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Juristisch-psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. $. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
III. Band, Heft 1/3.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1905.
HANS GROSS
in aufrichtiger Verehrung gewidmet
vom Verfasser.
Wien, Ostern 1905.
l. Begriff und Arten des Geständnisses in
Strafsachen.
Wenn im Folgenden das Geständnis in Strafsachen einer
Betrachtung in juristischer und psychologischer Hinsicht unter-
zogen wird und aus diesem Anlasse nach alter Autorensitte
der Gegenstand der Erörterung determiniert werden soll, sei
es gestattet, ehe wir darangehen, eine Definition des Geständ-
nisses und insbesondere des Geständnisses in Strafsachen zu
geben, bei dem Begriff, dem Wort „Geständnis“ als solchem
zu verweilen. |
Es gibt eine Menge Worte, welche im Munde des Juristen
eine andere Bedeutung als in der Umgangssprache haben. Zu
diesen gehört das Wort „Geständnis“. Nicht dass der Sinn.
dieses Wortes im heutigen nicht-juristischen Deutsch von dem
im Juristendeutsch gerade ein grundverschiedener wäre; aber
als juristische termini technici haben die Worte „Geständnis“,
,gestándig”, „gestehen“, im Verlaufe der Entwicklungs-
geschichte unserer Sprache so verschiedene Bedeutungen
gehabt, daß es immerhin in gewissem Sinne von Interesse sein
dürfte, wenigstens einige dieser Bedeutungen festzuhalten.
Denn dass nicht jede Erklärung, die ein Linguist gibt, vom
Standpunkte des allgemeinen Sprachgefühls befriedigen, ge-
schweige denn gar die Zustimmung des Juristen finden kann,
mag ein Blick in das Sanders’sche Wörterbuch lehren. Nach
Sanders bedeutet „gestehen“ soviel wie „mit Überwindung
bekennen“ !) und „geständig* heisst „etwas Einem zur Last
Fallendes oder Gelegtes eingestehend, nicht leugnend“ ?); dass
hiermit Sanders das Wort „gestehen“ in einem viel zu engen
1) Sanders, Wörterbuch II., 2. (Leipzig 1869), S. 1195.
?) Sanders, a. a. O., S. 1176.
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Sinne auffasst, ist — auch dem Nicht-Juristen — ebenso klar
wie darüber — wiederum auch in nicht-juristischen Kreisen —
ein Zweifel nicht bestehen kann, daß durch die von Sanders
gegebene Erklärung damit, daß in die Umschreibung des Wortes
„geständig* der Begriff ,eingestehend” Aufnahme gefunden
hat, nur eine Tautologie geschaffen, aber keine Definition ge-
geben worden ist.
Während heute unter „Geständnis* an eine bestimmte Art
von Parteierklärung gedacht wird, bedeutete „gestehen“ in der
älteren Deutschen Rechtssprache soviel wie ein Obsiegen ver-
mittels eines vollgiltigen Zeugenbeweises, also den Gegensatz
zu „irvallen“, einen die Rechtshandlung ungiltig machenden
Formfehler begehen.!) So heisst es im Freiburger Stadtrecht,
c. 5, 2: „di iuncvrowe sweret also lange biz daz si gestet.*
In einem anderen Sinne entspricht das Wort dem lateinischen
stare juri, vor Gericht erscheinen, sich dem Richter stellen, so
in Magdeb. blume, 2, 3, 28: „wer czu dinge geladin ist und
nicht gesteit.“ In diesem Zusammenhange bedeutet also „ge-
stehen“ soviel wie „persönlich vor Gericht erscheinen.“ Weit
häufiger jedoch kommt es in einer Bedeutung vor, die sich
seiner heutigen insofern nähert, als das Wort „gestehen“ zum
Ausdrucke der Bekräftigung einer Behauptung gebraucht wird.
In den Worten „uff das man on nicht hilde vor einen logener,
so gestunt om des einer von Talwigk“ ?) soll mit „gestehen“
die Bestätigung einer Behauptung durch Beitritt eines Zeugen
- für den Behauptenden ausgedrückt werden.
Von diesem Sinne des Wortes war freilich der Weg zu
jener Bedeutung nicht weit, in welcher es für „giltiges Zeugnis
ablegen“, für „bezeugen“ überhaupt genommen wurde, wie z. B.
im Freiburger Stadtrecht, c. 12. 4: „daz sullen ouch di boten
vil rechte horen unde vernemen, daz si wizzen, wes si gesten
sullen.“ Aber nicht nur für den Beitritt als Zeuge, sondern
auch für die Partei-Ergreifung durch Beitritt als Bürge wandte
die ältere Rechtssprache das Wort „gestehen“ an; in dieser
1) Die folgenden Ausführungen folgen den Darstellungen des Brüder
Grimm’schen deutschen Wörterbuches, IV. Bd., I. Abt., 2. Teil (Leipzig
1879), S. 4210 ft.
*”) Grimm, a. a. O., sub 22 b); Rothe, dür. chr. c. 659.
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Bedeutung finden wir es in „keiser Maximilians lehr“ (45?)
aus dem Jahre 1532:
und wirt nit allein gestehn füsz und hendt,
sondern dein seel wird darumb verpfendt.
Daneben findet sich dieses Wort schon ın der der Bedeu-
tung von ,Bekráftigung* sehr nahe verwandten der „Zustim-
mung“, also um das Halten zu jemandem, ohne seine Hand-
lungen als Prozesspartei direkt bekräftigen zu können. So zu-
nächst in dem allgemeinen Sinne von „jemandes Partei er-
greifen, zu ihm halten‘, wie z. B. im Parzival 471,15: „die
newederhalp (niemandem) gestunden*. Es deutet ferner den
Beistand als Parteienvertreter, als Fürsprech an, wenn es im
Augsburger Stadtbuch (73,33 — Meyer) heisst: „und suln dem
selbem, der im gestat oder behaltet, sagen, daz er im iht
gestunden wan mit dem rehtem.“ Und der Höhepunkt
der Zustimmung im Rechtsleben war der durch den sog. Um-
stand, wenn die das Gericht umstehende Gemeinde zu Gunsten
des Beschuldigten eine Frage beantwortete: „ich aber und die
gantze gemein gestehen dir solches deines vorgehens in
Keine weisz noch weg,“ so bei Ayrer, proc. 1,5.
Diese Bedeutungen des Wortes „gestehen“ gehören der
Vergangenheit an, aber sie sind die Vorläufer des Wortes in
seinem heutigen Sinne, der im Grim m'schen Wörterbuch!) in
einer freilich die Sache nicht erschöpfenden Weise mit „ge-
richtlich, von den parteien, zugestehen, ein zugeständnis
machen, einräumen“ umschrieben wird.
Sehen wir zunächst davon ab, dass hier das Wort „ge-
richtlich“ zuviel ist, da es ja auch aussergerichtliche Gestánd-
nisse gibt, so können wir sagen, dass mit diesen Worten, ins-
besondere mit dem Worte. „einräumen“ die Auffassung eines
grossen Teiles der Juristenwelt widergegeben ist.
Dadurch, dass man im Geständnis eine Einráumung er-
blickt, gibt man zu, daß dem Geständnis zeitlich etwas voran-
gehen müsse, was eingeräumt wird, und als dieses Antecedens
wird oft nicht eine strafbare Handlung, sondern der durch
eine dritte Person erfolgte Vorhalt, die strafbare Handlung
1) a. a. O., S. 4215 sub 25).
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begangen zu haben, angesehen. Ohne dieses Antecedens
wollen viele ein Geständnis überhaupt nicht gelten lassen.
Selbst ein Geständnisrechtler aus jüngerer Zeit, Schauberg')
steht auf diesem Standpunkte, wenn er sagt: „Der natür-
liche Begriff des Geständnisses, der confessio, ist der eines
Sichstellens auf eine Herausforderung, eines Einstehens für
eine geltend gemachte Rechtspflicht, es ist eine Erklärung, das
auch zu kennen, was der Gegner behauptet, es ist eine mit
der Aussage des Gegners übereinstimmende (con-fateri) Äusse-
rung des Belangten, der damit constatirt, im Unrecht zu sein.
Wie zum Begriffe des Unrechts zwei Parteien gehören, so ist
Zweiseitigkeit, Verhältnismäßigkeit ein durchgehendes
Characteristicum des natürlichen wie des juristischen Geständ-
nisses. Wenn Nichts behauptet wird, kann Nichts gestanden
werden; wenn noch Nichts dasteht, kann ich mich nicht dazu
(gestehen, con-fiteri) stellen. Freilich braucht die Behauptung
nicht direkt und ausdrücklich zu geschehen, obwohl dies das
Regelmäßige ist. Wenn z.B. der Kläger in seiner Klagschrift
schon eine Einräumung macht, so ist dies ein Geständnis, denn
eine Behauptung des Beklagten ist selbstverständlich enthalten
in dem natürlichen Gegeninteresse des Beklagten gegen den
Kläger. Und wenn ein Verbrecher ganz freiwillig vor dem
Richter erscheint und ein Geständnis ablegt, lag eine dazu
veranlassende Behauptung in der Strafandrohung des dem Ver-
brecher bekannten Gesetzes.“ Dass diese Schauberg'sche
Auffassung zu eng ist, unterliegt keinem Zweifel. Vor allem
was die letzten Worte Schaubergs betrifft, ist dagegen
vieles einzuwenden; fürs erste, dass doch nicht jedem Ver-
brecher das Gesetz bekannt sei, dass ferner Geständnisse von
Handlungen vorkommen, für die es keine Strafdrohung gibt.
Die Ansicht „Wenn nichts behauptet wird, kann nichts ge-
standen werden“ trifft also nicht zu. Dem hat man Rechnung
getragen, indem man das Geständnis in einem doppelten Sinne
auffasste. So tat es der für seine Zeit beste Kenner des straf-
prozessualen Geständnisrechts, Tittmann, indem er sagte:
„Die Erklärung eines Angeschuldigten, dass das, was ihm
Dd Schaube rg, Vergleichung des Geständnisses im Kriminal- und Zivil-
prozess (Zürich 1869), 5. 17.
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Schuld gegeben wird, wahr sey, oder dass er die strafbare
Handlung begangen habe, heisst Geständnis“ ?).
Nach Mittermaier?) ist Geständnis (Bekenntnis) „die
Aussage eines Angeschuldigten, wodurch er ein bestimmtes
Verbrechen begangen zu haben angibt, oder überhaupt eine
die Verübung eines Verbrechens betreffende, ihm nachteilige
Tatsache als wahr zugibt“.
In ähnlicher Weise unterscheidet Geyer?) eine doppelte
Bedeutung des Wortes „Geständnis“, je nachdem, ob es sich
auf die Tat als solche oder lediglich auf einen Tatumstand
bezieht. „Unter Geständnis“, sagt Geyer, „ist im Strafver-
fahren jede Erklärung des Angeschuldigten oder Angeklagten
zu verstehen, durch welche er die Wahrheit irgend eines: ihm
nachteiligen Umstandes einräumt. Im engern Sinne versteht
man darunter das Zugeständnis desselben, das Verbrechen be-
gangen zu haben“.
Während hiermit zu sehr daran festgehalten wird, dass
ein Geständnis nur auf Vorhalt abgelegt werden könne, ist die
von C. Gross gegebene Definition von dieser Beschränkung
frei. Nach C. Gross) ist Geständnis „jene Erklärung einer
Prozesspartei, durch welche dieselbe eine von ihrem Gegner
angeführte Behauptung, welche gegen sie gelten soll, als wahr
anerkennt oder eine solche Behauptung selbst anführt.
Nach Vargha ist das Geständnis „die Erklärung einer
Prozesspartei, durch welche sie eine gegnerische Behauptung
für wahr anerkennt, sei es auch, dass dieselbe gegen sie
wirken sollte“. 5) Hierzu wäre nur zu bemerken, dass der
Nachsatz nicht richtig formuliert ist; denn dass diese Behaup-
tung zum Nachteile der Partei wirken soll, gehört geradezu
zum Wesen des Gestándnisses. Überdies ist aber ein Geständ-
nis auch möglich, ohne dass eine gegnerische Behauptung
1) Tittmann, Über Geständnis und Widerruf in Strafsachen (Halle
1810), $. 1.
?, Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren II. (Heidelberg 1840),
S. 246.
$) Geyer in v. Holtzendorffs Hdb. d. Strafprozessr. I. Bd., $ 260.
4) C. Gross, Die Beweistheorie im canon. Prozess, I. Teil (Wien 1867),
S. 68.
6, Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (Wien 1879), S. 539,
a AO: ee
bereits vorliegt. Vargha scheint sich selber von diesen beiden
Mängeln seiner Definition des Geständnisses überzeugt zu
haben. Wenigstens hat er in der Folge den Geständnisbegriff
ganz anders gefasst in die Worte: „Unter Geständnis versteht
man das Bejahen von Tatsachen seitens einer Prozesspartei zu
ihrem Nachteile“ !). Diese Definition hat vor andern auch das
für sich, dass sie sich nicht auf den „Angeklagten“ oder „Be-
schuldigten“ beschränkt, und bedarf nur insofern einer Bin-
engung, als wir es eben nicht mit dem Geständnisse überhaupt,
sondern mit dem Geständnis in Strafsachen insbesondere zu
tun haben. „Die Merkmale einer Definition“, sagt Stahl ?)
„sollen dem Definierten völlig adäquat sein, die Sache erschöpfen,
diesen Merkmalen selbst wieder in gleicher Weise definiert, in
schon gegebene allgemeine Vorstellungen umgewandelt werden
können.“ Wenn dies berücksichtigt wird, scheint das Wesen
des Geständnisses sich dahin zusammenfassen zu lassen: Ge-
ständnis in Strafsachen ist jede Aussage, die, an
sich betrachtet, einen strafrechtlich relevanten
Nachteildes Aussagendenherbeizuführen geeignet
ist.
Ist der Begriff des Geständnisses auch in der verschie-
densten Weise gegeben worden, so macht es doch den Ein-
druck, dass über sein Wesen allzeit Klarheit herrschte und
höchstens Formulierung und Vorstellung dieses Begriffes sich
nicht immer deckten. Hingegen war die Frage nach seiner
rechtlichen Natur lange ein Gegenstand lebhafter Erörterung,
die sich jedoch von dem Rahmen des jeweiligen Grundprinzips
einer Strafprozessordnung nicht loslósen lässt, weshalb wir auf
diese Frage erst in Verbindung mit dem historischen Werde-
gang des Geständnisses in Strafsachen zu sprechen kommen
werden.
Was die Arten des Geständnisses betrifft, wurden unter-
schieden :
I. Gerichtliches und aussergerichtliches Ge-
ständnis, je nachdem, ob ein Geständnis vor dem zu-
ständigen Gericht oder anderwärts abgelegt wurde. Beim
1) Vargha, Das (österreichische) Strafprozessrecht (Berlin 1885), S. 199.
2 Stahl, Die Philosophie des Rechts, I. Bd. (Heidelberg 1830), S. 53.
liegen
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aussergerichtlichen Gestándnis wurde wiederum das vor einer
Behórde von dem vor Privatpersonen gemachten auseinander-
gehalten.
II. Vollgiltiges und unvollständig giltiges Ge-
stándnis, eine Unterscheidung nach dem Momente, ob die
etwa strafprozessual vorgeschriebene Form zur gerichtlichen
Entgegennahme eines Gestándnisses vollkommen oder nur teil-
weise gewahrt erscheint.
II. Ausdrückliches, stillsehweigendes und ver-
mutetes Geständnis; Einteilungsgrund ist hierbei die Er-
wägung, ob ein Geständnis auf der eigenen expressis verbis
gemachten Erklärung des Beschuldigten oder auf ein Schweigen,
das man als Zustimmung anzusehen sich berechtigt hält, oder
endlich auf solehen Handlungen beruht, welche die Vermutung
zulassen, der Handelnde sei der Täter (z. B. Abschliessung
eines Vergleichs mit dem Beschädigten). — Das ausdrückliche
Geständnis wiederum kann bloss in Bejahung vorgehaltener
Fragen oder in zusammenhängender Erzählung bestehen. Eine
besondere Art des Geständnisses ist die Selbstanzeige
(Selbststellung) bei der Behörde.
IV. Erzwungenes und freies Geständnis, je nach-
dem das Geständnis durch Anwendung von oder Bedrohung
mit Gewalttätigkeit und anderen unerlaubten Mitteln erreicht
wurde oder nicht.
V. Nacktes (blosses) und umständliches (durch
Umstände unterstütztes) Geständnis, eine Unter-
scheidung, die darauf beruht, ob der Geständige lediglich seine
Tat eingesteht oder überdies nähere Umstände anführt, die für
den Fall ihrer Wahrheit zur Bekräftigung seiner Angaben ge-
eignet sind.
VI. Vollständiges und unvollständiges Ge-
ständnis, ersteres liegt vor, wenn bei Deliktsmehrheit sämt-
liche Delikte gestanden, letzteres, wenn einige gestanden,
andere hingegen verschwiegen oder in Abrede gestellt werden.
VII. Reines (einfaches, unumwundenes, unbe-
schránktes) und qualifizierte (umwundenes, be-
schránktes) Gestándnis, je nachdem, ob die Tat in einer
zur Bestrafung geeigneten Art gestanden oder dem Geständnis
— 12 —
tatsächliche Umstände beigefügt werden, welche die Strafbar-
keit vermindern oder schuld-, bez. strafausschliessend wirken.
Die Bedeutung dieser Einteilungen der Geständnisse in
Strafsachen ist vom Standpunkte unserer Zeit betrachtet, vor-
wiegend historischer Natur; inwiefern die eine oder die andere
Einteilung auch gegenwärtig praktischen Wert hat, ergeben die
nachfolgenden Ausführungen.
Literatur über das Geständnis in Strafsachen.
Die frühere Zeit, deren Strafprozesse dem Geständnis eine
bei weitem grössere Bedeutung, als dies gegenwärtig der Fall
ist, beilegten, weist eine ziemlich umfangreiche Literatur über
das Geständnis in Strafsachen auf.
Diese Monographien hat in allerjüngster Zeit H a u Bn er!)
zusammengestellt. Für das gegenwärtige Recht kommen haupt-
sächlich die einschlägigen Partien in den systematischen Dar-
stellungen des Strafprozessrechts, vor allem in denen von
Glaser und Geyer, sowie Varghas „Verteidigung in
Strafsachen“ in Betracht. Auf die rechtsgeschichtliche und
kriminalpsychologische Literatur ist im Zusammenhange mit
den entsprechenden Abschnitten der vorliegenden Abhandlung
Bezug genommen.
II, Geschichtliche Entwicklung.
Soll die Bedeutung des Geständnisses im heutigen Straf-
prozess richtig gewürdigt werden, so ist es nicht nur ratsam,
sondern geradezu notwendig, die Rechtsgeschichte heranzu-
ziehen. „Die Geschichte ist der einzig sichere Weg zur Er-
kenntnis der Gegenwart“, sagt Vargha und diese Worte
haben auch in Bezug auf die Lehre vom Geständnisse in
Strafsachen ihre volle Berechtigung.
Der im historischen Werdegange des Strafprozessrechts so
bedeutsame Gegensatz des Anklageverfahrens zum Inquisitions-
prozess spiegelt sich auch in der rechtlichen Bedeutung und
1) Haußner im „Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik”
(in der Folge als „Gross sches Archiv“ zitiert), XIV. Bd., S. 5—8,
== AN
Behandlung des Gestándnisses wieder. Diesen Gegensatz hat
man dahin charakterisiert, dass beim Akkusationsprozess die
richterliche Tätigkeit von dem Auftreten eines Anklägers be-
dingt und von seinen Anträgen abhängig sei, während beim
Inquisitionsprozess das Gericht von Amtswegen einschreitet,
ohne erst die Anträge eines Anklägers abzuwarten, bez. ab-
warten zu müssen.
In der Tat ist mit einer derartigen Charakterisierung zwar
der Hauptunterschied zwischen den beiden Formen des Straf-
prozesses gegeben, aber auch nur dieser. Es ist dies eine
Unterscheidung, welche lediglich die äusseren Merkmale richtig
erfasst, aber keineswegs die zwischen Akkusations- und Inqui-
sitionsmaxime obwaltenden Gegensätze erschöpft. Ein Prozess
lässt sich nicht nach lediglich äussern Merkmalen charakte-
risieren, denn ein Prozess ist ein organisches Ganzes; nur als
solches darf, nur als solches kann er überhaupt aufgefasst
werden, wenn er verstanden werden soll. Und so finden wir
denn, dass alle Phasen des Rechtsganzes, die Grundsätze der
Beweisvornahme und ihrer Verwertung für den Urteilsspruch,
die Stellung desjenigen, dem ein Delikt zur Last liegt, kurz
alle Einrichtungen eines Strafprozesses im Ganzen wie im Ein-
zelnen von dem Grundcharakter bedingt sind, auf dem er
basiert, und sich bis ins kleinste Detail verschieden gestalten,
je nachdem, ob er akkusatorischer oder inquisitorischer Natur
ist.
Diesem Gegensatz begegnen wir nun auch in der gesetz-
lichen Behandlung des Geständnisses in Strafsachen. Beim
Anklageprozess ist es die Sache des Anklägers, für seine Be-
hauptungen den Beweis anzutreten und auch zu erbringen,
wobei er freilich, wie dies ja im Wesen eines jeden Prozesses
liegt, auf die Unterstützung von seiten des Gerichts nach Lage
des Falles mehr minder angewiesen ist. Aber von einer Ver-
pflichtung des Gerichts, unabhängig von den Anträgen des
Anklägers die Erforschung der Wahrheit zu betreiben, kann
hier nicht die Rede sein, wenn gleich das Gericht zu gewissen
von amtswegen wahrzunehmenden Anordnungen und Verfüg-
ungen berechtigt ist. So erscheint denn das Geständnis
im Akkusationsprozess, wenigstens in dem früherer Zeiten, als
a, a 3
eine Erklärung, die, wie u. a. Mittermaier') hervorhebt,
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Geständnis im Zivilprozess
hat; mag diese Analogie auch ein wenig eine gegenteilige An-
sicht zulassen — omnis analogia claudicat — so hat sie doch
den Kern der Sache richtig erfasst: Das Geständnis im
Akkusationsprozess ist eine Parteierklärung.
Ganz anders verhält es sich jedoch mit dem Geständnisse
im Inquisitionsprozess, wo der Richter von Amtswegen ein-
schreitet. Mag auch dies insofern seine Vorteile haben, als
der Richter eine am endgiltigen Ausgang des Prozesses de
jure uninteressierte Person ist, so wurde gerade dieser Um-
stand paralysiert durch das (hier nicht dem Ankläger obliegende,
sondern) dem Richter zur Pflicht gemachte Bestreben, mit
allen erlaubten Mitteln dahin zu wirken, dass der Beweis für
die Behauptung der Täterschaft des vermeintlichen Missetäters
erbracht werde. Zu diesem Zwecke ward der Inquirent mit
den schärfsten Mitteln ausgestattet. Er war nicht der Richter
in einem kontradiktorischen Verfahren, sondern er war ledig-
lich die mit der Untersuchung des Straffalls betraute Amts-
person, seine Aufgabe war nicht die, nach vorhandenen Be-
weismitteln zu urteilen, ihm oblag vielmehr die Pflicht, die
Mittel zur Erforschung der Wahrheit selbst herbeizuschaffen.
Als die vorzüglichste Quelle zur Schöpfung der Wahrheit sah
man nun das Geständnis an; in ihm erblickte man die regina.
probationum; das Geständnis zu erlangen war das Ziel des
ganzen Strafprozesses. Um die Art und Weise, wie das Ge-
ständnis erlangt wurde, kümmerte man sich bei weitem nicht
so sehr wie darum, dass es abgelegt ward. So brachte es
denn der Inquisitionsprozess mit sich, dass der Inquisit nicht
als Partei vor dem Richter erschien, sondern ein Untersuchungs-
gegenstand in den Händen des Richters war, m. a. W. nicht
als Prozesssubjekt, sondern als Prozessobjekt galt. So ideal
der Inquisitionsprozess von der Gesetzgebung gedacht sein
mochte, er litt daran, dass in seiner Anwendung selbst Gewalt
und Zwang nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten waren,
um ein Geständnis zu erlangen. Die formelle Wahrheit
1) Mittermaier Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse
(Darmstadt, 1834), S. 234.
> o =
d. h. die Erklärung einer Tatsache für wahr unter Hinweis
auf die Mittel, die das Gesetz als Wahrheitsquellen ansah,
war die Aufgabe der unter dem Zeichen der Inquisitionsmaxime
stehenden Strafrechtspflege.
Nur sehr langsam brach sich die Erkenntnis Bahn, dass
eine Behauptung nicht deswegen, weil sie mit einem von dem
Gesetz als Quelle der Wahrheitserforschung vorgeschriebenem
Mittel erreicht sei, wahr sein müsse, sondern nur dann wahr
sel, wenn sie mit den tatsächlichen Verhältnissen überein-
stimme. Doch war diese Hintansetzung der formellen
Wahrheit gegenüber dem Streben nach materieller Wahr-
heit erst den Strafprozessen der neueren Zeit vorbehalten.
Waren es auch zunächst Strafprozessordnungen des Inquisitions-
prinzips, welche auf materielle Wahrheit Gewicht zu legen
anfingen, so kann doch behauptet werden, dass erst mit der
Einführung des Anklageverfahrens das Prinzip der Erforschung
materieller Wahrheit voll und ganz zum Durchbruch gelangte.
A) Römisches Recht.
Welche Bedeutung dem Geständnis im Strafprozess der
Römer zukam, ist einzig und allein aus der Natur der Ge-
samtheit der öffentlich rechtlichen Verhältnisse des alten Rom
zu verstehen. Der mächtige Aufschwung Roms und der Nieder-
gang des römischen Weltreiches finden ihr treues Spiegelbild
in der römischen Gesetzgebung u. zw. nicht in letzter Hinsicht
in der römischen Kriminälgesetzgebung. Was jedoch insbe-
sondere das Geständnis anlangt, sind nicht allein die poli-
tischen Verhältnisse massgebend, vielmehr kommt ein Um-
stand — modern gesprochen — soziologischer Natur noch
hinzu, nämlich die Rücksichtnahme auf die Gliederung der
Einwohner in Freie und Sklaven, eine Erscheinung, die nicht
spezifisch römisch ist, vielmehr sich bei allen Völkern des
Altertums findet, aber nirgends in so starkem Maße ausgeprägt
war, wie bei den Römern. Keine Rechtsordnung des Alter-
tums durchzieht dieser Gegensatz gleich einem roten Faden
so sehr wie die römische. Nur der freie Römer war Person
im Rechtssinn, nur ihm war die Möglichkeit gegeben, Rechts-
subjekt zu sein; der Sklave hingegen war nicht Person im
Es lb
Rechtssinue. Die Persónlichkeit mangelte ihm; von rechts-
wegen war er Sache. Dieser Unterschied machte sich auf
verschiedenen Rechtsgebieten in verschiedener Weise geltend,
auf dem einen mehr, auf dem andern weniger. Und in der
Natur der Sache liegt es, dass die Einteilung der Bevólkerung
Roms in Freie und Unfreie fúr das Staats- und das Privat-
recht von weitaus grösserer Bedeutung war als für das
Kriminalrecht und seinen Prozess. Aber maßgebend war auch
hier in erster Linie und ganz überwiegend doch der Umstand,
dass dem Sklaven die Persönlichkeit fehlte. Dies war auch
in strafprozessualer Hinsicht von weittragender Bedeutung, die
nirgends mehr sich áusserte- als in der grundverschiedenen
Wirkung, die einerseits dem Gestándnisse des freien Mannes,
anderseits dem des Sklaven zukam.
Der folgenden Darstellung sei die zuerst von Geib +)
vorgenommene Einteilung der Geschichte des römischen Krimi-
nalverfahrens in drei Perioden zugrunde gelegt. Demnach sind
auch hinsichtlich des Geständnisses im römischen Strafprozesse
drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: 1. Von der Gründung
des römischen Staates bis zu den quaestiones perpetuae; 2. die
Zeit der quaestiones perpetuae; 3. von dem Untergange der
quaestiones perpetuae bis zum Tode Justinians. ?)
I. Wenngleich Rom in der Rechtsgeschichte der gesamten
1 Geib, Geschichte des römischen Kriminalprozesses bis zum Tode
Justinian's (Leipzig 1842), S. 5. — Im Übrigen vgl. S. 187f., 273, 328 ff.
und 612 ff. -
2 Auf die charakteristischen Unterscheidungsmerkmale der von Geib
auseinandergehaltenen Zeitabschnitte des náheren einzugehen ist hier nicht
der Ort. Eine derartige Erörterung käme zu sehr ausserhalb des Rahmens
unserer übrigen Ausführungen zu liegen. Nur soviel sei bemerkt: In der
Zeit vor den quaestiones perpetuae herrscht das akkusatorische Verfahren,
welches von einem Magistrat eingeleitet wird. In der Zeit der quaestiones
perpetuae gilt wohl auch das Anklageprinzip, jedoch Ankläger ist nicht
die Behörde allein, sondern jeder durch die Rechtsordnung nicht für untaug-
lich erklärte Bürger kann als Ankläger auftreten. Die Zeit nach dem
Untergange der quaestiones perpetuae ist durch das inquisitorische Prinzip
charakterisiert. Für die Bedeutung des Geständnisses ist diese G eib’sche
Dreiteilung nur mittelbar von Belang; dennoch haben auch wir sie beibe-
halten, da in jedem dieser drei Zeitabschnitte die rechtliche Bedeutung des
Geständnisses Wandlungen unterlegen ist.
E AT Es
Kulturwelt eine derartige Bedeutung hat, dass es, wie Ihering')
sagt, dreimal der Welt Gesetze gegeben hat, darf doch nicht
ausser Acht gelassen werden, dass das römische Recht ebenso
wie Rom selbst nicht an einem Tage erbaut worden ist. Die
Rechtsentwicklung schreitet nur langsam vorwärts und nicht
auf allen Rechtsgebieten in gleicher Weise. ?) Je weniger vor-
geschritten die Rechtsentwicklung einer Nation ist, desto
weniger hat bei ihr der Gedanke Raum, dass ein abgelegtes
Geständnis falsch sein könne. Als ein derartiges Volk erscheinen
uns auch die Römer.
Wenn ein Angeklagter geständig ist, ein ihm zur Last
gelegtes Verbrechen begangen zu haben, so ist das dem römi-
schen Richter ein vollkommener Schuldbeweis. Das Geständnis
genügt zur Verurteilung, ja es gibt keinen erdrückenderen Be-
weis der Schuld als das Geständnis des reus, eine ihm zur
Last gelegte Handlung wirklich vollbracht zu haben.
Der römische Bürger war frei; frei sollte auch sein Ge-
ständnis sein, wenn er sich als Angeklagter zu verantworten
hatte. Ihm gegenüber war, wie Wasserschleben?) nach-
gewiesen hat, jedwede Zwangsmaßregel verboten. Auch dem
Angeklagten gegenüber sollte der Wert der Persönlichkeit
voll und ganz respektiert werden. Nur war den Römer der
Begriff der Persönlichkeit ein viel engerer als der des Menschen.
Auch beim Geständnisse hatte das stolze Wort „civis Romanus
sum“ seine Geltung, welcher gegenüber das „homo sum“ völlig
zurücktreten musste. Der homo, der nicht civis war, hatte
keine Persönlichkeit; nur der Persönlichkeit, nicht der Menschen-
. würde trug der nüchterne Sinn der Römer Rechnung.
Dies zeigte sich deutlich beim Geständnis des Sklaven.
Während beim Freien auf ein freies Geständnis Gewicht ge-
legt wurde, ward das Geständnis des Sklaven mit der Folter
(eculejus) erzwungen. Die freie, nichterzwungene Aussage des
1) Ihering, Geist des röm. Rechts (Anfang).”
nv. Liszt, Lb. d. deutschen Straírechts, 10. Aufl. (Berlin 1900),
S. 57, weist auf die „sekundäre“, „komplementäre‘‘, „sanktionatäre‘‘ Natur
der Strafrechtssätze hin.
% Wasserschleben, Historia quaestionum per tormenta apud Romanos
(Berol. 1836), pag. 14.
2
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Sklaven war grundsätzlich unglaubwürdig, mochte sie Ge-
ständnis oder Zeugenaussage sein. Dieser ausnahmslose Grund-
satz ist m. E. nicht anders zu erklären als aus der rechtlichen
Stellung des Sklaven: man erkannte ihm im Rechtsleben der
ältesten Zeit keinen freien Willen zu. Nur der Wille seines
dominus war es, kraft dessen er auszusagen hatte. Nicht nur
gegen, sondern auch ohne diesen Herrenwillen war eine Aus-
sage des Sklaven rechtlich unmöglich.) Von Belang war
ferner der Umstand, ob das Verbrechen des Sklaven a) gegen
seinen Herren. einer dessen patria potestas unterstehenden
Person oder einen Sklaven ?) oder b) gegen eine dritte (phy-
sische oder Juristische) Person gerichtet war. Im Falle a) war
es der Heır. der ım Wege der Folter das Geständnis erzwang.
Nur der Herr war rechtlich befugt zur Aburteilung derartiger
Verbrechen; er war niemandem Rechenschaft schuldig über
die Art der Mittel, derer er sich zur Erlangung des Geständ-
nisses bedient hatte. Mit einer Strenge, die ruhig barbarische
Rücksichtslosigkeit genannt werden kann, wurde oft seitens
des Herrn von diesem Rechte Gebrauch gemacht. Hingegen
stand im Falle b) die Prozedur zur Erlangung eines Geständ-
nisses den ordentlichen Gerichten zu; die Folterung geschah
über Antrag des durch das Verbrechen Geschädigten unter
öffentlicher Autorität (wenn nicht nach Lage des Falles noxae
datio des schuldigen Sklaven erfolgte). 3)
II. Was die Beweiskraft des Geständnisses in der Zeit der
1) Daraus ergibt sich die weitere, vom altrömischen Standpunkte er-
klärliche, ja geradezu selbstverständliche Erscheinung, dass ein Sklave nur
zu Gunsten seines Herrn, jedoch niemals gegen ihn (in caput domini) ver-
nommen werden Konnte; vgl. Vargha, Verteidigung, S. 40.
2) Im Falle eines Verbrechens eines Sklaven gegen einen andern Sklaven
scheint es keinen Unterschied gemacht zu haben, ob letzterer im dominium
des Herrn des Täters oder eines fremden Herrn stand; die Vornahme der
Folterung dürfte auch in diesem Falle Sache des Herrn des Schuldigen gewesen
sein; vgl. Valerius Maximus, VIII. 4 1, Wasserschleben,]. c.,
pag. 16 und Geib a. a. O., S. 140, A. 109.
8) Ob schon in dieser Periode der verletzte Private, auf dessen Betrieben
die Folterung vorgenommen wurde, dem Herrn des fraglichen Sklaven im
Voraus für den etwaigen Schaden Kaution leisten musste, wie Geib a. a.
O., S. 139 annimmt, scheint zweifelhaft.
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— 19 —
quaestiones perpetuae betrifft, hat sich im Verháltnisse zu dem
über den vorangehenden Zeitabschnitten Gesagten so gut wie
gar nichts geändert. Dies gilt auch hinsichtlich der Mittel
zur Erlangung eines Geständnisses. Dass es Momente gibt,
die einen zur Ablegung eines falschen Geständnisses veranlassen,
dass selbst spontane Selbstanschuldigungen falsch sein können,
von alldem hatte der nüchterne, psychologischen Erwägungen
abholde Sinn der Römer keine Vorstellung. Aus dem Ge-
ständnis klang ihm die höchste Wahrheit heraus. „Confessio
conscientiae vox est“, sagt Seneca, controvers. VII. 3. Wo
ein Geständnis vorlag, durfte und musste jede Beweisvornahme
entfallen; sie wurde durch das Geständnis in dem Grade über-
flüssig, dass das Gericht sich nicht einmal in eine Prüfung des
Greständnisses einzulassen "brauchte, um zur Verurteilung des
Angeklagten schreiten zu können. !)
