
die Schaffung einer mit den nötigen Sicherungs- 
und auch Zwangsmaßregeln versehenen Zentral- 
anstalt, in der die Zügel einer sachverständigen 
Aufsicht beliebig lockerer oder fester gespannt 
werden können, und durch ein sich hieran an- 
schliessendes System ländlicher, besonders zu 
organisierender Kolonien, aus denen in Bedarfs- 
falle der Einzelne jederzeit nach der Zentralanstalt 
mitihrer strengeren Zucht und Kontrolle zurück- 
gezogen werden kann. Dabei ist es natürlich gleichgiltig, 
wo, ob ım Inland oder in den Kolonien, dieses System zur 
Durchführung gelangt *) 


*) Das moderne (ewohnheitsverbrechen als eine Art Volkskrankheit, 
die durch den natürlichen Bedingungen sich mehr und mehr entfremdende 
Daseinsformen erzeugt und genährt wird, lässt sich in gewisse Parallele zu 
einer anderen Volkskrankheit, der Tuberkulose, stellen. Auch bei der 
Tuberkulose finden wir zwei Formen, eine Gelegenheits- und eine Dis- 
positionstuberkulose, die erstere in ausgesprochener Abhängigkeit von 
äusseren Umständen, die letztere zwar auch durch äussere Mo- 
mente stark beeinflusst und begünstigt, aber doch auch bei den 
günstigsten äusseren Bedingungen nur zu häufig sich Bahn brechend. Auch 
bei der Tuberkulose ist‘ die in der Anlage wurzelnde Erkrankung bei 
weitem die gefährlichere, progressivere, unberechenbarere und unbeeinfluss- 
barere Form; auch bei der Dispositionstuberkulose ist es gerade das 
jugendliche Alter, in dem sie zumeist in Erscheinung tritt. 

Und analog sind auch die Bekämpfungsmaßnahmen. Auch der gross- 
artigen Heilstättenbewegung Kern und Stern ist der Gedanke, an Stelle 
eines für die Disponierten schädlichen Milieus ein anderes, geeigneteres 
und naturgemäßeres, ein ländliches mit frischer Luft, reinlicher Umgebung, 
rubirem und einfachen Leben zu setzen; auch ihr schwerster Nachteil be- 
steht darin, dass zur Zeit diese Änderung der Daseinsbedingungen keine 


— 29 — 


Im Zeichen dieses Systems hat die Irrenpflege im Laufe 
des vergangenen Jahrhunderts ihre unvergleichlichen Erfolge 
errungen; sie hat, ohne auch nur ein einziges wirkliches Heil- 
mittel gefunden zu haben, mit Zwangsjacke, Tobzelle und allen 
sonstigen hässlichen Gewaltmitteln bis auf die letzten Reste 
aufräumen können; sie konnte die Geisteskranken eines Teils 
ihrer hohen Gefährlichkeit entkleiden, die Äusserungen seelischer 
Erkrankung in sozial harmlosere Formen giessen — denken Sie 
nur daran, dass sie beispielsweise im Stande ist, viele Hunderte 
schwerer Epileptiker, deren einer manchmal genügt, um im 
Gefängnismilieu die allergrössten Schwierigkeiten zu machen, 
trotz ihrer grossen dauernden oder zeitweisen Gemeingefährlich- 
keit auf einem Haufen und bei freiester Behandlung zu ver- 
pflegen —, sie konnte schliesslich mit den Resten geistiger 
und körperlicher Arbeitskraft noch ganz erhebliche materielle 
Werte schaffen. 

Sollte es eine Utopie sein, dass auch bei dem minder- 
wertigen Verbrecher ein ähnlicher Weg zu ähnlichen Erfolgen 
führen wird? 


3. Aber das Bestreben muss darauf gerichtet sein, den 
minderwertigen Verbrecher möglichst frühzeitig in das 
für ihn künstlich geschaffene Milieu zu versetzen, bevor die 
Anlage unter den treibenden Schädlichkeiten der Umgebung 
gefährliche und fixierte kriminelle Formen angenommen, bevor 
das Individuum sich mit üblen Kenntnissen und Erfahrungen 
vollgesogen hat. Je unberührter ein solcher Minderwertiger 
- vom Sehmutz des Milieus noch ist, um so leichter wird es 
natürlich — von Ausnahmen abgesehen —- gelingen, ihn ar 
das besondere, für ihn geschaffene Milieu zu assimilieren, um so 
weniger wird er Lebensformen, die er garnicht genauer kennen 
gelernt hat, in der ihm aufgezwungenen Daseinsform vermissen; 
um so leichter wird sich, wenn nach längerem Aufenthalt in 
diesem Milieu sich für den Einzelnen die Möglichkeit ergeben 
sollte, ihm Selbständigkeit zu gewähren, die unerlässliche 


dauernde, sondern nur eine vorübergehende ist; auch hier aber machen sich 
jetzt Bestrebungen geltend, den notwendigen Schlussstein in das Gebäude 
einzufügen, nämlich ländliche Kolonien zum dauernden Aufenhalt im An- 
schluss an die Heilstätten als Zentralanstalten zu begründen. 


as DÍ ze 


Vorbedingung durchsetzen lassen, dass sein ferneres Leben nie 
in der Stadt, sondern nur unter den einfachsten ländlichen 
Bedingungen. zu verlaufen hat. 

Fassen wir aber den jugendlichen minderwertigen Rechts- 
brecher, dann fassen wir auch unbedingt gleichzeitig den Ge-. 
wohnheitsverbrecher überhaupt in seiner überwältigenden Mehr- 
heit, da beide sich zu einander verhalten, wie Jugend und Alter, 
wie Wurzel und Stamm; dann brauchen wir auch nicht mehr 
den breiten und wilden Strom des Gewohnheitsverbrechens 
an seiner Mündung im Zuchthaus erfolglos zu bekämpfen, 
sondern wir leiten ihn von seinen Quellen, die wir ja leider 
nicht verstopfen können, in ruhige und regulierbare Kanäle. 


Dass diese rechtzeitige Erkenntnis der verbrecherischen 
Organisation durch unser heutiges Wissen und Mittel und noch 
mehr bei wachsender Einsicht in das innerste Wesen dieser 
Menschenklasse möglich sein wird, erscheint mir unbestreitbar. 

Da wir heute nämlich ziemlich genau diejenigen Seelen- 
zustände, die Verbrechen mit grösserer oder geringerer Wahr- 
scheinlichkeit nach sich ziehen, kennen, so vermögen wir durch 
die Beobachtung in der Zwangserziehung das minderwertige 
Element der jugendlichen Verbrecher von dem anderen zu 
trennen und darnach unser weiteres Handeln einzurichten ;*) ja 
wir können durch Ausbildung des Systems der Hilfsklassen, 
der Schulärzte u. a. die verbrecherische Organisation schon 
dann erkennen lernen, wenn die verbrecherische Tat noch gar- 
nicht erfolgt ist, und damit der idealen Forderung, das Ver- 
brechen im Keime zu ersticken, noch ehe es geboren, bis zu 
einem gewissen Grade gerecht werden. 


*) Wertvoll dürfte sich auch die Einführung von ,Jugendgerichten* 
(entsprechend den amerikanischen juvenile courts) erweisen, wie sie kürz- 
lich in der „Deutschen Juristenzeitung“ vorgeschlagen worden ist. Es 
würde die Aburteilung der jugendlichen Verbrecher einzelnen Richtern, 
die gleichzeitig als Vormundschaftsrichter zu fungieren hätten, als Spezial- 
gebiet zu übertragen sein. Hierdurch wäre dann eine genauere Kenntnis 
und besseres Eindringen in die Eigenart des Rechtsbrechers und die inneren 
Ursachen der Tat gewährleistet; Strat- und Erziehungsmittel könnten besser 
abgewogen und die minderwertigen Elemente schon sehr frühzeitig in der 
richtigen Weise beurteilt und den für sie zu schaffenden Einrichtungen zu- 
geführt werden. 


- Ich erhebe die letzte Frage: „Was kann die Fürsorge 
für den minderwertigen Gewohnheitsverbrecher tun? 


Zweifellos ist, dass ein durchgreifender Erfolg nur durch 
eine Zwangsgesetzgebung grössten Stiles erreich- 
bar sein wird, eine Gesetzgebung, die alle krankhaft antisozialen 
Elemente, mögen sie gemeingefährlich oder gemeinlästig, mögen 
sie Verbrecher, Dirnen, Vagabunden oder Säufer sein, in gleicher 
Weise umfasst. 

Andererseits aber glaube ich, dass die Fürsorge, ganz ab- 
gesehen von den Waffen einer geistigen Propaganda, mit denen 
sie für das von ihr als richtig Erkannte einzutreten ver- 
mag, doch auch jetzt schon im stande ist, wertvolle praktische 
Erfolge zu erzielen, sobald sie nicht das falsche Prinzip der 
Besserung der Unverbesserlichen, sondern den Gedanken der 
Schaffung künstlicher geeigneter Milieuformen zur Grundlage 
ihres Wirkens macht. 

In diesem Gedanken laufen tatsächlich alle mit Erfolg 
gekrönten und erfolgversprechenden Bestrebungen der Fürsorge 
auf diesem Gebiet zusammen ; betrachten wir die Schöpfung 
der Arbeiterkolonien und der sich daran anschliessenden Sied- 
lungsprojekte, die Frauenasyle und Frauenheime, die Be- 
strebungen, haltlose weibliche Charaktere in die Atmosphäre 
anständiger Familie oder ın ein ländliches Milieu zu versetzen; 
denken wir an die Dauerasyle, die Herr Pastor Hinze vor 2 
Jahren für eine gewisse Kategorie harmlosschwachsinniger, 
lenksamer Mädchen in Vorschlag gebracht hat, oder an die 
allerdings leider zumeist kurzlebigen Erfolge bei Trunksüch- 
tigen durch Trinkerasyle oder durch Versetzung in einen total 
abstinenten Gesellschaftskreis; überall sehen wir das Prinzip 
der künstlichen Schaffung einer geeigneten Da- 

seinsform mit grösserer oder geringerer Klarheit, mit 
grösserem oder geringerem Erfolge ausgesprochen und durch- 
geführt. 


Dass dieses grosse Gebiet im Ganzen und in seinen 
Teilen noch ausbaufähig, dass seine Grenze noch erweiterungs- 
fähig ist, wird niemand bezweifeln; dass es trotz aller unver- 
meidlichen, weil im Wesen der beschränkten Mittel, im Fehlen 





— 235 — 


von Zwang und Dauer liegenden Misserfolgen auch wirklich 
weiter ausgestaltet werden wird, dafür bürgt der Geist wahrer 
Humanität, der in der Fürsorge wirkt. 


Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen, die sich 
bei der Kürze der Zeit und der Fülle des zu bewältigenden 
Materials das Eingehen auf alle Einzelheiten versagen mussten, 
angelangt, und nur auf zwei mehr theoretische Schwierigkeiten, 
die in der Eigenart des Stoffes begründet sind, will ich zum 
Schluss noch mit wenigen Worten eingehen. 


Die eine Schwierigkeit ist die, dass, wie überall in der 
organischen Welt, man die scharfe Trennungslinien nicht kennt, 
auch das minderwertige Gewohnheitsverbrechertum sich nicht 
mit derjenigen präzisen Sicherheit, die wir aus praktischen 
Gründen wünschen möchten, umgrenzen lässt und nie ein- 
grenzen lassen wird.*) So ist es begreiflich, dass der eine 
den Begriff enger, der andere ihn weiter zu fassen geneigt 
sein wird. Aber ich glaube, dass die hieraus erwachsenden 
Schwierigkeiten und Differenzen nicht unüberwindbare sind. 


Wird nun die Tatsache, dass ein bestimmter, durch be- 
sondere Gesetze zusammengehaltener Formenkreis existiert, 
überhaupt anerkannt, so wird sich die Bestimmung der Peri- 
pherie des Kreises durch die Erfahrungen und die Erforder- 
nisse der Praxis schon von selbst ergeben. 


Die andere und ungleich grössere Schwierigkeit liegt in 
einer totalen Verschiedenartigkeit der Anschauung. Was 
wir positiv vor uns sehen, das ist nichts als ein wirrer Knäuel 
menschlichen Leidens und menschlicher Verkommenheit, ein 
Durcheinander von Entartung, Verbrechen, Trunksucht, Geistes- 
krankheit, Vagabondage, Prostitution und Daseinselend, von 
denen anscheinend jedes das andere erzeugt, jedes vom andern 
erzeugt wird. 


Unser Streben muss darauf ausgehen, dieses Chaos zu 
lichten, die in ihm wirkenden Gesetze herauszuschälen, die 


*) Namentlich ist die Abgrenzung gegenüber dem sozial bedingten 
Rückfallverbrechen eine ausserordentlich schwierige und generell oft gar- 
nicht zu lösende Aufgabe. Klarheit wird oft nur das genaue Studium des 
Einzelfalles schaffen. 


_ 9% — 


unendliche Masse der Einzelerscheinungen in ihrem Zusammen- 
hang von Ursache und Wirkung zu begreifen. 

Was ist aber verständlicher, als dass die Erklärungs- und 
Deutungsversuche verschiedenartige sind, dass ganz entgegen- 
gesetzte Meinungen auftreten und allein den leitenden Faden 
der Wahrheit gefunden zu haben glauben, dass hier, wo es 
keinen absoluten Beweis gibt, und so diffizile Fragen wie 
Willensfreiheit und Schuld mit ins Spiel kommen, verschiedene 
Weltanschauungen unversöhnlich und scheinbar ohne die 
Möglichkeit eines Kompromisses aufeinanderstossen und zu 
einer unglücklichen Zerrissenheit der Mittel und Ziele führen? 

Aber ich glaube, es gibt ein Ziel, uns allen gemeinsam, 
das ist der Wunsch, diesen Unglücklichen, die sich selbst 
und anderen zum Fluche leben, nach Möglichkeit helfend bei- 
zuspringen; ich glaube, es gibt einen Punkt, wo auch die 
Gegner sich einigen werden, das ist die Krankhaftigkeit, die 
in diesem Kreise menschlicher Geister wirkt, und ich glaube, 
es gibt einen Beweis, der die Wahrheit schliesslich enthüllen 
wird, das ist der Erfolg. 


Vortráge, 


gehalten auf der 


Versammlung von Juristen und Ärzten 
in Stuttgart 1905. 


Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetzgebung 


und Strafprozess. 
Referenten: 
Medizinalrat Dr. Kre user, Winnental. 


Oberlandesgerichtsrat Dr. Schanz, Stuttgart. 


Zur Psychologie der Aussage. 
Referenten: 
Oberarzt Dr. A. Schott. Weinsberg. 
Landgerichtsrat Dr. Gmelin, Stuttgart. 


Die Berechtigung der Vernichtung des kindlichen Lebens 
mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der Mutter. 


Referenten: 
Dr. Reinhold Krauss, Kennenburg. 
Justizministerialsekretär Landrichter R. Teichmann, Stuttgart. 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1906. 


Juristiseh - psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


III. Band, Heft 6/8. 





Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetz- 
gebung und Strafprozess. 
Von 


Medizinalrat Dr. Kreuser. 


Schon seit längerer Zeit werden in weiten Kreisen Straf- 
gesetzgebung und Strafprozess, wie sie gegenwärtig im deut- 
schen Reiche zu Recht bestehen, als einer Reform dringend 
bedürftig bezeichnet. Auch bei den Vertretern der Psychiatrie 
überwiegt die Ansicht, dass den Bestimmungen jener Gesetze 
über die Geisteskranken nicht unwesentliche Mängel anhaften, 
deren Beseitigung wünschenswert und wohl möglich erscheine. 
Wiederholt sind Reformbestrebungen von Irrenärzten und Ju- 
risten gemeinsam erörtert worden. Um nur der neuesten 
dieser Beratungen zu gedenken, haben auf der Jahresver- 
sammlung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins in Danzig 
am 12. September 1904 „Gerichtsärztliche Wünsche bei der 
Neubearbeitung der Strafgesetzgebung“ an erster Stelle ge- 
standen. (Vgl. den Versammlungsbericht in der Zeitschrift des 
Medizinalbeamtenvereins.} Der psychiatrische Standpunkt ist 
dort von Aschaffenburg vertreten worden und bei dem 
Kriminalisten Heimberger hat er verständnisvolles Entgegen- 
kommen gefunden. Sodann ist die erste Tagung der neuge- 
gründeten Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psy- 
chiatrie in Hessen mit einem Vortrag von Mittermaier 
eröffnet worden „Über Reform des Strafprozessverfahrens“. 
(Referiert im Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 
1904, pag. 776.) Berühren auch seine speziellen gesetzgeberischen 
Vorschläge das psychiatrische Gebiet nicht unmittelbar, so wird 
den Wünschen aus diesem um so entschiedener die Hand ge- 


= A o 


reicht mit der nachdriicklichen Forderung einer obligatorischen 
psychologischen Durchbildung der Juristen auf der Universität. 

Auch heute soll die Aufmerksamkeit unserer Versammlung 
zunächst in Anspruch genommen werden für die Frage, ob 
und inwieweit die Stellung, wie sie zur Zeit den Gei- 
steskranken durch das Strafgesetzbuch und die 
Strafprozessordnung für das deutsche Reich angewiesen 
ist, als eine angemessene gelten kann, wo etwa eine Änderung 
derselben gewünscht werden muss. Ausgehend von den Er- 
fahrungen über die Wirkungen der geltenden Bestimmungen 
auf die Geisteskranken selbst und auf ihre ärztliche Behand- 
lung, aber auch auf die öffentliche Meinung möchte ich unter- 
suchen, wie die den Geisteskranken in diesen Gesetzen ge- 
wordene Berücksichtigung ihre Zwecke zu erfüllen vermag, 
inwieweit zugleich anderweitige berechtigte öffentliche und 
private Interessen sichergestellt erscheinen vor leiner Benach- 
teiligung durch unverantwortliche Geisteskranke. Bei Erwäh- 
nung der nach beiden Richtungen hin gemachten Reformvor- 
schläge wird zu gedenken sein der von verschiedenen Seiten 
dringend geforderten Schaffung eines besonderen Irrenrechts. 
Erhält so mein Vortrag einen etwas weiten Rahmen, so wird 
man ihm zu gut halten müssen, wenn er sich nicht sowohl 
eine erschöpfende Behandlung, als eine Anregung einschlägiger 
Fragen zum Ziele gesetzt hat. 

Allgemeine Rechtsgesetze sollen Anwendung finden auf 
alle in ihrem Geltungsbereiche befindlichen Personen. Still- 
schweigende Voraussetzung ist dabei, dass bei diesen Personen 
die Vorbedingungen der Verantwortlichkeit gegeben sind. 
Als solche Vorbedingungen haben zu gelten die genügende 
Entwicklung und nicht wesentlich geschmälerte Erhaltung einer 
gewissen Summe von geistigen Eigenschaften. In Ermanglung 
eines absoluten, allezeit und allerorten sich gleich bleibenden 
Maßstabes für die geistige Beschaffenheit des Menschen, bleiben 
wir darauf angewiesen, diese auf empirischer Grundlage kon- 
ventionell abzuschätzen, wobei wir uns eine ausreichende Be- 
rücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sie sich in wechsel- 
seitiger Beeinflussung mit körperlichen Lebensvorgängen ent- 
wickelt hat, zur besonderen Aufgabe machen müssen. In einer 


e. De 


den allgemeinen wie den besonderen Lebensbedingungen des 
Individuums entsprechenden Entwicklung und Erhaltung der 
geistigen Eigenschaften, sowie in ihrer mehr oder weniger 
harmonischen Verbindung untereinander, erblicken wir die 
Kennzeichen der geistigen Gesundheit. Ihrem nur allgemein 
zu fassenden Begriffe entspricht es, wenn wir sie im einzelnen 
Falle weniger an positiven Merkmalen zu erkennen vermögen, 
sie vielmehr feststellen müssen vorzugsweise durch den Aus- 
schluss von krankhaften Störungen, wie sie uns in mehr oder 
weniger typischer Gruppirung und Aufeinanderfolge der Einzel- 
erscheinungen aus der klinischen Erfahrung bekannt sind. — 
Im täglichen Leben wird die geistige Gesundheit vorausgesetzt, 
solange solche Störungen nicht nachgewiesen sind oder sich 
auf andere Weise erklären. Ebenso werden die ihr entsprechen- 
den rechtlichen Begriffe, die Geschäftsfähigkeit des bürgerlichen 
Gesetzbuchs und die Strafmiindigkeit des Strafgesetzbuchs, so- 
weit sie nicht an eine untere Altersgrenze gebunden sind, als 
vorhanden angenommen und können sie von jedermann für 
sich beansprucht werden, bis Gründe nachgewiesen werden, 
aus denen sie auszuschliessen sind. 


* Bei der Häufigkeit, mit der diese Voraussetzungen durch 
geistige Störungen hinfällig werden, enthalten gerade die all- 
gemeinsten Rechtsgesetze aller Kulturstaaten besondere Aus- 
nahmebestimmungen für Geisteskranke In der 
gegenwärtigen Fassung unserer deutschen Rechtsgesetze bildet 
das entscheidende Moment die „freie Willensbestimmung“. So 
schroff sich in der Bewertung dieses Begriffs deterministische 
und indeterministische Weltanschauung gegenüberstehen, für 
die praktische Anwendung der betreffenden Gesetzesparagraphen 
sind daraus allzugrosse Schwierigkeiten bisher offenbar nicht 
erwachsen. Eine Erörterung des Problems der Willensfreiheit 
kann daher unterbleiben um so mehr, als die Aussichten, es 
durch unsere Verhandlungen einer abschliessenden Lösung ert- 
gegenzuführen, wohl recht geringe wären. Bis auf weiteres 
können wir uns damit bescheiden, dass speziell auf dem Ge- 
biete des Strafrechts in Theorie und Praxis bei der über- 
wiegenden Mehrzahl der von ärztlicher Seite als krankhaft 


o il, 


bezeichneten Störungen der Geistestätigkeit, wie bei Bewusst- 
losigkeit der Ausschluss einer freien Willensbestimmung auch 
von Seiten der Juristen grundsätzliche Anerkennung findet. 
Können solche Störungen bei einem Angeschuldigten als 
zur Zeit der zur Untersuchung stehenden rechtswidrigen Hand- 
lung vorhanden nachgewiesen oder auch nur mit guten Gründen 
wahrscheinlich gemacht werden, so wird auf die im Interesse 
der Allgemeinheit wie der einzelnen Staatsbürger erforderliche 
Ahndung jener Tat verzichtet. Diese braucht dabei nicht ein- 
mal unmittelbarer Ausfluss der krankhaften psychischen Vor- 
gänge zu sein, es genügt ihr zeitliches Zusammenfallen mit 
diesen, um den Täter nicht als frei in seinen Willensent- 
schliessungen erachten zu lassen. Es entfällt damit für ıhn 
die Schuld an der durch ihn verursachten Rechtsverletzung, 
und von ihm kann darum auch eine Sühne nicht verlangt 
werden. Ja nach dem Wortlaut des $ 51 unseres Straf- 
gesetzbuchs ist eine strafbare Handlung überhaupt 
nicht vorhanden, wenn zur Zeit ihrer Begehung der Täter 
sich in willensunfreiem Zustande befunden hat. Dass so mit 
der Schuld die Tat selbst in Wegfall kommt, ist nicht ohne 
verschiedenerlei Unzuträglichkeiten geblieben. Nur eben er- 
wähnen will ich, dass dadurch unter Umständen die straf- 
rechtliche Verfolgung von Anstiftung und Beihilfe zu Rechts- 
widrigkeiten unverantwortlicher Geisteskranker erschwert, ja 
selbst einer Ausnützung von solchen zu verbrecherischen 
Zwecken Vorschub geleistet werden könnte. Ein weiteres Ein- 
sehen auf diesen Punkt verbietet sich, wie mir der juristische 
Herr Referent freundlich bedeutet hat, weil damit ein Kapitel 
angeschnitten würde, das weit über die Grenzen des heutigen 
Themas hinausreicht. Nicht übergehen darf ich jedoch, dass, 
wenn mit der Schuld zugleich die Tat selbst vom Gericht als 
nicht vorhanden bezeichnet werden muss, auch allen weiteren 
Maßnahmen der feste Boden entzogen wird, die etwa im Inter- 
esse des ausser Verfolgung gesetzten Täters selbst, wie in dem 
der Allgemeinheit durch jene Tat notwendig, ja unaufschieb- 
lich geworden sein können. Denn was geschehen ist und das 
öffentliche Rechtsgefühl verletzt hat, kann durch ein frei- 
sprechendes Urteil nicht aus der Welt geschafft werden. 





. zz 1 == 


Wiederholungen vorzubeugen, erscheint um so mehr geboten, 
als sie vielleicht aus demselben Grunde besonders drohen, aus 
dem die Tat für das Strafrecht nicht vorhanden war. Solchen 
Gefahren zu begegnen, bleibt anderen Instanzen überlassen, 
ohne dass jedoch gesetzliche Vorschriften ihr Eingreifen im 
unmittelbaren Anschluss an die gerichtliche Untersuchung 
regeln würden. Wenn nun dieselben Handlungen, deren Vor- 
handensein das Gericht hatte verneinen müssen, den Verwal- 
tungsorganen Anlass geben zu einem Einschreiten gegen den 
Freigesprochenen, so setzen sie sich wenigstens formell in 
einen Gegensatz zum Ergebnisse der gerichtlichen Unter- 
suchung. In den Augen von Geisteskranken wird ein solcher 
Gegensatz nur allzuleicht zur schreienden Rechtswidrigkeit, 
und die Fälle sind nicht so selten, in denen auch weitere 
Kreise aus Mangel an richtigem Einblick und Verständnis einer 
solchen Auffassung beizutreten geneigt sind. 

Wenden wir uns zur Strafprozessordnung, so gibt 
ihr $ 81 die Möglichkeit einer sechswöchigen Anstaltsbeob- 
achtung von Angeschuldigten, deren Zurechnungsfähigkeit 
zweifelhaft geworden ist. In der Regel genügt diese Frist 
dem Zweck vollkommen; für die wenigen Fälle aber, deren 
psychiatrische Klarstellung innerhalb dieser Frist nicht gelingt, 
kann kaum ein anderes Verfahren vorgeschlagen werden, das 
ohne gleichzeitige Gefährdung berechtigter Interessen des An- 
geschuldigten selbst und ohne ungebührliche Verschleppung der 
gerichtlichen Untersuchung ein bestimmtes Ergebnis zu garan- 
tieren vermöchte. Der ärztliche Sachverständige wird, wo er 
zu einer sicheren Diagnose nicht gelangen konnte, dem Ge- 
richte eben die Möglichkeiten auseinanderzusetzen und zu be- 
gründen haben, zwischen denen er schwankt, und die richter- 
liche Entscheidung wird sich einer solchen Sachlage dann 
nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen anzupassen wissen, .so 
sehr sie gelegentlich bedauern mag, nicht in einer präzisen 
Diagnose festere Grundlagen erhalten zu haben. 

Hier darf ich wohl einschalten, dass nach meiner eigenen 
Erfahrung, wie nach meiner Kenntnis der Literatur, nie ein 
Fall vorgekommen ist, in dem einem durch die psychiatrische 
Beobachtung als nicht geisteskrank Bezeichneten durch den 


a. 8 


ihm aufgenótigten Aufenthalt in der Irrenanstalt irgend ein 
gesundheitlicher Nachteil erwachsen wäre, während es doch 
eine weit verbreitete Anschauung ist, dass, wenn irgend etwas, 
so das Zusammensperren mit OS einen um den 
gesunden Verstand bringen miisse. 

Ergibt dagegen die Beobachtung mehr oder weniger 
schwere geistige Störungen bei dem Angeschuldigten, so ver- 
schaffte ihm die Verbringung in die Irrenanstalt zu diagnosti- 
schen Zwecken zugleich auch die Verhältnisse, in denen sein 
abnormer Zustand mehr Verständnis und Berücksichtigung 
finden muss, als ihm bis dahin wohl zuteil geworden war. 
Eine wohltätige Wirkung hiervon tritt oft überraschend schnell 
zu Tage, es kann schon innerhalb der Beobachtungsfrist zu 
einer weitgehenden Besserung des vorliegenden Krankheits- 
zustandes kommen, worin unter Umständen auch die Diagnose 
wieder wertvolle Stützen gewinnt. Manchmal machen sogar 
die während dieser Zeit eingetretenen Fortschritte zur Gesun- 
dung eine weitere Fürsorge nach ihrem Ablauf entbehrlich. — 
Häufiger freilich hat man es mit langsamer, grossenteils sogar 
mit überaus chronisch verlaufenden Krankheitsfällen zu tun. 
Es kann dann die Frage nach ihrer weiteren Versorgung zu 
einer recht dringlichen werden. Je mehr noch Aussichten auf 
Wiederherstellung bestehen, desto wünschenswerter ist es vom 
ärztlichen Standpunkt aus, dass die Krankenbehandlung keinerlei 
Unterbrechung erleide durch eine etwaige Zurückverbringung 
in Untersuchungshaft. Stosst eine Verständigung hierüber mit 
dem Gericht meist auf keine nennenswerten Schwierigkeiten, 
so können sich solche ergeben aus einem etwaigen Widerspruch 
des Kranken selbst und seiner Angehörigen, oder wenn die 
armenrechtliche Behandlung des Falles strittig ist, sobald also 
wieder ein Eingreifen der Verwaltungsbehörden notwendig 
wird. Diese sind bisher vielleicht ohne alle Kenntnis des 
Falles geblieben, die Person des zu versorgenden ist ihnen 
völlig fremd; sie müssen erst Erhebungen anstellen zur aus- 
reichenden Begründung ihrer Schritte, während der Richter, 
dem das gesamte Material schon vorliegt, aus ihm keine an- 
deren Folgerungen ziehen kann als die Einstellung des 
Verfahrens. 


za: > 


Diese kann gemäß $ 203 der Strafprozessordnung vor- 
läufig verfügt werden, wenn dem weiteren Verfahren der Um- 
stand entgegensteht, dass der Angeschuldigte in Geistesstörung 
verfallen ist. Obligatorisch ist eine solche vorläufige Einstel- 
lung nicht, die Verhandlungsfähigkeit wird durch eine Geistes- 
krankheit nicht unter allen Umständen aufgehoben, was vom 
psychiatrischen Standpunkt aus nur begrüsst werden kann, so- 
bald dafür Sorge getragen ist, dass weder die gesundheitlichen 
Interessen des Angeklagten unter dem Verfahren, noch seine 
Verteidigung unter der Krankheit leide. 


Hat sich im Laufe des Vorverfahrens ergeben, dass dem 
Angeschuldigten der Schutz des $ 51 des Strafgesetzbuchs zu- 
gebilligt werden muss, so wird in der Regel unter Anwendung 
der $$ 188, 196 und 202 der Strafprozessordnung die Einstel- 
lung beschlossen und der Angeschuldigte ausser Verfolgung 
gesetzt; von einer Hauptverhandlung wird Abstand genommen. 
Unverkennbar bringt ein solcher Einstellungsbeschluss dem 
Angeschuldigten wesentliche Vorteile: die Untersuchungshaft 
wird aufgehoben und alle peinlichen Umstände einer öffent- 
lichen Verhandlung kommen in Wegfall. Ist aber auch die 
Sache damit für das Gericht erledigt, so ist sie dies keines- 
wegs immer für den Angeschuldigten selbst. Fühlt er sıch, 
wie nicht selten, ebensowenig schuldig als geisteskrank, so ist 
ihm nach seiner Auffassung nur das Allerwenigste geworden, 
was er zu beanspruchen hatte. Seine Schuldlosigkeit ist da- 
gegen nicht nur nicht genügend anerkannt, sondern in einer 
Weise begründet, die für ihn die weitere, vielleicht noch em- 
pfindlichere „Beschuldigung“ der Geisteskrankheit enthält. Bei 
den weit verbreiteten Vorurteilen gegen Geisteskranke können 
ihm daraus auch tatsächlich recht empfindliche Nachteile er- 
wachsen, noch ohne dass er einer Internierung in der Irren- 
anstalt entgegensieht. Der Einstellungsbeschluss, gegen den 
er kein Beschwerderecht hat, weil er zu seinen Gunsten er- 
folgt ist, benimmt ihm die Aussicht, sich aller gegen ihn er- 
hobenen Beschuldigungen in öffentlichem Auftreten vor Gericht 
zu erwehren. Hierauf hatte er aber, von der Richtigkeit seines 
subjektiven Standpunktes fest überzeugt, alle seine Hoffnungen 
gesetzt. Vergeht sich doch mancher Geisteskranke geflissent- 


ie O ze 


lich gegen das Gesetz, nur um Gelegenheit zu gewinnen, in 
öffentlicher Verhandlung aufzuzeigen, was ihm an Verfolgungen 
und Unrecht schon zugefügt worden sei. Eine Einstellung auf 
Grund des $ 51 kann ihm da nichts anderes bedeuten, als 
offene Rechtsverweigerung. Er sucht nach Gründen dafür und 
er weiss sie zu finden. Seine Gegner, die Behörden und die 
Gerichte sind alle untereinander im Bunde und weil sie das 
Licht der Öffentlichkeit zu scheuen haben, hintertreiben sie eine 
Durchführung des Verfahrens. 

Ein derartiger krankhafter Gedankengang kann nun frei- 
lich auch durch ein in aller Form zu Ende geführtes Gerichts- 
verfahren nicht mehr in richtige Bahnen gelenkt werden. Man 
kann damit höchstens verhindern, dass in breiteren Schichten 
des Publikums etwas davon aufgenommen und Misstrauen gegen 
die rechtmäßige Behandlung eines solchen Falles verbreitet werde. 
Wohl aber kann die Möglichkeit nicht ohne weiteres von der 
Hand gewiesen werden, dass bei bereits bekannter oder leicht 
festzustellender Geisteskrankheit eines Verdächtigen oder An- 
geschuldigten die Einstellung des Verfahrens mit Rücksicht auf 
seine Unverantwortlichkeit eine ungenügende Prüfung 
des Tatbestands selbst und der Täterschaft mit sich 
bringe, dass andere Gründe, welche eine Bestrafung 
ausschliessen, nicht gebührend gewürdigt werden. An 
einer richtigen Begründung seiner Schuldlosigkeit kann aber 
unter Umständen auch einem Geisteskranken wie seiner Familie 
recht viel gelegen sein. Subjektiv und objektiv ist es nichts 
weniger als gleichgiltig, ob eine rechtswidrige Handlung ver- 
möge mangelnder Willensfreiheit oder überhaupt nicht vor- 
handen war, wie sie sich eventuell nach anderen Gesichts- 
punkten qualifiziert. Fällt die Verantwortlichkeit weg wegen 
Geisteskrankheit, so wird durch einen solchen Gerichtsbeschluss 
die Täterschaft mittelbar bestätigt. Aus ihr werden vielleicht 
Maßnahmen abzuleiten sein, die recht tief in die persönlichen 
Verhältnisse einschneiden. 

Doch die Einstellung des Verfahrens in solchen Fällen ist 
ja nur eine fakultatıve. In der gerichtlichen Praxis aber 
scheint sie, wenn psychopathische Zustände bei Angeschuldigten 
vorliegen, mehr und mehr Regel geworden zu sein, zum Teil 


== I 


jedenfalls aus schonender Rücksichtnahme auf solche abnorme 
Naturen; zur Verhandlung kommen meist nur Fälle, in denen 
die psychiatrischen Gutachten weniger bestimmt lauten oder 
sich widersprechen. Meiner Ansicht nach wäre es empfehlens- 
werter, wenn Regel und Ausnahme sich etwa umgekehrt ver- 
teilen würden. Wo immer ein Verfahren durchgeführt werden 
kann ohne gesundheitliche Nachteile für einen psychopathischen 
Angeschuldigten, da sollte dies auch geschehen, um die be- 
treffenden Rechtsfälle tunlichst nách allen Richtungen zu 
klären, nicht nur nach der Seite der Willensfreiheit des An- 
geschuldigten. Soll in dessen gesundheitlichem Interesse die 
Durchführung des Verfahrens unterbleiben, so wäre dies jeweils 
durch den ärztlichen Sachverständigen besonders zu begründen, 
ähnlich wie die Unterlassung der persönlichen Vernehmung 
eines zu Entmündigenden. Ist der übrige Tatbestand genügend 
geklärt, so ist die Einstellung des Verfahrens gewiss das Ge- 
gebene. Wo aber dieser noch irgendwie zweifelhaft erscheint, 
sei sie womöglich nur eine vorläufige, um die Wiederaufnahme 
zu gestatten, sobald die Umstände, vielleicht eine Wendung 
im Krankheitszustande des Angeschuldigten, ein sicheres Er- 
gebnis in Aussicht nehmen lassen. Nicht wenige Geisteskranke 
gibt es, die unter einem in aller Form durchgeführten gericht- 
lichen Verfahren weit weniger leiden, als unter einer vielleicht 
nur vermeintlichen Unterschätzung ihrer Interessen in Rechts- 
fragen und ihrer Rechtsansprúche. Zumal wo die äussere Be- 
sonnenheit und der formale Vorstellungsablauf in der Haupt- 
sache erhalten geblieben sind, wird ein mitleidiges Übergehen 
ihrer Anschauungen von den Geisteskranken nicht vertragen, 
um so weniger in der Regel, je mangelhafter sie begründet 
werden können. 


Auch in den Vorschriften über den Strafvollzug werden 
von der Strafprozessordnung die Geisteskranken besonders be- 
rúcksichtigt. Ist es doch selbstverstándlich, dass Strafen, mag 
man deren Zweck beurteilen wie man will, diesen verfehlen 
müssten, wenn sie an Personen vollzogen würden, denen ver- 
möge ihres krankhaften (Geisteszustandes eine angemessene 
Auffassung der Strafe nicht möglich ist. Nach $ 485 darf 
daher ein Todesurteil an Geisteskranken nicht vollstreckt werden 


=. 1% 2m 


und nach $ 487 ist die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auf- 
zuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt. 
Auch diese Ausnahmevorschriften zu Gunsten der Geistes- 
kranken haben ihre Kehrseite, die sich gelegentlich nicht 
weniger als sehr rücksichtsvoll ansieht. Ich verzichte darauf, 
auszuführen, wie grausam etwa eine verschobene Hinrichtung 
als Damoklesschwert über dem Haupte eines Menschen schweben 
müsste, der nach seiner Verurteilung geisteskrank geworden, 
wieder der Rekonvaleszenz'entgegengeht, da hier stets ein an- 
gemessener Gnadenakt ins Mittel treten kann. Aber auch die 
Verschiebung oder Unterbrechung einer Freiheitsstrafe kann 
Verhältnisse schaffen, die einer unverschuldeten Strafverschär- 
fung gleichkommen und durch die darin gelegene Härte gesund- 
heitlich nachteilig werden können. Auch durch die psychische Er- 
krankung eines Verurteilten und durch ihre Behandlung muss in 
der Regel eine Beschränkung seiner Freiheit und seiner Erwerbs- 
möglichkeit eintreten. Sie mit der Erkrankung überwunden zu 
haben, kann sich der Genesende nicht gleich Anderen freuen, 
dem nun noch die Verbüssung der ihm vor der Erkrankung 
zuerkannten Freiheitsstrafe bevorsteht Alle Schattenseiten der 
Strafhaft werden ihn um so empfindlicher treffen müssen, je mehr 
seine Erkrankung in ihrem zeitlichen Anschluss an die gericht- 
liche Untersuchung mit dieser auch in ursächlichem Zusammen- 
hang zu stehen scheint, je mehr sein psychischer Gleichge- 
wichtszustand ein labiler geblieben ist. Ihn von neuem zu 
gefährden, kann nicht im Zweck der Strafe liegen, ob durch 
sie nun eine Schuld gesühnt oder der Schuldige gebessert 
werden soll. Ist eine Psychose zum Ausbruch gekommen 
während der Verbüssung einer Freiheitsstrafe, so sollte ihre 
Behandlung erfolgen können ohne Unterbrechung der Strafzeit, 
auch wenn der erkrankte Sträfling zeitweise der Irrenanstalt 
übergeben wird. Nicht in allen deutschen Bundesstaaten hal 
hierin eine gleichmäßige Praxis geherrscht. Um so mehr ist 
die Errichtung von Irrenabteilungen an den Strafanstalten zu 
begrüssen, die auch im Rahmen des Strafvollzugs selbst eine 
angemessene psychiatrische Behandlung garantiert. 

Mag scheinbar eine solche Einrichtung, wie wir sie jetzt 
auf Hohenasperg besitzen, im Widerspruch stehen, zu der 


22. 18.02 


in $ 487 angeordneten Berücksichtigung der Geisteskranken 
— in Wirklichkeit muss sie denselben zum Vorteil gereichen, 
indem vermieden wird, dass sie über die Dauer ihrer Krank- 
heit in Verhältnisse kommen, unter denen ihre gleichzeitige 
Eigenschaft als ee zu ihren au besonders 
beachtet werden muss. 

Es mag befremdlich klingen, wenn gerade von psychia- 
trıscher Seite aus Ausnahmebestimmungen im Strafrechte selbst, 
im Strafverfahren und im Strafvollzug, durch die den Geistes- 
kranken eine besondere Berücksichtigung zu Teil wird, als ın 
verschiedenen Punkten zu weit gehend bezeichnet werden. In 
der Tat ist das auch nicht so sehr der Sinn meiner Ausfüh- 
rungen; diese zielen vielmehr vorzugsweise darauf hin, darzu- 
legen, dass in der Strafrechtspflege die Geisteskrankheit nicht 
so sehr als einheitlicher Begriff genommen werden darf, dass 
auch hier mehr auf die verschiedenen Formen von 
geistiger Störung, die einzelnen geisteskranken 
Personen Rücksicht genommen werden muss. Von der 
älteren Gesetzgebung her wird noch allzuviel der Geisteskranke 
eben als mente captus behandelt; ein Merkmal wird maß- 
gebend, dass keineswegs allen Geisteskranken, keinesfalls allen 
in gleichem Maße zukommt. Über diesen Standpunkt hat sich 
in bemerkenswerter Weise das bürgerliche Gesetzbuch erhoben, 
indem es verschiedene Grade der Geschäftsfähigkeit anerkennt 
und so den Regeln psychiatrischer Therapie entsprechend auch 
den erhalten. gebliebenen Seiten im geistigen Leben des Er- 
krankten mehr Beachtung schenkt. 

Ähnliches hat ja auch in der Strafgesetzgebung schon An- 
erkennung gefunden und von vielen Seiten wird lebhaft be- 
dauert, dass der Begriff einer verminderten Zurechnungs- 
fähigkeit jetzt nicht mehr zu Recht besteht. Ich stehe nicht 
auf diesem Standpunkt, so sehr ich natürlich Unterschiede in 
der Verantwortlichkeit anerkenne, je nach der geistigen Kon- 
stitution der einzelnen Individuen und je nach den besonderen 
Einflüssen, unter denen ihre Handlungsweise gestanden hat. 
Noch ohne dass eine ausgesprochene Geisteskrankheit die 
Willensfreiheit aufgehoben hätte, gibt es zweifellos vorüber- 
gehende und dauernde Zustände, in denen diese mehr oder 


== TE <= 


weniger beeinträchtigt ist. Bezeichnet nun auch die vermin- 
derte Zurechnungsfáhigkeit den geringeren Grad von Verant- 
wortlichkeit besser, als dies in den mildernden Umständen 
zum Ausdruck kommt, die zur Zeit den Ersatz dafür zu bieten 
haben, so erhebt sie sich in ihren praktischen Folgen doch 
nicht wesentlich darüber. An der Schuld des Täters und an 
der von ihm zu fordernden Sühne wird im einen wie im an- 
deren Falle festgehalten. Einem geringeren Maße des Ver- 
schuldens nur wird entsprochen wesentlich durch Freiheits- 
strafen von kürzerer Dauer. Ungenügend berücksichtigt bleibt 
der Grund des geringeren Verschuldens und die richtige 
Abhilfe, wenn dieser in abnormen Zuständen gelegen ist 
die nicht nur ein geringeres Verschulden, sondern auch eine 
reichlichere Kriminalität mit sich bringen. Angeborene Defekt- 
zustánde kommen hier in Betracht, die der Erziehung und 
Charakterbildung besondere Schwierigkeiten verursacht haben, 
bei denen in mühsamer Arbeit nachzuholen und zu ergänzen 
ist, was während der Entwicklungsperiode der Betreffenden auf 
dem sonst üblichen Wege nicht genügend erreicht werden 
konnte; ferner erworbene Degenerationen auf Grund von chro- 
nischen Intoxikationen oder anderer Unregelmäßigkeiten des ge- 
samten Stoffwechsels, wie sie, wenn überhaupt, so nur durch 
Jahr und Tag hindurch eingehaltene zweckmäßige Lebensweise 
beseitigt werden können. Selten wird sich hierzu Jemand nach 
überstandener Strafe aus freien Stücken und mit genügender 
Ausdauer entschliessen, zumal da es sich um Zeiträume han- 
delt, die sich im Voraus kaum annähernd bemessen lassen. 
die zweckmäßiger Weise nie kurz sein dürfen. Kurzzeitige 
Freiheitsstrafen bieten kaum Gelegenheit, die schwierigsten 
Anfänge eines solchen Regimes zu überwinden; etwaige Erfolge 
zu erproben und weiter zu verwerten, ist innerhalb ihres 
Rahmens nicht möglich. Ohne dass aber eine gründliche Um- 
stimmung der gesamten Persönlichkeit erzielt ist, bleiben solche 
Individuen eine stete Gefahr für unser ganzes soziales Leben. 
vor der dem Publikum mit ihrer milderen Bestrafung nur ganz 
vorübergehender Schutz gewährt wird. 

Unter welchem Namen nun diese nicht voll verantwort- 
lichen psychopathischen Naturen zusammengefasst werden, ist 


e A Di 


von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist nur, dass sie von 
der Strafgesetzgebung besonders ins Auge gefasst werden, dass 
eine besondere Fürsorge für sie einträte, auf deren Einlei- 
tung gerichtlich erkannt werden kann, sobald sie im 
Laufe eines Strafverfahrens als solche offenbar geworden sind, 
ohne dass der Schutz des $ 51 des St. G. B. für sie in An- 
spruch genommen werden kann. Nicht nur ob eine strafbare 
Handlung vorliegt oder nicht, sollte jeweils zur Entscheidung 
kommen, sondern unmittelbar die Frage, was mit einem An- 
geklagten zu geschehen hat, durch dessen Zustand die öffent- 
liche Rechtssicherheit irgendwie bedroht erscheint. Erwächst 
eine solche Bedrohung aus einer Geisteskrankheit, so 
könnte sehr wohl das Ergebnis der strafrechtlichen Untersuch- 
ung unmittelbar zur Grundlage werden für die Einweisung des 
ausser Verfolgung Gesetzten in die Irrenanstalt. Es ist nicht 
recht einzusehen, warum hierzu nochmals ein besonderes ver- 
waltungsrechtliches Verfahren erforderlich sein soll. Wenn 
Aschaffenburg die Überweisung an den Zivilrichter behufs 
Einleitung eines Entmündigungsverfahrens vorschlägt, so ist 
dem ‚entgegenzuhalten, dass keineswegs allen hier in Frage 
kommenden Personen die Fähigkeit zur Besorgung ihrer An- 
gelegenheiten wird abgesprochen werden können, dass es sich 
bei manchen derselben vielmehr darum handelt, einer einseitigen 
Wahrung ihrer eigenen Interessen unter unverantwortlicher 
Schädigung fremder Rechte vorzubeugen. Noch zweifelhafter 
wäre der Erfolg eines Entmündigungsverfahrens bei den vorhin. 
genannten Defekt- und Degenerationszuständen, bei 
denen ja auch eine gewisse strafrechtliche Verantwortlichkeit 
als erhalten angesehen zu werden pflegt. Bei ihnen wäre auf 
eine Zwangsfürsorge zu erkennen, die ihren Anschluss an 
die Zwangserziehung um so eher wird finden können, als es 
sich ja auch hier grossenteils um jugendliche Individuen han- 
delt. In die Irrenanstalten taugen sie nicht, weil diese grund- 
sätzlich ihren Krankenhauscharakter wahren müssen und in 
ihrem ganzen Betriebe auf die Verpflegung von Personen zu- 
geschnitten sind, die einer Verantwortlichkeit entbehren. Es 
bedarf vielmehr einer besonderen Art von Bewahranstalten mit 
Strafferer Disziplin, als sie bei Geisteskranken in Frage kommen 


kann und mit entschiedenem Zwange zu angemessener Arbeit. 
Von besonderer Bedeutung ist sodann ein geeignetes diátetisches 
Regime mit vólliger Alkoholabstinenz und ein etwas weiter- 
gehender Einfluss eines psychiatrisch geschulten Arztes, als ein 
solcher an den Strafanstalten in Betracht kommt. Die spezielle 
Gestaltung solcher Bewahranstalten, die sich anderen Modi- 
fikationen im Strafvollzug anzureihen haben würden, ist ein 
Problem, für das eine angemessene Lösung für die nächste 
Zukunft schon dringend gewünscht werden muss. (Vgl. hierzu 
M oeli: Über die zur strafrechtlichen Behandlung zurechnungs 
fähiger Minderwertiger gemachten Vorschläge. Archiv für 
Psychiatrie, Bd. 39, Z. 3.) 

Einer der heikelsten Punkte wird dabei jedenfalls die Be- 
messung der Aufenthaltsdauer in einer solchen Anstalt werden. 
Zu kurz darf sie nicht sein; einer zeitlichen Unbeschränktheit 
dürften aber gewichtige grundsätzliche und praktische Bedenken 
entgegenstehen. Zur Entscheidung über die Entlassung, even- 
tuell Beurlaubung, werden wohl besondere gemischte Kommis- 
sionen in Tätigkeit treten müssen. Auch der Kostenpunkt 
kommt in Betracht; fällt den Gemeinden oder dem Staate 
diese Art von Fürsorge zur Last? Staatlichen Einrichtungen 
dürfte wohl der Vorzug zu geben sein. Im übrigen jedoch 
dürfte in Rechnung genommen werden können, dass sich solche 
Einrichtungen mit der Zeit selbst bezahlt machen werden. 
Denn die meisten der ihnen zuzuweisenden Personen verfügen 
‚über gute Arbeitskräfte und werden diese unter entsprechender 
Leitung auch einsetzen, zumal wenn ihnen dabei ein gewisser 
eigener Verdienst nicht vorenthalten bleibt. 

Werden die Befugnisse des Strafrichters in der vorhin an- 
gedeuteten Weise erweitert, so bleibt die Durchführung 
von strafrechtlichen Untersuchungen auch in Fällen, 
die eine Bestrafung nicht in Aussicht nehmen lassen, keine 
leere Form. Das Interesse des Untersuchungsrichters an 
genauester Feststellung aller; Seiten des Tatbestands sollte viel- 
mehr vertieft werden, wenn;¡das V erfahren stets zu einer bestimmten 
Entscheidung über das weitere Geschick des Angeschuldigten 
führen muss. Die vermehrte Arbeit, die daraus im Strafverfahren 
erwächst, wäre nicht umsonst getan, sie stünde im Dienste 


se NB 


einer Aufgabe, die über das Strafrecht seinem Namen nach 
zwar hinausgriffe, mit dessen Geist aber doch wohl nicht im 
Widerspruch stünde Hand in Hand mit anderweitigen Be- 
strebungen würde dieselbe die Heilung sozialer Schäden sich 
unmittelbar zum Ziele setzen. Aber auch für sein eigenstes 
Gebiet dürfte der Gewinn nicht ausbleiben, indem so doch 
wohl erfolgreicher auf eine Abnahme der Gewohnheitsver- 
brecher hingearbeitet würde, als dies der Zubilligung mildernder 
Umstände an psychisch Defekte je gelingen wird. Endlich 
würde ein Weg geschaffen, auf dem die Verständigung zwischen 
jJuristischem und ärztlichem Standpunkt sich glatter vollziehen 
würd. Wenn Aschaffenburg eine der Quellen für die 
Abneigung mancher Richter gegenüber den Auffassungen psy- 
chiatrischer Sachverständiger in dem Umstande erblickt, dass 
in der Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit die Machtbe- 
fugnis des Richters sich erschöpfe, dass ihm mit ihrer An- 
erkennung jeder Einfluss entzogen werde auf die weiteren 
Schicksale eines gemeingefährlichen Geisteskranken, so decken 
sich damit meine eigenen Erfahrungen vollkommen. Gar nicht 
selten ist mir im Anschluss an ein dem Gericht erstattetes 
Gutachten die Frage vorgelegt worden nach der Gemeingefähr- 
lichkeit des Angeklagten, für den ich den Schutz des $ 51 des 
St. G. B. zu reklamieren hatte. Mit der Entscheidung über 
die Schuld kann diese Frage an sich nichts zu tun haben und 
doch konnte ich mich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren, 
als habe ihre Beantwortung bestimmenden Einfluss gewonnen 
auf das Urteil, zumal von Geschworenen. 

Handelt es sich in formeller Hinsicht darum, gewissen 
fundamentalen Regeln der psychiatrischen Therapie, tunlichster 
Individualisierung und einer angemessenen Beachtung der er- 
halten gebliebenen Seiten des geistigen Lebens vermehrten 
Eingang in die gerichtliche Praxis zu verschaffen, so erscheint 
materiell neben klarer Bezeichnung der Geisteskrankheit als 
Strafausschliessungsgrund eine Erweiterung richterlicher Befug- 
nisse angezeigt auch gegenüber nicht Schuldigen und in ge- 
ringerem Grade Verantwortlichen, wenn sie einmal zu straf- 
richterlicher Untersuchung Anlass gegeben hatten. Dagegen 
bedarf es einer eigentlichen Erweiterung der den 

2 


a e a 


Geisteskranken in der Strafgesetzgebung grund- 
sätzlich zugestandenen Ausnahmestellung nicht. 
Die erforderlichen Rücksichten lassen sich auf Grund des be- 
stehenden Rechts ausreichend wahrnehmen unter einigen wenig 
einschneidenden Abänderungen der giltigen Spezialbestim- 
mungen. — Um so weniger erscheint mir die Schaffung einer 
Ausnahmegesetzgebung für Geisteskranke — ein „Irrenrecht“ 
— geboten zu sein. Verlangt wird nach einem solchen nament- 
lich, um eine gesetzliche Festlegung der Bedingungen zu er- 
langen, unter denen eine Beschränkung der verfassungsmäßig 
garantierten persönlichen Freiheitsrechte wegen Geisteskrank- 
heit zulässig sein soll, weiterhin um alle Rechtsfragen, die 
Geisteskranke speziell berühren, unter bestimmte Normen zu 
bringen. Man übersieht dabei, dass starre Gesetzesvorschriften, 
die vor allen Dingen notwendige individualisierende Behand- 
lung, wie sie im gesamten Verkehr mit den Geisteskranken 
als eine der wichtigsten Forderungen betrachtet werden muss, 
nur erschweren können; man übersieht ferner, dass alles, was 
sich gegen Ausnahmegesetze im allgemeinen einwenden lässt, 
noch vermehrt werden muss, wenn sich die Zugehörigkeit der 
von einem solchen Gesetze betroffenen Personen zu seinem 
Geltungsbereiche nicht nach Merkmalen bestimmen lässt, die 
von ibnen selbst anerkannt werden. Jede Anwendung eines 
solchen Gesetzes bliebe an eine Entscheidung über die Vor- 
frage gebunden, ob die betreffende Person geisteskrank ist 
oder nicht. In diesem Punkte liegt allein die wahre Schwierig- 
keit des „Irrenrechts*. Ist er in einer Weise strittig, dass 
gerichtliche Entscheidung notwendig erscheint, so fehlt es im 
bestehenden Rechte nicht an den geeigneten Mitteln und Wegen, 
sie herbeizuführen, so wenig sie im gegebenen Falle auf allge- 
meine Anerkennung sicher zu rechnen haben wird. Denn eine 
ausreichende Einsicht für das Krankhafte ihres Zustandes fehlt 
eben den meisten Geisteskranken, wie sie auch Laien vielfach 
abgeht, die nur einzelne Seiten der Betreffenden, nicht ihre 
Gesamtpersönlichkeit ins Auge zu fassen in der Lage sind. In 
den Staaten, die besondere Irrengesetze haben, sind darum 
auch die Klagen über ihre ungerechtfertigte Anwendung nicht 
geringer, als bei uns die über gesetzwidrige Freiheitsberaubung, 


za JO. == 


moderne Vehme u. dgl. Steht aber die Diagnose einer Geistes- 
krankheit fest, so genügen die bestehenden Gesetze für alle 
aus ihr abzuleitenden rechtlichen Folgerungen. l 

Diese ganze Frage dem heutigen Thema noch anzureihen, 
habe ich mich veranlasst gesehen durch eine kürzlich in zweiter 
unveränderter Auflage erschienene Abhandlung von Ernst 
August Schroeder: „Das Recht im Irrenwesen; 
kritisch, systematisch und kodifiziert“ (Zürich und Leipzig, 
1904). Es wird darin ausgeführt, dass ein besonderes Irren- 
recht als Angelegenheit nicht des privaten, sondern des öffent- 
lichen Rechts dringendstes Erfordernis sei und dass es sich 
aufbauen müsse im Anschluss an das Strafrecht. Nur durch einen 
förmlichen Strafprozess soll Jemand der Geisteskrankheit „ange- 
klagt“, soll er zur Internierung in einer Irrenanstalt „verurteilt“ 
werden können. Um eine solche „Irrenstrafe“ zu rechtfertigen, wird 
ein Schuldbegriff gefunden in der Geisteskrankheit als Ursache 
eines Unrechts gegen Andere. Nur gefährliche Geisteskranke 
können also Objekt einer Irrenfürsorge werden, eine solche aus 
ärztlichen und humanitären Gründen im Interesse des Erkrankten 
selbst gibt es von diesem Standpunkt aus nicht! 