Ob angesichts eines Geständnisses überhaupt eine Ver-
teidigung von rechtswegen möglich war, darüber herrschte bei
den Römern Meinungsverschiedenheit. Manche Schriftsteller
schlossen sie aus und verlangten auf Grund eines Geständ-
nisses die sofortige Verurteilung. Andere hingegen liessen
eine Verteidigung zwar zu, jedoch war diese ganz eigenartig
gestaltet. Das Geständnis selbst konnte und durfte hinsicht-
lich seiner Glaubwürdigkeit keiner Kritik unterzogen werden,
sondern es war nur die deprecatio, d. i. der Antrag auf Frei-
sprechung des geständigen Angeklagten mit Rücksicht auf
seine persönlichen Verhältnisse, Verdienste, seine Gesinnung
usw. zulässig.?) Insbesondere wurde demjenigen. der seine
Mitschuldigen angab, Straflosigkeit zugesichert.
1) Vgl. die bei Geib a. a. O., S. 329, A..250 Zitierten.
2 Cicero de iuvent. I. 11 definiert die deprecatio folgendermaßen:
„Deprecatio est, cum et peccasse et consulto peccasse reus se confitetur, et
tamen, ut ignoscatur, postulat“. Die Form der deprecatio deutet Auctor
ad Herminum (I. 14) an mit den Worten: Deprecatio est, cum et pecasse
se et consulto fecisse reus confitetur, et tamen postulat, ut sui misereantur“.
Tatsache ist es, dass die deprecatio nur im Falle eines Geständnisses ange-
wendet werden durfte; ob, wie Cicero meint, nur ausnahmsweise oder ob
gar nur bei den Senats- und Komitialgerichten, wie dies Quintilian an-
nimmt, kommt für das Wesen des Geständnisses nicht weiter in Betracht,
weshalb an dieser Stelle ein Hinweis auf die diesbezüglichen Ausführungen
von Geiba. a. O., S. 280 genügen möge.
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In prozessualer Hinsicht ist nur insofern ein Fortschritt
zu verzeichnen, dass über die durch Folterung erlangten Ge-
ständnisse von Sklaven formelle Protokolle aufgenommen
wurden, welche im Falle einer nichtöffentlichen Folterung
durch obsignatores bekräftigt und unterschrieben wurden. !)
Schliesslich ist zu erwähnen, dass für diese Zeit die An-
fänge jenes Grundsatzes sich nachweisen lassen, der in der
Folge als S. C. Silanianum seinen gesetzlichen Ausbau erhalten
hat. Im Falle der Tötung eines dominus hat man seine sämt-
lichen Sklaven der Folterung unterzogen, um auf diese Weise
ihre Angaben zu gewinnen, die nach Lage des Falles entweder
Geständnis (Schuld, bezw. Mitschuld am Tode des Herrn) oder
Zeugenaussage (Angabe des dem Gefolterten etwa bekannten
Täters) waren.
III. Die rechtliche Bedeutung, welche dem Geständnis in
den zwei ersten Perioden des römischen Kriminalprozesses zu-
kam, blieb auch im Anfange der Kaiserzeit dieselbe Aus-
drücklich sagte l. 1 D. de confessis 42, 2: Confessus pro ju-
dicato est, qui quodammodo sua sententia damnatur. Dieser
Rechtssatz war, wenigstens hinsichtlich der delicta privata, so
festgewurzelt, dass man selbst dem unzweifelhaft falschen Ge-
ständnis Beweiskraft beilegte. Deutlich geht dies herver aus
l. 4 D. de confessis 42, 2: Si is, cum quo lege Aquilia agitur,
confessus est, servum occidisse, licet non occiderit, si tamen
occisus sit homo, ex confesso tenetur. Also auch noch in der
Kaiserzeit begegnen wir der Anschauung, ein Geständnis sei
bedingungslos und ohne Notwendigkeit, ja ohne Erlaubtheit
seiner Prüfung pro veritate hinzunehmen.
In diesem Zustande traten jedoch wesentliche Änderungen
ein; wann, ist den Quellen nicht klipp und klar zu entnehmen.
Soviel steht fest, zur Zeit der grossen Juristen, deren Namen
mit ‘der Kodifikationsgeschichte des römischen Rechts aufs
engste verknüpft sind, waren diese Änderungen bereits ein-
getreten.) Es wurde nunmehr geprüft, ob das Geständnis
in concreto glaubwürdig erscheine, d. h. ob es mit den anderen
1) Vgl. Cicero pro Cluent, c. 65, 66 und Geib a. a. O., S. 331.
2) Vgl. Tit. II. De confessis im 42. Buch der Digesten und Geib
a. a. O., S. 612, A. 284.
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im einzelnen Falle vorliegenden Beweismitteln übereinstimme,
bez. in ihnen und durch sie eine Unterstützung finde, oder
nicht. Stimmte das Geständnis mit den übrigen Beweismitteln
nicht überein, fand es in ihnen keine Unterstützung oder wurde
es durch sie geradezu widerlegt, so gab es keine Basis ab,
auf welcher man ein Schuldurteil aufbauen konnte; 1. 8, D.
de confessis 42, 2: non omnimodo confessus condemnari debet
rei nomine, quae an in rerum natura esset, incertum sit. Wurde
jedoch ein Geständnis für glaubwürdig befunden, so machte es
vollkommenen Beweis.
Auch hinsichtlich der Art und Weise der Erlangung eines
Geständnisses war nicht Alles beim Alten geblieben. In dieser
Hinsicht ist vor allem hervorzuheben, dass im Gegensatze zu
den früheren Perioden nicht lediglich in jure, sondern auch in
judicio und gerade vorwiegend in judicio, also im Hauptver-
fahren, förmliche Verhóre mit dem Angeklagten stattgefunden
haben; und diese Verhöre mussten vom Richter vorgenommen
werden, nicht, wie bisher, vom Ankläger. Ist uns über den
Vorgang bei diesen Verhóren auch nichts Näheres bekannt,
so darf doch mit Rücksicht auf die immer weitere Verbreitung
der Inquisitionsmaxime mit Geib angenommen werden, dass
das Bestreben des Richters auf Erlangung eines Geständnisses
gerichtet war. Nicht einmal das steht fest, ob die Stellung
von Suggestivfragen gestattet war oder nicht.
Die Mittel, derer man sich zwecks Erlangung eines Ge-
ständnisses bedienen durfte, waren zu Beginn der Kaiserzeit
die bisherigen, d. h. die Folter durfte nur gegen Sklaven, je-
doch nicht gegen Freie angewendet werden. Hingegen ergibt
sich aus Tacitus, Suetonius u. a., dass die Praxis in scharfem
Widerspruch zu dieser Norm stand, die Folter vielmehr ohne
Ansehung der Person des Angeklagten, ohne Rücksicht auf
das ihm zur Last gelegte Delikt und mit Hintansetzung der
(gleich zu erwähnenden) Bedingungen, unter welchen das Ge-
setz die Folterung zuliess, in Anwendung gebracht wurde.
Erst in der späteren Kaiserzeit hörten diese Willkürlichkeiten,
wenigstens für die Regel, auf.
Der Persönenkreis, dem gegenüber der Gebrauch der Folter
zur Erlangung eines Geständnisses gestattet war, hatte gleich-
33, cs
falls einige Änderungen erfahren. Die wesentlichste war wohl
— in Bezug auf Sklaven -— diejenige, dass bei Delikten von
Sklaven — ausgenommen selbstverständlich die Delikte am
eigenen dominus — nur seitens des Gerichtes die Folter zur
Erlangung eines Geständnisses gebraucht werden durfte, und
zwar nachdem entweder der Herr des Sklaven seine Einwilligung
hierzu erteilt hatte oder seitens des Anklägers eine Kaution
geleistet worden war.
Eine Singularitát ward geschaffen durch das S. C. Sila-
nianum. Es wurden nicht mehr, wie in der früheren Periode,
alle Sklaven des Ermordeten zwecks Erlangung eines Ge-
ständnisses gefoltert, sondern lediglich diejenigen, welche tem-
pore criminis facti in der Nähe des Tatortes gewesen zu sein
verdächtig schienen; nur beschränkte man sich in dieser Hın-
sicht nicht auf die betreffenden Sklaven des Ermordeten , son-
dern unterzog dieser Prozedur auch die Sklaven seiner Ehefrau,
bez. im Falle der Ermordung der Ehefrau auch die Sklaven
ihres überlebenden Ehegatten. !)
Bedeutsam war die Neuerung, dass nunmehr auch Freie
gefoltert werden konnten. Die Härte dieser Maßregel ver-
kannten die Römer allerdings keineswegs und liessen sie daher
zunächst nur bei jenen Delikten zu, welche ihnen als die
schwersten erschienen; das waren die Delikte, durch welche
der Bestand des Staates gefährdet und Leben oder Gesund-
heit des Staatsoberhauptes bedroht waren (crimen laesae maje-
statis). Diese Deliktsreihe ward in der Folge erweitert. Dem
crimen laesae majestatis wurde das crimen magiae gleichge-
stellt; bei diesen Delikten wurde der Angeklagte ausnahmslos
auf der Folter verhört. Bei anderen Delikten?) konnten Sena-
toren und höhere Beamte sowie deren standesmäßigen Deszen-
1) Geib, a. a. 0., S. 619, Dernburg, Pandekten III, 5. Aufl. (1897),
S. 109, A. 3; hingegen dürfte Geib nicht zuzustimmen sein, wenn er die
Folterung nur beim gewaltsamen Mord, nicht hingegen beim Giftmord für
zulässig erklärt. Dass die Quellen nur vom eigentlichen gewaltsamen Mord
sprechen, stützt seine Ansicht nicht. Bei Giftmord war Folterung sogar
gegen Freie, also allgemein zulässig. Und die Sklaven günstiger zu stellen
als die Freien, lag gewiss nicht in der Absicht der Römer.
2) Als solche führt G eib a. a. O., S. 617 an: einige Dienstvergehen,
Giftmord, Falsum, Magie und seit den Novellen auch Ehebruch.
denten bis zum dritten Grade nicht gefoltert werden. Neben
diesen relativen Ausschliessungsgriinden kannte das rómische
Recht jedoch auch absolute, d. h. Griinde, bei deren Vorhanden-
sein die Folter unter keinen Umstánden in Gebrauch kommen
durfte; Unmiindige, Wahnsinnige, Schwangere und unter ge-
wissen Voraussetzungen auch Blinde, Taube und Stumme
durften nicht gefoltert werden.
Während aber die Folterung der Sklaven lange Zeit als
das einzige und ausschliessliche Mittel zur Erlangung eines
giltigen Geständnisses war, konnte sie Freien gegenüber stets
nur als subsidiäres Beweismittel angewandt werden. Und
diese Subsidiarität war doppelter Natur. Fürs erste konnte
nämlich nur dann die Folter in Betracht gezogen werden,
wenn alle anderen Beweismittel zur Klarlegung der Schuld
des Angeklagten versagten; nur dann, wie gesagt, konnte an
die Folter von Rechtswegen überhaupt gedacht werden. Ge-
braucht werden jedoch durfte sie nur dann, wenn aus Indizien
und Umständen der Schein für die Richtigkeit der Anklage
sprach.
Die Vornahme der Folter stand ausschliesslich dem Ge-
richte zu. Das Gericht hatte auch über Art. Maß und Dauer,
sowie eine etwaige Wiederholung der Folterung zu entscheiden.
Der Folterakt ging nicht während, sondern vor der Verhand-
lung vor sich, u. zw. nicht an der Stätte des Gerichts, sondern
an einem ad hoc bestimmten Platze, stets jedoch in Gegen-
wart des Gerichtes, so dass von der förmlichen Protokollierung
des Folteraktes, wie dies zur Zeit der quaestiones perpetuae
der Fall war, nunmehr meistens Abstand genommen werden
konnte.
Von der Frage nach der Bedeutung des Geständnisses
muss die nach seiner Notwendigkeit scharf getrennt werden.
Während es sich bei ersterer Frage darum handelte, wie ein
abgelegtes Geständnis zu behandeln sei, kommt bei letzterer
das Moment in Betracht, ob ein Geständnis notwendig sei, um
den Angeklagten verurteilen zu können, m. a. W. ob die Ab-
legung eines Geständnisses conditio sine qua non eines Schuld-
spruchs sei. Aus den vorstehenden Erörterungen geht zur
Genüge hervor, welches Gewicht die Römer auf das Geständnis
— 24 —
legten, wie sehr es ihnen um das Geständnis des Angeklagten
zu tun war. Aber anderseits ist daraus, dass die Anwendung
der Folter zur Erlangung eines Schuldbekenntnisses lediglich
subsidiär und selbst da nur unter gewissen (beschränkenden)
Voraussetzungen statthaft war, deutlich zu erkennen, dass ein
Geständnis des Angeklagten zu seiner Verurteilung rechtlich
nicht erforderlich war. !)
Geständniswiderruf war möglich bei den sog. Gesinnungs-
verbrechen, bei welchen das abgelegte Geständnis, wie
Mommsen betont, die weitere Verhandlung gegenstandslos
machte, so dass auf Grund des Geständnisses allein das Urteil
gefällt werden konnte. In diesen Fällen war dem geständigen
Angeklagten unter Umständen ein dreissigtägiges tempus deli-
berandi zur Zuriicknahme seines Geständnisses eingeräumt. ?) —
Wenn wir die Bedeutung des Geständnisses im altrömischen
Kriminalverfahren überblicken, gelangen wir zu dem Ergeb-
nisse, dass das Geständnis den Römern nicht nur das hervor-
ragendste Beweismittel war, sondern sogar ein Beweismittel,
dem gegenüber lange Zeit hindurch jeder Gegenbeweis einfach
unzulässig war. In eine richtige Psychologie des Geständnisses
sind die Römer eben niemals eingedrungen. Die Prüfung der
Glaubwürdigkeit des Geständnisses hatte für sie nur die Be-
deutung, dass man bei unglaubwürdigem Geständnis Umschau
nach anderen Beweismitteln hielt. Ob diese Umschau einen
Erfolg hatte oder erfolglos blieb, war von lediglich unterge-
ordneter Bedeutung angesichts der Bestimmung, dass auch das
offensichtlich wahrheitswidrige Geständnis in der Regel die
Verurteilung nach sich zu ziehen hatte. Bemerkenswert bleibt
die Tatsache, dass in der späteren Zeit bei gewissen Delikten
mit der Folter auch von Freien Geständnisse erzwungen werden
1) Von dieser Regel will Mommsen, Römisches Strafrecht (Leipzig
1899), S. 437 für einen Fall eine Ausnahme machen: „nur bei den Ver-
brechen des Nächstenmordes soll nicht anders als nach abgelegtem Ge-
ständnis verurteilt werden.‘ Doch stützt Mommsen seine Ansicht ledig-
lich auf Suetonius Ang. 33; das corpus juris civilis enthält keine Stelle,
welche die Richtigkeit dieser Annahme mit zwingender Notwendigkeit er-
geben würde.
2) Mommsen, a. a. 0., S. 438.
— 25 —
mussten. Vielleicht ist der Grund dieser Maßregel in der
Skepsis zu suchen, die die Römer gegen ein freiwillig abge- .
legtes Geständnis hatten und die soweit ging, dass Quinti-
lianus (Declam. 314) sagte: „Ea natura est, alius ebrietate,
alius errore, alius dolore, quidam quaestione. -Nemo contra
se dicit nisi aliquo cogente“. Diese Auffassung ist um
so merkwürdiger, als bei den Juden, die auf das materielle
Strafrecht der Römer einen so grossen Einfluss ausgeübt haben,
das Geständnis an sich keinen Beweis bildete und nur, insofern
es seinem Inhalte nach durch mindestens zwei Zeugen Bestä-
tigung fand, auf Glauben rechnen konnte. !)
Ein psychologischer Gedanke war freilich auch den Römern
nicht fremd, ein Gedanke, der sich bis heute erhalten hat,
wenn auch in seiner Richtigkeit nicht unbezweifelt, ‘der Ge-
danke nämlich, dass derjenige, der nichts verbrochen hat, es
nicht notwendig habe, sich dem ihn etwa dennoch bevor-
stehenden Verfahren zu entziehen oder das Verfahren irgend-
wie auf unerlaubte Weise zu beeinflussen. Tut er trotzdem
etwas derartiges, so spricht das für seine Schuld, m. a. W. in
seiner diesbezüglichen Handlungsweise liege ein Geständnis
seiner Schuld. Nur war nach römischer Rechtsanschauung
nicht jede Strafe ein so grosses Übel, dass die vorerwähnte
Annahme am Platze gewesen wäre. Sie war vielmehr auf die-
jenigen Delikte beschränkt, welche mit dem Tode oder der
Verbannung zu bestrafen waren. War jemand wegen eines
derartigen Deliktes in Anklagestand versetzt und nahm er
sich das Leben, so wurde er einem Geständigen ebenso gleich
geachtet wie derjenige, der angesichts einer gegen ihn schwe-
benden Kapitalanklage einen Bestechungsversuch an seinem
Ankläger unternommen hatte. Mommsen?) bezeichnet diese
Fälle als „impliziertes Geständnis“ und für implicite geständig
sieht er auch den anlässlich der Begehung eines mit dem Tode
oder mit der Deportation bedrohten Verbrechens auf frischer
Tat Ergriffenen an, ohne dass sich freilich aus seiner Dar-
stellung ein Anhaltspunkt dafür ergeben würde, warum andere
1) Vargha, Verteidigung S. 11 und die hier in N. 19 Zitierten.
» Mommsen, a. a. O., S. 438; vgl. auch Anm. 6—8 und S. 439,
Ann. 1.
a OE
auf frischer Tat Ertappte nicht auch als geständig gegolten
haben sollten.
B. Älteres deutsches Recht.
Wenn wir von den Trümmern des römischen Reiches
unsern Blick jenem Volke zuwenden, welches das Erbe der
Römer in der Weltgeschichte anzutreten berufen war, so sind
es die Germanen, mit deren Recht wir uns nun zu befassen haben.
In der ältesten Zeit, da die Blutrache eine Pflicht der
Sippe war, konnte von einem Strafverfahren überhaupt nicht
die Rede sein, weshalb ein Geständnis für diese Zeit (wenn es
überhaupt vorgekommen ist) ganz irrelevant war. Denn es
herrschte das Recht der Fehde als die einzige Form des —
wenn man so sagen darf — Strafverfahrens; dem Angegriffenen
oblag es, sich zu wehren. Die Fehde kannte keine prozessualen
Formen und Stadien; ihr Kampf war ein Waffenstreit, bel
welchem es nicht weiter darauf ankam, ob der Angriff objektiv
gerechtfertigt war oder nicht.
Erst seit der Zeit Karls des Grossen finden sich Statute,
welche die Fehde wesentlich einzuschränken trachten, haupt-
sächlich durch die Bestimmung, dass der Rächer zur Annahme
der ihm angebotenen Komposition verpflichtet sei. Daneben
entwickelte sich eine Art schiedsrichterlichen Verfahrens, vor
welchem sich nunmehr auch die Gelegenheit zur Ablegung
eines Geständnisses ergab. So steht dieses Verfahren ungefähr
an der Grenze der Zeit der Blutrache und der der Anfänge
eines geordneten Strafprozesses; es vermittelt gewissermaßen
den Übergang von jener zu dieser.
Die Stellung, die dem Geständnisse im germanischen Straf-
verfahren zukam, ist nur aus einem Grundzuge des germanischen
Volkscharakters zu erklären. Jede Verdächtigung, insbesondere
diejenige, welche in der Erhebung einer Anklage zum Aus-
druck gelangte, ward als ein empfindlicher Angriff auf die
Ehre empfunden, gegen den der Angegriffene sich zu wehren
hatte. Demgemäß oblag nicht dem Ankläger der Beschul-
digungsnachweis, sondern der Angeklagte musste seine Unschuld
beweisen.
Eine derartige Auffassung war allerdings nur bei einem
Volke, wie es die alten Germanen waren, móglich, denen die
Wahrheitsliebe über alles ging, bei denen die dem freien
Mannesworte entgegengebrachte Achtung und Glaubwürdigkeit
auch durch eine Anklage keine Erschütterung zu erleiden ver-
mochten. Gegen die Anklage hatte sich der Germane zu ver-
teidigen; von ihr musste er sich reinigen. Misslang ihm dies,
so war er verurteilt. Zu einer Verurteilung bedurfte es am
allerwenigsteu eines ausdrücklichen Geständnisses. —
Der germanische Prozess kennt lediglich den Grundsatz
formeller Wahrheit; ein Streben nach materieller Wahrheit ist
ihm fremd. Ihm ist es darum zu tun, ob die Ankláger oder
die den Sachverhalt der Anklage in Abrede stellenden Ange-
klagten mehr Glaubwürdigkeit verdienen. Diese dem Mannes-
worte entgegengebrachte Glaubwürdigkeit bildete die Grund-
lage des altgermanischen Strafprozesses (oder vielmehr —
wenn wir genau sein wollen — des gerichtlichen Verfahrens
überhaupt, da die Scheidung in Zivil- und Strafverfahren erst
einer späteren Zeit angehört), in welchem sich oft die Behaup-
tungen des Anklägers und des Angeklagten begreiflicherweise
gegenüberstanden. Die Tätigkeit des Gerichtes bestand demnach
in einer sorgfältigen Erwägung der für das Urteil grundlegenden
Frage, wer von beiden Teilen dem Beweise, d. i. der richter-
lichen Überzeugung von der Wahrheit seiner Behauptungen,
näher gekommen war und ihn daher zu liefern hatte.
Dieser Beweis konnte sogleich erbracht werden, es konnte
aber auch dem Gegner der Gegenbeweis auferlegt werden;
ebenso konnte der Beweis durch Gegenbeweis angefochten
werden.
Vom Standpunkte des Geständnisses kommt für uns nur
die Person des Angeklagten in Betracht. Für die Erhärtung
ihrer Behauptung gab es nun drei Wege; diese waren:
A) der Eıd des Beschuldigten;
B) der Eid der Genossen und
C) das Gottesurteil.
Der Eid der Genossen scheidet für die Zwecke unserer
Darstellung aus; denn das war eine Art Zeugenbeweis, ein
Beweis freilich nicht durch Zeugen der Tat oder ihrer Neben-
umstände, sondern Glaubwürdigkeitszeugen.
— 2g —
Für den Werdegang des Geständnisses kommen nur die
beiden anderen Beweismittel in Betracht, das Gottesurteil und
der Beschuldigteneid.
Ein Geständnis im heutigen Sinne des Wortes widersprach
der germanischen Anschauung; um seine Erlangung bemühten
sich auch niemals die Gerichte; denn — wie es im Sprichwort
hiess — „es ist schwer zu glauben, dass jemand sein eigenes
Heil verrät“.
Wenn wir aber den Begriff des Geständnisses etwas abstrakt
fassen und als Geständnis jede Betätigung, jedes Verhalten des
Beschuldigten, wodurch er seine Schuld einräumt, ansehen,
also davon, ob der Erfolg dieser Betätigung, bez. dieses Ver-
haltens vom Willen des Beschuldigten abhängt, so Abstand
nehmen, wie es das ältere germanische Recht getan hat, werden
wir uns der Erwägung nicht verschliessen können, dass das-
jenige Gottesurteil, das den Beschuldigten, der sich ihm unter-
zog, im Stiche liess, ein Geständnis bedeutete.
Für derartige Geständnisse hat unsere Zeit nur ein mit-
leidiges Lächeln. Der ethische Gedanke, der darin lag, dass
beim Ausgang des Gottesurteils die Gottheit den Ausschlag
gebe, findet ja seine Anerkennung. Dass jedoch beispielsweise
bei der Wasserprobe der Schwimmer besser daran war als der
Nichtschwimmer, ist ebenso klar wie der Umstand, dass die
Schwimmkunst kein Schuldausschliessungsgrund ist.
Was den Reinigungseid anlangt, ist er an sich gewiss
kein Geständnis; denn er belastete den Beschuldigten nicht,
sondern sollte ja das Mittel zu seiner Entlastung sein. Hin-
gegen war die Weigerung, einen Reinigungseid abzulegen, ein
Schuldbekenntnis, freilich eines, das wir heutzutage nur als
ein mit grosser Vorsicht aufzunehmendes indirektes Geständnis
ansehen würden. Aber anders nach altgermanischem Recht,
in welchem infolge des formellen Rechtsprinzips der Aussage
des Beschuldigten eine ganz andere Bedeutung zukam als im
späteren und auch im heutigen Rechte.
Dieser Grundsatz prinzipieller Bedeutung des Reinigungs-
eides des Beschuldigten galt nicht unbedingt. Es stand ihm
nämlich der Weg zum Reinigungseide dann nicht offen, wenn
handhafte Tat vorlag, d. h. wenn der Verbrecher auf frischer
— 29 —
Tat ertappt oder unmittelbar nach begangener Tat auf der
Flucht festgenommen wurde; er galt ferner nicht bei moltiger
Hand und bei blickenden Schein, d. h. wenn der Beschuldigte
mit Spuren, welche vom Verbrechen herrührten, ergriffen
worden war, und schliesslich war ein Reinigungseid nicht nur
überflüssig, sondern rechtlich unmöglich bei gichtigem Munde,
d. i. im Falle eines ausdrücklichen Gestándnisses des Täters');
dies die wichtigsten, wenn auch keineswegs einzigen?) Fälle,
in denen es keinen Reinigungseid gab.
Der Reinigungseid war nur bei einem Volke möglich,
dessen Wesens Grundzüge Wahrheit und Rechtsgefühl waren
und dem die unter Anrufung der Gottheit gewissermaßen poten-
zierte Wahrheitsbeteuerung nebst der Vaterlandsliebe als das
heiligste auf Erden galt. Bei solch einem Volke war die Tat-
sache, dass jemand eines Verbrechens verdächtigt ward, nicht
maßgebend, seine Vertrauenswürdigkeit zu erschiittern. Hier
galt der Eid als das Mittel zur Tilgung des Verdachtes.
Wurde der Eid geleistet, ging der Schwörende frei von Schuld
und Fehle aus dem wider ihn schwebenden Strafverfahren
hervor; andernfalls jedoch wurde in der Verweigerung des
Reinigungseides ein Bekenntnis der Schuld, ein (fingiertes) Ge-
ständnis erblickt, welches geeignet war, die Behauptung des
Anklägers zu bekräftigen, ja sogar ihrem vollen Inhalte nach
zu bestätigen.
Das (direkte) Geständnis war somit von lediglich sub-
sidiärer Bedeutung; kam es vor, so genügte es nicht immer
zur Verurteilung. Vielmehr war in den meisten Gegenden
ausserdem die Übersiebnung des Beschuldigten durch den An-
kläger notwendig. Das Postulat der sechs Eideshelfer wurde
im späteren Rechte des Mittelalters gemildert, indem man sich
mit 3, ja sogar 2 begnügte. War der Ankláger nicht in der
Lage, die entsprechende Anzahl von Eideshelfern aufzubringen,
konnte es geschehen, dass ein Schuldiger trotz seines Geständ-
nisses straflos ausging.
Diese Grundsätze des altgermanischen Rechtes erhielten
1) Klenze, Lehrbuch des Strafverfahrens (Berlin 1836) S. 77.
% Vargha, a. a. O., S. 96,
— 30 —
sich ungemein lange in deutschen Landen und fanden auch
ihren Übergang in das spätere Recht.
Eine Einschränkung fanden sie nur im Verfahren vor den
Vehmgerichten, welche seit dem 13. Jahrhundert auf West-
phalens roter Erde tagten. Das Verfahren vor ihnen war ver-
schieden, je nachdem es sich um handhafte Tat handelte oder
nicht. Nur hat im vehmgerichtlichen Verfahren der Begriff
der handhaften Tat insofern eine Erweiterung erfahren, als
handhafte Tat stets angenommen wurde, wenn es eines weiteren
Beweises nicht bedurfte. Wenn in einem solchen Falle min-
destens drei Freischöffen einen betraten, konnten sie ihn so-
fort auf den nächsten Baum aufknüpfen. Zur handhaften Tat
wurde demnach auch „gichtiger Mund“ gerechnet, so dass wir
sagen können, dass bei den Vehmgerichten ein Geständnis
nicht nur Beweiserhebungen, sondern überhaupt jegliches Straf-
verfahren überflüssig machte und sofortiger Strafvollzug mög-
lich, ja geboten war.
Bei nichthandhafter Tat hingegen wurde unterschieden, ob
der Beschuldigte ein Freischöffe (Wissender, Vehmrichter) war
oder nicht. Nur im ersteren Falle gab es für ihn ein Los-
schwören, welches jedoch in der späteren Zeit nur dann ex-
kulpierende Wirkung hatte, wenn nicht der Angeklagte vom
Ankläger „überschworen“ wurde, wozu letzterer zweier Eides-
helfer bedurfte. Dagegen stand dem Angeklagten ein Gegen-
eıd mit sechs Eideshelfern frei, gegen welche der Ankläger
vierzehn Eide aufbieten durfte, welche der Angeklagte mit
einem 21fachen Eid übertrumpfen konnte. Versagte bei dieser
Prozedur der Angeklagte, etwa weil es ihm an der Gelegen-
heit zur Auftreibung der notwendigen Zahl von Eideshelfern
gebrach, so war sein Schicksal besiegelt, da Geständnis ange-
nommen wurde. Im letzteren Fall hingegen (Beschuldigung
gegen einen Nicht-Wissenden) gab es keinen Reinigungseid
des Beschuldigten allein; wohl aber bestand die Möglichkeit,
sich mit (mindestens) zwei Eideshelfern, als welche jedoch nur
Freischöffen in Betracht kommen konnten, von der erhobenen
Beschuldigung loszuschwören, wenn nicht ein Geständnis an-
genommen werden sollte.
Gegen Ausgang des Mittelalters erfuhr das strafprozessuale
La O e
Geständnisrecht insofern Veränderungen, als in einzelnen
Gegenden allmählich dem Geständnis volle Beweiskraft zukam.
Es war dies eine Folge des sich immer mehr in deutschen
Landen bahnbrechenden Inquisitionsprinzips. Dieser Schritt
vollzog sich in einigen Territorien in der Weise, dass der Ge-
richtsgebrauch diesbezügliche Abänderungen des geltenden
Rechtes vornahm, während in anderen Gegenden dies durch
Erteilung kaiserlicher Privilegien erfolgte. *)
Bis hierher haben wir es mit reinem deutschen Rechte zu
tun gehabt. Vom psychologischen Standpunkte aus bedeutsam
ist wohl die Tatsache, dass es in deutschen Landen — im
Gegensatz zum alten Rom — einen Geständniszwang nicht
gab. Die Folter hatte bis dahin keinen Eingang nach Deutsch-
land gefunden. An Zwangsausübung dachte man nicht, da
man in der Achtung vor dem freien Worte des freien Mannes
die beste Gewähr für die Wahrheit erblickte. Wohl aber gab
es einen indirekten Geständniszwang in der Verpflichtung zum
Reinigungseide. Allein für die Pression, welche in diesem
Zwange lag, hatte man kein Verständnis. Wohl gab es Ge-
ständnisse, die zum Schuldbeweise nicht ausreichten; allein
der Grund war ein rein formaler und konnte nur im Mangel
der erforderlichen Anzahl von Eideshelfern gelegen sein. Dass
jedoch Gemütszustände die Ablegung eines falschen Geständ-
nisses bewirken konnten, derartige Erwägungen kannte man
nicht. Der Formalismus, in dessen Zeichen die gesamte
Rechtspflege stand, verhinderte jedwede Rücksichtnahme auf
die heute in ihrer Wichtigkeit erkannten Frage der Zurech-
nungsfáhigkeit. Bis zu welchem Grade man sich in dieser
Hinsicht im Unklaren befand, zeigen die sog. Tierprozesse 2),
in welchen Tiere, die einen Schaden an Sachen, eine Körper-
verletzung usw. zugefügt hatten, so vor dem Richter gestellt
wurden wie Menschen; bei der geringen wissenschaftlichen
Bearbeitung, welche die kulturgeschichtlich so interessante
Erscheinung der Tierprozesse gefunden hat, ist es schwer zu
H Vgl. darüber Vargha, a. a. O., S. 128.
2% v. Amira, Tierstrafen und Tierprozesse (Innsbruck 1891); Separat-
abdruck aus den Mitteilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung,
XII. Band, 4. Heft, Seite 545—601.
— 32 —
sagen, ob auch für den (deutschen) Tierprozess Geständnisse
angenommen wurden. Erwähnt sei, dass der Tierprozess keine
spezifisch germanisch-rechtliche Institution war, dass er viel-
mehr auch in Frankreich und in Osteuropa vorkam und sich sehr
lange erhielt. Für den russischen Tierprozess hat die neuere
Forschung festgestellt, dass tatsächlich in verschiedenartigen
Äusserungen der tierischen Stimme ein Geständnis erblickt
wurde, auf Grund dessen die Verurteilung des angeklagten
Tieres erfolgen konnte.!) Sind für Deutschland derartige Be-
weise bis zur Stunde auch nicht erbracht, so kann doch mit
Rücksicht auf die fast überall gleichartige Entwicklung
und Gestaltung des Tierprozesses eine ähnliche Erscheinung
für Deutschland immerhin nicht von der Hand gewiesen werden.
Aber selbst wenn sich diese Annahme als trügerisch heraus-
stellen sollte, bleibt die blosse Tatsache, dass auch dem lieben
Vieh Strafprozesse gemacht wurden, für die Unkenntnis,
mit welcher man zu jener Zeit dem Zurechnungsfähigkeits-
begriffe gegenüberstand, ungemein bezeichnend. Dass unter
solchen Umständen in eine meritorische Prüfung der Geständ-
nisse nicht eingegangen wurde, ist damit zur Genüge ein-
leuchtend.
Auf die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland, ins-
besondere auch, was das Geständnis in Strafsachen anlangt,
war das kanonische Recht von weitgehendem Einfluss; seinen
für unsere Materie maßgebenden Bestimmungen werden wir
uns daher im Folgenden zunächst zu widmen haben.
C. Kanonisches Recht.
Ganz anders als im römischen Kriminalprozesse wurde das
Geständnis in Strafsachen nach kanonischem Rechte behandelt.
Die katholische Kirche hat es verstanden, in ihrem Strafpro-
1) Goldenweiser, Zurechnung und strafrechtliche Verantwort-
lichkeit in positiver Beleuchtung (Berlin 1903), S. 38; seine Quelle ist, wie
er mir in dankenswerter Weise mitteilte, Kantorowicz, Prozesse gegen
Tiere im Mittelalter (Petersburg, obne Jahreszahl; jurist. Bibliothek), wo
es — S. 10 — nach der mir von einem Wiener Russen mitgeteilten Über-
setzung heisst: „da sie (die Tiere) sich ineiner allgemein verständlichen Sprache
nicht verteidigen konnten, wurden die jeweiligen Laute, die sie von sich
gaben, als Bekenntnis der Schuld oder als Verteidigung gedeutet.«
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zesse stets dem Rechte wie der Moral Rechnung zu tragen
und so eine gewisse Verbindung zwischen dem forum externum
und dem forum internum aufrecht zu erhalten. Demgemäß
wurde in jedem Delikt nicht nur ein Verstoss gegen das Recht,
sondern auch einer gegen die christliche Moral erblickt und
als Konsequenz dieses Gedankens begegnet uns das Bestreben
der kirchlichen Gerichte, nicht nur das Verbrechen, sondern
auch die Sünde zu verfolgen. Der kanonische Strafprozess
verfolgte demnach nicht nur den Verstoss gegen die Rechts-
ordnung, sondern auch die Schuld vom ethischen Standpunkte
aus; die Strafen der kanonischen Gerichte entspringen nicht
nur dem Gedanken der Genugtuung, sie wollen vielmehr auch
die Besserung des Sünders herbeiführen oder wenigstens an-
bahnen, und deshalb begnügten sich die kanonischen Gerichte
nicht mit der sog. formellen Wahrheit, sondern strebten nach
Tunlichkeit materielle Wahrheit an. Nicht das strictum jus
beherrschte die kanonische Praxis ausschliesslich; auch der
aequitas, dem Billigkeitsgedanken, war ein weitgehender Ein-
fluss gewahrt. Das Recht sollte sich mit dem Gedanken christ-
licher Humanität vereinigen und der reumütige Sünder milder
behandelt werden als der verstockte Missetáter. Darum war
es der kirchlichen Strafrechtspflege stets um die Erlangung
eines Gestándnisses zu tun. Aber das Geständnis, das die
Kirche anstrebte, sollte keine Erklärung zwecks Ausserstreit-
stellung einer anklägerischen Behauptung, sondern ein Zeichen
aufrichtiger Reue/sein. Daher kam” für die Kirche nur das
freiwillig abgelegte, wahrhaft reumütige Geständnis als
Milderungsumstand in Betracht.!
Diesem Gedanken !gemäß fungierten denn auch die kirch-
lichen Oberen in der älteren Zeit, in welcher auch die Kirche
dem Akkusationsprinzip huldigte, lediglich als Moralgerichte.
Die einzige Strafe, die sie verhängten, war die Kirchenbusse.
Bussfertigkeit des Sünders war die conditio sine qua non der
Handhabung des kirchlichen Strafrechts. Es konnte daher im
Falle einer denuntiatio nur dann, wenn der Denunzierte ge-
ständig war, gegen ihn die Kirchenbusse verhängt werden.
War dies nicht der Fall, verzichtete die Kirche auf jegliches
weitere Verfahren.
3
— 34 —
Als in der Folge, vor allem seit Papst Innozenz Ill., der
Begriff des notorischen Delikts, des delictum manifestum, von
der Kirche angenommen wurde, änderte die kirchliche Straf-
gerichtsbarkeit ihren Standpunkt insofern, als sie die Ansicht
vertrat, dass die Notorietät jegliches Beweisverfahren überflüssig
mache. Lagen die Dinge so, dass der kirchliche Richter zu
der Überzeugung gelangte, das Behauptete müsse von der
als Täter bezeichneten Person begangen sein, so genügte diese
Erwägung, um gegen die betreffende Person mit Verurteilung
vorgehen zu können. „Notorium non eget probatione“ (C. 16.
X. de acc.; c. 2. X. de ord. cogn.) und es trat Bestrafung
ohne weitere Beweisführung ein. — Lag hingegen eine infa-
matio vor, d. h. bezeichnete ein allgemein verbreitetes und in
glaubwürdiger Form auftretendes Gerücht jemanden als Ver-
brecher, so trat ein sog. Verfahren ex officio ein; das Gleiche
war der Fall, wenn ein Ankläger keinen vollkommenen Be-
weis zu erbringen vermochte. Für diese Fälle hat die Kirche
das Institut des Reinigungseides aus dem germanischen Recht
übernommen. Verlegte sich nämlich der infamatus aufs Leug-
nen, erging an die Öffentlichkeit die Aufforderung, ob jemand
als accusator auftreten wolle; war dies binnen 40 Tagen nicht
der Fall, so stand dem Beschuldigten nicht etwa die blosse
Möglichkeit, sich durch Eid zu reinigen, offen, es konnte viel-
mehr ein Zwang hierzu gegen ihn ausgeübt werden. Je nach
seinem Verhalten diesem Zwange gegenüber ging er entweder
straffrei aus oder wurde er gleich einem Geständigen straf-
bez. bussfállig.1) Ähnlich war .das Verfahren auch vor den
Sendgerichten gestaltet. Geständnis bewirkte Kirchenbusse,
Leugnen Verpflichtung zum Eide, welchem, falls er nicht
vollkommen glaubwürdig erschien, ein Gottesurteil nachzu-
folgen hatte.
Allein seit Innozenz III. kam auch jene Art des kirch-
1) Vgl. dazu und über Notorietät und Infamie im Allgemeinen Biener,
Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprozesses (Leipzig 1827), S. 21, vor
allem aber 22 ff; S. 27: „Vorher stand es dem Verdächtigen frei, nach ger-
manischer Weise den Reinigungseid als ein Recht zu verlangen und sich
so ohne weiteren Frozess zu befreien; jetzt musste sich der Verdächtige erst
der Inquisition unterwerfen, und nur subsidär konnte ihm der Richter diesen
Eid auferlegen‘“.
— 3D —
lichen Strafverfahrens auf, die als inquisitio bezeichnet wurde.
Sie war ihrer Natur nach eine subsidiäre Verfahrensart in dem
Sinne, als sie nur in Ermanglung einer accusatio Platz griff.
Geleitet war sie einerseits von dem Gedanken materieller
Wahrheit, anderseits von dem Bestreben, kein Delikt unge-
straft zu lassen. Dem kirchlichen Richter oblag die Pflicht,
zur Verfolgung eines jeden ihm zur Kenntnis gelangten Ver-
brechens sich die notwendigen Behelfe zu verschaffen, um den
Verdächtigen zur Verantwortung ziehen zu können; auf die
Unterstützung der Parteien war der Richter angewiesen, jedoch
nicht beschränkt und konnte daher secundum suam conscientiam
Beweiserhebungen vornehmen.
Hierbei kam dem Geständnis eine grosse Bedeutung zu;
allein auch jetzt verliess die Kirche ihren früheren Standpunkt
nicht; sie „erkannte das Geständnis mehr in seinen sittlichen
Grunde und Folgen an“!), erblickte in ihm ein Zeichen reu-
mütiger Gesinnung, welche zu erstreben der kirchliche Richter
sich redlich zu bemühen hatte ?), jedoch ohne Anwendung von
Zwang und Drohung, getreu dem Grundsatze: „Omnis con-
fessio, que fit ex necessitate, fides non est.“ Und selbst das
freiwillige Geständnis sollte mit grosser Vorsicht aufgenommen
werden: „cumque diligentius a te fuisset admonita, ne ad sug-
gestionem alicujus illud tam turpe contra se proponeret, ipsa
id manifestius asserebat“ [c. 5. X. de divort. (IV.19)]. Daher
perhorreszierte die Kirche die Tortur: „Nos in quemquam sen-
tentiam ferre non possumus, nisi aut convictum, aut sponte
confessum“ (Can. I., 2, 18: causs. IL, Q. 1).
Die Einführung der Tortur zwecks Erlangung eines Ge-
ständnisses hat in der Folge die Kirche dem römischen Kriminal-
prozess entlehnt®) u. zw. zunächst für die sog. inquisitio hae-
1) Klenze, a. a. O., S. 94.
? Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse
{Darmstadt 1834), S. 236.
3) Glaser, Handbuch des Strafprozesses I. Bd. (Leipzig 1883), S. 77:
„eine kirchliche Behörde kann auf ein reumüthiges Bekenntnis nie einen zu
grossen Wert legen, für sie ist ja die darin liegende Unterwerfung der
eigentliche Zweck des Verfahrens; so giebt es — selbst erpresst — noch
Gelegenheit, auf das Gewissen des Sünders einzuwirken. Weltliche Straf-
š 3*
— 386 —
retica pravitatis, die Ketzerinquisition. Diese vollzog sich im
grossen und ganzen in der Form des für die Sendgerichte
vorgeschriebenen Verfahrens. Jedoch erblickte man in der
Ketzerei ein crimen laesae majestatis divinae, auf welches man
die römisch -rechtlichen Bestimmungen über das Verfahren
beim crimen laesae majestatis analog anwenden zu dürfen und
zu müssen glaubte. Ja in Spanien bestand für die Ketzer-
inquisition nach den Instruktionen von Toledo aus dem Jahre
1561 sogar die Besonderheit, dass die Verteidiger der Ketzer
eidlich angeloben mussten, ihre Klienten mit allen Kräften zur
Ablegung von Geständnissen zu bewegen.
Damit hat die Kirche leider den idealen Standpunkt,
welchen sie dem Geständnis gegenüber eingenommen hatte,
verlassen. Sie mochte dabei von der weltlichen Strafrechts-
pflege beeinflusst gewesen sein, welche in dem Geständnisse
lange Zeit das einzige und selbst nach der C. C. C. das wich-
tigste Beweismittel erblickte. Wenn aber die Kirche schon
dem freiwilligen Geständnis grosse Vorsicht entgegenbrachte,
so unterliegt es gar keinem Zweifel, dass sie dem durch die
Folter erpressten Bekenntnis mit grosser Skepsis gegenüber-
stand. Daher. stellte die Kirche gewisse Vorsichtsmaßregeln
auf, welche bei der Würdigung eines Geständnisses in Betracht
zu kommen hatten. Es mussten Indizien vorliegen, damit die
Folter überhaupt angewendet werden konnte; nach der Folter
musste das Geständnis ohne Anwendung von Zwang wieder-
holt werden, ja ehe man zur Folterung schritt, nahm man zu-
erst die sog. Territion vor, die in der blossen Vorweisung der
Marterwerkzeuge bestand. Diese Vorsichtsmaßregeln sind als
die ersten historisch von Belang.
In formeller Beziehung verlangte das kirchliche Strafrecht
gewisse Erfordernisse zur Giltigkeit eines Geständnisses. Zu-
nächst musste seine Ablegung vor dem zuständigen Richter
erfolgen !), widrigenfalls es nur als aussergerichtliches Ge-
gerichte aber hätten Gründe genug gehabt, dem Bekenntnisse keinen allzu-
grossen Wert beizulegen und nicht, um es zu erlangen, von Rom nachzu-
holen, was das ältere kanonische Recht nicht mit herüber nehmen wollte
— die Tortur.*
1) Tittmann, a. a. O., S. 42 erwähnt, dass dies zwar nur für das
_— YN —
stándnis galt und somit lediglich als Indiz in Betracht kommen
konnte. Es musste ferner alle in subjektiver Hinsicht er-
forderlichen Merkmale einer vollgiltigen gerichtlichen Aussage
aufweisen und überdies solche Umstände enthalten, die nur der
wahrhaft Schuldige wissen konnte und anzugeben in der Lage
war. All dies musste in zusammenhängender Rede unter Ver-
meidung von Suggestivfragen geschehen. Niemals jedoch hat
das Geständnis den kirchlichen Richter seiner Verpflichtung,
nach materieller Wahrheit zu streben, entbunden. Letztere
auf Grund eines Geständnisses zu vermuten, war dem kirch-
lichen Richter zu keiner Zeit gestattet. Das Geständnis galt
der Kirche als das höchste Beweismittel — confessio est regina
probationum —, aber doch nicht als Beweis, sondern eben
lediglich als ein Mittel zum Beweis.
Der Widerruf eines Geständnisses stand dem Beschuldigten
jederzeit offen. Gleich dem Geständnis selbst war auch der
Widerruf ein Gegenstand sorgfältigster richterlicher Prüfung,
ob ein und — bejahendenfalls — welcher Einfluss auf das
bereits abgelegte Geständnis dem Widerruf zuzukommen habe.
Werfen wir einen Rückblick auf die Behandlung des Ge-
ständnisses in der kanonistischen Praxis, so gelangen wir zu dem
Ergebnis, dass die Bedeutung, welche die Kirche dem Geständ-
nis beilegte, auf einem richtigen Grundgedanken beruhte, in-
dem das Geständnis allein zur Verurteilung nicht genügte.
Aber auch in psychologischer Hinsicht kann dem kirchlichen
Strafverfahren das Zeugnis nicht versagt werden, dass es alle
zeitgenössischen Strafprozessordnungen bedeutend überragte,
indem es, wenn wir von der Ketzerinquisition absehen, nur
das freiwillige, aus dem Motiv der Reue abgelegte Geständnis
gelten liess, jedoch niemals als Beweis, sondern nur als Be-
weismittel, u. zw. als ein keineswegs untrügliches Beweismittel,
vielmehr als eines, das einer besonders vorsichtigen Würdigung
bedurfte. Auch hat die kanonische Praxis einem richtigen psy-
chologischen Gedanken durch Statuierung des Verbots verfäng-
Verfahren gegen Geistliche gesetzlich ausgesprochen ist, allein da die in
c. 4X de judiciis ausgesprochene Voraussetzungen auch beim Verfahren
gegen Laien zutreffen, trägt er — wohl mit Recht — kein Bedenken, darin
eine allgemein giltige Norm zu erblicken.
— 38 —
licher Fragen Ausdruck zu geben verstanden. Und es ist nur
bedauerlich, dass die spätere Zeit den Dingen eine Wendung
gegeben hat, die heutzutage selbst der überzeugteste Anhänger
der römisch-katholischen Kirche kaum als Fortschritt ansehen
dürfte.
D. Einfluss des kanonischen Rechts in Deutschland.
Zum Unterschiede vom römischen Recht, welches die Be-
weislast ausnahmslos dem Ankläger auferlegte, war im germa-
nischen und später im deutschen Strafprozess dem Beschuldigten
eine nicht unwesentliche Tätigkeit an der Erbringung des Be-
weises eingeräumt. Dieser Zustand erfuhr eine Änderung
unter den kanonischen und italienischen Rechtseinflüssen, welche
sich seit der Rezeption immer mehr und mehr in Deutschland
geltend machten. Da sie auf römisch-rechtlicher Grundlage
basierten, waren es römisch-rechtliche Grundsätze, die — wenn
auch nur mittelbar — nunmehr in das deutsche Strafprozess-
recht Eingang fanden. Der Kardinalsatz, welcher eine so grosse
Umwälzung herbeiführte, war der, dass die Beweislast eine
Sache des Anklägers sei. Um ihm diese ja recht leicht zu
machen, scheute man vor keinem Mittel zurück.
Als Krone aller Beweismittel galt das Geständnis; „con-
fessio regina probationum“ hiess es jetzt auch in Deutschland.
Ein Geständnis zu erlangen war die erste und oberste Auf-
gabe der Strafrechtspflege. In dieser Hinsicht machte sich
italienischer Einfluss geltend. Bei dringendem Verdacht war
es nunmehr erlaubt, zwecks Erlangung eines sogenannten voll-
giltigen Beweises (durch Geständnis), ganz so wie im alten
römischen Rechte, die Tortur in Anwendung zu bringen.
Das Wesen der Tortur in Deutschland erhellt wohl am
besten aus dem Vorgang, welcher bei ihrer Vornahme einge-
schlagen wurde. Bevor man zur Tortur schritt, hatte die
Territion (Schreckung) Platz zu greifen. Sie zerfiel in zwei
Stufen: die Verbal- und die Realterrition; bei ersterer wurde
dem Inquirenten lediglich mit Worten, bei letzterer mit Vor-
zeigung der Marterwerkzeuge gedroht. Es ward der Inquisit
zu diesem Zwecke in die Folterkammer geführt, wo ihm der
Scharfrichter die Foltervorrichtungen zeigte, unter Umständen
— 89 —
auch auf den entblóssten Kórper anlegte, ohne sie jedoch in
Funktion treten zu lassen.!)
Soviel sei noch bemerkt, dass zur Vornahme sowohl der
Territion als auch der Tortur selbst ein fórmlicher Gerichts-
beschluss erforderlich war; auch war der Übergang von der
Territion zur Tortur in vielen Gegenden insofern ein allmäh-
licher zu nennen, als es mehrere Foltergrade (— bis neun —)
gab. Doch war das auf der Folter abgelegte Geständnis keines-
wegs zur Verurteilung ausreichend; zu diesem Zwecke bedurfte
es der Wiederholung vor ordnungsmäßig besetzter Richterbank;
solch ein Geständnis hiess Urgicht. Bei der Urgicht entfiel
jeder physische Zwang und so kam es denn sehr oft vor, dass
das ursprüngliche Geständnis widerrufen wurde. In solchen
Fällen ward zu einer — unter Umständen auch mehrmaligen
— wiederholten Folterung geschritten. Dass darin eine ganz
unverhältnismäßig hohe Grausamkeit lag, mag schon zu der
Zeit, da man allen Ernstes an einem dem Folterungssystem
zugrundeliegenden gesunden Gedanken glaubte, eingesehen
worden sein. „Blumbacher bemühte sich jedoch u. A.“,
wie Vargha?) mitteilt, „mit grossem Wortaufwande, das Ge-
hässige dieses Anwurfs zu mildern, indem er zu beweisen ver-
suchte, dass hier die zweite und dritte Tortur eigentlich keine
neue oder wiederholte, sondern nur eine Fortsetzung der
erstern, durch den ad bancum juris gemachten lügenhaften
Widerruf nicht unterbrochene Tortur sei. Hierdurch glaubte
er mit den ernsten Praktikern seiner Zeit allen Zweifel an der
Rechtmäßigkeit dieser Anstalt behoben zu haben.“
Auch der deutsche Inquisitionsprozess kannte von der
Tortur befreite Personen ; die Befreiungsgründe stützten sich
einerseits auf den Stand, anderseits auf das Alter, die körper-
liche Gesundheit und die geistige Beschaffenheit.
So war der Boden beschaffen, dem die C. C. C.
entsprosste. Psychologisch interessant war vor allem das
Prinzip, dass einzig und allein auf Grund eines Ge-
ständnisses oder — genauer gesagt — der Urgicht ein Straf-
1) Vargha, a. a. O., S. 140 f.
2 Vargha, a. a. O., S. 142.
— 40 —
urteil gefällt werden konnte. Das bis heute vielzitierte Wort
„Confessio regina ¡probationum“ hatte somit — wenigstens in
dieser Fassung — keine Berechtigung; denn das Geständnis
war nicht ein, sondern geradezu der Beweis, so dass für
die Zeit vor Beginn der C. C. C. für das Strafverfahren con-
fessio und probatio identische Begriffe waren. Erst die Caro-
lina hat hier Wandel geschaffen, indem sie auch den Zeugen-
beweis zuliess.
E. Constitutio Criminalis Carolina.
&]In der Constitutio Criminalis Carolina vom Jahre 1533,
auch Hals oder Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.
und des H. Röm. Reiches genannt, hat das Geständnis des
Angeklagten die eingehendste Behandlung erfahren, die ihm
jemals in einem deutschen Gesetzbuche zuteil geworden ist.
Wenn wir deren diesbezüglichen Bestimmungen uns zuwenden,
müssen wir uns allerdings vor Augen halten, dass die C. C. C.
nicht als einzige Quelle des deutschen Strafverfahrens ihrer
Zeit in Betracht kommt. Ist die P. G. O. auch ein Reichs-
gesetz, so waren doch nicht alle ihre Bestimmungen im ganzen
Reiche verbindlich. Noch galt der Satz „Landrecht bricht
Reichsrecht“ und auch die Normen der C. C. C. waren ledig-
lich subsidiärer Natur, und dies im doppelten Sinne; fürs erste
galten sie nur, wenn und insoweit die Landesgesetzgebung
nicht etwas anderes bestimmte, fürs zweite nur, insolange
die Landesgesetzgebung nicht etwas anderes angeordnet hatte,
was mit Rücksicht auf die sog. salvatorische Klausel, die das
landesherrliche Gesetzgebungsrecht ausdrücklich unberührt liess,
oft der Fall war. Gerade was die Bestimmungen über das
Geständnis betrifft, hat die Landesgesetzgebung, wie gleich
hier gesagt sei, eine bedeutsame Abänderung vorgenommen
durch Aufhebung der Tortur. Den Anfang machte der grosse
Preussenkönig 1740, seinem glorreichen Beispiel folgten früher
oder später die anderen Landesherren. Die Aufhebung der
Tortur war das Ergebnis der Erfahrung, dass ein erzwungenes
Geständnis nicht immer wahr war. Hatte sich diese Erkenntnis
einmal Bahn gebrochen, hatte man aus ihr die Konsequenzen
gezogen, blieb man dabei nicht stehen, sondern begann jedes
> dl a
Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit zu prüfen. Es ent-
wickelte sich ein Gerichtsgebrauch, der den Bestimmungen der
Gesetze vielfach ergänzend zur Seite trat und insbesondere in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die in mächtiger
Blüte stehende Strafrechtsliteratur eine erfolgreiche Förderung
erhielt. So bildete sich ein Rechtszustand heraus, dass zwar
die C. C. C. formell noch nicht aufgehoben war, jedoch unter
dem Einflusse von Landesgesetzgebung, Juristenrecht und Ge-
richtsgebrauch das Geständnis eine Behandlung erfahren hat,
welche von seiner gesetzlichen Regelung durch die C. C. C. in
nicht unwesentlichen Punkten abwich.
Auch der C. C. C. war confessio regina probationum. Das
Gestándnis war, wenn auch nicht das einzige, so doch das
wichtigste Beweismittel und deshalb durfte es an Mitteln zu
seiner Erlangung das Verfabren der C. C. C. nicht fehlen
lassen; vor allem gehörte zu diesen Mitteln die Tortur. Aber
weil das Bekenntnis des vermeintlichen Täters nicht mehr das
einzige Beweismittel war, war der Gebrauch der Tortur zur
Erlangung eines Geständnisses wesentlich eingeschränkt worden
u. zw. dadurch, dass man ihre Vornahme an gewisse gesetz-
liche Voraussetzungen knüpfte. Darin liegt der grosse. Fort-
schritt der C. C. C. gegenüber dem früheren Recht.
Die C. C. C. kennt zwar Indizien, aber sie kennt keinen
Indizienbeweis: „dann soll jemand entlich zu peinlicher straff
verurtheylt werden, das muss auss eygen bekennen, oder be-
weisung — beschehen, vnd nit auff vermutung oder anzeygung“
(Art. 22].1) Mit diesen Worten ist das Wesen des Bekennt-
nisses nach der C. C. C. charakterisiert; das Bekenntnis
ist nicht Beweis, sondern Beweissurrogat.2) Die Indizien
haben nur insofern Belang, als sie Voraussetzung zur Stellung
der peinlichen Frage und zur Vornahme der Folterung sein
können; ob sie in so ausreichendem Maße vorhanden waren,
um gegen den Leugnenden die Anwendung der Folter zu
rechtfertigen, das war geradezu das Um und Auf des karo-
1) Vgl. C. C. C. Art. 62: „Item wo der beklagt nichts bekennen, vnd
der ankleger die geklagten misshandlung beweisen wolt, damit soll er, als
recht ist, zugelassen werden“; vgl. jedoch Tittmann, a. a. O., S. 18 ff.
®) Vgl. Stü bel, das Kriminalverfahren, 11. Bd. (Leipzig 1811), S. 62.
— 492 —
linischen Strafprozesses. In dieser Hinsicht bestimmt Art. 6,
dass die Tortur nicht auf den blossen Leumund oder Bericht
vorgenommen werden könne, „es sei dann zuvor redlich, vnd
derhalb genugsame anzeygung vnd vermutung von wegen der-
selben missenthat auf jnen glaubwirdig gemacht“. Nur bei
„vnzweiffentlichen missthaten*, d. i., wenn eine Misstat „offent-
lich und vnzweiffenlich ist oder gemacht würde“ (Haupt-
fall: Betretung auf frischer Tat) und dem Täter kein Schuld-
ausschliessungsgrund zustatten kommen sollte, hat nach Art. 16
der Richter den Täter mit peinlicher Frage zum Bekenntnis
der Wahrheit zu verhalten; es ersetzt also die Unzweifelhaftig-
keit der Tat im Sinne des Art. 16 das Vorhandensein von An-
zeigungen als Erfordernis zur Vornahme der Folterung. In
allen anderen Fällen müssen zuvor „redlich anzeygen der miss-
that“ bewiesen werden; sind sie nicht vorhanden, soll die
peinliche Frage unterbleiben und ein Bekenntnis „auss der
marter“ hat keinen Glauben zu finden, geschweige denn gar
als Urteilsgrundlage zu dienen (Art. 20). Jede Anzeigung
auf Grund derer die peinliche Frage zu stellen ist, „soll mit
zweyen guten zeugen bewisen werden“ (Art. 23); was jedoch
die Hauptsache der Missetat betrifft, macht ein einziger tugend-
licher Zeuge die Anzeigung glaubwürdig, so dass die Folterung
vorgenommen werden kann. In den Artt. 25—44 ist per
longum et latum vorgeschrieben, welche Anzeigungen zur
Stellung der peinlichen Frage genügen, welche für sich alleın
dazu nicht hinreichend sind und inwiefern mehrere an sich
zur Anwendung der Tortur nicht hinreichende Anzeigen infolge
ihres Zusammentreffens ausreichen. Art. 28 macht dem Richter
zur Pflicht, sowohl die „argkwonigkeyt“ als auch „was die ver-
dacht person, gutter vermuttung, die sie von der missethat
entschuldigen mögen, für sich hab“, in Erwägung zu ziehen;
nur dann, wenn sich als Ergebnis dieser Erwägung heraus-
stellte, dass die Ursachen des Argwohns grösser als die der
Entschuldigung sein, „so mag alssdann peinlich frag gebraucht
werden“, im entgegengesetzten Falle hatte sie zu unterbleiben.
Bei Zweifeln über das Verhältnis zwischen Entschuldigungs-
und Verdachtsmomenten war der Rat der Rechtsverständigen
einzuholen (Art. 219). War ein Geständnis ohne Anwendung
er. AO ia
der Tortur abgelegt worden, so war es unter der Voraussetz-
ung des Vorhandenseins der gesetzlichen Erfordernisse pein-
lich zu wiederholen (Art. 32). Bei Zulässigkeit der peinlichen
Frage ward auf Begehren des Anklägers „eyn tag zu peinlicher
frage“ angeordnet (Art. 45), was übrigens auch von amtswegen
geschehen konnte. Stets sollte jedoch in solchem Falle der
Gefangene in Gegenwart des Richters, zweier Gerichtsmitglieder
und des Gerichtsschreibers ,fleiBiglich zu rede gehalten werden
mit worten, die nach gelegenheyt der person, vnd sachen zu
weitherer erfarung der übelthat oder argkwönigkeit allerbast
dienen mögen, auch mit bedrohung der marter“ nochmals be-
fragt werden (Art. 46). Ist das ergebnislos, soll der Verdäch-
tige gemäß Art. 47 zu ausführlicher Darlegung des Gegenbe-
weises ermahnt werden; wie er diesen zu führen habe, dazu
hat ihn der Richter anzuleiten. „Vnd solcher erinnerung ist
darumb not, dass mancher auss eynfalt oder schrecken, nit
fürzuschlagen weist, ob er gleich vnschuldig ist, wie er sich
des entschuldigen vnd aussfüren soll.“ Erst hiernach soll
zur Vornahme der peinlichen Frage geschritten werden.
Vom kriminalpsychologischen Standpunkte aus verdient
gerade diese Bestimmung das meiste Interesse. Trägt sie ja
dem Umstande Rechnung, dass das Geständnis eines Beschul-
digten möglicherweise falsch ist. Diesen Gedanken hat also
die C. C. C. bereits erfasst gehabt und nur eine Konsequenz
dieses Gedankens ist es, wenn in den Art. 48—54 dem Inqui-
renten ganz genau vorgeschrieben wird, was er den Inquisiten
zu fragen habe. Stets wird dabei des Motivs und aller Um-
stände gedacht und in Art. 54 a. E. dem Richter zur beson-
deren Pflicht gemacht, nach solchen Umständen zu fragen,
„die keyn vnschuldiger wissen kann“. Stellt es sich heraus,
dass die gestandenen Umstände unwahr sind, ist die peinliche
Frage zu wiederholen (Art. 55).
Aber auch eine andere Bestimmung ist in kriminalpsycho-
logischer Hinsicht besonders bemerkenswert: nach Art. 56
war nämlich sowohl vor als auch bei der Vornahme der Folte-
rung die Stellung von Suggestivfragen verboten; Zweck und
Ziel der peinlichen Frage war es, der Wahrheit auf den Grund
zu kommen, den wahren Sachverhalt zu ermitteln; „solchs
is AR
wiirdet aber etwa damit verderbt, wann den gefangenen jn an-
nemen oder fragen, die selben vmbstende der missethat vor-
gesagt vnd darauff gefragt werden.“ Die wáhrend der Tortur
abgelegte Aussage wurde nicht protokolliert. Einen oder
mehrere Tage danach wurde der Gefolterte nochmals einver-
nommen und erst das, was er jetzt sagte, wurde aufgeschrieben
und ihm zwecks seiner Äusserung vorgelesen. Bestätigte er
seine Aussage, ersetzte dies noch nicht jeden Beweis, sondern
es war das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit hin zu prüfen
und als glaubwürdig galt es nur dann, wenn die gerichtlichen
Erkundigungen und Nachfragen die Richtigkeit solcher Um-
stände ergaben, „die keyn vnschuldiger also sagen vnnd wissen
kundt*.
Was den Widerruf des Gestándnisses anlangte, unterschied
die Carolina den unbegriindeten von dem motivierten Widerruf
(Art. 57). Für den erstern Fall nur verlangte sie die Wieder-
holung der Tortur. Wenn aber der Gefangene in glaub-
würdiger Weise die Ursachen des Widerrufs darlegte, hatte
ihn der Richter „zu aussfürung vnd beweisung solchs irrsals“
zuzulassen. Wurde das Geständnis erst am endlichen Rechttag
widerrufen, fand eine Wiederholung der peinlichen Frage nicht
statt. Der Richter hatte den Beisitzern lediglich die Tatsache,
dass ein Geständnis vorliege, bezeugen zu lassen, worauf dann
zur Urteilsfällung übergegangen wurde. Der Widerruf blieb
also unberücksichtigt [Art. 91].')
Dies sind die wesentlichen Bestimmungen der Carolina
über Geständnis und Tortur. Der grosse Fortschritt gegenüber
dem früheren Rechte liegt auf der Hand. „Die Carolina“
sagt Glaser?), „war unzweifelhaft, was die Folter betrifft,
ihrer Zeit voraus; das zeigt sich am besten darin, dass sie
selbst kommenden Geschlechtern nicht laut genug sprach.
Wie weit ging die spätere Praxis über das hinaus, was sie
gestattete! Wie viele Jahre mussten noch vergehen, bis die
einfache Bemerkung gemacht wurde, dass die Tortur ärger
1 Tittmann, a. a. O., S. 83 ff.; über das durch Geltendmachung
eines Schuldausschliessungsgrundes qualifizierte Geständnis vgl. Art. 151
P. G. O.
2) Vgl. die zitierten Worte G lasers.
=: db ==
sel, als jede Strafe, und dass man ibr niemand unterwerfen
dürfe als den, von dessen Schuld man überzeugt ist, und den
zu strafen man bereits ohnehin ein volles Recht habe; dass
sie dem Überwiesenen gegenüber nutzlose Marter, auf den
Nichtüberwiesenen angewendet, unverantwortliche Bedrückung
sel!”
Spátere, auf den Gedanken der Carolina basierende Straf-
prozessordnungen haben die Anwendung der Folter noch mehr
beschränkt und ihre ‚Voraussetzungen verschärft. In dieser
Hinsicht verdient vor allem die steirische L. G. O. vom Jahre
1574 Beachtung; ihr zufolge durfte die peinliche Frage nur
auf vorhergegangenen von mindestens fünf bis sechs verstän-
digen und tauglichen Gerichts- oder anderen angesessenen
Personen gefassten Beschluss, „dass die Indicia zu peinlicher
Frage genügend sind“, vorgenommen werden (ll. Art. 27, 29
und 41); auch kennt sie einen eigenen Artikel „Von zweifel-
haften Bekenntnissen“ (II. Art. 30) für den Fall, „wenn der
Gefangene über sich selbst, oder jemand anderen bekennt,
worin ein Zweifel, und nach Gelegenheit der Sache auch
mehr zu vermuthen wäre, dass er solches Bekenntniss aus
Strenge oder Furcht der Marter gethan“; in II. Art. 35 ist
sogar direkt davon die Rede, „dieweil sich wohl zuträgt, dass
die Thäter oftmals aus übriger Peinigung mehreres als sie
verbrochen haben, bekennen.“ !)
F. Von der Carolina bis zum reformierten Strafprozess.
Die Folgezeit überschritt jedoch in der Praxis die Be-
stimmungen der C. C. C.; es war das jene Zeit, welcher in
der deutschen Kulturgeschichte eines der dunkelsten Blätter
bestimmt sein sollte. Die Hexenprozesse kamen an die Tages-
ordnung und die Richter erblickten als ihre Aufgabe das Werk
„göttlicher Vergeltung“. Treffend sagt Vargha?): „Niemals
waren menschliche Gerichte bekanntlich unmenschlicher und
grausamer, als wo sie angeblich im Namen Gottes auftraten.“
') Vgl. Herbst, Einleitung in das österreichische Strafprozessrecht
(Wien 1860), S. 37, daselbst auch näheres über die Ferdinandeische L. G. O.
vom Jahre 1656.
23) Vargha, a a. O., S. 182.
Dadurch, dass man die Folter im Hexenprozesse anwandte,
liegt bereits der grosse Verstoss gegen den Geist und den
Wortlaut der Carolina. Da finden wir, wie Hunderte und
Tausende auf der Folter das Geständnis ablegten, mit dem
Teufel paktiert, gebuhlt und wer weiss was sonst begangen
zu haben. Allen diesen Geständnissen ward Glauben ge-
schenkt; meinte man ja ein gewichtiges Kriterium ihrer Glaub-
würdigkeit darin gefunden zu haben, dass sie alle übereinstimmend
lauteten! Nicht begnügte man sich mit dem Geständnis der
eigenen „Schuld“ des armen Gefangenen; man folterte ihn
vielmehr so lange, bis er seine ,Mitschuldigen“ nannte. Gar
die „freiwilligen“ Geständnisse der Hexerei! Dass bei ihnen
Drohungen und Sophistik gemeinster Art mit im grausamen
Spiele waren, darauf ward kein Bedacht genommen. ') Schliess-
lich kam man spät, aber doch zu der Erkenntnis, dass einzig
und allein das auf der Tortur beruhende Beweissystem der-
artige Schandtaten von Strafrechtspflege gezeitigt hatte. Die
Frucht dieser Erkenntnis war die Abschaffung der Tortur im
Wege der einzelnen Landesgesetzgebungen seit dem Jahre 1740.
Die Abschaffung der peinlichen Frage bedeutete denn auch
in der Tat einen Wendepunkt in der geschichtlichen Entwick-
lung des Strafverfahrens. Trotzdem konnte von einer wesent-
lichen Besserung der Lage des Beschuldigten nicht die Rede
sein. Denn das inzwischen immer mehr ausgebaute Inqui-
sitionsprinzip hatte ihn von der Partei zum Prozess objekt
degradiert; der Beschuldigte war nicht die dem Ankläger
gegenüberstehende Prozesspartei, welcher auf den Gang des
Verfahrens irgend ein Einfluss zustand, sondern er war der
Prozessgegenstand und als solcher Wachs in den Händen
seiner Richter. Der Inquirent nahm zuerst die formlose Unter-
suchung vor, deren Zweck nicht so sehr die Überführung des
Beschuldigten als vielmehr die Herbeischaffung von Beweisen
war; diese Untersuchung war die Generalinquisition.