' Dürfte auch ein Autor, der seine Schrift 14 Jahre nach 
ihrer erstmaligen Veröffentlichung unverändert zum Abdruck 
bringt unter Nichtbeachtung alles dessen, was von anderer 
Seite inzwischen geleistet worden ist, den Anspruch verwirkt 
haben, ernsthaft genommen zu werden, so erscheint mir eine 
Entgegnung doch angezeigt zu sein, weil ähnliche Anschau- 
ungen ohne den Mantel sozialwissenschaftlicher Rechtsunter- 
suchung in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer all- 
zufest wurzeln. Bei Kranken und Gesunden stösst man immer 
wieder auf die Meinung, die Übernahme eines Geisteskranken 
in Irrenanstaltsbehandlung müsse durch diesen irgendwie ver- 
schuldet sein, damit sie überhaupt gerechtfertigt sei, ja selbst 
in der behördlichen Aufsicht über den Anstaltsbetrieb sickert 
immer wieder ein Suchen nach besonderen Vorkommnissen 
durch, mit denen Aufnahme und Belassung in der Anstalt zu 
begründen sei. Die Anstaltsbedürftigkeit eines Kranken ist 
man unwillkürlich immer wieder geneigt, mehr nach dem Ge- 
sichtspunkt des Schutzes öffentlicher Interessen zu beurteilen 

9x 


— 2 — 


als nach den gesundheitlichen Erfordernissen des einzelnen 
Patienten. Für den Arzt aber müssen die letzteren an erster 
Stelle stehen, ist der Schutz des Publikums gegen etwaige 
Schädigungen durch Geisteskranke eine Aufgabe, der er sich 
zumal an einer öffentlichen Irrenanstalt nicht entziehen kann. 
die aber seinen Berufskreis nur mittelbar berührt. Diese darf 
darum auch nicht vorzugsweise oder gar ausschliesslich maß- 
gebend werden für die Aufnahmevorschriften. 

Eine Verkennung dieses Standpunkts kann sich nur darum 
immer wieder aufdrängen, weil im Unterschied von anderen 
Kranken die Geistesgestörten nur selten aus eigenem Antrieb 
eine irrenärztliche Behandlung aufsuchen. Oft genug müssen 
auch ungefährliche Patienten zu ihrem eigenen Wohl ihr unter 
Widerstreben überantwortet werden. So wird die ihnen auf- 
gedrungene Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit der ähn- 
lich, die bei anderen Personen nur kraft Gesetzes eintreten 
darf. Sehr gewöhnlich wird jedoch dieser Eingriff in die 
Freiheitsrechte des Einzelnen überschätzt. Weiss man schon 
zu Hause mit den Patienten angemessen umzugehen, versteht 
man, ihnen ruhig und bestimmt auseinanderzusetzen, was ihr 
eigenes Wohl erfordert, und vermeidet man namentlich jede 
Art von Täuschung oder Überlistung der Kranken, so schrumpfen 
die Fälle, in denen wirklicher Zwang bei der Verbringung in 
die Anstalt ausgeübt werden muss, auf ziemlich bescheidene 
Zahlen zusammen. Fehlt doch den wenigsten einiges, wenn 
auch unklares Krankheitsgefühl, an das man anknüpfen kann 
zur Begründung der Notwendigkeit eines Heilverfahrens. Seit 
längerer Zeit wende ich bei der Krankenaufnahme diesem 
Punkte mein besonderes Augenmerk zu und die Proteste gegen 
die Aufnahme in die Anstalt sind dabei erheblich seltener ge- 
worden. Allerdings kommen sie vielfach nachträglich zum 
Vorschein, wenn die in Aussicht gestellte Besserung langsamer 
fortschreitet als gehofft war, oder wenn sie ganz ausbleibt. 
Der chronische Verlauf der meisten Psychosen stellt die Aus- 
dauer von Patienten und Rekonvaleszenten oft auf harte Proben. 
Wie viel trotzdem auf suasorischem Wege möglich ist, lehrt 
uns die allenthalben fortschreitende Ausdehnung freierer Ver- 
pflegungsformen in der Psychiatrie, die Möglichkeit, bei der 


— ?] — 


Neueinrichtung von Irrenanstalten auf Sicherheitsvorkehrungen 
mehr und mehr zu verzichten, wie sie früher für unentbehr- 
lich galten. In Wirklichkeit nähert sich die Verpflegung in 
unseren Anstalten, landläufigen Ansichten zum Trotz, stetig 
der in anderen Krankenhäusern, wo es Jedermann nur natür- 
lich findet, wenn Aufenthaltsdauer und Lebensweise sich mehr 
nach den Anordnungen des Arztes, als nach dem Willen der 
Patienten zu richten haben. Wenn dies den Patienten der 
Irrenanstalten schwerer fällt, wenn sie namentlich viel schwan- 
kender sind in ihren Entschliessungen, so liegt das in der 
Natur ihrer Erkrankung und kann das auch vielfach mit dieser 
wieder gebessert werden. Die notwendige Fürsorge zu einer 
Rechtsangelegenheit zu machen, dürfte ein ausreichender An- 
lass höchstens dann gegeben sein, wenn ein Schwinden des 
Protestes ausbleibt oder nicht in absehbarer Zeit zu gewärtigen 
ist. Hierfür genügen aber die Bestimmungen des ordentlichen 
Rechts über Entmündigung einerseits und über widerrechtliche 
Freiheitsentziehung andererseits in Verbindung mit der regel- 
mäßigen staatlichen Kontrolle des gesamten Irrenwesens. Was 
Schroeder über die Vergeblichkeit jeder Art von Beschwerde- 
führung durch die wegen angeblicher Geisteskrankheit Inter- 
nierten ausführt, trägt zu sehr den Stempel tendenziöser Kon- 
struktion an sich, als dass es die auch von ihm nicht bestrittene 
Tatsache entkräften kónnte, dass von allen gegen Irrenärzte 
erhobenen Klagen wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung 
nicht eine hat zu einer Verurteilung führen können. Dass 
auch der Irrenarzt irren kann, ist ja selbstverständlich. Daran 
kann aber auch durch keine Spezialgesetzgebung etwas geän- 
dert werden. 

Auf das Entschiedenste ist jedenfalls Verwahrung einzu- 
legen gegen den blossen Gedanken eines Irrenstrafrechts, 
wie dies Schroeder so dringend verlangt. Denn grundsätz- 
lich muss darauf bestanden werden, dass alle Schritte auf dem 
Gebiete des Irrenwesens sich nur im Sinne einer Fürsorge dar- 
stellen dürfen, auch wenn sie einmal einem Widerstrebenden 
gegenüber zur Ausführung gebracht werden müssen. Lehnt 
das Strafrecht jede Bestrafung von Geisteskranken ab, so darf 
deren Behandlung nie und nimmer als solche erscheinen, wie 


wir ja auch in unseren praktischen Maßnahmen mit besonderem 
Fleiss darauf ausgehen, jede äussere Ähnlichkeit mit dem Ge- 
fängnis immer mehr zum Verschwinden zu bringen. Als eine 
leidige Seite des Entmündigungsverfahrens wird es immer 
wieder empfunden, dass die damit begründete Fürsorge für 
den geschäftsunfähigef Geisteskranken formell an eine Klage 
gegen ihn gebunden ist. Vielleicht lässt sich für diesen Ein- 
griff in die persönlichen Rechte eines Kranken mit der Zeit 
noch eine schonendere Form finden. Der Arzt aber, dessen 
erste Pflicht es ist, für das gesundheitliche Wohl seiner Kranken 
zu sorgen, darf sich deren Erfüllung nicht dadurch erschweren 
lassen, dass seine Wirksamkeit von irgend einem richterlichen 
Vorgehen gegen den Kranken abhängig gemacht werde. Nur 
für die ihn an zweiter Stelle gelegentlich zukommende Auf- 
gabe, auch das Publikum zu schützen vor Schädigungen durch 
unverantwortliche Geisteskranke, kann es ihm nicht unerwünscht 
sein, wenn er sich dabei stützen kann auf den Spruch eines 
ordentlichen Gerichts. 


Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetz- 
gebung und Strafprozess. 


Von Oberlandesgerichtsrat Dr. Schanz (Stuttgart). 


| Aur dem Gebiet des materiellen Strafrechts kommt 
der Geisteskranke in doppelter Richtung in Betracht, einmal 
als Subjekt, sodann aber als Objekt einer strafbaren Hand- 
lung. In letzterer Beziehung ist er dem geistig gesunden 
Menschen grundsätzlich gleichgestellt. Modifikationen mit der 
Wirkung einer Änderung des rechtlichen Charakters der Straf- 
tat können sich ergeben, wenn diese mit einer Handlung des 
Verletzten verknüpft ist, so, wenn der Geisteskranke von dem 
Täter bestimmt wird, eine ihm gehörige, in seinem Gewahrsam 
befindliche bewegliche Sache dem Täter zu übergeben, der von 
Anfang an die, in der Folge auch verwirklichte, Absicht hat, 
sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen. Hier liegt, wenn der 
Täter die Geisteskrankheit des Verletzten gekannt hat, nicht 
Unterschlagung, sondern Diebstahl vor. Modifikationen können 
ferner eintreten, wenn und soweit der Tatbestand einer straf- 
baren Handlung ein Verständnis auf Seiten des Verletzten 
voraussetzt, so z. B. im Falle der Beleidigung eines Geistes- 
kranken ohne Anwesenheit eines dritten !). Ein näheres 
Eingehen auf die Stellung des Geisteskranken als Verbrechens- 
objekts in der Strafgesetzgebung muss mit Rücksicht auf 
die Kürze der für diesen Vortrag bestimmten Zeit unterbleiben- 
Ungleich wichtiger ist ja auch die Behandlung des Geistes- 
kranken alsSubjekts einer — an sich — strafbaren Handlung. 

Unser deutsches Strafgesetzbuch — auf das ich mich vor- 


1) Vgl. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, $ 95 bei und in 
Note 4, Entscheidungen des R.-G. in Strafsachen, Bd. 27, S. 368. 


— Ææ — 


liegend in der Hauptsache beschränke — enthält in diesem 
Betreff nur die einzige Bestimmung des § 51, wonach eine 
strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn der Täter zur 
Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von 
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit 
befand, durch welche seine freie Willensbestimmung ausge- 
schlossen war, d. h. eine an sich strafbare Handlung ist dem 
Täter nicht zur Schuld zuzurechnen und darum straflos ge- 
lassen, wenn seine freie Willensbestimmung zur Zeit der Tat 
durch Bewusstlosigkeit oder krankhafte Störung seiner Geistes- 
tätigkeit ausgeschlossen war. Der Gesetzgeber hat somit die 
Zurechnungsunfähigkeit des Täters nicht nach der sog. biolo- 
gischen Methode, d. h. durch Aufzählung der einzelnen, die 
Zurechnungsfähigkeit aufbebenden Zustände, aber auch nicht 
nach ausschliesslich psychologischen Merkmalen bestimnit, 
sondern sich für das gemischte System, die Verbindung 
biologischer Kriterien mit einem psychologischen Merkmal ent- 
schieden. Nach den Motiven zu dem jetzigen $ 51 B. G. B. 
($ 49 des II. Entwurfs) wollte man mit den Schlussworten des- 
selben „zugleich ausdrücken, dass die Schlussfolgerung selbst, 
nach welcher die freie Willensbestimmung in Bezug auf die 
Handlung ausgeschlossen war, Aufgabe des Richters ist.“ Es 
versteht sich denn auch bei dem den deutschen Strafprozess 
beherrschenden Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung 
(vgl. $ 260 St. P. O.) von selbst, dass der Richter bei der 
Entscheidung der Frage, ob zur Zeit der Begehung der inkri- 
minierten Handlung die freie Willensbestimmung des Täters 
durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen 
war, an das Gutachten eines Sachverständigen nicht gebunden 
ist, wie er ja auch im Gegensatz zum civilrichterlichen Ent- 
múndigungsverfahren, für welches in § 655 Z. P. O. bestimmt 
ist, dass die Entmiindigung nicht ausgesprochen werden darf, 
bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige über 
den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat, das 
Vorhandensein einer die freie Willensbestimmung ausschliessen- 
den krankhaften Störung der Geistestätigkeit auf Seiten des 
Täters feststellen oder verneinen kann, ohne überhaupt einen 
Sachverständigen in dieser Richtung vernommen zu haben. 


— 25 — 


Anders z. B. der Vorentwurf zu einem schweizerischen Straf- 
gesetzbuch vom Juni 1903, der in Art. 15 die Bestimmung 
enthält: „Gibt der Geisteszustand des Angeschuldigten zu 
Zweifeln Anlass, so lässt ihn der Beamte, der dies wahrnimmt, 
durch Sachverständige untersuchen.“ Durch diese, übrigens 
nicht dem Strafrecht, sondern dem Strafprozess angehörige 
Vorschrift soll dem funktionierenden Beamten die Pflicht!) 
auferlegt werden, in denjenigen Fällen, in denen Zweifel an 
der geistigen Gesundheit des Beschuldigten auftauchen, diesen 
durch mindestens einen Sachverständigen untersuchen zu lassen. 


Es ist bekannt, dass seit Jahren eine sehr starke, auf Be- 
seitigung des Kriteriums der freien Willensbestimmung 
in $ 51 St. G. B. gerichtete Strömung?) besteht. In seinem 
Vortrage über „Die Zurechnungsfähigkeit“, den Prof. Dr. 
E. Mendel (Berlin) am 11. März 1902 in dem Cyklus 
„Gerichtliche Medizin“ in Berlin gehalten hat, konnte 
derselbe sagen: „alle (d. h. Gerichtsärzte und Medizinalkollegien) 
sind einig darin, dass sich mit der freien Willensbestimmung 
in ärztlichem Sinne nichts anfangen liesse, dass die Fassung 
geändert werden müsste“*,3) und Prof. Dr. Aschaffenburg 
(Köln) hat sich auf der am 12.—13. Sept. 1904 in Danzig 
stattgehabten dritten Hauptversammlung des deutschen Medizi- 
nalbeamten-Vereins dahin ausgesprochen: „Der $ 51 unserer 
Strafgesetzgebung hat eine Reihe grober und grosser Mängel; 
in dieser Anschauung stimmen wohl alle Juristen und Ärzte 
überein und wohl auch darin, dass das Wort und der Begriff 
der „Willensfreiheit* in Fortfall kommen müssen; die „ Willens- 
freiheit“ ist ein metaphysischer Begriff, der nicht zur Charakte- 
risierung einer Gesetzesbestimmung benutzt werden darf). 
Aschaffenburg nimmt also über Mendel hinausgehend an, dass 
wohl auch alle Juristen die Beseitigung des psychologischen 
Kriteriums in $ 51 St. G. B. fordern. Der Strafrechtsprofessor 


1) Vgl. auch Hafter in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und 
Strafrechtsreform, Bd. 1, S. 80. 


?) Vgl. Klinisches Jahrbuch, Bd. 11, S. 175. 
’ Vgl. den „offiziellen Bericht“ über diese Versammlung S. 68. 
a. a. O. S. 97. 


— % = 


Dr. Heimberger (Bonn) hat sich denn auch auf derselben 
Versammlung mit diesen Ausführungen Aschaffenburgs einver- 
standen erklärt!) In der am 9. Januar 1905 abgehaltenen 
Sitzung der „Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven- 
krankheiten* endlich hat Prof. Mendel unter Bezugnahme auf 
eine seinem Standpunkt günstige, auf dem 27. Deutschen 
Juristentag gefallene Äusserung des Strafrechtslehrers Prof. 
Dr. Kahl (Berlin), ohne Widerspruch zu erfahren, erklären 
können: „Ärzte und Juristen seien darin einig, dass die freie 
Willensbestimmung aus $ 51 St. G. B. entfernt werden müsse ?)*. 
Die biernach auf medizinisch-psychiatrischer Seite herrschende 
Meinung, dass alle Juristen oder jedenfalls die überwiegende 
Mehrzahl derselben die Eliminierung des psychologischen Kri- 
teriums aus $ 51 St. G. B. verlangen, entspricht nach meiner 
Kenntnis der Verhältnisse nicht der wirklichen Sachlage.3) Die 
neuen Kodifikationen des Strafrechts und Entwürfe hierzu haben 
denn auch zumeist das gemischte System gewählt, so das 
ungarische Strafgesetzbuch von 1878, $ 76, das italienische von 
1889, Art. 46 Abs. 1, das bulgarische von 1896, Art. 41 Abs. 1 
der österreichische und russische Entwurf, so namentlich auch 
der neueste Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches 
von 1903, dessen, übrigens sowohl von ärztlicher Seite) als 
auch aus juristischen Kreisen heftig bekämpfter art. 16 Abs. 1 
dahin lautet: „Wer zur Zeit der Tat ausserstande war, vernunft- 
gemäß zu handeln, wer insbesondere zur Zeit der Tat in seiner 
geistigen Gesundheit oder in seinem Bewusstsein in hohem 
Grade gestört war, ist nicht strafbar,“ während der entsprechen- 
den Bestimmung der Vorentwürfe von 1893, 1894 und 1896 
in Anwendung der biologischen Methode die Fassung gegeben 
worden war: „Wer zur Zeit der Tat geisteskrank oder blöd- 
sinnig oder bewusstlos war, ist nicht strafbar.“ M. E. kann 
nun aber vom juristischen Standpunkt aus auf die Beibehaltung 
des psychologischen Kriteriums in $ 51 St. G. B. verzichtet 


1) Vgl. Neurologisches Zentralblatt Bd. 24, S. 136. 

2 Vgl. u.a. Gretener, Die Zurechnungsfähigkeit als Gesetzgebungs- 
frage S. 44. 

2) Vgl. Bleuler in der; Monatsschr. f. Krim. Psychologie Bd. 1, $. 621 ff. 

4) Vgl. Gretener, Die Zurechnungsfähigkeit p. p. S. 48 und 49. 


m ZONE 


werden, wenn die Eliminierung desselben auch keineswegs 
deshalb als geboten erscheint, weil der in der jetzigen 
Fassung des $ 51 zu Tage tretende indeterministische Stand- 
punkt des Gesetzgebers wissenschaftlich nicht haltbar wäre, 
Die gegen die Beseitigung der „freien Willensbestimmung* 
hauptsächlich geltend gemachten Gründe, dass im Falle blosser 
Aufzählung der die Zurechnungsunfähigkeit bedingenden Geistes- 
zustände die Grenzen der ersteren entweder — bei allgemeiner 
Fassung — zu weit ausgedehnt, oder — bei spezieller Bezeichnung 
der einzelnen Zustände — zu eng gesteckt würden !), und dass 
für eine gegenseitige Verständigung zwischen Arzt und Richter 
in zweifelhaften Fällen der durch das psychologische Kriterium 
geschaffene gemeinsame Boden fehlen würde?), dürften nicht 
stichhaltig sein. Kein Streit herrscht .ja darüber, dass beim 
Vorliegen einer — wirklichen — Geisteskrankheit eine Verant- 
wortlichkeit des Täters für die von ihm begangene, objektiv 
strafbare Handlung nicht besteht. Aus der Entstehungsgeschichte 
des $ 51 St. G. B. geht auch unzweideutig hervor, dass der 
Gesetzgeber die freie Willensbestimmung im Falle der Geistes- 
krankheit als unbedingt ausgeschlossen betrachtete. Liegt also 
tatsächlich Geisteskrankheit vor, so ist hierdurch auch der Aus- 
schluss der Zurechenbarkeit der Tat und damit der Strafbarkeit 
gegeben. Ein psychologisches Kriterium hat also hierneben 
gar keinen Platz mehr. Ob — wirkliche — Geisteskrankheit 
vorliegt, ist freilich nicht selten schwer festzustellen. Die 
Grenzen der Geisteskrankheit und der geistigen Gesundheit sind 
fliessende und es kann ein Gerichtsarzt da schon Geisteskrankheit 
annehmen, wo ein anderer nur einen die Zurechnungsfähigkeit 
vermindernden, also noch innerhalb der Gesundheitsbreite liegen- 
den Zustand als gegeben erachtet. Gerade hier aber hat dann 
erforderlichenfalls der Richter einzugreifen und sich durch 
Fragestellung an den ärztlichen Sachverständigen zu vergewissern, 
ob die Störung die Persönlichkeit des Täters psychisch umge- 
wandelt hat, ob, wie Bleuler’) bemerkt, durch dieselbe „ein 
Novum in die Seele des Menschen hineingekommen ist“, ob 





1) Gretener a. a. O. S. 53, Kandinsky daselbst S. 207. 
?) Vgl. Monatsschr. f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 627. 
3) a. a. O. S. 632, 633. 


— 28 — 


also wirklich Geisteskrankheit gegeben ist. Ähnlich verhält es 
sich mit dem Begriff der Bewusstlosigkeit. Der Richter wird 
demnach im Falle der Beseitigung des psychologischen Krite- 
riums in § 51 St. G. B. keineswegs ausgeschaltet, ganz ab- 
gesehen davon, dass er auch in diesem Falle an das Gutachten 
des Sachverständigen nicht gebunden ist. Denn nicht scharf 
genug kann dem Versuche entgegengetreten werden, den Richter 
an den Ausspruch des ärztlichen Sachverständigen über das 
Vorhandensein einer Geisteskrankheit binden zu wollen, wie er 
z. B. von Bleuler!) gemacht worden ist. Anders nähmlich als 
in diesem Sinne kann wohl die Erklärung desselben, „die freie 
Würdigung des Gutachtens (sc. seitens des Richters) sei, so- 
weit sie wahr sei, in psychiatrischen Dingen eine Art Unfug,“ 
nicht aufgefasst werden. Das Prinzip der freien Beweiswürdi- 
gung ist einer der Grundpfeiler einer gesunden Strafrechtspflege, 
von dem nichts abgebröckelt werden darf, wenn auch der fast 
allseitig erhobenen Forderung einer tiefergehenden psychologisch- 
psychiatrischen Ausbildung der Juristen (Bleuler verlangt zu- 
weitgehend eine naturwissenschaftlich- psychologische 
Erudition derselben) mit Entschiedenheit zuzustimmen ist. Ich 
bin daher der Meinung, dass der von Mendel?) an Stelle des 
jetzigen Wortlauts des § 51 St. G. B. vorgeschlagenen, unter 
anderen auch von Kahl?) nicht beanstandeten Fassung: „Eine 
strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur 
Zeit der Begehung der Handlung bewusstlos oder geisteskrank 
war,“ nichts im Wege steht. Sie wird sich aber auch geradezu 
empfehlen und zwar schon deshalb, weil die Gerichtsärzte 
in immer weiterem Umfang die Beantwortung der Frage nach 
dem Ausschluss der freien Willensbestimmung als einer nicht- 
medizinischen ablehnen *) und es an einem gesetzlichen Mittel 
zur Erzwingung dieser Beantwortung gebricht, aber auch des- 
halb, weil jene Fassung immerhin den Vorzug grösserer Be- 
stimmtheit hat. 

1) Klinisches Jahrbuch Bd. 11, S. 176, Neurologisches Zentralblatt 
Bd. 24, S. 136. i 

2) Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages Bd. 1, S. 219. 

5 Vgl. Mendel im Klinischen Jahrbuch Bd. 11, S. 175. 


4) Vgl. den angeführten offiziellen Bericht über die Danziger Ver- 
sammlung S. 69. l 


— 29 — 


Eine andere Gestaltung des § 51 St. G. B.!) wird auch 
um deswillen gefordert, weil bei dem jetzigen Wortlaut, wonach 
auf Seiten des Geisteskranken eine Handlung im Rechtssinne 
nicht vorliege, nach der Ansicht des Reichsgerichts ?) die Bei- 
hilfe straflos bleiben müsse und weil dem Richter im Falle der 
Bejahung der Geisteskrankheit nicht die Pflicht zur Feststellung, 
ob der beschuldigte Geisteskranke überhaupt die Tat begangen 
habe, auferlegt sei, während doch der bei Unterlassung dieser 
Feststellung auf dem Geisteskranken haften bleibende Makel, 
dass er eine „gemeingefährliche* Handlung begangen habe, 
eine erhebliche Schädigung desselben enthalte, insbesondere den 
Heilungsprozess ungünstig beeinflusse. Es wird daher eine 
„Irennung des Wortlautes des $ 51 St. G. B.“ verlangt, die 
„derartig ist, dass unabhängig voneinander die Beteiligung des 
Kranken an der ihm zugeschriebenen Handlung und seine 
Unzurechnungsfähigkeit festzustellen ist.“*). Bei dem ersten 
Punkt ist indes übersehen, dass der „Teilnehmer“ an der Tat. 
des Geisteskranken im Falle seiner Kenntnis der Geisteskrank- 
heit wohl, soweit dies der Charakter des betreffenden Reates 
zulässt, in der Regel als Selbsttäter zur Strafe gezogen werden 
kann. Eine Bestimmung aber dahin, dass der Teilnehmer im 
Falle seiner Unkenntnis von der Geisteskrankheit des Täters. 
nach den für die Teilnahme geltenden Grundsätzen zu be- 
strafen sei, widerspräche- dem strafrechtlichen Begriff der Teil- 
nahme, deren Accessorietät auf Seiten des Täters eine Handlung 
im Rechtssinn voraussetzt, wie sie in dem Tun eines Geistes- 
kranken nicht erblickt werden kann und erscheint daher als 
ausgeschlossen. Die Frage der Trennung der Tat- und Schuld- 
frage sodann berührt als rein prozessuale das materielle Straf- 
recht nicht und ist deshalb später zu erörtern. 

Dagegen ist hier einzugehen auf die brennend gewordene 
Frage, ob und welche Befugnisse dem Strafrichter hinsichtlich. 


1) Gemeint ist das Urteil des III. S.rafsenats in Bd. 11, S. 56 der: 
Entsch. in Strafs. 


?) Vgl. den erwähten Bericht S. 69. 


5) Vgl. D.-G. in Strafs. Bd. 11, S. 57, Bd. 21, S. 14/15, Bd. 29, S. 
130, Bd. 35, S. 73. 


o BO es 


der Verwahrung des freigesprochenen oder ausser Verfolgung 
gesetzten Geisteskranken einzuräumen seien. Liszt hat auf der 
vorjährigen, in der Zeit vom 25. bis zum 28. Mai in Stuttgart 
stattgehabten Versammlung der deutschen Landesgruppe der 
internationalen kriminalistischen Vereinigung einen von ihm ver- 
fassten, von der Versammlung in der Folge mit unwesentlichen 
Abweichungen gebilligten Gesetzentwurf betr. die Verwahrung 
gemeingefährlicher Geisteskranker und vermindert Zurechnungs- 
fähiger vorgelegt, in dessen $ 1 er vorschlágt, den $ 51 St. 
G. B. durch die Bestimmung zu ergänzen: „Erachtet 
das Gericht den Täter nach dem Gutachten der psy- 
chiatrischen Sachverständigen als gemeingefährlich, so hat es 
von Amtswegen durch besondern Beschluss die vorläufige 
Verwahrung des Freigesprochenen anzuordnen und zugleich die 
Akten zur Veranlassung des Entmündigungsverfahrens an die 
zuständige Staatsanwaltsschaft (Z..P. O. $ 646, Abs. 2) abzugeben. 
Dem Angeschuldigten, welcher einen Verteidiger nicht hat, ist 
ein solcher gleichzeitig zu bestellen“, und in dessen $ 3 er 
eine Ergänzung des die Voraussetzungen der Entmündigung 
normierenden $ 6 B.G.B. durch Einschaltung eines $ 4 des 
Wortlauts: (Entmündigt kann werden) „wer in Folge von 
Geisteskrankheit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit als 
gemeingefährlich erscheint,“ verlangt.!) Dem Strafrichter weist 
Liszt also nur die Aufgabe der — mittels Beschwerde an- 
fechtbaren — Anordnung der vorläufigen Verwahrung des 
freigesprochenen (nicht auch des ausser Verfolgung ge- 
setzten) gemeingefährlichen Geisteskranken zu und zwar 
soll nach einem von ihm zu $ 51 St.G.B. vorgeschlagenen 
Abs. 4, „die vorläufige Verwahrung in besondern Abteilungen 
der Strafanstalten und Gefängnisse oder in andern dazu ge- 
eigneten Räumen unter ärztlicher Beaufsichtigung erfolgen“, 
während die Anordnung der endgiltigen Verwahrung des 
freigesprochenen, gemeingefährlichen Geisteskranken in einer 
Heil- oder Pflegeanstalt von dem die Entmiinndigung aus- 
sprechenden Zivilrichter in einem dem zivilprozessualen Ent- 


1) Vergl. die Mitteilungen der internationalen kriminalistischen Ver- 
einigung Bd. 11, S. 639 ff. Monatsschr. f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 242, 


to G] ze 


miindigungsverfahren analog gestalteten Verfahren getroffen 
werden soll ($ 6 des erwähnten Gesetzentwurfs) Auf die 
Einzelheiten des Liszt'schen Entwurfs einzugehen, würde zu 
weit führen. Dem Liszt’schen Vorschlag stehen zwei andere 
Ansichten gegenüber, eine viel weitergehende, wonach dem 
Strafrichter die Befugnis zur endgiltigen Entscheidung 
über die Verwahrung der freigesprochenen gemeingefährlichen 
Irren übertragen werden soll [so u. a. Seuffert!) und 
van Calker?)] und eine grundsätzlich verschiedene, welche 
dem Strafrichter gar keine Kompetenzen hinsichtlich der An- 
ordnung der Verwahrung der genannten Geisteskranken ein- 
geräumt, sondern die Entscheidung hierüber ausschliesslich 
den Verwaltungsbehörden übertragen wissen will (so z. B. 
Delbrück auf der im Juni 1903 zu Dresden stattgehabten 
Versammlung der deutschen Landesgruppe der intern. krim. 
Vereinigung).?) Von Interesse ist ein Blick auf die ein- 
schlägigen Bestimmungen neuerer Strafgesetzbücher. Das 
italienische enthält im Anschluss an die Normierung der Straf- 
losigkeit des verbrecherischen Geisteskranken in Art. 46 Abs. 
2 die Vorschrift: „Doch verfügt der Richter, wenn er die 
Freilassung des freigesprochenen Beschuldigten für gefährlich 
erachtet, die Überlieferung desselben an die zuständige Be- 
hörde zur Vornahme weiterer gesetzlicher Schritte.“ Es steht 
also ohne Zweifel auf dem Boden der letzterwähnten Ansicht. 
Dagegen bestimmt das bulgarische Strafgesetzbuch, nachdem 
es in Art. 41 Abs. 1 die Geisteskrankheit und ähnliche Zustände 
als Schuldausschliessungsgründe bezeichnet hat, in Art. 41 
Abs. 2: „In solchen Fällen stellt das Gericht, wenn es dies 
unumgänglich erachtet, eine solche Person unter verantwort- 
liche Aufsicht ihrer Verwandten oder derer, die für sie zu 
sorgen wünschen sollten oder versorgt sie in einer Anstalt bis 
zur Genesung,“ und das norwegische vom 22. Mai 1902 in 
$ 39: „Wenn das Gericht annimmt, dass ein Angeklagter, der 


1) Mitteilungen der intern. krim. Vereinigung Bd. 11, S. 654. 

?) Deutsche Juristenzeitung von 1897 S. 29, Sonderabdruck von 
van Calkers Aufsatz in der Nationalzeitung 1904, S. 7, Mitteilungen 
pp. Bd, 11, S. 656/657. 

®) Vergl. Mitteilungen pp. Bd 11, S. 594, lit. a. und S. 596. 


— 32 — 


entweder freigesprochen oder gemäss den 8$ 45 oder 46 zu 
einer herabgesetzten Strafe verurteilt wird, wegen Unzurech- 
nungsfähigkeit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit für die 
Rechtssicherheit gefährlich ist, so kann es beschliessen, dass ihm 
nach näherer Bestimmung der Obrigkeit ein bestimmter Auf- 
enthaltsort anzuweisen oder zu verbieten ist oder dass er, so- 
weit dazu nach den vom Könige oder einer von ihm ermäch- 
tigten Person erlassenen allgemeinen Vorschriften Anlass vor- 
liegt, in ein Irrenasyl, eine Heil- oder Pflegeanstalt oder in ein 
Arbeitshaus zu verbringen ist. Die getroffene Maßregel ist von 
dem zuständigen Ministerium wieder aufzuheben, wenn sie nachein- 
geholtem ärztlichem Gutachten nicht länger notwendigerscheint. In 
Schwurgerichtssachen hat das Gericht, bevor es einen solchen Be- 
schluss fasst, den Geschworenen die Frage vorzulegen, ob der Ange- 
klagte wegen Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter Zurech- 
nungsfähigkeit für die Rechtssicherheit gefährlich ist. Nur eine 
dem Angeklagten günstige Antwort ist für das Gericht bindend.“ 
Der schweizerische Vorentwurf von 1903 enthält in Art. 17 
folgende einschlägige Vorschrift: „Erfordert die öffentliche 
Sicherheit die Verwahrung eines Unzurechnungsfähigen 
oder vermindert Zurechnungsfähigen in einer Heil- oder Pflege- 
anstalt, so ordnet sie das Gericht an. Ebenso verfügt das Ge 
richt die Entlassung aus der Anstalt, wenn der Grund der 
Verwahrung weggefallen ist. Erfordert der Zustand eines 
Unzurechnungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen 
seine Behandlung oder Versorgung: in einer Heil- oder Pflege 
anstalt, so überweist das Gericht den Kranken der Verwaltungs- 
behörde zur Aufnahme in eine solche Anstalt.“ Das bulgarische 
und das norwegische Strafgesetzbuch sowie der schweizerische 
Vorentwurf weisen somit und zwar das bulgarische St.G.B. 
generell, also auch in Ansehung der nicht gemeingefährlichen 
Geisteskranken, sofern deren Zustand es als geboten erscheinen 
lässt und ohne das Erfordernis eines — freisprechenden — Ur- 
teils aufzustellen, der schweizerische Entwurf hinsichtlich der 
gemeingefährlichen Irren und zwar gleichfalls ohne Rücksicht 
darauf, ob ein Urteil vorliegt, die Entscheidung über die end- 
giltige Verwahrung dem Strafrichter zu M. E, ist nun 
jedenfalls die Anordnung derendgiltigen Verwahrung der ver- 
































e Bo js 


brecherischenTrren, auch soweitsie als gemeingefáhrlich erscheinen, 
dem Strafrichter nicht zu übertragen. Den hiegegen von Liszt in 
den, seinen erwábnten Gesetzentwurf beigegebenen Motiven !) 
und in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechts- 
reform,?) von Hafter3), Aschaffenburg*) und Lands- 
berg) geltend gemachten Gründen kann nur beigetreten werden, 
insbesondere in der Richtung, dass im Strafverfahren sehr häufig, 
wenn nicht zumeist, kein Anlass gegeben sein wird, das zur Ent- 
scheidung der Frage der Gemeingefährlichkeit mit ihren weit- 
gehenden Folgen erforderliche tatsächliche Material zu erheben, 
weil der Fall hinsichtlich der Schuldfrage spruchreif ist. Ent- 
scheidend scheint mir aber gegen die Übertragung der Entschliess- 
ung über die endgiltige Verwahrung der Geisteskranken an den 
Richter überhaupt, also nicht nuran den Strafrichter, sondern auch 
an den Zivilrichter, sei es als Entmündigungsrichter, sei es 
wie Ötker®) vorschlägt, als Richter der freiwilligen Gerichts- 
barkeit, der prinzipielle Grund zu sprechen, dass jene Ver- 
fügung mit der Aufgabe eines Richters nichts zu tun hat, 
sondern eine dem Gebiet der Verwaltung angehörige Maß- 
nahme ist. Man könnte hiergegen allerdings einwenden, dass 
auch sonst in der Strafgesetzgebung (z. B. in $ 56 St. G. B.) 
sowie auf anderen Gebieten, so insbesondere in Vormund- 
schafts- und Nachlasssachen, dem Richter polizeiliche Funk- 
tionen übertragen sind. Sicherheitspolizeiliche Aufgaben 
aber gegen Personen, die zu einem Handeln im Rechtssinn gar 
nicht fähig sind, wie dies auch bei den gemeingefährlichen 
Geisteskranken zutrifft, sind dem Richter, soweit ich sehe, nirgends 
zugewiesen und ihm ohne ganz zwingende Gründe, die ich 
vorliegend nicht als gegeben erachte, nicht zuzuweisen. 
Noch weniger liegt ein Grund vor, den Richter, mit der Anord- 


1) Mitteilungen pp. Bd. 11, S. 646. 

» Bd. 1, S. 11 ff. 

$ Monatsschrift f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 86 ff. 

4) Im erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Versamm- 
lung S. 70. 

5) In „Recht“ Bd. 8, S. 345 f. 

6) In der Begründung zu dem von ihm verfassten, in Bd. 12,5.59 ff. 
der Mitteilungen pp. veröffentlichten Gesetzentwurf. 


3 


ai, A ei 


nung der Verwahrung nicht gemeingefährlicher, sondern 
nur fürsorgebedürftiger Geisteskranker zu betrauen. 
Daraus ergibt sich aber ohne weiteres, dass auch der blosse 
Ausspruch darüber, dass ein geisteskranker Täter fürsorge- 
bedürftig sei, mit der Wirkung einer Verpflichtung der 
Verwaltungsbehörde, die weiteren Maßnahmen zu treffen, nicht 
Sache des Gerichts sein kann. Hiernach ist die Entscheidung 
über die geeignete Versorgung eines geisteskranken Täters, 
sowohl desgemeingefährlichen, als des blos fiirsorgebediirftigen'), 
also insbesondere die Einweisung desselben in eine Irren- 
anstalt Sache der Verwaltungsbehörde [so auch Lands- 
berg?) und Delbrück?°). Dass diese Entscheidung nur in 
einem mit allen Kautelen für den Geisteskranken, dem zur 
Wahrnehmung seiner Interessen ein Verteidiger zu bestellen 
ist, ausgestatteten Verfahren mit mündlicher Verhand- 
lung getroffen werden kann und dass gegen dieselbe dem 
Geisteskranken ein Rechtsmittel mit gleicher Verfahrens- 
gestaltung gewährt werden muss, ist ein unabweisliches Postu- 
lat der modernen Auffassung des Rechtsschutzbedürfnisses des 
Geisteskranken, aber auch Angesichts des hohen Rechtsguts 
der persönlichen Freiheit, um das es sich handelt, sachlich 
voll gerechtfertigt. Dass dieses Rechtschutzbedürfnis aber im 
Verwaltungsverfahren nicht ausreichend gewahrt werden könnte, 
ist nicht zuzugeben, wie auch nicht wohl anzunehmen ist, dass 
eine Verfügung in einem Verfahren der geschilderten Art für 
den Geisteskranken ein geringeres moralisches Gewicht besässe 
als ein richterlicher Ausspruch. Wenn Ötker‘) glaubt, „es 
entstände ein klaffender Widerspruch, wenn die Entmündigung 
mit ihren vermögensrechtlichen Folgen nur vom Richter aus- 
gehen könnte, Freiheitsentziehung wegen Gemeingefährlichkeit 
aber in das Ermessen einer abhängigen Verwaltungsbehörde 
gestellt werde; nur die sachliche und persönliche Unabhängig- 
keit wie sie im Richteramte sich vereinige, sichern einer so 


1) Vergl. § 16 I, 2 des württemb. Statuts der Staatsirrenanstalten 
vom 20. Márz 1899. 

7, Vergl. „Recht! Bd. 8, S. 347. 

3) Mitteilungen pp. Bd. 11, S. 596. 

4) Mitteilungen pp. Bd. 12, S. 65/66. 


= 3 = 


einschneidenden Maßnahme den öffentlichen Kredit und damit 
die Vorbedingungen gedeihlichen Wirkens,“ so würde diesem 
Argument durch die meines Erachtens nach den Grundsätzen 
des verwaltungs richterlichen Prozesses einzurichtende Ge- 
staltung des Verfahrens doch wohl in der Hauptsache der Boden 
entzogen !). Dass hiernach das in Württemberg hinsichtlich 
der Versorgung der Geisteskranken geltende Recht eine tief- 
greifende Änderung erfahren müsste, bedarf keiner Aus- 
führung. 

Aus den bisherigen Erörterungen ergibt sich aber, dass 
auch nicht mit Liszt und der zur Zeit in Deutschland als 
herrschend zu betrachtenden Ansicht dem Strafrichter die An- 
ordnung wenigstens der vorläufigen Verwahrung des als 
gemeingefährlich erachteten geisteskranken Täters zu über- 
tragen ist, eine Anordnung, die bei Liszt in engstem Zu- 
sammenhang mit seinem Vorschlag, dass über die end giltige 
Verwahrung der Entmündigungsrichter zu entscheiden 
habe, steht, die jedoch möglich wäre auch bei der Übertragung 
der endgiltigen Entscheidung an die Verwaltungsbehórde. 
Meines Erachtens würde aber auch die durch eine solche vor- 
läufige Verfügung bedingte, unter Umständen längere Ver- 
wahrung der Geisteskranken in den Gefängnissen, namentlich 
im Amtsgerichtsgefängnis, zu erheblichen Unzuträglich- 
keiten für den Strafvollzug an den geistig gesunden Ge- 
fangenen führen und ist deshalb auch aus diesem Grunde der 
Liszt’sche Vorschlag abzulehnen. Ich bin daher der Meinung, 
dass der Strafrichter, wenn er einen freigesprochenen oder 
ausser Verfolgung gesetzten Geisteskranken für gemeingefähr- 
lich oder fürsorgebedürftig hält, und dass der Staatsanwalt, 
wenn er hinsichtlich eines Geisteskranken, gegen den er das 
Verfahren eingestellt hat, jener Ansicht ist, denselben mit 
kurzer Begründung, insbesondere unter Bezugnahme auf das 
wohl in fast allen diesen Fällen eingeholte ärztliche Gutachten, 
lediglich der zuständigen Verwaltungsbehörde zu übergeben hat, 
die sich dann über die erforderlichen Maßnahmen schlüssig zu 
machen hat. 


1) Vergl. auch Landsberg im „Recht“ Bd. 8, S. 847. 
; 3* 


— 386 — 


Was die zurückgestellte, prozessuale, Frage nach 
der Trennung von Tat- und Schuldfrage anbelangt, so ist meines 
Erachtens dem von psychiatrischer Seite fast allgemein, aber 
auch aus juristischen Kreisen 1) im Interesse der Geisteskranken, 
insbesondere einer günstigen Beeinflussung des Heilungs- 
prozesses, gestellten Verlangen nach einer Beantwortung der 
Tatfrage tunlichst Rechnung zu tragen. Wenn der Beweis 
erbracht ist, dass der Kranke die-Tat gar nicht begangen hat, 
oder wenn seine Täterschaft nicht erwiesen ist, aber auch im 
Falle des Vorliegens eines andern Schuldausschliessungsgrundes 
als des durch etwaige Geisteskrankheit des Täters gegebenen, 
insbesondere der Notwehr, ist es in keiner Weise geboten, im 
freisprechendeu Urteil oder in dem Beschluss, durch welchen 
die Nichteröffnung des Hauptverfahrens verfügt wird, oder im 
staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbeschluss auf die Frage 
der Geisteskrankheit einzugeben, und da ein dringendes Inter- 
esse des Geisteskranken diese Art der Behandlung erfordert, 
so erscheint eine dahin gehende Vorschrift durchaus ange- 
zeigt. Eine solche würde sich, soweit Freisprecbung erfolgt, 
an $ 266 Abs. 2 St.P.O., soweit Nichteröffnung des Haupt- 
verfahrens beschlossen wird, an $ 202 Abs. 1 St. P. O., soweit 
Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft verfügt 
wird, an $ 169 St. P. O. anzugliedern haben. Eine entsprechende 
Weisung seitens der Justizverwaltung an die richter- 
lichen Behörden wäre als mit dem Grundsatz der richterlichen 
Unabhängigkeit unvereinbar, unzulässig, Für das schwur- 
gerichtliche Verfahren müsste der $ 293 St. P.O., wonach die 
Hauptfrage an die Geschworenen mit den Worten zu beginnen 
hat: „Ist der Angeklagte schuldig“, entsprechend geändert 
werden. 


Doch kann die Rücksicht auf den Geisteskranken nicht 
soweit ausgedehnt werden, dass das Strafverfahren auch in den 
Fällen, in welchen die Geisteskrankheit des Beschuldigten von 
Anfang an eine offenkundige ist oder vor’ Abschluss der 
Untersuchung über die Frage der Täterschaft ausser Zweifel 


1) Vergl. den erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Ver- 
sammlung S. 101. 


is IST us 


gestellt wird, vollständig durchgeführt, d. h. das Haupt- 
verfahren eröffnet wird und Hauptverhandlung mit Urteils- 
fällung stattfindet. Dass ein solches Prozessieren im Wider- 
spruch stände mit unserer zur Zeit geltenden Strafprozessord- 
nung, insbesondere dem $ 188 Abs. 1 daselbst, wonach die 
Voruntersuchung nicht weiter auszudehnen ist als erforderlich 
is, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das 
Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte ausser 
Verfolgung zu setzen sei, wird von dessen Verfechtern selbst 
nicht verkannt. Sie streben daher zur Ermöglichung eines 
solchen Verfahrens eine Änderung der Strafprozessordnung an.. 
Eine Änderung der letzteren in ihrem Sinne erscheint aber 
als ausgeschlossen. Dieselbe würde bedeuten, dass trotz der 
erkannten, durch die Geisteskrankheit begründeten Schuldlosig- 
keit des Täters dieser weiter zu prozessieren sei, ein Ver- 
fahren, dessen Unzulässigkeit auch de lege ferenda ausser 
Zweifel steht. Wie verhielte es sich bei Legalisierung des hier 
zurückgewiesenen Verlangens z. B. in dem ‚Falle, wenn der 
Geisteskranke in Untersuchungshaft genommen ist? Diese müsste 
doch wohl bei erkannter Geisteskrankheit des Täters aufge- 
hoben werden. Damit allein aber wäre schon die Unhaltbar- 
keit des zurückgewiesenen Standpunktes dargetan. Dazu kommt, 
dass die angestrebte Durchführung des Verfahrens bis zum 
Urteil häufig mit ganz erheblichen, durch die Zwecke des 
Strafprozesses in keiner Weise erforderten Kosten verknüpft 
wäre. Der vorgeschlagene Weg ist also meines Erachtens für 
die Gesetzgebung nicht gangbar. 

Anlangend die anderweitigen für die Geisteskranken in 
Betracht kommenden Bestimmungen der Strafprozessord- 
nung und deren Reformbedürftigkeit, so ist zu unter- 
scheiden zwischen den Vorschriften, welche den Geistes- 
kranken als Beschuldigten sowie als Objekt des Straf- 
vollzugs betreffen, und denjenigen, welche sich auf seine 
Stellung als Auskunftsperson beziehen. In den beiden 
ersten Richtungen geschieht des Geisteskranken in der Straf- 
prozessordnung Erwähnung in $ 81, wonach das Gericht zur 
Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des 
Angeschuldigten auf Antrag eines Sachverständigen nach An- 


— 8388 — 


hörung des Verteidigers anordnen kann, dass der Ange- 
schuldigte auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine 
öffentliche Irrenanstalt verbracht und dort beobachtet werde, 
in § 203, der die vorläufige Einstellung des Verfahrens zulässt, 
wenn dem weitern Verfahren der Umstand entgegensteht, dass 
der Angeschuldigte nach der Tat in Geisteskrankheit verfallen 
ist, in § 485, wonach an geisteskranken Personen ein Todes- 
urteil nicht vollstreckt werden darf, und in § 487, dessen Ab- 
satz 1 bestimmt, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe 
aufzuschieben sei, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit 
- verfallen ist. Die Stellung des Geisteskranken als Auskunfts- 
person sodann wird berührt durch den 8 56 2.1 St. P.O., 
wonach unbeeidigt zu vernehmen sind u. a. Personen, welche 
wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Bedeutung 
des Eides keine genügende Vorstellung haben, und durch 
S 250 Abs. 1 St. P. O., wo bestimmt ist, dass, wenn ein Zeuge 
Sachverständiger oder Mitbeschuldigter in Geisteskrankheit ver- 
fallen ist, das Protokoll über seine frühere richterliche Ver- 
nehmung in der Hauptverhandlung verlesen werden kann. 

Dass das in $ 81 St. P. O. bestimmte Einweisungshöchst- 
maß von 6 Wochen oft zur Gewinnung eines sichern Urteils 
über den Geisteszustand des Angeschuldigten nicht ausreicht, 
steht auf Grund der gemachten Erfahrungen fest. Trotzdem 
scheint mir der in der Einweisung gelegene schwere Eingriff 
in die persönliche Freiheit des Angeschuldigten eine Ver- 
längerung der Einweisungsdauer auszuschliessen. Soweit der 
Angeschuldigte sich auf freiem Fuss befindet, ist er ja nicht 
selten mit weiterer Beobachtung in der Anstalt einverstanden. 
Ist er dagegen in Untersuchungshaft, so wird es, soweit nicht 
die Sachlage entgegensteht, angezeigt sein, für den Fall, dass 
der Angeschuldigte bereit ist, sich freiwillig einer weiteren 
Beobachtung in der Irrenanstalt zu unterziehen, den Haftbefehl 
aufzuheben. 

Gegen die vorläufige Einstellung des Verfahrens im Sinne 
des $ 203 St. P. O. wird von irrenärztlicher Seite geltend ge- 
macht, dass dieselbe nicht immer einen Vorteil für den Kranken 
bilde, da häufig eine genaue und sorgfältige Untersuchung er- 
geben werde, dass der Täter bereits vor der Tat erkrankt ge- 


— 39 — 


wesen sei und da die demselben drohende Gefahr späterer Ver- 
handlung und Verurteilang einen ungünstigen Einfluss auf 
dessen Gemütszustand ausübe, eine Verhandlung nach der Ge- 
nesung auch die Gefahr einer neuen Schädigung in sich schliesse. 
Es wird daher vorgeschlagen, den Begriff der Verhandlungs- 
fähigkeit nicht all zu eng zu fassen und daher die Hau ptv er- 
handlung stattfinden zu lassen.') Hiergegen ist zu bemerken, 
dass bei Eintritt einer geistigen Erkrankung des Angeschuldigten 
nach Eröffnung der Untersuchung doch stets genau geprüft 
wird, ob derselbe nicht schon zur Zeit der Begehung der Tat 
geisteskrank gewesen sei und dass bejahendenfalls nicht die 
vorläufige Einstellung des Verfahrens beschlossen, sondern der 
Angeschuldigte ausser Verfolgung gesetzt wird, verneinenden- 
falls aber bei zweifelloser Geisteskrankheit desselben eine 
Hauptverhandlung, die nur gegen einen verteidigungsfähigen 
Angeklagten stattfinden kann, unzulässig ist. 


Die Statthaftigkeit einer solchen Hauptverhandlung kann 
nicht etwa daraus gefolgert werden, dass in $ 203 die vor- 
läufige Einstellung des Verfahrens in das richterliche Ermessen 
gestellt ist. Der ganze Abschnitt der Strafprozessordnung über 
die Hauptverhandlung hat einen geistig gesunden und deshalb 
verteidigungsfähigen Angeklagten oder doch einen solchen, 
dessen geistige Gesundheit nicht als ausgeschlossen erscheint, 
im Auge, (vgl. z. B. $ 242 Abs. 2 und 3, $ 256 St. P. O.). 
Der $ 203 kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass das 
Gericht auch bei offenkundiger Geisteskrankheit des Angeschul- 
digten das Verfahren bis zur Urteilsfällung durchführen darf, 
sondern nur dahin, dass dasselbe statt der Eröffnung des Haupt- 
verfahrens oder nach dieser dem Verfahren durch vorläufige 
Einstellung einen gewissen Abschluss zu geben befugt ist?). 


Gegen die Fassung der erwähnten Vorschriften des $ 485 
und $ 487 St. P. O. wird die Einwendung erhoben, dass es 
an einer Bestimmung darüber fehle, was zu geschehen habe, 
wenn der Strafvollstreckungsbeamte und der ärztliche Sachver- 


1) Vergl. Aschaffenburg in dem erwähnten offiziellen Bericht 
über die Danziger Versammlung S. 85/86. 
2) Vgl. auch R.-G. in Strafs. Bd. 1, S. 150, Bd. 29, S. 324 ff. 


— 40 — 


ständige verschiedener Ansicht über den Geisteszustand des 
Verurteilten seien. Aschaffenburg!) wünscht eine Be- 
stimmung des Inhalts, dass diesfalls die Meinung des Sach- 
verständigen maßgebend sein solle oder wenigstens der Voll- 
streckungsbeamte ein Obergutachten einzuholen habe. Ich 
glaube nun nicht, dass das Fehlen einer solchen Bestimmung 
jemals zu Unzuträglichkeiten geführt hat. Jedenfalls aber er- 
scheint eine gesetzliche Vorschrift des verlangten Inhalts 
entbehrlich, da die Strafvollstreckungsbeamten als solche den 
Weisungen der obersten Justizverwaltungsbehörde unterworfen 
sind und eine Vorschrift der erwähnten Art daher von dieser 
erlassen werden kann. 

Vollständig zurückzuweisen ist die irrenärztlicherseits °) 
angeregte Ausdehnung der in $ 81 St. P. O. in Ansehung des 
Angeschuldigten gewährten Einweisungsmöglichkeit auf einen 
Zeugen, dessen geistige Gesundheit zweifelhaft ist. Die Be- 
fürchtung, zur Beobachtung des Geisteszustandes in eine Irren- 
anstalt gesprochen zu werden, würde nicht nur die Aussagen 
der Zeugen ungünstig beeinflussen, sondern auch, wie schon 
von anderer Seite?) hervorgehoben worden ist, die Zeugnisflucht 
noch wesentlich steigern und damit eine erhebliche Schädigung 
der Strafrechtspflege zur Folge haben. 

Durch $ 56 Z. 1 St. P. O. ist, wie sich aus dem Wort- 
laut dieser Bestimmung ergibt und auch vom II. Strafsenat des 
Reichsgerichts angenommen worden ist*), die Beeidigung 
der Geisteskranken nicht allgemein, sondern nur insoweit 
ausgeschlossen, als dieselben wegen Verstandesschwäche von 
dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende 
Vorstellung haben. Nun sind aber, da die Geistesstörung nicht 
‚eine partielle ist, sondern die ganze Psyche erfasst, die Wahr- 
nehmungen eines Geisteskranken, und damit auch seine Aussagen 
zumeist von der Krankheit beeinflusst und ermangeln daher 
der Zuverlässigkeit. Erwägt man weiter, dass der Geisteskranke 


1) Vgl. den erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Ver- 
sammlung S. 88. 

2) Vgl. den genannten Bericht S. 81/85, 

2) Vgl.Heimberger nach dem erwähnten offiziellen Bericht S. 100. 

4) Entsch. in Strafs. Bd. 33 S. 393 ff. 


E- 41 — 


nicht deliktsfáhig ist und darum wegen Verletzung der Eidespflicht 
nicht bestraft werden kann, so erscheint eine Ánderung des 
$56 Z. 1 dahin angezeigt, dass unbeeidigt zu vernehmen sind 
auch die Geisteskranken schlechthin. 

Zu $ 250 St. P. O.!) wird eine Vorschrift dahin befür- 
wortet, dass in allen Fällen, in denen das Gericht die Verlesung 
des Protokolls über die frühere richterliche Vernehmung eines 
angezeigtermaßen nach dieser in Geisteskrankheit Verfallenen 
beschliesse, ein Sachverständiger zugezogen werden müsse, um 
festzustellen, ob die Erkrankung nicht bereits zur Zeit der 
Vernehmung bestanden habe. Diesem Vorschlag ist meines 
Erachtens mit der Einschränkung beizutreten, dass ein Sach- 
verständiger nur dann beizuziehen ist, wenn das Gericht den 
Inhalt des Protokolls für erheblich erachtet — was bekannt- 
lich nach dem geltenden Recht keine Voraussetzung für die Zu- 
lässigkeit der Verlesung ist. 

In den vorstehend von mir bezeichneten Richtungen er- 
scheint mir eine Gesetzesänderung angezeigt. Dagegen halte 
ich die Schaffung eines besondern Irrenrechts, zumal wie 
Schröder in seiner Schrift: „Das Recht im Irrenwesen“, die 
Geisteskrankheit des Gemeingefährlichen, auf den er das Irren- 
recht beschränken will, als eine Verschuldung charakterı- 
sierend, vorschlägt, auf strafrechtlicher und strafprozessualer 
Grundlage, nicht für empfehlenswert, da hierbei doch zum Teil 
ganz disparate, verschiedenen Rechtsgebieten angehörige Materien 
in eine Kodifikation zusammengefasst werden müssten und die 
Loslösung dieser Materien aus ihrem natürlichen Verbande nur 
verständniserschwerend wirken könnte. Wie immer indes auch 
die auf die Behandlung der Geisteskranken sich beziehenden 
Vorschriften gestaltet werden mögen, so hängt unendlich viel 
davon ab, in welchem Geiste dieselben gehandhabt werden, in 
welcher Weise den Geisteskranken gegenübergetreten wird. 
Nichts berechtigt aber daran zu zweifeln, dass unsere Beamten 
und Ärzte gegenüber diesen Unglücklichen auch in Zukunft 
die weitestgehende Humanität, die grösstmögliche Schonung 
walten lassen werden. | 


1) Vgl. den genannten offiziellen Bericht S. 37. 


Zur Psychologie der Aussage. 
Von Oberarzt Dr. A. Schott. 


Die moderne wissenschaftliche Forschung hat wie auf 
vielen anderen Gebieten, so auch in der Psychologie Berührungs- 
punkte mit dem praktischen Leben gesucht und ein deutliches 
Bestreben erkennen lassen, die Erscheinungen des Alltaglebens 
mit ihrer vielfach gewohnheitsmäßigen Einfachheit zu zerglie- 
dern und naturwissenschaftlich, d. h. möglichst exakt zu er- 
klären. Die bis jetzt gezeitigten Erfulge haben in mehr als 
einer Richtung ein unbehagliches Gefühl der Unsicherheit und 
des Zweifels hervorgerufen. 