Erst in der folgenden Spezialinquisition war die Tätig-
keit des Inquirenten auf die Überführung des Beschuldigten
in Form Rechtens gerichtet; vor allem hatte der Inquirent die
Beschuldigung und die Beweismittel dem Inquisiten vorzu-
1) Vargha, a. a. O., S. 185, An. 5.
halten. Die einzelnen Umstände, über die er sich zu äussern
hatte, wurden in Artikel gebracht, m. a. W., die Einvernahme
des Beschuldigten erfolgte in der Form des artikulierten
Verhörs. Dass dieses der Absicht, der materiellen Wahrheit
auf den Grund zu kommen, nicht genügte, sah man jedoch
bald ein. Aus der Notwendigkeit, über diesen und jenen Um-
stand vom Beschuldigten bereits früher Aufklärung zu be-
kommen, „ehe die Beschuldigung schon fest um ihn sich zu-
sammengezogen hatte, und ihm Gelegenheit zu geben, durch
Aufklärung von verdächtigenden Umständen die Spezialinqui-
sition abzuwenden“), entstand das Institut des summarischen
Verhörs, das sich zwischen General- und Spezialinquisition
einschob. Aus diesem Gang des Verfahrens ist ersichtlich,
welche Bedeutung trotz der Aufhebung der Tortur noch immer
dem Geständnis zukam, dass dieses noch immer als die regina
probationum galt und den Kardinalpunkt bildete, um welchen
sich der ganze inquisitorische Strafprozess drehte. Es war
eben noch nicht die Zeit des entwickelten Beweisrechts ge-
kommen und daher glaubte man, des Geständnisses nicht ent-
behren zu können. Nach der dem Inquisitionsprozess zu
Grunde liegenden Anschauung war der Beschuldigte eben das
Objekt, das zwecks Ergründung materieller Wahrheit unter-
sucht werden musste. Der Beschuldigte hatte die Pflicht, ein
wahrheitsgemäßes Bekenntnis seiner Tat abzulegen; dieser
seiner Pflicht entsprach auf Seite des Inquirenten die Berech-
tigung, das Geständnis des Angeklagten zu erzwingen. Zur
Ausübung dieser Berechtigung waren dem Inquirenten weit-
gehende Befugnisse eingeräumt. Nicht nur durch Gründe des
Verstandes und Ausnützung von Gemütsaffekten hatte er auf
die Erlangung eines Geständnisses hinzuarbeiten, sondern ihm
stand auch die Macht zu, durch gesetztliche Mittel, vor allem
durch Androhung und Vollstreckung von Ungehorsam- und
Lügenstrafen, durch Konfrontation oder durch Auferlegung
des Reinigungseides, den Feuerbach, eine „Erpressung des
Bekenntnisses durch die Furcht vor den göttlichen Strafen des
Meineids“ genannt hat, die Ablegung eines Bekenntnisses zu
1) Glaser, a. a. O., S. 97.
es AB. das
erzwingen. Auf diesem Standpunkte standen die partikuláren
Gesetzgebungen des 18. Jahrhunderts.!) |
Dem gegenüber bedeuten die drei grossen Kodifikationen
des Strafrechts und -prozesses aus dem Anfang des 19. Jahr-
hunderts, die Gesetzbücher von Österreich (1803), Preussen
(1805) und Bayern (1813) immerhin einen Fortschritt.? Zwar
kennen auch sie einen Zwang zur eingehenden und wahrheits-
getreuen Verantwortung über die vorgebrachte Anschuldigung,
einen Zwang, zu dessen Ausübung der Richter Ungehorsam-
strafen verhängen konnte. Aber es ist doch eine Milderung
gegenüber dem früheren Rechte in der erhöhten Aktenmäßig-
keit und dem ausdrücklichen Verbote richterlicher Übergriffe
(durch Gewaltanwendung, Suggestivfragen, Lügen etc.), sowie
darin gelegen, dass gewisse innere Erfordernisse für die Giltig-
keit eines Geständnisses und demgemäß auch eines Geständnis-
widerrufs aufgestellt worden sind. So verlangt das öster-
reichische Gesetz ($$ 399 und 400) u. a., „dass das Geständnis
mit dem über die Umstände des Verbrechens eingeholten Er-
fahrungen übereinstimme. Ein so beschaffenes Geständnis
verliert nichts an seiner Beweiskraft, wenngleich nicht mehr
möglich ist, die eingestandene Tat vollkommen nach allen
Umständen zu erforschen; es ist genug, dass einige Um-
stände, wodurch das geschehene Verbrechen bestätigt wird,
erhoben sind, und dass nichts hervorkommt, was die Wahrheit
des Geständnisses zweifelhaft macht. Wäre es aber durch-
aus unmöglich, ausser dem Geständnisse eine
weitere Spur von dem Verbrechen zu erhalten, so
ist das Geständnis allein kein rechtlicher Beweis“.
Ähnlich sind die Bestimmungen des preussischen und des bay-
rischen Gesetzes. Das allg. Kriminalrecht für die preussischen
Staaten (Teil I, $ 370) legt dem Geständnis nur dann volle
Beweiskraft bei, „wenn es gerichtlich, ernstlich und ausdrück-
lich, auf rechtmäßige Frage des Richters, oder von freien
Stücken abgelegt ist und die Hauptumstände der Tat enthält,
auch mit den andern erwiesenen Umständen nicht in Wider-
1) Sie sind angeführt bei Glaser, a. a. O., S. 93 f., A. 4.
2 $ 399 des österr. Ges.; vgl. dazu Kitka, die Beweislehre im
österr. Krim.- Strafprozesse (Wien 1841), S. 37 ft.
— 49 —
spruch stehet“. Wird das Geständnis in einem Nebenumstand
falsch befunden, so wird dadurch seine Beweiskraft nicht alte-
riert; nur eine Unrichtigkeit bei den Hauptumstánden der Tat
benimmt dem Geständnis seine Beweiskraft ($$ 375 und 376).
Was den Widerruf eines Gestándnisses betrifft, machen
nunmehr — im Gegensatze zur Carolina — Art und Zeitpunkt
des Widerrufs keinen formellen Unterschied. Das öster-
reichische Gesetz bestimmte diesfalls in $ 402: „Der Beweis
aus dem Geständnisse wird durch darauf gefolgtes Leugnen '
oder Widersprechen des Beschuldigten nicht entkräftet; es sey
denn, dass derselbe eine glaubwürdige Ursache, warum er das
falsche Geständnis abgelegt habe, oder solche Umstände vor-
bringe, welche nach der darüber eingeholten Erfahrung die
Wahrheit des vorigen Geständnisses mit Grund in Zweifel
ziehen lassen“; ebenso die preussische Gesetzgebung ($$ 378
bis 381), die überdies dem Richter eine sorgfältige Prüfung
der für den Widerruf geltend gemachten Gründe sowie eine
Entscheidung darüber, ob das Geständnis oder der Widerruf
den Vorzug verdiene, zur Pflicht machte.
G. Die Anfänge der Strafprozessreform.
Die Reform. welcher der Strafprozess um die Mitte des
19. Jahrhunderts unterzogen worden war, hat auch auf die
Bedeutung des Gestándnisses einen gewissen Einfluss genommen.
Das Inquisitionsprinzip wurde durch die Anklageform verdrängt
und der Beschuldigte vertauschte die Rolle eines blossen Unter-
suchungsgegenstandes, zu welcher er bis dahin verdammt war,
mit der Stellung einer Partei, welcher ein wesentlicher Ein-
fluss auf den Gang des Verfahrens eingeräumt war. Dazu
kam noch eine andere, nicht minder wichtige Neuerung, die
Einführung der Jury. Sie hat wesentlich dazu beigetragen,
dass der gesetzlichen Beweistheorie und der als ihrer Konse-
quenz sich darstellenden Entbindung von der Instanz die
Sterbestunde geschlagen hat. Mit der gesetzlichen Beweis-
theorie war beabsichtigt gewesen, den Richter vor unrichtiger
Beurteilung der Ergebnisse des Beweisverfahrens, vor allem
vor der Verurteilung eines Unschuldigen zu bewahren; es war
jedoch dabei übersehen worden, dass durch die absolutio ab
4
=> 50
instantia die Móglichkeit der Freisprechung von Personen ge-
schaffen war, an deren Täterschaft und Schuld mitunter nicht
der leiseste Zweifel bestand. Diesem Zustande suchte die
Praxis in der Weise Abhilfe zu schaffen, dass der Inquirent,
sobald er einen Verdächtigen für den wahren Täter hielt, mit
aller Gewalt auf dessen Geständnis hinarbeitete, um der Justiz
und auch sich selbst die beschämende Sıtuation, welche un-
streitig in der Freisprechung jemandes, von dessen Schuld man
~ überzeugt ist, gelegen war, zu ersparen.
Mit dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts seine
Umschwung war die gesetzliche Beweistheorie und die abso-
lutio ab instantia beseitigt. Der nunmehr langsam, aber sicher
in der Strafprozessreform zum Durchbruch gelangende Grund-
satz freier Beweiswürdigung schwächte die Bedeutung des
Geständnisses wesentlich ab. War es auch nach den meisten
Gesetzgebungen dem Untersuchungsrichter noch immer zur
Pflicht gemacht, auf die Erlangung eines Geständnisses hinzu-
arbeiten, so entfiel doch jetzt die Geständnispflicht. Die Fälle,
in denen das Geständnis den Schuldspruch formell konstituierte,
waren auf Null herabgesunken; dem Geständnis konnte in
formeller Hinsicht eine lediglich deklarative Bedeutung zu-
kommen. Diese und die Befreiung vom Geständniszwang zählen
zu den Kriterien des reformierten Prozesses nicht minder als
das Akkusationsprinzip und die Jury.
Der durch die neueren Gesetze!) geschaffene Rechtszustand
ist folgender: Die Einveraahme des Verdächtigten hat den
Zweck, ihm Gelegenheit zur Äusserung über die gegen ihn
vorliegende Beschuldigung zu geben. Der Beschuldigte hat
Anspruch auf rechtliches Gehör, er kann sich äussern, was an
der Beschuldigung wahr, was an ihr unwahr ist, ihm steht das
Recht zu, Mittel zu seiner Verteidigung geltend zu machen.
Aber es besteht nicht mehr die Geständnispflicht; in sein Be-
lieben ist es gestellt, zu antworten oder die Antwort (sei es
überhaupt, sei es auf gewisse Fragen) zu verweigern. Ja
nach braunschweigischem Rechte galt der (freilich vereinzelt
gebliebene) Satz, dass der Untersuchungsrichter unter Straf-
1) Erwähnt bei Planck, Syst. Darstg. des deutschen Strafverfahrens
(Göttingen 1857) in der Einleitung.
== Dl .
drohung für ihn und den Schriftführer verpflichtet war, den
Beschuldigten darauf aufmerksam zu machen, dass die Ver-
weigerung der Aussage ihm freistehe.!) Jede, wie immer ge-
artete Versprechung, Drohung etc. zur Erlangung eines Ge-
ständnisses war unzulässig. Infolgedessen gab es jetzt keine
Lügenstrafen mehr. Trotzdem hatte der Untersuchungsrichter
bestrebt zu sein, ein Geständnis des Beschuldigten zu erlangen.
Als Mittel hierzu kannten einige Strafprozessordnungen zu-
nächst die seitens des Untersuchungsrichters an den Beschul-
digten zu richtende und im Protokoll ersichtlich zu machende
Ermahnung zu deutlicher und wahrheitsgemäßer Beantwortung
der vorgelegten Fragen, den Vorhalt, dass durch Verweige-
rung der Antwort die Untersuchung in die Länge gezogen,
mancher: Verteidigungsumstand unerhoben bleiben könne,
schliesslich, dass die Verweigerung der Antwort den Verdacht
gegen den Beschuldigten verstárke. Dem (zwar die Aussage
nicht verweigernden, jedoch) leugnenden Beschuldigten gegen-
über waren seine eigenen Widersprüche und der Widerspruch, -
ın welchem seine Aussage zu den Aussagen anderer (Zeugen,
Mitbeschuldigter) oder sonstigen Erhebungen stand, vorzuhalten
und, wenn hierdurch kein Erfolg zu erzielen war, konnte zur
Konfrontation mit Mitbeschuldigten und Zeugen geschritten
werden. Andere Mittel zur Erlangung eines Geständnisses,
insbesondere die Stellung von verfänglichen und Suggestivfragen,
waren verboten.
Was das Geständnis in der Hauptverhandlung anlangte,
stand es in dem Ermessen des Gerichtes, inwieweit angesichts.
eines Geständnisses die weitere Beweisaufnahme zu entfallen
hatte;?) ja, bei den Gerichten unterster Ordnung wurde zur
Beweisaufnahme überhaupt nur dann geschritten, wenn der
Angeklagte leugnete oder die Aussage verweigerte, sodass also
hier das (sc. glaubwürdige) umfassende Geständnis vollgültigen
Beweis machte.*) Eine noch weit grössere Bedeutung kam
dem Geständnis vor den Geschworenengerichten in Württem-
Planck, a. a. O., S. 247, A. 1 und Polzin im Groß’schen Archiv
13. Bd., S. 58 ff.
°) Planck, a. a. O., S. 467.
%) Planck, a. a. O., S. 476.
4*
o e
berg und Preussen zu.!) Vor Beginn der Verhandlung war,
u. zw. nach württembergischem Recht vor, nach preussischem
nach Bildung der Geschworenenbank der Angeklagte zu be-
fragen, ob er sich schuldig bekenne. Im Falle der Verneinung
dieser Frage nahm das Beweisverfahren seinen gewöhnlichen
Verlauf; bei Bejahung war der Angeklagte durch entsprechende
Fragestellung zur Ablegung eines umfassenden Gestándnisses
zu veranlassen. Erachtete — in Preussen nach Anhörung des
Staatsanwalts und des Verteidigers, in Württemberg, nachdem
der Vorsitzende den Angeklagten auf die Folgen seines Geständ-
nisses aufmerksam gemacht hatte — auf Grund dieses Ge-
ständnisses das Gericht, sofern es kein Bedenken dagegen trug,
die Tatfrage für im Sinne der Anklage erschöpft, so hatte die
Beweisaufnahme zu entfallen, die weitere Verhandlung sich
lediglich mit der Erörterung der Rechtsfrage zu befassen und
sodann das Urteil gefällt zu werden. Es lag somit hier ein
Fall vor, wo ausnahmsweise der Angeklagte auf die Beweis-
aufnahme verzichten konnte, ein Fall, dessen Eigentümlichkeit
vor allem darin gelegen war, dass gerade in den schwersten
Kriminalsachen einer derartigen Dispositionsvornahme eine so
grosse Tragweite zukam. Die Geschworenen kamen in solch
einem Falle überhaupt nicht dazu, in ihre Rechte zu treten.
Diese Bestimmung hat zu einer Kontroverse geführt für den
Fall, dass das Delikt des Geständigen von gewissen Folgen
begleitet war, die zu den Tatbestandsmerkmalen gehörten;
z. B. A. hat gegen B. einen Schlag geführt; B. ist in der
: Folge gestorben. Genügte nun das Geständnis des A., er sel
der Mörder des B., um jegliche Beweisaufnahme und daher
auch die Tätigkeit der Jury überflüssig zu machen, oder be-
freite das Geständnis des A. lediglich von der Beweisaufnahme
bezüglich des gegen B. geführten Schlages, während der
Kausalzusammenhang zwischen Schlag des A. und Tod des B.
noch nachzuweisen und daher die Beantwortung der Tatfrage
den Geschworenen zu überlassen war? Das königliche Ober-
tribunal hat diese Frage dahin entschieden, dass ein Schuld-
1) Planck, a. a. O., S. 358 und Rulf in der Oesterr. Ztschr. für
Rechts- und Staatswissenschaft (hg. v. Haimerl), 1. Bd., S. 160 ff., bes.
S. 179 f.
a DS o
bekenntnis auf gleicher Linie mit einem formgerecht befundenen
Wahrspruche der Geschworenen stehe, dass eine Trennung der
verschiedenen Teile des Beweises (speziell für den subjektiven
und objektiven Tatbestand) unstatthaft sei, dass die ganze
Tatfrage durch das Schuldbekenntnis, welches nicht immer
bloss auf Sinneswahrnehmung, sondern auch auf einer ander-
weitig gewonnenen Überzeugung beruhen könne, ihre Erledi-
gung finden dürfe und dass der Verteidiger zu einem Wider-
spruche gegen das Geständnis seines Klienten nicht berechtigt
sei. In der Literatur fand diese Entscheidung nicht allgemeine
Billigung. Insbesondere Sundelin') hat in scharfer und
scharfsinniger Polemik sich gegen diese Auffassung gewendet,
indem er ein lediglich auf die Willkür des Angeklagten, auf
seinen Entschluss: „Ja“ zu sagen, gegründetes Urteil im Straf-
prozesse für undenkbar erklärte. „Der Strafrichter“, heisst es
bei Sundelin, „kann sich nicht dabei beruhigen, dass der
Angeklagte bereit ist, sich einer gewissen Strafe zu unter-
werfen. Könnte doch z. B. die Last im (Gewissen denjenigen,
der einen sündigen Vorsatz ausgeführt zu haben meint, wäh-
rend dieser in Wahrheit gar nicht mit verbrecherischem Er-
folg in die Aussenwelt getreten ist, bewegen, auch letzteren
auf sich zu nehmen, — dann träfe die Strafe einen Unschul-
digen im Sinne des Rechts, da ein „Verbrechen“ nicht existiert!
—, könnte doch der lebensüberdrüssige Hypochondrist es
seinem verschrobenen Gewissen höchst bequem finden, dem
Henkerbeile statt der selbstgeknüpften Schlinge seinen Hals
zu überliefern!® Sundelin gelangt zu dem richtigen Er-
gebnis: „Was der Gestehende aus eigener Sinneswahrnehmung
durch einen Schluss von allgemein anerkennender Sicherheit
oder als Selbstdarstellung seines Innern mitteilen kann, dies
allein bedarf keines weiteren Nachweises. Aber Urteile, die
nicht auf solchen Schlüssen beruhen, Tatsachen , die er von
Anderen gehört hat, beweisen in seinem Munde eben so viel
und eben so wenig, als im Munde eines Zeugen, dessen Aus-
sage in diesen Grenzen auch einer bestätigenden Stütze von
') Sundelin, „Die Beweiskraft des Geständnisses in Beziehung auf
den objektiven Tatbestand'* in Goltdammers Archiv, 8. Bd., S. 54 ff.
Aussen her bedarf.“ Diese Worte haben ihre Berechtigung
bislang nicht eingebüsst und verdienen auch heute noch die
ihnen gebührende Beachtung.
* *
x
Ehe wir zur Darstellung des geltenden Rechtes übergehen,
sei eine kurze Erörterung über die Bedeutung des Geständ-
nisses im materiellen Strafrecht eingefügt. Wenn-
gleich es sich hier um Bestimmungen handelt, die zum Teil
noch gegenwärtig in Geltung sind, gehören sie doch Gesetzen
an, die älter als das in Österreich und Deutschland geltende
Strafprozessrecht sind, weshalb ihre Darstellung im engsten
Anschlusse an den historischen Teil unserer Arbeit gerecht-
fertigt sein möge.
Zur Zeit des Gestándniszwanges kam dem Bekenntnis eine
materiell-strafrechtliche Bedeutung nicht zu. Mit dem Auf-
hóren dieses Zwanges machte es jedoch fiir die Strafbemessung
einen Unterschied, ob der Täter verstockt blieb oder reumütig
seine Tat eingestand.
So bildet nach dem geltenden österreichischen Strafgesetz-
buch das Geständnis sowohl bei Verbrechen ($ 46 lit. h) als
auch bei Vergehen und Übertretungen ($ 264 lit. I) einen
mildernden Umstand; ja bei dem durch auf Hochverrat ab-
zielende Verbindung begangenen Verbrechen ($ 62)!) bewirkt
das in Form einer umfassenden (die Mitschuldigen etc.
namhaft machenden) Selbstanzeige sich äussernde Geständnis
bei gleichzeitiger Aufdeckung des Geheimbundes einen Straf-
ausschliessungsgrund; ähnlich nach $ 10 Sprengstoff-Ges., Be-
stimmungen, für deren Berechtigung gewisse kriminalpolitische
Erwägungen sprechen. Hingegen kann der Bestimmung des
§ 522 St. G., derzufolge bei verbotenen Spielen im Falle der
Selbstanzeige dem Täter nicht nur Straflosigkeit, sondern auch
ein Drittel der von den Mitschuldigen eingebrachten Straf-
gelder zugesichert wird, aus einem vom Standpunkte der Ethik
leicht begreiflichen Grunde nicht zugestimmt werden.
Das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich hat auf die
Finger, Das [österr.] Strafrecht, II. Bd., (Berlin 1895), S. 370.
o SB
Aufzählung von Milderungsgründen verzichtet; doch gilt in
der Praxis ein reumütiges Geständnis als mildernder Umstand
und neuerdings hat Haußner!) den (allerdings nicht ein-
wandfreien) Vorschlag de lege ferenda gemacht, bei Geständnis
die Strafe analog der Strafe beim Versuch zu bemessen,
Nur in einem Falle hatte das Geständnis eine viel weiter-
gehende Bedeutung; eine Zeit lang durfte die Todesstrafe nur
gegen Geständige vollzogen werden. Auf diese Weise wollte man
Justizmorden nach Tunlichkeit vorbeugen, übersah{ edoch, dass,
wie v. Holtzendorff?) bemerkt, „durch die grundsätzliche
Nichthinrichtung Leugnender, die Lüge in Kapitalsachen privi-
legiert werden würde. Das Ergebnis wäre also, dass die auf-
richtig Reuigen, die trotz jenes Privilegiums ein Geständnis
ablegten, hingerichtet, die hartnäckig Leugnenden andererseits
verschont werden würden. Dieser Widerspruch würde das
sittliche Gefühl des Volkes verletzen.“ 3)
III. Das geltende Recht.
Soweit das Geständnis in Strafsachen in Betracht kommt,
erscheint das geltende Recht sowohl Österreichs als auch des
Deutschen Reichs als eine konsequente Fortbildung jener deut-
schen Strafgerichtsordnungen, die seit dem Jahre 1848 in Wirk-
samkeit getreten waren und erst durch die nunmehr geltenden
Strafprozessordnungen abgelöst worden sind. Es sind daher
der österreichischen wie der deutschen Strafprozessordnung
Zwangsmittel zur Erlangung eines Geständnisses fremd. Gleich-
wohl besteht ein weitgehender Unterschied zwischen dem öster-
reichischen und dem deutschen Strafprozessrecht.
Bleiben wir zunächst beim österreichischen Recht. Zweck
ı\Haußner im Groß’schen Archiv, 13. Bd., S. 278.
» v. Holtzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die Todes-
strafe (Berlin 187), S. 303.
® Über die Bedeutung des Geständnisses bei untauglichem Versuch
vgl. Delaquis, Der untaugliche Versuch (Berlin 1904), S. 175, 178, 179,
181, 183, 198, vor allem aber S. 182 und 207.
o 56 EZ
des Strafverfahrens ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts.
Als ein Mittel zur Erreichung dieses Zwecks erscheint nach
den Motiven zur ósterr. St. P. O. die Verpflichtung eines jeden,
der von den Behörden darum angegangen wird, die Wahrheit
zu sagen. Auch dem Beschuldigten obliegt diese Verpflichtung.
Aber einerseits soll seine Stellung als Partei respektiert werden,
anderseits wird aus Gründen der Humanität, welche die Tortur
verbietet, von jedem Zwange zur Erfüllung dieser Pflicht Ab-
stand genommen. So erscheint nach österreichischem Recht die
Verpflichtung des in Voruntersuchung stehenden Beschuldigten,
dıe Wahrheit zu sagen, zwar als eine von der Rechtsordnung
vorgeschriebene und in diesem Sinne rechtliche Pflicht; sie ist
aber eine nur unvollkommene Rechtspflicht, da es kein Mittel
zur Erzwingung ihrer Erfüllung “gibt. Es gibt wohl I. Mittel,
zur Ablegung eines Geständnisses hinzuarbeiten, es gibt aber
II. keine Mittel ein Geständnis zu erzwingen.
ad I. Vor Beginn der Vernehmung hat der Untersuchungs-
richter den Beschuldigten zu ermahnen, „dass er die ihm vor-
zulegenden Fragen bestimmt, deutlich und der Wahrheit gemäß
beantworte“. Der Beschuldigte ist zu einer zusammenhängenden,
umständlichen Erzählung über die den Gegenstand der An-
schuldigung bildenden Tatsachen zu veranlassen ($ 199). Ver-
weigert er die Antwort überhaupt oder auf bestimmte Fragen,
simuliert er Körper- oder Geistesgebrechen, so ist er vom
Untersuchungsrichter darauf aufmerksam zu machen, „dass
sein Verhalten die Untersuchung nicht hemmen und dass er
sich dadurch seiner Verteidigungsgründe berauben könne“
($ 203). Verwickelt er sich in Widersprüche oder widerruft
er bereits abgelegte Geständnisse, ist er über die Veranlassung
zu dem Abgehen von den früheren Angaben und die Gründe
des Widerrufs zu befragen ($ 204). Weicht die Beschuldigten-
aussage in erheblichen Punkten von den Aussagen eines Be-
lastungszeugen oder Mitbeschuldigten ab, so ist, aber nur als
äusserstes Mittel, bereits in der Voruntersuchung die Konfron-
tation zulässig ($ 205).
ad II. Hingegen ist kein Zwang gestattet, um ein Ge-
ständnis zu erlangen, weder ein physischer noch ein psychischer
Zwang. Weder Versprechungen oder Vorspiegelungen noch
— 51 —'
Drohungen oder Zwangsmittel diirfen gegen den Beschuldigten
angewendet werden. Es ist den Sicherheitsbehórden ausdriick-
lich ($ 25) verboten, durch insgeheim bestellte Personen je-
manden zu Geständnissen, welche sodann dem Gericht hinter-
bracht werden sollen, zu verlocken. Desgleichen darf die
Voruntersuchung durch das Bemühen nach einem Geständnis
keine Verzögerungen erfahren ($ 202). Überhaupt verboten
sind kaptiöse oder sog. Fangfragen, „in welchen eine von dem
Beschuldigten nicht zugestandene Tatsache als bereits zuge-
standen angenommen wird“. Was hingegen sog. Suggestiv-
fragen betrifft, welche $ 200 als „Fragen, wodurch dem Be-
schuldigten Tatumstände vorgehalten werden, die erst durch
seine Antwort festgestellt werden sollen, oder wodurch ihm
die zu erforschenden Mitbeteiligten durch Namen oder andere
leicht kennbare Merkmale bezeichnet werden‘, definiert, dürfen
diese erst dann gestellt werden, wenn sich der Beschuldigte
nicht in anderer Weise über die diesbezüglichen Umstände
äussert. Suggestivfragen müssen wörtlich protokolliert werden
($ 200). Liegt ein Geständnis vor, muss unterschieden werden,
ob es umfassend ist und in den übrigen Ergebnissen der Unter-
suchung seine Unterstützung findet oder nicht. Im erstern
Falle hängt die Vornahme weiterer Erhebungen von den be-
sonderen Anträgen des Anklägers ab. Ein Geständnis an sich
entbindet aber den Untersuchungsrichter nicht von der Pflicht,
den Tatbestand soweit als möglich zu ermitteln.
Anders ist die Stellung des Beschuldigten nach der St. P. O.
für das Deutsche Reich. Wohl hat es an dem Versuche nicht
gefehlt, aus dem Mangel einer Bestimmung des Inhalts, der
Beschuldigte sei zur Verweigerung der Antwort berechtigt,
eine — sei es auch nur sittliche — Geständnispflicht zu dedu-
zieren!); ein derartiger Versuch muss, ganz abgesehen von der
Gewagtheit dieser Schlussfolgerung, an der Bestimmung des
$ 136 R. St. P. O. scheitern. Denn einerseits ergibt sich aus
dessen Wortlaut klipp und klar, dass eine Erwiderung auf die
vorgebrachte Beschuldigung ganz in das Belieben des Beschul-
digten gestellt ist: „der Beschuldigte ist zu befragen, ob er
1) Mayer, Handbuch, Bd. I, S. 148; vgl. auch Mitterbacher,
Die (österr.) St. P. O. (Wien 1882), S. 301, A. 2.
— »B —
etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle“. Anderseits hat
die Vernehmung des Beschuldigten in der Voruntersuchung
garnicht den Zweck, ihn zu einem Geständnis zu bewegen; sie
soll vielmehr, abgesehen von der imperativischen Norm des
$ 136 Abs. 3 R. St. P. O., die persönlichen Verhältnisse des
Beschuldigten zu ermitteln, ihn lediglich „Gelegenheit zur Be-
seitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur
Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen
geben“. ‘Schliesslich darf eine Geständnispflicht keineswegs
aus § 58 Abs. 2 gefolgert werden, welche unter Umständen
die Gegenüberstellung eines Zeugen mit einem Beschuldigten
gestattet; denn aus dem Wortlaute dieser Bestimmung wie
ihrer Stellung im Gesetzestexte ergibt sich, das nicht Geständ-
niserreichung, sondern Zeugenprüfung hier die ratio legis ist.
Das Verbot, Geständnisse zu erzwingen, hat im Strafge-
setzbuch für das Deutsche Reich seine Sanktion in § 343 ge-
funden: „Ein Beamter, welcher in einer Untersuchung Zwangs-
mittel anwendet oder anwenden lässt, um Geständnisse oder
Aussagen zu erpressen, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren
bestraft“, wobei, wie Frank!) hervorhebt, als Untersuchung
„Jedes Verfahren, das die Ermittelung einer strafbaren Hand-
lung und die Herbeiführung der gesetzlichen Repression zum
Zwecke hat“, Untersuchung ist. „Gleichgiltig ist“, wie Frank
weiter ausführt, „das Stadium, in dem sich die Sache befindet,
Schon die ersten Schritte der Polizei- und Sicherheitsbeamten er-
füllen den Begriff der Untersuchung“. Angesichts dieser klaren
Bestimmung des Strafgesetzbuchs erregt es ein gewisses Be-
fremden, wenn neuerdings Hellwig?) die listige Erzwingung
eines Geständnisses mittels Hunden verteidigt, indem er sagt:
„Der eine oder andere Formalist wird ja vielleicht gegen eine
solche listige Erzwingung des Geständnisses an-
führen, das widerspreche dem modernen strafprozessualen
Prinzip, dass der Verbrecher auf keine Weise gezwungen
werden dürfe, irgend etwas, insbesondere aber etwas ihn Be-
lastendes, auszusagen, mindestens sei es aber eine Umgehung
Fran k, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 3. und 4.
Auflage (Leipzig 1903), S. 461.
2) Gross'sches Archiv, 18. Bd., S. 222.
- 9 —
jenes Grundsatzes und daher verwerflich. Eine gesunde (?)
Praxis wird sich aber über solche formale Bedenken auch in
diesem Falle — wie sie es auch sonst vielfach tut — leicht
hinwegsetzen, und mit Recht (?). Denn es ist wahrlich besser,
dass das eine oder andere „Menschenrecht“ der Verbrecher
bis zu einem gewissen Grade nicht beachtet wird, als dass eine
Reihe schwerer Mordtaten infolge peinlicher Beachtung jenes
Grundsatzes ungesühnt bleibt und so das so wie so schon sehr
geringe Vertrauen des Volkes in die Rechtspflege mutwilliger-
weise immer noch mehr erschüttert wird“. Demgegenüber
wollen wir uns darauf beschränken, dem Wunsche Ausdruck
zu geben, es möge kein Strafrichter und kein Sicherheits-
beamter in der peinlichsten Beobachtung des Gesetzes, zu
dessen Anwendung in erster Linie er berufen ist, einen Mut-
willen finden.
Dem österreichischen Strafgesetz mangelt eine dem $ 343
R. St. G. B. analoge Bestimmung. Die Praxis erblickt in der
Erzwingung eines Geständnisses das Verbrechen der Erpressung
nach $ 98 St. G., mag der Täter wer immer sein. —
Was die Hauptverhandlung anlangt, besteht kein so grosser
Unterschied zwischen den Bestimmungen der österreichischen
und der deutschen St. P. O. wie hinsichtlich der Vorunter-
suchung. Der Angeklagte kann zu einer Aussage nicht ge-
zwungen wurden ($ 245 ö. St. P. O., $8 242 und 136 R. St.
P.0.). Weicht seine in der Hauptverhandlung gemachte Aus-
sage von der in der Voruntersuchung abgelegten ab, so kann
letztere verlesen werden, insbesondere zum Zwecke der Be-
weisaufnahme über ein Geständnis ($8 245, 252 Z. 2 ö. St. P.
0.; $ 253 R. St. P. O.). 1)
Eine wesentliche Vereinfachung des Verfahrens bewirkt
das Geständnis nur in Übertretungsfällen. In Österreich kann,
1) $ 245 v. St. P. O. gestattet dem Angeklagten, der die Anklage mit
der Erklärung, er sei nicht schuldig, beantwortet, ihr eine zusammenhängende
Erklärung des Sachverhalts entgegenzusetzen. Im Sinne dieser Bestimmung
richtet in Österreich der Vorsitzende an den Angeklagten die Frage, ob er
‘sich schuldig fühle, eine Frage, die oft missverstanden wird, da es viele
Angeklagte gibt, die den Unterschied zwischen Schuld und Täterschaft
nicht verstehen.
A BO
wenn der Beschuldigte gestándig ist, sogleich, d. h. ohne weitere
Beweiserhebungen, die Hauptverhandlung vorgenommen werden
($ 451, Abs. 2 ö. St. P. O.); im Deutschen Reiche entbindet das
Geständnis den Amtsrichter von der Zuziehung von Schöffen
($ 211, Abs. 2 R. St. P. O.); doch darf (weder für Österreich
noch für Deutschland) angenommen werden, dass in diesen
Fällen das Geständnis stets straffällig machen müsse; es soll
lediglich das Verfahren abkürzen, keinesfalls aber den Richter
hindern, mit Freisprechung vorzugehen, wenn er sich von der
Unrichtigkeit des Geständnisses überzeugt hat oder wenn er
zu der Annahme gelangt, dass ein Schuld- (bez. Straf-) Aus-
schliessungsgrund vorliegt. Bei Geständniswiderruf muss das
Verfahren in die sonst gewöhnlichen Bahnen geleitet werden.
Ein nach beendetem Verfahren gerichtlich oder ausser-
gerichtlich abgelegtes Geständnis kommt als Grund der Wieder-
aufnahme des Verfahrens zum Nachteile des Angeklagten in
Betracht ($ 355 Z. 2 0.St.P.0.; $ 402 Z. 4 R.’St.P. O.). Hin-
gegen kann im Falle einer Wiederaufnahme zu Gunsten eines Ver-
urteilten ein Entschädigungsanspruch u. a. dann nicht mit Erfolg
geltend gemacht werden, wenn die ungerechtfertigte Verurteilung
durch den Verurteilten absichtlich herbeigeführt wurde ($ 1
[ósterr.] Ges. v. 16. März 1892, Nr. 64 R. G. B.); ob jedoch
Hoegel!) im Recht ist, wenn er, ohne sich um die Zurech-
nungsfähigkeitsfrage zu kümmern, einfach sagt: „Beim fälsch-
lichen Gestándnisse wird man jedenfalls nicht viel nach der -
Absicht, die Verurteilung herbeizuführen, fragen dürfen“, er-
scheint uns zumindest zweifelhaft. Einen ähnlichen Standpunkt
wie das österreichische Gesetz nimmt das deutsche Strafhafts-
entschädigungsgesetz und mutatis mutandis der deutsche Ent-
wurf betr. Entschädigung für Untersuchungshaft ein.
Soviel über die positiven Bestimmungen des österreichischen
und des deutschen Strafprozessrechts über das Geständnis.
Hiezu seien noch einige Bemerkungen gestattet. Der heutige
Strafprozess steht unter dem Zeichen der Offizialmaxime. Auf
die Erforschung der Wahrheit hat das Gericht hinzuarbeiten,
ohne an die Anträge der Parteien gebunden zu sein. Geständnisse
1) Hoegel. Das Gesetz betr. d. Entschädigung für
Verurteilung (Wien 1901), S. 133.
A e E
sind nicht kraft des Umstandes, dass sie Übereinstimmung mit
den klägerischen Behauptungen einhalten, Beweis, sondern sie
sind gegebenenfalls Beweis nur kraft der ihnen innewohnenden
Glaubwürdigkeit, deren Prüfung dem Gerichte obliegt. Die
Wahrannahme, welche aus dem Geständnis abgeleitet wird,
darf somit keine lediglich formelle, muss vielmehr eine materielle
sein, d.h. das Gericht darf sich nicht darauf beschränken,
die Wahrheit aus der Kongruenz der Behauptungen des An-
klägers und des Angeklagten anzunehmen, sondern es muss
feststellen, ob und inwiefern das Geständnis dem wahren Sach-
verhalt entspricht. Gerade diese Behandlung des Geständnisses
ist das Moment, welches den vom Offizialprinzip beherrschten
Prozess von dem vom Dispositionsprinzip beherrschten Ver-
fahren unterscheidet. Die Dispositionsmaxime galt im Inqui-
sitionsprozess und hat ihre Bedeutung im Zivilprozess noch in
weitem Umfange gewahrt. Wie im Inquisitionsprozess nur der
nichtgeständige Angeklagte überwiesen werden musste, macht im
Zivilprozess auch heute noch das Geständnis des Beklagten jede
Beweisaufnahme überflüssig. Was der Beklagte zugesteht, ist als
wahr anzunehmen, ist „ausser Streit gestellt“ 1); „wird nämlich
eine Tatsache“, wie A. Rintelen treffend bemerkt, „ausdrück-
lich zugestanden, so ist sie als wahr zu behandeln, auch wenn
bereits vorliegende Beweise gegen “sie sprechen“?). In dem
auf dem Dispositionsprinzip basierenden Verfahren trifft der
Geständige eben durch sein Geständnis eine Verfügung über
So Heinze in Goldammers Archiv, 24. Bd., S. 287 ff. und Bülow,
Arch. f. civ. Praxis, 58. Bd., S. 330 f., 357 ff.; auch Wrany in der Allg.