Von besonderer Tragweite erscheinen die in bezug auf 
Gedächtnis-, Erinnerungs- und Merkfähigkeitsprüfung angestell- 
ten psychologischen Versuchsreihen; geben sie uns doch einen 
Fingerzeig, wie grosse bezw. kleine Ansprüche wir an das 
Erinnerungsvermögen des Individuums stellen dürfen und wie 
beträchtliche Unterschiede nach Alter, Bildung und Geschlecht 
einerseits, nach den begleitenden Uniständen, der jeweiligen 
Gemüts- und Körperverfassung, den gerade in betracht kommen- 
den Erinnerungsqualitäten bei dem einzelnen Individuum 
andererseits vorkommen können. Da bei einigen psychologi- 
schen Experimenten ein ausserordentlich günstiger Gemüts- 
und Geisteszustand zugrunde liegt, so sind die dadurch geför- 
derten Ergebnisse mehrfach als ein Optimum zu betrachten, 
ein Optimum, welches durch die grosse Zahl seiner Fehlreak- 
tionen in der Praxis grösste Vorsicht erheischt. Dem allent- 
halben zu Tage tretenden Zug der Zeit, feste Formeln und 
Gesetzmäßigkeiten für die Vorgänge des organischen Lebens 
aufzustellen, ist durch die grosse Kompliziertheit derselben bis 
jetzt in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ein 


Zur Es A 


wirkungsvoller Riegel vorgeschoben. Stehen wir also auch zur 
Zeit erst an dem Beginn einer schwierigen und in ihren End- 
ergebnissen noch nicht zu überblickenden Arbeit, so haben 
doch die gemachten Anläufe schon manch Bemerkenswertes 
zu Tage gefördert. Das auch in Juristenkreisen erfreulicherweise 
immer mehr und mehr zur Würdigung gelangende Studium des 
menschlichen Seelenlebens mit seinen wechselvollen Äusserungen 
stellt einen entschiedenen Fortschritt dar. Der psychologische, 
und noch mehr der psychopathologische Wind, welcher durch 
unsere ganze Kultur und Literatur weht, er hat auch in den 
Gerichtssaal seinen Weg gefunden und ihm ist es zu danken, 
wenn die exakten Untersuchungsmethoden (mikroskopische, 
chemische Feststellung) sehr an Bedeutung gewonnen haben. 
Leider entbehren wir bis jetzt bei der psychologischen Forschung 
so exakter Hilfsmittel und so ist es leicht erklärlich, dass auch 
die Ergebnisse noch als mangelhafte bezeichnet werden müssen. 
Unter Anerkennung dieser bedauernswerten Mangelhaftigkeit 
sei es mir vergönnt, in Kürze das bis jetzt Geleistete vor Augen 
zu führen. 


Dem Breslauer Psychologen William Stern haben wir 
es in erster Linie zu danken, dass er die Psychologie der Aus- 
sage einem systematischen Studium unterzieht und zur Er- 
forschung der uns hier interessierenden Fragen angeregt hat. 
Die Erscheinung des Gedächtnisses ist ein Sonderfall der 
allgemeinen Eigenschaft des Nervensystems, durch vorüber- 
gehende Reize dauernde Veränderungen zu erfahren. 

Der Einzelvorgang, den wir als Erinnerung bezeichnen, 
umfasst nach Hoche?) zweierlei: einmal die Erneuerung eines 
früheren psychischen Geschehnisses und zweitens das Wieder- 
erkennen desselben als eines früheren eigenen inneren Vorganges. 

Ganz ähnlich drückt sich Cramer?) aus, indem er sagt: 
„Als Gedächtnisleistung bezeichnen wir zweierlei: erstens, dass 
ein Eindruck wieder erkannt wird, erkannt wird als ein solcher, 
der uns schon früher einmal zuteil geworden ist; zweitens, dass 
frihere Bewusstseinsinhalte wieder gegenwärtig werden. In 
beiden Fällen ist ein sinnlicher Eindruck gegeben, der mit 
einem früher sinnlich gegebenen und seither für das Bewusst- 
sein verschwunden gewesenen Eindruck in Beziehung steht. 


— 44 — 


Im ersten Falle handelt es sich um eine sachliche, inhaltliche 
Gleichheit des sinnlichen und des vergangenen Eindrucks, im 
zweiten Falle um eine zeitliche oder räumliche Berührung des 
dem sinnlichen Eindrucke gleichen vergangenen Eindrucks mit 
anderen vergangenen Eindrücken.“ 

Es ist stets im Auge zu behalten, dass eine Erinnerung an 
einen Vorgang niemals ganz der Schärfe der Wahrnehmung 
entspricht. Gewöhnlich wird ein Teil vergessen und allerhöch- 
stens erhält man ein annäherndes Bild. Diese Erfahrungstat- 
sache hat ihre besondere gerichtliche Bedeutung, da wir bei 
Prozessen (Berchtoldprozess, Affäre in Gumbinnen, Winter- 
prozess u. a. m.) oft auf Details der Erinnerung den grössten 
Wert gelegt sehen. Die Gefahr, durch Phantasievorstellungen 
die wirkliche undeutliche Erinnerung zu ergänzen, liegt bier 
ausserordentlich nahe. 

Das Wiedererkennen ist eng mit dem verknüpft, was wir 
als Selbstbewusstsein bezeichnen. 

Wir unterscheiden zwischen Gedächtnis, worunter wir 
die Herrschaft über den alterworbenen Besitzstand an Vor- 
stellungen verstehen, und Merkfähigkeit, welche wir als die 
Fähigkeit, neues Gedächtnismaterial zu erwerben, bezeichnen. 
Diese beiden Begriffe decken sich keineswegs, es kann z. B. 
das Gedächtnis noch ganz gut, die Merkfähigkeit aber schon 
stark beeinträchtigt sein wie im Greisenalter. 

Mängel der Erinnerung, der Fähigkeit zur Reproduktion 
können auch andere Gründe als Störungen der Merkfähigkeit 
haben und erlauben nicht ohne weiteres einen Rückschluss 
auf solche. (Störung der Aufmerksamkeit bedingt durch 
1. Mangel an Interesse, 2. Ablenkung durch andere Vorgänge, 
z. B. lebhafte Affekte, 3. allgemeine Herabsetzung (Ermüdung, 
Krankheit, Alkohol etc.) 

Die Störungen des Gedächtnisses, der Fähigkeit zur Er- 
neuerung vergangener psychischer Zustände können quanti- 
tativer oder qualitativer Art sein oder sie können sich 
auf die zeitliche Einordnung der Erinnerungsbilder be- 
ziehen; vielfach treffen wir diese verschiedenen Mängel der 
Erinnerung nebeneinauder an. Der gesunde Mensch vergisst 
von den zahllosen Eindrücken, die auf ihn wirken, weit mehr 


= 45 — 


als er behält. Interesse, lebhafter Gefühlston, Wiederholung, 
innige Verknüpfung mit jederzeit bereitliegenden Vorstellungs- 
gruppen sind nach Hoche!) die Hauptmomente, welche die 
Aussichten zur Reproduktion bestimmen. An der Hand der 
assoziativen Verbindung der Vorstellungen führt uns der 
Zufall (Einfallen) oder das systematische Wollen (Besinnen) zu 
den Erinnerungsbildern der Vergangenheit. 


Von besonderer Wichtigkeit sind die Erinnerungs- 
fälschungen bezw. Erinnerungstäuschungen, wie wir 
sie am ausgeprägtesten bei geistigen Störungen zu beobachten 
gewohnt sind, die aber auch innerhalb der normalen physiolo- 
gischen Breite eine bedeutungsvolle Rolle spielen (z. B. Ver- 
gleiche mit Erinnerungen aus der Jugendzeit). 


Die teilweise Verfálschung wirklicher Erinnerungen, auf 
welche Kraepelin schon aufmerksam gemacht hat, ist auch 
bei gesunden Menschen häufig zu beobachten. Als assoziierende 
Erinnerungsfälschung beschreibt Kraepelin?) diejenigen Fälle, 
in welchen scheinbare Reminiszenzen sich an den gegenwärtigen. 
Eindruck knüpfen. Wegen der dabei stattfindenden Identi- 
fizierung einer neu entstandenen, vielleicht durch den Anblick 
geweckten Vorstellung mit einem verblassten Erinnerungsbilde 
hat man diesen Vorgang auch als identifizierende Erinne- 
rungsfälschung bezeichnet; dazu gehört z. B. das Wieder- 
erkennen einer Situation, die man nicht erlebt hat. 


William Stern?) unterscheidet zwischen einer natür- 
lichen, normalen Aussagefälschung ohne Wissen und 
Willen von breitem Umfang und einer pathologischen 
Aussagefälschung ohne Wissen und Willen in noch viel weiterem. 
Umfange. Stern betont, dass auf Grund dieser normalen 
Aussagefälschung einerseits auch bei ethisch durchaus einwands- 
freien Aussagen mit einem Fehlerprozentsatz zu rechnen 
ist, andererseits bei nachweislich falschen Aussagen stets die- 
Möglichkeit völlig absichtsloser Selbsttäuschung in Betracht zu 
ziehen ist. 


Die pathologische Aussagefälschung nötigt uns, bei der 
logischen und ethischen Bewertung von Aussagen eine eventu- 
elle pathologische Beschaffenheit des Aussagenden gebührend. 


u A 


zu berücksichtigen. Die Beschaffenheit einer Aussage über- 
haupt hängt nach Stern?) ab: 

1. von dem Gegenstande, auf welchen sie sich bezieht; 

2. von den formalen Bedingungen, unter denen die 
Wahrnehmung und die Aussage selbst vor sich geht; 

3. von den Personen, die sie abgeben. 

Die Korrektheit der Wahrnehmung und Auffassung der 
Objekte beruht auf einer Reihe von Faktoren, deren Genauig- 
keit und Zuverlässigkeitsgrade erst die Forschung (experimen- 
telle Psychologie) feststellen kann. (Schwellenwerte, verschie- 
dene Sinnesqualitäten u. a m.) Für bestimmte Objektgruppen 
muss die Fähigkeit des Behaltens, Reproduzierens und Wieder- 
erkennens fixiert werden. 

Grosse Bedeutung kommt der allgemeinen psychophy- 
sischen Verfassung zu, in welcher sich das aussagende 
Individuum bei der Wahrnehmung befand und bei der Aussage 
befindet. Diese psychophysische Verfassung ist zum Teil durch 
rein persönliche Faktoren, zum Teil aber auch durch die äussere 
Konstellation der jeweiligen Umstände bedingt. 

Man weiss z. B. schon seit lange, dass ein starker 
Affekt (Schreck, Angst, Wut, Überreizung, Parteinahme, 
gespannte Erwartung) beim Erleben die Fähigkeit der objektiven 
Beobachtung und beim Aussagen die der ruhigen kritischen 
Selbstbesinnung trübt. 

Von grosser, bes. forenser Wichtigkeit ist der Faktor der 
Beeinflussung, welche dieKenntnis anderer Aussagen bewirkt. 
Diese Beeinflussung wird ausgeübt durch mehrfache richterliche 
Vernehmung, durch den Meinungsaustausch z. B. der Zeugen 
unter sich, vor allem aber durch die Presse (vgl. Prozess 
Berchtold, Konitz u. a. m.) mit ihren detailierten Schilderungen 
und ihren vielfach im Brusttone der Überzeugung vorgebrachten 
Mutmaßungen und aufgestellten Behauptungen. Auf keinen 
Fall sind Aussagen, welche unter dem Einfluss massenhafter 
Zeitungsnachrichten gestanden sind, als unbefangene aufzufassen. 
Solche an ein bestimmtes Erlebnis sich anschliessende Pseudo- 
reminiszenzen durch unwillkürlich rückwirkende Erinnerungs- 
fülschungen können dieselbe Konstanz, dieselbe Lebhaftigkeit 
besitzen wie die wirklichen Erinnerungen. 


= Ai a, 


Die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Erlebnis und 
Aussage bedingen sehr verschiedene Ergebnisse. Im allgemeinen 
wird bei den sog. Rekognoszierungen von Personen oder 
Gegenständen die Leistungsfähigkeit des Zeugengedächtnisses 
weit überschätzt. Belebend auf die Erinnerungsfähigkeit wirkt 
häufig die Wiederkehr der begleitenden Umstände (Augenschein 
am Ort der Tat mit Zeugen). Die differentielle Psychologie 
hat endlich den 3. wichtigen Faktor zu zergliedern, nämlich 
die uns hier am meisten interessierenden Aussagesubjekte. 
Hier stehen wir grossen Verschiedenheiten gegenüber: die 
einzelnen Altersstufen, Männer und Frauen, Gebildete und 
Ungebildete, verschiedene Stände, Berufe, Nationalitäten be- 
dingen andere Qualitäten. Vor allem ist es Sache der Schule, 
wie Stern, Lobsien, Ziehen u. a. hervorheben, mehr als 
seither ihr Augenmerk anf die Aussagepädagogik zu richten: 
der Mensch muss, wie Stern?) sagt, erzogen werden zur Leb- 
haftigkeit, Treue und Zuverlässigkeit der Beobachtung und der 
Erinnerung. Beobachtungsangabe und Erinnerungstreue sind 
durch Übung zu fördern. Die starke Suggestibilität der 
Kinder ist durch zweckmäßige Maßnahmen zu bekämpfen. 


Die Bewertung der Aussagen kindlicher Zeugen in bezug 
auf ihre Zuverlässigkeit ist dem Richter überlassen. 


‘Stern schlägt psychologische Sachverständige vor. Wir 
wollen nicht so weit gehen und glauben, dass es leichter durch- 
zuführen ist und näher liegt, wenn wir auf die Bedeutung der 
Psychologie für den Richter hinweisen und dem Wunsche Aus- 
druck verleihen, dass der Besuch eines psychologischen Seminars 
während der Universitätszeit für Juristen, Pädagogen und 
Mediziner künftig zu ihrem wissenschaftlichen Rüstzeug zählen 
möge. 


Ich verzichte auf die mancherlei Fehlerquellen bei gericht- 
lichen Vernehmungen hinzuweisen, da dies von berufener Seite 
erfolgen wird, möchte aber betonen, dass man sich hier wie 
auch vielfach bei unseren psychiatrischen Krankenuntersuch- 
ungen vor dem Hineinexaminieren hüten muss, und dass 
eine stenographische Protokollierung der Aussagen (Frage und 
Antwort enthaltend) notwendig ist. 


— 48 — 


Stets muss man der grossen und dauernden Verschieden- 
heiten des Gedächtnisses eingedenk sein — die zufällige persón- 
liche Eigenart des Gedächtnisses darf nicht als allgemein 
giltiger Maßstab genommen werden. Diese individuellen Ver- 
schiedenheiten betreffen nicht nur Umfang, Treue und Leichtig- 
keit des Gedächtnisses, sondern äussern sich auch z. B. darin, 
dass bei dem einen vorwiegend optische Eindrücke gut haften. 
bei dem anderen akustische, während wieder andere besondere. 
manchmal berufsmäßig gesteigerte Erinnerungsfähigkeit 
für irgendwelche technische Einzelheiten besitzen. 

Die individuelle Unvollkommenheit der Gedächtnisleistung 
(z. B. für Physiognomien, Namen, Zahlen u. a. m.) kann so 
hochgradig sein, dass, was eine persönliche Eigentümlichkeit 
der Reproduktionstreue ist, als absichtliches Leugnen 
imponieren kann. 

Berücksichtigung verdient ferner die physiologische Ab- 
nahme der Merkfähigkeit im vorgeschrittenen Alter. Nur wenige 
Menschen haben die Gabe, frühere Geruchs-undGeschmacks- 
empfindungen sich genau wieder zu vergegenwärtigen. 

Allgemein ist die Mangelhaftigkeit der Reproduktion 
von früheren Gefühlszuständen, Stimmungen, Geniütsbewegun- 
gen oder Schmerzen. 

Frühere eigene Taten werden uns unverständlich, weil 
wir nicht imstande sind, die damaligen Stimmungen in ihrer 
Lebhaftigkeit zu erwecken. Bei der Beurteilung z. B. vor 
längere Zeit zurückliegenden Affekthandlungen ist die 
Kenntnis dieser allgemeinen Eigentümlichkeit des Gedächtnisses 
nicht ohne Belang. 

Diese und noch manche andere normaleFehlerquellen, 
besonders auch die Erinnerungstäuschungen, müssen auch vom 
Richter gekannt und gewürdigt werden. 

Die Methoden des Aussagestudiums sind nach W. Stern‘) 
Kasuistik und Experiment. Jene als Sammlung, Beschreibung 
und Analyse von Fällen des wirklichen Lebens wird sich vor- 
wiegend stützen auf die Jurisprudenz, Psychiatrie, Pädagogik, 
Journalistik und Historie. W. Stern‘) hat mittels der Be- 
richtsmethode experimentelle Schüleruntersuchungen vor- 
genommen und ist dabei zu folgenden Schlüssen gelangt: Die 


so AD 


personalen Kategorien liefern zuverlássigere Ergebnisse als die 
sachlichen. Farbenangaben sind im höchsten Grade unzuverlässig, 
Ortsangaben recht gut. Zahlenangaben sind wenig zuverlássig. 

Besondere Bedeutung kommt dem Interesse fir die 
eine oder andere Kategorie zu; durch ‘dasselbe wird nach 
W. Stern die Leistung der verschiedenen Funktionen der 
Gedächtnissphäre bedingt: „Gedächtnisist Interesse.“ Das 
Leistungsquantum der Auffassungs- und Merkfähigkeit nimmt 
vom Anfange der Schulzeit bis zu deren Ende, d. h. etwa bis 
zur Pubertátszeit um 50% zu; in den nachfolgenden Jahren 
ist eine weitere Steigerung nicht nachweisbar. Die Suggesti- 
bilität verringert sich von 50% bei 7jährigen, auf 20% bei . 
15jährigen. Der Unterschied der Geschlechter zeigt sich einmal 
in der geringeren Widerstandsfähigkeit der Mädchen gegen die 
Suggestion; ferner überwiegen in den Berichten der Mädchen 
die persönlichen, in denen der Knaben die sachlichen Kategorien. 

Wreschner°) setzte an die Stelle der Stern’schen 
Berichtsmethode ein neues Verfahren, das er die Prüfungs- 
methode nennt. Als Versuchspersonen dienten 12Studierende. 
Die Verschiedenheit des Aussageinhalis zeigte sich darin, dass 
die Farbe eine sehr schlechte Erinnerung aufwies. Schlecht 
schnitt auch die Form ab. Die Angaben über den Ort ent- 
sprachen ungefähr dem Durchschnitt, während in bezug auf 
die Stellung abnorm wenige Fehler gemacht wurden. 

Von grossem Einfluss war der Unterschied zwischen An- 
gaben über Personen oder Sachen, dort werden mehr 
Angaben und weniger Fehler gemacht als hier, so dass Umfang 
wie Treue für sachliche Eigenschaften geringer sind als für 
persönliche. 

Wreschner?) fand, dass etwa der vierte Teil der im 
Verhör gewonnenen Darstellung falsch ist. 

Sommer®) betont bei der Methodik 

1. die Exposition eines Sinnesreizes und 

2. die Prüfung, wie viel die Versuchsperson von dem 
Exponierten aufgefasst hat. 

Sommer unterscheidet scharf zwischen der Methode des 
freien Berichts und der Methode der Fragebeantwor- 
tung. Bei der Fragemethode hat man den grossen Vorteil der 

4 


zo 0 a 


Vergleichbarkeit bei verschiedenen Versuchspersonen. 
Beide Methoden haben ihre Vorteile und Nachteile. 

Praktisch scheint sich nach Sommer die Vereinigung 
von Berichts- und Fragemethode am besten zu be- 
währen, um die wesentlichen Besonderheiten der Auffassung 
und Reproduktion klarzustellen. Zu einer falschen Aussage 
können führen: 

1. Mängel der Wahrnehmung, 

2. Veränderungen, welche die Wahrnehmungen bis zur 
Aussage erleiden. 

Der häufigste Mangel der Wahrnehmung für unsere Fälle 
besteht in Zutaten zu dem Wahrgenommenen im Moment der 
Auffassung. „Dies ist der Grundtypus der normal- 
psychologischen Illusion, die eine große Bedeutung auf 
diesem Gebiete hat.“ 

Die sekundären Veränderungen bis zur Aussage sind 
mancherlei Art (allmähliches Ausfallen von Teilen der Wahr- 
nehmung, Veränderung der Gefühlsbetonung, Umwandlung durch 
Assoziationen u. a. m.). 

Es handelt sich also darum, im einzelnen Falle die inneren 
und äusseren Bedingungen einer Aussage kritisch abzuwägen 
und ihre Verlässlichkeit zu prüfen. Wir müssen durch metho- 
dische Analysierung eine verbesserte Diagnostik erstreben, wie 
Sommer?) treffend ausführt. Hans Gross’) vertritt denselben 
Standpunkt und warnt vor allgemeiner Missachtung der Zeugen- 
aussagen. Grundsatz soll nach diesem Autor bleiben, dass in 
die organisierte Beobachtung, welche von Juristen, Philosophen 
und Ärzten zu machen wäre, vollständige Regelmäßigkeit 
gebracht werden muss, und dass von allen Beobachtern eben 
der minutiös gleichförmige, möglichst einfache Vorgang 
als Gegenstand der Experimente gewählt wird. 

Auch Minnemann?) empfiehlt weniger eine möglichst 
korrekte Fehlerstatistik anzustreben, als vielmehr sein 
Augenmerk auf eine genauere Fehleranalyse zu richten, 
damit man die Momente, welche die Trübung und Verfälschung 
des Erinnerungsbildes bewirken, genauer kennen lernt und ihnen 
entgegenarbeiten kann. 

W. Weber?) hat auf Grund eines Massenexperiments 


sr Di 


den Schluss gezogen, dass die einzelne, selbst die optima fide 
abgegebene Zeugenaussage sehr mit Vorsicht aufzunehmen ist, 
dass aber, wo mehrere Zeugenaussagen über denselben Vor- 
gang vorliegen, der richtige Sachverhalt doch in vielen Fällen 
eruiert werden kann. 

Nach Schneickert!’) ist die Gefahr der Suggestion 
gross bei der angeblichen Wiedererkennung flüchtig gesehener 
Personen oder gar ihrer Porträts. 

Ich begnüge mich mit diesen Erfahrungen aus dem Gebiete 
der normalen Psychologie der Aussage und möchte nur noch 
mit einigen Worten die Schwierigkeiten hervorheben, welche 
unserer warten, wenn es sich um Aussagen handelt, welche auf 
dem Boden einer abnormen psychischen Verfassung 
entstanden sind. Ich muss es mir heute versagen, die eigent- 
lichen Geistesstörungen in den Kreis unserer Betrachtung zu 
ziehen, da uns dies zu weit führen würde. Ich greife nur auf 
den Schwachsinn und die sog. Grenzzustände zurück. 

Die Entscheidung darüber, wie weit den Aussagen Schwach- 
sinniger Glauben zu schenken sei, ist in formaler Hinsicht 
Sache des Richters, derselbe wird aber gut tun, sich bei dieser 
Frage die Mitwirkung eines Sachverständigen nicht entgehen 
zu lassen. Es muss in jedem derartigen Falle Gegenstand 
besonderer Feststellung sein, ob dieser Erinnerung bei 
dieser geistigen Schwäche Glauben beizumessen ist oder nicht. 
Ein allgemeines Schema lässt sich nicht geben. 

A. Cramer?) verdanken wir interessante Untersuchungen 
betr. die Zeugnisfähigkeit bei Geisteskrankheit und bei Grenz- 
zustánden. Im Hinblick auf den angeborenen Schwach- 
sinn äussert sich dieser Autor: „Die angeboren Schwachsinnigen, 
sei der Schwachsinn nun höheren Grades oder wenig hochgradig, 
sind fast durchgängig auf einem sehr niedrigen ethischen Niveau 
stehend und von Hause aus alle geneigt zum Lügen, ja 
schrecken oft auch in bewusster Weise vor keiner Lüge 
zurück. Vor Gericht gestalten sich die Verhältnisse sehr 
schwierig. 

In leichten Fällen des Schwachsinns, bei der Imbezilli- 
tät z. B., braucht der Kranke an Gerichtsstelle durchaus nicht 
aufzufallen und kann, wenn er Stück für Stück gefragt wird, 

4* 


ERE > NA 


seine Angaben machen, ohne dass etwas Krankhaftes in die 
Augen springt. Trotzdem besitzen seine Angaben kaum einen 
Wert, denn der Imbezille lässt sich, wie ein Kind, in den An- 
gaben, die er macht, von Zufällen und der augenblicklichen 
Eingebung leiten. Wichtig ist auch, zu wissen, dass diese 
angeboren Schwachsinnigen ausserordentlich leicht bestimm- 
bar sind, im Affekt und unter dem Einfluss des Alkohols fast 
durchweg krankhaft reagieren: Unter diesen beiden letzteren 
Einflüssen schwindet ibr Kritik- und Urteilsvermögen fast voll- 
ständig. 

Im allgemeinen ist bei diesen Schwachsinnigen die Merk- 
fähigkeit immer etwas herabgesetzt, in einzelnen Fällen hat 
dieselbe besonders Not gelitten.“ 

Schwierigkeiten bereiten ferner die Grenzzustände, 
wobei Epilepsie, Hysterie und Alkohol im Vordergrund stehen 
mit ihrer Charakterdepravation. 

Eine innige Mischung von bewusster Lüge und krankhaft 
gefálschtem Vorstellungsinhalt, immer unter Mitwirkung leb- 
hafter Phantasietätigkeit, finden wir bei Entarteten, bes. 
Hysterischen. Eine gröbere Beeinträchtigung der Kritik ist 
aber nicht jedesmal erforderlich. Das Gemisch von Erinnerungs- 
fälschung und Lüge wird für Dritte gefährlich in den 
falschen Anschuldigungen (sexuelle Attentate, Rauban- 
fälle etc.) und in der Unzuverlässigkeit der Zeugenaussage 
von Hysterischen. 

Die Tatsache, dass die Kranken grösstenteils selbst 
glauben, was sie erzählen, macht ihre Angaben durch die 
Art und Weise, wie sie vorgebracht werden, besonders ü b er- 
zeugen d; Verurteilungen Unschuldiger auf Grund von patho- 
logischen Lügen Hysterischer sind keine Seltenheit (vielleicht 
gehört hierher der Prozess Heusler-Wagner?!); eine besondere 
Gefahr besteht hier wieder für die Ärzte, die mit Vorliebe 
unerlaubter sexueller Eingriffe bezichtigt werden. 

Auch bei Epilepsie und Alkoholismus finden wir regelmäßig 
eine mehr weniger mangelhafte Reproduktionstreue. Infolge 
Überwiegens der Phantasietätigkeit und erhöhter gemütlicher 
Erregbarkeit findet oft eine weitgehende Trübung des Urteils 
und der Kritik statt, welche es diesen Individuen vielfach 


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unmöglich macht, zwischen Wahrheit und Dichtung zu unter- 
scheiden. Früher bewusste Lügen werden bei öfterer Wieder- 
holung bezw. im Laufe der Zeit so sehr zum geistigen Eigen- 
tum dieser Individuen, dass ihnen die Erkenntnis von der 
Unrichtigkeit ihrer Aussagen völlig abhanden gekommen ist. 
Von dieser Eigenheit, infolge von krankhafter Autosuggestion 
sich mehr und mehr in Phantasieprodukte, Erinnerungstáuschungen 
und launenhafte bezw. affektbetonte Einfálle zu verwirren und 
zu verrennen, ist auch die Erscheinung abzuleiten, dass solche 
Individuen, sei es bewusst, sei es unbewusst, liigen und schwin- 
deln selbst in Fällen, in welchen keinerlei Anlass dazu vorliegt. 
In ausgesprochenen Graden kommt es zu der sog. Pseudo- 
logia phantastika, den „krankhaften Schwindlern und 
Lügnern.“ 

Wir sehen aus diesen skizzenhaften Ausführungen, „dass 
es, soweit die Grenzzustände in Betracht kommen, Menschen 
gibt, welche mit einer krankhaften Grundlage behaftet, an sich 
nicht aufzufallen brauchen, aber trotzdem als Zeugen sehr gefähr- 
lich werden können, weil sie infolge dieser krankhaften Grund- 
lage nach der einen oder anderen Richtung hin in der geistigen 
Tätigkeit, welche zur Zeugenaussage erforderlich ist, geschädigt 
sind.“ 

Hoche!!) sagt, der Nachweis eines krankhaft mangelhaften 
Gedächtnisses im allgemeinen müsse an sich schon genügen, 
um, die Aussagen eines Zeugen unverwertbar zu machen; 
„weder Richter noch Arzt sind in solchen Fällen imstande 
zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Angaben eine Sonde- 

rung vorzunehmen.“ | 
| Auch Cramer?) steht auf dem Standpunkt, dass es sich 
in vielen Fällen gar nicht entscheiden lässt, ob die Aussagen, 
welche unter dem Zwange krankhafter Momente abgegeben 
worden sind, richtig sind oder nicht. „Auf keinen Fall wird 
sich der Arzt auf die Beantwortung einer Frage in letzterem 
Sinne einlassen.“ 

Unsere Ausführungen aus dem Gebiete der Psychologie 
der Aussage haben uns überzeugend vor Augen geführt, welche 
zahlreichen Fehlerquellen hier vorliegen, und uns die Not- 
wendigkeit dargetan, gemeinsam an der Erforschung dieses 


=s BE Zu 


psychologischen Problems zu arbeiten. Die Hauptsache bleibt, 
die Fehler zu analysieren und darnach zu trachten, daraus feste 
Stützpunkte für die Bewertung der Aussage zu gewinnen. Die 
experimentellen Untersuchungen bedürfen einer möglichst ein- 
fachen Versuchsanordnung und einer möglichst grossen Zahl 
von Versuchspersonen. 

Objektive Aufnahme und Registrierung der Ergebnisse sind 
anzustreben, um eine vergleichende Verwertung zu ermöglichen. 
In der Schule wie im Beruf sind Beobachtung und Reproduk- 
tionstreue zu üben und zu schärfen. 

Bei krankhaft veranlagten Naturen gewährt ein verständnis- 
volles Zusammenwirken von Richter und Arzt eine möglichst 
zutrefiende Beurteilung. | 

Uns allen möge die frisch einsetzende Wissenschaft der 
Psychologie reiche Anregung gewähren und zu einem lebhaften 
Gedankenaustausch Veranlassung geben zum Nutzen und 
Frommen unserer beiden Forschungsgebiete! 


Literaturangabe. 


1) Hoche, Handb. der gerichtlichen Psychiatrie. 

2) Cramer, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 2. 

8) W. Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 1. 

+) W. Stern, ibidem. H. 4. 

5) A. Wreschner, Arch. f. d. ges. Psychologie 1, 148—183. 

*) R. Sommer, Jurist. psychiatr. Grenzfragen, II. Bd. H. 6. 

') Hans Gross, Koblers Arch. f. Strafrecht u. Strafprozess, 49. Jabr- 
gang 1902, H. 3—5. 

®) C. Minnemann, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 4. 

% W. Weber, ibidem. Heft: 4. 

10) Hans Schneickert, Arch. f. Kriminalanthropol. Bd. 13. H. 3. 

11) Hoche, Jurist. psychiatr. Grenzfragen. I. Bd. H. 8. 

1?) Kraepelin, Arch. f. Psych. XVII u. XVIII. 


Zur Psychologie der Aussage. ') 
Von 
Landgerichtsrat Dr. Gmelin, Stuttgart. 


Die Forschungen, welche William Stern und andere 
nach ihm angestellt haben, um die Frage nach der Zuver- 
lässigkeit der Wahrnehmung und der Aussage von Personen 
zu ergründen, Forschungen, deren Kenntnis im Folgenden 
vorausgesetzt werden musste, haben bedeutendes Aufsehen 
bis in die Tagespresse hinein erregt. Handelt es sich doch 
um ein Problem, dessen bisher ungenügende Erforschung wohl 
von den meisten unter uns Richtern oft schmerzlich empfunden 
worden ist. Wenigstens muss ich dies annehmen, wenn ich von 
meinen eigenen Erfahrungen ausgehe. 


Als ich zuerst in die juristische Praxis eintrat, war es 
für mich ein Gegenstand der Überraschung, zu sehen, mit 
welcher Sicherheit die Einreihung der Zeugenaussagen in wahre 
und falsche von den Praktikern, namentlich im Gebiet des 
Strafrechts, vollzogen wurde. Meine zur Vorsicht geneigte 
Anlage zeigte sich mir als verbesserungsbedürftig im Sinn einer 
grösseren Unerschrockenheit im Fürwahrhalten der von den 
Zeugen gemachten Bekundungen. Mit der Zeit bemerkte ich, 


*) Literatur: Die grundlegende Arbeit von William Stern erschien 
in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 22, Heft 2 
und 3 (auch als Sonderabdruck bei J. Guttentag, Berlin 1902); weitere 
Aufsätze Stern’s in den von ihm herausgegebenen „Beiträgen zur Psycho- 
logie der Aussage", «Leipzig, J. A. Barth, 1903 ff. (1. Folge Heft 1, S. 1 ff., 
S. 4 ff., S. 46 f.; Heft 3, S.1ff.; 2. Folge Heft 1, S. Lff., S. 32 f.). — 
Weitere Literatur siehe beim vorhergehenden Vortrag, oben S. 59. — Auf- 
merksam gemacht sei insbes. auf Hans Gross, Kriminalpsychologie, 2. Aufl. 


> p as 


wie bei mir — nicht ohne die schmerzlichen Erfahrungen des 
Irrtums, dem ja wir Juristen nicht minder unterliegen, wie 
die Herren Ärzte —, ein gewisses, einer festen Grundlage, 
wie ich mir eingestand, entbehrendes Durchschnittsmaß der 
Bewertung der Zeugenaussagen sich ausbildete. Und wenn 
ich um mich schaute, so glaubte ich auch bei meinen Kollegen 
das Vorhandensein einer solchen Durchschnittsbewertung wahr- 
zunehmen, von der anzunehmen war, dass sie — wie bei mir 
— in dem einzelnen je nach seinem Temperament und seiner 
individuellen Anlage auf Grund seiner Erfahrungen zu Stande 
gekommen war. Allenthalben. aber fehlte es an greifbaren An- 
haltspunkten dafür, auf welchem Wege der Lösung des Pro- 
blems näher zu kommen sei. | 

Ist nun Aussicht vorhanden, dass es in dieser Richtung 
anders, besser werden wird? Besteht die Möglichkeit, an 
die Stelle der systemlos gesammelten persönlichen Erfahrung 
des einzelnen etwas Positiveres gu setzen? Das ist die Frage, 
die durch neue Forschung eröffnet ist. 


I. 


Die Entstehung, die Genesis der Zeugenaussage und 
ihre Verwertung durch den Richter ist in kurzem folgende: 
eine Person macht eine sinnliche Wahrnehmung, be- 
wahrt sie im Gedächtnis und trägt sie dem Richter miind- 
lich vor. Dieser überzeugt sich von der Wahrheit der 
ihm mitgeteilten Tatsache und baut auf diese Überzeu- 
gung die Entscheidung auf. 
Dieser ganze Hergang vollzieht sich, wie Erwin Rupp 
in seiner Schrift: Der Beweis im Strafverfahren [$$ 1—3]!) 
in scharfsinniger Weise darlegt, in logischen Schlüssen: selbst 
die anscheinend einer weiteren Auflösung unzugängliche un- 
mittelbare Wahrnehmung, wie z. B. das Ansichtigwerden eines 
Mädchens, enthält eine Reihe von solchen Konklusionen, in- 
dem auf Grund allgemeiner und persönlicher Erfahrung aus 
dem empfangenen Sinneseindruck auf dessen Realität, aus der 
körperlichen Erscheinung und der Kleidung auf das Alter und 


1) Freiburg, Mohr, 1884. 


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das Geschlecht geschlossen wird. Nicht minder bewegt sich 
die Aussage des Erlebten in Konklusionen: weil der Zeuge 
beobachtet hat, dass er einen Sinn besitzt, der ihm „die be- 
wusste Beziehung einer Gedächtnisvorstellung auf einen be- 
stimmten, an einen Zeitpunkt der Vergangenheit dagewesenen 
objektiven Tatbestand“ *) gestattet, schliesst er auf die Richtig- 
keit seiner Erinnerung und die Wahrheit seiner Aussage. Der 
Richter endlich schliesst aus der vor ihm gemachten Bekun- 
dung auf die Wahrheitsgemäßheit der Aussage und bildet sich 
infolgedessen die Überzeugung von der Wahrheit des Gescheh- . 
nisses selbst. Die Funktion des Zeugen zerfällt, wie gezeigt, 
in drei Gruppen: die Wahrnehmung (Apperzeption), die Er- 
innerung und die mündliche Wiedergabe. 


Die unrichtige richterliche Überzeugung beruht nun darauf, 
dass an irgend einer der verschiedenen Etappen, welche zwischen 
ihr und der Wahrnehmung des Zeugen liegen, ein falscher 
Schluss gemacht worden ist. Wäre z. B. in meinem Beispiel 
das erblickte Mädchen ein verkleideter Jüngling gewesen, so 
hätte der Beobachter irrtümlich die Erfahrungstatsache, dass 
Mädchen in Röcken gehen und bartlose Gesichter haben, zu 
dem Schluss verwertet, die gesehene Person sei ein Mädchen 
gewesen. 


Diese Darlegung dürfte gezeigt haben, warum sich die 
Richtigkeit des richterlichen Urteils in keinem Fall mit logi- 
scher Sicherheit beweisen lässt. Auf Schritt und Tritt müssen 
auf allgemeine Erfahrungssätze, deren Richtigkeit unerweislich 
ist, Schlüsse ‚aufgebaut und auf dieser Grundlage muss das 
Urteil gefunden werden. 


Indem nun die neuere, von William Stern inaugurierte 
Forschung, welche ihren Hebel bei der Erinnerung und 
ihrer Treue angesetzt hat, den Satz gebildet hat: 

die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, 
sondern die Ausnahme, 
scheint sie auf den ersten Anblick der Rechtsprechung, welche 
doch auf die Fehlerlosigkeit der Erinnerung und der auf ihr 
beruhenden Aussage angewiesen ist, den Boden zu entziehen. 


1) Definition von Stern. 


— 58 — 


Allein die anscheinend folgerichtige Konsequenz: die gánz- 
liche Abschaffung des Zeugenbeweises, wird von keiner Seite 
gezogen. Und sie wird auch nie gezogen werden. Denn sollte 
die Verwertbarkeit der Erfahrungen Dritter als Grundlage 
menschlichen Wissens als unzulässig erklärt werden, dann 
hätten wir nicht nur keinen Prozess, dann hätten wir auch 
keine Wissenschaft mehr. Einen Prozess ohne Zeugenaussage 
kann es nun und nimmermehr geben, sowenig wie es ihn je 
gegeben hat. Es muss also die, wie unbedingt zuzugeben ist, 
in der Verwertung von Zeugenaussagen liegende Unsicherheit 
ebenso hingenommen werden, wie die a priori bestehende Un- 
erweislichkeit der Richtigkeit der Richtersprüche überhaupt. 
Nur darum kann es sich handeln, die Fehler, welche bei der 
gerichtlichen Aussage und bei ihrer Würdigung durch den Richter 
vorkommen können, in ihren Ursachen und ihrem Umfang zu 
erforschen, und auf solche Weise eine sicherere Grundlage als 
bisher für die rechtsprechende Tätigkeit zu finden. Denn nur 
dann, wenn wir die Zahl der Fehler und ihre Natur erkennen, 
sind wir in der Lage, sie zu vermeiden, und es wäre deshalb 
ein unverantwortliches Beginnen, wollten wir die durch die 
moderne Aussage-Psychologie uns gebotene Möglichkeit, tiefer 
in jene Erkenntnis einzudringen, unbeachtet und unbenützt bei 
Seite liegen lassen. | 


In welcher Richtung diese Forschungen für die Rechts- 
pflege von Bedeutung sein können und, wie ich annehme, 
auch sein werden, werde ich nunmehr darzulegen unter- 
nehmen. 


LI. 


Das Studium der Psychologie der Aussage hat zum prak- 
tischen Zweck, uns die Erkenntnis zu erschliessen , wieso aus 
Gründen, die in der Betätigung der psychischen Funktion durch 
den Zeugen liegen, ein unrichtiges Ergebnis der richterlichen 
Überzeugung und zutreffendenfalls — sofern nämlich diese 
Überzeugung auf einen wesentlichen Teil der Urteilsfindung 
sich bezieht — im weiteren Verlauf ein unrichtiger Richter- 
spruch zustande kommen kann. Dass ein solches unrichtiges 
Resultat in jedem Fall auf einem unrichtigen Schluss beruhen 


— 59 — 


muss, habe ich bereits bemerkt. Da es nun der Richter ist, 
welcher im einzelnen Fall die falschen Schlüsse der Zeugen 
verwertet oder aber die Schlüsse der Zeugen falsch verwertet, 
so kann gesagt werden: 

Die Psychologie der Aussage enthält zu- 
gleich als Problem die Psychologie des Rich- 
ters oder die Psychologie des gerichtlichen 
Verhörs.!) 

Bei den Zeugenaussagen ist nun in Betracht zu ziehen: 
der Wille und die Fähigkeit zur richtigen Aussage. 

Den positiv auf eine falsche Aussage gerichteten Willen, 
welcher im Falle der Beeidigung als Meineid ($ 153 St. G. B.) 
in die Erscheinung tritt, lasse ich ganz bei Seite. | 

Über den fahrlässigen falschen Eid wird später einiges zu 
sagen sein. 

Ich wende mich sofort zur mangelnden Fähigkeit 
zur richtigen Aussage. 

Es handelt sich hier um die Momente der Wahrnehmung 
und der Erinnerung oder um Merkfähigkeit und Gedächtnis, 
Fragen, welche im wesentlichen auf dem medizinisch-psycho- 
logischen Gebiet liegen und deren Bedeutung nach dem Stand 
der heutigen Forschung in dem vorangehenden Vortrage vor- 
geführt sind. Um meine eigene Ansicht zu begründen, kann ich 
es indessen nicht umgehen, einige Bemerkungen allgemeiner Art 
über Wahrnehmung und Erinnerung vorauszuschicken. 

Schon bei der Wahrnehmung (Apperzeption) ist man nur 
zu leicht geneigt, zu übersehen, dass dieser Vorgang keines- 
wegs ein solcher ist, welcher, wenn in der Person des sonst 
normalen Zeugen keine besonderen Hinderungsgründe (wie 
Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit, besonders mangelhafte Intelli- 
genz) vorliegen, in denkbar einfachster Weise sich vollzieht. 
Zu beachten ist nämlich, dass schon mit der Aufnahme des 
Sinneseindrucks eine Bemächtigung desselben, eine Bear- 
beitung durch die Psyche stattfindet, die je nach der Auf- 
fassungskraft des Einzelnen eine total verschiedene ist. Ins- 
besondere ist die Wahrnehmung in jedem einzelnen Fall voll- 
ständig abhängig von dem Grad des dem Sinneseindruck 


') Vgl. Beiträge, 1. Folge, Heft 2, S. 104. 


== | 


gewidmeten Interesses. Ein Beispiel möge dies verdeut- 
lichen. 

Wenn Sie in die Lage kommen, einem Vortrag anwohnen 
zu müssen, so werden Sie vielleicht plötzlich die Entdeckung 
machen, dass Sie nicht zuhören. Die Tonwellen der Rede 
dringen ganz ebenso wie zuvor an Ihr Ohr. Ihre Wahrneh- 
mung aber, welche Ihnen vorher die Gedanken des Redners 
vermittelte, beschränkt sich nun auf das Innewerden eines 
mehr oder weniger angenehmen Geräusches, welches wohl ge- 
legentlich mit demjenigen eines plätschernden Baches ver- 
glichen worden ist, und nur die Pause, welche der Redner 
unvermutet macht, würde in Ihnen das Bewusstsein, in den 
vergangenen Momenten etwas gehört zu haben, erwecken. Die 
Apperzeption kann aber auch noch weiter herabsinken und 
ganz aufgehoben erscheinen, ich denke nicht an das Einschlafen 
des Zuhórers; aber wenn Sie z. B. während des Vortrags 
einen Brief mit interessantem Inhalt bekommen und lesen 
würden, könnten Sie vielleicht nachher nicht sagen, ob der 
Redner in den vorangegangenen Minuten gesprochen oder aus- 
gesetzt hätte, obwohl Sie ihn doch reden hörten. — Sehr 
mannigfach würde sodann die Stufenleiter ausfallen, wenn Sie 
über den Inhalt der Rede nachher eine Aussage machen sollten. 
Die sog. primäre oder spontane Aussage (wobei nicht durch 
Fragen nachgeholfen wird), würde vielleicht recht mangelhaft 
ausfallen; würde Ihnen gleich nach dem Vortrag das Manu- 
skript vorgelegt werden, so würden Sie voraussichtlich den 
Gedankengang wiedererkennen; Sie würden sich vielleicht an 
ziemlich viele Redewendungen und Sätze mit Bestimmtheit 
entsinnen. Einiges wäre Ihnen wohl zweifellos ganz entgangen. 
Ob die Ausdrucksweise überall ganz dieselbe war, würden Sie 
nicht angeben können; wenn Sie aber solche Übereinstimmung 
konstatierten, könnte Ihnen in dieser Beziehung vielleicht un- 
bewusst die von Ihnen wahrgenommene Tatsache, dass der 
Redner sein Manuskript abgelesen hätte, einen stärkeren Grad 
von subjektiver Gewissheit gewähren, als objektiv begründet 
wäre. 

Dieses Beispiel zeigt den verschiedenen Grad der Be- 
arbeitung, welche im Moment der Aufnahme des Sinnesein- 


we BE NA 


drucks erfolgt. Erforderlich ist aber auch eine diesem Zeit- 
punkt nachfolgende Fixierung; wird diese unmöglich, so ver- 
schwindet selbst die zweifellos gemachte Wahrnehmung un- 
wiederbringlich dahin. Es ist oft beobachtet worden, dass 
beim Erleben eines heftigen Schrecks die Erinnerung für das 
unmittelbar Vorangegangene vollständig verloren geht. Fälle 
dieser Art wurden bei dem grossen Heidelberger Eisenbahn- 
ungliick vom 7. Oktober 1900 konstatiert.) Es wird 
also geboten sein, Erinnerungen über Ereignisse, die 
einem erheblichen Affekt unmittelbar vorangegangen sind, 
wegen der zu befürchtenden Störung der Wahrnehmungs- 
operation mit Vorsicht zu behandeln. Andererseits wird die 
nachträglich, aber während der Dauer jenes Fixierungspro- 
zesses erfolgende Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen 
erlebten, aber noch nicht aufgenommenen Sinneseindruck zur 
Aufnahme desselben führen, bezw. das Erlöschen einer im 
Entstehen begriffenen Wahrnehmung verhindern. So kann 
man z. B. im gegebenen Falle, wenn jemand sich verspricht, 
im gleichen Moment darauf aufmerksam gemacht, diesen lapsus 
linguae sozusagen noch im Flug erhaschen und man kann ihn 
so seiner Wahrnehmung mit Sicherheit einverleiben. Dasselbe 
ereignet sich, wenn ein Schuss fällt, den man nicht beachtet 
hätte und man sofort gefragt wird: „Haben Sie nicht schiessen 
hören?“ Fälle solcher „retrospektiven Aufhellung der Wahr- 
nehmung“ werden auch von Hans Gross in seiner Kriminal- 
psychologie erwähnt. ! 

Ist der Satz, dass die Wahrnehmung vom Interesse ab- 
hängig sei, richtig, so kann ohne weiteres bestimmt werden, 
dass die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung nicht wird voraus- 
gesetzt werden dürfen, sobald der Vorgang für den Zeugen 
ganz interesselos war. Als Beispiel können dienen die Ver- 
richtungen des täglichen Lebens, die beinahe mechanisch voll- 
zogen werden, wie das Abschliessen von Türen, Schubladen 
und dergl. mehr. Auch Verhandlungen über zivilrechtliche 
Verhältnisse sind sehr häufig dem Seelenleben des zufälligen. 
Zuhórers ganz fremd und werden dann auch präsumtiv nicht. 
in die Psyche aufgenommen. 

') Deutsche medizinische Wochenschrift, 26. Jahrgang, S. 809. 


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Als bekannte Grinde der Verminderung des Interesses 
und damit der Wahrnehmungskraft wären noch zu erwähnen: 
allgemeine Herabsetzung der körperlichen und geistigen An- 
spannung durch Benommenheit, Ermüdung, Trunkenheit, Ab- 
lenkung durch andere Gedankenreihen. Die Gegensätze: Frische, 
geistige Freiheit, sodann das Aussergewöhnliche, besonders die 
Erstmaligkeit eines Vorgangs, desgleichen die Sachkunde, 
tragen zur Erhöhung der Wahrnehmungsfähigkeit bei. 

In objektiver Beziehung kommen die verschiedenen räum- 
lichen und zeitlichen Verhältnisse: die Nähe oder grössere 
Entfernung, die Schnelligkeit des Vorgangs oder ruhige Beob- 
achtung, endlich die Möglichkeit der Unterstützung des einen 
Sinneseindrucks durch einen andern in Betracht. Jedoch folgt 
aus der Möglichkeit, eine Wahrnehmung zu machen, für 
sich allein in keinem Fall, dass sie gemacht wurde, noch 
weniger aber, dass sie hätte gemacht werden müssen. 
Letztere Frage sollte daher streng genommen der Richter nie 
stellen, vielmehr ihre Beantwortung aus den festgestellten Um- 
ständen des Falls selbst schöpfen. 

Schon auf der ersten Stufe, welche zur gerichtlichen Aus- 
sage führen, liegen also eine Reihe von Problemen, welche 
keineswegs zu den leichten gehören. 

Noch komplizierter vestaltet sich die Sache, wenn wir 
nunmehr 


IH. 


die Erinnerung 
genauer betrachten. 

Wenn wir gesehen haben, dass für die Wahrnehmung das 
ihr zugewandte Interesse ausschlaggebend ist, so ist dies auch 
für die Erinnerung in gewissem Umfang zutreffend, und der 
Satz „Erinnerung ist Interesse“, den auch der Herr Vorredner 
angeführt hat, wird nicht von der Hand zu weisen sein. Nur 
wird man dabei beachten müssen, dass eben das lebhafte 
Interesse an der Wahrnehmung es ist, welches die tiefere 
Einprägung in die Psyche, und erst als deren Folge die Treue 
der Erinnerung bewirken wird. Darüber hinaus wird dann 
allerdings häufig die Fortdauer der seelischen Beziehung zu 
der gemachten Wahrnehmung oder zu der Person oder dem 


— 68 — 


Gegenstand, worauf sie sich beziebt, zur Wachhaltung der Er- 
innerung an das Erlebte beitragen. 

Allein wer sollte nicht schon wiederholt erlebt haben, 
dass beim Zuriickdenken an wichtige Ereignisse ihm die un- 
bedeutendsten Nebenumstände, von denen auch gar nicht an- 
genommen werden kann, dass sie mit besonderer Aufmerksam- 
keit wahrgenommen wurden, durch die Erinnerung wieder 
hervorgezaubert werden, während diese oder jene wichtige 
Einzeltatsache jenes Ereignisses trotz aller Anstrengung nicht 
mehr ins Gedächtnis zurückgerufen werden kann? Gerade diese 
Unkontrollierbarkeit, diese Launenhaftigkeit, diese relative Un- 
abhängigkeit von dem Interesse scheint mir — in ganz anderem 
Maß als bei der Wahrnehmung — ein recht eigentümliches 
Charakteristikum der Erinnerung zu sein. Es kommen ja auch 
dort Fälle vor, wo ich ohne Interesse etwas wahrnehme, z. B. 
etwas sehe, ohne absichtlich hinzusehen, etwas „höre“, ohne 
zu „horchen“; jedoch sind diese Fälle von relativ untergeord- 
neter Bedeutung. Die Erinnerung aber ist gewissermaßen ein 
Kobold, der uns jeden Augenblick „einen Streich spielen“ kann, 
uns im Stich lässt, wenn wir sie brauchen, uns Wahrnehmungen 
vorspiegelt, die wir nicht gemacht haben, und die aufgenom- 
menen Bilder in tausend Fällen entstellt und verzerrt! Und noch 
weniger als bei der Wahrnehmung wird also hier, wenn eine 
Person sich nur an einen Teil des Geschehnisses erinnern zu 
können erklärt, gefolgert werden können, dass sie sich auch 
an das übrige erinnern müsste. | 

Für die Frage nach der Richtigkeit des Erinnerungsbildes 
sind nun folgende Erscheinungen wichtig: einmal die allgemein 
bekannte Tatsache des allmählichen Erblassens und schliess- 
lichen Verschwindens der Erinnerung. Mit diesem „allmählichen 
Ausfallen von Teilen der Wahrnehmung“, hängt zusammen 
das stärkere Hervortreten des zurückgebliebenen Teils der 
Vorstellung, wodurch dieser Teil unter Umständen in der Er- 
innerung eine unverhältnismäßige Bedeutung erhält (z. B. bei 
Wert- und Gradunterschieden). Ferner ist zu beachten, dass 
das Erinnerungsbild niemals die Treue eines photographischen 
Abklatsches hat, sondern nur in allgemeinen Umrissen vor- 
handen ist, deren Lücken vermittels der Phantasie durch asso- 


a e 


ziative Vorstellungen ergánzt werden und im weiteren Verlauf 
sogar durch letztere verdrängt werden können. Ein Beispiel 
solcher Ergänzung ist mir von einem hiesigen Argt zur Ver- 
fügung gestellt worden und scheint mir wert, vor Vergessen- 
heit bewahrt zu "werden. 

Dieser Herr wohnte einer Feierlichkeit an, wobei er längere 
Zeit in nächster Nähe des Deutschen Kaisers stand. Er be- 
hauptete nachher, an den Beinkleidern des Monarchen die 
roten Generalsstreifen gesehen zu haben. Von einem Be- 
kannten, der dies bestritt, zu einer Wette aufgefordert, lehnte 
er dies mit der Begründung ab, er sei seiner Sache so sicher, 
dass er die Eingebung der Wette nicht für erlaubt halte. Es 
war möglich, durch einen Adjutanten die Tatsachen genau 
festzustellen, und es ergab sich, dass der Kaiser die Obersten- 
uniform seines württemb. Regiments (Nr. 120) mit General- 
stabszeichen getragen hatte.!) Des Rätsels Lösung war also, 
dass der Arzt den (Generalshelm mit den wallenden Federn 
und die auf den Schulterklappen befindlichen Generalsabzeichen 
gesehen und dass seine Phantasie die roten Streifen — ge- 
wissermaßen als logische Konsequenz — hinzugedichtet hatte. 
Es liegt hier eine ganz augenfällige Bestätigung des Stern- 
schen Satzes vor: dass die mangelhafte Erinnerung etwa be- 
stehende Lücken nach dem als normal erwarteten ergänzt. 

Wäre es nun nicht denkbar, dass im Laufe der Zeit dieser 
Arzt, wenn nicht sein Irrtum festgestellt worden wäre, die 
roten Streifen als alleiniges Merkmal für die Generalsuniform 
im Gedächtnis behalten hätte? Gewiss, und hier wäre 
dann die wirkliche Erinnerung durch eine assoziative Vorstel- 
lung verdrängt worden. 

Es dürfte schon durch das Wenige, was im Rahmen dieses 
Vortrags über das eigenartige Wesen der Wahrnehmung und 
der Erinnerung gesagt ist, dargetan sein, dass die Unsicherheit. 
der Aussagen über Erinnerungen — und alle Zeugenaussagen 
sind ja nichts anderes — im Wesen sowohl der Wahrnehmung, 
als des Gedächtnisses selbst begründet ist, — dass mit Natur- 
notwendigkeit auch der normale Mensch Erinnerungstäuschungen 


1) Zu dieser Uniform gehören keine Generalsstreifen an den Bein- 
kleidern. 


E: ES 


und Erinnerungsfälschungen unterliegt, — dass bei der Natur der 
Erinnerung als einer in wesentlichen Richtungen ganz unkontrol- 
lierbaren geistigen Kraft sich auch im einzelnen Fall die Richtig- 
keit oder Unrichtigkeit der einzelnen Erinnerung (im subjektiven 
Sinn). von dem Fall der nachgewiesenen, absichtlich falschen Aus- 
sage abgesehen, ausserordentlich schwer erweisen lässt. Denkt 
man sich etwa noch im konkreten Fall eine lebhafte Vorein- 
genommenheit zu Gunsten der einen oder andern subjektiven 
Auffassung eines Geschehnisses hinzu, so wird sehr häufig die 
Sache so liegen, dass im Moment der Wahrnehmung denjenigen 
Umständen, welche der Betreffende zu sehen oder zu hören 
wünscht, lebhafteres Interesse zugewendet und der Erinnerung 
an diese Umstände grössere Wärme gewidmet wird, als dies 
bei den divergierenden Tatsachen geschieht. Es bedarf dann 
nur noch einer geringeren Dosis Autosuggestion, und es wird 
die zur Wiedergabe der Erinnerung aufgeforderte Person in 
der Lage sein, im besten Glauben ein ganz einseitiges Bild 
zu produzieren, also ohne dass die objektive Unrichtigkeit als 
auf subjektivem Verschulden beruhend anzusehen wäre Der 
Wunsch ist der Vater der Erinnerung. Auf diese 
Weise und nicht durch Rekurrieren auf die Unterstellung 
falscher Eide, werden nach meiner Überzeugung öfter als man 
denkt, die widersprechenden Angaben der vor Gericht strei- 
tenden Montecchi und Capuletti und ihres Anhangs psycho- 
logisch erklärt werden müssen. Ich wenigstens vermochte mir 
in vielen praktisch erlebten Fällen den Vorgang recht gut so 
vorzustellen, das schon bei der Wahrnehmung der 
Zeuge das, was er zu sehen und zu hören wünschte, z. B. bei 
wechselseitigem Wortstreit, sozusagen stärker erlebt hatte, 
dass er dies durch Wiederholung in seinem Innern, durch Be- 
sprechung mit Freunden immer mehr in die Höhe brachte und 
das, was ihm nicht passte, durch konsequentes Ignorieren 
schliesslich aus seiner Erinnerung ganz hatte ausfallen lassen. 

Durch die von William Stern eingeleitete experimentelle 
Methode ist nun meiner Ansicht nach die im Wesen der Sache 
begründete bedeutende Fehlerhaftigkeit der gutgläubigen Aus- 
sagen über Wahrnehmungen im weiteren Umfang, als 
bisher angenommen wurde, bestätigt worden. Jeder 


5 


2,66 A 


von Ihnen ist in der Lage, mittels der in der Literatur sich 
findenden Beispiele auf der Stelle von der Unzulänglichkeit 
seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung sich zu über- 
zeugen. Bemerken möchte ich hier nur, dass wenn W. Stern 
nach einem einzigen Versuch den Satz: „11% des beeidigten (!) 
Inhalts einer Aussage!) sind falsch“, in die Welt hinausgehen 
liess, dies denn doch ein ganz falsches Bild von der Natur 
und der Beweiskraft des einzelnen Experiments hervorruft. 
Dagegen dürfte gegen die Stern'sche Formel: „Die rich- 
tige Aussage bildet nicht die Regel, sondern die 
Ausnahme“, wenn man darunter die in allem, auch den 
nebensächlichsten Punkten irrtumsfreie Aussage versteht, nichts 
einzuwenden, wohl aber zu bestreiten sein, dass 
dieser Satz für den erfahrenen Richter ein neuer 
sei. Aber allerdings ist, wie bemerkt, das Vorkommen 
der von dem Aussagenden selbst für wahr gehal- 
tenen, objektiv unrichtigen Aussage in weiterem Umfang, 
als bisher im Durchschnitt angenommen wurde, festgestellt 
worden, und hieraus folgt von selbst: dass in weiterem 
Umfang als bisher mit der Möglichkeit der Gut- 
gläubigkeit des objektiv falsch Aussagenden ge- 
rechnet werden muss. 


Die Erfahrung, dass die Menschen einer Reihe von 
Irrtúmern auch da unterworfen sind, wo es sich um an- 
scheinend ganz einfache Wahrnehmungen handelt. ist ja auch 
bisher dem aufmerksamen Beobachter des täglichen Lebens 
und der forensischen Praxis keineswegs unbekannt gewesen. 


Aber wenn ıch die von mir selbst als Richter gewonnene 
Erfahrung wiedergeben soll, und wenn ich dabei verwerte, 
was ich als Standpunkt der Praxis im allgemeinen wahrge- 
nommen zu haben glaube, so ist doch bisher als Regel davon 
ausgegangen worden, — vom Fall des Meineids und der 
krankhaften Disposition sehe ich hier ganz ab —, dass die 
dem Zeugen bei seiner Aussage unterlaufenden Unrichtigkeiten 
auf einer mangelnden Anspannung des auf Wiedergabe der 


') Es handelt sich bei den Versuchen doch nur um fiktiv be- 
schworene Tatsachen (s. unten). 





u OT = 


Wahrnehmung gerichteten Willens beruhen, man hat sich 
für berechtigt gehalten, als allgemein giltige und nur den 
seltensten Ausnahmen unterliegende Regel, wenn nicht aus- 
drücklich, so doch stillschweigend zu Grunde zu legen, dass 
die Konzentration der Gedanken auf ein früheres Geschehnis, 
verbunden mit dem ernstlichen Willen, die Wahrheit auszu- 
sagen, ein objektiv richtiges Erinnerungsbild zustande bringen 
müsse. Die Praxis hat bei zweifelhaften Fällen oft zu der 
Formel gegriffen, dass diese oder jene vielleicht an sich auf- 
fallende aber von dem Zeugen mit Bestimmtheit unter Eid 
bekundete Wahrnehmung, „wenn man nicht geradezu 
einen Meineid des Zeugen unterstellen wolle * 
als wahr angenommen werden müsse. 

Mit dieser Formel wird man brechen müssen. Denn für 
den Satz, „dass die medizinische und moralische Einwandlosig- 
keit keine Gewähr für die Richtigkeit der Erinnerungsaussage 
biete“, sind nach meiner Auffassung durch die exakte Forsch- 
ung positive Beweise in viel grösserer Anzahl, als erwartet 
werden konnte, erbracht worden, sodass der Satz als Regel 
ausgesprochen werden muss: 

aus der subjektivenGewissheit, mit welcher 
der Zeuge seine Aussage macht, kann für sich 
allein, auf die objektive Wahrheit seiner Be- 
kundung ein sicherer Schluss nicht gezogen 
werden. 

Jeder von uns wird ja ohne Zweifel in seinem Leben schon 
das eine und das andere Mal selbst in die Lage gekommen 
sein, die vollste Überzeugung von der Richtigkeit einer nach- 
her als falsch erwiesenen Tatsache gehabt zu haben. 
Allein wir betrachteten solche Fälle als Ausnahme, während 
das, was bis jetzt experimentell erhoben wurde, den Beweis 
dafür erbracht hat, dass es — wie Stern sagt — ein bis- 
her beträchtlich unterschätztes breites Gebiet der normalen 
psychologischen Erinnerungsfehler gibt. 

Die Erfahrungen über die sogen. Schwurtreue sind 
bei den Versuchen in der Weise gesammelt worden, dass die 
Versuchspersonen einer an sie ergangenen Aufforderung ent- 
sprechend diejenigen schriftlichen Angaben unterstrichen haben, 

Ar 


— 68 — 


welche sie für beeidigungsfähig hielten. Hierbei hat sich nun 
ergeben, dass der nach Ausscheidung der nicht beeidigungsfähig 
gefundenen Punkte übrig bleibende Teil der Aussage einen 
grösseren Prozentsatz richtiger Angaben enthält als die Gesamt- 
angabe, und es ist damit die Notwendigkeit einer feierlichen 
Wahrheitsversicherung für die Zwecke der Rechtspflege, worauf 
ich später zurückkommen werde, auch experimentell dargetan. 
Anderseits aber hat sich stets ein ziemlich hoher Prozentsatz 
von objektiv falschen Angaben, die nach Angabe der Ver- 
suchspersonen beeidigt worden wären, ergeben. Nun könnte 
man ja wohl sagen: es ist doch etwas anderes, ob jemand 
unter dem Druck der Verantwortung, welche geschaffen ist 
durch den körperlich geleisteten Eid und durch die an die ge- 
richtliche Aussage meist sich kniipfenden praktischen Folgen, 
etwas aussagt, als wenn er nur fiktiv sich darüber äussert, was er be- 
schworen hätte. Allein wenn man auch unter diesem Gesichts- 
punkt an dem Prozentsatz der unrichtigen „eidlichen“ Aussagen der 
Versuchspersonen einen Abstrich machen würde, so würden 
doch recht viele Aussagen bleiben, welche auch im Ernstfall 
auf Grund unerschütterlich feststehender Überzeugung be- 
schworen worden sein würden. Ich verweise auf das von mir 
genannte Beispiel des Arztes. 

Zu dieser im allgemeinen bestehenden Unkontrollierbar- 
keit des jeweils vorhandenen Gedächtnisstoffes im Verhältnis 
zur Realität kommt nun noch, dass bekanntlich das Gedächtnis- 
vermögen der verschicdenen gesunden Menschen das denkbar 
verschiedenste ist. Noch weniger, als wir zur Zeit ein zuver- 
lässiges Mittel haben, um die richtige Auffassungsfähigkeit 
einer Person zu prüfen, sind wir forensisch in der Lage, die 
Gedächtnisstärke des einzelnen anders als in ganz allgemeinen 
Umrissen zu erkennen Als Hilfsmittel in dieser Richtung 
könnten etwa die Angaben von Angehörigen oder Bekannten 
über die Erinnerungskraft des Zeugen in Betracht kommen,- 
Angaben, die aber selbst nichts anderes als höchst subjektive 
Urteile wiedergeben würden. Überdies ist ja das Gedächtnis 
derselben Person zu verschiedenen Zeiten ein ungleich starkes 
und auch für die Beurteilung hierfür fehlt es wiederum an 
allem und jedem Maßstab. | 


=, 60 == 


Es ergeben sich also (vom Fall des erwiesenen Meineids 
abgesehen) aus dem eigenartigen Wesen des Gedáchtnisses 
selbst geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten, die im Einzel- 
fall bestehende Nichtübereinstimmung der Aussage mit der 
Wirklichkeit nach der Richtung der subjektiven Verschuldung 
zu prüfen, weil eben die erwähnte Nichtübereinstimmung 
bei bestehender subjektiver Sicherheit erwiesenermaßen über- 
aus häufig ist. Diese Tatsachen führen mich nun zu einem wich- 
tigen Vorkommnis auf dem Gebiet der strafrechtlichen Be- 
handlung der falschen Aussage. Es ist nämlich bezüglich des 
fahrlässigen Falscheids (St. G. B. $ 163) — ein Ver- 
gehen, welches dann vorliegt, wenn der Zeuge eine objektiv 
falsche Aussage abgibt, obwohl er bei seiner Vernehmung die 
Wahrheit hätte wissen müssen!) — neuerdings von so 
gewichtigen Autoritäten, wie Olshausen, Stenglein und 
Thomsen?), die Abschaffung der Strafbarkeit befürwortet 
worden. Es wird in der Tat der unter anderem hierfür gel- 
tend gemachte Grund, es entziehe sich im Einzelfall jeder 
Nachprüfung, ob der Schwörende Mittel und Wege gehabt 
habe, zu einer andern als der beschworenen Überzeugung zu 
gelangen, der ernstesten Beachtung für würdig befunden werden 
müssen. 

Erwähnen möchte ich, ehe ich weitergehe, noch Folgendes: 

Unbekannt war auch das Phänomen der Selbsttäusch- 
ung über die eigene Erinnerung, als Stern mit seinen Ver- 
suchen begann, nicht. 

Stenglein hat dies einmal in den Worten ausgesprochen 

dass auch die gewissenhaftesten Zeugen möglicherweise 
irren, dass auch bei solchen Selbsttäuschungen vorkommen, 
gehört dem allgemeinen Wissen an. 

Gross sagte schon i. J. 1898 in seiner Kriminalpsycho- 
logie (S. 9): 

wer in diesen Dingen — nämlich in Zeugenaussagen 
— Erfahrung hat und aufmerkt, der kommt zu der 


1) E. d. R. G. in Str. Bd. 26, S. 133 ff. 

2) (Goltdammer's) Archiv für Strafrecht u. Strafprozess. Bd. 50, S. 8 1f.; 
Gutachten für den 26. Deutschen Juristentag. Bd. 1, S. 184 tf; Gerichts- 
saal. Bd. 61, S. 56 ff. 


a O 


zweifellosen Überzeugung: Die Leute wissen nicht, 

was sie wissen. | 

Und vor blinder kritikloser Hinnahme der Zeugenaussagen 
hat er ausdrücklich gewarnt. 

Die Erkenntnis des Umfangs solcher Selbsttäuschungen 
ist aber durch die neue exakte Forschung entschieden auf 
eine breitere Basis als bisher gestellt worden. — 

Alles bisher Angeführte bezieht sich auf die Wahrnehmung 
und Erinnerung des körperlich und geistig normalen Menschen. 
Bei Seite gelassen sind alle diejenigen Fälle, in welchen zufolge 
einer von der Norm abweichenden Disposition die Auffassung und 
die Erinnerung des Zeugen aufgehoben oder gehemmt er- 
scheint, wie bei der eigentlichen Geisteskrankheit in ihren verschie- 
denen Formen, und den von dem Herrn Vorredner besonders 
hervorgehobenen Fällen des Schwachsinns und der „Grenzzu- 
stände“. Die Schwierigkeit besteht hier nicht nur in der Er- 
kenntnis des Umfangs der Unwahrhaftigkeit und der Unzuver- 
lässigkeit des Zeugnisses solcher Kranken oder Entarteten, 
sondern auch — und in ganz hervorragendem Maße — darin, 
dass der Richter sehr häufig gar nicht in der Lage ist, den 
nicht normalen Zeugen vom gesunden zu unterscheiden. 
Wie hier zu helfen sei, bleibt eine vorläufig noch ungelöste 
Frage. 

Auch bei dem normalen Zeugen wird der Richter auf 
positive Grundlagen in der Frage der Wahrnehmungs- und 
Erinnerungsfähigkeit nach wie vor kaum rechnen dürfen, viel- 
mehr über die Würdigung des Einzelfalls auf Grund seiner 
persönlichen Anschauung und Auffassung nicht hinauskommen. 
Aber das Studium der Ergebnisse der neueren Forschungen 
wird ihn davor bewahren, an die Merkfähigkeit und die Er- 
innerung der Menschen unbillige Forderungen zu stellen und 
der aus inneren Gründen zweifelhaften Aussage einen unge- 
rechtfertigt hohen Beweiswert zuzumessen. 


IV. 
Den Höhepunkt des Interesses erreicht die Psychologie 
der Aussage mit dem Augenblick, in welchem der Zeuge zu 
dem Zweck dermündlichen Überlieferung seiner Wahr- 


u, = 


nehmungen und seiner Erinnerung vor den Richtertisch tritt. 
In bunter Reihenfolge erscheinen da alle denkbaren Berufs- 
stände, Gesunde und Kranke, Greise und Kinder, Männer und 
Weiber; ferner jeder mögliche Intelligenzgrad, jede mögliche 
Charakteranlage. Alle diese Leute sollen richtig, d. h. so 
vernommen werden, dass keiner etwas anderes sagt, als was 
er juntrüglich weiss, aber auch so, dass sein ganzer Erinne- 
rungsschatz dem Richter zugänglich; wird. Bei jeder dieser 
Gruppen und Typen ist die Wahrnehmungsfähigkeit, die Er- 
innerung, die Fähigkeit zur Aussage und die Art derselben 
eine verschiedene, jede dieser Gruppen und Typen verlangt 
äusserlich wie innerlich eine andere Behandlung! 

Fürwahr keine leichte Aufgabe! 

Welche Fehlerquelle liegt allein in der Gefahr, dass der 
Zeuge vom Richter missverstanden und von Frage zu Frage 
zu etwas ganz anderem als er sagen wollte, hingedrängt wird! 

Das Gesetz (St. P. O. $ 68, Z. P. O. $ 396) gibt uns zur 
Lösung der Aufgabe nur die Sätze an die Hand: 

„Der Zeuge ist zu veranlassen, dasjenige, was ihm 

von dem Gegenstand der Vernehmung bekannt ist, im 

Zusammenhang anzugeben. Zur Aufklärung oder Ver- 

vollständigung der Aussage, sowie zur Erforschung des 

Grundes, auf welchem die Wissenschaft des Zeugen be- 

ruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen.“ 

Das Gesetz, welches hiernach die sogen. primäre oder 
spontane Aussage an die erste Stelle rückt, sanktioniert 
damit gleichsam ausdrücklich die Superiorität dieser Aussage- 
form gegenüber der sekundären Aussage. Die experimentelle 
Forschung bestätigt dıe höhere Fehlerzahl in der letzteren 
gegenüber den ohne Frage gemachten Angaben, — ein Resultat, 
das sich auch aus inneren Gründen als notwendig ergibt. 
Denn einmal steigt mit dem grösseren Umfang der Aussage 
auch die Fehlermenge und sodann kommt folgendes in Betracht: 

Wie wir gesagt haben, enthalten die Erinnerungen nur ein 
Gesamtbild des wahrgenommenen Gegenstandes oder Ereig- 
nisses; was der Erinnerung als nebensächlich erscheint, wird 
durch die Phantasie ergänzt. Geht der Richter also auf dies 
Gebiet der für den Zeugen nebensächlichen Punkte einer Wahr- 


=. HO. 


nehmung über — und dies wird er in der Regel mit der auf 
Ergánzung der spontanen Aussage gerichteten Frage tun 
—, so kann es leicht geschehen, dass dem Zeugen die durch 
die Frage erweckte Vorstellung als Erinnerungsbild erscheint 
und es wird so eine Erinnerungstäuschung oder Erinnerungs- 
fälschung entstehen. Aber auch die zur Kontrolle gestellte 
Frage, (z. B. war das Kleid wirklich rot und nicht violett?), 
kann zu demselben Ergebnis führen, ja es wird hier unter 
Umständen zuerst ein Zweifel entstehen und in der Folge viel- 
leicht sogar die in völlig gutem Glauben erfolgende Ersetzung 
der richtigen Aussage durch eine objektiv unrichtige eintreten. 

Mit vollem Recht hat von Schrenck-Notzing') auf 
die Schwierigkeiten hingewiesen, welche bei Entscheidung der 
Frage nach dem ursprünglichen Erinnerungsbild entstehen, 
wenn ein Zeuge zuerst eine ihm bis dahin unbekannte Person, 
nachher eine öffentlich ausgestellte Photographie und schliess- 
lich den verhafteten Verdächtigen gesehen hat. 

Es darf daher der Richter die Suggestionsmöglichkeit bei 
jeder einzelnen Frage nie aus dem Auge lassen; er wird die 
einzelne Person in der Richtung ihrer Suggestibilität genau 
ins Auge zu fassen und womöglich durch geeignete Fragen in 
dieser Richtung zu prüfen haben. 

All dies ist um so wichtiger, als die primäre Aussage des 
Gesetzes für unzählige Fälle auf dem Papier steht. Der Richter, 
der sich bei unserem Durchschnittsmaterial an Zeugen auf 
eine zusammenhängende Darstellung verlassen wollte, würde aller- 
dings meistens nicht weit kommen. Aber andererseits ist eine Ver- 
nehmungsweise, wobei man nichts als Fragen und Vorhalte 
hört und der Zeuge nicht zum Wort kommt, denkbar weit 
entfernt von dem Ideal, welches auch dem Gesetze vorschwebt. 

Wir sind hier auf dem Gebiet der Vernehmungs- 
technik angelangt, worüber sich in Hans Gross’ Kriminal- 
psychologie sehr beherzigenswerte Ausführungen finden. Erstes 
und unerlässliches Erfordernis ist die Geduld, welche nie 
gross genug sein kann, und welche es allein ermöglicht, auf 


1) Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchtold-Prozess Leipzig 
1897. — Es ist hier namentlich auch auf die Massensuggestion durch die 
Presse hingewiesen. 





u O 2 


das Niveau des Zeugen herabzusteigen, sich durch vorsichtiges 
Tasten über den Grad seiner Intelligenz, seiner Bildung, 
seiner Kenntnisse zu orientieren und so das, was er sagen 
kann, aus ihm herauszuholen. Nötig ist es auch, das subjektive 
Interesse des Zeugen zu erwecken, denn nur, wo das ge- 
lingt, wird die geistige Kapazität des Zeugen, wie es erforder- 
lich ist, auf ibren Höhepunkt gebracht werden. Zu warnen 
ist davor, unmögliche Zumutungen an die Zeugen zu 
stellen, es ist im Gegenteil angezeigt, hinsichtlich der Sicher- 
heit ıhrer Wahrnehmung, ihrer Erinnerungstreue und ihrer 
Geschicklichkeit in der Wiedergabe möglichst wenig vorauszu- 
setzen, und sie, vom Einfachen und Feststehenden ausgehend, 
weiter zu geleiten, niemals aber eine Erinnerung zu verlangen, 
die sie nach Lage der Sache ganz unmöglich haben können. 
Gerade in letzterer Beziehung findet sich unzählige Male der 
Fehlschluss, es müsse deshalb, weil dem Richter für den Auf- 
bau des Tatbestands eine Tatsache wichtig sei, dieselbe nun 
auch von dem Zeugen mit besonderer Aufmerksamkeit wahr- 
genommen worden sein. Es bedarf keiner Ausführung darüber, 
wie gänzlich verfehlt in einer sehr grossen Anzahl von Fällen 
eine solche Annahme sein wird! 

Wo aber auch bei der korrektesten Methode und bei der 
objektivsten Beurteilung des Stofts durch den Richter das 
Herausholen aufhört und das Hineininquirieren anfängt, 
das wird sich wohl leicht auf eine theoretische Formel bringen 
lassen: in der Praxis ist die Vermeidung des Fehlers einfach 
unmöglich. Gerade deshalb muss aber die Aufmerksamkeit 
stets auf diese Fehlerquelle gerichtet sein. Das Gesetz steht 
auf dem Standpunkt, dass gefragt werden muss. Es setzt 
voraus, dass auf diese Weise der Erforschung der Wahrheit 
gedient wird und ein Verzicht des Gesetzes auf dieses Hilfs- 
mittel wäre völlig ausgeschlossen. Dass der beabsichtigte 
Zweck der Wabhrheitserforschung durch die gesetzliche Be- 
stimmung verfehlt wird, das ist durch die etwa mit unter- 
laufenden Fehler nicht erwiesen. 

Übrigens wird man gut tun, die tatsächliche Bedeutung 
dieser Fehler nicht zu überschätzen. Gerade in Sachen des 
Beweises finden sich fast in jedem Kollegium Mitglieder von 


sr A. as 


äusserst subtiler Veranlagung. Und wie schwer es ist, im Ge- 
schworenengericht einen Beweis zu Ungunsten des Angeklagten 
zu führen, dürfte allgemein bekannt sein. Kann nicht eine 
in sich übereinstimmende Gruppe von Beweisen herbeigeschaftt, 
kann nicht ein durch das gewichtigste Beweismaterial unter- 
stütztes Gesamtbild hergestellt werden, so wird auch eine Ver- 
urteilung nicht herbeizuführen sein. 


Die Superiorität, welche, wie ich gesagt habe, nach 
dem Gesetz der primären, ım Verhältnis zur sekundären 
Aussage zukommt, macht es in hohem Maße bedauerlich, dass 
praktisch die primäre Aussage so völlig in den Hintergrund 
tritt. 1) Praktisch haben wir eigentlich eine primäre Aussage über- 
haupt nicht: denn schon die erste Aussage, welche ja leider 
gewöhnlich vor einem Polizeibeamten oder Gendarmen ge- 
schieht, trennt die spontan gemachten Angaben nicht von den 
abgefragten. Bis zur Hauptverhandlung haben wir dann noch 
eine, vielleicht auch mehrere gerichtliche Zwischenverneh- 
mungen. Letztere dienen ja glücklicherweise bei den enormen 
Zwisschenräumen, welche nicht selten in Schwurgerichtsfällen, 
aber auch in einer überaus bedeutenden Zahl von Strafkammer- 
fällen, zwischen der Tat und deren Aburteilung liegen, wieder 
dazu, den Gedächtnisstoff bei dem Zeugen warm zu halten, 
und ermöglichen mit Hilfe der so oft abgefragten Protokolle 
wenigstens festzustellen, was der Zeuge bei früheren sekun- 
dären Vernehmungen gewusst hat. Allein es sollte bei einer 
Strafprozessreform nicht versäumt werden, auf Mittel und Wege 
zu denken, welche die erste Vernehmung durch einen Richter 
und in dieser die Trennung der spontan gemachten Angaben 
von den sekundären ermöglichen würden. Ob in letzter Be- 
ziehung die von verschiedenen Seiten, auch von dem Herrn 
Vorredner befürwortete stenographische Aufnahme nicht das 
Material zu sehr ins Breite anschwellen lassen würde, wäre 
übrigens sehr zu erwägen. 


Dass die erste Vernehmung, wofür nach obigen Aus- 
führungen unbedingt die Beeidigung, bezw. die feier- 


1) Vgl. hierzu Schneickert, in den „Beiträgen“, 1. Folge, Heft 4, 
Ss. 1 ff. 


== ss 


liche Wahrheitsversicherung!), die Regel zu bilden 
hätte, in möglichster Zeitnähe hinter der Wahrnehmung 
liegen müsste, ist eine weitere Lehre, welche uns die exakte 
Forschung in gebieterischer Weise nahelegt, indem sie beweist, 
in welch hohem Maße durch den Zeitablauf die Zuverlässig- 
keit der Erinnerungsaussagen abnimmt. Auch setzt, wie 
Stern nachgewiesen hat, das frische Erinnerungsbild den 
Suggestivfragen einen grösseren Widerstand entgegen als das 
verblasste. 


Was nun den Zeugen im höchsten Grad zur Anspannung 
seiner geistigen Tätigkeit im Gebiet der Erinnerung anspornen 
muss, das ist das hohe Verantwortlichkeitsgefühl, das die 
staatliche Ordnung von jedem in Rechtssachen Aussagenden 
verlangt und das sie durch die Nötigung, das abzulegende 
Zeugnis durch eine Anrufung Gottes zu bekräftigen, in denk- 
bar wirksamster Weise steigert. Allein wenn das Reichs- 
gericht einmal?) den denkwürdigen Satz ausgesprochen hat: 

„Durch blosse Willensanstrengung kann das Gedächtnis 
nicht dazu gebracht werden, richtig zu funktionieren“, 
so gilt dies auch von der durch den Eid bekräftigten Aus- 
sage. Auch der Eid kann das Unmögliche nicht möglich machen, 
und der Richter wird wohl daran tun, dies nicht aus dem 
Auge zu lassen. Ob übrigens das Pressionsmittel der religiösen 
Gewissensbelastung zu Zwecken der staatlichen Rechtspflege 
nicht durch eine feierliche Wahrheitsversicherung mit even- 
tuellen Straffolgen ersetzt werden sollte, das ist eine Frage, 
der ganz gewiss mit der Zeit von immer weiteren Kreisen 
diejenige Sympathie entgegengebracht werden wird, die sie 
nach meiner Anschauung voll verdient.) Der etwa entstehende 
Ausfall wird leichter verschmerzt werden können, wenn die 
Strafprozessreform die längst so schmerzlich empfundene Lücke 
der Straflosigkeit der nichteidlichen Lüge vor Ge- 
richt durch eine Strafnorm auszufüllen in der Lage wäre. 


1) S. unten. 

2) Entsch. in Strafsachen. Bd. 22, S. 298. 

5) Es kann auf die überzeugenden Ausführungen von Kade, der 
Eid und das Recht auf Wahrheit, Berlin, Heymann, 1895, verwiesen werden; 
s. auch Kahl, in der „Deutschen Juristenzeitung", 1903, S. 339; Kade 
das. 1902, S. 195. 


e TR. a 


Neben dem durch den Eid gesteigerten Verantwortlich- 
keitsgefühl wirkt auf das Zeugnis belebend ein die durch die 
Hauptverhandlung gesteigerte Phantasie des Zeugen. Durch 
die Anwesenheit des Angeklagten und der sonst beteiligten 
Personen, durch die Besichtigung der Augenscheinsobjekte wird 
der Zeuge geistig in das Milieu, in welchem sich die Straftat 
vollzog, zurückversetzt und es wird hierdurch sein Gedächtnis 
in wirksamer Weise angeregt. Vor Suggestion soll ihn die 
Vorschrift, dass er der Vernehmung des Angeklagten und der 
vor ihm abzuhörenden Zeugen nicht anwohnen darf, vor Ein- 
schüchterung durch den Angeklagten soll ihn die Bestimmung 
schützen, dass wenn dies notwendig erscheint, der Angeklagte 
während der Vernehmung aus dem Sitzungssaal entfernt 
werden kann (St. P. O. §§ 58 Abs. 1, 246; Z. P. O. $ 394). 
Als stórende Momente kommen dagegen in Betracht, auf der 
einen Seite die leicht sich einstellende Befangenheit und Ver- 
wirrtheit, auf der andern Seite Eitelkeit und Wichtigtuerel. 
Sehr häufig ist ja, namentlich wenn die Verhandlung öffentlich 
ist, die Erscheinung, dass Zeugen durch die Wichtigkeit des 
Augenblicks und des Gegenstands, durch das Bewusstsein der 
ihnen obliegenden Verantwortlichkeit, durch die ungewohnte 
äussere Umgebung und das Gefühl des Exponiertseins, endlich 
auch oft durch ihre eigene Unbeholfenheit im Sprechen und 
in der Wiedergabe ihres Erinnerungsschatzes in einen Zustand 
der Verlegenheit und Verwirrung geraten, welcher auf ihre 
Fähigkeit, die Erinnerung richtig wieder herzustellen und sie 
mitzuteilen, von der schädlichsten Wirkung ist. Da heisst es, 
mit Ruhe und Besonnenheit den Zeugen allmählich in den 
richtigen Gang zu setzen. Dass solche Zeugen der Suggestion 
durch Fragestellung überaus leicht zugänglich sein werden, 
darf nicht aus dem Auge gelassen und das überhaupt nicht 
unbedenkliche, m. A. n. am besten ganz zu beseitigende!) Kreuz- 
verhör (St. P. O. $$ 238, 240, Z. P. O. $ 397) muss in solchen 
Fällen genau überwacht werden. Andrerseits fühlen sich nur 
zu leicht die Leute als im Mittelpunkt des Interesses stehend, 
sie glauben sich blossgestellt, wenn sie nicht alle Fragen be- 


!) so auch Schneickert a. a. O. S. 25, S. 43, Ziff. V. 


Or ae 


antworten, haben wohl auch in Strafsachen das Bediirfnis, der 
vergeltenden Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen, wenn nicht 
persönliche Interessen sie auf die Seite des Angeklagten hin- 
ziehen. Bei diesem Punkt hört aber auch die Möglichkeit 
experimenteller Forschung auf, hier bleibt bei der Wahrschein- 
hchkeitsrechnung, welche das Gesetz von ihm verlangt, der 
Richter für alle Zeit auf einen höchst unsichern Faktor, auf 
seine eigene, jenseits jeder Theorie stehende Menschenkenntniss, 
angewiesen. 

Obwohl ich Ihre Geduld schon zu lange in Anspruch 
genommen habe, ist dasjenige, was über mein Thema zu 
sagen wäre, noch lange nicht erschöpft. Zunächst wäre es 
interessant zu erörtern, ob unsere Vorfahren, sofern sie in 
ihren gesetztlichen Beweisregeln für den Zeugenbeweis ein ge- 
wisses Minimum, nämlich für die Regel das Erfordernis zweier 
Zeugen aufstellten, nicht doch richtiger gehandelt haben, als 
wir Enkel es gewöhnlich anzuerkennen geneigt sind. Noch 
vieles wäre sodann zu erwähnen über die Aussage von Kindern, 
über das Verhältnis der Zuverlässigkeit der Aussage der Frau 
zu derjenigen des Mannes, über die Zuverlässigkeit von Schätz- 
ungen, über die Erziehung der Menschen zur richtigen Wahr- 
nehmung und richtigen Aussage, über die Notwendigkeit der 
psychologischen Vorbildung der Richter, über Reformatorisches 
im Gebiet des Prozesses.) Auch wäre manches zu sagen über 
die Frage, ob und welche Fehler bei den Experimenten vor- 
kommen können und ohne Zweifel vorgekommen sind — ge- 
rade der erste Stern’sche Versuch ist sowohl von Hans 
Gross als von Wreschner sehr kritisch beurteilt worden. 
Man wird wohl auch die Frage aufwerfen dürfen, ob demn 
diese Versuche mit ihrer Scheinwirklichkeit überhaupt einen 
Rückschluss auf die richterliche Urteilsfindung zulassen, was 
von . Berufsjuristen schon verneint worden ist. Allein wenn 
Wreschner uns sagt, dass das aufsehenerregende Ergebnis 
der Stern’schen Versuche für den psychologisch gebildeten 
Fachmann überhaupt kein Novum war, so genügt schon dies 
vollständig, um auch für die Rechtsprechung die Notwendig- 
3) Za allen diesen Fragen findet sich Material in den oben S. 55 in. 
der Note erwähnten „Beiträgen.“ 


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keit zu begründen, sich mit den Ergebnissen der Aussage- 
forschung zu befassen und mitzutun bei der Arbeit, Erfah- 
rungen auf diesem Gebiet zu sammeln und die gewonnenen 
Erfahrungen zu sichten. Darauf, 'ob die seither berechneten 
Prozentsätze der fehlerhaften Aussage richtig sind, kommt es 
zunächst nicht an. Darum, dass 11% derjenigen beeideten 
Aussagen, auf welchen gerichtliche Entscheidungen beruhen, 
unrichtig sind, wird es sich gewiss nicht handeln können. Vor 
Gericht spielt doch die Trennung in wesentliche und unwesent- 
liche Tatsachen eine ganz andere Rolle, als z. B. bei der Be- 
trachtung eines Bildes, und die Prüfung, ob eine Aussage 
durch eine andere oder durch begleitende Umstände unter- 
stützt wird, ist in ganz anderer Weise möglich als im Experi- 
ment. Bei einem Versuch hat sich übrigens durch Vorlage 
der teilweise fehlerhaften Berichte an einen Schiedsrichter 
positiv ergeben, dass dieser eine — von Nebensächlichem 
abgesehen — zutreffende Beurteilung zu geben imstande 'war!), 
und mit dieser erfreulichen Note lassen Sie mich schliessen. 
Ich für meine Person hege die feste Überzeugung, dass 
die weitere Erforschung der Probleme, welche die Psychologie 
der Aussage in sich schliesst, von grossem Nutzen und mit 
der Zeit auch von praktischer Bedeutung für die Rechtspflege 
sein wird. Ist einmal alles, was die Zeugen sagen, nach den 
Regeln der Psychologie sorgfältig geprüft und zurechtgelegt, 
‚so werden — wie Hans Gross?) treffend sagt — die Zeugen- 
aussagen nicht nur nicht entwertet, sondern in ihrer Bedeutung, 
Sicherheit und Verwendbarkeit um das Vielfache erhöht sein. 
Und so begrüssen wir dankbar die Aussicht, es werde die 
Wissenschaft in eine Abteilung unseres Arbeitsfeldes, worin 
bisher Dunkel herrschte, Licht und positive Erkenntnis bringen. 


— 





1) Beiträge, 1. Folge, 4. Heft, S. 56—59. 
?) (Goltdammer’s) Archiv für Strafrecht und Strafprozess. 49. Jahr- 
gang, S. 187. 


Die Berechtigung der Vernichtung des kindlichen 
Lebens mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der 
Mutter. 


Von 


Dr. Reinhold Krauss-Kennenburg. 


Die innigen Wechselbeziehungen zwischen Zentralnerven- 
system und Sexualsystem bei der Frau auch im Verlauf des 
physiologischen Geschehens sind allgemein bekannt. Häufig 
genug kann der Praktiker die Erfahrung machen, wie sehr bei 
Erkrankung eines dieser Systeme auch das andere in Mit- 
leidenschaft gezogen wird. Im Bedürfnis nach Abhilfe ist die 
Messerfreudigkeit mancher Operateure besonders auf amerika- 
nischem Boden soweit gegangen, sogar ganz gesunde weibliche 
Fortpflanzungsorgane auszuschalten, wie sie glaubten, zu 
Gunsten des erkrankten Gehirns. Ihre Erfolge ermutigen uns 
nicht, ihnen auf diesen Bahnen zu folgen. Immerhin bringt 
aber jede Schwangerschaft im Organismus der Frau eine der- 
artige Umwälzung hervor, dass wir uns nicht wundern können, 
wenn das Zentralnervensystem von dieser mitbetroffen wird, 
dass vollends ein Gehirn, dessen Rüstigkeit und Widerstands- 
fähigkeit nicht unversehrt ist, den Ansprüchen nicht mehr zu ge- 
nügen vermag, die in dieser an dasselbe gestellt werden, dass 
eine schlummernde geistige Krankheit zu Tage tritt, eine be- 
stehende sich verschlimmert. So kommt es, dass wir uns vor 
die Frage gestellt sehen können, ob es nicht geboten sei, im 
Interesse der Mutter die Schwangerschaft zu einer Zeit zu 
unterbrechen, in der das Kind noch nicht lebensfähig ist, vor 
der 28. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt einzuleiten. 


— 80 — 


Diese ärztliche Maßnahme wird jedoch verboten durch die 
§§ 218 und 220 des Strafgesetzbuches mit folgendem Wortlaut: 

§ 218. „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich 
abtreibt, oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu 
fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, 
so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 6 Monaten ein. 

Dieselben Strafvorschriften finden auch Anwendung auf 
denjenigen, welcher mit Einwilligung der Schwangeren dic 
Mittel zu der Abtreibung und Tötung bei ihr angewendet oder 
ihr beigebracht hat. 

S 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne 
deren Wissen und Willen vorsätzlich abtreibt, oder tötet, wir 
mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft. 

Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verur- 
sacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren 
oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.“ 

Der Inhalt dieser Paragraphen verbietet an und für sich 
den Eingriff, den ich eben erwähnt habe, ganz allgemein und 
ohne alle Einschränkung. Es hat sich jedoch im Laufe der 
zweiten Hälfte des letzten. Jahrhunderts gegen religiöse, ınora- 
lische und strafrechtliche Bedenken, wesentlich unterstützt 
durch die glänzende Technik neuzeitlicher Geburtshilfe, die An- 
sicht durchgerungen, dass der Arzt berechtigt sei, das keimende 
Leben eines Kindes zu opfern, wenn bei bestehender Krankheit 
der Mutter das Leben dieser auf andere Weise nicht zu retten 
ist. 

Die Rechtssprechung der neueren Zeit ist diesem Stand- 
punkt beigetreten. Der Herr Korreferent wird Ihnen des 
näheren ausführen, in welcher Weise ihr dies möglich ist. Tech 
selbst möchte mich fürs erste darauf beschränken, die Frage 
zu beantworten: „gibt es Formen von Gersteskrankheiten, die 
durch Schwangerschaft bedingt, für die Mutter einen so ver- 
hängnisvollen Verlauf nehmen, dass wir zu ihrer Rettung ge- 
zwungen sind, die Schwangerschaft zu unterbrechen?“ 

Die Krankheiten, die ich zuerst nennen möchte, bewegen 
sich auf dem Grenzgebiete zwischen Geistes- und Nervenkrank- 
heiten. Als erste” das unstillbare Erbrechen der Schwangeren. 
Diese eigentümliche Neurose, die in der Schwangerschaft, sei 


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es auf mechanische Weise, sei es durch Stoffwechselvorgänge, 
ausgelóst wird, bringt die Kranken dadurch an den Rand des 
Verderbens, dass der Magen nichts mehr aufnimmt und so 
schwerste Ernährungsstörungen eintreten. Wir werden in 
solchen Fällen alle Mittel neuzeitlicher Ernährungsheilkunst 
anwenden, die Kranken gegebenenfalls aus ihren Verhältnissen 
entfernen, das krankgewordene Vorstellungsleben in richtige 
Bahnen zu lenken versuchen, aber in schwersten Fällen wird, 
mit Olshausen zu reden „die Einleitung des künstlichen 
Abortes nicht zu umgehen sein, wenn man die Frau nicht 
sterben lassen will“; er fährt fort: „man hat sich jedenfalls 
davor zu hüten, den Abort nicht erst an der Sterbenden ein- 
zuleiten“. 

~ Auch die eigentliche Hysterie, wie Prof. Valenta') einen 
Fall beschrieben hat, kann uns zwingen, aus psychopatho- 
logischen Gründen einen Abort einzuleiten. Eine hereditär 
belastete junge Frau wurde, schwanger geworden, schwer nervös, 
hatte heftige Herzkrämpfe, Schlingbeschwerden, Atemnot, 
Todesangst, obne zu wissen wovor, schliesslich trat häufig Be- 
wusstlosigkeit mit darauffolgenden Kopfschmerzen, Mattigkeit, 
grosse Schwäche, Ekel vor allem, insbesondere vor dem 
Manne, auf. Als ihr vollends die Tatsache, dass sie schwanger 
sei, bewusst wurde, stellten sich sehr gehäufte hysterische 
Krämpfe schwerster Art ein, die mit Bewusstlosigkeit und 
Delirien endigten. Dabei magerte die Kranke sichtlich mehr und 
ab, wurde immer mehr launenhaft, mürrisch und verstimmt, 
und verlangte dringend die Einleitung des Abortes. Diese 
wurde nach einer Beratung mit dem bekannten Irrenarzt Frei- 
herrn von Krafft-Ebing abgelehnt. Als jedoch alle Heil- 
maßnahmen fehlschlugen, die geschilderten Krankheitserschein- 
ungen sich in das Leben bedrohender Weise steigerten, insbe- 
sondere die Kräfte der Kranken, trotz leidlicher Nahrungsauf- 
nahme überstürzt abnalımen, entschlossen sich nach weiteren 
vier Wochen die genannten Herren zur Einleitung der Fehl- 
geburt: „Da die Kranke“, wie es in der angeführten Arbeit 
beisst, „physisch und moralisch nicht im Stande sein würde 


1) Archiv für Gynäkologie, 95 Bd. 


— 82 — 


die Schwangerschaft durchzumachen, da sie Selbstmordgedanken 
hege und da ohnedies ob dieser Krampfanfälle ein Abortus 
drohe und kaum zu vermeiden sein dürfte, so meinten sie, sei 
ihr der zur fixen Idee gewordene Wunsch nach alsbaldiger Durch- 
führung des Abortes zu erfüllen.“ Die Kranke war von dem 
Augenblick an gesund, als sie die Wirkung des erfolgten Ein- 
griffes spürte und blieb es auch; ihr Charakter wurde freilich 
pathetisch und sie liess sich wegen unwiderstehlicher Ab- 
neigung von ihrem Manne scheiden, den sie aus Neigung ge- 
heiratet hatte. 


Ich glaubte Ihnen diesen Fall etwas ausführlicher dar- 
stellen zu müssen. Es kann mir gewiss nichts ferner liegen, 
als eine Hysterika, die die psychischen und körperlichen Un- 
bequemlichkeiten einer Schwangerschaft nicht durchmachen 
mag, durch die Aussicht auf die Einleitung einer Fehlgeburt, 
in ihrer krankhaften Willensschwäche zu stützen, ich bin im 
Gegenteil der Meinung, dass wir kein psychisches und körper- 
liches Heilmittel unversucht lassen dürfen, um einen derartigen 
Ausgang zu vermeiden. Aber wir sehen, dass es selbst der 
Verbindung von zwei so hervorragenden Ärzten, wie Valenta 
und v. Krafft-Ebing nicht gelungen ist, ein durch die 
Schwangerschaft krankhaft verändertes Vorstellungsleben in 
einer Weise zu beeinflussen, dass der natürliche Gang der 
Schwangerschaft möglich gewesen wäre. Wir können in er- 
freulicher Weise sehr seltenen Fällen von Hysterie, wenn alle 
anderen Mittel fehlgeschlagen haben, in die Zwangslage ver- 
setzt werden, das lebende Kind zu opfern, um die Mutter am 
Leben zu erhalten. 

Eine weitere Indikation für die Einleitung der Fehlgeburt 
kann die Epilepsie bilden. 

Wenn ich hier den Angaben in der Arbeit von Nerlinger!) 
folgen darf, so finden wir bei einem Teil der dort beschriebenen 
Kranken, etwa 21%, ein Aussetzen der Anfälle in der 
Schwangerschaft, in etwa 24% war die Zahl der Anfälle 


1) Nerlinger: „ÜberEpilepsie und das Fortpflanzungsgeschäft des 
Weibes in ihren gegenseitigen Beziehungen. Heidelberg, Winter 1889. 
Bellinger: Epilepsie bei Kreisenden und Wöchnerinnen. Marburg 1887. 


— 83 — 


schwankend, in 1% die Zahl der Anfälle gleich gross im Ver- 
háltnis zu der nicht schwangeren Zeit, bei 36% traten sie 
in der Schwangerschaft häufiger und schwerer auf, oder beides 
zugleich. Die Häufigkeit und Schwere der Anfälle kann, wie 
auch Bellinger beschreibt, zu eigentlicher Geisteskrankheit, 
beziehungsweise zu rascher Verblödung führen. In Fällen nun, 
bei denen diese Neigung zu befürchten steht, bereits bei Erst- 
gebärenden, insbesondere aber bei Mehrgebärenden, bei denen 
der im Einzelfall charakteristische Verlauf früherer Schwanger- 
schaften, eine weitere schwere psychische Schädigung der 
Mutter bereits vorhandener Kinder mit ziemlicher Sicherheit 
annehmen lässt, werden wir nicht umhin können, das erst 
werdende Leben zu opfern, um den geistigen Bestand der 
Mutter zu retten, den bereits vorhandenen Kindern ihre. Für- 
sorgerin zu erhalten. | 

Die Chorea gravidarum , der Veitstanz der Schwangeren, 
tritt bei solchen Frauen, die früher einmal an Veitstanz ge- 
litten haben, aber auch ohne diese Vorvergangenheit in der 
überwiegenden Mehrzahl bei Erstgeschwängerten auf. Die 
. Haupterscheinungen der Krankheit bestehen in Muskelunruhe 
und Störungen des Gleichgewichtes der Bewegungen. Diese 
Erscheinungen können sich soweit steigern, dass die Kranken 
bei beabsichtigten Bewegungen oder sonst bei ganz gering- 
fügigen Anlässen von morgens bis abends hin- und herge- 
schleudert werden, so dass sie oft mit Gewalt bis zum Ein- 
tritt des Schlafes festgehalten werden müssen. Ich will sie 
nicht weiter mit der Aufzählung all der vorkommenden sonstigen 
Erscheinungen von seiten des Nervensystems aufhalten. Be- 
sonders bei gleichzeitigem Vorhandensein von sonstigen be- 
stehenden oder erworbenen körperlichen Krankheiten nimmt 
die Chorea einen so verhängnisvollen Verlauf, dass wir eine 
Sterblichkeitshóhe von 23,6% der Mütter zu beklagen haben, 
während die Zahl der totgeborenen oder mit der Mutter ge- 
storbenen Früchte gar die Höhe von 40,7% erreicht. Da die 
Erfahrung gelehrt hat, dass die Erkrankung so gut wie immer 
ihr Ende findet mit Ausstossung der Frucht, so ist in Anbe- 
tracht der hohen Gefahren für Mutter und Kind die Mehrzahl 
der Forscher der Meinung geworden, dass es angezeigt sei, 

6x* 


zun IB: a 


die Schwangerschaft zu unterbrechen, wenn die Krankheit trotz 
angewandter Mittel stärkere Grade erreicht, insbesondere wenn 
sie vergesellschaftet ist mit weiteren krankhaften Zuständen 
schwererer Form. Zu den schwersten dieser Art gehört der Aus- 
bruch einer eigentlichen Geisteskrankheit, einer melancholischen 
Depression, manischer Zustände, Delirien mit lebhaften Sinnes- 
täuschungen. 

Da in solchen Fällen die Aussichten, Mutter sowohl wie 
Kind ohne den Eingriff durchzubringen. auf ein Mindestmaß 
herabgedrückt sind, sehen wir uns genötigt, ihn vorzunehmen, 
so lange wir hoffen können, wenigstens das Leben der Mutter 
noch zu retten. 

Die seither angeführten Krankheiten sind, wenn man so 
will, Nervenkrankheiten, welche die Schwere des Verlaufes 
durch Schwangerschaft bedingt, in das Lager der Geisteskrank- 
heiten übergeführt hat. Für Geisteskrankheiten im eigentlichen 
Sinne ist das Recht zu dem in Rede stehenden Eingriffe nach 
den bisherigen Veröffentlichungen bislang nur für die Melan- 
cholie in Anspruch genommen worden und zwar von Jolly 
auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in 
Hamburg 1901.!) Jolly hatte solche Fälle von Melancholie 
im Auge, wie ich einem Berichte des Zentralblattes für Nerven- 
heilkunde und Psychiatrie entnehme, die sich bei neuropathischen 
Frauen in den ersten Monaten einer Schwangerschaft ent- 
wickeln, die in der Mehrzahl der Fälle günstig verlaufen, 
manchmal aber in delirante Erregung, selbst in delirium acu- 
tum übergehen können; er fügte hinzu, dass sich andererseits 
auch katatone Symptome hinzugesellen können. Als patho- 
genetisches Symptom von grosser Wichtigkeit führt er die 
Angst vor dem Verlauf der Schwangerschaft an. Er konnte berich- 
ten, dass in allen seinen Fällen Heilung eingetreten sei. Jolly 
sah einen Vorteil der Einleitung des Arbortes auch darin, dass 
die durch Selbstmordgefahr notwendig gemachte, aber häufig 
schwer durchzuführende Unterbringung in eine Anstalt über- 
flüssig gemacht wird, zumal die Anstaltsbehandlung die Mög- 
lichkeit des Selbstmordes auch nicht völlig ausschliesse und es 
immerhin möglich wäre, dass ohne Einleitung des Abortes die 


1) 1901.. S. 685. 


— 85 — 


Psychose sich weiter entwickelte zu einem Delirium acutum 
ader einer Demenz. Ganz neuerdings ist auch der Professor 
der Psychiatrie Pick in Prag für die Indikation Jollys ein- 
getreten. Der Erfolg in seinen Fällen scheint diesem ja auch 
Recht gegeben zu haben. Ich kann über eine Erfahrung, wie 
er, nicht verfügen, aber ich möchte doch betonen, eine gemüt- 
hche Verstimmung, auch bis an Lebensüberdruss reichend, für 
die Zeit der ersten Monate der Schwangerschaft liegt in den 
Grenzen des physiologischen Erlebens auch bei Frauen mit 
sonst ganz unversehrtem Gehirn, zumal wenn die Schwanger- 
schaften rasch hintereinander gefolgt sind. Wir werden also 
in der Stellung gerade dieser Indikation besonders vorsichtig 
sein müssen und sie auch in diesem Falle erst als erbracht an- 
sehen können, wenn wir alle anderen Heilmethoden vorher 
versucht haben. Zu den Heilmethoden dieses besonderen 
Falles gehört aber nun eben einmal, zumal bei selbstgefähr- 
lichen Kranken, die Irrenanstalt, die in neuzeitlichem Sinne 
eingerichtet, denn doch tatsächlich die Möglichkeit bieten dürfte, 
die Selbstmordgefahr auf das menschenmöglich niedrige Maß 
herabzudrücken. Ich meine dieses Mittel müsste unter allen 
Umständen benutzt werden, ehe wir uns zu einem so 
schwerwiegenden Eingriff verständen. Erst wenn die Be- 
obachtung in der Anstalt unsere Diagnose der Krankheit ge- 
festigt und gesichert und der Verlauf derselben weiterhin er- 
geben hat, dass eine andere Rettung für die Mutter nicht 
übrig bleibt, möchte ich mich berechtigt fühlen, eine Fehl- 
geburt einzuleiten. 

Dies sind im Ganzen die einzigen Indikationen, die ich 
für die Berechtigung zur Einleitung einer Fehlgeburt bei 
Geisteskrankheit der Mutter aufstellen und vertreten möchte. 
Bei der ganzen grossen Gruppe der im zeugungsfähigen Alter 
sich abspielenden Verblödungsprozesse, wird es ja wohl häufig 
genug der Fall sein, dass sich der psychische Zustand einer 
Frau, die in einem mehr oder weniger tief gehenden Nachlass 
ihrer Krankheit schwanger geworden ist, wesentlich ver- 
schlimmert, es wird auch ab und zu vorkommen, dass bei 
einem nicht rüstigen Gehirn die Schwangerschaft den letzten 
Anstoss zum Ausbruch einer solchen Krankheit gibt, aber wir 


Ls O. 


kónnen wohl kaum annehmen, dass in diesen Fállen der patho- 
logisch anatomische Vorgang, der im Gehirn abläuft, durch 
die Unterbrechung der Schwangerschaft irgendwie wesentlich 
beeinflusst wird. Die Geisteskrankheit ist in vielen solcher 
Fälle gewiss eine schwere Komplikation der Schwangerschaft, 
aber eine Gefahr für das Leben der Mutter liegt nur in den 
jedenfalls ausserordentlich seltenen Fällen vor, wo sich krank- 
hafte Triebhandlungen derselben gegen das werdende Kind 
richten. Nur in diesen wenigsten Fällen werden wir ein Recht 
haben, die Schwangerschaft zu unterbrechen. 

Der Widerstreit der verschiedensten Interessen, in den 
wir verwickelt werden, wenn die in Behandlung stehende Frage 
an uns herantritt, legt uns in jedem einzelnen Falle die Pflicht 
ganz besonderer Sorgfalt und Individualisierung auf, wir können 
deshalb nur dem Rate folgen, dem wir stets bei diesem Thoma 
begegnen, zu dieser ultima ratio nur zu schreiten, nach Be- 
ratung und Übereinstimmung mit einer Mehrzahl von Ärzten. 
Nicht zu versäumen wird fernerhin sein, dass wir uns der 
schriftlichen Zustimmung der gesetzlichen Vertreter der Mutter 
sowohl wie des Kindes versichern, geschieht doch der ärztliche 
Eingriff gegen ein Lebewesen, das keinen Willen hat und auch 
die Mutter befindet sich zur Zeit, in der der Eingriff an ihr 
vorgenommen werden soll, in einem Zustand, der ihre freie 
Willensbestimmung ausschliesst. 

Wir haben seither die Berechtigung zur Vernichtung des 
kindlichen Lebens bei Geisteskrankheit der Mutter lediglich 
behandelt mit Rücksicht auf die Mutter. Nicht so selten wird 
aber auch die Frage laut, ob es nicht berechtigt sei, den 
Keim eines Lebens zu ersticken, der zugleich der Keim sein 
soll all des Unglückes, das durch die hereditäre Belastung mit 
Geisteskrankheit über den Träger derselben und seine ganze 
Familie hereinzubrechen vermag, eines Unglückes, das, kurz 
gesagt, im weitesten Sinne die ganze Rasse, das ganze Volk in 
Mitleidenschaft zieht. Ich will hier nicht das ganze Thema 
der Degeneration durch Geisteskrankheit aufrollen, aber ich 
glaube doch, ehe wir eine derartig radikale Prophylaxe gegen 
den erst werdenden Träger einer zukünftigen Krankheit be- 
treiben können, werden wir uns erst mit einiger Sicherheit 


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darüber klar sein müssen, was wir von ihm zu erwarten haben, 
wenn er am Leben bleibt. Ginge es allgemein nach dem be- 
kannten Beispiel von Morel, bei dem von einem ursprünglich 
sehr begabten hypochondrischen, später geisteskrank ge- 
wordenen Vater und einer nervösen Mutter eine zweite Gene- 
ration von 10 Kindern stammt, von denen 3 in frühem Alter 
starben, 3 schwer nervös sind und vier geisteskrank werden, 
eine dritte Generation zum Teil bereits schon fehlt, von den 
17 vorhandenen Nachkommen nur 2 intelligent und normal 
sind, zwei exzentrisch und wunderlich, 5 in frühem Kindes- 
alter sterben und der Rest teils angeboren geisteskrank ist, 
teils in schwerer Geisteskrankheit endet, eine vierte Generation 
aber durchaus ausblieb, so wäre die Lage verhältnismäßig ein- 
fach. Wir hätten nur zu entscheiden, wollen wir die sich 
vollziehende Ausmerzung der Natur selbst überlassen, oder 
sollen wir dem Schaden vorbeugen, der während dieses Pro- 
zesses unsern Volkskörper hilft? Gewiss kommen derartige 
Beispiele vor, insbesondere für Trinkerfamilien sind sie zahl- 
reich beschrieben, sie sind der Schrecken jedes, der sie kennt, 
aber Regel sind sie keinesfalls. Wir finden diesen Vorgang 
nicht einmal in der überwiegenden Zahl von solchen, die 
das verderbendrohende Erbe von beider Eltern Seite anzu- 
treten haben. Bekanntlich schwächt sich das verhängnisvolle 
Agens bei Zufuhr frischen Blutes ab und kann sich ganz ver- 
lieren, es überspringt auch häufig eine Generation, um sich 
erst bei einer nächsten geltend zu machen. Die Verhältnis- 
zahlen der erblich Belasteten schwanken so in früheren Statis-. 
tiken zwischen 4 und 90%. Diese Zahlen zeigen die unverhält- 
nismäßigen grossen Unterschiede wegen der ganz verschieden weit 
angenommenen Fassung des Begriffes der Heredität und ausser- 
dem haftet ihnen noch der grosse Mangel an, dass sie nur die 
krank gewordene Descendenz berücksichtigen, die gesund ge- 
bliebenen Mitglieder derselben aber ganz ausser Acht lassen. 
In den Arbeiten nun der neueren Jahre, die kurzgesagt die 
ganze Ahnentafel berücksichtigen, z. B. die von Stroh- 
maier') von Jenny Kohler?) finden wir das auffallend 


1) Münchener medizin. Wochenschrift 1901. 
2) Archiv für Psychiatrie 1895. 


o RB: 


Ergebnis, dass gesunde und kranke Deszendenten Verhältnis- 
zahlen in gleicher oder annähernd gleicher Grösse haben, eine 
Beobachtung, die der Engländer Pearson bei der Vererbung 
messbarer körperlicher Verhältnisse ebenfalls gemacht hat. 
Solange wir über die Gesetze der Vererbung einer bestimmten 
Eigenschaft, das warum, wie, inwiefern im Einzelfalle, wir 
müssen das rubig zugeben, nichts, aber auch garnichts wissen, 
wird wohl Niemand den Mut finden, ein keimendes Leben zu 
vernichten, das so gut wie gleiche Aussicht hat, ein nützliches 
Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden, wie allerdings 
mit allen Begleiterscheinungen der Geisteskrankheit ihr zur 
Last zu fallen. Wollen wir, sowie die Dinge unserer heutigen 
Erkenntnis über die Vererbung von Geisteskrankheit stehen, 
etwas tun, um der zunehmenden Degeneration unserer Rasse 
durch Geisteskrankheit vorzubeugen, die schwere Schädigung, 
die unseren geistigen, sittlichen und. materiellen Wohlstand 
durch dieselbe trifft, zu mildern, so können wir hier heute 
wohl nicht mehr tun, als einerseits unseren Einfluss, soweit 
wir überhaupt einen solchen haben, dahin geltend zu machen, 
dass die Träger einer solchen Belastung tunlichst von der Hei- 
rat abgehalten werden, andererseits dem Vorschlage Schüles') 
folgend, die Kenntnisse unseres Wissens über die Gesetze der 
Vererbung soweit zu vertiefen suchen, dass wir das Material 
herbeischaffen, das vielleicht späteren Generationen ` möglich 
macht, das Heiraten derartiger in volkswirtschaftlichem Sinne 
dissocialer Elemente zu verbieten, eine Maßregel, die der Staat 
Michigan bereits getroffen hat. Für heute aber, das darf ich 
wiederholen, haben wir keinerlei Grundlage, die uns im Ernste 
einen Eingriff mit Rücksicht auf die erbliche Belastung mit 
Geisteskrankheit gegen ein einzelnes Individuum auch nur 
billig erscheinen lassen könnte. 


Ich habe Ihnen im Sinne des angeregten Themas wenig 
positives vorbringen können. Aber diese Frage ist für Jeden, 
den sie trifft, von bewegendster Bedeutung, stehen doch auf der 
einen Seite Gesetze, welche ein Bollwerk bilden sollen für die 


1) Über die Frage des Heiratens von früher Geisteskranken. Leipzig, 
Hirzel 1904. 


Erhaltung unseres Volkes in sittlicher Beziehung, wie in 
seinem Bestande, auf der anderen Seite ein Menschenleben auf 
den Spiele. So dürfte es immerhin ein Ergebnis sein, wenn wir 
nach den Verhandlungen, zu denen ich die Grundlage liefern 
wollte, gesicherter sein werden in dem Bewusstsein nicht nur 
dessen, was wir tun dürfen, sondern auch dessen, was wir zu 
lassen haben. 


Uber die Berechtigung zur Vernichtung 
des kindlichen Lebens im Falle einer Psychose 
der Mutter. 