österr. Gerichts-Zeitung 1897, S. 143 erklärt das Geständnis für Beweis-
befreiung. Diese Ansicht ist nicht unbestritten. Neuerdings erblickt man
im zivilprozessualen Geständnis keinen Disposivakt, sondern eine Willens-
erklärung; so Wittmaack, Arch. f. civ. Praxis, 58. Bd., S. 51, auch
Skedl, Das österr. Zivilprozessrecht, I. Bd. (Leipzig 1901), S. 48, Nr. 35;
S. 210, Nr. 10; S. 311, Nr. 13. Für den modernen Strafprozess kommt
diese Streitfrage, die übrigens auch für den Zivilprozess vorwiegend theore-
tische Bedeutung hat, nicht weiter in Betracht, da nach geltendem Recht
der Angeklagte kein testis in propria causa ist und seine , Wissenserklirung*
als solche somit von der Überprüfung durch Beweiserhebungen nicht entbindet.
2) A. Rintelen in der (Prager) Jur. Vierteljahresschrift, 36. (N.-F.
20.) Bd., S. 146; diese Regel gilt jedoch für Österreich nicht anangin on
vgl. 8 99 a. b. G. B. und Art. VI Z. 1 E. G. z. Z. P. O.
=> 69,
ein seiner Willkür unterliegendes Rechtsverháltnis. In eine
Prüfung der Wahrheit seiner Aussage wird nicht weiter ein-
gegangen; maßgebend ist einzig und allein die Tatsache, dass
die Partei vor Gericht die Richtigkeit der gegnerischen Be-
hauptung zugibt. „Das gerichtliche Geständnis“, sagt bereits
v. Savigny?), „ist eine Feststellung von Gegenständen, wo-
rüber sich der Richter des eigenen Urteils zu enthalten hat“;
es genügt daher zur Restitution gegen ein Geständnis nicht
der Beweis der Unwahrheit, sondern es wird vielmehr der Be-
weis des Irrtums erfordert).
Anders ist es im Strafprozess. Das öffentliche Interesse
geht hier mit dem Streben nach materieller Wahrheit Hand ın
Hand und die Notwendigkeit der Beweisvornahme tritt in ihre
vollen Rechte, aus denen sie kein Beweisverzicht, mag man
ihn wie immer nennen, zu verdrängen vermag. Insofern ist
das Geständnis kein Beweis, wohl aber hat es Bedeutung als
Beweismittel. Da macht es nun freilich einen grossen Unter-
schied, ob ein Geständnis gerichtlich oder aussergerichtlich
abgelegt ist. Während das gerichtliche Geständnis unmittelbar
von dem Gerichte wahrgenommen wird, muss das aussergericht-
liche gleich jeder andern für die Urteilsfällung in Betracht
kommenden Tatsache erst erwiesen werden. Ersteres ist eine
gerichtsbekannte Tatsache, letzteres nicht.
Auch kann im Strafprozesse der Täter niemals mehr ge-
stehen, als er selbst begangen hat; nur die Handlung, nicht
der Erfolg kann Gegenstand des Geständnisses sein.
Unsere Taten sind nur Würfe
In des Zufalls blinde Nacht.
Ob sie frommen, ob sie tödten —
Wer weiss das in seinem Schlaf?
Meinen Wurf will ich vertreten,
Aber das nicht, was er traf.
Mit diesen Worten hat Grillparzer („Die Ahnfrau“) auch
ein Stück strafprozessuales Geständnisrecht gegeben. Der
Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg muss, 125°
1) v. Savigny, Syst. VIJ., S. 41.
2) v, Savigny, a. a. O., S. 30 ft, 42 f, Heinze, a. a. O., S. 28
A. 2.
besondere dort, wo der Erfolg eine verschiedenfache Beurteilung
der Tat zulässt — man denke z. B. an Mord, Todtschlag, fahr-
lässige Tötung, vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung
mit nachträglich eingetretenem Tode — in anderer Weise fest-
gestellt werden als bloss durch die Aussage des Täters.
Ein besonderer animus confitendi ist nicht erforderlich.
Ein Geständnis liegt nicht erst dann vor, wenn aus den Worten
des Angeklagten sich ergibt, dass er sich mit seiner Aussage
belasten will; es genügt, dass der seinen Worten entnehmbare
Sinn gemeint ist; ob er sich mit seinen Worten einen recht-
lichen Nachteil zufügen wollte oder nicht, kommt nicht weiter
in Betracht, so dass auch die Aussage eines Zeugen, in welcher
er eine Tatsache einräumt, durch die er, ohne es zu wollen,
sich selbst belastet, für ihn als Geständnis von Bedeutung
werden kann. Hingegen ist es ein Erfordernis des Geständ-
nisses, dass es ausdrücklich abgelegt wird; es muss durch (ge-
sprochene oder geschriebene) Worte oder solche Zeichen und
Geberden, die nach allgemeiner Anschauung als unzweideutige
Antwort auf eine vorgehaltene Frage in Betracht kommen,
abgelegt werden. Aber die Geständnisse in Form der Be-
jahung vorgehaltener Fragen stehen den in zusammenhängender
Rede abgelegten an Glaubwürdigkeit nach, da jene bedeutend
weniger als diese erkennen lassen, dass sie auf der eigenen
Erinnerung des Beschuldigten beruhen. Hingegen darf dem
alten Worte „qui tacet, consentire videtur“ keine gestándnis-
mäßige Bedeutung beigelegt werden. Mag auch das Schweigen
des Angeklagten zu manchen ihn belastenden Umständen ihn
verdächtig erscheinen lassen, ist doch eine direkte Belastung
darin nicht zu erblicken.. Der Angeklagte hat das unbestrittene
Recht zu schweigen und, qui jure suo utitur, laedit neminem,
also auch nicht sich selbst. Nur Vermutungen können aus dem
Schweigen des Angeklagten gezogen werden, Vermutungen, mit
deren Verwertung selbst bei Anwendung der grössten Vorsicht
man nur dann zu der Ansicht, im Schweigen ein Zeichen des
„Sich-überwiesen-fühlens* zu erblicken, gelangen kann, wenn
der Schuldbeweis de facto hergestellt ist. Und selbst bevor
man dies tut, muss man sich Gewissheit darüber verschaffen,
ob der Umstand, zu dem der Angeklagte schweigt, ihm bekannt
= Gl us
gewesen oder erinnerlich sein muss. Gibt es ja fast in jedem
Strafprozess eine Menge Dinge, die an sich garnicht deliktischer
Natur sind und doch oft das Zünglein an der Wage bilden ?).
Dann denke man an die vielen Fälle umfangreicher Zeugen-
aussagen, nach denen der Angeklagte sich äussert; unterlässt
er hierbei die Bestreitung des einen oder des andern (ihm viel-
leicht nebensächlich vorkommenden oder gar von ihm über-
sehenen) Umstandes, so spricht das gewiss noch nicht gegen
ihn. Dasjenige Verhalten des Angeklagten, das man still-
schweigendes Geständnis nennt, ist kein Geständnis und am
allerwenigsten sollten diejenigen es für ein Geständnis erklären,
die im Geständnis nur eine besondere Art der Zeugenaussag®
erblicken.
Kann und darf im Geständnis des Strafprozesses ein Be-
weis nicht erblickt werden, so soll damit keineswegs gesagt
sein, dass das Geständnis auf den Gang des Verfahrens ohne
Einfluss ist. Zwar ist die Bedeutung des Geständnisses nicht
in der Befreiung des Gerichtes von der Erhebung des Tatbe-
standes zu suchen: aber einem geständigen Angeklagten gegen-
über kann die Beweisvornahme in der Hauptverhandlung wesent-
lich vereinfacht werden. Denn steht die Aussage eines An-
geklagten zu den anderen Aussagen in keinem wesentlichen
Widerspruch, so können in vielen Fällen Zeugeneinvernahmen
in der Hauptverhandlung unterbleiben; denn wo keine einer
Aufklärung bedürftige Widersprüche bestehen, kann auch von
den Mitteln zu ihrer Aufklärung nicht die Rede sein.
Keineswegs genügt das Geständnis zur Ver-
urteilung. Diese Behauptung ist freilich nicht unbestritten.
Vor allen ist es Glaser, welcher meint, die Frage nach der
Zulässigkeit einer Verurteilung lediglich auf Grund des Ge-
ständnisses könne nicht ernstlich bestritten werden. Glaser
vertritt die Ansicht, dass „im heutigen Strafprozess jedes Be-
weismittel nur gedacht wird mit dem Vorbehalt, dass es der
den besonderen Verhältnissen des Falles entsprechenden sorg-
fältigen Prüfung Stand hält“?). Verlangt jedoch Glaser
1) Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Krimi-
nalistik. |
2 Glaser, a. a. O., S. 607 (unter dem Strich).
Prüfung des Falles, so verlangt er auch, dass diese Prüfung
nicht ergebnislos verlaufe. Die Ergebnisse dieser Prüfung, die
den besonderen Verhältnissen des Falles entsprechen, können
sich nur auf andere Beweismittel beziehen. Wenn Glaser
denen, die, wie Geyer, daran festhalten, dass auf das Ge-
stindnis allein keine Verurteilung gebaut werden darf, vorwirft,
dass sie hier den Fall der Selbstanklage mit dem des im Laufe
einer durch andere Veranlassungen herbeigeführten Untersuch-
ung abgelegten Geständnisses verwechseln, „obgleich doch
letzteres nie ganz ununterstützt sein kann“, so ist
gerade in diesen Worten die Widerlegung seiner Ansicht ent-
halten, daher die Behauptung von Geyer nicht widerlegt.
Genügt also das Geständnis auch nicht zur Verurteilung, so
kann es doch gewiss oft den Ausschlag geben. In solchen
Fällen muss sorgfältig das Motiv des Geständnisses erforscht
werden. Nur hüte man sich hiebei vor einer Verwechslung
von Motiv und Motivierung. Jenes ist der Beweggrund einer
Handlung, dieses die Angabe eines Grundes als Beweggrundes.
Das wahre Motiv wird aber nicht immer angegeben. Viele
Angeklagte wollen dies nicht tun, sehr viele aber können
es nicht, auch wenn sie wollten.
Beim Widerruf des Gestándnisses kommt dem Motiv eine
noch weit grössere Rolle zu. Ist das Geständnis ein Beweis-
mittel, so ist sein Widerruf nicht ın allen Fällen einer Annul-
lierung dieses Beweismittels gleichzuachten; vielmehr muss der
Widerruf eines Geständnisses mit der gleichen Sorgfalt wie
dieses selbst geprüft werden; erst das Ergebnis dieser Prüfung
kann als eine der Urteilsgrundlagen dienen.
Viel erörtert wurde die Frage, ob ein Verteidiger berechtigt
sei, seinen Klienten zum Geständniswiderrufe zu veranlassen.
Die Frage kann an sich nur in bejahendem Sinne entschieden
werden, da der Widerruf rechtlich zulässig ist und dem Ver-
teidiger nicht verwehrt werden kann, etwas rechtlich zulässiges
zu veranlassen, wenn er sich davon einen Erfolg verspricht!).
Wann dies zutrifft, bleibt stets quaestio facti, über die der
Verteidiger zu entscheiden hat. Anderseits kann es auch Sache
des Verteidigers sein, seinen leugnenden Klienten zum Geständ-
1) Ausführlich bei Vargha, a. a. O., S. 552.
O
nis za bewegen, wenn dessen Schuld so offenkundig ist, dass
der Verteidiger zu erwägen hätte, „ob dem Angeklagten nicht
damit zu nützen wäre, dass ihm der noch immer geltende
schwerwiegende Milderungsgrund des Geständnisses gerettet
bleibe“ ?).
Stets muss das Geständnis geprüft werden. Nach welchen
Regeln diese Prüfung vorzunehmen ist, sagt uns kein (Gesetz.
Das einzige, was eine Strafprozessordnung in dieser Hinsicht
sagen könnte, wenn sie dieser Prüfung überhaupt Erwähnung
tut, wäre, dass sie sie vorschreibt. Diese Prüfungspflicht des
Gerichtes versteht sich jedoch von selbst, da sie sich aus der
Norm, alles sowohl für die Anklage wie für die Verteidigung
Dienende mit gleicher Sorgfalt zu erheben, ergibt. Mit dieser
Norm sind wir an die Grenzlinie verwiesen, welche zwischen
dem Strafprozessrecht und der Kriminalistik gezogen ist. Nur
dadurch, dass wir diese Grenze überschreiten und uns in das
der Strafprozesstheorie nächstliegende Grenzgebiet der universitas
litterarum begeben, können wir uns einer Lösung dieser Frage
nähern. Welcher Weg hier einzuschlagen ist, hat Hans Gross
durch die Begründung der Kriminalistik, insbesondere der
psychischen Kriminalistik oder Kriminalpsychologie gezeigt;
diesen Weg wollen wir im Folgenden betreten.
IV. Die psychologische Würdigung
des Geständnisses als Kriterium seiner
Beweiskraft.
A) Allgemeine Bemerkungen.
Der Grundsatz der Strafprozesstheorie, dass nicht jedes
Geständnis als wahr hingenommen werden darf, dass vielmehr
das Prinzip der materiellen Wahrheit in Verbindung mit der
Offizialmaxime eine Prüfung des Geständnisses in Strafsachen
erheischt, stellt der Strafrechtspflege die Aufgabe, sich über
gewisse Regeln klar zu werden, nach welchen diese Geständ-
1) Vgl. Frydmann, Syst. Hdb. der Verteidigung im Strafverfahren
(Wien 1878), S. 167.
a OT:
nisprúfung vorzunehmen ist. Wenn wir das Gestiindnis in
Strafsachen ganz abstrakt betrachten, ergeben sich drei Mög-
lichkeiten seines Vorkommens:
a) Das Geständnis kann für das Strafurteil
konstitutiv sein; d. h. es kann das einzige Moment sein,
welches das Strafurteil rechtfertigt, in dessen Verkündung
es dann den einzigen Urteilsgrund bildet. Fälle solcher Art
werden wohl nur äusserst selten vorkommen. Vom rechtlichen
Standpunkt aus wäre diesfalls als Erfordernis der Beweiskraft
zu verlangen, dass mit ihrem Inhalt zugleich der- strafbare
Tatbestand gesetzt wird, mit andern Worten: es hätten derartige
Geständnisse nur bei sog. Verbaldelikten als Urteilsgrundlage
ın Betracht zu kommen. Freilich werden diese Fälle zu den
grössten Seltenheiten schon aus dem Grunde zäblen, da der-
artige Gestándnisse nur als qualifizierte in der Praxis einem
unterkommen dürften; z. B. A gibt ohne weiteres zu, den B
des Diebstahls beschuldigt zu haben, fügt jedoch diesem Ge-
ständnis sogleich eine exceptio veritatis unter Angabe der
Zeugen etc. bel.
b) Das Geständnis kann für das Strafurteil
deklarativ sein; d. h. der von der Anklage behauptete Tat-
bestand ist vollkommen durch andere Beweismittel als richtig
hergestellt und es liegt überdies das Geständnis des Ange-
klagten vor. Wenn sich auch von vornherein die Möglichkeit,
dass selbst ein derartiges Geständnis falsch sei, nicht immer
ausschliessen lässt — z. B. der Angeklagte sieht sich durch
falsche Zeugen belastet und legt ungeachtet seiner Schuldlosig-
keit ein Geständnis ab, nur um angesichts der ihm sicher be-
vorstehenden Strafe einen gewichtigen Milderungsumstand für
sich zu haben —, lässt sich doch im allgemeinen schlechter-
dings nicht in Abrede stellen, dass ein derartiges Geständnis,
mag es wann immer im Verlaufe eines Strafprozesses abgelegt
worden sein, seitens des Gerichtes als eine Bestätigung der
anderweitigen Ergebnisse des Beweisverfahrens angesehen werden
und unter Umständen in nicht geringem Maße dazu beitragen
wird, gewisse Zweifel, welche in die Glaubwürdigkeit des einen
oder des anderen Beweismittels gesetzt wurden, zu zerstreuen,
bez. gewisse Bedenken dieser Art überhaupt nicht aufkommen
pk
= MS
zu lassen, so dass Richter und Geschworene mit erhöhter Be-
ruhigung ihres verantwortungsvollen Amtes walten können.')
In der Mitte dieser zwei Möglichkeiten liegt noch eine
dritte; nämlich
c) Das Geständnis kann für das Strafurteil
suppletorisch sein; d. h. nach Lage des Falles würden weder
das Geständnis für sich allein noch die Ergebnisse der übrigen
Beweiserhebungen an sich zu einer Verurteilung genügen, allein
in ihrer Gesamtheit bilden sie jene zur Verurteilung als hin-
länglich angesehene Wahrscheinlichkeit, welche wir Wahrheit
in prozessualem Sinne oder erbrachten Beweis nennen. Und
gerade dieser „Fall eines Geständnisses, welches die anderweit
nicht erbrachten oder unvollständigen Beweise der Tat und
Täterschaft ersetzt oder ergänzt“, wie es Heinze?) charakte-
risiert, hat in der Strafrechtspflege die grösste Bedeutung. Man
denke an folgende Fälle: X wird eines Morgens in seiner
ebenerdig gelegenen Wohnung ermordet aufgefunden. Im frisch
gefallenen Schnee finden sich die Fussspuren mehrerer Personen.
Man eruiert sie und alle erscheinen in gleicher Weise ver-
dächtig oder besser gesagt nicht unverdáchtig. Nun kommen
Zeugen und geben an, um eine gewisse Stunde in der Wohnung
1) Eine dem Wortlaut und dem Geist unserer Gesetzgebung ent-
sprechende Strafrechtspflege wird stets ihr Augenmerk nicht in letzter Hin-
sicht darauf zu richten haben, dass diese Beruhigung im Augenblicke der
Urteilsfällung bereits vorhanden ist; wenn der Verurteilte erst in der Strat-
anstalt gesteht, mag dies unter der Voraussetzung der Richtigkeit seines
Geständnisses ja immerhin eine Bestätigung des Strafurteils in merito sein,
allein die von Amschl im Gross’schen Archiv, 12. Bd., S. 3. vertretene
Ansicht, dass Geständnisse von Sträflingen „zur Beruhigung der Richter
und Geschworenen, der Ankläger und Verteidiger, insbesondere aber des
Publikums, um dessentwillen ja alle diese Personen ihrer Ämter walten,
mächtig beitragen‘, vermögen wir aus dem Grunde nicht zu teilen, weil
der Beweis der Urteilsfällung voranzugehen hat, ein in formali bedenkliches
Urteil jedoch nie nnd nimmer durch späteres Bekanntwerden oder gar nach-
heriges Vorkommen von Tatsachen einwandfrei wird, welche, wenn sie im
Momente der Verurteilung dem Gericht bekannt gewesen wären, dessen
Ausspruch von vornherein hätten unbedenklich erscheinen lassen. Vgl. auch
Langer, Der progressive Strafvollzug in Ungarn, Kroatien und Bosnien
(Berlin 1904), S. 98 f.
2) Heinze, Strafprozessuale Erörterungen (Stuttgart 1875), S. 23.
== 60 u
des X ein Geräusch, einen Aufschrei, einen Lichtschein ode
sonst etwas (sei es überhaupt, sel es für gewöhnlich um diese_
Zeit) Ausserordentliches wahrgenommen und bald darauf den
A aus dem Hause des X kommen gesehen zu haben. Man
hält dies dem A vor, der nunmehr ein umfassendes Geständnis
seines Mordes an X ablegt. Das Geständnis des A beweist
nicht, dass er der Mörder ist; die erwähnten Zeugenaussagen `
beweisen es noch weniger, wenn es auch klar ist, dass so-
wohl das Geständnis wie die erwähnten Zeugenaussagen den
A verdächtig erscheinen lassen. Wenn wir jedoch Geständnis
und Zeugenaussagen summieren, können wir mit unendlicher
Wahrscheinlichkeit — und meistens ist ja der Beweis im Straf-
prozess nichts anderes als eine solche — sagen, dass A der
Täter ist. Oder: N wird um die Sachen Y und Z bestohlen.
In der Folge findet man diese Sachen beim B. Dies beweist
gewiss nicht, dass B der Dieb ist; von letzterm kann sie ja B
optima fide erworben haben. Auch der Umstand, dass B zur
kritischen Zeit in der Nähe des Ladens des N war, wird dann
nicht allzusehr ins Gewicht fallen, wenn erwiesenermaßen auch
viele andere Leute um diese Zeit dort weilten. Allein ander-
seits käme B als Täter sicher nicht weiter in Betracht, wenn
ihm z. B. ein Alibibeweis für die kritische Zeit gelänge. Inso-
fern werden die Tatsachen, dass man bei B die Gegenstände
Y und Z gefunden hat und er sich zur kritischen Zeit in der
Nähe des Ladens des N aufhielt, ihn doch verdächtig erscheinen
lassen. Dieser Verdacht wird zur Gewissheit werden, wenn B
den Diebstahl der dem N gehörigen Gegenstände Y und Z ein-
gesteht. Dass ın solchen Fällen Irrtümer seitens der Zeugen
nicht ausgeschlossen sind, kann ebenso richtig sein wie die
Erwägung, dass das Geständnis falsch sein kann. Aber die-
Regel bleibt doch, dass wenn auch ein halber Beweis kein Be-
weis ist, zwei halbe Beweise einen ganzen Beweis bilden, und
eben dies gar dann, wenn zu den einzelnen Momenten, deren
Summe den Beweis bildet, das Geständnis des Verdächtigen
gehört. Das ist schon so im Empfinden und Mitempfinden der
Menschen gelegen und die Richter, die ja auch nur Menschen,
allerdings Menschen mit grösserer Verantwortlichkeit sind,
werden die einzelnen Momente mit Sorgfalt prüfen und, falls
a TO
diese Priifung die Annahmen, zu welchen sie vorgenommen
wurde, nicht widerlegt, werden sie schwerlich anders urteilen.
Aber die Momente, die einem Urteil, sei es Schuldspruch,
sei es Freispruch, zugrundegelegt werden, miissen nicht bloss
den gesetzlichen Anforderungen entsprechen, sondern wie
H. Gross sagt, auch materiell jeglicher Prüfung standhalten,
„sei es in sachlicher, sei es in logisch-psychologischer Richtung*.*)
Gerade das Geständnis in Strafsachen bedarf solch einer Prüfung.
Wenn wir im Folgenden das Geständnis vom psychologischen
Standpunkt aus einer Betrachtung unterziehen, dürfen wir nicht
vergessen, dass wir Jurisprudenz und empirische Psychologie
nur insoweit vereinigen können, als es der Natur der Sache
nach geht und dass trotz vieler Berührungspunkte dieser beiden
grossen Gebiete menschlichen Wissens doch der Hauptunter-
schied darin besteht, dass die Jurisprudenz mit den Gesetzen
des Staates es zu tun hat, die Psychologie hingegen mit den
Gesetzen der Natur, jenen ewigen, ehrnen, grossen Gesetzen,
nach denen wir alle — mit Goethe gesprochen — unseres
Daseins Kreise beenden müssen, arbeitet. Diese Gesetze können
sich mit jenen nicht decken. Und psychologisch wird mit mehr
minder Berechtigung manches als wahr empfunden, was
juristisch nicht als wahr gilt und nicht als wahr gelten kann,
weil es nicht bewiesen und oft auch nicht beweisbar ist.
Solch einem Gegensatz zwischen Jurisprudenz und Psychologie
begegnen wir auch auf dem Boden des Geständnisses.
B) Vermutetes und stillschweigendes Geständnis.
Während die Strafprozesstheorie als Geständnis nur eine
Aussage zum Nachteile des Aussagenden gelten lässt, ist man
‚bis heute in weiteren Kreisen geneigt, ein Geständnis in jedem
Verhalten einer Person, durch welches sıe sich nach weitver-
breiteter Ansicht belastet, zu erblicken. Der Durchschnitts-
mensch sagt sich einfach: Wäre jemand unschuldig, könnte er
sich so und so verhalten; da er sich jedoch anders verhält,
muss man annehmen, er sei schuldig. Solch einer Erwägung
hat in früherer Zeit auch die Strafrechtspflege sich nicht ver-
schlossen, wenn sie ein vermutetes oder stillschweigendes Ge-
1) H. Gross, Kriminal-Psychologie 2. Aufl., (Leipzig 1905), S. 127.
=> Tí és
ständnis, auch fingiertes Geständnis genannt, kannte. Im
modernen Recht hat das fingierte Geständnis noch immer im
Zivilprozess beim Verfahren in Versäumnisfällen seine Bedeutung,
da bei Ausbleiben oder nicht gehöriger Vertretung einer Partei
oder ihrer Weigerung, sich in die Verhandlung einzulassen, die
gegnerischen Behauptungen, insofern sie nicht durch die
Schriftsätze widerlegt erscheinen, für zugestanden und somit
formell wahr gelten), wogegen es nur im Wege der Wider-
einsetzung in den vorigen Stand Abhilfe geben kann. In Straf-
sachen ıst das anders; gleichwohl erblickt das Volksbewusst-
sein, die öffentliche Meinung in vielen Fällen im Verhalten
des vermeintlichen Täters ein Bekenntnis seiner Schuld. — In
dieser Hinsicht empfiehlt es sich, im Gegensatze zur älteren
Lehre, welche die Begriffe „vermutetes“, „stillschweigendes“
und „fingiertes“ Geständnis, promiscue gebrauchte, zwischen
vermutetem und stillschweigendem Geständnis zu unterscheiden.
Was die Fälle des vermuteten Geständnisses anlangt,
sind sie freilich derart, dass sie oft mit Einstellungsgründen
zusammentreffen und daher strafprozessual bedeutungslos sind.
Aber diese Regel ist nicht ausnahmslos. Auch ist der Fall
denkbar, dass das Ereignis, in welchem die öffentliche Meinung
ein vermutetes Geständnis erblickt, nur in Bezug auf einen
von mehreren Tätern zutrifft und dann, insbesondere wenn Ge-
schworene zur Entscheidung der Schuldfrage berufen sind, hın-
sichtlich der Mittäter als gravamen empfunden wird.
Der Hauptfall, in dem die Öffentlichkeit ein Bekenntnis
der Schuld vermutet, ist der der Flucht, bez. des Flucht-
versuchs. Allein es ist ein sehr gewagtes Unternehmen,
einzig und allein aus Anstalten zur Flucht irgendwie die
Schuld deduzieren zu wollen. Denn das Motiv der Flucht
braucht nicht immer Schuldbewusstsein und Furcht vor Strafe
zu sein; es genügt die Aussicht auf eine langwierige, mit Haft
t) Vgl. 88 331 und 333 deutsche, §§ 396 und 399 österr. Z. P. O.; dazu
Skedl,a.a. O., I. Bd., S. 85. Übrigensspieltauch im Strafverfahren das fingierte
Geständnis insofern eine Rolle, als der ausgebliebene Angeklagte, der das
in seiner Abwesenheit gefällte Strafurteil unangefochten liess, im Falle
ungerechtfertigt erfolgter Verurteilung keinen Entschädigungsanspruch gegen
den Staat hat.
u, O
und Seelenpein verschiedenster Art verbundene Untersuchung,
um auch einen vóllig Schuldlosen, sofern es seine Mittel und
Verhältnisse auch nur halbwegs gestatten, zu bewegen, seine
Heimat für die Dauer der Untersuchung, bez. Verjährungszeit
zu verlassen. Der Gedanke an eine strafgerichtliche Unter-
suchung wirkt auf manche Näturen so stark, dass sie die Flucht
selbst dann ergreifen, wenn ihre Unschuld sich mit der grössten
Leichtigkeit erweisen lässt und zur Feststellung der Unmög-
lichkeit ihrer Täterschaft gar keine allzu grosse Mühe gehört.
Recht bezeichnend ist der Ausspruch eines französischen Arısto-
kraten: „Wenn manmich beschuldigte, die Türme von Notre Dame
gestohlen zu haben, würde ich unverzüglich Frankreich verlassen“.
Die Flucht als Mittel zur Verhinderung einer Verhandlung
ist entschieden contra legem und die öffentliche Meinung neigt
gar leicht zu der Annahme hin, wer der Anwendung des Ge-
setzes aus dem Wege zu gehen trachte, tue dies nicht ohne
Grund. So denkt man vielfach auch in dem Falle, dass mit
gesetzmäßigen Mitteln auf die Einstellung eines Strafver-
fahrens hingearbeitet wird, und oft kann man zu hören be-
kommen, ein Abolitionsgesuch ist Schuldbekenntnis. Viel-
leicht hatte eine derartige Erwägung eine gewisse Berechtigung
in manchen Fällen zu einer Zeit, wo demjenigen, hinsichtlich
dessen eine Abolition erfolgte, ein Recht auf die gerichtliche
Erhebung von Entlastungsbeweisen, die er für seine gänzliche
Schuldlosigkeit liefern zu können glaubte, zustand, wie dies
z. B. in Österreich nach $ 189 der 1853er St. P. O. noch der
Fall war.!) Das heutige Recht kennt eine derartige Einrich-
tung nicht mehr „und macht hiermit unmöglich die gerichtliche
Feststellung der Schuld bez. Unschuld eines strafbarer Hand-
lung Verdächtigen. “?) Darum wird auch in der Abolition
1) Vgl. dazu Herbst, Einleitung in das österreichische Strafprozess-
recht (Wien 1860), S. 181 und Lammasch, Grär. des (Usterr.) Strafrechts
Leipzig 1899), S. 12.
3 Finger, das (österr.) Strafrecht, I. Bd. (Berlin 1894), S. 323. In
treffender Weise erkennt Finger den dem Wesen der Abolition anhaf-
tenden Mangel an, „da dem Verdächtigen an autoritativer Feststellung seiner
Unschuld viel gelegen sein kann.“ Man denke nur daran, dass die Abolition
der Einleitung eines Disziplinarverfahrens und der damit möglicherweise
verbundenen Suspendierung vom Amte nicht hinderlich im Wege steht.
u YE SS
als solcher keine moralische Verurteilung erblickt, da ja Zeiten
und Zustánde kommen kónnen, welche die Abolition, z. B. bei
politischen Delikten, geradezu im Staatsinteresse erheischen.
Wohl aber steht leider nur zu oft die Öffentlichkeit demjenigen
skeptisch gegenüber, der sich selbst um Abolition bewirbt, und
ıst bereit, in diesem Bestreben ein Schuldbekenntnis zu er-
blicken. „Wenn er unschuldig ist, warum fürchtet er sich vor
dem Strafverfahren?“ So hört man reden, man denkt aber
nicht daran, dass es nicht das Strafverfahren, sondern seine
gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen sind, vor denen man
sich fürchtet, während der Beschuldigung als solcher gegen-
über man mitunter ruhig kaltes Blut bewahren könnte. Im
Jahre 1897 befand sich ein österreichischer Advokat über An-
zeige eines seiner Klienten in Strafuntersuchung wegen Be-
trugs; er brachte ein Abolitionsgesuch ein, welchem stattge-
geben wurde. Der betreffende Klient hatte sich in der Folge
an einen andern Advokaten gewendet und 1903 auch diesen
einer strafbaren Handlung beschuldigt. Diesmal wurde jedoch
gegen den Klienten die Anklage wegen Verleumdung erhoben
und das Strafverfahren endete mit seiner Verurteilung. In der
Schlussrede nahm der Staatsanwalt Veranlassung, auch der
Angelegenheit aus dem Jahre 1897 zu gedenken, der völligen
Schuldlosigkeit des seinerzeit in Untersuchung gestandenen
Advokaten Ausdruck zu geben und ihm auf diese Weise eine
glänzende Satisfaktion zu gewähren, wie es im staatsanwalt-
schaftlichen Plaidoyer hiess.) Wenn man bedenkt, dass es
in diesem Falle der Angehörige eines juristischen Berufes war,
der als völlig Schuldloser sich um die Einstellung des gegen
ihn geführten Strafverfahrens im Wege eines Abolitionsge-
suches bewarb, wird man sehr vorsichtig sein müssen mit der
Behauptung, ein Abolitionsgesuch sei Schuldbekenntnis.
Auch in der Unterlassung von Rechtsmitteln darf
keineswegs ein Geständnis erblickt werden. Im Juli 1904 nahm
in Korneuburg bei Wien ein fünfzehnjähriger Junge eine ein-
monatige Arreststrafe wegen Diebstahlsteilnehmungen an. Seine
Eltern ergriffen dagegen Berufung und trotzdem der Staats-
1) ,Gerichtshalle, 48. Jahrgang (Wien 1904), S. 266.
— 74 —
anwalt den Strafantritt als Geständnis hinzustellen versuchte,
musste hinsichtlich des einen Delikts in der Berufungsverhand-
lung mit Freisprechung vorgegangen werden, da tatsächlich
die Voraussetzungen der Anklage irrige waren. !)
Was die Fälle der Privatanklage betrifft, ist man ebenfalls
oft bereit, in dem Verhalten der Parteien ein Schuldbekenntnis
zu erblicken, u. zw. nach Lage des konkreten Falles ein Ge-
ständnis des Angeklagten, manchmal aber auch ein Schuldbe-
kenntnis des Privatanklägers. Dies kommt mitunter, wenn auch
seltener, bei Erledigung eines Beleidigungsprozesses durch
Vergleich vor. Es ist garnicht in Abrede zu stellen, dass
manche Privatanklage erhoben wird, „weil man eben klagen
muss“, während es dem Privatankläger oft sehr angenehm ist,
wenn sich der Angeklagte zu einem Vergleich herbeilässt, zu-
mindest viel angenehmer, als wenn das Gericht der exceptio
veritatis des Angeklagten stattgeben würde. Und es ist inter-
essant, zu beobachten, wie leicht sich die öffentliche Meinung
mit solch einem Ankläger abfindet. „Frisch behauptet — halb
bewiesen.“ Wenn ein Beleidigter in Form einer Privatanklage
sein Recht behauptet, erblickt die öffentliche Meinung darin
diesen halben Beweis und sieht, gar wenn es sich um eine
angesehene Persönlichkeit handelt, die andere Beweishälfte in
der vom Angeklagten abgegebenen Ehrenerklärung, ohne zu
bedenken, dass diese nicht so sehr im Schuldbewusstsein des
Angeklagten als vielmehr in dessen Erwägung, dem sicheren
Vergleich vor dem ihm noch ungewissen Urteil (erster oder gar
höherer Instanz) den Vorzug zu geben, ihr Motiv hat. Dies zuerst
erkannt zu haben ist das Verdienst des grossen Mittermaier,
der aus einem derartigen Vergleichsabschlusse höchstens ein
Indiz, nie aber ein Geständnis abzuleiten für zulässig erklärt,
„weil sehr wohl auch ein Unschuldiger, um der Unbequemlich-
keit der Untersuchung oder den Nachteilen einer Klage zu
entgehen, oder aus Misstrauen gegen die Richter einen solchen
Vergleich abschliessen kann.“ ?) Kehren wir zur Person des
Beleidigten zurück, dem das Recht der Privatanklage einge-
1) Vergl. dazu Lohsing im Gross'schen Archiv 18. Bd., S. 81 f.
? Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, II. Teil (Heidelberg
1840), S. 258 f.
zs U s
räumt ist; eine rechtliche Pflicht zur Klage besteht auf
Grund der St. P. O. nicht‘). Aber eine moralische Ver-
pflichtung kann oft vorliegen. Freilich mit Unterschieden.
Wird jemand ein Lump oder ein Dummkopf genannt, so wird
er gut daran tun, sich den Urheber dieser Ausdrücke erst ein
wenig bei Licht zu besehen und das Ergebnis dieser Betrach-
tung kann sein, dass er sich sagt: „Der Kerl kann mich nicht
beleidigen, also klage ich ihn nicht erst.“ Anders aber ist es
schon mit der Beschuldigung, eine (konkrete) unehrenhafte
Handlung begangen zu haben. In diesem Falle wird Unter-
lassung des Strafverfahrens oder Rücktritt von der Anklage
ohne Abgabe einer Ehrenerklärung seitens des Angeklagten
als ein Schuldbekenntnis des Klägers aufgefasst werden, und
wenn auch ein derartiges Verhalten nicht als prozessuales Ge-
ständnis aufgefasst werden kann, wird doch der Angegriffene
damit rechnen müssen, als verdächtig in Strafuntersuchung zu
kommen.
Beachtenswert sind aber die näheren Umstände, unter
welchen ein Rücktritt von einer Privatanklage erfolgt. In Prag
hat sich der Fall ereignet, dass ein gewesener Bezirkshaupt-
mann, der wegen Adelsfälschung verurteilt worden war, einen
Verteidiger (eines andern Adelsfälschers) wegen Ehrenbelei-
digung belangte, weil er ihm in einer tschechischen juristischen
Zeitschrift Bestechung zur Last legte. Der Angeklagte ver-
mochte zu seiner Verteidigung lediglich bona fides geltend zu
machen, worauf der ehemalige Bezirkshauptmann seine Anklage
fallen liess „zur allgemeinen Verwunderung“, wie sich ein
Zeitungsbericht ausdrückte. Der Kläger hatte vermutlich durch
den bisherigen Verlauf der Verhandlung genug Satisfaktion
empfangen, die er im Falle eines Freispruchs (wegen Irr-
tums des Angeklagten) nicht einbüssen wollte. In einem der-
artigen Rücktritt von einer Privatanklage ein stillschweigendes
Geständnis zu erblicken wäre natürlich ganz verfehlt. Wo,
wie in Österreich, Verleumdungen durch die Presse der Judi-
katur mit Heranziehung der Geschworenen anheimgestellt sind,
wird man aber auch in der Unterlassung der Privatanklage
1) Finger, a. a. O., S. 105.
g
nicht immer ein Schuldbekenntnis sehen djirfen, insbesondere
dann nicht, wenn anderweitig, z. B. im Wege eines Disziplinar-
verfahrens, die Schuldlosigkeit des Angegriffenen festgestellt
worden ist.
Was gar den Selbstmord eines Beschuldigten, bez. Ver-
urteilten betrifft, kann nicht genug daran erinnert werden, dass
„post hoc“ noch nicht „propter hoc“ ist. Gewiss kann nach Lage
des Falles ein Selbstmord als Schuldbekenntnis angesehen
werden; es sei z. B. an den vor einigen Jahren erfolgten Selbst-
mord eines Hauptmannes ungefähr zwei Stunden vor Beginn
einer Verhandlung über eine Klage hingewiesen, die dieser im
Auftrage des Regimentskommandanten gegen den Redakteur
‘eines Blattes, das den Hauptmann der Soldatenmisshandlung
beschuldigte, eingebracht hatte. Aber andererseits können eine
Menge anderer Motive in Betracht kommen, vor allem Ver-
zweiflung. „Wenn oft behauptet wird“, sagt v. Holtzendorff'),
„es könne nicht vorkommen, dass Unschuldige wirklich zum
Tode gebracht würden, so ist daran zu erinnern, dass ein un-
schuldig zum Tode Verurteilter sich 1856 in Hannover das
Leben aus Verzweiflung nahm“; und dieser Fall steht gewiss
nicht vereinzelt da. Es sei nur an das Schicksal eines jungen
Mädchens erinnert, das zu Beginn der achtziger Jahre in Prag
unter der Beschuldigung des Diebstahls verhaftet wurde und
während der Eskortierung von der Karlsbrücke aus plötzlich
den Tod in den Wellen der Moldau suchte; dass sie ihn nicht
fand, ist das Verdienst eines pflichteifrigen Wachmannes, der
dem Mädchen beherzt nachsprang und unter grosser Gefahr
dessen Rettung bewerkstelligte; diese Tat fand nicht nur An-
erkennung durch eine Ordensverleihung, sondern später auch
den Dank der Geretteten, welche aus der Untersuchung völlig
unschuldig hervorging und heute als Gattin eines Kanzlei-
beamten in glücklichster Ehe in einer Stadt Deutschböhmens
lebt.
- Angesichts solcher Erscheinungen wollten wir eben darauf
hinweisen, dass ein vermutetes Geständnis nicht nur juristisch
') v, Holtzendorff, a. a. O., S. 366; vgl. dazu „Neuer Pitaval“,
27. Teil, „Der Stillwächter von Edagsen.“
e IT
unmóglich, sondern auch psychologisch keine einwandfreie
Sache ist. Es wäre eine Voreingenommenheit, wenn man in
all den vorerwähnten Fällen ein Schuldbekenntnis hätte an-
nehmen wollen. Man könnte dadurch grosse Fehler begehen,
wenn schon nicht in dem betreffenden Fall selbst, so doch in
anderen Fällen, die zu jenen in gewissen inneren Beziehungen
stehen, sei es, dass sie für diese in logisch-psychologischer
Hinsicht präjudiziell sind, sei es, dass sie Mitschuldige betreffen
oder dass andere logische Konnexitätsgründe vorliegen.
Von diesem vermuteten Geständnisse zu unterscheiden ist
dasjenige Verhalten einer Person, das wir, wenn schon darin
— mit Unrecht — ein Geständnis erblickt wird, stillsch wei-
gendes Geständnis nennen möchten. Mit dem vermuteten
Geständnis hat das stillschweigende das gemeinsam, dass ein
Schuldbekenntnis expressis verbis nicht erfolgt. Während aber
beim vermuteten Geständnis dasjenige, was man mit einer zu
mindest sehr fraglichen Berechtigung als Schuldbekenntnis an-
zusehen geneigt ist, meistens aus dem ausserhalb des Beschul-
digtenverhöres einer Person an den Tag gelegten Verhalten
dieser Person gefolgert wird, handelt es sich beim stillschwei-
genden Gestándnis um die Unterlassung der Verteidigung beim
Verhöre als Beschuldigter, bez. Angeklagter, also um ein
Schweigen einer Person in demjenigen Stadium des Verfahrens
und gegenüber denjenigen Individualisierungs- oder Konkreti-
vierungsmerkmalen !) einer bestimmten strafbaren Handlung,
wo die prozessuale Möglichkeit einer Gegenäusserung ge-
geben ist; wohlgemerkt: Möglichkeit; denn ein Zwangsmittel
zur Ablegung einer Aussage gibt es einem Beschuldigten, bez.
Angeklagten gegenüber nicht.
In den meisten Straffällen gibt es eine Menge Umstände,
zu denen der Angeklagte schweigt, die er bei seinem an die
Verlesung der Anklageschrift sich anknüpfenden Verhör selbst
bei ausführlicher und mit der Anklage nicht in jeglichem Punkte
übereinstimmender Schilderung des Sachverhalts nicht weiter
in Abrede stell. Wenn A, des Diebstahls angeklagt, zu der
vom Bestohlenen B entworfenen Schilderung der gestohlenen
Sache schweigt, wird unter der Voraussetzung, dass das übrige
') Vgl. über diese Begriffe Finger, a. a. O., S. 70.
— 718 —
Beweismaterial den A als den Täter erscheinen lässt, das Gericht
wohl mit Recht annehmen, dass die von B näher bezeichneten
Gegenstände tatsächlich die vom A gestohlenen sind; und sagt
der X, seine schwere Verwundung sei ihm vom N "am letzten
Sonntag im Gasthause „Zum Bären“ beigebracht worden, dürfte,
wenn N diesen Angaben nicht widerspricht, schwerlich das
Gericht sich veranlasst fühlen, diesfalls noch Erhebungen an-
zustellen.!) Hauptsache bleibt nur, dass sich das Gericht der
Art und Weise der Verteidigung des Angeklagten bewusst
bleibt, so dass, wenn ein Angeklagter z. B. die Beantwortung
der an ihn gerichteten Fragen überhaupt verweigert, in einem
Schweigen auch zu Umständen der angeführten Natur ein still-
schweigendes Geständnis nicht erblickt werden darf. Wenn
aber ein Angeklagter die Verantwortung in der Hauptsache
nicht ablehnt und lediglich zur Mitteilung dieser indirekt rele-
vanten Umstände nichts bemerkt, dürfen sie in der Regel als
von ihm zugestanden angesehen werden. Aber keine Regel
ohne Ausnahme. Das Schweigen kann Gründe haben, welche
ihrer Natur nach das Vorhandensein von Zugeständnissen aus-
geschlossen erscheinen lassen, so wenn der Angeklagte der
Verhandlungssprache nicht zur Genüge mächtig ist, insbesondere
wenn die Zeugen in einem ihm nicht geläufigen Dialekt aus-
sagen. Wenn nun gar der Angeklagte sich in einem Teile der
Verhandlung aufs Leugnen bereits erwiesener Tatsachen ver-
legt, in der Folge jedoch diese prinzipielle Negation aufgibt,
erblickt man in diesem Verhalten mitunter ein stillschweigendes
Geständnis und dies umsomehr, wenn der Angeklagte jeglichen
Schritt zu seiner Verteidigung unterlässt. Diese Annahme eines
Schuldbekenntnisses kann sich aber gerade bei Angeklagten,
die die landesübliche Sprache nicht vollkommen beherrschen,
als trügerisch erweisen, wie folgender Fall zeigen möge: Es
sind jetzt ungefähr zwanzig Jahre her, da wurde in Nieder-
österreich ein italienischer Arbeiter, Carlo Gaötano Girola mit
1) Die von Glaser, a. a. O., S. 603 in der Anmerkung, in dieser
Richtung erwähnten Umstände, welche einer genaueren Überprüfung durch
das Gericht wegen erhöhter Relevanz bedürfen, können als. ausserhalb un-
seres Themas liegend hier übergangen werden; immerhin sei auf seine treffen-
den Bemerkungen a. a. O. verwiesen.
Namen, auf Grund einer Strafanzeige wegen Raubes verhaftet,
den er an einer gewissen Loucky begangen haben soll. Während
die Belastungszeugin Loucky den besten Eindruck machte, war
Girola ziemlich befangen und verantwortete sich in einer wenig
Vertrauen erweckenden Weise; selbst evident erwiesene Um-
stände stellt er in Abrede und zur Agnoszierung der angeblich
geraubten Sachen schwieg er vollkommen, was auf Richter
und Geschworene den Eindruck eines stillschweigenden Zuge-
ständnisses machte, zumal Girola nichts zu seiner Verteidigung
unternahm. So wurde er denn auch verurteilt. Einige Monate
später erschien eine gewisse Blau bei der Staatsanwaltschaft
und gab an, die Loucky habe ihr gegenüber gestanden, dass
ihre Aussagen betreffs des Girola erfunden waren, was dessen
im Wiederaufnahmeverfahren erfolgte Freisprechung zur Folge
hatte. ’)
Dieser Fall lehrt, dass das stillschweigende Geständnis
einer Prüfung nach seinem Grunde zu unterziehen ist. Sowie
hier mangelnde Kenntnis der Sprache kann in anderen Fällen
Furcht vor einem Zeugen, zu dem der Angeklagte in einem
Abhängigkeitsverhältnisse steht, Scheu vor dem Gerichte und
vielleicht nicht in letzter Linie Teilnahmslosigkeit wegen zu
langer Dauer der Verhandlung der Grund sein, aus welchem
ein Widerspruch unterbleibt. Es erwächst daher allen an der
Strafrechtspflege beteiligten Personen und insbesondere der
Verteidigung die Pflicht, die persönlichen Verhältnisse des
Angeklagten und das Gesamtbild, das seine Verantwortung
bietet, zu berücksichtigen. Nur so nähert man sich einer
richtigen Beantwortung der Frage, ob und inwiefern ein
Schweigen des Angeklagten als Zugeständnis aufgefasst werden
darf.
C) Das ausdrückliche Geständnis.
Aus den grossen Gefahren, welche mit der Annahme eines
vermuteten, bez. eines stillschweigenden (Grestándnisses ver-
bunden sind, ergibt sich die Folgerung, dass ein derartiger
Geständnisbegriff vom Standpunkte der Strafrechtspflege aus ein-
fach unhaltbar ist und wir gelangen daher zu dem Ergebnisse,
1) Vgl. über diesen Fall Gernerth in Goltdammers Archiv, 31. Bd.,
S. 494,
— 80 —
dass wie in juristischer so auch psychologischer Hinsicht nur
ein ausdrückliches Geständnis als dasjenige Beweis-
mittel, das wir Geständnis nennen, in Betracht -zu kommen
geeignet ist. Es ist nicht erforderlich, dass ein derartiges Ge-
ständnis gerade aus gesprochenen Worten oder aus Worten
überhaupt bestehe. Eine schriftliche Äusserung, deren Inhalt
den Schreiber belastet, !) kann diesfalls ebenso in Betracht
. kommen wie z. B. eine Geste, die gemeiniglich für „ja“ oder
„nein“ hingenommen wird. Wenn man durchaus von einem
animus confitendi, so verworren dieser Begriff auch ist, reden
will, so kann er sich nur auf das Moment der Ausdrücklich-
keit, also darauf beziehen, dass das, was durch Worte oder
Geberden vom Verdächtigen zu seinem Nachteil geäussert
wurde, tatsächlich geäussert werden wollte; daher kann eine
im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit zum Nachteile des
Aussagenden gemachte Äusserung nicht als Geständnis gelten,
desgleichen eine erzwungene Aussage nicht, da der Zwang den
Willen ausschliesst. Wohl kann eine im Rausche gemachte Be-
merkung zu Beweismitteln führen und insofern mag
nach Lage des Falles dem „in vino veritas“ auch für
die Strafrechtspflege eine gewisse Bedeutung nicht ganz abzu-
sprechen sein; aber als Beweismittel selbst kann solch eine
Äusserung nicht betrachtet werden. Auch Anschuldigungen,
die jemand im Schlafe oder im Fieberdelirium gegen sich erhebt,
sind keine Gestándnisse, „da sie“, wie v. Krafft-Ebing ?)
betont, „aus dem unbewussten Geistesleben hervorgingen und
es leicht begreiflich ist, dass ein Angeklagter im Sinne der
Anklage träumt oder deliriert.*
Keineswegs erscheint es uns jedoch erforderlich, dass die
Absicht auch auf Zufügung eines Nachteils, einer Belastung
im strafrechtlichen Sinne gerichtet ist, so dass also auch die-
jenigen Selbstbelastungen Geständnisse sind, die der Volks-
mund als „herausgerutscht“ bezeichnet und hinsichtlich deren
Urheber die Erwägung zutrifft: „Doch kaum ist ihm das Wort
entfahren — Möcht’ er’s im Busen gerne bewahren.“ —
1) In dieser Hinsicht kommt vor allem die kriminalpsychologisch mehr-
fach interessante Schrift von Ferriani, Schreibende Verbrecher (Über-
setzung von Ruhemann, Berlin 1900) in Betracht. E
167% 2 v. Krafft-Ebing, Grundzüge der Kriminalpsychologie (Erlangen
y da
Wa BA s
Schon die älteren dem Grundsatz gesetzlicher Beweis-
theorie huldigenden Kodifikationen kannten denn auch nur ein
ausdrückliches (expressis verbis abgelegtes) Geständnis an und
nur das gerichtliche (d.h. vor dem erkennenden Richter
abgelegte) Geständnis machte vollen Beweis, anfangs ohne,
später mit Zulassung eines Gegenbeweises. Streng prozessual
betrachtet hat sich eigentlich in dieser Hinsicht nur soviel ge-
ändert, dass unter dem Grundsatze der freien Beweiswürdi-
gung auch ein Geständnis durch Geberden anerkannt werden
muss, nämlich insofern, als nur solche gerichtliche Geständnisse
zur unmittelbaren Wahrnehmung durch das Gericht geeignet
sind. Alle anders gearteten Geständnisse kommen nur mittel-
bar als Geständnisse in Betracht, mittelbar nämlich in dem
Sinne, dass sie noch einer Ergänzung durch das Beweisver-
fahren mehr minder bedürftig sind; diese Ergänzungen können
verschiedener Art sein. Hauptsächlich ist es hier wiederum
das Geständnis selbst, welches suppletorisch dem aussergericht-
lichen Geständnis zur Seite tritt, so, wenn der Angeklagte ge-
ständig ist, einen ihn belastenden Brief geschrieben, einen
Aufsatz strafbaren Inhaltes zum Druck befördert, einer anderen
Person gegenüber im Sinne seiner Täterschaft sich geäussert,
im Vorverfahren eine Aussage zu seinem Nachteil gemacht zu
haben. Weigert er sich jedoch, seinem aussergerichtlichen
Geständnis durch eine derartige Bestätigung den Stempel eines
unmittelbaren Beweismittels aufzudrücken, so kann das ausser-
gerichtliche Geständnis selbst Beweisgegenstand werden, d. h.
einer Beweisaufnahme bedürftig sein, die durch Schreibsachver-
ständige (denen unterallen Sachverständigen man am vorsichtig-
sten gegenüberstehen muss), Verhór von Mitschuldigen, Einver-
nahme von Privatpersonen, Beamten der Sicherheitsbehörden,
ev. Untersuchungsrichtern und deren Schriftführern hergestellt
werden muss.
Doch sind das rein strafprozessuale Erwägungen. Liegt
em gerichtliches Geständnis vor oder ist ein aussergericht-
liches Geständnis in der eben angeführten Weise vor Ge-
richt bestätigt worden, so hört der Unterschied zwischen
gerichtlichem und aussergerichtlichem Geständnis auf — das
Gericht ist in die Lage versetzt, in den Urteilsgründen sich
0
— 82 —
auf ein Geständnis (unmittelbar oder mittelbar) zu berufen.
Ob und welche Beweiskraft es dem Geständnis beilegt, hat es nach
den Grundsätzen freier Beweiswürdigung zu beurteilen und
das kann nur in der Weise geschehen, dass das Geständnis
picht nur nach seiner äussern Seite, d. h. danach, ob es mit
den anderen Beweismitteln übereinstimmt oder wenigstens ver-
einbar ist, sondern auch nach seinem innern Werte, m. a. W. so-
wohl auf seine objektive als auch auf seine subjektive Glaubwürdig-
keit geprüft wird; das Geständnis muss, um es kurz zu sagen,
einer Prüfung in logischer wie psychologischer Hinsicht unter-
zogen werden. Psychologisch macht es allerdings einen bedeut-
samen Unterschied, vor wem ein Geständnis abgelegt worden ist.
Wenn Rulf!) die Gestándnisse einteilt in solche, die vor
dem erkennenden Richter oder einem andern Richter, vor
einem nichtrichterlichen Beamten oder. einer Privatperson ab-
gelegt werden und im Anschlusse an diese Einteilung die An-
sicht äussert, „die Glaubwürdigkeit des Geständnisses stuft
sich im Allgemeinen in dieser Reihenfolge nach unten hin ab,“
so steckt darin (wenn davon abgesehen wird, dass dies nicht
das einzige Moment ist, das bei der Geständnisprüfung in Be-
tracht kommt) gewiss ein Kern psychologischer Wahrheit.
Dass der Durchschnittsmensch es Behörden gegenüber viel
strenger mit der Wahrheit nimmt als im Verkehr mit Privat-
personen, ist eine bekannte Sache. Selbst Leute, die nicht
im mindesten psychopathisch veranlagt sind, werden oft ım
Verkehre mit Privatpersonen falsche Geständnisse ablegen, sei
es, dass sie die von ihnen angeredete Person anulken, ohne
dass letztere es merkt, sei es, dass sie, wenn „(Gesinnungs-
genossen“ sich begangener Delikte rühmen, nicht zurück-
stehen zu dürfen glauben?), sei es, dass sie durch Zuge-
1) Rulf, der österreichische Strafprozess, 3. Aufl. (Wien, Prag, Leipzig
1895), S. 151.
2 Dies kann aus den verschiedensten Gründen geschehen; Renomier-
sucht spielt dabei eine grosse Rolle. Auch ist es denkbar, dass man durch
ein falsches Geständnis einem Verbecher gegenüber das Vertrauen gewinnen
will, um, falls dessen Delikt zur Kenntnis der Behörde gelangt, man nicht
in den Verdacht der Urheberschaft der Anzeige kommt und sich so der
Gefahr der Rache des Verbrechers aussetzt. Schliesslich — aber nicht zuletzt
— denke man auch an den agent provocateur.
e. O es
stándnis eines ihnen zur Last gelegten Deliktes einen
willkommenen Anlass zum Abbruch lästiger Beziehungen,
z. B. bei längst beabsichtigter Änderung des Dienst-
herrn, erblicken. Was die vor einem nichtrichterlichen
Beamten gemachten Bekenntnisse anlangt, kommen fast aus-
schliesslich die beim Verhöre vor der Sicherheitsbehörde
(Polizei) abgelegten in Betracht. Dass manche polizeilichen
Geständnisse falsch sind, ist eine längst bekannte Tatsache,
die wohl hauptsächlich darin ihren Grund hat, dass die Krimi-
nalpolizei fast überall die am meisten in Anspruch genommene
Behörde, daher nolens volens oft zu summarischer Tätigkeit
gezwungen ist, was zur Folge hat, dass sie sich auf die Fest-
stellung des objektiven Tatbestands beschränkt und vielleicht
mehr als der Untersuchungsrichter auf die Erlangung eines
Geständnisses hinarbeitet. Schon Mittermaier !) steht den
vor einer Polizeibehörde abgelegten Geständnissen sehr skeptisch
gegenüber, Haußner ?) klagt neuerdings über „Polizeibeamte,
die in blindem Übereifer entlastende Tatsachen nicht beachten,“
und Wilhelm 8) scheint auch gewisse Bedenken nicht ganz
unterdrücken zu können wenn er unlängst in bezug auf einen
konkreten Fall wörtlich sagt: „Ob das polizeiliche Protokoll
ein ursprüngliches Zugeständnis des K, tatsächlich richtig
wiedergegeben hat, oder ob es übertrieben ist, lässt sich nicht
feststellen.“ Der Untersuchungsrichter lasse sich niemals von
der Prüfung eines in einem polizeilichen Protokoll niederge-
legten Geständnis abhalten.
Die Sicherheitsbehörde hat die Gerichte in der Ausübung
Mittermaier, a. a. O, S. 257 weil „die gewöhnliche, oft nicht
schr vorsichtige Verhörsweise der Polizeibeamten erhebliche Zweifel be-
gründet, ob das Geständnis ernstlich genug abgelegt war;'* vgl. auch
Mittermaier, Die Lehre vom Beweise (Darmstadt 1834), S. 253: „Ge---
gen die vor Polizeibehörden abgelegten Geständnisse spricht noch die Rück-
sicht, dass nach der häufig sehr summarischen Vernehmungsweise der
Polizeibeamten, welche es mit Suggestionen und captiösen Fragen nicht ge-
nau nehmen, Besorgnisse wegen der Art der Erlangung des Geständnisses
entstehen.“
?, Haußner im Gross'schen Archiv. 14. Bd., S. 156.
3 Wilhelm im Gross'schen Archiv, 14. Bd., S. 58; vgl. auch Auer,
Zur Psychologie der Gefangenschaft (München 1905), S. 103.
6*
> DE es
der Strafrechtspflege zu unterstützen; in dieser ihrer Tätigkeit
hat sie jedoch die Grundsátze des Strafverfahrens zumindest
insoweit zu beachten, als sie nichts vornehmen darf, was
diesen Grundsätzen widerspricht. Wenn nun hinsichtlich der
Erlangung von Geständnissen diese Grundsätze nicht immer
beachtet werden, ist dies sehr bedauerlich; falsch jedoch ist
es, zu behaupten, dass in Sachen des Geständnisses der Polizei
manches erlaubt sei, was dem Richter verboten ist. ?)
Diese Ansicht findet in keiner einzigen strafprozessualen
Bestimmung auch nur den schwächsten Anhaltspunkt.’
Es erübrigt nunmehr das gerichtliche Geständnis und, was
das betrifft, gibt Rulf dem Geständnisse vor dem erkennenden
Richter den Vorzug vor dem vor einem andern Richter abge-
legten. Wenn Rulf unter dem „andern Richter“ den in einer
andern Sache als der des Beschuldigten tätigen Straf- oder
Zivilrichter meint, ist ihm im allgemeinen wohl nicht zu wider-
sprechen. Soll aber, wie es den Anschein hat, unter dem
„andern Richter“ der Untersuchungsrichter gemeint sein und
sonach das Geständnis vor dem erkennenden Richter in bezug
auf seine Glaubwürdigkeit höher eingeschätzt werden als das
vor dem Untersuchungsrichter, so kann die von Rulf vertre-
tene Ansicht nicht als einwandfrei gelten.
Gewiss ist es erlaubt, das, was Hans Gross?) über die
Zeugenaussage bemerkt, mutatis mutandis auch auf die Be-
schuldigtenaussage anzuwenden. Wie die meisten wichtigen
Zeugen, haben auch die meisten Beschuldigten drei Aussagen
abzulegen, vor dem Gendarmen, vor dem Untersuchungsrichter
und in der Hauptverhandlung, und die von Gross für seine
Behauptung, dass ın der Regel die vor dem Untersuchungs-
richter abgegebene Aussage die weitaus beste ist, angeführten
Gründe haben m. E. für die Beschuldigtenaussage mindest
dieselbe Berechtigung. Um die Ausführungen von Gross
kurz zu resumieren: In der Amtsstube des Untersuchungs-
richters herrscht die Ruhe, welche den zu Vernehmenden in
eine gesammelte, andächtige Stimmung bringt. Wird auch
einem Beschuldigten gegenüber der Untersuchungsrichter nicht
-1 Weingart, Kriminaltaktik (Leipzig 1904), S. 10.
2) Gross in seinem Archiv, 13. Bd., S. 196.
u BB a
sagen können, dass Schuld oder Unschuld eines Menschen von
diesem Verhöre abhänge, so ist es doch der Untersuchungs-
rıchter, der mehr als der Beamte der Sicherheitsbehörde, aber
auch mehr als der Vorsitzende in öffentlicher, feierlich-gemes-
sener Hauptverhandlung als Mensch zum Menschen, in dem
er „stets seinen gefallenen oder unschuldig verdächtigten
Mitbruder sieht“ 1) zu sprechen Gelegenheit hat, zumal ausser
dem Gerichtsschreiber in der Regel niemand anderer zugegen
ist. Diese Gelegenheit soll der Untersuchungsrichter ausnützen
und er kann leicht, ohne sich verpönter Mittel zu bedienen,
ein Geständnis erlangen. Haußner stellt ın seiner äusserst
lesenswerten Abhandlung über „Das Geständnis des Ver-
brechers“ ? als Voraussetzung zur Erlangung eines Gestánd-
nisses die psychologisch wichtige Forderung auf, „den Be-
schuldigten kennen zu lernen,“ sich ein Bild über seine Persön-
lichkeit, seine häuslichen Verhältnisse, seine wirtschaftliche
Lage u. s. w. zu bilden und auf diese Weise das rein Mensch-
liche anstatt des Bureaukratischen hervorzukehren, um auf
diesem Wege das Vertrauen des Beschuldigten zu gewinnen.
Hat man einmal die Kenntnis der wirtschaftlichen und häus-
lichen Verhältnisse, dann hat man in vielen Fällen Anhalts-
punkte (— mit dem von Haußner gebrauchten Wort „Auf-
schluss“ ist vielleicht zuviel gesagt —) über das Motiv des
Verbrechens, das man in der Folge auch ergründen kann.
Merkt der Beschuldigte, dass man seine Gesinnung erkannt hat,
dann ist auch oft die Möglichkeit vorhanden, dass er vom
Leugnen zum Gestehen übergeht. Kommt auch das Geständ-
nis nicht immer sofort, so lässt sich doch solch ein Verbrecher
ins Gewissen reden. Der auffahrende Verbrecher verstummt,
sein Jautes Benehmen verwandelt sich in stillen Trotz, bis die
Stille durch ein oft unter heissen Tränen der Reue über die
Tat und des Kummers wegen des den Angehörigen zugefügten
Herzleides erfolgendes Geständnis unterbrochen wird. Und
derartige Geständnisse — dies sei, unsern weiteren Aus-
führungen vorgreifend, schon hier erwähnt — haben immer
1) Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Krimi-
nalistik, 4. Aufl. (München 1904) I. Bd. S. 114,
2) Im Gross'schen Archiv, 13. Bd., S. 267 ff.
=> B
einen grossen Kern von Wahrheit; denn „wess das Herz voll
ist, dess geht der Mund über.“ Werfen wir uns aber die
Frage auf, wer mit dem Verbrecher so umgehen kann, so
lautet die Antwort: Nur der Untersuchungsrichter. Aus diesem
Grunde schienen uns die vor dem Untersuchungsrichter abge-
legten Geständnisse die wertvollsten, selbst für den Fall, dass
sie nicht immer umfassend sind und erst in späteren Verhören,
vielleicht gar erst in der Hauptverhandlung ihre Ergänzung
erfahren. In unserer Zeit, die ja keinen Fall mehr kennt, in
welchem das Geständnis die conditio sine qua non zur Verur-
teilung oder auch nur zur Verhängung einer ausserordentlichen
Strafe wäre, liegt die kriminalpolitische Bedeutung des Ge-
ständnisses vor allem darin, dass es über das Motiv der Tat
Aufschluss gibt. Den ihre Tätigkeit lediglich auf die Fest-
stellung objektiver Verhältnisse konzentrierenden Sicherheits-
behörden kann dies aber ebenso selten gelingen wie der Haupt-
verhandlung, bei deren Öffentlichkeit der Verbrecher sein Herz
nicht so ausschüttet wie vor dem Untersuchungsrichter.
* $
*
An dieser Stelle sei auch der sog. qualifizierten Geständ-
nisse gedacht, welche die ältere Terminologie dahin charakte-
risiert, dass bei ihnen die Verdächtigen zwar die Handlung
eines Verbrechens einräumen, dabei aber einen und den andern
Umstand, um die Strafbarkeit aufzuheben oder wenigstens zu
vermindern, hinzusetzen, !) eine Begriffsbestimmung, die in der
Hauptsache auch von der Doktrin des geltenden Strafprozess-
rechts festgehalten wird. Allein wenn wir einerseits uns die
Begriffe der Konkurrenz des materiellen und der Konnexität
des formellen Strafrechts vor Augen halten, anderseits damit
rechnen, dass diese auch in kriminalpsychologischer Hinsicht
Umfang und Inhalt eines Geständnisses zu beeinflussen geeignet
sind, werden wir vom letztern Standpunkte aus das qualifizierte
Geständnis nach folgendem Schema zu betrachten haben:
a) ; Be ein Delikt;
b) a mehrere Delikte;
1) So Stübel, Kriminalverfahren, II. Bd., (Leipzig 1811), S. 64.
a O se
c) , ein Delikt;
d) l mehrere Verdächtige | mehrere’ Delta:
Ad a). Wenn einem Verdächtigen nur ein Delikt zur
Last liegt, so ist ein qualifiziertes Geständnis hauptsächlich in
der Weise möglich, dass zwar die Täterschaft zugegeben,
jedoch ein anderer als der zu dem vorgehaltenen Delikte ge-
setzlich erforderlicher Vorsatz, ein Schuld- oder Strafaus-
schliessungsgrund oder ein Milderungsgrund behauptet wird.
Was den auf Entlastung abzielenden Teil solch einer Beschul-
digtenaussage anlangt, bietet er in psychologischer Hinsicht
weiter nichts besonderes, da das Streben nach Einstellung des
Strafverfahrens , Freisprechung oder wenigstens möglichst
glimpflicher Behandlung aus der menschlichen Natur leicht er-
klärlich ist. Hierher gehören die Fälle, in denen Angriffe auf
Leib und Leben zugestanden, jedoch mit Notwehr zu ent-
schuldigen versucht werden, ferner der so häufige Fall des
Geständnisses eines Tötungsdelikts unter gleichzeitiger Be-
streitung der Tötungsabsicht, des Geständnisses einer eines
Raubes verdächtigen Person, die als geraubt bezeichneten
Sachen zwar weggenommen, dies jedoch ohne Gewaltanwen-
dung getan zu haben u. dgl. m.
Ad b). Liegen einem verdächtigen mehrere Delikte
zur Last, so muss sein qualifiziertes Geständnis hauptsächlich
in doppelter Richtung in Betracht kommen, nämlich in bezug
auf jedes einzelne Delikt und in bezug auf ihre Gesamtheit.
In erster Hinsicht ist es möglich, dass sich ein qualifiziertes
Geständnis in der ad a) erwähnten Linie bewegt. Was jedoch
die Gesamtheit der Delikte anlangt, hat die Möglichkeit in
Betracht zu kommen, dass einige Delikte gestanden, andere
in Abrede gestellt werden. Als Gradmesser der Glaubwürdig-
keit eines derart qualifizierten Geständnisses kann innerhalb
gewisser Grenzen die Härte der angedrohten Strafe dienen.
Ist A wegen Mordes und Diebstahls in Untersuchung, betreffs
des Diebstahls geständig, betreffs des Mordes nicht, so ist die
Annahme der Richtigkeit dieses Geständnisses viel weniger er-
laubt als in dem umgekehrten Falle, wenn nämlich der Mord
vollinhaltlich, d. h. ohne Behauptung von Notwehr, Zwang usw:
zugegeben und nur der Diebstahl in Abrede gestellt wird. Ein
— 88 —
anderer Gradmesser ist die sozialethische Bedeutung der ein-
zelnen Delikte; wenn z. B. A ein Duell mit tödlichem Aus-
gange zugibt, eine ihm gleichzeitig zur Last liegende Wechsel-
fälschung jedoch hartnäckig in Abrede stellt, berechtigt dieses
Verhalten nicht zu der Annahme, dass mit Rücksicht auf das
Geständnis des mit härterer Strafe bedrohten tödlichen Zwei-
kampfes und das Leugnen der nicht so streng zu ahndenden
Wechselfälschung diese Aussage richtig sei; der Zweikampf ist
eben kein entehrendes Delikt wie der Betrug, wird daher trotz
eventuell schwererer Strafdrohung leichter eingestanden als
letzterer. Ob nun die Wahrheitsprüfung solch einer Aussage
nach dieser, jener oder sonst einer Erwägung vorzunehmen ist,
bleibt stets quaestio facti und dürfte nicht immer auf besondere
Schwierigkeiten stossen, wenn der Grund für das Bekennen
des einen und das Leugnen des anderen Delikts einmal er-
mittelt ist.
Grosse Schwierigkeiten ergeben sich erst dann, wenn von
mehreren Delikten derselben Gruppe einige in Abrede gestellt,
andere gestanden werden. Dass es nicht gleichgiltig ist, ob
man x oder x + y Diebstähle auf dem Kerbholz hat, ist ja mit
bezug auf die Frage der Strafzumessung ganz klar. Die
Schwierigkeit der Beurteilung solcher teilweiser Geständnisse
besteht eben darin, dass, wie Gross treffend hervorhebt, *)
einerseits der Beweis für das Nichtgestandene um so schwerer
zu erbringen ist, anderseits das Gestandene durch das Nicht-
gestehen des Restes zweifelhaft erscheint. Wenn A beschuldigt
wird, die bei ihm gefundenen Sachen x und y, überdies aber
auch die Sache z entwendet zu haben und den Diebstahl von
x und y gesteht, den von z jedoch leugnet, kann eine der-
artige Aussage an sich betrachtet objektiv wahr sein, sie m uss
es aber nicht; A kann auch der Dieb der Sache z sein, hofft
jedoch in diesem Punkte freigesprochen zu werden; es ist aber
auch der Fall denkbar, dass mit Rücksicht darauf, dass A beim
Diebstahl von x und y ertappt wurde, der ungerechtfer-
tigte Verdacht aufkommt, A sei auch der Dieb der Sache z.
Aber auch der Fall ist möglich — und gerade beim Dieb-
1) Gross , Kriminal-Psychologie S. 132.
— 8 —
stahl kommt er öfter vor, als man anzunehmen geneigt sein
mag, — dass sich A im Stillen sagt: „Ich bin zwar nicht der
Dieb der Sache z; aber wegen des von mir begangenen Dieb-
stahls von x und y werde ich ohnehin verurteilt. Da nehme
ich auch den von meinem Freunde B begangenen Diebstahl
von z, auf mich, da es mir, wenn ich schon verurteilt werde,
nicht weiter darauf ankommt, ob ich paar Wochen länger gut
aufgehoben bin. B wird mir dafür, dass er durch meine
Liebenswürdigkeit straflos ausgeht, dankbar sein und während
der Dauer fmeiner Haft für meine Geliebte sorgen.“ Doch
wird nur in den seltensten Fällen ein derartiges Geständnismotiv
zur Kenntnis des Gerichts gelangen.