Vortrag von 


R. Teichmann. 


Unter der Vernichtung des kindlichen Lebens, deren aus- 
nahmsweise Berechtigung im Falle einer Geisteskrankheit der 
Mutter den Gegenstand dieser Erörterung bildet, versteht die 
ärztliche Wissenschaft zunächst die Unterbrechung der Schwanger- 
schaft oder die Herbeiführung einer künstlichen Fehlgeburt, 
d. h. die Bewirkung des Austritts der Frucht aus dem Mutterleib 
in einem Zeitpunkt, in welchem die Frucht noch nicht im Stande 
ist, selbständig ausserhalb des Mutterleibes ihr Leben fortzuführen. 
Man setzt diesen Zeitpunkt für die Regel in die 28. Woche 
der Schwangerschaft. Nach diesem Zeitpunkt hofft der Arzt 
die Frucht am Leben erhalten zu können, indessen wird sich 
diese Hoffnung nicht immer erfüllen und es wird auch der Arzt 
zuweilen damit rechnen müssen, dass die Frucht bei verfrühtem 
Austritt zu Grunde geht; insofern gehören auch diese Fälle 
wenigstens möglicherweise hierher. Sicher gehört wieder hierher 
die Tötung der Frucht während des Geburtsaktes, also die Per- 
foration und ähnliche Operationen in denjenigen Fällen, ın 
welchen die Leibesfrucht noch am Leben ist und mit der Mög- 
lichkeit einer lebenden Leibesfrucht gerechnet werden muss. 

In die Sprache des Strafrechts übersetzt fallen unter die 
Kategorie der Vernichtung des kindlichen Lebens einmal die 
Abtreibung i. S. der $$ 218—220 St. G. B. und sodann Hand- 
lungen, welche die vorsätzliche Tötung des schon in der Geburt 
begriffenen Kindes in sich schliessen. 


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In dem Falle einer Geisteskrankheit der Mutter kommt nun 
von diesen verschiedenen Fällen der Vernichtung des kindlichen 
Lebens praktisch die Unterbrechung der Schwangerschaft, also 
juristisch gesprochen, die Abtreibung ausschliesslich in Betracht. 
Dementsprechend hat auch der Herr Vorredner die Fälle einer 
verhältnismäßig frühzeitigen Schwangerschaft, mithin lauter 
Abtreibungsfälle, ins Auge gefasst. Für die juristische Be- 
trachtung bietet indessen der Fall der Geisteskrankheit der 
Mutter nicht so viel Besonderes, als dass ich nicht im Laufe 
meiner Ausführungen genötigt wäre, auf dasallgemeinere Problem 
einer Bedrohung des mütterlichen Organismus durch die Schwan- 
gerschaft zurückzugreifen und so werden meine Ausführungen 
zu einem grossen Teile auch Fälle der Tötung des Kindes in 
der Geburt zum Gegenstande haben müssen. 

Wie Sie den Ausführungen des Herrn Vorredners entnommen 
haben, lässt sich der Frage nach der Berechtigung einer Ver- . 
nichtung des kindlichen Lebens mit besonderer Rücksicht auf 
eine bei der Mutter vorhandene Geisteskrankheit eine doppelte 
Bedeutung beilegen. Am nächsten liegt die Frage, ob und 
unter welchen Voraussetzungen zu der Vernichtung des kind- 
lichen Lebens im Interesse der geisteskranken Mutter geschritten 
werden darf, d. h. in der Absicht, die Gesundheit der Mutter 
wiederherzustellen oder zu bessern oder die Mutter wenigstens 
vor drohenden weiteren Fortschritten der Krankheit, etwa vor 
einem drohenden Verblödungsprozesse, zu bewahren. Es lässt 
sich aber auch die-Frage aufwerfen: darf zu der Vernichtung 
des kindlichen Lebens auch geschritten werden ohne Rücksicht 
auf solche gebieterische Interessen der Mutter? Man wird un- 
willkürlich durch den Gegensatz dazu gedrängt zu sagen: im 
Interesse des Kindes! Man denkt hierbei daran, dass ange- 
sichts der Geisteskrankheit der Mutter das Kind doch zum 
Mindesten erblich belastet sein wird und dass ihm vielleicht 
ein ganzes in der Nacht einer schweren Psychose zuzubringendes 
Leben in Aussicht steht. Nun überzeugt man sich aber sofort, 
dass es nicht angeht, dem Interesse der Mutter hier dasjenige 
des Kindes gegeniiberzustellen. Das Interesse des Kindes kann 
es niemals erfordern, dass das eigene Leben des Kindes schon 
im Mutterleibe vernichtet wird. Nur das Pathos der Leiden- 


zu 709: ee 


schaft konnte die Dichter zu dem Worte bringen: dass niemals 
geboren zu werden das Beste wäre. Der wirkliche Gegensatz 
zu dem Falle, dass das Interesse der Mutter die Vernichtung 
des kindlichen Lebens fordert, könnte also nur gefunden werden 
in dem allgemeinen Interesse der menschlichen Gesellschaft, 
das dahin geht, nicht mit erblich belasteten oder geistig er- 
krankten Individuen belastet zu werden, als in einem anthro- 
pologischen, rassehygienischen, soziologischen Interesse oder 
wie man sich sonst ausdrücken will. | 

Es ist verständlich, dass die beiden Fälle für den ärztlichen 
Betrachter nahe bei einander liegen. In dem einen wie in dem 
andern Falle soll die nämliche Voraussetzung, eine Geistes- 
krankheit der Mutter die Veranlassung zu dem nämlichen ärzt- 
lichen Eingriff, der Vernichtung des kindlichen Lebens, abgeben. 
In der ärztlichen Erfahrung kommen ja, wie allgemein bekannt 
und auch von dem Herrn Vorredner an einem Beispiel dar- 
gelegt worden ist, so krasse Fälle erblicher geistiger Erkrankung 
vor, dass dem Arzte der Gedanke, aus Gründen der zweiten 
Art eine Schwangerschaft zu unterbrechen, von Hause aus 
näher liegen wird; und es wird wohl auch das nicht ausbleiben, 
dass unter entsprechenden Voraussetzungen von dritter Seite 
aus dem Arzt der Vorschlag einer Unterbrechung der Schwanger- 
schaft nahe gelegt wird. Trotzdem muss auch der Arzt nicht 
notwendig zu dem Ergebnis kommen, die Unterbrechung der 
Schwangerschaft aus Gründen der zweiten Art für erlaubt zu 
halten — auch der Herr Vorredner hat die Befugnis zur Ver- 
pichtung kindlichen Lebens aus rassehygienischen Gründen vom 
ärztlichen Standpunkt aus durchaus verneint. 


Für den Juristen sind die beiden Fragen keineswegs Ab- 
zweigungen aus demselben Problem. Sie sind vielmehr voll- 
ständig verschieden, vollständig getrennt, sie haben gar nichts 
miteinander zu tun. Ob es ärztlich, sittlich, strafrechtlich ge- 
stattet ist, das Leben des Kindes zu opfern, um das Leben 
oder die Gesundheit der Mutter zu retten, diese Frage hat seit 
Jahrhunderten die Geister der Ärzte und der Juristen, aber 
auch der Theologen und Philosophen in fortgesetzter Bewegung 
gehalten und das Ergebnis dieser Bewegung ist, dass heutzu- 
tage wenigstens die beiden nächstberufenen, die Ärzte und die 


=> 08 uu 


Juristen übereinstimmend den in Rede stehenden Angriff grund- 
sätzlich für zulässig halten. Von diesem allgemeinen Problem 
ist die Psychose der Mutter nur ein besonderer Anwendungs- 
fall. Die Behauptung dagegen, dass es aus rassehygienischen 
Gründen gestattet sei, kindliche Existenzen noch im mütterlichen 
Leib zu vernichten, ist in dieser Allgemeinheit bisher meines 
Wissens noch fiemals aufgestellt worden. Nur vereinzelte 
Schriftsteller haben sich gelegentlich unter dem Eindruck irgend 
eines besonders krassen Falles in solchen Gedankengängen 
bewegt. | Ä 

In alten Zeiten haben gewisse Völker, wie die Spartaner 
und. die Germanen dem Vater, der Familie oder der Obrigkeit 
das Recht verliehen, das neugeborene Kind auszusetzen oder 
zu töten, wenn es nicht kräftig genug erschien. Aber selbst 
diese Völker sind nicht so weit gegangen, wie es hier vorge- 
schlagen wird, sie haben wenigstens das Kind erst zur Welt 
kommen lassen, es in Augenschein genommen und dann darüber 
befunden, ob das Kind am Leben zu belassen oder zu beseitigen 
sel. Vom Stundpunkt des heute im deutschen Reich und wohl 
in allen Kulturnationen geltenden Strafrechts aus ist die hier 
in Rede stehende Massregel jedenfalls schlechthin unerlaubt 
und als Verbrechen zu bestrafen. In Deutschland fällt die 
Vernichtung des kindlichen, des sog. keimenden Lebens unter 
die $$ 218 bis 220 des Strafgesetzbuchs und ein im Rechte 
anerkannter Schuld- oder Strafausschliessungsgrund steht dem- 
jenigen nicht zur Seite, der eine Leibesfrucht vernichtet, um 
die menschliche Gesellschaft vor der Belastung mit einem 
nicht einwandsfreien Individuum zu bewahren. 

Die Verteidiger jener Maßregel müssten also eine Ände- 
rung der Gesetzgebung in ihrem Sinne verlangen. Auch damit. 
werden sie, fürchte ich, kein Glück haben. Die heutigen sitt- 
lichen Anschauungen sind für eine solch vorgeschrittene ratio- 
nelle Politik gewiss nicht reif. Wie ich später zu zeigen 
haben werde, halten wir den Schutz des keimenden Lebens 
für ein sittliches Gebot, ein Gebot, das an Stärke hinter dem 
Schutze des vollentwickelten Menschenlebens um etwas zurück- 
steht, wie sich schon äusserlich aus der Höhe der Strafandroh- 
ungen ergibt, das aber im übrigen um seiner selbst willen den 


— 9 — 


Schutz des Rechtes geniesst. Ist der Schutz des keimenden 
Lebens ein sittliches Gebot, so kann eine Verletzung dieses 
Gebots aus rassehygienischen Gründen ebensowenig gerecht- 
fertigt sein als ein Eingriff in das Leben oder die Gesundheit 
des voll entwickelten Menschen es ist. 


Auch bei der Durchführung ihres gesetzgeberischen Ge- 
dankens würden die Anhänger jener vorgeschrittenen Theorie 
auf nicht wenig Schwierigkeiten stossen. Um folgerichtig zu 
sein, müssten sie den Schutz der Rasse oder der Gesellschaft 
auch entgegen dem privaten Willen der nächstberufenen Be- 
teiligten durchschlagend sein lassen, d. h. sie müssten die 
Leibesfrucht, deren erbliche Belastung zu befürchten ist, auch 
gegen den Widerspruch der Mutter oder des etwaigen ehe- 
lichen Vaters vernichten. Sie müssten also im Notfall an der 
widerstrebenden und noch dazu kranken Schwangeren den 
Eingriff vornehmen. Auch die Gegner werden sich dem nicht 
verschliessen können, dass dieses Ergebnis mit den heutigen 
sittlichen und rechtlichen Anschauungen nicht vereinbar ist. 
Weiter würde der Vorschlag der extremen Rassehygieniker zu 
gefährlichen weiteren Folgen führen. Warum soll nur die 
Psychose der Mutter und die zu erwartende Belastung des 
Kindes mit der Anlage zu geistiger Erkrankung den Recht- 
fertigungsgrund für die Vernichtung des kindlichen Lebens ab- 
geben? Auch andere Erkrankungen sind in der Anlage ver- 
erblich und in ihren Wirkungen nicht weniger gefährlich für 
den Einzelnen wie für die Gesellschaft und die Rasse. Bereits 
haben die Schriftsteller, welche gelegentlich solchen Gedanken- 
gängen gefolgt sind, neben der Psychose auch die Phthise und 
die Syphilis genannt und es werden sich wohl noch andere 
Krankheiten finden lassen, welche das nämliche Ergebnis recht- 
fertigen würden. Warum endlich soll der gesetzgeberische 
Vorschlag auf Krankheiten des Körpers oder des Geistes be- 
schränkt werden? Auch abgesehen von Krankheitsfällen gibt 
es soziale Milieus, welche für den Nachwuchs nichts Günstiges 
erhoffen lassen. Gewohnheitsverbrecher, Gewohnheitstrinker 
werden gleichfalls schlechte Erzieher ihrer Kinder sein. Ins- 
besondere der Nachwuchs einer alkoholistischen Mutter ist so 


— 95 — 


gefährdet, dass von dem hier bekämpften Standpunkt aus die 
mehrgenannte Maßregel gleichfalls in Frage kommen müsste. 
Ich glaube damit diesen einen Teil meines Gegenstandes 
abschliessen zu können. Dass im Falle einer Geisteskrankheit 
der Mutter das kindliche Leben auch aus andern Gründen 
preisgegeben werden dürfe als zu dem Zweck der Heilung 
oder Besserung der Mutter, diese Behauptung ist von dem 
Standpunkt des geltenden Rechts aus nicht richtig, vom Stand- 
punkt des zukünftigen Gesetzgebers aus nicht annehmbar. 
= Iich darf nun zu der Frage übergehen: ob und unter 
welchen Voraussetzungen das Interesse der Mutter die Preis- 
gebung des kindlichen Lebens rechtfertigt. Schon der Herr 
Vorredner hat Ihnen den Wortlaut der $$ 218 bis 220 St. G. B. 
in Erinnerung zurückgerufen. Zur Klarstellung des Sach- 
standes glaube aber auch ich mit einigen Worten auf den In- 
halt des heute in Deutschland geltenden Rechtes eingehen 
zu sollen. Das Strafgesetzbuch gewährt dem kindlichen oder 
keimenden Leben, dem empfangenen aber noch nicht geborenen 
menschlichen Organismus einen besonderen strafrechtlichen 
Schutz. Die Materie ist geordnet in demjenigen Abschnitt des 
Strafgesetzbuchs, welcher die Überschrift trägt: Verbrechen 
und Vergehen wider das Leben. Die dort mit Strafe bedrohte 
Tat pflegen wir als Abtreibung der Leibesfrucht zu bezeichnen. 
Der Gesetzgeber zerlegt die äussere Handlung in zwei sprach- 
liche Bezeichnungen. Er bedroht mit Strafe denjenigen, der 
die Leibesfrucht einer schwangeren Frauensperson vorsätzlich 
abtreibt oder im Mutterleibe tötet. Nach der herrschenden 
und zweifellos richtigen Meinung haben aber beide Bezeich- 
nungen eine und dieselbe Tat im Auge. Sie ergeben zusammen- 
gehalten den allgemeinen übergeordneten Begriff: wer die 
Leibesfrucht einer Schwangeren vorsätzlich tötet, sei es durch 
vorzeitige Herbeiführung des Abgangs der Frucht aus dem 
Mutterleib, sei es auf andere Weise. Vereinzelt haben ältere 
Rechtslehrer eine abweichende Meinung vertreten, nämlich 
gelehrt: die vorzeitige Herbeiführung des Abgangs der Frucht 
aus dem Mutterleibe sei schon als solche, mithin auch dann 
strafbar, wenn der Täter nicht von der Absicht der Tötung 
der Frucht, sondern etwa von der Absicht geleitet war, die 


za 66 == 


Geburt nur zu verfrühen, z. B. um das Kind noch als ein ehe- 
liches erscheinen zu lassen. Diese Meinung ist heutzutage 
allgemein verworfen, jedenfalls scheidet sie für den Gegen- 
stand der heutigen Betrachtung aus. Denn heute soll ja aus- 
schliesslich von solchen Eingriffen die Rede sein, welche die 
Vernichtung des kindlichen Lebens bezwecken. 

Über die äussere Seite der Tat spricht sich das Strafgesetz- 
buch nicht weiter aus. Es unterscheidet nur nach der Seite 
der Täterschaft.e. Der Schwangeren selbst, die ihre Frucht 
vorsätzlich abtreibt, stellt es in der Bestrafung denjenigen 
gleich, welcher der Schwangeren mit ihrer Einwilligung die 
Mittel zu der Abtreibung beigebracht oder bei ihr angewendet 
hat, $ 218. Strenger bedroht es denjenigen, welcher gegen 
Entgelt die Mittel bei der Schwangeren angewendet, ihr bei- 
gebracht oder auch nur ihr verschafft hat, § 219. Besonders 
strenge endlich bedroht es denjenigen Dritten, welcher ohne 
Wissen und Willen der Schwangeren deren Leibesfrucht vor- 
sätzlich abgetrieben hat, $ 220. 

Die Unterscheidung zwischen den Fällen der $$ 218 und 
219 einerseits und denjenigen des $ 220 andererseits ist ihrem 
Grunde nach wohl verständlich. Die Abtreibungshandlung ist 
‚neben ihrer Wirkung auf die Frucht geeignet, das Leben der 
Mutter zu ‘gefährden, oder doch ihre Gesundheit erheblich zu 
schädigen. Wer die Abtreibungshandlung ohne Wissen und 
Willen der Mutter vornimmt, begeht zugleich eine Körperver- 
letzung zum Nachteil der Mutter. Hieran darf ich eine rechts- 
geschichtliche Bemerkung anknüpfen. In allen Rechten, welche 
gegen vorsätzliche und widerrechtliche Körperverletzungen 
strafrechtlichen Schutz gewährten, war auch die Leibesfrucht 
insoweit mitgeschützt, als strafrechtliche Körperverletzungen 
zum Nachteil der Mutter mit Angriffen auf die Leibesfrucht 
tatsächlich zusammenfielen. So stand nach römischem Recht 
der Schwangeren, welcher zu dem Zweck oder mit der Wir- 
kung der Tötung der Frucht körperliche Verletzungen zuge- 
fügt wurden, die actio injuriarum oder die actio legis aquiliae 
zu, und ebenso haben die älteren Deutschen Volksrechte Ab- 
treibungshandlungen insoferne und nur insoferne bestraft, als 
eine Körperverletzung der Mutter vorlag. 


— 97 — 


Die Unterscheidung, ob Abtreibung mit Wissen und Willen 
der Mutter oder ohne ihr Einverständnis, ist die einzige in 
unserem Strafrecht sich findende Unterscheidung von einiger 
grundsätzlicher Bedeutung. Der übrige Inhalt der 88 218—220 
ist, wenn ich so sagen darf, mehr kriminalistisch-technischer 
Natur und bedarf für heute keiner weiteren Darlegung. 

Es ist nun lehrreich, das geltende Recht auch daraufhin 
sich anzusehen, welche Unterscheidungen es nicht enthält. Die 
Ausserachtlassung von Unterscheidungen, welche begrifflich 
denkbar sind oder historisch schon gegeben waren, gestattet 
Rückschlüsse auf den leitenden Grundgedanken des geltenden 
Rechts. 

Das geltende Recht legt keinerlei Gewicht darauf, aus was 
für einer Beiwohnung die Schwangerschaft entspringt. Es 
unterscheidet nicht, ob die Schwangerschaft eine eheliche oder 
eine uneheliche ist, oder ob sie endlich eine verbrecherische 
ist, insbesondere ob sie zurückgeht auf eine an der Schwangeren 
verübte strafbare Handlung, auf ein Notzuchtsverbrechen, auf 
Verführung, auf Missbrauch einer Geisteskranken, auf Miss- 
brauch eines Autoritätsverhältnisses. Unleugbar sind zwischen 
diesen Fällen gewisse Unterschiede vorhanden. Von einer auf 
verbrecherische Weise missbrauchten Frauensperson verlangt 
das Gesetz viel, wenn es ihr zumutet, die Folgen der vom 
Gesetz verpönten Handlung bis zum Ende auszukosten. Es 
ist erklärlich, dass für diese Fälle Straffreiheit der Abtreibung 
allgemein oder doch für das Anfangsstadium der Schwanger- 
schaft gefordert worden ist. Aber das geltende Recht ge- 
stattet der missbrauchten Frauensperson nicht, sich selbst von 
den Folgen des Verbrechens zu befreien, es verweist die Be- 
rücksichtigung solcher Fälle lediglich in die Strafzumessung. 
— Der Unterschied zwischen ehelicher und ausserehelicher 
Schwangerschaft ist ein praktischer, aber ein ebenso rechtlicher. 
Durch die Abtreibung einer Leibesfrucht, welcher für den Fall 
der Geburt die Rechtstellung eines ehelichen Kindes zuge- 
kommen wäre, wird in die Rechtssphäre des Ehemannes ein- 
gegriffen. Dieser Fall hat in alter Zeit eine bedeutende Rolle 
gespielt. Die Erzeugung ehelicher Kinder hat das römische 
Recht als einen Hauptzweck des Instituts der Ehe angesehen. 

7 


— 98 — 


Die Beeinträchtigung oder Vereitelung der Anwartschaft des 


Ehemannes auf eheliche Nachkommen war — abgesehen von 
dem schon erwáhnten Falle einer an der Schwangeren ver- 
übten Körperverletzung — der einzige Fall, in welchem das 


römische Recht nachweislich die Abtreibung der Leibesfrucht 
bestrafte. In allen Stellen der römischen Rechtsquellen, welche 
die Abtreibung behandeln, erscheint als Subjekt der Straftat, 
als Täterin, stets eine Ehefrau und als treibender Beweggrund 
wird wenigstens sehr häufig neben der weiblichen Eitelkeit 
das odium mariti genannt, eine Gemütsverfassung, welche da- 
mals sehr verbreitet gewesen zu sein scheint. Dagegen ist, 
und das ist bemerkenswert, eine Bestrafung der Abtreibung 
unehelicher Früchte für das römische Recht keinesfalls nach- 
gewiesen und wohl auch nicht anzunehmen. 

Unser geltendes Recht unterscheidet auch nicht nach dem 
Alter oder der Entwicklungsstufe des Fötus. Auch hierin 
haben sich frühere Rechte anders verhalten und ist eine 
andere Auffassung denkbar und de lege ferenda vorgeschlagen 
worden. Für das natürliche Empfinden lässt es sich nicht 
von der Hand weisen, dass die Vernichtung einer Leibesfrucht 
weit milder anzusehen ist, wenn die Frucht in den ersten 
Wochen oder Monaten ihrer Entwicklung sich befindet, als 
wenn die Frucht nahezu ausgetragen ist und schon Spuren 
von Leben zeigt, soweit solche innerhalb des mütterlichen 
Körpers möglich sind (Eintritt der Kindsbewegungen). Ein 
neuerer Gelehrter ist der Meinung, die Zeit sei nicht mehr 
fern, in der man die Abtreibung der Leibesfrucht nicht mehr 
bestrafen werde und im Anschluss an diese Meinung fährt 
er fort: 
„wenn man wüsste, wo die Grenze zu stecken sei, 

d. h. bis zu welchem Zeitpunkt von der Empfängnis an 

gerechnet die Straflosigkeit bewilligt sein sollte, so wäre 

diese Auffassung noch viel näher“ (Gross, im Archiv 

für Kriminalanthropologie, Bd. 12, S. 345). 

Eine Zeitgrenze in Ansehung der Strafbarkeit der Abtrei- 
bung war dem kanonischen Recht bekannt. Allerdings hat 
sich dieses Recht weder von gesetzgeberischen, noch von 
rechtswissenschaftlichen Erwägungen leiten lassen. Es ist die 


zs 000 = 


Lehre von der Empsychose, die hier hereinspielt. Auf Grund 
einer Stelle des alten Testaments nahm man an, dass der 
Fötus männlichen Geschlechts mit dem vierzigsten‘, derjenige 
weiblichen Geschlechts mit dem achtzigsten Tage nach der 
- Empfängnis beseelt werde; „anima maribus citius infunditur 
quam feminis“, bemerkt die Glosse. Das kanonische Recht 
hat nun die Tötung des beseelten Fötus durchweg der Tötung 
des lebenden Menschen gleichgestellt und als Homicidium, als 
Mord, bestraft. Diesen Standpunkt hat auch die peinliche Ge- 
richtsordnung Karls V., die Karolina, sich zu eigen gemacht, 
in welcher insbesondere auch ganz dieselben Strafarten auf 
die Abtreibung, wie auf den Kindesmord angedroht waren. 
Auch das gemeine deutsche Strafrecht hat diesen Standpunkt 
beibehalten, nur das vielfach als Zeitgrenze für die Strafbar- 
keit der Abtreibung nicht die Beseelung des Fötus, sondern 
der Eintritt der Kindsbewegungen angesehen wurde. Es ist 
nicht anzunehmen, dass für diese Abweichung wissenschaft- 
liche Erwägungen maßgebend waren; ich bin eher geneigt, zu 
glauben, dass rein praktische Erwägungen gegenüber der weit- 
gehenden Strenge des kanonischen Rechts spontan sich durch- 
gesetzt haben. In der neueren Rechtsentwicklung, so in den 
verschiedenen deutschen Landesstrafgesetzbüchern, ist die zeit- 
liche Schranke zwischen strafloser und strafbarer Abtreibung 
in Wegfall gekommen und zwar durch den Einfluss der ärzt- 
lichen Wissenschaft, welche zu der Erkenntnis durchgedrungen 
war, dass die Entwicklung des Fötus im Mutterleib eine un- 
unterbrochen organisch fortschreitende, einheitliche sei und 
die Zerlegung in verschiedene Abstufungen der Entwicklung 
zum Leben nicht zulasse. Es ist bemerkenswert, dass hier 
‘der Einfluss der ärztlichen Wissenschaft nicht, wie sonst 
meistens, eine Abschwächung, sondern umgekehrt eine Ver- 
schärfung der strafrechtlichen Bestimmungen zur Folge gehabt 
hat. Von der Beseitigung der zeitlichen Grenze abgesehen, 
stehen aber auch die neueren Landesrechte, steht insbesondere 
das preussische Strafgesetzbuch und aus ihm unmittelbar fol- 
gend das geltende Deutsche Reichsstrafgesetzbuch auf dem- 
jenigen Boden, den das kanonische Recht in die geschichtliche 
Entwicklung eingeführt hat. 
VES 


— 100 — 


Diesen dogmatischen und geschichtlichen Überblick glaubte 
ich voranschicken zu sollen, weil durch dessen Ergebnisse 
meines Erachtens folgendes Ergebnis ausser Zweifel gestellt 
ist. Nach der geschichtlichen Entwicklung, der dogmatischen 
Ausgestaltung, nach der Stellung im Strafgesetzbuch und nach 
dem Wortlaute des Gesetzes ist das Objekt der Straftaten der 
88 218 bis 220 des St. G. B. die menschliche Leibesfrucht 
schlechthin, ist Zweck der Strafbestimmungen der Schutz dieser 
Leibesfrucht um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht darauf, ob 
etwa gleichzeitig in fremde Rechte eingegriffen wird. Das 
Strafgesetzbuch schützt wie das voll entwickelte, so auch das 
keimende Leben; und dieser Schutz des bloss keimenden 
Lebens entspricht, wie wir annehmen dürfen, durchaus den 
ethischen Anforderungen und Anschauungen unserer Zeit und 
unseres Volkes. Diese grundsätzliche Auffassung ist auch in 
der Litteratur die durchaus überwiegende. Sie wird zwar von 
einzelnen unter Berufung darauf angefochten, dass der Fötus 
kein Mensch sei und dass insbesondere auch das B. G. B. das 
Leben des Menschen erst mit der Vollendung der Geburt be- 
ginnen lasse. Das beweist meines Erachtens zu viel, denn 
eine Unterscheidung zwischen dem voll entwickelten und dem . 
bloss keimenden Leben ist ja dem Strafgesetzbuch selbst nach 
seiner äusseren Anordnung und insbesondere auch nach der 
Höhe der Strafandrohung zu entnehmen. Übrigens glaube ich 
nicht, an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit ab- 
weichenden Auffassungen mich weiter einlassen zu sollen, weil 
dies vom Gegenstand zu weit abführen würde, ich möchte 
vielmehr davon ausgehen, dass der Schutz des keimenden 
Lebens um seiner selbst willen der Grundgedanke des deut- 
schen Strafrechts ist und dass diesem Grundgedanken die Ent- 
scheidung entnommen werden muss für die Frage: 

unter welchen Voraussetzungen ist die Tötung einer 

Leibesfrucht im Mutterleibe ausnahmsweise erlaubt? ist 

die Tötung insbesondere dann erlaubt, wenn eine bei 

der Mutter ausgebrochene Geisteskrankheit nach ärzt- 
lichem Gutachten sie erfordert? 

In der Behandlung dieser Frage ist die rechtswissenschaft- 
liche Literatur hinter der medizinischen Literatur einigermaßen 


— 101 — 


zurückgeblieben. Im Anschlusse an die letztere hat jene die 
Perforationsfrage und die mit dieser unmittelbar zusammen- 
hängenden Probleme behandelt, selbständig aber hat sie sich 
mit der Frage im besonderen weniger befasst. Die juristische 
Literatur anerkennt auch, soweit ich sie zu übersehen vermag, 
keine bestimmten einzelnen Ausnahmen, wie solche de lege 
ferenda z. B. für die Fälle verbrecherischer Schwängerung 
oder auch für unehelich Geschwängerte schon gefordert 
worden sind. Dagegen anerkennt die juristische Literatur 
neuerdings im grossen und ganzen als berechtigte Ausnahmen 
von dem Verbot der Abtreibung diejenigen Fälle, in welchen 
der Arzt mit Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Mutter 
die Unterbrechung der Schwangerschaft für geboten erklärt. 
Aber es ist die juristische Literatur weder in Bezug auf die 
grundsätzliche Rechtfertigung noch insbesondere auf die Ab- 
grenzung der einzelnen Fälle zu einem abschliessenden und 
anerkannten Ergebnisse gelangt. 


Für die grundsätzliche Rechtfertigung der gedachten, in 
der Praxis anerkannten Ausnahme sind wir auf die allgemeinen 
Schuld- und Strafausschliessungsgründe verwiesen. Von diesen 
kommen nach der Lage der Sache ausschliesslich in Betracht: 
der Notstand und das sogenannte ärztliche Berufsrecht. 


Für das positive heute geltende Recht ist nun der Schuld- 
ausschliessungsgrund des Notstandes keineswegs ausreichend, 
dazu sind seine Voraussetzungen nach der Ausgestaltung, 
welche der Notstand im geltenden Strafgesetzbuch gefunden 
hat, zu enge begrenzt. Da die Abtreibung in erster Linie an 
der Schwangeren selbst bestraft wird, so kann sich die 
Schwangere zur Rechtfertigung einer Abtreibung auf diejenigen 
gegenwärtigen Gefahren für Leib und Leben nicht berufen, 
welche mit dem Zustande der Schwangerschaft und mit der 
Entbindung an sich schon verbunden sind. Den Arzt vollends 
würde der Notstandsparagraph nur in denjenigen Fällen decken, 
in welchen die Schwangere seine Angehörige ist. Man hat 
schon daran gedacht, den Arzt lediglich als Werkzeug der ge- 
fährdeten Schwangeren anzusehen, allein diese Auffassung steht 
mit den allgemeinen strafrechtlichen Begriffen von Täterschaft, 


— 102 — 


Teilnahme und Verantwortlichkeit in Widerspruch und wird 
deshalb in der Literatur ziemlich allgemein verworfen. 


So scheint es angezeigt, die Lósung der Frage aus der 
eigenartigen Stellung des Arztes abzuleiten. Auf dem Boden 
des ärztlichen Berufsrechts ist das Problem erwachsen, dort 
muss es, so sollte man meinen, auch gelöst werden können. 


Sie haben nun bereits den Ausführungen des Herrn Vor- 
redners entnommen, dass die Frage nach den berechtigten 
Indikationen für die Unterbrechung der Schwangerschaft unter 
den Ärzten selbst und vom ärztlichen Standpunkt aus keines- 
wegs unbestritten ist. Auch die ärztliche Literatur bezeugt 
dies. Prof. Dr. Valenta in Laibach beginnt die von dem 
Herrn Vorredner erwähnte, im Jahre 1895 erschienene Ab- 
handlung mit dem Satze: 


„Das Kapitel, „künstliche Fehl- und Frühgeburt“ ist 
noch lange nicht abgeschlossen. Die einen halten sich 
zu diesem Eingriff berechtigt, aus allen möglichen und 
unmöglichen Gründen, während andere in neuester Zeit 
nicht einmal die absoluteste Indikation hierzu, hochgradige 
_Beckenenge, gelten lassen wollen.“ 


Auch wenn man hier die Worte nicht auf die Goldwage 
legt, wird man dieser Äusserung doch so viel entnehmen 
dürfen, dass in der Tat zuweilen bei nicht ganz ausreichender 
ärztlicher Indikation, jedenfalls bei nicht allgemein anerkannter 
Indikation zu der Unterbrechung der Schwangerschaft ge- 
schritten wird. Dies ist um so misslicher, als es sich um 
Maßnahmen der ärztlichen Kunst handelt, die nun einmal im 
Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt sind. Die ärztliche Lite- 
ratur verkennt das auch nicht. Von alters her wird in der 
ärztlichen Literatur dem ärztlich erlaubten oder gebotenen 
Abort der kriminelle Abort gegenübergestellt und der eine 
oder andere ärztliche Schriftsteller, der vom Standpunkt seiner 
eigenen Wissenschaft aus ein Gegner der künstlichen Fehl- 
geburt ist, glaubt seinen Darlegungen noch eine besondere 
Stütze dadurch geben zu können, dass er auf das strafgesetz- 
liche Verbot der Handlung hinweist. Was soll nun den krimi- 
nellen Abort von dem medizinisch gebotenen und darum er- 


— 103 — 


laubten unterscheiden? Die persönliche Eigenschaft des Arztes 
als solchen genügt für diese Unterscheidung jedenfalls nicht, 
sonst würde die blosse Ausübung des ärztlichen Berufs ein 
Privilegium der Straffreiheit in sich schliessen, ein Privilegium, 
das weder tatsächlich vorhanden ist, noch auch nur von den 
Ärzten selbst verlangt wird. Die ärztliche Praxis scheint sich 
darauf zu verlassen, dass sie den Unterschied zwischen dem 
erlaubten und dem kriminellen Abort in der Praxis mit dem 
gesunden Blick des unbefangenen Beurteilers schon zu treffen 
weiss. Ein französischer Schriftsteller aus der ersten Zeit des 
vorigen Jahrhunderts, Dubois, sagt: 

„Das von unserem Strafgesetzbuch vorgesehene und 
bestrafte Abortieren ist das kriminelle, eine geheime 
Handlung, strafbar selbst in dem Gedanken des Voll- 
ziehers und derjenigen, die sie nachsucht und an sich 
vollziehen lässt. Der künstliche Abortus hingegen ist 
eine bei hellem Tage mit der Absicht, eine der be- 
troffenen Existenzen zu retten, vollzogene Operation, 
welche weder das Gewissen des Vollziehers, noch der ihr 
sich unterziehenden Frau verletzen kann.“ 

Wie man sieht, ist dies mehr eine Beschreibung und zum 
Teil bildliche Umschreibung des Gegensatzes als eine scharfe 
begriffliche Abgrenzung. Aber auch andere ärztliche Schrift- 
steller gehen davon aus, dass der kriminelle und der ärztliche 
Abortus Gegensätze seien, die sich nun einfach im Leben ein- 
mal vorfinden, die man aber bei einiger Aufmerksamkeit ohne 
weiteres werde auseinanderhalten können. In der Tat erscheint 
es auf den ersten Blick für den Arzt einfach den kriminellen 
von dem ärztlich erlaubten Abortus zu unterscheiden. Die 
künstliche Fehlgeburt ist erlaubt, wenn eine ärztliche Indi- 
kation dafür gegeben ist, sie ist unerlaubt und strafbar, wo 
keine Indikation vorliegt. Allein, wie heute schon des Öfteren 
berührt wurde, ist die ärztliche Wissenschaft darüber keines- 
wegs einig, wann eine künstliche Fehlgeburt angezeigt oder 
unvermeidlich notwendig ist; und es ist nun doch eine miss- 
liche Sache, wenn dieser rein medizinisch - wissenschaftliche 
Streit mit dem fatalen Hintergrunde geführt wird, dass, wer 
in der Annahme einer solchen Indikation zu weit geht, dem 


— 104 — 


Verdacht sich aussetzt, dass er strafbare Handlungen begiin- 
stige oder hervorrufe. Man kann sich aber auch des Ein- : 
drucks nicht erwehren, dass der Streit iiber die ausreichende 
Indikation im ärztlichen Lager selbst beeinflusst und kom- 
pliziert wird durch die verschiedene Wertschätzung, die man 
einerseits dem unentwickelten kindlichen, andererseits dem ent- 
wickelten miitterlichen Leben beimisst. Aus der Geschichte 
des Perforationsproblems ist bekannt, dass frühere Zeiten und 
Richtungen dem unentwickelten kindlichen Leben einen um 
nichts geringeren, ia fast einen höheren Wert beigemessen 
haben als dem Leben der Mutter und dass sie eine Opferung 
des ersteren zu Gunsten des letzteren schlechthin für unzu- 
lässig erklärt haben. Eine solche Richtung wird, wenn sie die 
künstliche Fehlgeburt überhaupt zulässt, die Indikation hierfür 
auf das möglichste einschränken. Wer dagegen mit dem 
römischen Recht die Leibesfrucht als pars viscerum ansieht, 
wird die Beseitigung dieses Teils des Mutterleibs kaum schwerer 
nehmen als die Beseitigung irgend einer Wucherung, wird 
mithin schon bei irgend einer geringfügigen Störung im Be- 
finden der Mutter die künstliche Fehlgeburt zulassen. Inso- 
ferne nun hier die gegenseitige Abschätzung zweier sittlicher 
und rechtlicher Güter mit hereinspielt, darf auch die Juris- 
prudenz sich das Recht beilegen, sich in der Sache vernehmen 
zu lassen. | 


Soviel mir bekannt geworden ist, hat sich die Rechts- 
sprechung mit der Frage der Abgrenzung zwischen erlaubter 
und unerlaubter Abtreibung unter dem besonderen Gesichts- 
punkt des ärztlichen Berufsrechts noch nicht zu befassen ge- 
habt. Die juristische Literatur hat sich, wie bereits erwähnt, 
zwar nicht mit dem Problem wie es durch Geisteskrankheit 
der Mutter seine besondere Ausprägung erhält, wohl aber mit 
dem allgemeinen Problem der Berechtigung der Vernichtung 
des kindlichen Lebens zum Zwecke der Rettung der Mutter, 
insbesondere im Anschluss an die Perforationsfrage befasst. 
Die ältere juristische Literatur ist 1889 von Heimberger 
„über die Straflosigkeit der Perforation“, die gesamte ärzt- 
liche, juristische und philosophisch-ethische Literatur neuer- 
dings 1902 in einer Tübinger akademischen Preisschrift von 


— 105 — 


Dr. Sippel zusammengestellt worden; insbesondere dieser 
letzteren verdanke ich die Bemerkungen, die ich hinsichtlich 
der medizinischen Literatur zu machen Gelegenheit habe. 
Neben dieser an die Perforationsfrage und verwandte Probleme 
anknüpfenden Bewegung geht nun seit 15 bis 20 Jahren eine 
andere einher, welche die grundsätzliche Rechtfertigung des 
ärztlichen Eingriffs gegenüber den Verbotsbestimmungen des 
Strafrechts, insbesondere gegenüber dem Begriff der Körper- 
verletzung zum Gegenstand hat. Diese Bewegung hat ihren 
Ausgangspunkt von einer Theorie genommen, welche zu Be- 
ginn der 1890er Jahre Stoss und der vorhin genannte Heim- 
.berger verteidigt haben und nach welcher der ärztliche Ein- 
griff schon objektiv nicht Körperverletzung sein soll. Sie haben 
neue Nahrung gewonnen durch eine bekannte und viel an- 
geführte Entscheidung des Reichsgerichts vom 31. Mai 1894, 
Entsch. in Strafsachen Bd. 25, S. 375, sie ist von v. Lilien- 
thal, v. Bar und anderen fortgeführt worden, auch Stoss 
und Heimberger haben wieder das Wort ergriffen, und nach- 
dem noch zwei Entscheidungen der Oberlandesgerichte Dresden 
und Braunschweig auf zivilrechtlichem Gebiet ergangen waren, 
hat ganz neuestens in der Nr. 5 des laufenden Jahrgangs der 
Zeitschrift „däs Recht“ der Reichsgerichtsrat a. D. Galli eine 
Art Epilog zu der oben erwähnten Reichsgerichtsentscheidung 
geschrieben. 

Diese neueste literarische Bewegung ist unleugbar sehr 
anregend und interessant und man glaubt zu der Erwartung 
berechtigt zu sein, dass gerade die Erörterung dieses grund- 
sätzlichen Problems auch für unsere Frage erspriessliche Er- 
gebnisse zeitigen werde. In dieser Erwartung sieht man sich 
im wesentlichen getäuscht. Bei näherem Zusehen wird dieses 
verneinende Ergebnis auch wohl verständlich. Für das Problem 
des ärztlichen Eingriffs steht zunächst der Ausgangspunkt fest. 
Der ärztliche Eingriff in das körperliche Befinden des Patienten, 
auch der weitestgehende Eingriff, der mittelst Messers voll- 
zogene und mit der Amputation eines wichtigen Gliedes 
endigende, muss erlaubt, kann nicht strafrechtlich ver- 
boten, kann keine Körperverletzung sein, vorausgesetzt, dass 
er nach den Regeln der ärztlichen Kunst geboten ist und 


— 106 — 


durchgeführt wird. Er kann unter dieser Voraussetzung auch 
dann nicht Gegenstand des Strafrechts sein, wenn er miss- 
glückt, wenn er vielleicht zum tötlichen Ausgange führt. 
Dieses Ergebnis stand von vornherein unantastbar fest; die 
Aufgabe war nur, es grundsätzlich zu rechtfertigen. Diese 
Rechtfertigung scheint nun der neuesten literarischen Be- 
wegung auch gelungen zu sein, aber allerdings, wenn ich so 
sagen darf, nur auf beschreibendem, deskriptivem, analytischem 
Wege. Über das Endergebnis ist man einig, aber über die 
Begründung noch nicht. Man stimmt überein bezüglich der 
Bedingungen, welche erfüllt sein müssen, damit im einzelnen 
Fall der ärztliche Eingriff gerechtfertigt ist, aber man streitet. 
über das gegenseitige Verhältnis dieser Bedingung, man weiss 
nicht, in welcher dieser Bedingungen man die Ursache und 
Grundlage des strafrechtlichen Privilegs und in welcher man 
die blosse Schranke und (irenze der Straffreiheit zu erblicken 
hat. Die eine dieser Bedingungen ist, wie bereits angeführt, 
die Regel der ärztlichen Kunst: der Eingriff muss ärztlich ge- 
boten sein und kunstgemäß durchgeführt werden. Die andere 
Bedingung ist die Einwilligung des Patienten. In dem von 
dem Reichsgericht entschiedenen Straffall und in dem von 
dem O. L. G. Dresden entschiedenen Zivilfall hatte diese Ein- 
willigung gefehlt. Das O. L. G. Dresden hat aus dem Mangel 
der Einwilligung die zivilrechtliche Folgerung gezogen, dass 
die Klage des Arztes auf das Honorar abzuweisen sei. In 
dem reichsgerichtlichen Straffall hatte die erste Instanz ein 
wiederholtes ausdrückliches Verbot des Vaters der 7jährigen 
Patienten für unbeachtlich erklärt und den Arzt von der 
Anklage der Körperverletzung freigesprochen, weil dem Arzt 
ein Berufsrecht zustehe, durch das er gedeckt sei. Diese An- 
nahme hat das Reichsgericht für rechtsirrtümlich erklärt, es 
hat das freisprechende Urteil aufgehoben und die Sache an 
die erste Instanz zurückverwiesen, welche übrigens in der 
Folge wieder zu einer Freisprechung gelangte. Die Bedenken, 
welche gegen die Entscheidung des Reichsgerichts erhoben 
worden sind, kann ich für jetzt dahingestellt lassen, den 
Schluss kann man nach dem Ausgeführten jedenfalls ziehen, 
dass der Arzt unter allen Umständen gedeckt ist, wenn er beider 


— 10 — 


Bedingungen zusammen sicher ist, der Kunstgemäßheit und der 
Ein willigung. | | 

Diese Sachlage lässt nun mit genügender Deutlichkeit den 
Grund erkennen, warum die bisher .besprochene literarische 
Kontroverse für die Frage der Rechtfertigung der Abtreibung 
unfruchtbar geblieben ist. Zur Rechtfertigung der Abtreibung 
genügt die Einwilligung der Kranken, d. h. der Schwangeren, 
oder ihres berufenen Vertreters nicht, um den ärztlichen Ein- 
griff erlaubt zu machen. Die Schwangere, welcher es selbst 
verboten ıst, ihre Frucht abzutreiben oder im Mutterleib zu 
töten, kann auch nicht mit Rechtswirkung den Arzt zu diesen 
Handlungen ermächtigen. Der Grund des strafrechtlichen Ver- 
bots der Abtreibung ist der Schutz des in der Entwicklung 
begriffenen Menschenlebens an und für sich; niemand hat die 
Befugnis, über dieses keimende Leben zu verfügen oder es im 
Rechtssinne zu vertreten, mithin kann die Einwilligung, deren 
es doch zur Rechtfertigung des ‚ärztlichen Eingriffs bedürfte, 
auch von keiner . dritten Person ergänzt werden. Um auch 
hier eine rechtsgeschichtliche Bemerkung einfliessen zu lassen: 
Der Gedanke, dass es hier im Legitimationspunkt fehle und 
dass es das Einfachste wäre, eine Instanz anzugeben, welche 
dem Arzt oder der Schwangeren die mangelnde Legitimation zu 
erteilen vermöchte, hat sich schon älteren Schriftstellern auf- 
gedrängt. Bei der Behandlung der insoweit gleichliegenden 
Perforationsfrage haben ältere Schriftsteller den patriarchas 
lischen Vorschlag gemacht: es sei das nächste Waisenamt an- 
zugehen. und mit dessen Ermächtigung die das mütterliche 
Leben rettende Unterbrechung der Schwangerschaft vorzu- 
nehmen. Ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht auch moderne 
Juristen gibt, die geneigt wären, de lege ferenda dem Vor- 
schlag beizutreten. Zuzugeben ist, dass der Vorschlag, von 
einem etwaigen Zeitverlust abgesehen, die Frage praktisch 
lösen würde. Für meinen privaten Geschmack wäre er etwas 
zu bureaukratisch, und jedenfalls bietet das geltende Recht für 
die Zulässigkeit dieses Auswegs keine Anhaltspunkte, insofern 
sich eine Zuständigkeit der Vormundschaftsgerichte zur Ertei- 
lung der hier fraglichen Einwilligung wohl nicht begründen 
lässt. | 


— 108 — 


Für das heute geltende Recht stehen wir nach wie vor 
im Angesicht eines Widerstreits zwischen den Interessen der 
iw Leben oder Gesundheit gefährdeten Mutter und den Inter- 
essen der ungeborenen Leibesfrucht, welche in ihrer Entwick- 
lung zum Menschen zu schützen, eine vom Strafrecht aner- 
kannte und unterstützte Forderung unseres sittlichen Empfin- 
dens ist. Für die Lösung dieses Widerstreits bietet sich nach 
meinem Dafürhalten nur ein Ausweg dar, und zwar in dem 
naheliegenden und allgemein in der Strafrechtswissenschaft 
aller Zeiten anerkannten Gesichtspunkt des Notstands. Frei- 
lich ist, wie bereits angeführt, die Regelung, welche der Not- 
stand in dem geltenden Strafgesetzbuch gefunden hat, für die 
uns beschäftigenden Fälle zu enge. Insoweit ist es gewiss 
richtig, was ın der Theorie gegen diese Lösung stets wieder 
eingeworfen wird, dass für diese Fälle das geltende Recht in 
seiner positiven Ausgestaltung nicht hinreicht. Allein das darf 
doch nicht abhalten, den wissenschaftlich richtigen Standpunkt 
für unsere Frage zu suchen, und. wenn diese Untersuchung 
auf eine besondere Ausprägung des allgemeinen Notstandbe- 
griffs hinführt, dieses Ergebnis als das richtige aufzustellen 
und an ihm festzuhalten. Eine kritische Betrachtung unseres 
positiven Notstandbegriffs würde uns am besten zeigen, welche 
besondere Ausprägung wir verlangen müssen. Ohne weiteres 
leuchtet ein, dass aus dem von uns aufzustellenden Notstands- 
begriff ausscheiden muss die Beschränkung des $ 54 St. G. B. 
auf Angehörige, und dass an die Stelle dieser Beschränkung 
die Beschränkung auf solche Personen treten muss, welche in 
Ausübung der Heilkunst handeln. Auch darüber dürfte kein 
Streit entstehen, dass ausgeschieden werden muss die Be- 
schränkung auf eine unverschuldete Notlage. Es würde dem 
sittlichen Empfinden nicht bloss des Ärztestandes. sondern auch 
der Allgemeinheit entschieden widerstreiten, übrigens wohl 
auch praktisch undurchführbar sein, wenn der Arzt an dem 
Krankenbett einer Schwangeren erst eine sittenrichterliche 
Untersuchung anstellen müsste, ob die Schwangere verschuldet 
oder unverschuldet zu der Schwangersehaft oder zu -der in 
Verbindung mit der Schwangerschaft ihre Gesundheit be- 
drohenden Erkrankung gekommen ist. Mit Entschiedenheit 


— 109 — 


dagegen muss an dem Erfordernis des geltenden Rechts fest- 
gehalten werden, dass der Eingriff nur dann durch Notstand 
gerechtfertigt ist, wenn die bedrohende Gefahr auf keine andere 
Weise als durch Vernichtung der Leibesfrucht abzuwenden ist. 
Nur dies entspricht auf dem Boden unserer grundsätzlichen 
Auffassung der Sachlage, insoferne dem vorhandenen und zu 
schützenden Rechtsgut des mütterlichen Lebens das Rechts- 
gut des keimenden Lebens, der Frucht, als ein wenn schon 
schwächeres, so doch immerhin selbständig anerkanntes Rechts- 
gut gegenübersteht. Nur dieses Erfordernis beugt Missbräuchen 
vor und nur dieses Erfordernis ist geeignet, der ärztlichen 
Wissenschaft in zweifelhaften Fällen Anhaltspunkte für die 
Entscheidung zu geben. Darnach bleibt die Abtreibung in 
allen Fällen verboten, in welchen die Gesundheitsgefährdung, 
also etwa gerade eine Geisteskrankheit, auf irgend eine andere 
Weise beseitigt werden kann, würde auch diese anderweite 
Beseitigung der Patientin oder ihrer Familie grössere Belästi- 
gung, grösseren Aufwand an Geldmitteln oder dergl. verur- 
sachen. Aus diesem (Gesichtspunkt heraus bin ich mit dem 
Herrn Vorredner vollkommen einverstanden in der Beurteilung 
der Frage, ob Melancholie und damit verbundene Selbstmord- 
gefahr die Abtreibung rechtfertigen kann. Auch ich bin der 
Meinung, dass dies nicht der Fall ist, insofern geeignete An- 
staltsbehandlung die Selbstmordgefahr ausschliesst. Dagegen 
ist der Begriff des Notstands im geltenden Recht nach einer 
Richtung hin zu weit gefasst. Nach $ 54 St.G.B. liegt beim 
Zutreffen der übrigen Voraussetzungen ein Notstand schon 
dann vor, wenn überhaupt irgend eine Gefahr für Leib und 
Leben vorhanden ist Schon die Gefahr einer geringen Ver- 
letzung der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigt jeden Ein- 
griff in ein fremdes Rechtsgut. Dazu müssen wir für unsern 
Fall zwei Einschränkungen machen. Einmal schliesst ja jede 
Schwangerschaft schon in ihrem normalen Verlauf eine Ge- 
fährdung der Gesundheit der Schwangeren in sich. Diese 
normale Schwangerschaftsgefahr rechtfertigt begreiflicherweise 
die Tötung der Leibesfrucht nicht. Damit wäre ja das Verbot 
der Abtreibung allgemein und grundsätzlich umgangen. Es 
muss also eine zu der Schwangerschaft hinzutretende Kompli- 


— 110 — 


kation vorliegen. Bei dem uns im besonderen beschäftigenden 
Problem der Geisteskrankheit der Mutter trifft dies ja ohnehin 
zu; nur zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich 
bemerken, dass diese Komplikation auch beruhen kann in der 
besonderen Beschaffenheit der Organe der schwangeren Frau, 
z. B. hochgradiger Beckenenge. Des Weiteren muss diese 
Komplikation den Gesundheitszustand der Schwangeren. erheb- 
lich beeinträchtigen, ich möchte sagen, entscheidend beein- 
flussen. Damit wird freilich ein Element der Unbestimmtheit, 
der Unsicherheit, der Dehnbarkeit in die Begriffbestimmung 
hineingetragen. Allein ich möchte hierin ein durchschlagendes 
Bedenken nicht erblicken. Wenn man ein solches unbestimm- 
tes Begriffsmerkmal ablebnt, so bleibt nichts übrig, als die 
kasuistische Aufstellung der einzelnen Indikationen. Dies aber 
hiesse medizinische Fragen im Strafgesetzbuch entscheiden; 
sodann wäre eine vollständige Aufzählung wohl schon nach 
dem heutigen Stande der Wissenschaft unmöglich, insbesondere 
aber wäre zukünftigen Fortschritten der ärztlichen Wissenschaft 
ein Riegel vorgeschoben. Bei der Unmöglichkeit einer kasu- 
istischen Aufzählung bleibt offenbar nichts anderes übrig, als 
eine derartige clausula generalis, wie sie auch sonst in den 
Gesetzen keineswegs selten ist. Die richtige Anwendung und 
Auslegung der Generalklausel im einzelnen Fall darf man, 
glaube ich, dem Zusammenwirken der ärztlichen Sachverstän- 
digen und des Gerichts vertrauensvoll überlassen. Immerhin 
ist bei der von mir vorgeschlagenen Klausel die Unbestimmt- 
heit eine weniger weitgehende, als bei der Gesetzesbestim- 
mung des Kantons Genf, welcher die Abtreibung stets zulässt, 
„pour éviter un mal plus grand“. In die Sprechweise des Ge- 
setzes übertragen, würde meine These mithin folgendermaßen 
lauten: 
Im Falle der Abtreibung oder Tötung der Leibesfrucht 
im Mutterleibe, ist eine strafbare Handlung nicht vor- 
handen, wenn die Handlung in Ausübung der Heilkunst, 
zu dem Zweck der Heilung der Schwangeren im Falle 
einer auf andere Weise nicht zu beseitigenden, zu der 
Schwangerschaft hinzutretenden entscheidenden Kompli- 
kation vorgenommen wird. 


— 111 — 


Diese Formel unterscheidet nicht, ob die Komplikation auf 
das körperliche oder auf das geistige Befinden der Schwangeren 
sich bezieht, sie deckt also auch den Fall der Geisteskrankheit 
der Mutter und ich glaube, dass sie auch für diesen besonderen 
Fall zu befriedigenden Ergebnissen führt. Jedenfalls scheint 
es mir, soweit ich die Sachlage zu überblicken vermag, dass 
die Ergebnisse des ärztlichen HerrnReferenten mit den meinigen im 
Einklange stehen. Die Fälle, welche der ärztliche Herr Referent 
als berechtigte Indikationen zur Tötung der Frucht anerkennt, 
wären durchweg wohl auch nach der von mir vorgeschlagenen 
Bestimmung gedeckt, insbesondere sind aber auch die von ihm 
abgelehnten Fälle solche, welche auch nach meiner Auffassung 
mit Recht verworfen werden. | 


Heynemann'sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff), Halle a, 8, 


u Privatdocent | 


190% zu Mainz. 





Juristisch-psychiatrische 


Grenziragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. $. Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz 1. Schles. 


III. Band, Heft 8. 





Die Fiirsorge- (Zwangs-) Erziehung.*) 


Von Privatdocent Dr. Dannemann in Giessen, 


Die bedauerliche Tatsache, dass die Zahl der jugendlichen 
Übeltäter und Verbrecher in beständigem Anwachsen begriffen 
ist, nimmt seit langem das Interesse des Kriminalpsychologen, 
des Psychiaters, des Pädagogen sowie des Soziologen gleich- 
mässig lebhaft in Anspruch. Einige wenige Zahlen, die wir der 
sehr ausführlichen Zusammenstellung Hoegels entnehmen (die 
Straffälligkeit der Jugendlichen, Vogel-Leipzig 1902), mögen 
sie für den nach zahlenmässigen Beweisen Verlangenden 
illustriren. l 

Es wurden 1882 in Deutschland 30719 Personen zwischen 12 
und 18 Jahren verurteilt, 1892 waren es bereits, 46496, nach 
sechs weiteren Jahren zählte man 47986 Fälle strafrechtlicher 
Verwicklungen Jugendlicher und 1900 gar schon 48657. — 
Eine weitere Erfahrungstatsache von gleich ernster Bedeutung 
ist diejenige, dass auch die Zahl der schon im jugendlichen 
Alter rückfällig werdenden Personen schnell zunimmt. 1889 
wurden unter 36790 verurteilten Kindern 5590 Vorbestrafte 
gezählt, d. h. 15,19 %. 1899 betrug dieses Zablenverhältnis 
schon 47512:8919, d. h. 18,77 %. Von jenen 5590 Vorbe- 
straften hatten 3485 erst eine Vorstrafe erlitten, 1222 bereits 
zwei, 819 drei bis fünf, und 64 gar sechs und mehr, ein 
Zablenverhältnis, das sich, auf 1899 übertragen, stellt wie 
5485: 1870:1387 :177. 

Alles in Allem genommen sind dies Zahlen, deren Zunahme 
mit dem Anwachsen der Bevölkerungsziffer nicht gleichen Schritt 


*) Nach einem Vortrage in der Sektion Oberhessen der Vereinigung 
für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie. 
1* 


ds A 


hält, sondern in wesentlich schnellerem Tempo erfolgt. Nichts 
liegt näher wie die Frage: aus welchen Gründen erklärt sich 
dieses Phänomen. Ihre Beantwortung ist ein hochwichtiger 
Gegenstand. Wissen wir die Ursachen, so dürfen wir auch 
hoffen, den richtigen Weg zur Besserung zu finden, die Mittel, 
. welche geeignet sind, die in solchen traurigen Tatsachen sich 
offenbarende soziale Gefahr erfolgreich zu bekämpfen. 


Dass überhaupt die Jugendlichen ein Contingent zu den 
Rechtbrechern stellen, wen will dies Wunder nehmen? Erst 
mit zunehmender Urteilskraft vermag der Heranwachsende die 
Unrechtmässigkeit der Aneignung fremden Besitzes ganz zu er 
kennen, die Tragweite einer Bestrafung wegen eines Eigentums- 
deliktes für seine Zukunft in ihrer ganzen Bedeutung zu er- 
messen. Darum wird man immer mit jugendlichen Dieben zu 
rechnen haben. Der erwachende Geschlechtstrieb drängt bei 
so manchem intensiv nach Betätigung und treibt ihn, weil 
Hemmungen und Überlegungsvermögen nicht genügend ent- 
wickelt sind, zu Sittlichkeitsdelikten. Die Fähigkeit der Selbst- 
beherrschung will erst noch erworben sein, und so kommen 
leicht Gewalthandlungen Jugendlicher zustande. Die Wider- 
standskraft gegen Verführungen aller Art, insbesondere gegen 
Verlockungen zum Genuss von Alkohol, ist bei vielen noch 
eine mangelhaft entwickelte. Ein gewisser Prozentsatz von Ver- 
gehen und Verbrechen, darf man somit füglich annehmen, wird 
also immer auf die strafrechtlich noch nicht voll Verantwort- 
lichen entfallen müssen. Sieht man indessen die Zahlen zu 
solcher Höhe anschwellen, wie wir oben schilderten, dann ist 
es zu begreifen, wenn man stutzig wird und zunächst sich 
fragt, welche Ursachen hier in Betracht kommen. 


Man hat verschiedene Umstände für dieses rasche An- 
wachsen der jugendlichen Kriminellen verantwortlich machen 
zu müssen geglaubt. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass 
in den unteren Volksschichten mehr und mehr der Jugend die 
väterliche Aufsicht verloren geht. Den Vorstand des Haus- 
haltes führt seine Arbeit oftmals weit von den Seinen hinweg, 
so dass ihm nur ein paar kärgliche Abendstunden bleiben, in 
denen er sich ihnen, und speziell seinem Nachwuchs, widmen 





PE ás 


kann. Unter erschwerten Lebensbedingungen muss auch mehr 
wie sonst die Frau sich mit um Arbeit mühen und ausser dem 
Hause tätig sein, um einen Teil zum Unterhalt beizutragen. 
Dies ist gleichbedeutend mit der Vernachlässigung eines Teiles 
ihrer Mutterpflichten. Früh bleiben die Kinder sich selbst über- 
lassen, und wenn auch in den ersten Lebensjahren Krippen, 
Kinderbewahranstalten und ändere Einrichtungen der öffent- 
lichen Wohlfahrt ihnen Schutz gewähren, nach Kräften für den 
Ersatz der elterlichen Aufsicht sorgend, so ist doch ihr Tummel- 
platz in späteren Zeiten gegen Ende des ersten und im Anfange 
des zweiten Lebensjahrzehntes zumeist die Gasse mit allen ihren 
schlimmen Anreizen und Verlockungen. Früh müssen viele 
von jenen in Darben und in Begehrlichkeit gross gewordenen 
Kindern, noch schulpflichtig, ausserhalb der Unterrichtszeit in 
irgend einer Weise sich betätigen, um die finanzielle Lage der 
Familie zu heben. Der jugendliche Ausläufer und Austräger 
ist schon dadurch, dass er mit für ihn oft nennenswerten 
Summen zu tun bekommt, Versuchungen ausgesetzt, denen so 
mancher Willensschwache erliegt. — Wo die heranwachsende 
Jugend Beschäftigung in einer Hausindustrie finden kann, da 
bleibt ihr die elterliche Aufsicht noch bis zu einem gewissen 
Alter gesichert, in dem der einzelne bereits sittliche Anschau- 
ungen genug erworben haben kann, um den rechten Weg durch 
alle Verlockungen zu finden. Aber in der Mehrzahl der Fälle 
wird die übernommene Tätigkeit den jugendlichen Arbeiter da- 
hin führen, wo elterlicher Einfluss ausgeschaltet ist, wo die 
Einwirkung verderbter Altersgenossen oder auch an Jahren 
Vorgeschrittenerer sich geltend machen kann. Das enge Zu- 
sammenleben der arbeitenden Klassen in Grossstädten und 
Industriecentren bringt es mit sich, dass dem eben der Schule 
Entwachsenen meistens schon „nichts Menschliches mehr fremd 
ist“. Früh werden Begehrlichkeit und Genusssucht wach. Wie 
kann es anders sein, wenn vielleicht Thür an Thür mit der 
elterlichen Wohnung Prostitution und Zuhälterthum ihr ekel- 
haftes Gebahren entfalten. — Es ist unnötig, die schädlichen 
Einflüsse, welche das heranwachsende Kind bedrohen, hier alle 
namhaft zu machen. Wer mit offenen Augen die Arbeiter- 
viertel grosser Städte durchwandert, und mit Interesse die 


A e 


Wohnungsverháltnisse mustert, in denen so oft die Geschlechter- 
trennung ungenügend durchgeführt ist, in denen oft genug noch 
dazu Aftermiether und Schlafburschen beherbergt werden, deren 
sittliche Qualität erst in zweiter Linie von dem Vermiether in 
Betracht gezogen wird, der wird sich oft genug verwundern, 
dass in diesem Milieu nicht noch mehr Knaben und Mädchen 
auf die schiefe Bahn geraten, wie es schon der Fall ist. 


Ein weiterer Grund des Anwachsens der Zahl der jugend- 
lichen Übeltäter liegt auch sicher darin, dass im Allgemeinen 
die Zahl der Psychopathen, der nervös Veranlagten in bestän- 
diger Zunahme begriffen ist. Minderwertigkeit, Geistesstórung 
und Verbrechen stehen, wie jedermann weiss, in engen Be- 
ziehungen zu einander. Wo viele defekte Eltern sind, da werden 
auch viele defekte Nachkommen sein, und wenn die Zahl jener 
zunimmt, so schnellt auch die absolute Ziffer dieser in die 
Höhe, damit auch diejenige der moralisch Minderwertigen und 
verbrecherisch Veranlagten. — Es lassen sich somit schon bei 
oberflächlicher, die Stütze der Statistik nicht heranziehender 
Betrachtung Schäden genug finden, welche es erklären, dass 
die Jugendlichen ein so erhebliches Kontingent zum Verbrecher- 
tum stellen. Da jene Schäden trotz aller entgegengesetzter 
Bestrebungen noch mit jedem Tage intensiver werden, so kann 
auch die stets stärkere Beteiligung der Jugendlichen an Un- 
gesetzlichkeiten nicht Wunder nehmen. 


Die Tatsache der Zunahme der Zahl der Vorbestraften unter 
den Jugendlichen ist ein Beweis dafür, dass unsere Bestrebungen 
zur Abwehr noch lange nicht genügen. Das wenigstens müsste 
zu erreichen sein, dass kriminell gewordene Minderjährige bis 
zur Erlangung der rechtlichen Vollreife so kurz und 
straff gehalten würden, dass sie sich weitere Vergehungen 
nur in verschwindend seltenen Fällen zu Schulden kommen 
liessen. 


Erst der Neuzeit ist es hinreichend zum Bewusstsein ge- 
kommen, wie ausserordentlich wichtig es im Interesse sozialer 
Wohlfahrt ist, dem deprimirenden Symptom der Zunahme des 
jugendlichen Verbrechertums entgegen zu treten. Die Erwä- 
gung, dass eine energische Bekämpfung desselben gleichzeitig 


4 


Bu O go 


ein Hauptmittel in der Eindämmung des Verbrechens über- 
haupt bildet, liegt auf der Hand. Aus Kindern werden Leute, 
und wer schon in der Jugend wider Gesetz, Sitte und Ordnung 
verstiess, wer in der Pubertätszeit den letzten moralischen Halt 
verlor, der wird als Erwachsener um so ‚weniger die Grenzen 
respektiren, deren Einhaltung die Gesellschaft fordern muss. 
Werden rechtzeitig ungünstige, die sittliche Entwicklung eines 
Kindes gefährdende Einflüsse ausgeschaltet, oder werden recht- 
zeitig bei den ersten Anzeichen drohender Verwahrlosung Aus- 
nahmemassregeln angewendet, so müsste dies nicht ohne Ein- 
fluss auf die spätere Lebensführung sein. Nichts hätte eigent- 
lich näher gelegen, als dass man diese Folgerung schon von 
jeher in der Praxis zur Nutzanwendung gebracht hätte. Trotz- 
dem sind aber eigentlich erst spät gesetzliche Bestimmungen 
erlassen, welche darauf hinausliefen, die Beaufsichtigung und 
weitere Ausbildung eines gefährdeten jugendlichen Individuums 
an Dritte zu übertragen, und die durch Abstammung zunächst 
zum Erzieheramte berechtigten Personen zwangsweise dieses 
Amtes zu entheben. Die Auffassung, dass eine Entziehung des 
Erzieherrechtes, quasi eine Depossedirung der Eltern, nicht statt- 
haft sei, ausser in den schwersten Fällen erwiesener elterlicher 
Verschuldung, hat bis in die neueste. Zeit Verfechter gefunden 
und hat sogar noch den ersten Entwurf des bürgerlichen Ge- 
setzbuches beeinflusst, glücklicherweise aber ohne durchzudrin- 
gen und die Fassung des Erziehungsparagraphen irgendwie zu 
bestimmen. 

Die ersten Handhaben zur Verbrechensprophylaxe boten 
die §§ 55 und 56 des Strafgesetzbuches. Nachdem man dahin 
übereingekommen war, als die unterste Grenze der Strafmün- 
digkeit das vollendete 12. Lebensjahr anzunehmen, hatte man 
es zunächst unterlassen, dem $ 55 einen die Erziehungsfrage 
betreffenden Zusatz zu geben. Erst 1876 holte diese Unter- 
lassung eine Gesetzesnovelle nach und bestimmte, dass gegen 
den wegen Strafunmündigkeit unverfolgt gelassenen dich 
Übeltäter „nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften 
die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßnahmen 
getroffen werden sollten“. Dem Vormundschaftsgericht wurde 
die Obliegenheit zugeteilt, den Tatbestand aufzunehmen und die 


ER - ESR 


Unterbringung für zulässig zu erklären. Dann galt əs, weiter 
schlüssig zu werden, ob Familien- oder Anstaltspilege Piatz 
zu greifen habe. — Wesentlich in gleichem Sinne behandelte 
$ 56 den wegen ungeniigenden Erkennungsvermógens frei- 
gesprochenen Jugendlichen, wenn anzunehmen war, dass 
ihm die zur Erkennung der Strafbarkeit seines Thuns erforder- 
liche Einsicht fehlte. Hier wurde also direkt die Mitwirkung 
des Strafrichters bei der Einleitung der Zwangserziehung re- 
klamirt, insofern von ihm verlangt wurde, dass er im Urteil 
bestimme, ob der Freigesprochene der Familie oder einer An- 
stalt übergeben werden solle. Hier sei hinzugefügt, dass die 
Prüfung der Frage, ob bei einem jugendlichen Übeltäter die 
Einsichtsklausel zutrifft, eigentlich grundsätzlich dem psychi- 
atrisch geschulten Arzte ex officio übertragen werden müsste, 
anstatt dass der Richter allein sich darüber ein Urteil bildet, 
eine Anschauung, der übrigens neuerdings auch aus juristischen 
Kreisen das Wort geredet worden ist. 


Beide Gesetzesparagraphen treffen aber nur denjenigen 
jugendlichen Übeltäter, der bereits einen drastischen Beweis 
seiner sittlichen Verwahrlosung und seiner verbrecherischen 
Neigungen gegeben hat. Sind indessen dies die einzigen, die 
in Betracht kommen? Ist nicht auch die Zahl derjenigen relativ 
Strafmündigen eine unendlich grosse, gegen die ein Strafver- 
fahren trotz mehr oder weniger ernstlicher Vergehungen nicht 
anhängig gemacht wurde, sei es weil sie unentdeckt blieben, 
sei es weil ihre Jugend die Geschädigten bestimmte, sie zu 
schonen, sei es dass die Rücksicht auf Angehörige von der 
Stellung eines Strafantrages abhielt? Bleibt nicht auch so 
manche Rohheit Jugendlicher, so mancher Akt, aus dem sitt- 
liche Verwahrlosung deutlich spricht, dem Strafrichter unbe- 
kannt, weil eine Lynchjustiz seitens der Zeugen geübt und 
dann die Sache für hinreichend geahndet angesehen wird? 
Wer erst dann einen erzieherischen Einfluss auf einen jugend- 
lichen Übeltäter geltend machen will, wenn dieser sich ver- 
brecherisch betätigt hat, der gleicht dem Manne, der den 
Brunnen verdeckt, nachdem das Kind hineinfiel. Es ähnelt 
dies Verfahren demjenigen, als wollte man einen gemeinge- 


— 9 — 


fährlichen Geisteskranken erst dann interniren, wenn ihm ein 
Menschenleben zum Opfer gefallen ist. 


Richtiger ist es, schon in ihren ersten Keimen antisoziale 
Eigenschaften Minderjähriger zu ersticken, diese aus einem 
gefährlichen Milieu herauszunehmen, ehe dasselbe noch seinen 
vergiftenden Einfluss auf sie auszuüben vermochte Warum 
soll es erst zu Gesetzesübertretungen kommen, wenn man schon 
mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit voraus- 
sagen kann, dass bei unveränderten Lebensbedingungen 
früher oder später ein Einschreiten sich als notwendig erweisen 
wird. 


In solchen Erwägungen steckten manche deutsche Bundes- 
staaten in bosonderen Erziehungsgesetzen die Grenzen erheb- 
lich weiter und gaben dadurch Gelegenheit, jugendliche Übel- 
täter einem Erziehungszwange zu unterwerfen, auch ohne dass 
der Untersuchungsrichter mit ihnen sich erst beschäftigt hatte. 
Man ging stellenweise so konsequent vor, dass man auch die 
verurteilten Minderjährigen nach Verbüssung ihrer Strafe für 
die Zwangserziehung reklamirte, ein Verfahren, dessen Bedeu- 
tung für die Verhinderung des Rückfalles auf der Hand liegt. 


Von allen Bundesstaaten hatte Preussen mit seinen ein- 
schlägigen Bestimmungen vom 13. III. 1878 die mässigsten Er- 
folge aufzuweisen. Hier war das Alter der „von Obrigkeits- 
wegen in eine geeignete Familie oder in eine Erziehungsanstalt 
oder in eine Besserungsanstalt“ zu verbringenden Jugendlichen 
auf 6—12 Jahre normirt, eine viel zu enge Fassung, da sicher 
die grössere Mehrzahl der Fälle drohender Verwahrlosung und 
Verrohung grade die älteren, schon mehr der Pubertät sich 
nähernden Kinder betreffen wird. 


Es lag nahe, bei der Codification des bürgerlichen Rechtes 
in dieser Sache einheitliche, für das Reich geltende Bestim- 
mungen einzuführen und die allseitig anerkannte Gefahr, die 
der Gesamtheit aus jugendlicher Zügellosigkeit und Verwahr- 
losung zu erwachsen drohte, einheitlich anzugreifen. Diesem 
Bestreben verdanken wir die £9 1666 und 1838 des B. G. B. 
Sie ermächtigen das Vormundschaftsgericht, einzuschreiten, 
wenn das leibliche oder geistige Wohl eines Kindes dadurch 


-- nam ma: E 


= AN 


gefährdet erscheint, dass der Vater (bezw. eine die elterliche 
Gewalt ausübende Mutter) das Recht der Sorge für die Person 
des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines 
ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht. Drei 
Erziehungswege stehen offen: Familienunterbringung, Erzie- 
hungsanstalt, Besserungsanstalt, deren Wahl im Einzelfalle dem 
Vormundschaftsgerichte überlassen bleibt. 

Mit dem Inkrafttreten des B. G. B. sahen sich die Einzel- 
staaten gezwungen, ihre bereits bestehenden Erziehungsgesetze 
entsprechend abzuändern, speziell auch sich über die Regelung 
der Kostenfrage bei den auf Grund der genannten Paragraphen 
in die Zwangserziehung genommenen Kinder schlüssig zu werden. 
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, alle deutschen Spe- 
zialgesetzgebungen bier zu geben und zu analysiren. Nur das 
preussische „Fürsorgeerziehungsgesetz“* vom 2. Juli 
1900 und das hessische Zwangserziehungegesetz vom 
Jahre 1899 mógen hier kurz in grossen Zúgen Erwáhnung 
finden.*) 

In Preussen kann ein Minderjáhriger der Fürsorge- 
erziehung überwiesen werden, 1. in Fällen, welche die Be- 
dingungen des $ 1666 erfüllen, 2. wenn er in einem Gerichts- 
verfahren gemäss $ 56 freigesprochen wurde und die Gefahr 
weiterer sittlicher Verwahrlosung besteht, oder 3. wenn eine 
Fürsorge wegen der Unzulänglichkeit der erzieherischen Fak- 
toren indizirt erscheint. Fürsorgeerziehung erfolgt unter óffent- 
licher Aufsicht auf öffentliche Kosten in einer Familie oder 
Besserungsanstalt. Sie wird durch das Vormundschaftsgericht 
eingeleitet, nachdem dieses von Amtswegen oder auf Antrag 
sich mit den Einzelheiten des Falles vertraut gemacht hat. Es 
kann, wenn Gefahr im Verzuge ist, auch eine vorläufige Unter- 
bringung anordnen. Die Ausführung der Bestimmungen des 
Vormundschaftsgerichtes ist dann Sache des Kommunalverbandes. 
$ 14 verpflichtet die Provinzialverbände, oder die ihnen ent- 
sprechenden Behörden für die Errichtung von Erziehungs- und 
Besserungshäusern zu sorgen, soweit es an Gelegenheit fehlt, 


*) Über den Streit bezüglich der Benennungen „Fürsorge*- und 
„Zwangs-"Erziehung siehe die Ausführungen von Ludwig Schmitz in seinem 
Buche über die Fürsorgeerziehung $. 33. 


= 4, = 


die Zóglinge in Familien, öffentlichen, kirchlichen oder privaten 
Anstalten unterzubringen. Eine Unterbringung in Arbeitshäu- 
sern und Landarmenhäusern ist verboten. Die Erziehung en- 
digt mit erlangter Volljährigkeit, sofern nicht früher eine Auf- 
hebung beschlossen werden sollte, weil der Zweck erfüllt oder 
seine Erreichung anderweitig gesichert erscheint. Die Kosten 
incl. der Zuführung, etwaiger Beerdigung und einer Rückreise 
fallen den Ortsarmenverbänden zur Last, oder falls ein solcher 
nicht besteht, den grösseren Kommunalverbänden. Ihnen ersetzt 
der Staat zwei Drittel des gemachten Aufwandes. Hat der 
Zögling Vermögen oder sind Angehörige da, die verpflichtet 
wären, ihn zu unterhalten, so darf von diesen eine Rücker- 
stattung der Auslagen gefordert werden. 

In Hessen werden als Zwangszöglinge reklamirt: Kin- 
der, die unter den $ 55 des Str. G. B. fallen, Minderjährige 
unter 18, sei es dass auf sie die $8 1666 und 1838 B. G. B. 
zutreffen, oder sei es, dass die Maßregel zur Verhütung des 
völligen sittlichen Verderbens erforderlich ist. Der Kreis der An- 
tragsberechtigten ist umfassender, wie in Preussen, wo nur 
Landrat, Gemeindevorstand und Polizeibehörde in Betracht 
kommen. Kreisamt, Bürgermeisterei, Ortspolizei, Kreisschul- 
kommission, Pfarramt, Eltern, Grosseltern, Vormünder, Pfleger 
sowie die Staatsanwaltschaft kommen hier für den Antrag in 
Frage. Bei Kommunalpfleglingen bleibt das Vormundschaftsge- 
richt auf die Anordnung der Zwangserziehung beschränkt, und 
dem Kreisamte bleibt die Entscheidung über die Wahl der 
Erziehungsform, Familie oder Anstalt. — Gegen die Entschei- 
dung des Vormundschaftsgerichtes kann der Antragsteller, der 
über 14 Jahre alte Minderjährige selbst oder sonstige Inter- 
essenten (z. B. bei Ablehnung ihres Antrages die Staatsanwalt- 
schaft bezw. auch opponirende Eltern) beim Landgerichte Rekurs 
einlegen. Sieht in solchen Fällen das Vormundschaftsgericht 
im Verzuge eine Gefahr, so wird seine Anordnung zunächst 
provisorisch ausgeführt. Artikel 6 enthält Bestimmungen über 
konfessionelle Rücksichten, Änderungen im Erziehungsplane. 
Volljährigkeit oder Entlassung aus ihr beenden die Zwangser- 
ziehung. Ob letztere vorzeitig stattfinden kann, entscheidet 
das Vormundschaftsgericht. 


a. J9 a 


Sind alimentationspflichtige und zahlungsfähige Angehörige 
vorhanden, so haben sie für den Zógling zu zahlen, bezw. es 
ist sein Vermögen heranzuziehen. In allen anderen Fällen 
müssen die Armenverbände eintreten, sofern nicht die Kreise 
sich zur Kostenübernahme verpflichten wollen. Die Kreiskassen 
müssen zunächst die Pflegekosten vorlegen und können sich 
dann an die Armenverbände wegen des Ersatzes derselben 
halten. Diesen oder jenen, wer im Einzelfalle nun die Kosten 
trug, ersetzt dieselben der Staat am Ende jeder Erziehung zur 
Hälfte, während er die Kosten für die unter den $ 56 fallenden 
Zöglinge ganz allein trägt, wenn durch richterlichen Spruch 
eine Zwangserziehung bestimmt wurde. 


Im Artikel 2 .des hessischen Gesetzes wird nebenbei be- 
stimmt, dass im Falle körperlicher Vernachlässigung oder Miss- 
handlung ein Gutachten des Kreisarztes eingeholt werden soll. 
Das preussische Gesetz enthält nichts über die Heranziehung 
des Arztes. Hier wie dort liegt in der gänzlichen Ausschaltung 
des ärztlichen Beirates ein Fehler, der die Wirksamkeit des 
Gesetzes beeinträchtigen muss. An diesem Fehler kranken, um 
es gleich hier zu erwähnen, alle Spezialgesetze über Fürsorge- 
erziehung. Wer sie durchliest (durch die dankenswerte Zu- 
sammenstellung von Ludwig Schmitz ist eine Orientierung über 
den Gegenstand sehr erleichtert), sucht vergeblich nach Be- 
stimmungen über ärztliche Mitwirkung. 


Wer sich als Laie über die Zwangserziehungsgesetze zu 
orientiren sucht, muss glauben, dass es sich im wesentlichen 
um die Ausschaltung ungünstiger äusserer Einflüsse handelt 
also um exogene Faktoren, deren Beurteilung und Ab- 
schätzung keine allzugrossen Schwierigkeiten machen könne. 
Doch damit verhält es sich sehr viel anders. Bei dem Zu- 
standekommen trauriger Erziehungsresultate, sittlicher Verwahr- 
losung, verbrecherischer Auswüchse spielt eine weit wichtigere 
Rolle der endogene Faktor, die zum Teil schon auf eine 
überkommene Anlage zurück zu führende abnorme Beschaffen- 
heit des Jugendlichen, bei dem intellektuelle Minderwertigkeit 
oder moralischer Defekt, nicht selten auch beide zusammen, 
oft im Verein mit sonstigen abnormen psychischen Eigenschaften 


O a 


die ordnungsmässige Einpassung in die ihn mugebenden Ver- 
hältnisse beeinträchtigen bezw. Konflikte schon gezeitigt haben 
oder früher oder später zeitigen werden. Es handelt sich hier 
zumeist nicht einfach um Kinder, die durch irgendwelche 
äussere Umstände demoralisirt sind, nachdem sie einmal Moral 
besessen hatten, oder bei denen die Gefahr besteht, dass sie: 
von einer ungeeigneten Umgebung ungenügend sittlich geför- 
dert werden. Das Menschenmaterial, das für einen Erziehungs- 
zwang reklamirt wird, ist vielmehr ein ausserordentlich viel- 
farbiges. Die psychischen Schattirungen sind fast so zahlreich, 
möchte man sagen, wie die Individuen. Das psychisch Ab- 
norme und oft das direkt Krankhafte spielen dabei eine so 
eminent wichtige Rolle, dass es undenkbar ist, wie man bei 
einer grossen Anzahl von Fällen den richtigen Behandlungsınodus. 
finden will ohne den psychiatrisch gebildeten Arzt. 


Suchen wir die Gesamtheit der Zöglinge in bestimmte 
Gruppen zu scheiden, so kann man zunächst zwei grosse 
Abteilungen bilden: die geistig Normalen und die 
geistig Abnormen. Jede dieser Abteilungen lässt sich 
wieder in zwei Gruppen zerlegen. Wir würden somit für 
die Einreihung der Zöglinge nach ihrer psychischen Artung im 
ganzen vier Rubriken zur Verfügung haben. 


a. Zöglinge mit gutem Intellekt und gesun- 
der ethischer Veranlagung, bei denen aus äus- 
seren Gründen eine Fürsorge angebracht er- 
scheint, ohne dass sie Zeichen von Verderbt- 
heit hervortreten liessen, also durch missliche 
Verhältnisse gefährdete geistig Normale. 


Wer gegen solche Zöglinge im späteren Leben ein Vorurteil 
hegt, z. B. Bedenken trägt, sie in seinen Dienst zu nehmen, 
weil sie „Zwangszöglinge“ waren, tut Unrecht, da sich solche 
Fälle denken lassen, bei denen jedes Verschulden der für die 
Zwangserziehung Reklamirten fehlt. Ein Beispiel aus unsrer 
Kasuistik möge hier Platz finden: 


I. Der 40 jährige Spengler H., zur Zeit in der Klinik, besass 
aus erster Ehe mehrere Kinder, sämtlich körperlich gesund, bei 
guten geistigen Leistungen auch moralisch gut geartet. Der Tod 
der Mutter beraubt die Kinder ihrer besten Stütze, da der Vater, 


a A 


viel auswärts auf Arbeit weilend, sich um sie nicht genügend kümmern 
kann. Leider beginnt er bei einer unregelmässigen Lebensweise 
langsam dem Alkoholismus zu verfallen. Er heirathet zum zweiten 

Male, doch ist das Interesse der Frau an der Erziehung ihrer Stief- 

kinder kein besonders intensives und nimmt noch mehr ab, als der 

Gatte beginnt, Eifersuchtsideen gegen sie zu äussern. In stets zu- 

nehmendem Grade wird der eheliche Friede beeinträchtigt, die Kinder 

sehen und hören Dinge, die ihnen jeden Respect vor den Eltern 
nehmen müssen. Der Gatte wirft der Gattin schliesslich blutschän- 
derischen Umgang mit ihrem eigenen Vater vor, bedroht sie verschie- 
dentlich und sticht sie eines Tages im Beisein eines der Kinder zu- 
sammen. Doch kam die Frau zum Glück mit dem Leben davon. 

Sämmtliche Kinder wurden schon vorher auf Grund des $ 1666 in 

Zwangserziehung genommen und entwickelten sich in den sie bei sich 

verpflegenden Familien seither recht gut, ohne Anlass zu irgend 

welchen Besorgnissen zu geben. 

Hierhin gehören auch die leider nicht eben seltenen Fälle 
der Praxis, in denen es sich um schlechte Behandlung, fort- 
gesetzte rohe Misshandlung und übermässige Züchtigung, also 
Gefährdung des leiblichen Wohles von Kindern durch Stief- 
eltern, denen sie im Wege stehen, handelt. Auch hier kann 
die Zwangserziehung gelegentlich durchaus gut gearteten und 
keineswegs sittlich defekten Kindern lediglich aus dem Gesichts- 


punkte der Schutzbedürftigkeit auferlegt werden. 


Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die zu dieser 
Gruppe gehörenden Kinder von allen Zöglingen die beste Prog- 
nose haben. Wer an diesen später mit Befriedigung die 
Resultate konstatiert, soll aber nicht vergessen, dass die Gruppe 
dieser erfolgreichen Zöglinge wohl nur einen geringen Bruch- 
teil der Gesamtheit ausmacht. — Sie werden relativ leicht 
in Familien heranzubilden sein, dürfen ohne Bedenken mit 
eigenen Kindern der Pflegeeltern zusammengebracht werden 
und dürften die auf sie verwandte Mühe hinreichend belohnen. 
Schwierigkeiten erwachsen bei ihnen den Pflegeeltern nur bis- 
weilen dadurch, dass die ihrer Pflichten enthobenen Eltern den 
Versuch machen, sich ihren Nachkommen zu näbern und diese 
aufzuhetzen. 

b. Eine zweite Gruppe bilden die in ihrer 
Anlage und geistigen Entwicklung den Ver- 
tretern der ersten Gruppe gleichkommenden 


Kinder, welche aber infolge von Erziehungs- 

mángeln bereits verwilderten, bei denen also 

schon von einem sittlichen Verderben gespro- 

chen werden kann, und bei denen ein Verfall 

in vólliges Verderben verhindert werden soll. 

Auch hier brauchen die erzieherischen Mángel keineswegs 
immer mit einem Verschulden der Eltern gleichbedeutend zu 
sein. Langwierige Krankheiten derselben, die vielleicht lang- 
dauernden Aufenthalt in Krankenanstalten nötig machten, können 
es mit sich bringen, dass ihre Kinder ungenügend beaufsichtigt 
werden und schlechten Einflüssen verfallen. Erwerbsschwierig- 
keiten, welche beide Eltern aus dem Hause führen, können in 
der gleichen Richtung wirken. Straffe Zucht und liebevolle 
Fürsorge vermögen aber recht wohl solche demoralisierte Kin- 
der auf den Weg der Ordnung zurück zu führen, wofern eben 
nur der Kern derselben ein guter ist, und dass er im Allge- 
meinen ein guter sein wird, darf man zunächst annehmen, wenn 
ein Blick auf die Ascendenz vollwertige, geistig normale und 
gut beleumundete Personen erkennen lässt. Aber leider sind 
viele Kinder dieser Gruppe nicht in der Lage, mit solchen 
. Eltern aufwarten zu können. Zumeist sind nicht so sehr 
Schwierigkeiten der äusseren Lebensverhältnisse, als vielmehr 
mangelhafte sittliche Qualifikation der Eltern zum Erzieheramte 
an der Verderbnis der Sprossen Schuld. Wenn wir bei der 
Prüfung verwahrloster Kinder guter Intelligenz und einer Be- 
einflussbarkeit durch sittliche Erwägungen begegnen, somit also 
berechtigt sind, sie zur Gruppe b zu rechnen, andrerseits aber 
Eltern mit Charakterfehlern, Lastern und mangelndem Pflicht- 
bewusstsein zu konstatieren haben, so werden wir uns veran- 
lasst sehen dürfen, bezüglich der Annahme eines absolut guten 
Kernes der Nachkommen Skepsis walten zu lassen. — Ein 
Vater, der, um mit dem $ 1666 zu sprechen, das Recht der 
Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind ver- 
nachlässigt, oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Ver- 
haltens schuldig macht, wird auch zumeist seinen Nachkommen 
keine gute Grundlage vererben können. Bei psychiatrischer 
Sichtung werden viele dieser Väter, man denke z. B. an die 
Alkoholisten, sich als psychisch abnorme Menschen, larvierte 


— 16 — 


Epileptiker, konstitutionell Verstimmte etc. erweisen. Vorur- 
teilslose Erwägung wird nicht selten in der Lage sein, den 
ihnen gemachten Vorwurf der „Ehrlosigkeit und Unsittlichkeit“ 
wesentlich zu mildern. 


Diese Fälle der Gruppe b bilden gewissermaßen den Über- 
gang zu den Gruppen der zweiten Hauptabteilung. Lezterehaben 
das charakteristische, dass hier in erster Linie in der ange- 
boren abnormen psychischen Beschaffenheit des 
Minderjährigen die Ursache aller Misserfolge der Erziehung zu 
suchen ist. Hier kommt also das zur Geltung, was wir oben 
. den endogenen Faktor nannten. Diese Zöglinge wird in 
erster Linie der psychiatrisch geschulte Arzt zu erkennen in 
der Lage sein. Sie müssen von den andern separiert und 
ihrer Veranlagung nach individualisierend behandelt werden in 
weit höherem Maasse, wie die aus exogenen Ursachen Ver- 
wahrlosten. Liess uns bei dem Versuch der Illustrierung der 
beiden ersten Gruppen unsre Kasuistik aus leicht ersichtlichen 
Gründen im Stich, so bietet sie uns für diese Gruppen der 
psychisch Abnormen un so zahlreichere Beispiele. 

Wir unterscheiden zunächst: 

Gruppe c. Die beisonst guter Intelligenz und 
hinreichend entwickeltem Urteilsvermögen 
lediglich aufdem Gebiete der Moral anaesthe- 
tischen Zöglinge. 


Diese Gruppe der ab ovo kriminell Veranlagten 
stellt erfahrungsgemäß im späteren Leben ein Hauptkontingent 
zum Verbrechertum. In vielen Fällen ergiebt die Durchfor- 
schung der Ascendenz der zu dieser Gruppe gehörigen Zöglinge 
mehr oder weniger zahlreiche hereditäre Momente, die abnorme 
Beschaffenheit derselben erklärt sich dann auch dem Laien und 
wird von ihm eher anerkannt. Unbegreiflich sind ihm dagegen 
die Fälle, in denen er sich Eltern gegenüber sieht, an deren 
intellektueller Vollwertigkeit, sittlichem Ernst und erzieherl- 
schem Wollen nicht zu zweifeln ist. Muss auch das Urteil über 
manchen zunächst hierher zu rechnenden Zögling später dahin ab- 
geändert werden, dass es sich doch nicht nur um alleinigen Defekt 
auf sittlichem Gebiete, sondern um angeborene allgemeine 


=. o ea 


Ge istesschwäche und Defekt auf allen Gebieten des Geistes- 
lebens, speziell auf dem des Wollens und des Urteils, handelt, 
so bleiben doch immerhin sehr zahlreiche übrig, die sich 
stets so vorzüglicher Kenntnisse, eines so scharfen Urteils, einer 
so guten Fähigkeit zur Abschátzung der Grenzen des Erlaubten 
erfreuen, dass sie füglich auf den Schutz des § 51 später keinen 
Anspruch erheben können. Zur ersten Kategorie d. h. zu den 
später doch noch der Psychiatrie überwiesenen Individuen ge- 
. hörte der gegenwärtig eben 20 Jahre alte Rs. Zwar kam es 
in diesem Falle, obwohl alle Bedingungen zur Einleitung einer 
Zwangserziehung gegeben waren, doch nicht zu einer solchen, 
doch reiht sich der Fall hier illustrierend recht gut ein und 
möge darum kurze Erwähnung finden. 

II. Rs. stammt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater macht 
einen sonderbaren Eindruck, er hat einen eigentümlichen Turm- 
schädel, leidet an Erythromelalgie und ist ein äusserst extremer Sozial- 
demokrat, der seine Kinder religionslos aufwachsen liess. Vaters- 
vater war Trinker, eine Vatersschwester ist Epileptika, die Mutter 
ist unehelicher Geburt, litt auch in ihrer Jugend an Lues. Ein 
Bruder ist schwachsinnig und besucht die Hilfsschule, ein zweiter ist 
kriminell und oft vorbestraft, eine Schwester minderwertig. — Als 
Kind war Rs. schwer zu behandeln. Gegen die Eltern war er wider- 
spenstig, die Schule gab ihm das Zeugnis, dass er eine bösartige 
Charakteranlage habe, frech, verlogen, faul, tückisch und roh sei. 
Seine Zensuren waren im übrigen nur recht mässig, in wenigen 
Fächern genügte er. | 

Mit 14 Jahren erhielt der Knabe die erste Strafe, 9 Tage Ge. 
fängnis wegen eines schweren Diebstahls. Doch sieht die Straftat 
bei näherer Betrachtung nicht so gefährlich aus. Rs. raubte nämlich 
mit einigen Altersgenossen aus einem geschlossenen Stall ein paar 
Kaninchen, die man laufen liess, als die Sache in der Klasse ruchbar 
wurde. Trotz eines Begnadigungsgesuches, in dem die Staatsanwalt- 
schaft sich sogar dahin aussprach, dass die Tat wohl mehr auf 
Jugendlichen Leichtsinn, wie auf verbrecherische Neigung schliessen 
lasse, musste der Knabe die Strafe verbüssen. Vor Erlangung der 
Strafmündigkeit beging er noch vier weitere Straftaten, Diebstahl 
Körperverletzung, Gefangenenbefreiungsversuch und wieder Diebstahl. 
In diesen Jahren war er sich selbst überlassen, trieb sich als Täto- 
wierer umher und verdiente mit seinen Fertigkeiten auf diesem Ge- 
biete zumeist seinen Unterhalt. Früh kam er unter diesen Umständen 
an den Alkohol und ergab sich auch sexuellen Ausschweifungen. 

Nach Verbüssung seiner ersten nennenswerteren Strafe im 18. 
Lebensjahre, wurde er in stets schnellerem Tempo straffällig. Be- 


9% 


+æ 


as A 


leidigung, Sachbeschädigung und 'Hausfriedensbruch, trugen ihm die 
nächste Strafe ein, dann beging er als Zuhälter Betrügereien. Noch 
im gleichen Monat wurde er wegen einer recht rohen, an einem 


- Krúppel begangenen Körperverletzung belangt und einige Monate fest- 


gesetzt. Obdachlosigkeit trug ihm Haft ein, bis schliesslich zwei 


- Einbruchsdicbstäble ihn auf mehrere Jahre in die-Strafanstalt brachten. 


Das Object, um dessentwillen die Diebstähle begangen wurden, war 


. zumeist ein sehr wenig wertvolles, was gestohlen war, wurde schnell 


zu Gelde gemacht, und das Geld ging in der ersten besten Kneipe 


'bei einer Zecherei schnell drauf. Vor der letzten Inhaftirung war 


er flüchtig, trieb sich, steckbrieflich verfolgt, mehrere Monate in nord- 


' deutschen Hafenstädten umher uud „arbeitete“ als Tätowierer. Er 


. selbst ist auf der Brust und an den Armen, theilweise auch an den 


Beinen, ja sogar an den Ohrläppchen mit bunten Zeichnungen über 
und über bedeckt. Die entsprechenden Hautbezirke erwiesen sich 
später bei genauer Prüfung als total anästhetisch. 


In der Strafanstalt erwies er sich sehr bald als äusserst schwierig 
zu behandelndes Element, das oft disciplinirt werden musste. Aber 
alle Vergehungen erscheinen recht. kindisch. Er veranlasste viele 
lästige Schreibereien, speziell durch seine Beschwerden gegen den 
Anstaltsarzt und den Direktor. Gegen letzteren erzielte er die Ein- 
leitung eines Beleidigungsverfahrens, eine ihm widerfahrene Mass- 
regelung in übertriebener Weise aufbauschend. — Besonders auffällig 
trat an ihm eine masslose Selbstüberschätzung hervor und ein starkes, 
fast an Paranoia erinnerndes Misstrauen gegen die gesamte Um- 
gebung. Er glaubte sich besonders strong bestraft, weil er der Sohn 
eines Sozialdemokraten sei, hielt sich halbwegs für einen Märtyrer, 
drohte auch viel mit Enthüllungen über die Anstalt und ihre Beamten. 
Beständig war er bestrebt, Verlegung aus der Einzelhaft in die Ge- 
meinschaftshaft zu erzielen, was ihn schliesslich auch gelang unter 
Versetzung in eine andere Anstalt. In dieser führte er sich etwas 
besser und wurde auch dementsprechend behandelt, was er indessen 
so auffasste, als wenn man seine etwaigen Enthüllungen fürchte und 
ihm so den Mund stopfen wolle. — Nach der Strafverbüssung war 
er zunächst fügsamer, söhnte sich auch mit seiner Familie aus und 
nahm eine Stellung als Handwerker an. Schnell aber erwachte wieder 
der Trieb zur Vagabondage. Er schied mit einer Scene von seinem 
Arbeitgeber, lebte wieder zügellos, zeitweise seine Eltern brand- 
schatzend, bis er wieder, 3 Monate nach der Entlassung in die Frei- 
heit, sie abermals verscherzte, indem er mit gleichgesinnten Genossen 
einen zuvor trunken gemachten Zechkumpan beraubte. 


Nun endlich erfolgte eine längere Beobachtung in der Irren- 
anstalt, die das Resultat hatte, dass Rs. für angeboren schwachsinnig 
und wegen seiner antisocialen Neigungen für anstaltsbedürftig erklärt 
wurde. Die eingehenden Untersuchungen konnten feststellen, dass 


— 19 — 


Rs. moralisch idiotisch in höchstem Grade war; jede Spur einer alt- 
-—ruistischen Neigung fehlte, keine Spur von Reue oder Ehrgefühl, 
- absoluter Mangel an Empfindungen der Kindes- und Geschwisterliebe. 
Die Redewendungen des Untersuchten bei diesbezüglichen Unterhal- 
tungen waren stellenweise so roh und bodenlos gemein, dass sie aller 
' Beschreibung spotten. Rs. Kenntnisse waren sehr gering, seine 
-Lebensanschauungen grotesk, seine Zukunftspläne schwankten von 
. Augenblick zu Augenblick. Dass es nun mit der Rückkehr in die 
Freiheit dauernd vorbei sei, kam ihm gar nicht zum Bewusstsein, er 
hoffte, schwächliche Pläne machend, von Tag zu Tag auf die Ent- 
lassung. Auffällig trat auch jetzt eine Neigung zum Bramabarsiren 
und Prunken mit unverstandenen sozialistischen Phrasen hervor. Ferner 
trat ein paranoischer Zug in die Erscheinung, der ihn in allen Insti- 
tutionen der Gesellschaft Vergewaltigungen der gedrückten Arbeiter 
sehen und in jedem besser Situirten einen Prasser auf Kosten deı 
arbeitenden Klasse erblicken liess. — Noch während der Beobachtungs- 
zeit trug er sich offen mit dem Gedanken einer Entweichung, annon- 
cirte selbst wie er es anfangen wolle, renommierte mit beabsichtigten 
verbrecherischen Handlungen für den Fall seiner Rückkehr in die 
Freiheit und dergl. mehr. — Er kam dauernd in eine Irrenanstalt, 


IH. Der hier in Frage kommende junge Mensch ist ein 
Beispiel rein krimineller Veranlagung. M. T. kam mit 20 
Jahren in die Klinik. Er war ausserehelicher Geburt, war zunächst 
bei seinem Grossvater erzogen, dann aber bei einem Händler auf dem 
Lande untergebracht. Hier will er schlecht behandelt sein. Man 
habe ihu durch Drohungen bestimmt, bei Besuchen seiner Mutter zu 
sagen, dass er sehr zufrieden sei. Anscheinend beobachtete der Knabe 
von 12 Jahren scharf, er will bemerkt haben, dass man manches, was 
für ihn bezogen wurde, zu theuer buchte und dergl. Nach der Schul- 
zeit wurde er zu einem Metzger gethan. Hier unterschlug er Kunden- 
gelder. Anzeige unterblieb, doch wurde der Ehegatte der inzwischen 
verheirateten Mutter veranlasst, T. in eine Erziehungsanstalt 
zu bringen. Dieser wurde nunmehr zwei Jabre von Benedictinern 
in einer klösterlichen Erziehungsanstalt erzogen, aber schon mit 16 
Jahren daraus wieder entlassen. Das bayerische Frziehungsgesetz war 
damals noch nicht erlassen. Die Anstalt lag in Bayern, daraus er- 
klärt sich die frühzeitige Entlassung. Während dieser Erziehung will 
T. nur ein einziges Mal, und zwar körperlich, bestraft sein. Nachdem 
er in Freiheit gesetzt war, ging er nach A., wo er sich zur Unter- 
offizierschule meldete, wegen seiner Augen indessen nicht genommen 
sein will. Er suchte sich nun seine eigenen Wege, vagierte, bald 
bier, bald dort als Metzger sein Brod suchend, in Mittel- und Nord- 
deutschland umher, unterschlug gelegentlich wieder Kundengelder, 
wurde nun zum ersten Male verurteilt, mit 60 Mark Geldstrafe und 
20 Tagen Haft bestraft. Diese büsste er auf der Wanderschaft, in 


— 20 — 


P. Halt machend, unter dem Einfluss der Ueberlegung, dass er sonst 
leicht Unannehmlichkeiten durch Erlass eines Steckbriefes haben 
könne, ab. Er erzählt aus dieser ersten Strafzeit, die er in Gemein- 
schaft Dütenklebend verbrachte, allerhand ergötzliche Dinge, welche 
diese „Strafe“ in das gebührende Licht zu setzen geeignet sind. 
Zehn Leute von allerhand Schattierungen waren seine Kameraden in 
diesem Strafvollzug, man habe sich viel erzählt, die Lebensläufe der 
Einzelnen besprochen, sich gegenseitig was vorrenomiert. Auch sei 
es manchmal zu Reibereien gekommen. Seine Erinnerungen bereiteten 
ihm später oft Spass, anstatt unangenehmer Art zu sein. Hierauf 
machte er einmal den Versuch, bei der Fremdenlegion in Nancy an- 
zukommen, wurde aber nicht genommen. In einer neuen Stelle, die 
ihm abermals der Gutte seiner Mutter verschaffte, unterschlägt er von 
neuem, „na, meint er, ein paar Monate kann das wieder kosten.” 
Für die Seinen hatte er nur Undank. Eines Tages richtete er einen 
Brief an seine Mutter und verlangte unter Drohungen Geld. Jetzt 
suchte der Stiefvater Sicherheit zu erlangen, indem er sich an die 
Polizei wandte. Er teilte gleichzeitig mit, dass er den Jüngling für 
geistig erkrankt halte, und liess bitten, ihn der Klinik behufs Beob- 
achtung zuzuführen. Die Behörde tat dies, obgleich ein dringendes 
Motiv eigentlich nicht ersichtlich war. Da bei der Zuführung auch ein 
ärztliches Zeugnis mit dem Nachweis einer Geistesstörung nicht vor- 
gelegt werden konnte, so wurde die Aufnahme verweigert, es sei 
denn, dass T. selbst darum einkomme und sich zum Eintritt bereit 
erkläre. Er that dies und blieb nun mehrere Wochen in der Klinik, 
berechtigt, jeden Augenblick seinen Austritt zu nehmen. — In dieser 
Zeit verhielt sich der junge Mensch durchaus sozial, erschien aber 
arbeitsscheu. Er bummelte meist im Garten umher, spielte mit an- 
wesenden Patienten Karte und suchte sich nach Kräften die Zeit zu 
vertreiben. Seine Kenntnisse waren sehr gute, er wusste auf straf- 
rechtlichem Gebiete recht gut Bescheid, hatte volle Einsicht in seine 
Strafthaten und sagte über die letzte Unterschlagung selbst: „das habe 
ich gethan, also muss ichyes auch absitzen.“ Er erhob nicht den ge- 
ringsten Anspruch darauf, für geisteskrank angesehen zu werden, 
sondern es war ihm darum zu thun, möglichst bald die letzte Sache, 
die ihm zur Last gelegt wurde, zu erledigen, damit er sich wieder 
frei bewegen könne. Dem Referenten gegenüber meinte er, es sei 
doch besser, er lasse sich keine weiteren Unterschlagungen zu Schulden 
kommen. Darauf hingewiesen, dass er, falls alle seine Diebereien 
immer zur Kenntnis der Gerichte gebracht worden wären, jetzt lang- 
dauernde Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben würde, lachte er, er 
glaube es schon. Nie kamen bei ibm Bewusstseinsstörungen oder 
Trübungen epileptoider Art vor. Nie waren anderweitige Züge 
geistiger Störung zu beobachten. Aus der Jugend war nichts von 
überstandener Krankheit des Gehirns oder seiner Häute bekannt. Es 


— 92] — 


fehlte jede. Voraussetzung einer Unterordnung unter den $ 51. 
Man konnte sich nur dahin aussprechen, dass bei T. angeborene 
moralische Defekte, ein oft planloses und aufbrausendes Wesen zu be- 
obachten seien, dass es sich somit höchstens um einen Zustand mässiger 
geistiger Schwäche handeln könne, der eventuell zur Prüfung der 
Frage berechtigt, ob der § 6 B. G. B. anzuwenden sei. T. wurde 
darauf entlassen und hat sich bisher noch keine strafrechtliche Ver- 
gehungen zu Schulden kommen lassen. 


IV. Auch der hier in Frage kommende Zögling gehört zu den 
moralisch fast völlig indifferenten, dabei aber sonst intellektuell keine 
Defekte bietenden. Das Armenamt zu G. wünscht Auskunft über 

die Erziehungsfähigkeit der 9 Jahre alten F. Es handelt sich um 
ein unehelich geborenes Mädchen, das von einem Alkoholisten ab- 
stammen soll. Die Mutter hat sich hernach verheiratet und zwei 
Kinder in der Ehe geboren, mit dem dritten geht sie grade schwanger. 
Der Ehemann hat das voreheliche Kind seiner Frau bei sich aufge- 
nommen. Er ist Auslaufer. Die Verhältnisse sind die denkbar ärm- 
lichsten. In der Schule kam das Kind gut mit, daheim neigt es zur 
Lüge, ist vorlaut und verübt Gewalttätigkeiten gegen die Geschwister. 
Eine dreiwöchentliche klinische Beobachtung auf offener Abteilung 
giebt völlige Klarheit und veranlasst, Anstaltserziehung zu em- 
pfehlen. 


Intellektuell entspricht das Kind mindestens dem Durchschnitt, 
es fasst sehr schnell auf, beobachtet und kritisiert scharf. Stets ist 
die Kleine sehr gesprächig in Abwesenheit des Arztes, kommandiert 
und schimpft über andere jugendliche Patientinnen, dabei sich der 
schmutzigsten Redewendungen bedienend. Gern renommiert sie mit 
Kenntnissen über alle möglichen Schauderdinge, die in der Gegend 
passiert sind. Von Mord und Totschlag weiss sie genau Bescheid 
und nennt als Quelle ihrer Kenntnisse einige Lokalblätter, die sie 
täglich in die Hände bekommen haben will. Auch sexuelle Dinge 
sind ihr schon bekannt, von ihrem Lehrer behauptet sie Dinge, die 
diesen auf die Anklagebank bringen könnten, wenn sie wahr wären. 
Ist der Arzt da, so ist sie die Bescheidenheit selber, kann kaum 
reden, kehrt er den Rücken, so besitzt niemand mehr Autorität bei 
ihr. Eines Tages fiel sie ganz motivlos, nur weil sie etwas feuchtes 
in ihrem Gesicht verspürt haben wollte und sogleich eine im Neben- 
bett liegende Kleine damit in Zusammenhang brachte, als habe diese 
sie bespuckt, über diese her und hätte sie beinahe erwürgt. Hernach 
fehlte jede Spur von Reue und Bedauern. — Für den Fall des Fehl- 
schlagens der Erziehung in einer Erziehungsanstalt wurde ange- 
raten, mit ihr eine Idiotenanstalt aufzusuchen. 


Hier haben wir den Typus der jugendlicheu Verbrecher 
vor uns, die ohne jede Gefühlsregung, eventuell wegen einer 


iz DO 


Bagatellsache, die nächsten Angehörigen bezw. die jüngeren 
Geschwister, in allerschwerster Weise gefährden und sich für 
eine Familienerziehung absolut nicht eignen. 

d. Als vierte Gruppe fassen wir die psycho- 
pathisch Veranlagten zusammen. Hier lassen 
sich zahlreiche Untergruppen aufstellen: Imbecille 
mässigen Grades, Epileptische im weiteren Sinne mit reiz- 

: „barer Schwäche, Hysterische, constitutionell Verstimmte 
“ete. In ‘den meisten Fällen besteht hier erbliche Belastung. 


o N aturgemäss sind es grade die zu dieser Gruppe gehörenden 

Zöglinge, die auch am ehesten bei ihren Erziehern durch ihre 

auffälligen Charakterzüge, durch das Schwankende in ihrem 

Wesen den Verdacht aufkommen lassen, dass man es mit ab- 

sonderlich gearteten Wesen zu tun hat, die darum auch gelegent- 

lich schon früh dem Arzte zugeführt werden. Bei den zahl- 

reichen Zwangszöglingen, die in den letzten zehn Jahren vor- 

übergehend in der Giessener Klinik verpflegt wurden, handelte 

es sich -zumeist um: Angehörige dieser Gruppe. Wir geben 
einige prägnante Fälle im Auszuge wieder. | l 

: 'V. L. aus G. war 15, Jahre alt, als sie uns zugeführt wurde. 

Es geschah dies auf Veranlassung des Vormundschaftsgerichtes. Ihr 

‘ Vater war wegen paranoischer Geistesstörung interniert, die Mutter, 

= > die unehelich geboren war, starb ihr bereits im dritten Tebensjahre. 

"Von ` sieben Kindern war sie das sechste. Eine Schwester und ein 

>: Bruder hatten bezeichnender Weise auch aussereheliche Kinder. — 

++ Sie wurde zunächst bei Leuten, die später wegen Kuppelei angeklagt 

. wurden, erzogen. Mit 9 Jahren kam sie in andere Hände, wurde 

von einem älteren Ehepaare verhätschelt, sogar in eine bessere Schule 

“geschickt. Aus dieser wies man sie schliesslich aber aus, da sie 

- andere Mädchen geschlechtlich angegriffen hatte, — Konfirmiert kam 

- sie zu ihrer älteren verheirateten Schwester und berichtete dieser 

“nach einiger Zeit, dass ihr zweiter Pflegevater, dem sie also sehr zu 

‘Dank verpflichtet war, sie unsittlich angegriffen habe. Beide gingen 

~ züm Vormund, der kurz entschlossen das Mädchen von ihrer sittlich 

nicht einwandfreien Schwester fortnahm und als Kindermädchen ver- 

dingte. Bald aber refüsierte man sie, da sie beständig Herren nach- 

sah und Anknüpfungen suchte. In einem zweiten Dienst, auf dem 

` Lände, gefiel es ihr nicht, sie verlies ihn, fuhr nach N., zu Ver- 

. wandten ihres ersten Pflegevaters, Nun suchte der Vormand selbst 

` :erzieherisch auf sie einzuwirken , , indem er sie in sein Haus-nahm 

. und sie als Kindermädchen unter der Leitung seiner Frau beschäftigte 


un O8, 


In N. hatte sie aber einen jungen Menschen kennen gelernt, mit dem 
sie eine - heimliche Korrespöndenz unterhielt. Diesem offerierte sie 
sich eines Tages, ihrem Briefe die Lüge hinzufügend, dass sie an 
einem bestimmten Tage ihren 16. Geburtstag habe, er solle sie ent- 
führen und „mit ihr machen, was er wolle.“ Eines Nachmittags über- 
giebt sie das ihr anvertraute Kind des Vormundes auf der Strasse 
einer Bekannten und fährt mit dem jungen Menschen nach F. In- 
dessen war ihr die Nemesis per Telegraph vorangeeilt, die Bekannte 
- hatte bei Ablieferung des Kindes geplaudert und der Vormund ver- 

anlasste Sistierung bei der Ankunft des Púrchens in F. — Er ging 
nach diesem Streich mit rücksichtsloser Energie gegen die L. vor, 
-züchtigte sie oft durch Obhrfeigen und weckte ihren Hass noch mehr 
durch wiederholte polizeiliche Heimholung aus dem Kreise ihrer Ge- 
schwister. Als Gegenrepressalie äusserte sie eines Tages, sie werde 
von ihm sagen, dass er sich auch unsittlich an ihr zu vergehen gesucht 
habe, worauf der sich bedroht Sehende sofort kluger Weise selbst die 
Initiative ergriff und dem Vormundschaftsgerichte Mitteilung machte. 
Nun wurde die L. in die Klinik eingewiesen zur Feststellung ihrer 

“ geistigen Eigenschaften. Das Beobachtungsresultat war folgendes: 
Normaler Intellekt, als hervorstechende Charaktereigenschaften Sinn- 
lichkeit und Neigung zur Lüge, Hinterträgerei, phantastischer Um- 
bildung als. Ausdruck hysterischer Veranlagung. Ihre Angaben 
über an ihr begangene sexuelle Delikte können sehr wohl das Re- 
sultat phantastischer Verknüpfung und Weiterbildung sein. Geistes- 
störung und Geistesschwäche bestehen nicht. Gerathen wurde noch- 
malige Unterbringung in einer Familie, weil in einer Besserungs- 
anstalt, unter dem Einfluss krimineller Genossinnen, erst recht sitt- 
liche Verwahrlosung zu befürchten sein dürfte. 

In der nun gewählten Erziehungsform führte sich die L. sehr 
gut, nur einmal schien es, als ob sie in Geistesstörung verfallen wolle. 
Im Anschluss an die Aufschlüsse einer gewissenlosen Wahrsagerin, 

- die ihr zu einer bestimmten Stunde ihren Tod prognosticiert hatte, ver- 
fiel sie in eine kurz andauernde Depression mit Erregungsausbrüchen, 
beruhigte sich dann aber von selbst, war seitdem umgänglich und 
ordnete sich gut ein. Sie. hat später geheirathet und lebt in unge- 
trübter Ehe. Trotzdem die Erziehung also mit stark sexueller. Veran- 
jagung zu rechnen hatte, die bei weiblichen Individuen so oft nach Be- 
endigung der Zwangserziehung doch zur Prostitution führt, so gelang es 
hier dennoch, bei freier Erziehungsform, ein gutes Resultat 
zu erzielen. Ä Ä | 
Einen anderen Typus, nämlich .den der Hysteroepilep- 


sie, repräsentiert die in Zwangserziehung aufgewachseneT. aus N. 
VI. Ihre Eltern sind mit einem Wagen umherziehende Kessel- 

flicker. Die Mutter ist epileptisch, der Vater Potator. Von 11 Ge- 
schwistern starben 6 unter Krämpfen. . Eine Schwester ist imbecill 


— A — 


und in eiuer Erzieliungsanstalt, ein Muttersbruder beging Suicid, 
ebenfalls ein Sohn desselben. T. hatte als Kind Krämpfe. Sie wurde 
später den Eltern abgenommen, da diese sich in keiner Weise um die 
geistige Ausbildung des Mädchens kümmerten. In der Erziehungs- 
anstalt lebte sie dann bis zu ihrem 18. Lebensjahre. Sie lernte sehr 
gnt und erwarb umfassende Schulkenntnisse und Fertigkeiten, war 
aber stets eine unberechenbare Natur, launisch, reizbar, dann wieder 
übertrieben religiös. Neid, Eigensinn, Gehässigkeit und Missgunst 
waren ihre hervorstechenden Charaktereigenschaften. Körperlich war 
sie früh entwickelt, frühreif, hatte auch sicherlich schon sexuelle 
Neigungen betätigt, als sie im 16. Lebensjahre in gynäkologische 
Behandlung kam. Als Dienstmagd zündete sie im 19. Lebensjahre 
ohne weiteres Motiv als wie Lust am Feuer, ein Haus an und ver- 
ursachte dadurch einen Schaden von 20000 Mark. Diese Tat brackte 
sie in Untersuchungshaft. Zugleich fand nun eine rätselhafte Feuers- 
brunst, die in dem sie beherbergenden Rettungshause früher einmal 
sich ereignet hatte, ihre Erklärung. Die T. leugnete auch gar nicht, 
sie veranlasst zu haben. Sie war unmittelbar nach jener Tat mit 
einer Diakonissin in die Kirche gegangen. Ihre Abstammung, die 
Motivlosigkeit der Handlung sowie das eigentümliche Vorleben ver- 
anlassten eine Anstaltsbeobachtung gemäss $ 81. — 


Als interessantes Stigma degenerationis fanden sich bei der T. 
ausgedehnte, völlig pigmentlose Hautpartieen an Leib, Armen und 
Beinen. Psychisch bot sie das Bild einer ausgesprochenen Hystero- 
epilepsie. Bald war sie arbeitsam, tractabel, ruhig, dann wieder in 
unvermitteltem Wechsel reizbar und deprimiert bis zum Conamen. 
Tagelang bereitete sie durch ihre schrankenlosen Erregungsausbrüche 
der Pflege die grössten Schwierigkeiten, zerstörte Utensilien und 
Kleidung. Eine Bagatelle vermochte sie in Wut zu versetzen. Das 
Personal verhetzte sie, die eine Pflegerin gegen die andere ausspielend. 
Altruistische Regungen waren ihx fremd. Daneben fiel eine Neigung 
zu läppischen Spielereien und Streichen auf. Ihr Schlaf war‘ unruhig 
manchmal träumte sie lebhaft und schrie nachts im Schlaf: „Feuer.“ 


Ihre Brandstiftungen begründete sie damit, dass die zu der ersten 
geschritten sei unter dem Eindruck einer kurz zuvor geschauten 
Feuersbrunst. Beim zweiten Male (es handelte sich um den Brand 
einer Papiermühle) habe eine Äusserung des Werkmeisters, Papier 
brenne schlecht und knistere, sie nicht ruhen lassen, ehe sie nicht 
den Versuch gemacht habe, ob es sich wirklich so damit verhalte. 