Die Geständnisprüfung muss dann die Erwägung in den
Vordergrund treten lassen, dass einer nur seine eigene Tat
gestehen kann; man wird also gut daran tun, ihm solche
Fragen zu stellen, deren richtige Beantwortung nur dem wahren
Täter möglich ist, in unserm Fall z.B. den A fragen, wie die
Sache z aussieht, woher er sie genommen hat u. s. w.
Anders liegt die Sache, wenn die Wertsumme der ge-
stohlenen Gegenstände für das Strafmass ausschlaggebend ıst
und nur bis zur Höhe jener Summe, die eine strafrechtlich
relevante Wertgrenze bedeutet, eingestanden wird. Hier liegt
ein triftiger Grund für das nur teilweise Geständnis klar zu
tage. Fehlt es aber an der Kenntnis solch eines Grundes,
muss der Beweis für die in Abrede gestellten Delikte erst
recht auf anderem Wege gewonnen werden.
Ad c). Wird ein Delikt mehreren Personen zur Last
gelegt und sind einige von ihnen geständig, so können sie das
in der Weise tun, dass sie entweder die Schuld allein auf
sich nehmen und so die leugnenden Mitbeschuldigten entlasten
oder durch ihre Aussagen mitbelasten. So sehr im ersten
Falle der Regel noch die Vermutung für die Richtigkeit des
Geständnisses spricht, kann es doch nach dem ad b) Gesagten
vorkommen, dass hier (ganz oder teilweise) Unschuldige die
Schuld anderer auf sich nehmen. Werden hingegen durch
Geständige leugnende Mitbeschuldigte belastet, so muss die
Aussage der Geständigen geteilt werden in Geständnis und in
Zeugnis zum Nachteile der Mitbeschuldigten, d. h. es muss zu-
— 90 —
nächst, wie Gross sagt, !) „Alles bei Seite geschoben werden,
was zur eigenen Entlastung dienen und dem anderen Schuld
zuschieben soll.“ Als weitere Tätigkeit empfiehlt Gross die
Erwägung, wie der Fall ohne und wie er mit Belastung der
Mitschuldigen sich konstruieren lässt. Lässt sich sodann ein
Plus in der Selbstbelastung feststellen, so ist der Gegenwert
zu suchen, „den der Gestehende für sich darin fand, dass er
mit dem Mitbeschuldigten auch sich selbst belastet hat.“ Hier-
bei werden die verschiedensten Motive zu Tage gefördert,
deren Prüfung für die Würdigung der Beweiskraft des Ge-
ständnisses bedeutsam ist, |
Ad d). Was schliesslich den Fall anlangt, dass von
mehreren wegen mehrerer Delikte Verdächtigen ein Teil
geständig ist, der andere sich aufs Leugnen verlegt, kommt
diese Möglichkeit lediglich als Kombination des ad a — C)
Gesagten in Betracht, weshalb auf das dort Angeführte ver-
wiesen sei. Hauptsache bleibt immer, davon auszugehen,
welcher Anteil der einzelnen Mitschuldigen an den mehreren
Delikten behauptet wird, und danach sich bei der Prüfung des
Geständnisses zu richten. —
Diese Prüfung des Geständnisses muss, wie bereits er-
wähnt in logischer und psychologischer Richtung vorgenommen
werden; diese beiden Richtungen können im einzelnen Falle
nicht immer scharf getrennt werden; auch kann man im Allge-
meinen nicht sagen, ob die logische Prüfung, d. i. die Erórte-
rung der Frage, in welchem Verhältnisse ein Geständnis zu
den anderen Beweismitteln steht, vor der psychologischen Prü-
fung, d. i. hauptsächlich der Erforschung des Geständnismotivs
den Vorzug verdient. Logik und Psychologie arbeiten aber
hier ineinander und beiden Standpunkten muss bei der Prü-
fung des Geständnisses Rechnung getragen werden.
D) Das Motiv des Geständnisses im Allgemeinen.
Bereits des óftern haben wir mit der Möglichkeit gerechnet,
dass ein Geständnis falsch sein könne; es erwächst uns daher
die Aufgabe, zu untersuchen, wann dies der Fall ist, und dies
1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 13t.
an e ss
können wir nur in der Weise, dass wir uns Klarheit zu ver-
schaffen trachten darüber, warum, aus welchem Grunde, zu
welchem Zwecke, ein Geständnis abgelegt worden ist; m. a.
W. die Ergründung des Motivs ist einer der Prüfsteine des
Geständnisses in Strafsachen. Trotzdem sei gleich hier —
unseren Ausführungen vorgreifend — erwähnt, dass die Er-
gründung des Motivs gar oft mit grossen Schwierigkeiten ver-
bunden ist, einerseits, weil nicht immer das wahre Motiv an-
gegeben wird, ja nicht angegeben werden kann, anderseits,
weil falsche Motivierungen keine Seltenheiten sind.
Ganz abstrakt betrachtet erscheint das Geständnis als eine
Tat, als Erfolg einer Handlung, also — mit v. Liszt?) ge-
sprochen — einer willkürlichen Verursachung [oder Nicht-
hinderung] einer Veränderung in der Aussenwelt; diese Tat
nennen wir Geständnis, die Tätigkeit (Handlung), als deren
Erfolg das Geständnis erscheint, das „Gestehen.“ Festhalten
müssen wir jedoch daran, dass dieser Erfolg willkürlich
herbeigeführt sein muss. Die Willkür oder das Wollen ist es,
was diese Verursachung zur Handlung macht. Nun giebt es
kein Wollen an sich, sondern nur ein Wollen eines bestimmten
Etwas. Treffend bemerkt Finger, ?) dass wir uns nicht als
schlechthin wollende, sondern als Etwas wollende finden. Die-
ses gewollte Etwas ist der Zweck unseres Wollens. Den In-
halt unseres Wollens bilden Vorstellungen (und die Summe
derjenigen Vorstellungen, durch die wir uns einen Erfolg als
Zweck der Handlung vergegenwärtigen, nennen wir Absicht).
Der Vorstellungsprozess ist ein Bewegungsprozess gedanklicher
Natur. Vorstellungen und Gedanken bedingen den Willens-
prozess, indem sie Gefühle und Empfindungen erwecken, bez.
beeinflussen. Das Wollen ist nicht nur von intellektuellen,
sondern auch von motorischen Momenten bedingt, indem Em-
pfindungen allein kein Wollen bewirken, wenn nicht aus ihnen
Triebe hervorgehen, welche auf die Handlung abzielen. Da-
mit nun diese Triebe zum Wollen sich entfalten, bedarf es der
Mitwirkung einer Reihe anderer bewegender Faktoren, der sog.
1) v. Liszt, Lehrbuch d. d. Strafrechts (10 Aufl.) S. 102.
?) Finger a. a. O., I. Bd., S. 150.
3 Janka, Die Grundlagen der Strafschuld (Wien 1885), S. 25.
ut. > Yon
Willensmotoren, die man, je nach dem, ob sie im Menschen
oder in der den Menschen umgebenden Aussenwelt ihren
Ursprung haben, innere, bez. äussere Willensmotoren nennt.
Das Verhältnis dieser beiden Arten von Willensmotoren ist
ein wechselseitiges; äussere können die inneren, innere die
äusseren Willensmotoren in Bewegung setzen, wenn auch
letzteres nur scheinbar der Fall ist; denn auch das einem
innern Motor entspringende Wollen steht, wie Janka!) be-
merkt, „mit der Aussenwelt nicht ausser Zusammenhang, da
auch die Vorstellung, der Gedanke, wenn auch auf langem,
verschlungenem, nicht verfolgbarem Wege stets und überall
auf äussere Eindrücke sich zurückführt.“ Dennoch sind die
inneren Willensmotoren die bei Weitem bedeutsameren; sie
sind es ja, welche die Verbindung des Wollens mit dem Innern
des Menschen bewirken und daher bedingt sind von der per-
sönlichen Natur des Wollenden, von seiner Individualität. Mag
ein äusserer Anreiz noch so stark sein, vermag er doch für
sich nicht das Mindeste, wenn er nicht im Intellekt des Indi-
viduums ein Echo findet; denn nur der Intellekt ist es, der die
inneren und äussern Motoren zum Willensakt auszuspinnen ver-
mag. Den durch einen äussern Anreiz bewirkten Vorstellungen
können nun aus dem menschlichen Bewusstsein, in welchem
eine Summe latenter Vorstellungen gebunden ist, Gegenvor-
stellungen entgegenwirken, welche ihrerseits Gegenmotoren
erzeugen und eine Wechselwirkung zwischen Motoren und
Gegenmotoren hervorrufen. Dies bewirkt dann einen innern
Kampf, der, wenn auch stets dem Gefühlsleben ein gewisser
Einfluss zukommt, dewegen für gewöhnlich nicht jenen Um-
fang anzunehmen braucht, dass er im Innern des Menschen
kein genügend grosses Gebiet findet und etwa äussere Erschei-
nungsformen annimmt; aber ein Kampf bleibt diese Wechsel-
wirkung von Motoren und Gegenmotoren unter allen Umstän-
den und zwar ein Kampf, der niemals unentschieden verläuft,
mag die Entscheidung auch längere Zeit auf sich warten lassen,
m. a. W. ein Gefühl des Zweifels und der Unentschlossenheit
platzgreifen. Am Ende siegen doch entweder die Gegen-
—
1) Janka, a. a. O., S. 35.
u, G un
motoren; der Willensprozess nimmt dann einen negativen Ver-
lauf, ein Wollen kommt nicht zustande. Oder die Motoren
tragen den Sieg. davon: es kommt das Wollen zustande. Der
Sieg der Motoren über die Gegenmotoren ist der Entschluss.
Die dem Entschluss zum Durchbruche verhelfende Kraft, bez.
die Summe dieser Kräfte ist das Motiv. Ob das Motiv im
Entschlusse selbst enthalten ist. wie Janka !) anzunehmen
scheint, wenn er sagt: „Die in dem Entschlusse durchtretende
Kraft oder die durchtretenden Kräfte sind sohin als das Motiv
oder als die Motive zu bezeichnen“ oder ob man das Motiv
ausserhalb des Entschlusses verlegt, wie dies Fin ger ?) und
Kraus 3) tun, ist eine Frage von nebensächlicher Bedeutung
gegenüber dem Umstande, dass wir es, wie eben schon das
Wort sagt, im Motiv mit dem Beweggrund der Tat zu tun
haben, weshalb am ehesten eigentlich Thom sen t) zuzustim-
men ist, bei dem auf eine Definition des Motiv verzichtet
und Motiv gleichbedeutend mit movens (f. agens) als „das
Bewegende,“ „das Treibende“ bezeichnet wird. Es dürfte
somit keine Handlung, wenigstens keine vorsätzliche Handlungohne
Motiv denkbar sein (wohl aber das umgekehrte: unausgeführte
Entschlüsse). Das Wort „unmotiviert“ bedeutet aber nicht
nur „ohne Motiv,“ sondern auch „ohne Motivierung,“ d. h. ohne
Angabe des Motivs.
ıı Janka, a. a. O, 5. 35
> Finger, a. a. 6. I. Bd., S. 134:,, Der Endpunkt der Handlungs-
reihe ist das die Aktivität des Individium eigentlich bestimmende Mo-
ment; in das Bewusstsein reflektiert, wird dieser Endpunkt der Handlungs-
reihe Motiv genannt!“ vgl. auch van Calker, Strafrecht und Ethik (Leipzig
1897», S. 22, |
3 Kraus, Zeitschrift f. d. ges. Str. R. W., 17. Bd., S. 468, ver-
stebt unter Motiv den „Motor, den wirkenden Beweggrund, die bewusste
Ursache des Handlungs- oder Unterlassungswillens“, „jene aktuelle Be-
gierde, deren Befriedigung vorgezogen wird der Verwirklichung anderer,
ihr etwa widerstreitenden Bedürfnisse (den sogenannten „Gegenmotiven“);
die also, den Glauben an ihre Realisierbarkeit vorausgesetzt, wie die Ur-
sache die Wirkung den Realisierungswillen zur notwendigen Folge hat ”
Ähnlich Mi ricka, Formen der Strafschuld (Leipzig 1903), S. 118. Gegen
den (von ihm and Kraus gebrauchten) Ausdruck „Gegenmotiv" vgl.
Janka a. a. O. S. 33. 4. 22
% Thomsen, Zeitschrift f. d. ges. St. R. W., 17. Bd., S. 276.
== “Ob a
Was die Motivierung betrifft, so hat sie freilich ihre
ganz besonderen Schwierigkeiten. „Es ist,“ wie Paulsen ?)
sagt, „überhaupt eine seltsame Vorstellung, dass jede Hand-
lung ein Motiv habe. Vielmehr, wie zu jeder Bewegung in
der physischen Welt viele Ursachen konkurrieren, so zu jeder
Willensbestimmung viele Motive.“ Diese Mehrheit der Motive
begründet an sich schon eine Schwierigkeit für die Motivie-
rung einer Tat durch den Handelnden und in noch erhöhtem
Maße durch eine fremde Person. Jetzt denke man aber gar
an den Fall, dass der Täter das wahre Motiv nicht angeben
will; man halte sich ferner die vielen. psychopathologischen
Fälle vor Augen, in denen es schwer zu entscheiden ist, ob
jemand ein Motiv nicht angeben will oder nicht angeben kann,
dazu kommen noch Sinnestäuschungen und Gedächtnisfehler
der verschiedensten Art, nicht zuletzt der Einfluss von Bildung,
Geschlecht, Herkuoft u. s. w. ?)
Haben wir im Vorstehenden vom Motiv im Allgemeinen
gesprochen, so können wir nunmehr zum Geständnismotiv über-
gehen. Hat man den Beweggrund eines Geständnisses ergründet,
steht der Prüfung der subjektiven Glaubwürdigkeit des Geständ-
nisses in der Regel kein Hindernis mehr entgegen. Das Motiv
kann im Geständnis mitenthalten sein, indem der Verbrecher ein
Motiv des Geständnisses angibt; in diesem Falle ist erst nach der
Richtigkeit des Motivs zu forschen. Auch wenn das Geständnis
selbst vollkommen richtig zu sein scheint, sollte diese Prüfung nicht
immer unterbleiben, da ja z. B. der Fall öfter vorkam, dass
ein wahres Geständnis in heuchlerischer Weise mit Reue motl-
viert wurde, um sich dem Gerichte gegenüber für alle anderen
Fälle Glaubwürdigkeit zu sichern, also z. B. auch für den Fall,
dass früher oder später die Versuchung heranträte, ein schwerer-
wiegenderes Delikt unter Berufung auf die bereits „erprobte
Wahrheitsliebe“ in Abrede zu stellen. In solch einem Fall
sind eben Geständnismotivierung und Geständnismotiv von ein-
auder weit entfernt. Aber festhalten müssen wir, dass jedes
Geständnis ein Motiv hat, jedoch nicht jedes Geständnis unter
1) Paulsen, System der Ethik, 5. Aufl. (Berlin 1900), I. Bd., S. 363
u auch Schauberg, a. a. O., S. 33, wo die Begriffe „Motiv“ und
„Motivierung“ oft ineinander übergehen.
2) Näcke im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 102.
2.05: ne
richtiger Motivierung (wenn überhaupt mit einer Motivierung)
abgelegt wird. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne ist
es allerdings erlaubt, auch von unmotivierten Geständnissen zu
sprechen. Die von H. Gross!) vertretene Ansicht, es sei
„beiläufig“ richtig, dass bei einem Geständnisse irgend ein
Motiv vorliege, „es muss aber nicht zutreffen,“ vermögen wir
nicht zu teilen. Liegt ein Geständnis vor, so hat es u. E. auch
ein Motiv, wenn auch die Erkenntnis des Motivs schwieriger
sein mag als die Entgegennahme des Gestándnisses selbst.
Hätte der Beschuldigte kein Motiv zum Geständnis gehabt, so
hätte er nicht gestanden, nicht gestehen können; wie zu jeder
vorsätzlichen Handlung ist auch zum Geständnis ein Motiv
notwendig.
Für die Strafrechtspflege kommt das Motiv des Geständ-
nisses in doppelter Hinsicht in Betracht. Haben wir als Motiv
mit Thomsen das movens, agens angenommen, so haben wir
es einerseits mit der Stärke, anderseits mit dem Inhalte
des Motivs zu tun. Die Stärke des Motivs erkennen wir an
der Form, in der sich das Geständnis äussert, seinen Inhalt
nach dem Grunde, aus welchem es abgelegt wurde, m. a. W.,
es kommt sowohl das „Wie“ als auch das „Warum“ des Ge-
ständnisses in Betracht, wenn wir sein Motiv in Erwägung
ziehen. Form und Inhalt lassen sich freilich hier oft schwer
von einander getrennt beurteilen; aber im konkreten Falle
kann diese Trennlinie bedeutsam werden.
Was die Stärke des Motivs anlangt, können wir verschie-
dene Arten von Geständnissen unterscheiden. Als die stärkste
ist die anzunehmen, bei welcher der Täter aus freien Stücken
behufs Ablegung eines umfassenden Geständnisses dem Gerichte
sich stellt; eine andere Art ist jene, dass er bei seinem Ver-
hör wahrheitsgemäß den Sachverhalt in zusammenhängender
Rede schildert, die schwächste Form wohl jene, dass der Ver-
brecher erst nach langem Zureden und nach Vorhaltung der
Widersprüche, in welchen einerseits seine bisherige Aussage
zu anderen Beweismitteln steht, sowie jener anderseits, in die
er sich selbst verwickelt hat, das Leugnen aufgibt und die an
') Gross, Kriminal-Psychologie, S. 131.
— 96 —
ihn gerichteten einzelnen Fragen mehr minder wahrheitsgemäß
beantwortet. Das sind natürlich nicht alle Formen, die wir
nach der Stärke des Motivs unterscheiden können, vielmehr
gibt es noch eine Reihe Zwischenstufen, so z. B. wenn das
Sich-Stellen bei Gericht erst dann erfolgte, nachdem in der
Beichte dem Sünder nur für den Fall der Selbstanzeige die
Absolution in Aussicht gestellt worden war, wenn das Geständ-
nis aussergerichtlich abgelegt wurde, u.s.w.
Diese Art der Form des Geständnisses kann prozessual
sehr stark ins Gewicht fallen, da, wie z.B. in dem Falle der
Selbstanzeige, die ganze Beweiserhebung durch das Geständ-
nis von vornherein eine bestimmte Direktive bekommt.
E) Motive und Stimmungen bei Geständnissen in Straf-
sachen.
Weit wichtiger als die Erwägung, wie, wann und wo das
Geständnis abgelegt wurde, ist die Erörterung der Frage, warum
wurde gestanden, was hat den Beschuldigten bewogen, die
Täterschaft eines begangenen Verbrechens auf sich zu nehmen?
Es mag nicht einem jeden das als zwingender Grund gelten,
was den Beschuldigten zum Geständnis veranlasst hat. Allein
in dieser Hinsicht darf nicht ein lediglich objektiver Massstab
angelegt, sondern muss vielmehr auch die subjektive Seite voll-
auf in Rechnung gezogen werden. Mag das Geständnis nur
die Tatsachen selbst oder überdies, wie Vargha sagt, „die
Beziehungen dieser Tatsachen“ enthalten und so den innern,
den psychologischen Konnex durchschimmern, ja mitunter klar
erkennen lassen, mag es einfach, gekünstelt, geschraubt oder
wie immer sein, mag es — ganz oder teilweise — auf Wahr-
heit beruhen oder nicht: stets liegt es in der Natur des Menschen
dass er grundlos sich nicht seiner Verurteilung in die Hände
arbeiten wird. |
Wenn es sich nun darum handelt, die Geständnisse in
Strafsachen nach ihren Motiven einzuteilen, sei nach dem be-
reits Erwähnten betont, dass diese Arbeit lediglich einer Wahr-
scheinlichkeitsrechnung gleichkommt, da einerseits Motiv und
Motivierung sich nicht immer decken, anderseits für uns nur
dasjenige in Betracht kommen kann, was vorwiegend die
— 97 —
Ablegung des Geständnisses beeinflusst hat, m. a. W. aus einer
Mehrheit von Motiven wird das anscheinend stärkste heraus-
gegriffen und als Motiv schlechtweg in Rechnung gestellt:
Nur in diesem Sinne wollen wir verstanden sein, wenn wir im
Folgenden die Geständnisse in vier Gruppen nach der Art (dem
Inhalte) der Motive einteilen, indem wir unterscheiden, ob das
Motiv a) ethischer, b) unethischer, c) opportunistischer Natar
oder d) in einem besonderen Affektzustande oder einer psycho-
pathischen Veranlagung zu suchen ist.
Dies soll uns nicht hindern, eine Art von Geständnissen
vorwegzunehmen, welche gewissermassen als der Normalfall
des Geständnisses gelten kann, jener Fall nämlich, in
welchem der Beschuldigte über Vorladung oder vor-
geführt bei Gericht erscheint und über untersuchungsrichter-
liche Aufforderung entweder in zusammenhängender Rede oder
durch Beantwortung einzelner Fragen den ihm zur Last ge-
legten deliktischen Tatbestand der Hauptsache nach wahrheits-
gemäß angibt. Eine Menge Motive üben hierbei ihren Ein-
fluss aus; vor allem die Achtung vor dem Gericht, dem die
Wahrheit zu sagen mitunter auch arge Bösewichter sich an-
getrieben fühlen, die Zerknirschung oder wenigstens „gedämpfte“
Stimmung infolge der Untersuchungshaft, bez. der Einleitung
des Strafverfahrens überhaupt, die Aussicht auf eine mildere
Behandlung mit Rücksicht auf das Geständnis, ein Gefühl von
Resignation, wenn der Beschuldigte weiss, dass der Sachver-
halt ja ohnedies durch Zeugenaussagen und andere Beweis-
mittel festzustellen ist, schliesslich auch etwas Selbstachtung,
da einerseits Leugnen doch nicht jedermanns Sache ist, ander-
seits die peinliche Situation, sich in arge Widersprüche ver-
wickelt zu sehen, von manchem zu vermeiden gesucht wird.
Sehr oft sind diese Geständnisse qualifiziert, meistens in dem
Sinne, dass nur der objektive Tatbestand unumwunden zuge-
geben, hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes jedoch der
Sachverhalt oft auf Kosten der Wahrheit entlastend darge-
stellt wird; es wird die Urheberschaft des Todes des X zuge-
standen, die Tötungsabsicht jedoch in Abrede gestellt; die
schwere Verwundung wird bekannt, aber dolus geleugnet und
lediglich culpa behauptet, u. s. w. Und selbst wenn ein Ge-
7
.— 98 —
ständnis ganz wahrheitsgetreu ist, scheut sich dennoch der Be-
schuldigte oft, das Kind beim rechten Namen zu nennen und
sucht nach x möglichen und unmöglichen Behauptungen nur
zu dem Zweck, um nicht z. B. das Wort „Diebstahl“ über
seine Lippen zu bringen. ?)
Hingegen gibt es auch Geständnisse, die ruhig aus dem
Motiv der bona fides abgelegt werden, weil sich nicht nur der
Beschuldigte, sondern auch weitere Kreise dessen nicht bewusst
sind, welch ungeheures Verbrechen in ihrem Verhalten liegt,
z.B. im Ansichbringen von Mazzini-Losen und Kossuth-Dollar-
noten, das in Österreich merkwürdigerweise noch immer das
Verbrechen der Mitschuld am Hochverrat begründet, so dass
es vielleicht manchen Numismatiker gibt, der gegebenfalls die
Überraschung erleben könnte, als Hochverräter behandelt zu
werden.
I. Geständnisse aus ethischen Motiven, d. h. solchen Be-
weggründen, die auf einen gesunden bez. gesund gebliebenen
Kern von Sittlichkeit im Menschen schliessen lassen.
a) Die Stimme des Gewissens. Psychologisch be-
trachtet ist das Gewissen nichts anderes als ein Teil des geis-
tigen Lebens des Menschen; auch das Gewissen setzt sich zu-
sammen aus Vorstellungen und Gefühlen. Aber diese Vor-
stellungen und Gefühle sind zumindest vom subjektiven Stand-
punkte aus ethischer Natur; der Wille des Individiums unter-
wirft sich dem höhern Willen der Sitte. „Das Gewissen,“ sagt
Paulsen „stellt sich dem natürlichen Willen gegenüber als
eine höhere Willensform dar, der dieser sich zu unterwerfen
hat. Im Gewissen tritt dem Wollen das Sollen gegenüber“ ?).
Treffend bezeichnet Oppenheim ?) das Gewissen als „die Tat-
sache des Regewerdens unserer sittlichen bez. religiösen
Vorstellungen und Gefühle in bezug auf von uns vorgenommene
oder erst vorzunehmende oder in der Ausführung begriffene
Handlungen. Stimmt das Gewissen unserm Willen zu, so bil-
ligt es die von uns vorgenommenen, begonnenen oder beab-
sichtigten Handlungen. Wenn jedoch die das Gewissen bilden-
1) Gross, Hab. f. UR., I, Bd., S. 118.
3 Paulsen, a. a. O., I. Bd., S. 320
3) Oppenheim, Das Gewissen (Basel 1898), S. 12.
— 9 —
den ethischen Gefühle und Vorstellungen unseren Absichten
entgegentreten, dann verwirft das Gewissen sie (sog. „mahnen-
des Gewissen.“) Das Gewissen kann dem natürlichen Wollen
bei verschiedenen Menschen zu verschiedener Zeit in verschie-
dener Stärke gegenübertreten. Dem trägt auch der Sprach-
gebrauch Rechnung, wenn es heisst, „sich aus etwas kein
grosses Gewissen machen“ usw. Kriminalpsychologisch verdient
vor allem die Tatsache Beachtung, dass das Gewissen vor Be-
gehung einer Tat anders sprechen kann als nachher. Der ge-
wöhnliche Fall ist der, dass es nach der Tat stärker und ein-
dringlicher spricht als vorher. Als Grund dieser Erscheinung
haben wir den Umstand anzusehen, dass nach Begehung eines
Verbrechens eine grössere innere Sammlung platzgreift, der
Kreis der individuellen Erfahrungen eine Bereicherung erfährt,
mitunter nachher auch eine gewisse Ernüchterung eintritt,
welche allerdings bald durch die Stimme des Gewissens ver-
scheucht wird. Vor der Begehung der Tat sagt das Gewissen zum
Täter: „Du sollst das und das nicht tun.“ Setzt sich das In-
dividuum über diese Mahnung hinweg, so besiegt es eben diese
Stimme des Gewissens; der Wille wird zur Tat. Nach voll-
brachter Tat tritt aber das Gewissen viel stärker auf. Vor
der Tat war es noch möglich, der Stimme des Gewissens nach-
zugeben; nach der Tat sagt das Gewissen: „Das und das,
was du hättest unterlassen sollen, hast du dennoch begangen;
nun kannst du dich winden und drehen, soviel du willst: die
vollbrachte Tat ungeschehen zu machen, ist dir doch unmög-
lich.“ Halten derartige Erwägungen an, so können sie jenen
psychischen Zustand bewirken, den wir Gewissensbisse
nennen; sie bewirken im Gemüte des Täters eine Unruhe,
welche eine Steigerung erfährt durch die Angst, dem rächen-
den Arm der Gerechtigkeit zu verfallen. Unter solchen Um-
stánden erblickt der Verbrecher in der sicheren Aussicht auf
harte Bestrafung ein kleineres Übel als in dem Zustande an-
haltender Seelenpein, dem er dadurch ein Ende zu bereiten
sucht, dass er die Tat gesteht, u. zw. entweder durch Auf-
geben seimes bisherigen Leugnens oder dadurch, dass er in
Form einer Selbstbeschuldigung als erster zu seiner Entdeckung
beiträgt.
T*
— 100 —
„Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ von Schiller kann
bier als typisches Beispiel angeführt werden. Einer, der beim
Wilddiebstahl vom Förster ertappt wurde, kam wegen seines
‚Verbrechens vor Gericht. „Die Richter sahen in das Buch der
Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsfassung des Beklagten.“
So kam der Wilderer auf die Festung „als ein Verirrter und
verliess sie als ein Lotterbube.*. Niemand wollte mit ihm ver-
kehren; selbst ein kleiner Knabe, dem er einen Groschen schenkte
-warf das.Geldstück von sich. Durch all dies tief gekränkt
ging er an die Ermordung des Fórsters, welcher ihn seinerzeit
dem Gericht überstellt hatte. Allein das Gewissen liess dem
‚Verbrecher aus verlorener Ehre keine Ruhe mehr und so ge-
'stand er zunächst in mehreren Briefen an seinen Landesherrn
seine Tat ein, schliesslich stellte er sich selbst dem Gericht. —
Gewiss mag dichterische Freiheit an dieser Darstellung ihren
Anteil haben; wenn wir in diesem Zusammenhange sie trotz-
dem anführten, mag dies einerseits durch den Umstand, dass
Schiller selbst diesen Fall als „eine wahre Geschichte“ be-
zeichnet, andererseits dadurch, dass Altmeister des Strafrechts
wie Berner!) und v. Liszt?) auf Schiller Bezug nehmen,
zur Genüge gerechtfertigt sein.
Am 24. August 1904 erstattete eine gewisse Julie Herzig,
die vor Jahresfrist aus längerer Strafhaft entlassen worden
war, in Prag bei einem Polizeikommissariat die Anzeige, sie
habe vor vier Jahren bei Auscha in Böhmen eine Scheuer in
Brand gesteckt und statt ihrer sei ein gewisser Wenzel in
Haft genommen worden.
Die Geschwornen in Brüx sprachen 1903 die Bergarbeiters-
gattin Marie M. vom Morde an ihrem Gatten frei. Am Syl-
vestertage 1904 erschien die Freigesprochene beim Staatsanwalt
und erzählte ihm, dass sie die Last ihres bösen Gewissens
nicht länger ertragen könne und deshalb eingestehe, ihren
Gatten durch Gift beseitigt zu haben. Die neuerlichen Er-
hebungen ergaben, dass der Bergarbeiter Andreas M. am
8. Juli 1903 im Ellyschachte in Freistadtl den schwarzen
1) Berner, Lb. d. D. Strafr., 18. Auti. (Leipzig 1898), S. 48 f.
2) v. Liszt in seiner Ztschr., 20. Bd., S. 166.
— 101 —
Kaffee, den ihm seine Frau zum Frühstücke mitgegeben hatte,
trank und dass ihm daraufhin übel wurde. Tags darauf starb
er an einer konstatierten Arsenikvergiftung. Bei der ersten.
Verhandlung leugnete die Angeklagte und ein strikter Schuld-
beweis war nicht vorhanden. Auf Grund ihres Geständnisses,
dem Gatten eine Messerspitze Arsenik in den Kaffee gemengt
zu haben, um mit ihrem Liebhaber ungestörter leben zu können,
wurde nun die Anklage auf Meuchelmord erhoben. Die Ge-
schwornen sprachen die Angeklagte jedoch nur des Totschlages
schuldig, worauf sie zu 8 Jahren schweren Kerkers verurteilt
wurde. |
Aber nicht immer folgt der Verbrecher sogleich der Stimme
des Gewissens. Die Aussicht auf sichere Bestrafung, der Ge-
danke, im Zuchthaus das Leben beschliessen zu müssen, seinen
Kindern den Makel zu hinterlassen, sie seien die Kinder eines
Verbrechers, hält manchen davon ab, ein reumütiges Geständnis
abzulegen. Jedoch nicht immer wird durch derartige Gegen-
erwägungen und Gegenvorstellungen die Stimme des Gewissens
unterdrückt. Der Seelenkonflikt kommt zum Ausbruch in dem
Augenblicke, da sich der Täter dem himmlischen Richter näher
glaubt denn je, und oft hat die Sterbestunde manch reumütiges
Geständnis gezeitigt. Bei den Gestiindnissen, welche in arti-
culo mortis abgelegt werden, spielen gewöhnlich eine Menge
von Motiven mit. Gewissensbisse, die lange im Innern des
Täters genagt haben, die durch die Vorstellung von einem
postmortalen Leben in einer andern Welt erzeugte Furcht vor
dem Tode, manchmal (wenn auch nicht immer) Momente
religiöser Natur, vor allem das Bestreben, mit der Welt ver-
söhnt vor den ewigen Richter hinzutreten: all dies wirkt auf
den Täter ein, mächtig durch das Zusammentreffen verschie-
dener Motive und — wenn ich so sagen darf — beschleunigend
durch den Gedanken, dass jeden Augenblick der unerbittliche
Tod kommen könne. Gewiss muss anderseits — namentlich
bei Fieberkranken — sorgfältig darauf gesehen werden, ob
nicht der physische Zustand auf den psychischen zurückwirkt
und eine klare Erinnerung durch wilde Fieberphantasie ver-
drängt wird; ist jedoch letzteres nicht der Fall, so kann mit
der Richtigkeit des auf dem Sterbebette abgelegten Geständ-
— 102 —
nisses stets gerechnet werden, vor allem dann, wenn ein der-
artiges Gestándnis, wie dies meistens der Fall sein diirfte, frei-
willig abgelegt worden ist.
Ein typisches Beispiel hierfür teilt der ehemalige Wiener
Polizeikommissär Meissner!) im „Evangelimann“, einem
„getreuen sittengeschichtlichen Bild des Wiener Volkslebens“
mit. Auf dem Sterbebette gesteht jemand, seinen Bruder aus
Neid, Eifersucht und Rache fälschlich der Brandstiftung be-
schuldigt, ferner seiner Vaterpflichten gegenüber einem un-
ehelichen Kinde sich durch einen Meineid entledigt zu haben.
— Vor ungefähr fünf Jahren gestand irgendwo im Elsass
eine Frauensperson vor ihrem Tode, einige bayrische Offiziere
und Soldaten, die während des deutsch-französischen Krieges
bei ihr Quartier bezogen hatten, im Schlafe getötet und ihre
Leichen im Keller vergraben zu haben, ein furchtbares Ge-
ständnis, dessen Inhalt sich als völlig wahr herausstellte.
Auf grässliche Weise war 1900 in einer Schonung zwischen
Schmöckwitz und Zeuthen die Ehefrau Grasnick ermordet
worden; der Täter hatte an der Unglücklichen, deren Leiche
vollständig unbekleidet gefunden wurde, einen Raub- und Lust-
mord verübt. Alle Bemühungen, den Täter zu ermitteln,
blieben damals erfolglos. 1905 hat eine der seinerzeit als ver-
dächtig festgenommenen, später aber wieder freigelassenen
Personen, der unverheiratete Schlächtergehilfe Teichmann auf
dem Sterbebett die Mordtat eingestanden. Er ist, bald nach-
dem er sein Geständnis abgelegt hatte, gestorben.
Eine bedeutende Steigerung erhalten derartige Gewissens-
bisse dann, wenn zum Bewusstsein der eigenen Schuld das
noch weit drückendere Gefühl hinzutritt, ein Unschuldiger
werde fälschlich für den Täter gehalten. Droht diesem gar
die irreparable Todesstrafe, so ist der Gedanke an diese stark
genug, um undecima hora durch ein Geständnis die Vollbring-
ung eines Justizmordes zu verhindern; dieser Gedanke liegt
der eine wahre Begebenheit darstellenden Erzählung „Der
1) Meissner, Aus den Papieren eines Polizeikommissärs, I. Bdch.
Reclam’sche Universalbibliothek.
— 103 —
linke Schacherer“ von Achleitner zugrunde.') In anderen
Fällen gibt das Bestreben, unschuldig Verurteilte aus Kerker-
haft zu befreien und ihnen zur Wiedererlangung des ehrlichen
Nämens zu- verhelfen, mit den Ausschlag. Solch einen Fall
weiss die jüngste Geschichte österreichischer Strafrechtspflege
zu verzeichnen, nämlich das umfassende Geständnis des durch
seine eigene Tochter verratenen Matthias Kaufmann zu Kirch-
berg in Oberösterreich, er sei der Täter jenes Raubmordes,
den eine gewisse Giezinger im Kerker abbüsse, während ihr
vermeintlicher Mitschuldiger inzwischen im Kerker gestorben
war.