Die T. wurde als geisteskrank ausser Verfolgung gesetzt und 
in eine Irrenanstalt überführt. Der Erziehungseffect war somit in 
letzter Linie in diesem Falle gleich Null. Die angeborene Anlage 
triumphierte schliesslich trotz aller Versuche, der Gesellschaft ein 
nützliches Glied zu erwerben. 


En. un 


Auch der folgende Fall ist ein Beleg dafür, dass so oft 
auf der Basis minderwertiger Veranlagung nach jahrelangen 
erzieherischen Schwierigkeiten sich schliesslich doch eine de- 
generative Geistesstörung entwickelt, als deren Vorläufer die 
an den Tag gelegten, eventuell sogar gerichtlich geahndeten 
unsozialen Handlungen anzusehen sind. 


VIL Die 1884 geborene N. von A., wird am 4. Januar 1902, 
eben 17 Jahre alt, uns zugeführt. Ihre Eltern starben früh. Von 
Geistesstörungen in der Familie ist nichts bekannt. Sie besuchte die 
Volksschule, war mittelmässig begabt. Mit 13 Jahren wurde sie von 
der Armenpflege übernommen, zunächst bei zwei Familien nacheinander 
in der Stadt untergebracht, dann bei einem Bauern verpflegt und 
schliesslich nach der Schulzeit bei einem Pfarrer als Magd verdingt. 
Ursache des mehrmaligen Erzieherwechsels war darin gegeben, dass 
die N. durch kleine Diebereien, Lügen und dergl. lästig wurde. Ein- 
mal war sie auch mit einem entwendeten Geldbetrage nach Coblenz 
zuV erwandten entwichen. 


Im Pfarrhause zeigten sich sehr bald unsoziale Eigenschaften. 
Sie begann ungehorsam zu werden, war trotzig, tat das Gegenteil, 
wenn man sie riigte. Als ihre Renitenz immer stärker hervortrat, 
wurde die Frage der Unterbringung in einer Besserungsanstalt er- 
wogen. Vorerst sollte indessen ein ärztliches Urteil eingefordert 
werden, ob es sich hier um Unmoral oder Geistesschwäche handle. 
So kam die N. auf 2 */, Monate in die Klinik. 


Körperlich liess sich eine leichte Asymmetrie des Schädels fest- 
stellen, auch fiel ein Missverhältnis des Breitendurchmessers zum 
Längsdurchmesser auf. N. verhielt sich gleichmässig ruhig und ge- 
ordnet, beschäftigte sich, legte bei den angestellten Prüfungen 
ihrer Schulkenntnisse gutes Verständnis an den Tag, fügte sich 
willig und ruhig in alles, schloss sich freundschaftlich an einzelne 
Pflegerinnen an, hatte nie Differenzen mit anderen Kranken. Ab und 
zu hörte man Klagen über Kopfschmerzen, Blutandrang, auch konnte 
man bisweilen Zittererscheinungen der Finger beobachten. Vorhalt 
ihres ungeziemenden Verhaltens gegen ihre Dienstherrschaft ver- 
stimmte sie in keiner Weise, sie räumte sogar ein, dass sie gefehlt 
habe. Von ihren verstorbenen Eltern redete sie pietätvoll, für ihre 
lebenden Geschwister legte sie Anhänglichkeit an den Tag. 

Das über sie abgegebene Gutachten schloss dahin, dass die N. 
bei normalem intellectuellem Verhalten eine Anzahl Charaktereigen- 
schaften besitze, die auf mässige moralische Schwäche schliessen 
liessen, deren Entfaltung durch ungünstige Verhältnisse, Mangel an 
geregelter Erziehung begünstigt sei. Geisteskrankheit und Geistes- 
schwäche im Sinne dauernder Geisteskrankheit, wurden ausgeschlossen. 


— 26 — 


Von Unterbringung in einer Anstalt wurde. abgeraten wegen der 
Gefahr der Berührung mit Kriminellen und anderen in stärkeren 
Maße ethischen Defekten. Geraten. wurde nochmalige Unterbringung 
in einer Familie nach vorheriger Unterweisung betr. der Eigenschaften 

` des Mädchens. Doch wurde die Möglichkeit, dass später sirae 
Fürsorge notwendig werden könne, nicht ausgeschlossen. 


In anerkennenswerter Weise machte darauf der Pfarrer dodi 
mals einen Versuch und nahm die N. in sein Haus. Sehr bald aber 
gab es neue Klagen, Diebereien und Naschen nahmen. überhand, oft 
‚versteckte sie sich, dass kein Mensch sie finden konnte, nicht nur im 
Hause stahl sie, sondern entwendete auch in einem Weisswaarenge- 
schäft für 15 Mark Gegenstände. Man schickte sie nun zuerst in's 
hiesige Stadthospital, wo versucht wurde, sie in der Hausarbeit zu 
verwenden, vergeblich. Sie war fortgesetzt renitent, schrie. bei Ver- 
weisen, drohte mit Selbstmord, wollte einmal eine andere Magd er- 
stechen, goss einer anderen Spülwasser ins Gesicht etc. 


Am 25. August 1902 kam sie abermals in die Klinik, diesmal als 
Geisteskranke mit einem kreisärztlichen Zeugnis, Ihr Verhalten war 
nun ein ganz anderes, wie das erste Mal. Unmotivierte Erregungs- 
zustäinde wechselten mit Depression und mutistischen. Zeiten. 
-Drohungen mit Selbstmord und Versuche in dieser Richtung brachte 
fast jeder Tag, bis die Kranke einer Landesirrenanstalt zugeführt 
wurde. Es galt nunmchr, die erste Diagnose zu ändern. Die Psy- 
chose fiel in den Rahmen des primären Schwachsinns bei bereits be- 
stehender psychischer Minderwertigkeit. Die N. ist anstaltsbedürftig 
geblieben. 


Der folgende Fall ist ein schlagender Beweis dafür, dass 
manchmal auch ärztliche Beurteilung auf Grund kurzer Ex- 
ploration zu erheblichen Irrtümern Anlass geben kann. Hier 
handelt es sich um ein angeboren schwachsinniges Kind, das 
aus der Zwangserziehung schliesslich doch. in die Irrenanstalt 
gelangt. Ä 


VII. A. K. von R., am 10. August 1887 geboren, kam 15 Jahre 
alt in die Klinik. Das Kreisamt zu G. möchte ein sachverständiges 
Urteil darüber haben, wie es um ihre Geistesbeschaffenheit bestellt 
ist. -Sie ist das zweite von 6 lebenden Kindern eines Fabrikarbeiters, 
der kurz vor ihrer Aufnahme zum zweiten Mal wieder geheiratet 
‚hatte. Nach der Zwangserziehungsacte ist sie in der Schule zurück- 

- geblieben, auch der Pfarrer wusste von sehr schwacher Begabung zu 
berichten. In der Familie waren recht traurige ‚Verhältnisse, die 

. zweite Frau hatte auch ein Kind geboren, sollte mit ihren Stief- 
kindern schlecht umgehen, speziell die A. K. mit Stock, Kehrbesen 
und durch Fusstritte misshandelt haben. Vom Vater wurde berichtet, 


— NN — 


er habe gelegentlich dein Kinde Lumpen in den Mund gesteckt, um 
es am Schreien zu hindern. Die Stiefmutter erzählte von kriminellen 
Zügen des Kindes, es habe Obst gestohlen, auch Geld auf der Messe, 
es sei faul, unselbständig, unreinlich. 
Aber auch das Kind fand seine Verteidiger. Zwei Parteien 
bildeten sich, die eine für, die andere gegen dasselbe. Der einen 
“Nachbarsfrau. macht das Kind einen stillen, ordentlichen Eindruck, so 
dass sie ihm lügen, stehlen und andere Untugenden nicht zutraut, sie 
will gesehen haben, dass die Mutter es schlug, „wie ein Vieh.* Eine 
. andere Hausgenossin weiss nichts von roher Behandlung, meint, es 
habe genau so viel bekommen, wie andere Kinder auch. Eine dritte 
verdächtigt wieder diese: sie wolle nur nichts sagen, weil sie mit der 
Familie gut stehe etc. Auch die Apothekersfrau hat sich ins Mittel 
gelegt und hat schliesslich den Pfarrer in Bewegung gesetzt, um Ab- 
hilfe zù schaffen. Jedenfalls lag Zündstoff genug bereit, aus dem 
. eventuell noch ein paar Beleidigungsklagen hätten entspringen können. 
— Pfarrer und Schulvorstand empfahlen Entfernung aus der Familie 
- und Zwangserziehung. Der Kreisarzt bezeichnete die A. K. als mo- 
. ralisch defekt und empfahl die Erziehungsanstalt. Am 21. Mai 1902 
wurde Zwangserziehung verfügt, aber erst am 19. Juli war ein Platz 
. in einer Anstalt frei. - Schon nach : wenigen Tagen bean- 
- tragte aber der Vorsteher der letzteren die Entfernung der K. Das 
Kind sei unreinlich, gierig,.so dass es nach den Mahlzeiten brach, es 
singe viel. und sei durch Vermahnungen unbeeinflussbar. Fünf Wochen 
. später, nach Erledigung des as kam das Kind in die 
Klinik. Ä 
- Körperlich erweist es sich als EEE hat eigenartige 
Behaarungsanomalien auf dem Rücken und Absonderlichkeiten der 
Zahnstellung, ist aber sonst gesund gebaut. Dic Schulkenntnisse sind 
= sehr ‚gering, aber das Kind vermag doch im Zahlenraume von 1—100 
_ gut zu ‘rechnen, es dividiert sogar auffällig gut. Sonst fehlt ihm 
-- aber auch so gut wie alles geistige Leben. Es isst, trinkt und schläft, 
singt oder spielt für sich, redet oft den Pflegerinnen tausenderlei unzu- 
-sammmenhängende Dinge ideenflüchtig vor. Weiter war es auch un- 
reinlich, musste geführt werden. Es handelte sich somit um einen 
- angeborenen Schwachsinn mit Steigerung in der Pubertátszeit. Die 
K. kam dauernd in eine Landesanstalt und- belindek sich ,. wesentlich 
blöder geworden, noch darin. 


Auch in dem folgenden Falle fand die aake e 


des für eine Zwangserziehung in Aussicht genommenen jungen 
Menschen erst reichlich spät die richtige Würdigung, nachdem 
er bereits Bestrafungen erlitten und den Seinen viel Kummer 
gemacht hatte. 


IX. Heinrich G. von H., kam 16 Jahre alt in die Klinik. Er 


— 92% — 


ist schwer belastet. Ein Muttersunkel tötete erst seine Frau und 
dann sich. Ein Muttersbruder ist starker Trinker, eine Mutters- 
schwester paranoisch, eine zweite hysterisch lügenhaft. Der Vater 
ist nervös, vielleicht selbst Trinker. G. war bereits dreimal vorbe- 
straft, als er in die Klinik kam, einmal wegen Körperverletzung, dann 
wegen Betrug und Beleidigung. Zuerst war er Gymnasiast, dann er- 
füllte er dürftig die Anforderungen der Volksschule Hernach ver- 
suchte der Vater ihn alles mögliche lernen zu lassen, er war Zimmer- 
mann, Comptoirist, alles umsonst. Einmal bedrohte er einen Alters- 
genossen mit Erschiessen, dann bestahl er den Vater um Gegenstände 
aus seinem Laden. Nun riss diesem die Geduld, und er warf ihn zum 
Hause hinaus. Jetzt zog er mit einer Karousselgesellschaft umher, 
belästigte aber auch den Vater, so dass dieser entsprechend dem 
$ 1631 B. G. B., die Hülfe des Vormundschaftsgerichtes in Anspruch 
nahm. Man tat ihn nun, nach neuerlichen Excessen, in Polizeigewahr- 
sam, bis eine Besserungsanstalt für ihn ausfindig gemacht wäre. Jetzt 
bekam er seinen ersten Erregungszustand, lärmte und sang in seiner 
Zelle, zerstörte auch das ganze Zellmobiliar. In der Klinik führte 
er sich ordentlich, seine Stimmung schwankte zwischen heitrem 
Gleichmut und reizbarer Unlust hin und her. Gern spielte er anderen 
einen Possen. Seine Kenntnisse waren gering, unter dem Durch- 
schnitt. Der Vater nahm ihn wieder mit heim, doch kam er später 
in eine Besserungsanstalt, wo er sich bis jetzt leidlich führen soll. 
Es kann kein Zweifel sein, dass es sich bier um einen Imbecillen 
handelt, der im späteren Leben wohl sicher gelegentlich vorübergehend 
oder auch dauernd, vielleicht wegen gemeingefährlicher Handlungen 
ein Objekt der Psychiatrie "wird. Ein Grund, den 16 jährigen dauernd 
in einer Irrenanstalt zu internieren, lag aber nach Abklingen des ihn 
in die Klinik führenden Erregungszustandes nicht vor. 


Den Typus des psychisch abnormen Kindes ohne ausge- 
sprochen pathologische Erscheinungen repräsentiert das folgende: 


X. B. aus H., kommt 10 Jahre alt, in die Klinik. — Das Kind 
ist als älteres von zwei Mädchen unehelich geboren. Die Mutter wird 
als ,geistigblúdsinnig" bezeichnet. Ihr standen ganze 35 Pfennige 
per Tag zur Verfügung, kein Wunder, dass unter diesen Verhält- 
nissen das Kind verkam. Es strotzte von Ungeziefer, kam zerlumpt 
zur Schule und hatte das Glück, kann man wohl sagen, mit 7 Jahren 
in die Zwangserziehung genommen zu werden. Nach einem Jahre 
schon kündigten die Pflegeeltern wegen eingetretener Familienver- 
hältnisse. Damals berichtete der Geschäftsführer des Erziehungs- 
vereins an das Kreisamt: Betragen, Fleiss, Leistungen im ganzen gut. 
Betragen im Hause nicht ohne Tadel, sehr flatterbaft, wild und ruhe- 
los, geringer Fortschritt. — Ein Jahr später werden Betragen und 
Fleiss in der Schule auch noch als genügend bezeichnet, dagegen 


— 9 — 


über das Verhalten im Hause gemeldet: diebisch, mangelhaftes Be- 
tragen. 


Misshandlungen durch den zweiten Erzieher veranlassten wieder 
zur Verbringung in andere Pflege, d. h. in zwei Jahren doppelter 
Wechsel der Erzieher. Ob man nun verständigere Leute gefunden 
hatte? Jetzt im Juli 1904 lautet der Bericht, sie sei brav, willig, 
aber gar zu flatterhaft. Ührigens war mit jedem Wechsel der Er- 
zieher, auch ein Wechsel des Wohnsitzes verbunden, so dass das Kind 
sich immer erst wieder in ganz neue Verhältnisse einleben musste. 
Im Januar 1905 verzeichnet der Erziehungsbericht: „Schule Betragen 
mangelhaft, unruhig, Fleiss gut, Leistungen kaum genügend. Ruhig 
acht zu geben, ist ihr unmöglich. Zu Haus ist sie folgsam und wilig, 
aber zerfahren. Sollte ihre Zerfahrenheit krankhaft sein? 


Auf Antrag des Erziehungsvereins liess nun das Kreisamt das 
Kind der Klinik zuführen. In der Motivierung des Antrages heisst 
es: sie ist in steter Aufregung, unruhig auch in der Schule, vergess- 
lich, ohne dass böser Wille vorliegt. Sie ist sehr eifersüchtig, wenn 
Z. B. seine kinderlosen Pflegeeltern Interesse für andere Kinder an den 
Tag legen, so neigt sie sogar zu Misshandlungen der letzteren. 


Die etwa 8 wöchentliche Beobachtung konnte feststellen: Sie be- 
sitzt abnorme Charaktereigenschaften. Im Grunde ist sie ein gut- 
geartetes und in intellektueller sowie ethischer Hinsicht erziehbares 
Kind, sie ist folgsam, willig und nicht ausgesprochen lügnerisch, aber 
ängstlich und furchtsam und oft zurückhaltend, was gelegentlich ihre 
Aussagen und Geständnisse beeinträchtigen kann. Sie arbeitete hier 
fleissig mit in der Küche, doch kann nicht in Abrede gestellt werden, 
dass sie etwas Unstätes und Unbeständiges in ihrem Wesen hat. Be- 
züglich ihrer Gemütseigenschaften ist zu sagen, dass sie etwas reizbar 
ist, auch in freudigen Affekten oft über das Ziel hinausschiesst. 
Doch sucht sie keine schlechte Eigenschaften zu betätigen, Lüge und 
Verleumdung sowie Diebereien sind nicht vorgekommen. Das Kind 

eignet sich demnach weiter für eine Familienerziehung, die eine liebe- 

volle, aber strenge sein muss. — Hierauf kam das Kind zu einer 
alleinstehenden älteren Frauensperson, welche in ihrer häuslichen 
Einsamkeit sich unbehaglich fühlte und darnach verlangte, sich eines 
verwaisten Kindes anzunehmen, die also nicht etwa aus pekuniären 
Interessen sich um die Pflege beworben hatte. 

Die Prognose dieses Kindes wird nicht unbedingt günstig gestellt 
werden dürfen. Soll aber etwas aus ihm werden, so wird jedentalls 
der sprunghafte Wechsel im Erziehungsplane unterbleiben müssen. 
Personen, die bei jeder „Unart“ gleich erlahmen und auf Abnahme 
drängen, eignen sich gewiss in solchem Falle nicht zum Erzieheramte. 


Erwägt man unter Berücksichtigung der Zugehörigkeit zu 
einer der vier Gruppen die Frage, welche Wege die Erziehung 


— 380 — 


des Einzelnen einzuschlagen hat, so ergiebt sich ohne weiteres, 
dass die Indicationen sehr verschiedenartige sind. Jede Er- 
ziehung muss individualisierend, vorgehen, und bei so difficilem, 
so zahlreiche Varianten aufweisendem Rohmaterial ist dies erst 
recht von Nöten, soll nicht von Anfang an das Resultat in 
Frage gestellt werden. Bei der Gruppe a liegt kein Grund vor, 
bessernd einzuwirken, weil keine Verderbnis besteht, wohl aber 
ist es nötig, ihre Vertreter vor der Berührung mit der anderen 
Gruppe sorgsam zu schützen. Bei den zur Gruppe b und c 
gehörenden ist dagegen eine straffe Zucht am Platze. Bei jenen 
wird sie ein Verständnis für die erzieherische Absicht der Strafe 
finden, es wird ihr gelingen, die gewucherten Triebe zu be- 
schneiden und den Zögling in die Bahn der Sitte und Ordnung 
zurückzuleiten, die Triebfeder des Ehrgefühls wird sich fester 
spannen lassen, so dass hier ein hoher Prozentsatz brauchbarer 
Menschen zu gewinnen sein wird. Hier können Familien- 
pflege und der darin wirksame Einfluss gut gearteter Kinder 
gute Erfolge zeitigen. Selbst Fälle schlimmster Verwahrlosung 
finden sich hier manchmal noch zurecht und bestätigen das 
Wort, dass der „gute“ (d. h. der gut veranlagte) Mensch in 
seinem dunklen Drange des rechten Weges sich bewusst bleibt. 
Nie sollte man darum, wo man unter dem Russ der Demorali- 
sation noch die spiegelnde Fläche guter Artung vermuten darf, 
auf den Versuch der Familienpflege verzichten. 

Anders liegt die Sache bei der Gruppe c. Ihre angeboren 
moralisch defekten, aber dabei über eine hinreichende Summe 
von Intelligenz und Urteilsvermögen verfügenden Vertreter be- 
dürfen strenger Erziehung und straffer Disziplin, damit sie lernen, 
dass Wohlverhalten und Achtung der durch das Gesetz gezo- 
‚genen Grenzen sie vor Unannehmlichkeiten und Strafen be- 
wahrten, hingegen die rücksichtslose Betätigung egoistischer 
Strebungen und verbrecherischer, fremde Rechte lädirender Nei- 
gungen Gegenrepressalien der geschädigten Gesellschaft zur 
Folge hat. Diese Individuen gehören unter eine wachsamere 
Aufsicht, wie eine Familienpflege sie bieten kann, und sei letztere 
von noch so strengen Prinzipien durchdrungen. Man kann sie 
ausserhalb einer Anstalt nicht immer im Auge haben, und wird 
darum nicht in dem Maße jede Regung unsozialer Triebe unter- 


os A u 


drücken kónnen,. wie es in einer Besserungsanstalt sich durch- 
führen lässt. Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass ihre 
Anhäufung in Anstalten und Besserungshäusern mit grossen 
Schwierigkeiten wegen der Gefahr gegenseitiger Infektion ver- 
bunden ist. Dass die Verbringung von Individuen der Gruppe 
b in. solche, wesentlich mit angeboren moralisch defekt Veran- 
lagten besetzte Anstalten ebenfalls contraindizirt ist, bedarf 
kaum der Betonung. | DE 

Der subtilsten Behandlung von allen Zwangszöglingen be- 
dürfen ohne allen Zweifel die der Gruppe d. angehörenden. 
Hier spielt das psychopathische Moment eine so bedeutende Rolle, 
dass nur der den Aufgaben der Erziehung gerecht werden kann, 
der sich in jedem Einzelfalle ganz der Individualität und Ver- 
anlagung des Zöglings anzupassen weiss und gründliche Kennt- 
nisse auf diesem Gebiete besitzt. Die Bewertung von Er- 
regungszustánden, die Beurteilung der „Lüge“, die Behandlung 
„lasterhafter‘ Angewöhnungen darf hier nicht nach normal- 
psychologischen Grundsätzen vorgenommen werden. Die Er- 
ziehung jener Imbecillen, deren Schwachsinn nicht so sehr in 
einem Unvermögen zur Aufnahme des Gedächtnismateriales 
beruht, als vielmehr in einem Mangel an Anpassungsfäbigkeit 
und Mangel an Urteilskraft, ist eine Aufgabe, die nur der richtig 
anzugreifen weiss, dem die Auffassung geläufig ist, dass die 
Konstatirung eines guten Erinnerungsvermögens und einer auf 
Grund desselben erworbenen umfangreichen Summe von Schul- 
kenntnissen noch lange nicht gleichbedeutend ist mit der Fest- 
stellung einer gesunden Intelligenz. 

Wie viele unter diesen psychopathisch Veranlagten wird 
eine sorgsame Sichtung herausfinden, die leicht ermüdbar, 
schwerfällig im Denken, psychisch leicht gehemmt sind, und 
die dabei von psychologisch ungenügend geschulten Erziehern 
immer wieder als faul, nachlässig und widerspenstig angesehen 
und durch Zuchtmittel zu beeinflussen gesucht wurden, deren 
Erfolglosigkeit von vorneherein hätte bekannt sein müssen. Wie 
viele epileptisch Veranlagte im weiteren Sinne sind schon zur 
Crux einer Besserungsanstalt geworden, haben Mitzöglinge und 
Erzieher bedroht und beschädigt oder an totem Material ihre 
Wuth ausgelassen, nur darum, weil ihrer abnormen Erreglich- 


— 32 — 


keit nicht richtig begegnet, sondern in ihr nur strafwürdige 
Rohheit und Gemeinheit erblickt wurde. 

Manche von diesen abnorm Veranlagten darf die Fa- 
milienpflege für sich zunächst reklamiren, aber eigentlich nur 
die aufgeklärtere, der man die Eigenart des Pfleglings zum 
Bewusstsein gebracht hat. Dass es schwer ist, für solche Auf- 
klärung bei Pflegern aus einfachen Verhältnissen das richtige 
Verständnis zu finden, wird jeder wissen, der sich solcher Auf- 
gabe je unterzogen hat. Es ist das ebenso schwierig, wie das 
Unternehmen, bei dem grossen Publikum ein richtiges Ver- 
ständnis für das Verhalten und die Äusserungen Geisteskranker 
zu wecken. 

Sind Zöglinge der Gruppe b und c mit solchen der Gruppe 
d gemeinschaftlich untergebracht und eine individualisierende 
Behandlung differenziert, die psychopathischen Züge der letzteren 
berücksichtigend, die Strafmittel, sieht diesen nach, was jenen 
Rüge und Züchtigung einträgt, so führt dies, so berechtigt auch 
ein solches Verfahren an sich ist, sicher zu einer Schädigung 
des Ansehens des Erziehers bei seinen die Motive nicht ver- 
stehenden und ihn für parteilich haltenden Zóglingen. Zwangs- 
anstaltserziehung ohne sorgfältige Scheidung der einzelnen Ka- 
tegorien ist eigentlich genau dasselbe, wie wenn man in psy- 
chiatrischen Anstalten «len ganzen Krankenbestand in gemein- 
schaftlicher Saalpflege ohne Differenzirung und Rücksicht auf 
die psychische Beschaffenheit der Einzelnen behandeln wollte. 
Ob aber in den gegenwärtig bestehenden Erziehungs- und 
Besserungsanstalten überall sorgfältig gruppiert wird oder über- 
haupt bei dem Missverhältnis zwischen Pflegenden und Pfleg- 
lingen gruppiert werden kann, das dürfte anzuzweifeln sein. 

Unsre Einteilung in Gruppen soll natürlich keine scharfe 
sein und macht nicht Anspruch darauf, dass nun nach diesen 
Gesichtspunkten sich jeder Einzelfall unschwer in eine bestimmte 
Rubrik bringen liesse. Es giebt viele Übergangsfälle zwischen 
den Gruppen. In welche einzelne Kategorie ein Zögling ein- 
zureihen ist, wird oft genug erst sein Verhalten in der Zwangs- 
erziehung ergeben. Mancher mag uns zur Gruppe b gehörig 
erscheinen, bei dem die Zukunft evident psychopathische Er- 
scheinungen zeitig. Mancher, bei dem wir anfangs nur mo- 


— 83 — 


ralische angeborene Defekte seben zu müssen glaubten, erweist 
sich später (wie der oben angeführte Fall Rs.) als angeboren 
schwachsinnig im Sinne einer dauernden Geistesstórung unl 
endet in der Irrenanstalt. Mancher Imbecille mässigen Grades, 
bei dem man nach seiner Vergangenheit und den abgelegten 
Proben unsozialer Veranlagung eine durchaus ungünstige Vor- 
hersage stellen möchte, kommt andrerseits bei guter Anleitung 
später überraschend gut durch das Leben, zumal dann, wenn 
er später in dienende Stellung gelangt, in der ihm eine gewisse 
 wohlwollende Bevormundung zu Teil wird. Solche Irrtümer 
sind in der Natur des schwierigen Gegenstandes begründet. 

Ist es schon: für den Fachmann somit nicht immer ganz 
leicht, den einzelnen Zögling richtig einzuschätzen, so wird der: 
psychiatrisch Unerfahrene auf diesem Gebiete erst recht mit 
Schwierigkeiten und Missgriffen zu rechnen haben. Die Forde- 
rung einer Diagnosenstellung nach eingehender Beobachtung 
und Feststellung des psychischen Inventars im Beginne einer 
jeden Zwangserziehung erscheint darum hinreichend berechtigt, 
selbst in den Fällen, wo scheinbar nur äusserliche Umstände (z. B. 
ein robes und unsittliches Verhalten der Eltern) die Indikation 
zur Fürsorge abgab und ein anscheinend gesundes Kind in Frage 
kommt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und Eltern, 
denen wegen hässlicher Charaktereigenschaften die Erziehung 
ihrer Nachkommen abgenommen werden musste, pflegen in den 
seltensten Fällen sonst vollwertige Menschen zu sein. Zumeist 
dürfte durch sie ihren Kindern bereits eine abnorme Anlage 
vererbt sein, die der Erzieher kennen und berücksichtigen muss. 

Der Satz: qui bene diagnoscit, bene medebitur gilt auch 
hier. Wer die Eigenschaften des Rohmaterials kennt, weiss 
auch, was daraus zu machen ist, welche Leistungen er ihm zu- 
muten darf. — Wer aber soll diagnostizieren? Die Antwort ist: 
leicht zu finden; hier ist auf den psychiatrisch geschulten 
Arzt zurückzugreifen. In jedem anhängig gemachten Falle, 
nicht nur in denen wo es darauf ankommt, die Spuren von 
Misshandlung oder Vernachlässigung an einem jugendlichen 
Körper nachzuweisen, sollte das betrefiende Kind zunächst zur 
kurzen Inaugenscheinnahme dem Gerichtsarzte vorgeführt werden. 
Wo eine psychiatrische Poliklinik besteht, könnte auch 

3 


a 1m. 


a Be 


vielleicht diese um ihre Mitwirkung angegangen werden. Ver- 
mag die flüchtige Exploration nicht hinreichend Aufschlüsse zu 
geben, so sollte, etwa analog dem $ 656 der Zivilprozessordnung, 
ärztlich beantragt werden, dass eine kurze Einweisung in eine 
Anstalt auf vielleicht eine bis drei Wochen verfügt werde, da- 
mit so dem Facharzte Gelegenheit gegeben wäre, sich eingehend 
mit dem Kinde zu beschäftigen, seine Gewohnheiten, seine be- 
sonderen Eigentümlichkeiten etc. kennen zu lernen, kurz: seine 
Eigenart unter Berücksichtigung der Erblichkeit und des Vor- 
lebens festzustellen. 

Die oben gebrachten Fälle, die sich noch um zahlreiche 
vermehren liessen, sind ein Beweis dafür, dass die mit der 
Zwangserziehung betrauten Behörden doch immer mehr sich 
der Wichtigkeit psychiatrischen Beirates bewusst 
werden. Es ist uns unbekannt, ob auch andere psychiatrische’ 
Kliniken in dieser Hinsicht bereits Erfahrungen sammeln konnten 
bezw. in der Lage waren, Zwangszöglingen über einige Zeit 
Unterkunft zu gewähren. Wo die Möglichkeit dazu besteht 
(meistens will niemand von den maßgebenden Faktoren sich 
zur Kostentragung bereit finden lassen, während das Angebot 
eines Freiplatzes sofort zahlreiche Bedenken aus dem Wege 
räumt), da sollte man reichlich von ihr Gebrauch machen. Man 
gewinnt einen wertvollen Zuwachs an nicht nur klinisch inter- 
essanten, sondern auch für die Ausbildung der Arzte sehr wich- 
tigen Fällen, deren Kenntnis letztere veranlassen wird, in späterer 
Praxis’auch diesem, scheinbar ausserhalb ihres Wirkungskreises 
liegenden Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. — 
In den Ausführungsbestimmungen des preussischen Fürsorge- 
erziehungsgesetzes wird besonders betont, dass man sich einer 
Mitwirkung der Geistlichen, Lehrer und Ärzte versichern solle. 
Zu einer solchen Mitwirkung wird aber der Arzt am ehesten 
bereit und befähigt sein, dem im psychiatrischen Unterricht 
dieser Gegenstand nahegebracht und an Fällen des täglichen 
Lebens erläutert wurde. 

Sollte der Vorschlag einer ärztlichen Voruntersuchung 
später Anerkennung finden und häufiger in die Praxis umgesetzt 
werden, so wird der Arzt sich allerdings hüten müssen, in der 
Auffassung vieler Fälle der Gruppen c und d zu rigoros zu sein. 


a MAN, 


Er darf die Grenze zwischen dem psychisch Abnormen und dem 
direkt als krankhaft zu Bezeichnenden nicht zu sehr zu gunsten 
des letzteren ziehen. Er wird sich bewusst bleiben müssen, 
dass eine Diagnose auf angeborenen Schwachsinn eigentlich 
gleichbedeutend ist mit dem Ausschluss der Fürsorgeerziehung.. 
Wer schon angeborenen Mangel an moralischen Empfindungen 
als ein Krankheitssymptom bezeichnet, macht dadurch die besten 
Absichten eines Vormundschaftsgerichtes illusorisch und nützt 
damit dem Begutachtungsobjekt garnichts. Laquer hat in 
seinem sehr lesenswerten Aufsatz über die Mitwirkung der Ärzte 
bei der Ausführung des Erziehungsgesetzes (Vierteljahrsschrift 
für gerichtliche Medizin etc.) einen Fall veröffentlicht, den er 
bezüglich der Frage, ob mangelhafte Charakteranlage oder 
Geistesstörung vorliege, zu begutachten hatte. Er hat dabei 
betont, dass auf diesem Gebiete manchmal forensisch praktische 
Erwägungen den klinischen voranzustellen seien, eine Auffassung, 
der nur beigepflichtet werden kann. 

Wer ein neues Medikament verordnet, ist sich selbst gegen- 
über verpflichtet, seine Wirksamkeit zu kontrollieren, sich ein 
Urteil zu bilden, ob es in dem gewünschten Sinne den darein 
gesetzten Erwartungen entspricht. So ist es mit der Anordnung 
der Zwangserziehung nicht allein getan, sondern wir sind uns 
schuldig, Rechenschaft über Erfolge oder Misserfolge abzulegen. 
Einzelne Fälle beweisen nichts, nur eine sehr umfassende 
Statistik kann da Aufschluss erteilen. Nur auf Grund der 
genauen Katamnese in tausenden von Fällen vermögen wir zu 
erkennen, ob der beschrittene Weg generell der richtige ist. Es 
ist somit eine subtile Verfolgung der weiteren Lebensschicksale 
einer grossen Anzahl von Zöglingen notwendig, damit man Klar- 
heit darüber gewinnt: welche Form der Erziehung die empfehlens- 
werteste ist, ob bei verschiedenen Kategorieen von Zöglingen die 
Besserung von Dauer ist, oder ob nach erlangter Volljährigkeit 
die Mehrzahl der vom Zwange Befreiten nicht dennoch versinkt 
und dem Verbrechen oder der Prostitution verfällt. Weiter wird 
es von Wichtigkeit sein, festzustellen, bei wie vielen von den 
psychopathisch Veranlagten schliesslich auf der Basis ange- 
borener Minderwertigkeit doch noch Geistesstörungen mit de- 
generativer Färbung ausbrechen. Solche katamnestische 

3* 


Feststellungen erfordern Zeit und Miihe, und es liegt auf 
der Hand, dass zu ihnen ebenfalls der psychiatrisch geschulte 
Arzt die besten Qualifikationen besitzt, dem darum auch schon 
während der Dauer der Zwangserziehung mehr Fühlung mit 
den Zöglingen zu wünschen wäre. In gleicher Weise wie bis- 
her leider im Idiotenwesen ist ärztlicher Einfluss hier viel zu 
sehr hinter den des Pädagogen zurückgetreten, der Arztist viel zu 
sehr Nebenperson gewesen. Wie man auf dem Gebiet der Epilep- 
tikerfürsorge immer und immer wieder betonen muss, dass sie nicht 
mehr fast ausschliesslich wie bisher privater und kirchlicherWohl- 
tätigkeit überlassen bleiben darf, sondern vom Staat oder den 
Provinzen in Angriff zu nehmen ist, so darf man auch in Bezug 
auf die weitere Entwicklung des Erziehungs- und Besserungs- 
anstaltswesens nicht länger allein den alten Bahnen folgen. Man 
möge das nicht missverstehen, wie wenn wir jene Bestrebungen 
herabsetzen wollten. Im Gegenteil muss man es anerkennen, 
wenn man z.B. konstatieren kann, dass die evangelische innere 
Mission schon 1899 in 320 Rettungshäusern 14636 Plätze dem 
Erziehungswerke zur Verfügung stellen konnte. 

Aber die neue Zeit verlangt Berücksichtigung neuer Ge- 
sichtspunkte: strengerer Individualisierung, Umsetzung psycho- 
logischer, speziell medizinisch-psychologischer Forschungsresul- 
tate in die Praxis, und nicht immer wird der Pädagoge solchen 
Anforderungen gegenüber hinreichend gerüstet sein, bezw. nach 
seiner ganzen Ausbildung sie befriedigen können. — Wie im Be- 
triebe der Irrenanstalten überall im Lande jetzt nach gewissen 
einheitlich erprobten Maximen mit geringen, durch die Lokal- 
verhältnisse bedingten Variationen gehandelt wird, so müssen 
sich auch einheitliche Grundsätze für die Rettungshäuser und 
Erziehungsheime gewinnen lassen. Davon sind wir noch weit 
entfernt, denn überall bleibt es wohl noch dem Einzelvorstand 
überlassen, seinen Erziehungsplan zu entwerfen und nach Be- 
lieben ihn auszuführen, zusammenzutun, was ihm beliebt, zu 
disziplinieren, wie es ihm gefällt. 

Auf welche Weise hier ein Kompromiss zwischen ärztlichen 
Wünschen und den seither bestehenden Verhältnissen geschaffen 
werden kann, ist schwer zu sagen. Ohne besondere gesetzliche 
Bestimmungen wird es kaum durchzuführen sein. So wird 


z A o 


zunächst in dieser Beziehung wohl alles beim Alten bleiben. 
Die Neigung, staatliche Institute diesem Zwecke zu errichten, 
ist auch darum noch eine geringe, weil eben der Erfolg der 
Zwangserziehungsgesetzgebung noch nicht in absolut sicheren 
Zahlen sich ausdrücken lässt. Ein Ideal müsste es sein, wenn 
in einem grösseren Bezirke eine Art Erziehungszentrale 
sich befände, unter ärztlicher Leitung, in welche aller Fäden 
zusammen liefen, die, im Zusammenhang mit dem Vormund- 
schaftsgericht stehend, eine Personalakte jedes Zöglings nach 
psychiatrischen Grundsätzen anlegen und kompletieren würde, 
letzteres an der Hand der Berichte aller an der Sache beteiligten 
Personen, Pfarrer, Lehrer, Ärzte ete. Dieser Leitung könnte 
dann auch eine Fürsorgeerziehungsanstalt unterstellt sein, in 
der die schwierigsten Elemente, die für die Familienpflege sich 
ungeeignet erwiesen haben, unterzubringen wären. Von hier 
würde dann der spätere Lebenslauf des Einzeln zu verfolgen 
sein, damit im Einzelfalle der exakte Beweis für die Nützlich- 
keit oder Unzweckmássigkeit der Zwangserziehung erbracht 
würde. 


Das sind einstweilen fromme Wünsche, indessen bieten 
sich uns zunächst noch andere, um die Resultate der Fürsorge- 
erziehung erspriesslicher zu gestalten. Es ist notwendig, die 
Tatsache, dass überhaupt gesetzliche Bestimmungen bestehen, 
mehr zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Wie selten be- 
gegnet man jemandem, selbst in den besten Gesellschaftskreisen, 
der auch nur eine Ahnung hat, dass es etwas derartiges giebt, 
geschweige denn weiss, wie es um die Ausführungsbestimmungen 
bestellt ist. Suchen wir Gelegenheit zu schaffen, durch welche 
möglichst viele Information erlangen können. Hier kann die 
Presse ausserordentlich viel nützen, indem die Tagesblätter auf- 
klärende Aufsätze über diesen Gegenstand bringen. Es wäre 
das jedenfalls besser, wie der Abdruck langer Artikel über 
Gerichtsverhandlungen, Verbrechen, Hinrichtungen und der- 
artige auf so viele Haltlose und ethisch Minderwertige förmlich 
faszinirend wirkende Vorkommnisse. 


Das Reichsgesundheitsamt giebt bekanntlich seit Jahren 
sogenannte Merkblätter heraus, in denen allgemeinverständliche 


ui. AB: 2 


belehrende Darlegungen über die Infektionskrankheiten und ihre 
Bekämpfung zu finden sind. Die Bekämpfung des Verbrechens 
ist eine Sache von mindestens gleicher Wichtigkeit und Be- 
deutung, und es müsste sich recht wohl ermöglichen lassen, 
ähnliches auch auf diesem Gebiete im Interesse der Förderung 
sozialer Wohlfahrt in die Wege zu leiten. Es ist wohl kein 
Zweifel, dass alle Tagesblätter die ihnen von einer Zentrale aus 
zugehenden Unterweisungen und Merkblätter gern zum Abdruck 
bringen und den Inhalt somit weiten Kreisen zugänglich machen 
würden. 

Eine weitere Möglichkeit der Popularisierung der Zwangs- 
erziehungsgesetzgebung bietet sich durch entsprechende Vorträge. 
Man ist in der Gegenwart überall in grösseren Städten bestrebt, 
das Bildungsniveau speziell der arbeitenden Klassen durch ge- 
meinverständliche Vorträge zu heben. Nirgendwo sollte da 
versäumt werden, auch diesen Gegenstand dem Verständnis 
näher zu bringen und die Wichtigkeit zu betonen, dass jeder 
in seinem Kreise Umschau halte und diejenigen, an deren 
Beihülfe das Gesetz in erster Linie appeliert, Ärzte, Lehrer, 
Geistliche etc. von Fällen drohender Verwahrlosung oder elter- 
licher Unfähigkeit zum Erzieheramte in Kenntnis setze. Wir 
wollen uns aber auch nicht verhehlen, dass es vielerwärts nicht 
unnötig ist, diese natürlichen Helfer aus ihrer Lauheit aufzu- 
rütteln, und zu intensiverer Mitwirkung aufzufordern. Uns 
interessiert hier in erster Linie der Arzt. Fragen wir einmal, 
wie viele Fachgenossen, welche Gelegenheit haben, in der Kassen- 
und Armenpraxis zur Fürsorgeerziehung geeignete Fälle her- 
auszuheben, in dieser Materie beschlagen sind, so werden wir 
sicher ebenfalls in einem hohen Prozentsatze Unkenntnis auf 
diesem Gebiete konstatieren müssen. Jeder Arzt sollte in der 
Gegenwart für zahlreiche soziale Probleme sich interessieren. 
Es wäre an der Zeit, dass ihm auch bereits auf der Hochschule 
Gelegenheit geboten würde, sich hierin die für das spätere 
Leben notwendige Basis anzueignen. Auch die Fürsorgeer- 
ziehung gehört da mit zum Unterrichtsstoffe, darüber kann wohl 
kein Zweifel walten. 

Wenn durch solche Maßregeln es sich vielleicht ermöglichen 
liesse, dass der Erziehungszwang auf stets zahlreichere Fälle 


— 39 — 


Ausdehnung erhält und stets in höherer Zahl gefährdete Minder- 
jährige aus dem ungeeigneten Milieu herausgehoben werden, 
so muss andererseits das Interesse darauf gerichtet bleiben, über- 
all einen guten Stamm pflegender Familien zu bekommen und 
an der Hebung ihres Verständnisses für die ihnen gestellte 
sozialpolitische Aufgabe zu arbeiten. Mit dem guten Willen 
der Leute, die sich zu dieser mühevollen Arbeit bereit finden 
lassen, ist es nicht allein getan. Nicht nur die Psychologie der 
Zwangszöglinge will berücksichtigt sein, sondern auch auf die 
Psychologie der mit dem Erziehungsamte zu Betrauenden ist 
gebührend Rücksicht zu nehmen. Oft genug kündigen Erzieher 
den Pflegekontrakt, weil sie sich absolut ausser Stande sehen, 
die Eigenart des Pfleglings zu verstehen, weil es immer wieder 
Missverständnisse und Reibungen giebt. Das könnte anders 
sein. Sehr zu empfehlen ist der Weg der Aufklärung durch 
populäre Schriften. Es fehlt noch unseres Wissens an einem 
Buche, das in knapper Kürze die Pfleger anleitet. Es müsste 
darin dargelegt werden, von welchem grossen Grundgedanken 
die Zwangserziehung getragen wird, Typen abnorm gearteter 
Kinder müssten in prägnanten Beispielen mit den daraus zu 
ziehenden Schlussfolgerungen und Behandlungsgrundsätzen ge- 
geben werden. Ein solcher Leitfaden würde sicher das Ver- 
ständnis vermehren und den Eifer anregen. 

Die Ansichten über den prophylaktischen Wert der Zwangs- 
erziehung divergieren bekanntlich stark. Die Einen schlagen 
ihn hoch an und erwarten von der Zukunft einen zahlenmäßigen 
Beweis der Berechtigung ihrer Überzeugung. Die Andern stehen 
ihr durchaus skeptisch gegenüber. Wir haben es vermieden, 
uns zu einer bestimmten Richtung zu bekennen und vertreten 
die Ansicht, dass beide Richtungen noch auf längere Zeit im 
Kompromiss sich betätigen und den weiteren Ausbau der Zwangs- 
erziehungsgesetzgebung und ihrer Ausführung wetteifernd be- 
treiben sollten. Vielleicht wird dann schliesslich das zu ziehende 
Fazit in der Mitte zwischen Optimismus und Skeptizismus 
liegen. 


Die Zwangserziehung. 
Referat erstattet durch Rechtsanwalt Dr. Fuld-Mainz. 


Schon vor der Zeit, in welcher die Kriminalstatistik an 
den von Jahr zu Jahr in intensivstem Maße anschwellenden 
Ziffern der Kriminalität der jugendlichen Verbrecher den voll- 
ständigen Bankerott des deutschen Strafsystems und der Straf- 
rechtspflege den jugendlichen Übeltätern gegenüber dartat, 
hatte die Landesgesetzgebung begonnen, sich mit der Regelung 
der Zwangserziehung zu befassen. Während verschiedene der 
vor dem R. St. G. B. geltenden Strafgesetzbücher es ausdrück- 
lich für statthaft erklärten, die von Personen unter 12 Jahren 
begangenen strafbaren Handlungen im Wege der Schulzucht 
oder der Anwendung von polizeilichen Besserungsmitteln zu 
rügen, hatte das R. St. G. B. von einer diesbezüglichen Vor- 
schrift abgesehen. Zu den Partikularstrafgesetzen, welche der- 
artige Bestimmungen kannten, gehörte auch das Hessische von 
1841, das Werk Breidenbach’s, dessen wissenschaftliche Bedeu- 
tung erst in den letzten Jahrzehnten zu ihrer Anerkennung 
gelangt ist. Da sich Zweifel geltend gemacht hatten, ob die 
Landesgesetzgebung in Folge des Schweigens des St. G. B. 
hierzu befugt sei, so erhielt $ 56 St. G. B. durch die Novelle 
eine Fassung, welche dieselben beseitigte. Auf dem Boden 
dieses reichsrechtlich geordneten Rechtszustandes setzte nun 
die Landesgesetzgebung ein, zunächst die preussische, deren 
Gesetz vom 13. März 1878, schon im Jahre 1884 abgeändert, 
für die meisten übrigen Bundesstaaten vorbildlich wurde, 
wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Auch die hessische 
Regierung verkannte die Notwendigkeit einer Ergänzung des 
Landesrechts insoweit nicht, und das Gesetz vom 11. Juni 1887 
gibt davon Zeugnis, dass man sich bei der Regelung der 


— 41 — 


Materie nicht nur von dem Gesichtspunkte der Verbrechens- 
prophylaxe, sondern auch von dem viel weiter gehenden be- 
einflussen liess, von dem Gesichtspunkte der sozialen Fürsorge, 
unter welchem man viel weniger von einer Zwangserzieh- 
ung, als von einer Fürsorgeerziehung reden kann. Mit 
vollem Rechte vermied daher auch die Hessische Gesetzgebung 
die Bezeichnung Zwangserziehung in der Überschrift und be- 
diente sich statt dessen der Bezeichnung, Gesetz, betreffend 
die Unterbringung jugendlicher Übeltäter und ver- 
wahrloster Kinder; dass man dieselbe in dem Ausführungs- 
gesetz zu dem B. G. B. fallen liess und zu dem längst nicht mehr 
zutreffenden Titel „Zwangserziehung Minderjähriger* zurück- 
kehrte, während.man in Preussen an Stelle der früheren Zwangser- 
ziehung nunmehr von einer Fürsorgeerziehung sprach, ist bedauer- 
lich und kann auch durch den Hinweis, dass man sich an die 
Ausdrucksweise des Einf.-Gesetzes zu dem B. G. B. möglichst 
genau habe anschliessen wollen, m. E. nicht genügend gerecht- 
fertigt werden. Während die meisten Bundesstaaten sich auch 
inhaltlich an das preuss. Ges. von 1878 in vielfach ziemlich 
enger Weise anschlossen, schlug die Hessische Gesetzgebung 
gerade bezüglich der Regelung der Frage, welche für die Für- 
sorgeerziehung das Rückgrat bildet, nämlich der Regelung der 
Voraussetzungen, eigene Wege ein. In Preussen hatte man 
sich darauf beschränkt, die Zwangserziehung nur unter der 
Voraussetzung der Verübung einer strafbaren Handlung zu 
gestatten; es genügte also nicht das Vorhandensein der sitt- 
lichen Verwahrlosung in eminentestem Sinne, nicht die un- 
mittelbare Gefährdung des sittlichen Gedeihens eines Kindes, 
nein, es musste eine strafbare Handlung begangen sein, um 
die Zwangserziehung zu verfügen. Dies war der Standpunkt 
der älteren Gesetzgebung, für welche die Notwendigkeit der 
Verbrechensprophylaxe mittelst umfassendster Fürsorgeerzieh- 
ung noch nicht erwiesen war. Über die Folgen dieses Systems 
sind die Ansichten niemals geteilt gewesen, und es genügt 
wohl zu seiner Beurteilung, oder besser seiner V er urteilung, 
die Tatsache anzuführen, dass so mancher tüchtige Polizei- 
beamte mit weitem Blick sich oft genug der Versuchung aus- 
gesetzt fühlte, ein sittlich verdorbenes Kind zu der Übertretung 


o ë ME Ten 


— 42 — 


eines Strafgesetzes anzustiften, um die Möglichkeit für die An- 
ordnung der Fürsorgeerziehung zu schaffen. M. H.! Es ist 
nicht nur von historischem, sondern auch von unmittelbar 
praktischem Werte, nämlich für die Auslegung des heutigen 
Rechts, zu konstatieren, dass die Hessische Gesetzgebung 
schon damals weit über den Rahmen der preussischen Zwangs- 
erziehung hinausging und weit mehr Wert auf die vorhandene 
oder zu befürchtende sittliche Verwahrlosung als die Verübung 
einer strafbaren Handlung legte, von praktischem Werte, weil 
von jeher eine gewisse Neigung bestand, die Auslegung, welche 
das preussische Gesetz erfahren hatte, auch bei der Auslegung 
des Hessischen Gesetzes zu verwerten. Das Gesetz von 1887 
gestattete die Zwangserziehung auch abgesehen von der Ver- 
übung einer strafbaren Handlung in folgenden Fällen: a) bei 
Kindern unter 12 Jahren und über 6 Jahren, wenn die Unter- 
bringung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit einer von ihnen 
begangenen strafbaren Handlung, auf die Persönlichkeit der- 
selben, der Eltern oder sonstiger Erzieher oder auf die übrigen 
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr- 
losung erforderlich ist, b) bei Kindern über 6 Jahren, die zwar 
noch keine strafbare Handlung begangen haben, gleichwohl 
aber eine Verwahrlosung an den Tag legen, so dass die Ein- 
wirkung der Eltern und der Schule als ungenügend erscheint, 
c) bei Kindern unter 16 Jahren, deren Eltern sich fortgesetzt 
böslich oder fahrlässiger Weise der Entziehung der nötigen 
Nahrung oder Pflege schuldig machen, oder sie misshandeln, 
oder im übrigen ihre Eltern- und Pflegepflichten verabsäumen. 
Es geht schon aus dieser Fassung des älteren Gesetzes hervor, 
dass man den präventiven Charakter vor allem berück- 
sichtigte und das entscheidende Kriterium in der sittlichen 
Verwahrlosung sah. Wenn man ausserdem die Zwangserzieh- 
ung auch solcher Kinder regelte, bei denen es sich in der 
Hauptsache darum handelt, ihnen einen Schutz gegen pflicht- 
vergessene Eltern und Erzieher zu geben, so war dafür einmal 
der Umstand maßgebend, dass es im Grossherzogtum an Be- 
stimmungen zur Entziehung der Elternrechte so gut wie gänz- 
lich fehlte, sodann aber die Pflichtvernachlässigung seitens der 
Eltern oder Erzieher früher oder später die sittliche Verwahr- 


= AI a 


losung hervorrufen muss, also auch insoweit war der Gesichts- 
punkt der Verbrechensprophylaxe maßgebend, und es handelte 
sich auch nicht etwa um eine Ergänzung von Bestimmungen 
des Privatrechts, sondern vielmehr um eine Ergänzung des 
Strafrechts. 


Wie in Preussen, so stellte auch in Hessen das 
Gesetz für die Ausführung der Erziehung zwei Alternativen 
auf, die Anstaltserziehung und die Familienerziehung. Es 
zelgte sich zunáchst auch bei uns die gleiche Erscheinung, 
dass die Anstaltserziehung prävalierte, die Familienerziehung 
zurücktrat, obwohl das Verhältnis zwischen beiden Systemen 
stets ein günstigeres war, als in Preussen, wo in manchen 
Provinzen die Familienerziehung geradezu unbekannt war und 
ist. Mit der Zeit ist aber in dieser Hinsicht eine erfreuliche 
Änderung eingetreten, die Familienerziehung ist mehr und 
mehr zu ihrem Rechte gekommen und es ist nur zu hoffen, 
- dass in dieser Hinsicht nicht wieder ein Umschlag eintritt, der 
mit Rücksicht auf die Rechtsprechung nicht unmöglich wäre. 
Zunächst aber ist es von Wert an Hand der Statistik einen 
Überblick über die praktische Bedeutung der Zwangserziehung 
zu geben. Die Zahl der bis zum 31. März 1904 untergebrachten 
Kinder betrug im Ganzen 2586, davon konnten widerruflich 
entlassen werden 190, bei 249 konnte die Entlassung in Folge 
Erreichung des Zwecks, bei 159 in Folge anderweitiger Siche- 
rung des Zwecks erfolgen. Am 31. März 1904 verblieben 
noch in Zwangserziehung 1419, davon in Anstalten 639, in 
Familien 780. Das Verhältnis der in Familien und Anstalten 
Untergebrachten ergibt sich aus folgenden Zahlen: 


ın Familien ın Anstalten 
1892 221 323 
1893 278 476 
1894 251 309 
1895 318 302 
1896 342 369 
1897 364 411 
1898 399 425 


1899 432 454 


O E ETA 


in Familien ın Anstalten 
1900 448 480 
1901 - 550 540 
1902 624 543. 


Zweierlei lässt sich aus dieser Statistik konstatieren, ein- 
mal, dass von der Zwangserziehung nur in sehr langsam stei- 
gendem Maße Gebrauch gemacht wird, dass aber anderseits 
die Familienerziehung seit Ende des vorigen Jahrhunderts in 
erheblich häufigerer Weise zur Anwendung gelangt, so dass 
die absolute Zahl der Familienzöglinge in den letzten Jahren 
grösser ist, als die der Anstaltszóglinge. So erfreulich das 
auch ist, so genügt es doch den Anforderungen nicht, die vom 
Standpunkte möglichst wirksamer Durchführung der Prävention 
gestellt werden müssen. 


Auf den Umstand, dass die Anstaltserziehung teuerer ist, 
als die Familienerziehung — in Hessen kommt bei dieser ein 
Kind etwa 105,50 M. jährlich zu stehen, bei jener auf 249 bis 
250 M. —, kann ein ausschlaggebender Wert nicht gelegt 
werden, denn die Kosten können hier, wo es sich um Ver- 
hütung verbrecherischer Verwahrlosung handelt, keine Rolle 
spielen, es gibt auch keine Aufwendungen, die sich besser be- 
zahlt machen, als die für die Zwangserziehung gemachten, 
was der Staat hierfür ausgibt, erspart er an dem Budget der 
jugendlichen Delinquenten, ganz abgesehen von dem moralischen 
und wirtschaftlichen Gewinn, und wir können in dieser Hin- 
sicht von England noch sehr viel lernen, wo die verbrechenmin- 
dernde Einwirkung der Zwangserziehung statistisch längst 
nachgewiesen ist. 


Meine Herren! Es gibt Fanatiker der Anstaltser- 
ziehung und solche der Familienerziehung, die einen wie 
die andern leiden an dem Fehler der Schablonisierung. Es 
muss auf Grund der gemachten Erfahrungen davon ausge- 
gangen werden, dass die Anwendung der Familienerziehung 
einmal darunter zu leiden hat, dass die Ausführungsbehörden 
die Anstaltserziehung vielfach, allerdings keineswegs immer, 
mit ihrer strengern Zucht für das prinzipiell Richtigere halten, 
zum Teil mit Rücksicht auf die Berichte und Gutachten, so- 


dann aber, weil man an die zu wählenden Familien viel zu 
strenge Anforderungen stell. Das Ausschreiben des Minist. 
d. I. u. d. J. vom 25. VI. 88 an die Kreisämter bietet nach 
meiner Auffassung hierzu keinen Anlass, es wird darin nur 
erfordert völlig unbescholtener Ruf, gleiche Konfession mit 
dem Kind, fämiliäre Pflege desselben, sicheres Auskommen, 
gesunde Wohnung, geordneter Haushalt, Fernhaltung der Ein- 
fliisse der bisherigen Erzieher, deshalb Unterbringung an einem 
anderen Ort als dem bisherigen Wohnort, und schliesslich sollen 
nur 2 Kinder in derselben Familie untergebracht werden. Das 
geht bei richtiger Beurteilung keineswegs zu weit und ich er- 
blicke keinen Grund zu einer Modifikation dieses Ausschreibens, 
höchstens könnte man bemerken, dass das Erfordernis der 
familiären Pflege ebensowenig allzuschwer genommen werden 
soll, wie die Forderung guten Auskommens. Das Normale, 
das juste Milieu, was den normalen Verhältnissen entspricht, 
ist hier durchaus das Richtige und es sollte nicht vergessen 
werden, dass die Fürsorgeerziehung keineswegs die Aufgabe 
hat, bei den Zöglingen einen höheren Standard of life zu ent- 
wickeln. Insbesondere bei der Unterbringung der weiblichen 
Zöglinge muss über den Umfang der Anstaltserziehung noch 
geklagt werden. Prinzipiell ist für weibliche Personen die 
Familienerziehung das einzig richtige. Nur, wenn in der Person 
der Kinder besondere Verhältnisse vorliegen, insbesondere, 
wenn die Verwahrlosung schon weit fortgeschritten ist, er- 
scheint die Anstaltserziehung empfehlenswert. Man macht 
sich die Auswahl einer Familie vielfach ganz unnötig schwer 
dadurch, dass man geradezu Idealfamilien verlangt, die natür- 
lich nicht häufig vorhanden sind; dies ist aber gar nicht 
notwendig, es genügt, eine in bescheidenen Verhältnissen 
lebende Normalfamilie ausfindig zu machen, die aus der Auf- 
nahme der Kinder nicht gerade ein Geschäft machen will. Es 
müsste mehr individualisiert, weniger schablonisiert und bureau- 
kratisiert werden. Immerhin verdient die Ausführung in Hessen 
volle Anerkennung, wenn man bedenkt, dass in Preussen die 
Zahl der in Anstalten untergebrachten Kinder in einer stän- 
digen Vermehrung begriffen ist und beispielsweise in der Rhein- 
provinz 91% beträgt. Als Grund hierfür wird die grössere 


Tr Tr DEE 


Verwahrlosung angeführt, indessen ist es zweifellos, dass die 
Bedeutung der Familienerziehung überhaupt von den Provinzial- 
verbänden in Preussen vielfach unterschätzt wird. 

Das Inkrafttreten des B. G. B. bedingte eine Änderung 
des Gesetzes, einmal im Hinblick auf die weitgehenden, einen 
unendlichen Fortschritt bedeutenden Bestimmungen der $$ 1666 
und 1838 B. G. B., welche dem Vormundschaftsgericht die 
Anordnung der Erziehung und Unterbringung eines Kindes in 
einer Anstalt oder in einer Familie gestatten, sodann ım Hin- 
blick auf Artikel 135 Einf.-Ges. Man hat sich bei der Neu- 
redaktion des Artikel 1, Absatz 2 ziemlich genau an das Einf.- 
Ges. angeschlossen und demgemäß die Zwangserziehung bei 
Personen von 6—12 Jahren, die eine strafbare Handlung ver- 
übt haben, für statthaft erklärt, wenn die Unterbringung er- 
forderlich ist mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der straf- 
baren Handlung, auf die Persönlichkeit der Kinder, der Eltern, 
sonstiger Erzieher und der übrigen Lebensverhältnisse zur 
Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung. Dann gestattet 
das Gesetz dieselbe bei Minderjährigen unter 18 Jahren, wenn 
die Voraussetzungen der $$ 1666 und 1838 B. G. B. vorliegen 
oder die Maßregel zur Verhütung völligen sittlichen Verderbs 
der Minderjährigen notwendig ist. Eine weitere Änderung, 
welche durch die genannten Paragraphen des B. G. B. erforder- 
lich wurde, ist die, dass nach der älteren Fassung das Vor- 
mundschaftsgericht nur über die Zulässigkeit der Zwangser- 
ziehung zu befinden hatte, während die Ausführung Sache des 
Kreisamtes war. Dies ist dahin geändert worden, dass das 
Kreisamt die Ausführung zu veranlassen hat, wenn die Unter- 
bringung auf öffentliche Kosten geschieht, während im anderen 
Falle das Vormundschaftsgericht auch die Ausführung veran- 
lasst. Wie in Preussen, so sind auch in Hessen bez. des Ver- 
hältnisses zwischen der Erziehung auf Grund des Spezialgesetzes 
und der auf Grund der beiden Bestimmungen des B. G. B. an- 
geordneten Zweifel entstanden, welche am letzten Ende die 
prophylaktische Wirksamkeit des Gesetzes ernstlich zu ge- 
fährden drohen, und mit denen man sich daher näher beschäf- 
tigen muss. Erfolgt die Unterbringung des Kindes auf Grund 
.des B. G. B., so haben für die Kosten zunächst die Unterhalts- 


md 


verpflichteten aufzukommen, in Ermangelung solcher oder bei 
Mittellosigkeit aber die Gemeinden, einen Zuschuss von dem 
Staate oder dem Kreisverband erhalten sie dabei nicht. 

Das Bundesamt für Heimatswesen hat — vollständig im 
Einklang mit der Gesetzgebung — entschieden, dass bei An- 
ordnung der Erziehung auf Grund der gedachten Bestimmungen 
des B. G. B. der Zustand der Hülfsbedürftigkeit im armen- 
rechtlichen Sinne gegeben und damit die Leistungspflicht der 
Armenverbände vorhanden sei. Die Versuche aus den Kreisen 
der Armenverbände, diese Rechtsprechung zu bekämpfen, sind 
aussichtslos und auch materiell unbegründet. Die Armenver- 
bände müssen also bei den seitens des Vormundschaftsgerichts 
getroffenen erzieherischen Maßnahmen in Ermangelung leistungs- 
fähiger Unterhaltsverpflichteter für die Kosten aufkommen und 
zwar in allen Bundesstaaten. Anders bei der Unterbringung 
auf Grund des Spezialgesetzes, hier ersetzt der Staat den Ge- 
meinden die Hälfte der Kosten. Da nun bei den auf Grund 
des B. G. B. untergebrachten Kindern die Existenz zahlungs- 
fähiger Unterhaltsverpflichteter gerade so häufig ist, wie die 
Begegnung eines weissen Raben, so hat die Anwendung der 
betreffenden Paragraphen praktisch die Folge, dass die Ge- 
meinden sehr stark belastet werden und diese Belastung be- 
wirkt wiederum, dass die Anträge auf Unterbringung seltener 
werden und mit der Unterbringung überhaupt länger gewartet 
wird, zum grossen Nachteil und Schaden für die Zwecke dieser. 
Weder in Preussen noch in Hessen hatte man bei dem In- 
krafttreten des B. G. B. mit der Möglichkeit gerechnet, dass 
die Zwangserziehung im Verhältnis zu der Unterbringung auf 
Grund des B. G. B. nur als subsidiäre Maßnahme betrachtet 
werden könne, welche also erst anwendbar sei, wenn von der 
nach $ 1666 usw. anzuordnenden nichts mehr zu erwarten sei. 
Für Hessen konnte dies um so weniger in Betracht kommen, 
als durch das Ausf.-Ges. zum B. G. B. der Charakter der Für- 
sorgeerziehung, wie solcher in der älteren Redaktion zum Aus- 
druck gekommen war, keinerlei Anderung erfahren hatte. Nun 
steht aber fest, dass nach dem Gesetze von 1887 die Zwangs- 
erziehung nicht den Charakter einer subsidiären Maßregel 
hatte, sie konnte denselben schon um deswillen nicht haben, 


o O S 


weil sowohl in dem diesseitigen, wie in dem jenseitigen 
Gebiete privatrechtliche Vorschriften nach Inhalt des $ 1666 
etc. fehlten. Es kommt aber weiter in Betracht, dass in 
Art. 1, Abs. 2 gesagt ist: „Bei Minderjährigen unter 18 Jahren 
können die im Abs. 1 bezeichneten Maßregeln getroffen werden, 
wenn die Voraussetzungen der $$ 1666, 1838 B. G. B. vor- 
liegen oder wenn die Maßregeln zur Verhütung des völligen 
sittlichen Verderbens der Minderjährigen notwendig sind“, 
während das Preuss. Gesetz sagt: „Die Fürsorgeerziehung 
kann erkannt werden, wenn die Voraussetzungen des $ 1666 
vorliegen und die Zwangserziehung notwendig ist, um das 
sittliche Verderben der Kinder zu verhiiten.“ Der Unterschied 
zwischen derkumulativen undalternativen Fassung ıst 
ohne weiteres klar. Aber auch für die preuss. Gesetzgebung war 
nach richtiger Auslegung die Annahme der Subsidiarität aus- 
geschlossen. Gleichwohl hat das Kammergericht in ständiger 
Rechtsprechung angenommen, dass die Fürsorgeerziehung nicht 
eintreten kann, wo durch vormundschaftsgerichtliche Maßregel 
nach $ 1666 B.G.B. das Kind durch anderweitige Unterbringung 
der drohenden Verwahrlosung entzogen werden kann, weil für 
die solchergestalt angeordnete Unterbringung der Ortsarmen- 
verband zu sorgen habe. Die Fürsorgeerziehung soll nur an- 
gewendet werden, wenn andere Mittel versagen, der subsidiäre 
Charakter ist damit scharf anerkannt, ebenso, dass bei be- 
vorstehender Verwahrlosung die Fürsorgeerziehung kaum 
angewendet werden kann. Trotz aller Einwendungen, welche 
sowohl in der jurist. Literatur, als auch in den parlamenta- 
rischen Verhandlungen erhoben wurden, hat das Kammer- 
gericht seinen Standpunkt nicht aufgegeben. Die Folgen treten 
in der Statistik zu Tage, nach dem Gesetze von 1878 wurden’ 
in Preussen durchschnittlich 1500 Zöglinge jährlich unterge- 
bracht, nach Inkrafttreten des Gesetzes von 1900 in den ersten: 
Jahren 7782, dann trat ein Rückgang auf 6196 ein und seit- 
dem ein noch intensiverer. Wie schon erwähnt, hat die Rechts- 
auslegung des K. G. auch in Hessen Nachahmung gefunden, 
man stützt sich seitens derjenigen Amtsgerichte, welche sich 
für die Subsidiarität ausgesprochen haben, einmal darauf, dass 
die Fiirsorgeerziehung die Kinder mit einem Makel belaste, 


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sodann auf die allgemeinen Gründe über das Verhältnis von 
B. G. B. und Spezialgesetz und schliesslich auf die Recht- 
sprechung des O. L. G. Was das Verhältnis von B. G. B.- 
und Sondergesetz betrifft, so habe ich schon darauf hinge- 
wiesen, dass die Umbildung des Spezialgesetzes dessen Cha- 
rakter nicht modifiziert hat. Das Behaften mit einem sitt- 
lichen Makel als Folge der Zwangserziehung kann nicht zü- 
gegeben werden, man verkennt mit dieser Behauptung den 
fundamentalen Unterschied zwischen Strafe und Erziehung. 
Fürsorgeerziehung ist und bleibt Erziehung, trotz des beson- 
dern Charakters derselben, und weder in England noch in 
Frankreich noch sonst, wo man diese Maßnahmen kennt, hat 
man daran gedacht, dass hieraus eine macula levis oder gar 
gravis für den Erzogenen folge. Wir brauchen uns im all- 
gemeinen für die Ansichten der Italiener, welche den Spuren 
Lombrosos und seiner Jünger folgen, nicht besonders zu 
erwärmen, aber darin haben dieselben doch Recht, dass sie 
_ zwischen den Ersatzpitteln der Strafen — Sostitutivipenali —: 
und den Strafen selbst, einen prinzipiellen Unterschied machen ; 
zu den Straf-Surrogaten gehört aber vor Allem die Erziehung. 
Ebensowenig vermag die Berufung auf die Rechtsprechung. 
des O. L.G. die Ansicht zu stützen. Das O. L. G. hat sich aller- . 
dings die Ansicht des K. G. durch Allegierung anscheinend‘ 
teilweise zu eigen gemacht (Hess. Rechtspr. IV. S. 123), aber 
die Frage der Subsidiarität nur mehr gestreift, jedenfalls liegt ' 
eine konstante Rechtsprechung insoweit noch nicht vor. Sollte ` 
aber auch das O. L. G. sich vollständig auf den Standpunkt 
des K. G. stellen, so müsste gleichwohl die Auffassung ver- 
treten werden, dass diese Auslegung die Erreichung der Zwecke 
des Gesetzesgefährdet. Vomkriminalistischen Standpunkt müssen 
wir die Zwangserziehung für ein primäres Mittel der Ver- 
brechensprophylaxe erklären; wie können wir aber daran 
denken, auch nur jemals die in England erzielten Ergebnisse 
zu erreichen, wenn die Auslegung die Anwendung einschränkt? 
Die Folge dieser Rechtsprechung, welche die Kommunen be- 
lastet, ist, dass die zwar gefährdeten, aber noch nicht völlig : 
verwahrlosten Kinder in der sie gefährdenden Umgebung blei- : 
ben, bis sie vollständig verwahrlost sind; dann kommt es zur 
4 


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Fürsorgeerziehung, aber, da die Verwahrlosung bereits einen 
hohen Grad erreicht hat, so muss die strengste Anstaltserzieh- 
ung eintreten und der Erfolg ist ein mehr als zweifelhafter. 
Wir lassen also auch hier nach des Dichters Wort den Armen 
schuldig werden, dann greifen wir ein und wundern uns noch, 
dass er verwahrlost ist, dass das Mädchen, bevor es zum 
Weibe wurde, zur Dirne, der Knabe zum angehenden Zucht- 
häusler wird, obwohl wir zu der Zeit, in der es noch Zeit 
war, einzuschreiten, nicht eingeschritten sind. Das Gesetz 
will, dass das Kind der infizierenden Umgebung rechtzeitig 
entrissen werde, in der es sittlich bis in das Mark hinein ver- 
fault, aber die einschränkende Anwendung führt dahin, dass 
es erst dann der Umgebung entrissen wird, wenn die Fäulnis 
zur Tatsache geworden. Die Sorge für die geistig, sittlich 
und körperlich gefährdeten Minderjährigen wird hierdurch den 
Ortsarmenverbänden auferlegt, es erscheint aber begreiflich, 
dass diese, die ja mit der Erziehung nichts zu tun haben, sich 
nicht beeilen, Anträge auf Anwendung des $ 1666 usw. zu 
stellen. 


M. H.! Es ist dringend geboten, dass die Rechtsan- 
wendung in diesem Punkte sich ändert; in Preussen wird der 
Erlass einer Novelle allseitig für unumgänglich erachtet und 
er dürfte für die nächste Landtagssession bevorstehen. Auch 
auf den letzten Verhandlungen der Il Kammer des Hess. 
Landtags hat man der Meinung Ausdruck gegeben, dass eine 
authentische Interpretation erforderlich sei; die Regierung hat 
sich hierüber reserviert geäussert und von der Besprechung 
in der Kammer eine den Erlass einer authentischen Interpre- 
tation überflüssig machenden Wirkung erhofft; es bleibt abzu- 
warten, ob diese Hoffnung sich realisiert, im anderen Falle 
würde man sich doch hierzu entschliessen müssen, denn höher 
als formaljuristische Bedenken muss uns die Erreichung des 
kriminal politischen Zweckes stehen. 


Dass die Zwangserziehung in Deutschland und überhaupt 
in Hessen speziell eine kleine Verminderung der jugendlichen 
Kriminalität bewirkt habe, ist wohl nicht zu bestreiten, die 
Kriminalstatistik zeigt einen allerdings recht, recht kleinen 


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Riickgang der Jugendlichen. Zweifellos ist es, dass sie eine 
bedeutende Wirkung in dieser Hinsicht haben kann; hat doch 
ihre konsequente Anwendung in England zu namhaftem 
Rückgang der Jugendlichen Verbrecher beigetragen und 
sogar in einer Periode, in welcher das Land von politischen 
und wirtschaftlichen Krisen bis auf den Grund aufgewühlt 
wurde. 


Von hohem Interesse ist es noch, einen Blick auf das 
Menschenmaterial zu werfen, aus dem sich die Zwangszöglinge 
rekrutieren. In dieser Beziehung ist zunächst zu bemerken, 
dass männliche und weibliche sich verhalten, wie 66% zu 33%. 
Die unehelich Geborenen stellen ein starkes Kontingent, es 
entfallen auf sie etwa 16—17%. Was das bedeutet, ist aus 
der Tatsache zu entnehmen, dass der Anteil der unehelich 
Geborenen an den Geburten 7—7!/,% beträgt, dass ausserdem 
ihre Mortalität eine sehr erhebliche ist; berücksichtigt man 
dies, so ergibt sich, dass der Anteil der unehelich geborenen 
unter den Zwangszöglingen dreimal so gross ist, wie der der 
ehelich geborenen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. 
Bemerkenswert ist, dass bei den unehelich Geborenen der 
Prozentsatz der weiblichen grösser ist, als der der männlichen; 
es hängt dies zweifellos mit der Prostitution zusammen, die 
ja bekanntermaßen sich zu einem sehr erheblichen Teil aus 
den ausserehelich Geborenen rekrutiert. 


Die Unterbringung der jugendlichen Prostituierten macht der 
Zwangserziehung viel zu schaffen ; die Familienerziehung kommt 
dabei nur wenig in Betracht, einerseits, weil sich wenig Familien 
finden, die solche Mädchen aufnehmen, anderseits aber hier eine 
strenge und straffe Beaufsichtigung erforderlich ist. Bedauerlich ist 
es, dass sich mittelst der Zwangserziehung nicht eine Vermin- 
derung der jugendlichen Prostitution — man muss ja mit 
Rücksicht auf die Verhältnisse in den Grossstädten schon von 
einer Kinderprostitution sprechen — hat erreichen lassen, die 
an sich sehr wohl möglich wäre. Ich kann dies in erster 
Linie nur darauf zurückführen, dass man zu spät einschreitet; 
gerade bei Mädchen, die zu der Befürchtung Anlass geben, 
dass sie der Prostitution anheimfallen können, kann aber nicht 

4* 


— 59 — 


früh genug eingegriffen werden. Sehr nützlich haben sich die 
Jugendschutzvereine erwiesen, um ein rasches Einschreiten bei 
Mädchen herbeizuführen, es wäre zu wünschen, dass dieselben 
sich hiermit und mit der Überwachung der weiblichen Jugend 
aufmerksamer und noch intensiver befassten. Überhaupt 
müssen wir uns darüber klar sein, dass ohne die Inanspruch- 
nahme der Mithülfe der Gesellschaft, ohne die . energische 
Betätigung jener gesellschaftlichen Tätigkeit, die man neuer- 
dings mit einem Modeausdruck als die altruistische bezeichnet, 
die man aber verständlicher und schöner die caritative nennt, 
die Zwecke der Fürsorgeerziehung niemals erreicht werden 
können. Der Staat allein ist dazu nicht imstande und wird 
dazu niemals imstande sein. Verbindung freier Liebestätigkeit 
mit der staatlichen Tätigkeit, enger Kontakt zwischen den Mitglie- 
dern der Gesellschaft, die sich mit dem Jugendschutz befasst, und 
den Organen des Staates, wobei allerdings die bureaukratischen 
Scheuklappen abgestreift werden müssen — ohne dies werden 
die weitgehendsten und trefflichsten Bestimmungen der Fürsorge- 
gesetzgebung hinter dem anzustrebenden Ziele bei weitem zu- 
rückbleiben. 

Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung unter dem Gesichts- 
punkte der Verbrechensprophylaxe nach Art mancher Anhänger 
der ethischen Bewegung und der Freunde der ethischen Kultur 
in emphatischer Weise zu übertreiben, kann für denjenigen, 
welcher sich nicht von dem festen Boden der rauhen Wirk- 
lichkeit entfernt, nicht in Betracht kommen; sie ist nicht und 
kann nicht sein, die Fürsorgeerziehung, die Panazee auf krimi- 
nal-politischem Gebiete, aber anderseits kann und darf darüber 
kein Zweifel bestehen, dass sie eines der wichtigsten Mittel ist, 
um verbrecherische Entartung zu verhindern. Es war kein 
geringerer als Goethe, der die Bedeutung einer individuell an- 
gepassten Erziehung als Verbrechensprävention schon zu einer 
Zeit erkannte, als die offizielle Strafrechtswissenschaft ein ver- 
gnügtes Stillleben in dem juristischen Begriffshimmel führte, 
über den Ihering ein Menschenalter später die volle Schale 
herzerfrischenden Humors ausschiittete. In den Tagen, als die 
Strafrechtswissenschaft vergessen zu haben schien, dass sie es 
nicht mit Begriffen und Begriffsspaltereien, sondern mit leben- 


den Menschen zu tun habe, äusserte Goethe in einem Gespräch 
mit Eckermann, die Hauptsache sei, nicht den Menschen zu 
unterstützen und den Schuldigen zu strafen, sondern man 
müsse ihn erziehen, namentlich den Unreifen und Jugend- 
lichen. Die moderne Gesetzgebung hat sich der Wahrheit 
dieses Gedankens nicht verschlossen. Getragen von der Über- 
zeugung, dass auf dem weiten Gebiete der Kriminalpolitik 
keine Aufgabe an Wichtigkeit sich mit der Verhütung der 
verbrecherischen Entartung der jüngsten Volksklassen messen 
könne, hat sie um des allgemeinen Wohles willen mit der Legende 
von den unentziehbaren elterlichen Rechten gebrochen und ist 
auch vor dem weitgehenden Eingriff in die Rechte der Familie 
nicht zurückgeschreckt. Es besteht heute kein Zweifel, dass 
der Staat das Verbrechen am wirksamsten bekämpft, in dessen 
Gebiet der Umfang der Fürsorgeerziehung dem tatsächlichen 
Bedürfnis entspricht. Das Ziel, dem wir entgegenstreben 
müssen und von dem wir heute leider fast noch so weit ent- - 
fernt sind, wie die Realität von dem Ideal, das aber erreicht 
werden kann und im Interesse der deutschen Rechtspflege auch 
erreicht werden muss, dieses hohe Ziel, wir werden dann 
an ihm angelangt sein, wenn kein der fürsorgenden Er- 
ziehung Bedürftiger der fürsorgenden Erziehung entbehrt. Und 
wenn die Hindernisse, welche der Erreichung desselben ent- 
gegenstehen, zahlreich und schwierig sind, so erinnern wir uns 
daran, dass es sich hierbei am letzten Ende um die sittliche 
Sanierung der Jugend handelt. Es war aber der grössten 
Denker des deutschen Volkes einer, der gesagt hat: „Gebt 
mir die Jugend und ich ändere das Jahrhundert.“ 


Zur Zwangserziehungspraxis. 
Von 
Medizinalrat Kreisarzt Dr. Balser in Mainz. 


Die folgenden Ausführungen sollen sich speziell mit der 
Prüfung der Frage beschäftigen: welche Erfolge haben wir 
mit derDurchführung desGesetzes über dieZwangs- 
erziehung Minderjähriger erreicht. — Die Frage liegt 
mir darum nahe, weil der Kreisausschuss des Kreises Mainz in 
seinem vorjährigen Rechenschaftsbericht eine Antwort erteilt hat, 
die weithin geradezu verblüffend wirkte. In dürren Worten 
war da gesagt: Die Erfolge der Zwangserziehung stehen in 
gar keinem Verhältnis zu den aufgewandten Kosten — eine 
Behauptung, die einer Bankerotterklärung des Systems ver- 
zweifelt ähnlich sieht. Das schlimmste dabei ist, dass die 
Richtigkeit der Behauptung — wenigstens für unsere Mainzer 
Verhältnisse — nicht bezweifelt werden kann, denn die Straf- 
akten der früheren Zwangszöglinge liefern den aktenmäßigen 
Beweis. Die Fragestellung ist nun die: Leisten wir mit dem 
Zwangserziehungsgesetz unabänderlich eine Sisyphusarbeit, gilt 
auch hier der Satz, dass die Natur, so oft und so lange sie 
mit der Rute zurückgetrieben wird, doch immer wieder durch- 
bricht, erreichen wir weiter nichts, als dass der Zögling für 
den Zeitraum seines Anstaltsaufenthalts relativ unschädlich ge- 
macht ist — — oder sind wir dem schwierigen Problem viel- 
leicht bei der Ausführung des Gesetzes nicht gerecht ge- 
worden? 


Ich glaube, dass wir noch nicht genügend Unterlage haben, 
um die gestellte Alternative zu beantworten. Das aber glaube 
ich behaupten zu dürfen, dass bei der Durchführung des Ge- 
setzes viel zu viel schablonisiert, viel zu wenig indivi- 


dualisiert wird. Und wenn auf dem Gebiete der Erziehung 
Individualisierung irgendwo nótig ist, dann ist sie bei der 
Zwangserziehung notwendig. 

Wie verläuft meistens die Verhängung der Zwangserzieh- 
ung? Mag der Antrag von der Schule oder der Staatsanwalt- 
schaft oder auch einmal von den Eltern gestellt worden sein, 
stets wird der Minderjährige ausserhalb seines Hauses 
in dem Amtszimmer des Vormundschaftsrichters vernommen, 
ebendahin werden die Eltern geladen; das Pfarramt äussert 
sich „zur Sache“ — die Person kennt der Herr Pfarrer nur 
ausnahmsweise, kurz und gut, es handelt sich fast durchgängig 
um Aktenfeststellungen, um die Beurteilung von Taten, 
nicht aber um die Beurteilung des Täters; man verfährt, 
wie in einem rückständigen unmodernen Strafverfahren. Ich 
kann und darf selbstverständlich gegen niemand einen Vorwurf 
erheben, am allerwenigsten gegen das hiesige Vormundschafts- 
gericht, das in recht erfreulicher Weise die ärztliche Tätig- 
keit heranzieht — aber ich glaube, die gebräuchlichen akten- 
mäßigen Feststellungen treffen den Kern der Sache nicht. 
Die Ermittlungen müssen verlegt werden einmal in das Haus 
und in die Familie des Minderjährigen und zweitens müssen 
sie die Persönlichkeit des Minderjährigen -allseitig zu 
erfassen suchen. | 

Es ist ja doch ein grundsätzlicher Unterschied, ob das 
Kind von den Eltern verwahrlost ist, ob es vielleicht miss- 
handelt wird, weil der Fluch der vorehelichen Geburt, der Ab- 
stammung von einem anderen Vater auf ihm lastet — oder 
ob es selbst durch böse Charaktereigenschaften und Untaten 
das Einschreiten veranlasst hat. 

Es ist genau zu ermitteln, unter welchen Einflüssen das 
Kind herangewachsen ist: Kriminalität der Eltern, Trunk- 
sucht des einen oder beider Elternteile, unsittlicher Lebens- 
wändel, unregelmäßige Arbeit kommen in Frage, aber ebenso 
der gesamte Zuschnitt des Hauses, die Lebensführung und die 
Erwerbsverhältnisse der Eltern, unter Umständen ungünstiger 
Einfluss der Nachbarschaft — all das, was wir mit dem 
Sammelnamen „Milieu“ bezeichnen. Ich weiss selbstver- 
stándlich,* dass man diese Feststellungen an Ort und Stelle dem 


= o = 


Vormundschaftsrichter nicht zumuten kann; ich glaube, dass 
aber etwa durch Vermittlung des Ortsgerichts, ergänzende 
Organe gegeben werden können, wie sie vergleichsweise in 
dem städtischen Waisenrat oder Erziehungsbeirat geschaffen 
sind und segensreich wirken. Ist doch unsere moderne Armen- 
pflege auf die genauste Ermittlung an Ort und Stelle und 
den persönlichen Verkehr zwischen Armenpfleger und 
Pflegling begründet; — es kommen vorwiegend die gleichen 
Volkskreise in Betracht; was auf dem einen Gebiet erfolg- 
reich durchgeführt wurde, warum soll das auf das Gebiet der 
Zwangserziehung nicht übertragen werden können? Auch für 
unsere grösseren Städte würden wenige Personen aus- 
reichen, die mit wachsender Einarbeitung immer wertvollere 
Helfer würden; unter den Armenpflegern finden sich sicher 
geeignete Männer mit sozialem Verständnis und Augenmaß für 
vergleichende Beurteilung; wo sie vorhanden, sind die Gefäng- 
nislehrer heranzuziehen. 

Dann aber ist der körperliche und geistige Zustand 
des Minderjährigen zu erforschen. Es ist festzustellen, ob und 
welche Schädlichkeiten bei der Erzeugung des Kindes, im Ver- 
lauf der Schwangerschaft oder bei der Geburt und in den 
ersten Lebensjahren auf seinen Organismus eingewirkt haben 
können. In Betracht kommt wieder der Alkoholismus, der uns 
ja überall entgegengrinst, wo soziales Elend bekämpft werden 
soll, ferner Syphilis der Eltern, Geistes- oder Nervenkrank- 
heiten, besonders Epilepsie; Krankheiten der Mutter während 
der Schwangerschaft, Schädigungen des Kindes, namentlich 
des kindlichen Kopfes, bei schwerer Geburt, dauernde Schädi- 
gung des kindlichen Organismus durch Versagen der natür- 
lichen Nahrung an der Mutterbrust, englische Krankheit mit 
den Folgezuständen wie Krämpfen und Wasserkopf. Weiter 
sind anzuführen akute Erkrankungen des Zentralnervensystems 
in den ersten Jahren, aber auch Infektionskrankheiten mit blei- 
benden Folgen, endlich äussere Gewalteinwirkung wie Fall auf 
den Kopf, Überfahrenwerden u. dergl. 

Es ist festzustellen die gesamte körperliche Entwicklung 
ob sie dem Alter entspricht oder erheblich zurückgeblieben ist, 
ob Bildungsfehler, ob und welche ,Degenerationszeichen* vor- 


as EN a 


handen sind; ob die Form des Schädels auf frühere Gehirn- 
erkrankung schliessen lásst, ob die Sinnesorgane gesund sind, 
ob Sprachfehler vorhanden sind und worauf sie basieren, ob 
vergrósserte Rachenmandeln die Atmung erschweren und die 
kórperliche und geistige Entwicklung ungünstig beeinflusst 
haben, ob vorausgegangene Rachitis das Kind dauernd entstellt. 

Auf geistigem Gebiete ist der Entwicklung in der Kind- 
heit nachzugehen: wann hat das Kind laufen, wann sprechen 
gelernt? wann ist es zur Schule gekommen? welche Fortschritte 
hat es gemacht? wie hat sich sein Charakter in der Kindheit 
gezeigt? 

Die ganze geistige Persönlichkeit des Minderjährigen 
ist zu erforschen, sein Auffassungsvermögen, sein Gedächtnis, 
sein Urteilsvermögen, sein Konzentrationsvermögen, die sitt- 
lichen Begriffe und das sittliche Verhalten. Zu dieser Aufgabe 
ist die Mitwirkung eines Arztes und zwar eines psychia- 
trisch geschulten nötig. Ich räume also dem Arzte grund- 
sätzlich eine viel weitergehende Mitwirkung ein, als 
unser Gesetz, nach dem ein Gutachten des Kreisgesundheits- 
amtes nur eingeholt werden soll, wenn es sich um den Fall 
körperlicher Vernachlässigung oder Misshandlung handelt. 

Aber ich bin die Begründung schuldig, warum ich einen 
so komplizierten Apparat bei der scheinbar so einfachen 
Fragestellung, ob Zwangserziehung angezeigt ist, in Bewegung 
setzen will. Der Grund ist einfach der, dass unter den für 
die Zwangserziehung bestimmten Jugendlichen sich 
eine erhebliche Zahl geistig abnormer findet. 

Das weiss ich daher, dass in nicht seltenen Fällen der 
Vormundschaftsrichter selbst Zweifel an der geistigen Gesund- 
heit der Minderjährigen hegte und ärztliche Untersuchung 
veranlasste, welche die Zweifelbestätigte. Ferner ist ein 
erheblicher Teil von Schwachsinnigen, die wegen Straftaten 
zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangt sind, früher durch 
die „Besserungsanstalt“ gelaufen. Endlich sind die Zög- 
linge von Zwangserziehungsanstalten systematisch von Irren- 
ärzten untersucht worden. Es wurde z. B. für die Berliner 
Besserungsanstalt zu Lichtenberg von Dr. Mönkemöller fest- 
gestellt, dass unter 200 Insassen nur 83 als geistig normal 


= O Be 


bezeichnet werden konnten, wenn man in seinen Anforderungen 
an den „Normalmenschen* recht bescheiden war. Es dürfte 
eine dankenswerte Aufgabe sein, unsere Hessischen Zwangs- 
erziehungsanstalten in gleicher Weise nach einheitlichem 
Plane zu durchmustern. Vielleicht nimmt unsere Vereinigung 
die Sache in die Hand. 

Die eigentümliche Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, 
dass die Grenze zwischen geisteskrank und geistesgesund 
nicht scharf ist, sondern dass eine breite Übergangszone 
zwischen beiden Zuständen liegt, deren einzelnen Teile ihrer- 
seits wieder mit zungenförmigen Ausläufern ineinander ver- 
schlungen sind, macht sich gerade bei der Begutachtung krimi- 
neller Jugendlicher geltend. Am stärksten ist unter ihnen 
vertreten der Schwachsinn in all seinen Übergangsformen und 
Spielarten. Wir finden den intellektuell Schwachsinnigen, 
der im ganzen harmlos ist und wesentlich durch seine leichte 
Beeinflussbarkeit zum Gelegenheitsdieb wurde. Weiter den 
Schwachsinnigen, der intellektuell und ethisch gleich defekt 
ist, mit der ausgesprochenen Neigung zur Landstreicherei, 
dann den „erethisch* Schwachsinnigen, der den Mangel an 
Urteilskraft hinter einer grossen Zungenfertigkeit und einem 
Schwall von Phrasen zu verbergen weiss und dadurch der 
Umgebung als besonders gescheit erscheint; endlich die Ferm, 
die den Schrecken und den Schandfleck der betroffenen Familie 
bildet, bei denen die völlige -Verkümmerung der ethischen 
Gefühle der hervorstechendste Zug ist. Bei den weib- 
lichen Jugendlichen sind die Frühkandidatinnen für die ge- 
werbsmäßige Unzucht besonders von Bedeutung; allerdings sind 
Abnormitäten auf sexuellem Gebiete auch bei kriminellen 
Jugendlichen des männlichen Geschlechts zu finden. — 
Neben den Schwachsinnigen kommen die Epileptiker, 
weniger die mit den klassischen Krampfanfällen, weil diese 
wohl meist in die Epileptikeranstalt kommen, als diejenigen 
mit larvierter Epilepsie, die ja bekanntlich vielfach 'be- 
sonders ungünstig auf den geistigen Zustand einwirkt, zeit- 
weise den Gemütszustand äusserst labil erhält und gelegent- 
lich die Grundlage zu Jähzornausbrüchen und impulsiven Ge- 
walttaten abgibt. Endlich diejenigen, die man vorläufig kaum 


— 59 — 


anders als „degeneriert“ bezeichnen kann, die mit paranoischen 
Charakterzügen ein unbesiegbares Misstrauen gegen alle ver- 
binden, voll Heimtücke, Unverschämtheit und Unverträglich- 
keit sind, die im Elternhaus ebenso wenig Fuss fassen, wie 
sonst in der Gesellschaft. Ein solcher, allerdings erwachsener 
Degenerierter hatte hier, nachdem er aus dem Zuchthaus ent- 
lassen war, aber durch Vermittlung des Vereins für entlassene 
Sträflinge eine auskömmliche Arbeitsstelle gefunden hatte, einen 
Schmähbrief voll unflätiger Majestätsbeleidigungen an das 
Polizeiamt gerichtet — am anderen Tage erschien er auf der 
Polizei, um sich zu beklagen, dass er noch nicht festgenommen 
sei; er habe den Brief geschrieben, um wieder in das Gefängnis 
zu kommen; durch den Gnadenerlass wurde er straffrei. Da 
der Rückfall vorausgesehen wurde, wurde er in die Siechen- 
anstalt verbracht; dort ging er durch und schrieb einen zweiten 
noch unflätigeren Brief. Dabei ist er ein geschickter und 
im Gefängnis auch fleissiger Buchbinder. 


Nun bin ich durchaus nicht der Meinung, dass — sobald 
bei einem Jugendlichen irgend ein geistiger Defekt festgestellt 
ist — er nun kein Objekt für die Zwangserziehung sei; ich 


glaube im Gegenteil, dass wir nur wenige von denen, gegen 
die das Verfahren eingeleitet ist, in die Anstalt für Idioten 
oder Epileptiker oder in die Schule für Schwachbefähigte über- 
führen können. Eher würden sich Kandidaten finden für eine 
Einrichtung, die ich in Hamburg kennen lernte, die sogenannte 
Zwangsschule, eine Besserungsanstalt im kleinen, inmitten 
der Stadt, in die die Zöglinge zunächst für eine bestimmte Zeit 
verbracht werden. Es kommen vorwiegend solche dorthin, die 
in sittlicher Beziehung eine Gefahr für ihre Mitschüler be- 
deuten, oder die sich durch Grausamkeit gegen schwächere 
Kameraden traurig auszeichnen, die aber andererseits die Hoff- 
nung rechfertigen, dass sie durch zeitlich begrenzte strenge 
Zucht ausserhalb des Elternhauses gebessert werden können. 


Das Gros der kriminellen oder sittlich verwahrlosten 
Minderjährigen verfällt nach wie vor der Zwangserziehung ; 
allein ich gewinne durch die vorausgegangene Untersuchung 
einmal eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidung, 


sa 60 == 


ob Familien- oder Anstaltspflege angezeigt ist: dann aber er- 
hält man die wertvollsten, durch nachträgliche Untersuchung 
kaum zu ersetzenden Fingerzeige für die individuelle Behand- 
lung der Zöglinge in der Anstalt. 


Die so ungleichmäßig zusammengesetzte Anstaltsbevölke- 
rung darf nicht über einen Kamm geschoren werden: nach 
der intellektuellen Begabung sind die Zöglinge in Befähigungs- 
klassen zu trennen, ihrer abnormen geistigen Beschaffenheit 
ist, soweit es die Hausordnung ermöglicht, Rechnung zu tragen; 
krankhafte Affektzustände, besonders die auf epileptischer 
Grundlage, sind als solche anzuerkennen, die Meister, zu wel- 
chen die Jungen in die Lehre kommen, sind über die geistigen 
Abnormitäten und deren Folgezustände eingehend zu unter- 
richten. Der ärztlichen Tätigkeit ist in den Anstalten 
ein grösseres Feld einzuräumen; man braucht nicht zu fürchten, 
dass dadurch die Disziplin gefährdet würde: das wird so wenig 
der Fall sein, wie es in den Strafanstalten der Fall ist. — 
Zweckmäßig wird es auch sein, wenn die Persönlichkeit, 
welche im Auftrag des Vormundschaftsgerichts das Milieu er- 
forscht hatte, etwa als sein „Pfleger“ mit dem Zwangszögling 
` weiterhin in persönlicher Berührung bleibt, sich bemüht, sein 
Vertrauen zu gewinnen und auch als Mittelsperson zwischen 
Zögling und Angehörigen dient, die häufig auch jetzt noch 
ungünstig auf ihn einwirken. Es dürfte nur nützlich sein, 
wenn die Aufgaben der Zwangserziehungsanstalt und ihre 
Arbeitsweise dadurch weiteren Kreisen unseres Volkes bekannt 
und Interesse an den Bestrebungen geweckt würde. Auch bei 
der Unterbringung des Zöglings in einer Familie oder bei einem 
Meister stelle ich mir die Mitwirkung eines Pflegers recht er- 
spriesslich vor, ähnlich den Verhältnissen bei der Waisenpflege 
oder bei der Fürsorge für entlassene Gefangene. 


Die Forderung an die Anstaltserziehung brauche ich nur 
zu streifen, dass die Besserung der Zöglinge nicht durch Auf- 
lackieren einer äusserlichen Religiosität, sondern in der Er- 
ziehung zu nutzbringender Arbeit zu erstreben ist. In 
diesem Punkt berührt sich die Anforderung an die Zwangs- 


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erziehungsanstalt eng mit der Anforderung an den Strafvollzug 
bei Jugendlichen: so lange wir erleben, dass ein Jugend- 
licher wáhrend der ganzen Dauer einer einjáhrigen Gefángnis- 
strafe vom ersten bis zum letzten Tage mit dem sogenannten 
»Bórsemachen*, dem Aneinanderreihen einzelner Drahtringe 
zu Ketten für Metallbörsen, beschäftigt wird, so lange dürfen 
wir uns nicht wundern, wenn die Leiter der Erziehungsan- 
stalten vor allen, die aus den Gefängnissen ihnen über- 
wiesen werden, dreimal sich bekreuzigen, wir dürfen uns aber 
auch nicht wundern, dass ein Jugendlicher Diebstähle — er- 
findet, nur um weiter im Gefängnis zu bleiben und nicht in 
die gefürchtete Erziehungsanstalt zurück zu kommen. Eine 
herbere Kritik des Strafvollzugs bei Jugendlichen als dieses 
Vorkommnis ist allerdings schwer denkbar. 


Gegenüber manchen Amateur-Sozialpolitikern, zu deren 
Steckenpferd die Besprechung der Gefängnisarbeit gehört, auch 
wenn sie vom Gefängniswesen nicht mehr kennen, als etwa 
das Buch von Leus, möchte ich betonen, dass die so eminent 
wichtige Frage der Gefängnisarbeit nicht durch die Brille der 
sogenannten Mittelstandspolitik betrachtet werden darf und 
das oberste Prinzip hier nicht heissen kann: keine Konkurrenz 
der freien Arbeit, sondern$heissen muss: Schaffen nützlicher 
Werte, denn darin allein liegt der erziehliche Einfluss der 
Arbeit. 


Was ich anzuführen mir erlaubte, ist mir im gerichts- 
ärztlichen und im Gefängnisdienst angeflogen, nicht etwa am 
grünen Tisch zusammengetragen. Den Ärzten unter uns sage 
ich nichts neues, und die entwickelten Anschauungen sind 
wohl auch schon anderwärts und in anderem Zusammenhang 
zum Ausdruck gebracht worden. Ich übe keine Kritik an 
dem Gesetze und habe keine Veranlassung Anderungen des- 
selben zu befürworten, aber die Ausführung, die Handhabung 
des Gesetzes möchte ich vertieft wissen. Vielleicht gehört ' 
dazu auch die regelmäßige Feststellung des Schicksals der 
Zöglinge in den nächsten 10 Jahren nach der Entlassung, — 
jedenfalls sind alle die Vorschläge lediglich durch Ausführungs- 
bestimmungen zu verwirklichen. Ob dann die Erfolge der 


Zwangserziehung besser sein werden als seither, weiss ich 
freilich nicht, das aber weiss ich als Arzt, dass man ein Übel 
nur dann zweckmäßig bekämpfen kann, wenn man es richtig 
erkannt hat, und als Mann der Praxis bin ich überzeugt, 
dass man ein soziales Problem, wie die Zwangserziehung, nicht 
einseitig anpacken darf, sondern dass man sich bemühen muss, 
allen Seiten der Aufgabe nach Möglichkeit gerecht zu werden. 


Bemerkungen zur Zwangserziehungsgesetzgebung 
von 
Ministerialrat Dr. Best in Darmstadt 


und 
Dr. Klumker in Frankfurt. 


I. 


Ministerialrat Dr. Best führt aus: 


Er stimme mit Herrn Dr. Fuld darin überein, dass vom 
strafprophylaktischen Standpunkt aus die Subsidiarität der óffent- 
lichen Zwangserziehung zu bedauern sei. Nicht wegen sach- 
licher Verschiedenheit der Zwangserziehungsmaßregeln, von 
denen der $$ 1666, 1838 B. G. B., wohl aber wegen der 
Konsequenzen der Kostenlast. Denn wenn die Gemeinde die 
gesamten Kosten der Unterbringung zu tragen habe, dann 
werde sie mit ihren Anträgen zurückhaltender sein, als wenn 
sie, wie dies bei der Öffentlichen Zwangserziehung der Fall 
sei, die Kosten zur Hälfte ersetzt erhalte. 


Mit Herrn Dr. Fuld stimme er persönlich aber darin 
nicht überein, dass zur Verhütung der Subsidiarität in Hessen 
ein gesetzgeberisches Vorgehen geboten sei. Herr Dr. Fuld 
selbst habe dargelegt, dass das hessische Zwangserziehungs- 
gesetz nicht auf dem Boden der Subsidiarität stehe. Diesen 
Ausführungen stimme er um so eher zu, als er selbst im Jahre 
1904 in einem Aufsatz im „Recht“ zu dem gleichen Ergeb- 
nisse gelangt sei. Er habe dargelegt, dass sich die Subsidiari- 
tät der Zwangserziehung in Hessen weder aus der Entstehungs- 
geschichte des Gesetzes noch aus dessen Wortlaut ableiten 
lasse. Vor dem B. G. B. sei die Unterbringung eines Kindes 
in einer Familie oder Anstalt überhaupt nur auf Grund des 
Gesetzes vom 11. Juni 1887 zulässig gewesen und bei der 


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Überleitung durch das Ausführungsgesetz habe, inhaltlich der 
Materialien, an dem nicht subsidiären Charakter des Gesetzes 
nichts geändert werden sollen. Die Rechtsprechung des Kammer- 
gerichts über den subsidiären Charakter der preussischen Für- 
sorgeerziehung treffe für das hessische Gesetz nicht zu. Denn 
gerade die Worte des preussischen Gesetzes, aus denen das 
Kammergericht die Subsidiarität der Fürsorge herleite, fehlten 
in dem hessischen Gesetze. Nach diesem stehe hiernach dem 
Richter die freie Wahl zu, ob er auf öffentliche Zwangserzieh- 
ung erkennen oder eine Unterbringung nach den $$ 1666, 1838 
B. G. B. vornehmen wolle. Ergebe sich dies aus der Fassung 
und der Entstehung des Gesetzes in zweifelfreier Weise, so 
sei eine authentische Interpretation desselben um so weniger 
veranlasst, als auch das Oberlandesgericht eine ausdrückliche 
Stellung zu der Frage noch nicht genommen habe. Dieses 
habe sich vielmehr nur beiläufig und lediglich unter Bezug- 
nahme auf die nicht zutreffende Rechtsprechung des Kammer- 
gerichts für die Subsidiarität auch der hessischen Zwangser- 
ziehung ausgesprochen. Die Mehrzahl der hessischen Amts- 
gerichte stehe auf dem richtigen Standpunkt; die ab- 
weichende Stellungnahme einzelner rheinhessischer Gerichte 
könne ein gesetzgeberisches Eingreifen um so weniger recht- 
fertigen, als auch hier die Zahl der Fälle, in denen entgegen 
dem gestellten Antrag auf die Unterbringung des Kindes nach 
dem $ 1666 B. G. B. erkannt worden sei, seit dem Jahre 
1904 erheblich abgenommen habe. Die Ansicht einzelner 
rheinhessischer Gerichte, dass die öffentliche Zwangserziehung, 
insbesondere wegen ihrer Bezeichnung, das Kind mit einem 
Makel behafte, sei nicht begründet. Denn der Zwang richte 
sich gerade in den Fällen des $ 1666 B. G. B. gegen die 
Eltern, nicht gegen das Kind. Der Name „Zwangserziehung“ 
sei gewählt worden, weil ihn das Reichsrecht gebrauche und. 
die Übereinstimmung der landesrechtlichen Terminologie mit 
denjenigen des Reichsrechts aus den verschiedensten rungen, 
dringend erwünscht sel. 





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TI. 

Dr. Chr. J. Klumker (Zentrale für private Fürsorge, 
Frankfurt a. M.): 

Meine Herren! Gestatten Sie mir als einem Fremden in 
Ihrem Kreise einige Worte zu den erörterten Problemen, weil 
diese Fragen für uns in Preussen ebenfalls sehr grosse Bedeu- 
tung haben. 

Lassen Sie mich zunächst ein kleines Versehen des Herrn 
Dr. Fuld richtig stellen. Er meinte, dass der Zusatz Ihres 
hessischen Gesetzes: „oder wenn die Zwangserziehung zur Ver- 
hütung des völligen sittlichen Verderbens erforderlich ist“ dem 
Absatz 1, $ 1 des preussischen Fürsorgeerziehungsgesetzes ent- 
spricht. Das ist nicht der Fall. Er entspricht vielmehr dem 
Absatz 3; das heisst, er enthält genau in der ähnlichen Form, 
wie in Preussen, jene Bestimmungen, durch die allein die beiden 
Gesetze sich über die einfache Kostenregelung der vom bürger- 
lichen Gesetzbuch vorgesehenen Anordnungen des Gerichts 
hinausbegeben. Er enthält das, was nach dieser Richtung im 
Artikel 135 des Einführungsgesetzes den Landesgesetzen einzig 
zur selbständigen, sachlichen Regelung überlassen worden ist. 

Der Streit, der in Preussen über die Subsidiarität der 
Fürsorgeerziehung gegenüber dem Vorgehen aus $ 1666 des 
B. G. B. entstanden ist, hat bereits viel von seiner Schärfe 
verloren. Mögen auch nach dieser Richtung im Landtag und 
Herrenhaus scharfe Worte gefallen sein, so gehen diese meist 
von einer Seite aus, die finanziell das Interesse an einer ande- 
ren Regelung hat, und wenn die Regierung sich diesen Klagen 
angeschlossen hat, so beweist das nur, dass eine grosse, viel- 
köpfige Regierung eben infolgedessen ein schlechtes Gedächtnis 
haben kann, denn niemand hat die Subsidiaritát der Fürsorge- 
erziehung in jeder Hinsicht so stark betont, wie seiner Zeit 
der Herr Minister selbst ın seinen Ausführungsbestimmungen 
zum Fürsorgeerziehungsgesetz, die damals gleich wegen dieser 
unklaren Ausführung von mir und anderen Sachkennern be- 
anstandet worden sind. Im ganzen handelt es sich bei diesem 
Streit, der mit so viel Lärm geführt worden ist, einzig um 
eine Kosten-Frage zwischen Provinzen und Ortsarmenverbänden, 
eine Frage die sachlich wenig Bedeutung hat. Sie wird daher, 

5 


— 66 == 


abgesehen von den Kreisen der nächst Beteiligten, in neuerer 
Zeit auch bei uns nicht mehr so ernst genommen. 

Entstehen konnte dieser Streit nur, weil man sich bei Er- 
lass des Gesetzes über sein Verhältnis zum B. G. B. durchaus 
nicht klar gewesen ist. Im Königreich Sachsen wurde seit 
langer Zeit der entsprechende Paragraph des sächsischen bürger- 
lichen Gesetzbuches in der heute bei 8 1666 angefochtenen 
Form gebraucht und die Ortsarmenverbinde haben sich dem 
ruhig gefügt. Die Rechtsprechung in Preussen wie das Bundes- 
amt für das Heimatwesen haben also nur das für Preussen 
festgelegt, was sich der Gesetzgeber bei Erlass des Fürsorge- 
erziehungsgesetzes in Preussen nach den Erfahrungen in Sachsen 
hätte selbst sagen können. Wenn es schwierig ist, die kleinen 
Armenverbände zur Pflichterfüllung zu zwingen, so ist das der 
alte Fehler, der nach einstimmiger Meinung aller Kenner nur 
dadurch zu bessern ist, dass die öffentliche Kinderfürsorge den 
grösseren Verbänden, etwa den Landarmenverbänden, übertragen 
wird. Das ist eine alte, wohl berechtigte Forderung des deut- 
schen Vereins für Armenpflege und Wobltátigkeit. Praktisch 
halte ich es für günstig, wenn hier und da ein Ortsarmenver- 
band durch das Amtsgericht zu seiner Pflicht gezwungen und 
aus seiner Lethargie aufgerüttelt wird. 

Im übrigen halte ich den Zeitpunkt noch nicht für ge- 
kommen, wo wir an eine weitere Ausdehnung der Fürsorge- 
erziehung denken dürfen. Die Art, wie diese Erziehung ge- 
handhabt wird, entspricht nicht den Anforderungen, die wir 
heute stellen müssen. Alles, was Herr Med.-Rat Balser in 
dieser Hinsicht gesagt hat, kann ich aus meinen Erfahrungen 
heraus durchaus bestätigen. Ich freue mich, dass bei Ihnen 
diese Erwägungen so stark bereits den Beifall der praktischen 
Juristen finden. 

Herr. Prof. Sommer hat, wie ich höre, begonnen, ältere 
Fürsorgezöglinge auf ihre geistigen Defekte hin zu begutachten. 
Den hohen Wert dieser ärztlichen Begutachtung können gerade 
wir Frankfurter nur bestätigen. Seit einer Reihe von Jahren 
hat Herr Direktor Sioli in der Frankfurter Irrenanstalt eine 
Abteilung zur Beobachtung solcher Elemente, seien es Kinder 
oder Jünglinge, geschaffen, der ich bereits eine ganze Anzahl 


s 67 = 


gerade jugendlicher Elemente im Alter von 14 bis 18 Jahren 
überweisen konnte. Die Ergebnisse der Beobachtung haben 
sich stets als hoch bedeutsam für die praktische Behandlung 
der Kinder erwiesen. Allerdings hat sich dabei auch heraus- 
gestellt, wie wenig unsere vorhandenen Anstalten für eine Be- 
rücksichtigung abnormaler und minderwertiger Kinder einge- 
richtet sind. Wenn auch nicht überall der Zwang zur Arbeit 
als einziges Erziehungsmittel erscheint, so bleibt im Augen- 
blick doch in sehr vielen Fällen wie zur Beobachtung so zur 
weiteren Behandlung nichts übrig als eben die Irrenheilanstalt, 
die aber unseren Ansprüchen an Erziehung und soziale Aus- 
bildung nicht voll entsprechen kann. 

So halte ich die Gründung einer eigentlichen Beobach- 
tungsanstalt für Kinder und Jugendliche, die gerade nach der 
ärztlichen Seite ausgestaltet ist, für dringend notwendig. Eine 
ähnliche Einrichtung ist aber auch aus andern Gründen zu 
wünschen. Die Vorzüge der Familienpflege vor der Anstalts- 
pflege sind Ihnen eben wieder geschildert worden; sie sind 
uns, die wir hier in einem Lande leben, das seit mehr als 
Hundert Jahren seine Bevölkerung planmäßig für die Familien- 
pflege erzogen hat, besonders gegenwärtig. Dennoch fehlt 
unserer Familienpflege gerade für schwierige Fälle ein wesent- 
liches Stück. Soll die Familienpflege wirklich ihre Aufgabe 
gut erfüllen, so muss ihr für die Behandlung besonderer Cha- 
rakter- und Geistes-Eigenschaften die entsprechende Anleitung 
gegeben werden. Ferner muss, schon für die Unterbringung 
normaler Kinder, jede Familie gerade für das betreffende Kind 
passend gewählt werden. Das kann aber nur geschehen, wenn 
die auswählende Stelle das Kind selber genau kennt. Dazu 
gehört aber nicht bloss Aktenkenntnis oder eine kurze Unter- 
haltung, sondern dazu muss man das Kind einige Zeit wirk- 
lich beobachten können. Soll eine Familienpflege wirklich 
modernen Anforderungen entsprechen, so muss sie eine Beob- 
achtungsanstalt besitzen, in die zunächst die Kinder einige 
Monate eingewiesen werden. Hat man sie dort kennen ge- 
lernt, so kann man die richtige Familie finden, so kann 
man auch bei späteren Schwierigkeiten, die sich in der 
Pflege ergeben, in der richtigen Weise eingreifen. Hier 


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und da, z. B. in Westphalen, hat man eine Art solche 
Beobachtungsanstalten, allerdings in sehr einfacher Form ge- 
schaffen. Sie würden am richtigsten mit jener schon. erwähn- 
ten Beobachtungsanstalt vereinigt, wobei natürlich schwere 
Fälle, vor allem Fälle ausgesprochener Geisteskrankheit, den 
bestehenden Anstalten zuzuweisen wären. Dann kann man 
auch eine viel grössere Anzahl selbst schwierigerer Fälle ın 
Familienpflege bringen, dann wird man auch erkennen, wie 
viele Kinder, die in den Gerichtsakten als halbe Scheusale 
erscheinen, oft noch recht leicht und ohne den grossen Apparat 
der Anstalt zu bessern sind. Freilich eine solche Anstalt muss 
unter einem erfahrenen, menschenkundigen Hausvater stehen, 
dem ein Arzt, der speziell diese Fragen zu seinem persön- 
lichen Studium macht, als Leiter und Berater beigegeben 
sein sollte. Daneben müsste für tüchtiges, reichliches Personal 
gesorgt werden, das man nicht einfach aus dem Militäran wärter- 
stand, wie in so manchen Anstalten, rekrutieren sollte, sondern 
an das man die höchsten Anforderungen stellen könnte, das 
man aber auch entsprechend besolden müsste. Darnach wird 
eine solche Anstalt viele Kosten verursachen. Sie wird sich 
aber reichlich lohnen, denn erst durch eine solche Anstalt 
wird eine weitere Ausbildung unserer Fürsorgeerziehung, eine 
Entdeckung neuer Wege und Methoden, eine richtige Auswahl 
von Anstalten und Familien und eine wirkliche fortschrittliche 
Ausnutzung der Familienpflege möglich. 

Besser als alle Kritik der bestehenden Anstalten, die für 
jugendliche Personen, besonders weiblichen Geschlechts, manch- 
mal zu wünschen übrig lassen, ist ein positiver Versuch, in der 
erwähnten Richtung die Grundlage wirklich durchgreifender, 
planmäßiger Fürsorge zu finden und neue Methoden und Mittel 
der Erziehung heranzuziehen. Hier liegt die dringlichste Auf- 
gabe, die die private Fürsorge zur Zeit haben kann, für die 
grosse Mittel zunächst freiwillig aufgebracht werden sollten. 
An die Erfahrungen solcher privaten Einrichtungen könnte 
sich ein durchgreifender Ausbau der öffentlichen Fürsorge- 
erziehung und Kinderfürsorge anschliessen. Dann erst kann 
von einer Ausdehnung der Gesetzesbestimmungen die Rede 
sein. 


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