Auch auf dem Sterbebette kommen derartige Geständnisse
vor. Der in dieser Hinsicht interessanteste Fall dürfte wohl
der sein, der den achtzehn Jahre schuldlos im ärgsten Ge-
fängnis Europas, nämlich auf dem Spielberg zu Brünn, ge-
fangen gehaltenen Revierförster Anton betrifft. Er war be-
schuldigt worden, einen sächsischen Reisenden ermordet und
seines Geldes beraubt zu haben; Anton hatte um die Hand
einer schönen Weberstochter angehalten, deren Vater in die
Ehe nur unter der Bedingung einwilligen wollte, wenn ihr
Zukünftiger 100 Taler mitbrächte. Antons Ersparnisse machten
jedoch nur die Hälfte dieses Betrages aus. Ein reicher Holz-
händler, dem er seine Lage schilderte, schenkte ihm die fehlen-
den 50 Taler. So war Anton in der Lage, seine Werbung zu
wiederholen. Da dies knapp nach dem erwähnten Morde ge-
schah, fiel der Verdacht der Täterschaft auf Anton, zumal
einer seiner persönlichen Feinde ihn durch ein falsches Zeugnis
belastete. Der wahre Mörder wurde auf dem Sterbebette von
Gewissensbissen gepeinigt und legte dem Geistlichen gegenüber
ein Geständnis ab, das er dann vor Zeugen wiederholte.?)
b) Geständnisse aus Reue. Nahe verwandt mit den
Geständnissen, deren Ablegung auf Gewissensbisse zurückzu-
führen ist, sind diejenigen, bei welchen das Motiv in auf-
1) Achleitner, Geschichten aus den Bergen 1. (Reclam’sche Universal-
bibliothek), Amschl im Gross’schen Archiv 17. Bd. 94 ff.
2 v. Costa-Rossetti, Der Briinner Spielberg, 7. Aufl. (Brünn 1903)
S. 60 f.
— 104 —
richtiger Reue zu suchen ist. „Reue“, sagt Paulsen!), „ist
ein Zeichen, dass die Verletzung nicht der dauernden Willens-
richtung des Verletzenden entspricht, dass sie aus Irrtum,
Versehen, Übereilung, Leichtfertigkeit entsprang.“ Aber dies
gilt nur von der aufrichtigen Reue, als deren besonderes
Kennzeichen die Beharrlichkeit gelten kann, mit der .der
Verbrecher an dem einmal abgelegten Geständnisse festhält.
Die Prüfung dieser Aufrichtigkeit ist freilich eine sehr schwere
Sache, wenn wir auch nicht gerade Paulsen zustimmen wollen,
wenn er die Ansicht vertritt, dass „es dem Richter in der
Regel an Mitteln, die Echtheit der Reue zu erkennen, fehlt.“ ?)
Doch hüte man sich wohl vor der Gefahr des Simulierens,
„wie es in Zucht- und anderen Häusern gedeiht, wo ein reuiges
Wesen als Symptom des Wohlverhaltens angesehen wird‘, wie
Paulsen, den Nagel auf den Kopf treffend, hervorhebt. Ins-
besondere wäre es also verfehlt, mit Amschl?°) in dem Ge-
ständnisse des Sträflings eine Beruhigung zu erblicken.
Die Geschichte der Strafrechtspflege ist reich an reu-
mütigen Geständnissen, auch wenn wir die in articulo mortis
abgelegten Bekenntnisse, bei denen ausser der Reue ja noch
andere Motive mitwirken, ausscheiden. Ganz besonderes Inter-
esse verdienen diejenigen Geständnisse aus Reue,. welche sich
in der Form von Selbstanzeigen und Selbststellungen bei Ge-
richt äussern. Im Jahre 1850 hat zu Klenowitz in Mähren
ein Philipp Smutny sein Weib und seine Kinder umgebracht;
Smutny hatte sich dadurch, dass er seiner Magd Liebesbezeu-
gungen machte, die Erbitterung seiner Gattin zugezogen. Aus
Wut darüber tötete er sie des Nachts und, als durch deren
Schrei die Kinder erwachten, zu weinen und zu schreien an-
fingen, auch diese. Am anderen Morgen ging er zu Gericht
und gestand, von Reue erschüttert, seine Tat aus eigenem An-
triebe ein. Das Urteil lautete auf zwanzig Jahre Kerker, die
er in der Strafanstalt auf dem Spielberg zu Brünn verbüsste.
„Smutny soll sich dort eines Attentates auf einen Aufseher
schuldig gemacht haben, indem er ibn nach einem Wort-
1) Paulsen, a. a. O., IL Bd, S. 148.
3 Paulsen, a. a. O., H. Bd., S. 148.
8) Amschl im Gross'schen Archiv, 12. Bd., S. 3.
— 105 —
wechsel mit aller Gewalt gegen eine Mauer schleuderte, so
dass dieser regungslos liegen blieb. Man glaubt, dass Smutny
den Aufseher tödten wollte, um zum Tode verurtheilt zu
werden“.!) |
c) Gestándnisse aus religiösem Motive. Der
Irieb, der durch ein begangenes Verbrechen hervorgerufenen
Seelenpein zu entgehen, veranlasst den Verbrecher nicht immer
zu einer Selbstbeschuldigung bei Gericht. Dem Bestreben,
dieser Seelenpein zu entgehen, ohne sich der Gefahr einer
schweren gerichtlichen Bestrafung auszusetzen, entspringt der
Gang zur Beichte. Es ist nicht nur für solche Leute ein Ge-
fühl grosser Beruhigung, in dem Beichtvater einen Menschen
auf der weiten Welt zu wissen, den man getrost sein Schick-
sal anvertrauen und sein Herz ausschütten kann, sondern es
ist dies auch eine Institution der christlichen Kirchen, welcher
der moderne Staat mit Recht seine Anerkennung zollt dadurch,
dass er Geistlichen Zeugnisbefreiungen betreffs ihrer im Beicht-
stuhl gemachten Erfahrungen einräumte.?) Sind daher im
Beichtstuhl abgelegte Geständnisse an sich betrachtet für den
Verlauf eines Strafverfahrens irrelevant, so können sie doch
dann bedeutsam werden, wenn die Absolution nur für den
Fall eines Geständnisses bei Gericht oder öffentlicher Behörde
in Aussicht gestellt wird, bez. wenn an den Beichtenden die
Aufforderung ergeht, zuvor eine falsche Aussage vor einem
richterlichen Beamten zu berichtigen. Ob derartige Aufforde-
rungen oft ergehen und Beachtung finden, ist nach der Natur
der Sache schwer zu ermitteln. Doch glauben wir, dass in
unserer Zeit, welche wiederholt den Satz, die Religion sei
Privatsache, vernommen hat, ein Geständnis seitens des Täters
nicht immer ausdrücklich auf die Beichte zurückgeführt wird,
wenn auch die Anregung dazu dort erfolgte. In den öster-
reichischen Alpen hat sich vor Jahren der Fall zugetragen,
dass ein Wilderer im Beichtstuhle die in Gemeinschaft mit
einem Genossen begangene Ermordung eines Försters gestand
und hierauf sich dem Gerichte stellte. — Nach der durch un-
Y v. Costa-Rossetti, a. a. O., S. 62.
?) Deutsche St. P. O., $ 52, 1; österr. St. P. O., $ 151, 1.
— 106 —
vorsichtiges Hantieren mit einer Grubenlampe entstandenen
schrecklichen Katastrophe im Silberbergwerk zu Pribram in
Böhmen ward ein Bergarbeiter Kriz als verdächtig in Haft
genommen; lange Zeit bestritt er jede Schuld, indem er be-
hauptete, der von ihm weggeworfene Lampendocht habe weder
gebrannt noch geglimmt, eine Angabe, die der mitverhaftete
Bergmann Havelka vollinhaltlich bestätigte. Eines Tages je-
doch ward Havelka andern Sinnes; er gestand, der Docht des
Kriz habe noch gebrannt, u. zw. gestand er es deswegen, weil
nach seiner eigenen Angabe ihm nur für den Fall des Geständ-
nisses Absolution im Beichtstuhle versprochen worden war.
Auch wenn wir von der Beichte absehen, begegnen wir
mitunter Geständnissen, die im religiösen Gefühl des Ge-
stehenden ihren Beweggrund haben. Wo ein religiöses Gefühl
im Herzen nicht vorhanden ist, wird es dem Untersuchungs-
richter nicht gelingen, es zu schaffen. Ist es aber da, dann
wird es zuweilen nicht schwer fallen, es wachzurufen. Um
ein einschlägiges Beispiel anzuführen, sei auf einen Verbrecher
hingewiesen, der nach den Worten des Untersuchungsrichters
„Halt, falle auf die Knie und bete, dass du die Wahrheit voll
und ganz sagen wollest, wie sie der Allwissende weiss, vor
dem du hier kniest“ ein ausführliches Geständnis seiner Tat
abgelegt hat.!)
d) Geständnisse aus Liebe. Schon im Hohenliede
Salomos finden wir das Wort: „Liebe ist stark wie der Tod.*
Im menschlichen Leben begegnen wir der Liebe als der Trieb-
feder vieler Handlungen, ethischer wie unethischer. Auch die
Kriminalistik hat die Liebe als movens agens erkannt und auch
beim Geständnis in Strafsachen mag sie oft ausschlaggebend
sein. Dass die Liebe als Motiv derjenigen Geständnisse, die
(erst) anlässlich einer Vorladung, bez. Vorführung abgelegt
werden, dürfte doch nur selten der Fall sein; dass dies aber
dennoch der Fall sein kann, möge in Folgendem seine Be-
stätigung finden: Zu Valencia wurde Ende August 1827 Domi-
nicus S. von seiner eigenen Mutter und seiner Gattin, welche
1) In Materialien für Gesetzkunde und Rechtspflege in den Österr.
Staaten, hgg. von Pratobevera, 3. Bd. (Wien 1817), S. 140.
== 107. =
es dem bestehenden Ehebande zu Trotz mit Philipp R. hielt,
ermordet. Obwohl Philipp R. erst nachträglich von dem
Morde erfahren hatte, war doch der Verdacht auf ihn gefallen
und aus Liebe für die Frau des Dominicus S. bekannte er
sich als den Mörder und ward zum Tode verurteilt.!) Auch
Kitka?) rechnet mit Selbstanklagen, die in der Absicht, den
vom Selbstankläger geliebten Verbrecher der Bestrafung zu
entziehen, erhoben werden. Solche Geständnisse brauchen
nicht einmal stets falsch zu sein, wie man nach den Ausfüh-.
rungen von Kitka annehmen könnte. Ein derartiges Geständ-
nis kann gewiss wahr sein; z. B. Vater und Sohn befinden
sch in demselben Amte und eines Tages werden in der
Kassengebarung Unregelmäßigkeiten entdeckt. Der Sohn ist
es, der Gelder unterschlagen hat. Allein der Verdacht richtet
sich gegen seinen in Ehren ergrauten Vater, der unschuldig
ist, und der Sohn stellt sich dem Gerichte, um von der Person
des geliebten Vaters jeden Makel fern zu halten. Aber es ist
ebensogut der umgekehrte Fall denkbar); Liebe zum Vater,
Sorge um das Fortkommen der Familie, wenn der Vater, der
Beamter ist, durch seine Verurteilung nicht nur seines guten
Namens, sondern auch seines Postens verlustig würde, können
es bewirken, dass der Sohn die Schuld des Vaters auf sich
nimmt, also ein Geständnis, durch das ein Schuldiger entlastet,
ein Unschuldiger belastet wird, ablegt.
Ein Fall eines wahren Geständnisses aus Liebe ist vor
einigen Jahren in Wien vorgekommen. Am 1. April 1895
wurde der Advokat Dr. Rothziegel ermordet in seiner Kanzlei
aufgefunden; der Täterschaft schien sein Sollizitator Eichinger
dringend verdächtig und so ward er in Haft genommen.
Eichinger leugnete standhaft. Unter dem Verdachte entfernter
Mitschuld ward auch seine Frau verhaftet und dies wirkte auf
Eichinger, der dies zufällig erfuhr, derart ein, dass er nach
sechstägigem Leugnen endlich mit der Wahrheit herausrückte:
1) Hitzigs Annalen der deutschen und ausländischen Criminalrechts-
pflege, Bd. I., Heft 2, S. 373 ff.
? Kitka, Beitrag z. L. v. d. Erhebung des Thatbestandes der Ver-
brechen (Wien 1843). S. 121 f.
3 Kitka, a. a. O., S. 122.
— 108 —
„Meine Frau ist unschuldig! Jetzt sag’.ich’s, ich hab’s getan!“
Hierauf legte er ein umfassendes Geständnis ab.
In Galizien ward im Jahre 1874 ein Adalbert A. trotz
seines Leugnens des Mordes an Franz B. schuldig befunden,
hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil A. zur kritischen
Zeit in der Nähe des: Tatortes gesehen und neben der Leiche
des B. eine blutige Hacke gefunden wurde, die unleugbar dem
A. gehörte. Am Morgen nach der Verurteilung erschien je-
mand beim Verteidiger des A. mit der Mitteilung: „Ich bin
der Bruder des verurteilten Adalbert und will meinen Bruder.
nicht länger leiden lassen“, gab eine ausführliche Schilderung.
der Tat und sagte schliesslich: „Nun aber, da mein Bruder
unschuldiger Weise verurteilt worden ist, lässt mir das Ge-
wissen keine Ruhe. Ich fühle mich doppelt schuldig, weil
mein Bruder, der mich nicht verraten will, anstatt meiner.
leidet. Er ist, wie Sie sehen, an dem Tode des B. ganz un-
schuldig, und ich allein bin der wirklich Schuldige. Machen
Sie nun, dass mein Bruder so schnell als möglich frei kommt,
ich stelle mich selbst dem Gerichte.“ Diesen Fall hat seiner-
zeit Rosenblatt ausführlich mitgeteilt.
Auch wäre die Annahme falsch, dass derjenige, der aus
Liebe ein falsches Geständnis ablegt, dies in der Absicht tun
müsse, um die von ihm geliebte Person vor dem Verdachte
gerade der Handlung, die der Gestehende auf sich nimmt, zu
bewahren; vielmehr kann ein derartiges falsches Geständnis
auch dem Triebe entspringen, die geliebte Person überhaupt
nicht — sozusagen — ins Gerede zu bringen. Ich erinnere
mich an einen Fall, in welchem ein Dieb zur Nachtzeit in
einem Landhause gesucht und ein junger Mann, den „der
Liebe Wellen“ an Ort und Stelle verschlagen hatten, als ver-
.meintlicher Dieb. ergriffen ward; um. die Ehre des Mädchens
zu retten, bekannte er sich des ibm zur Last gelegten Dieb-
stahls schuldig, verriet jedoch in seinem Verhör eine derartige
Unkenntnis des wahren Sachverhalts, dass gegen die Richtig-
keit seines Geständnisses Bedenken aufkamen, die dadurch,
dass das betreffende Mädchen als Entlastungszeugin vernommen
wurde, sich als gerechtfertigt herausstellten.
Im allgemeinen wird man nicht fehl gehen, wenn man in
— 109 —
dem seltenen Falle eines aus Liebe abgelegten Geständnisses
ein wenig skeptisch ist. Die Liebe ist ein altruistisches Ge-
fühl und bei altruistischen Gefühlen prävaliert gar oft die
Rücksichtnahme auf andere gegenüber der Berücksichtigung
seiner selbst. — Verwandt mit diesen Geständnissen sind *
e) Geständnisse aus Rücksichten der Freund-
schaft und der Kameradschaft. Wenn man die Freund-
schaft mit Paulsen!) als „ein besonders inniges und indivi-
dualisiertes geselliges Verhältnis“ auffasst, wird man ihre
Bedeutung mit der Geselligkeit ähnlich finden: „Die Berührung
mit dem fremden Leben wirkt erregend und befruchtend auf
das eigene zurück“. Aber die wahre Freundschaft geht weiter,
indem sie auch ein vollkommenes inneres Verständnis zwischen
den befreundeten Personen bewirkt, derart, dass man sich
mehr minder in des Freundes Lebenslage wie in die eigene
hineinversetzt fühlt. „Einen Freund haben“, sagt Paulsen,
„heisst um ein Leben reicher sein.“ Die Kameradschaft
wiederum schafft zwischen mehreren Personen eine gleiche
Interessenspháre, die sich jedoch nicht auf alle Lebenslagen
erstreckt, sondern vorwiegend auf einen gemeinschaftlichen
(erlaubten oder unerlaubten) Beruf beschränkt.
Sowie Freundschaft und Kameradschaft in Sachen der
Mittäterschaft wichtige Anhaltspunkte bilden, kommt ihnen
auch hinsichtlich des Geständnisses in Strafsachen eine bedeut-
same Rolle zu. Insbesondere mag dies dann der Fall sein,
wenn ein falsches Geständnis dem Beschuldigten nichts oder
doch wenigstens nicht viel schadet. Z. B. der A. ist überwiesen,
6 Diebstähle ausgeführt zu haben und nimmt nun einen siebenten
einen auf sich, den B. begangen hat, da B. sein guter Freund
ist und sich gegebenenfalls revanchieren dürfte. .
Interessant ist eine Art des Gestándnisses, die nach
Löwenstimm!) in Russland öfters vorkommt. Haben
mehrere vor einem Gewohnheitsdieb, der es auf Pferde ab-
gesehen hät, sich nicht anders helfen können, als dass sie ihn er-
mordéten, so nimmt mitunter ein einzelner die ganze Schuld auf
sich, um die Genossen, die in gleicher Weise wie er am Morde
1) Paulsen, a. a. O., II. Bd., S. 309.
7 Löwenstimm im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 15.
— 10 —
beteiligt waren, durch sein Geständnis vor der Verurteilung zu
bewahren. !
In diesem Zusammenhange sei eines interessanten Falls
aus jüngster Zeit gedacht, der sich auch unter die Geständ-
nisse aus Opportunismus einreihen lässt. Am 2. November
1904 wurde in Budapest der Taglöhner Stephan Bango in
: einer Rauferei durch einen Messerstich getötet. Der Verdacht
der Täterschaft lenkte sich auf den Handlungsgehilfen Eugen
Batori, der infolgedessen in Haft genommen ward. Beim Ver-
hör stellte er jede Schuld in Abrede unter Hinweis darauf,
ein siebzehnjähriger Fabriksarbeiter, Johann Molikant mit
Namen, habe ihm die Tat eingestanden. Molikant wurde da-
rauthin verhaftet und war in der Voruntersuchung der ihm
zur Last gelegten Tat geständig, weshalb gegen ihn die An-
klage erhoben wurde. Bei der Hauptverhandlung am 11. Januar
1905 bekam jedoch die ganze Sache ein anderes Bild. Molı-
kant erklärte jetzt, bei der Tat gar nicht zugegen gewesen zu
sein. Batori habe ihn jedoch überredet, die Schuld auf sich
zu nehmen; Batori werde ihm hierfür 1200 K. geben, für die
Dauer der Haft seine Mutter unterstützen und überdies für
die Beistellung eines Verteidigers sorgen; Molikant werde
höchstens zu drei Monaten verurteilt werden. Bei Gericht
möge er sagen, nur aus dem Grunde das Messer gezogen zu
haben, weil Bango auch sein Messer gezückt hielt. Die Staats-
anwaltschaft liess die Anklage gegen Molikant fallen, da sein
Alibi durch Zeugen bestätigt wurde. Batori ward nunmehr
neuerdings verhaftet.
f) Gestándnisse aus Patriotismus und National-
gefühl. Geständnisse dieser Art liegen wohl ausschliesslich
nur dann vor, wenn das Motiv der Tat, die vollbracht oder
versucht worden ist, ebenfalls auf derartige Beweggründe sich
zurückführen lässt, so dass Verbrechensmotiv und Geständnis-
.motiv gleichartig sind. Dennoch besteht zwischen. beiden ein
weitgehender Unterschied. Während ein derartiges Ver-
brechen ein Ausfluss des sogen. „verkehrten Gewissens“
ist, dessen Wesen nach Oppenheim!) darin besteht, „dass
1) Oppenheim, Gewissen S. 29.
— 11 —
es gute Handlungen als schlecht und schlechte Handlungen
als gut bezeichnet“ , kann dieser Vorwurf das Motiv des Ge-
ständnisses solcher Handlungen nicht treffen. Diese Ge-
ständnisse haben ihr Motiv in der Erwägung, dass hier eine
patriotische Tat beabsichtigt war und mit patriotischem Stolze
wird dies eingestanden, ungeachtet der Folgen, die solch ein
Geständnis haben kann.
Zwei Fälle aus der deutschen Geschichte mögen als ein-
schlägig hier Platz finden.
Am 13. Oktober 1809 ward zu Schönbrunn bei Wien der
siebzehnjährige Friedrich Staps aus Leipzig, der Sohn eines
Pastors in Naumburg, auf Befehl des französischen Generals
Rapp festgenommen; Staps hatte Napoleon I. zu sprechen ver-
langt und dadurch Verdacht erregt. Man fand bei ihm ein
grosses scharfgeschliffenes Küchenmesser. Auf die Frage
Napoleons, wozu er das Messer bei sich trage, erwiderte
Staps, er sei ein Feind des Franzosenkaisers und mit der
festen Absicht seiner Ermordung hierher gereist. Auf Napo-
leons weitere Frage: „Würden Sie mir nicht danken, wenn
ich Sie begnadigte?“, gab Staps unumwunden zur Antwort:
„Ich würde Sie doch zu töten versuchen.“ Am 17. Oktober
1809 ward Friedrich Staps erschossen.) .
Der zweite Fall betrifft Karl Ludwig Sand, den Mörder
Kotzebues; ein Schwärmer für Freiheit, Ehre und Vater-
land und ein begeisterter Anhänger der deutschen Burschen-
schaft, verliess er am 9. März 1819 Jena und begab sich nach
Mannheim in der Absicht, Kotzebue, den Feind der Burschen-
schaft zu töten. Am 23. März 1819 führte er seine Absicht
aus; frei und offen gab er seine Tat zu und behauptete, sie
seiner Überzeugung schuldig gewesen zu sein. Nationalgefühl
hatte ihn zur Tat, Nationalgefühl hatte ihn zum Geständnis
getrieben und opferfreudig neigte er am 20. Mai 1820 Haupt
und Nacken dem Schwerte des Scharfrichters.
g) Geständnisse aus Ehrgefühl. Diese Geständnisse
nehmen unter den aus ethischen Motiven abgelegten einen her-
vorragenden Platz ein. Wenngleich wir von jenen Gestánd-
Omana ee
*) v. Gottschall in der „Gartenlaube“ 1894, S. 766.
— 112 —
nissen, welche wir vorhin als Normaltypus des Gestiindnisses
in Erórterung gezogen haben, sagten, bei ihnen gebe die Er-
wägung, man sei sich selbst soviel Achtung schuldig, für seine
Taten einzustehen, mit den Ausschlag, so war dort dieses
Motiv eigentlich nur von sekundärer Bedeutung. Bei den Ge-
ständnissen, mit denen wir es jetzt zu tun haben, gibt das
Ehrgefühl den Ausschlag.
Nicht ohne Absicht bedienen wir uns anstatt des Aus-
drucks „Ehre“ in diesem Zusammenhange der Bezeichnung
„Ehrgefühl“. Wir wollen damit dem für die Frage des Ge-
ständnisses doch nur in untergeordnetem Maße relevanten
Streit, ob die Ehre innere oder äussere Ehre sei, ausweichen,
indem wir uns kurzweg für das erstere entscheiden. Innere
Ehre ist der innere Wert des Menschen !), äussere Ehre die
Achtung der Mitmenschen vor dem Individuum in bezug auf
seinen innern Wert. Mag somit auch die Rücksicht auf das,
was man äussere Ehre nennt und besser Ehrung nennen sollte,
den innern Wert des Menschen beeinflussen: dort, wo uns der
Mensch als Individuum wichtig ist, wo wir uns mit seiner
Psyche zu befassen haben, kommt die Achtung der Mitmenschen
vor ihm nur soweit in Betracht, als sie sein Tun und Lassen
beeinflusst, m. a. W. als wir es lediglich mit seiner Ge-
sinnung zu tun haben. Ist nun die Gesinnung eine derartige,
dass die Rücksichtnahme auf die Ehre das Individuum von
einer Unwahrheit abhält, dann haben wir es mit einem Falle
zu tun, in welchem ein Geständnis aus Ehrgefühl vorliegt.
Einen derartigen Fall hat die Geschichte der Affaire Dreyfus
zu verzeichnen gehabt: Am 7. Juli 1898 hatte sich der Kriegs-
minister Cavaignac für die Echtheit eines Dreyfus belastenden
Billets verbürgt. Allein Oberst Picquart erklärte sich bereit,
nachzuweisen, hier liege eine Fälschung vor. Ward auch
Picquart daraufhin verhaftet, so wurde seinen Worten doch Ge-
wicht beigelegt und Oberst Henry, der Entdecker dieses Be-
lastungsdokuments, ins Kriegsministerium beschieden, um nähere
Auskünfte zu erteilen. Cavaignac verlangte von Henry, er
1) Über die verschiedenen Auffassungen der innern Ehre vgl. Eckstein,
Die Ehre in Philosophie und Recht (Leipzig 1889), S. 63 fl.
— 113 —
solle auf Offiziersehrenwort erkláren, an der von Picquart be-
haupteten Fälschung unbeteiligt zu sein. Henry erwiderte,
das könne er nicht, und gestand, er sei der Fälscher. Am
30. August 1898 richtete er sich selbst.!)
lI. Gestándnisse aus unethischen Motiven, d. h. solchen
Beweggründen, welche vom Standpunkte der Sittlichkeit aus
Missbilligung verdienen, mögen sie auch manchmal erklärlich
sein.
a) Gestándnisse aus Rache, Dass Gestándnisse aus
Rache abgelegt werden, mag etwas paradox klingen. Rache
ist der Trieb, Böses mit Bösem zu vergelten, also jemandem,
in dem man (mit Recht oder Unrecht) seinen Feind erblickt,
einen empfindlichen Nachteil zuzufügen, um in dem Bewusst-
sein, den persönlichen Feind empfindlich geschädigt zu haben,
ein Gefühl der (nicht selten zur Schadenfreude sich steigernden)
Genugtuung zu empfinden. Diese Genugtuung erleidet natur-
gemäß eine beträchtliche Einbusse, wenn die Handlung, welche
zur Befriedigung des Rachetriebs gesetzt wurde, dem Rächer
selbst zum Nachteil gereicht. Und geradezu für undenkbar
sollte man es halten, dass derjenige, der Rache nehmen will,
zu diesem Zwecke eine Handlung begeht, von der er voraus-
sehen kann, ja voraussehen muss, dass ihre Folgen nicht nur
auf seinen Gegner, sondern in gleicher Weise auch auf ihn
fallen werden. Erklärlich ist ein derartiger Vorgang leicht
für den Fall, dass die gegen den Feind gerichtete Handlung
nicht einzig und allein dem Motiv der Rache, sondern auch
dem des Lebensüberdrusses auf Seiten des Rächers entspringt
(wofür die deutsche Heldensage in der durch K. E. Ebert
dichterisch verherrlichten Person des Sachsenherzogs Schwerting,
der als Gast seines Besiegers dessen Haus in Flammen steckt,
um mit ihm gemeinsam den Feuertod zu erleiden, einen Beleg
gibt). Dass aber ein Verbrecher sich selbst dem Gerichte
überliefert, nur um seinen Mitschuldigen, mit dem er sich nach
der Tat (und wegen der Tat) verfeindet hat, aus Rache ins
Zuchthaus zu bringen, ist und bleibt eine immerhin seltene
a
1) Mittelstädt, Die Affaire Dreyfus (Berlin 1899), S. 23 ff. ; andere
Geständnisse aus Ehrgefühl siehe bei Weingart, Kriminaltaktik (Leipzig
1904), S. 13.
8
— 114 —
Erscheinung. Hans Gross teilt einen derartigen Fall in
seiner „Kriminalpsychologie“* mit, der hier wörtlich angeführt
sein möge: „1879 war ein alter Mann, Blasius Kern, Morgens
vollkommen eingeschneit, todt und mit einer schweren Kopf-
wunde aufgefunden worden. Verdacht eines Raubmordes lag
nicht vor, und so wurde angenommen, der Mann sei auf dem
Heimwege, trunken wie gewöhnlich, von einem hoch über
dem Fundorte führenden Wege abgestürzt und habe sich hier-
bei den Schädel eingeschlagen. 1881 erschien ein junger
Bursche, Peter Seyfried, bei Gericht und gab an, er sei von
der Tochter des Blasius Kern, Julie Hauck, und deren Mann,
August Hauck, gedungen worden, den alten Mann, der durch
seine Trunksucht und fortwährendes Zanken unerträglich wurde,
zu erschlagen, was er auch getan habe. Dafür sei ihm ver-
sprochen worden — eine alte Hose und drei Gulden; erstere habe
er bekommen, letztere nicht, und da alles Mahnen nichts helfe,
so zeige er die Eheleute Hauck nunmehr an. Als ich ihn fragte,
ob er denn nicht wisse, dass er nunmehr auch gestraft werde,
sagte er: „Das macht nichts, wenigstens werden es die Anderen
auch — warum halten sie ihr Versprechen nicht“. Und dieser
Bursche war zwar sehr einfältig und etwas mikrozephal, aber
nach gerichtsärztlichem Ausspruche vollkommen zurechnungs-
fähig. Seine Angaben bewahrheiteten sich bis zum letzten
Pünktchen.“ *)
Interessant ist folgender Fall eines Geständnisses aus
Rachsucht, bei welchem das Geständnis auf eine eigenartige
Weise erfolgte:
Anfang Februar 1904 brachten Wiener Zeitungen die
Nachricht von der Verhaftung des Schneidermeisters Bernhard
Steinhardt in Wien wegen Verdachtes der versuchten Bank-
notenfälschung. Die Anzeige war auf eine sehr romantische
Weise erfolgt. Auf einer tirolischen Heerstrasse fand man im
Januar 1904 ein anonymes Schreiben, an den „Finder“
gerichtet,:] worin ein gewisser Franz; Schlenkrich und
Bernhard Steinhardt beschuldigt werden, dass sie falsche
Zehnkronennoten fabriziert hätten. Dieses Schreiben wurde
1) Gross, Kriminal-Psychologie, 8. 135 f.
— 115 —
an die Wiener Polizeidirektion befórdert, und es stellte sich
heraus, dass Franz Schlenkrich selbst der Briefschreiber sei.
Er hatte sich im vergangenen Jahr an den Schneidermeister
mit dem Ansinnen herangedrángt, ihm bei der von ihm ge-
machten Erfindung eines Luftschiffes behilflich zu sein, hatte
auch wiederholt von ihm grössere Geldbeträge empfangen,
wurde aber schliesslich abgewiesen, da sich die Erfindung als
eine vollkommen missglückte herausstellte. Nun wurden so-
wohl Schlenkrich als auch Steinhardt verhaftet; die Unter-
suchung fand in umfassender Weise statt und wurde schliess-
lich infolge Rücktrittes der Staatsanwaltschaft eingestellt.
So selten derartige Geständnisse auch vorkommen mögen,
darf Geständnissen aus Rache immerhin ein gewisses Vertrauen
auf ihre Richtigkeit, wenigstens in der Hauptsache entgegen-
gebracht werden. |
Gestándnisse aus Wut dürften wohl noch seltener vor-
kommen als die aus Rache, mit denen sie das gemeinsam
haben, dass auch bei ihnen der Antipathie gegen einen andern
in drastischer Weise Ausdruck verliehen werden soll. Mir ist
nur ein einziger Fall eines Geständnisses aus Wut bekannt.
1904 bedrohte in der Nähe Wiens S. eine Frauensperson mit
den Worten: „Ich bring’ Sie so um, wie ich den Robl umge-
bracht hab'*. Robl ist der Name eines Gendarmen, der vor
mehreren Jahren in Ausübung seines Dienstes ermordet wurde,
ohne dass man bis heute von dem Täter eine Spur hat. Darüber,
ob das erwähnte Geständnis des S. auf Wahrheit beruht oder
nicht, wurde weiter nichts bekannt.
b) Geständnisse aus Renommiersucht. Solche Ge-
ständnisse sind vermutlich keine Seltenheiten; als gericht-
lich e Geständnisse kommen sie wohl nicht weiter in Betracht.
Aber dass ein Dieb einen andern, den er für seine Absichten
zu gewinnen trachtet, viel von seinen verwegenen Stückchen,
darunter auch solchen, die in Wirklichkeit nicht er, sondern
jemand anderer ausgeübt hat, erzählt, mag ebenso vorkommen,
wie der Fall sich ereignet hat, dass ein sog. Satisfaktions-
fáhiger von Duellen zu erzählen wusste, die er de facto nie
gehabt hat. Anderseits kommt ¡es vor, dass Ereignisse auf-
gebauscht und mit einem heldenhaften Nymbus umgeben
gt
— 116 —
werden, der bei näherer Untersuchung leicht als Schwefelduft
erkannt werden kann. In dieser Hinsicht haben es jene Stu-
denten der Medizin, die bei ihren ersten Sektionsversuchen
manchen Schnitt, welcher der Leiche zugedacht war, in die
eigene Hand führten, die sie dann in einem Verband tragen,
von dem sie behaupten, er wäre ihnen auf dem Kampfplatze
der Ehre angelegt worden, zu einer gewissen Sprichwörtlich-
keit gebracht. Oft handelt es sich in solchen Fällen um harmlose
Scherze, wie man sich sie nur mit seinesgleichen erlaubt.
Und obwohl der Scherz an sich gewiss nicht unethisch ist,
möge ein Hinweis auf ihn als Motiv eines (aussergerichtlichen)
Geständnisses in diesem Zusammenhange gestattet sein.
c) Geständnisse aus Opportunismus. Darunter
seien jene in den verschiedensten Absichten abgelegten Ge-
ständnisse, speziell spontane Selbstbeschuldigungen, zusammen-
gefasst, als deren gemeinsames Motiv das Streben gelten kann,
durch das Geständnis einen Vorteil zu erlangen, auf welchen
dem Verdächtigen ein Anspruch kraft Gesetzes nicht zusteht.
Es scheiden daher in diesem Zusammenhange jene Geständ-
nisse aus, deren Motiv in dem Streben nach Schaffung eines
Milderungsgrundes zu suchen ist, zumal wir dieser Geständ-
nisse unter dem Gesichtspunkt des bereits erwähnten Normal-
falls von Geständnissen in Strafsachen gedacht haben. Die
hierher zu subsummierenden Fälle sind der mannigfachsten Art.
Es werden Gestándnisse abgelegt in der Absicht, sich
einer Verurteilung gänzlich zu entziehen. Zwei Möglichkeiten
sind hierbei auseinander zu halten: Entweder ist die Strafe,
deren Verbüssung jemand durch sein Geständnis entgehen
will, bereits zuerkannt (dass sie in Rechtskraft erwachsen sei,
ist keineswegs hierzu erforderlich), oder die Verurteilung steht
noch bevor. Selbstverständlich ist ein aus diesem u. zw.
nur aus diesem Motive abgelegtes Geständnis stets falsch.
Der Vorgang ist ungefähr nachstehender: Ein Verbrecher, der
ein ihm zur Last gelegtes Verhalten bereits zugestanden hat,
bez. deswegen schon verurteilt ist, gesteht nunmehr ein
Verbrechen ein, welches er nicht begangen hat. In der
sicheren Erwartung, sein Geständnis werde sich als unwahr
erweisen, rechnet er etwa damit, dass man diesem Umstande
— 117 —
quasi „rückwirkende Kraft“ beimessen und auch das früher
abgelegte Geständnis der wirklich begangenen Tat als hinfällig
oder doch zumindest erschüttert ansehen und ihn straflos aus-
gehen lassen werden; und ist dies nicht gerade der Fall, so
hofft der Gestehende doch, sich persönliche Vorteile zu ver-
schaffen. Über ein falsches Geständnis, abgelegt in der Ab-
sicht, einer bereits zuerkannten Strafe zu entgehen, teilt
Kitka!) Folgendes mit: „Ein Sträfling, welcher wegen Ver-
brechens des Diebstahls zu mehrjährigem schweren Kerker
verurteilt wurde, zeigte bei dem Kriminalgerichte inB..
an, dass er einen ihm den Namen nach unbekannten Menschen
ermordet und den Leichnam verscharrt habe. Derselbe be-
schrieb den Ort, an welchem die Tat verübt und der Er-
mordete verscharrt wurde. Das Kriminalgericht konnte aber
ungeachtet aller angewandten Mühe diesen Ort nicht ausfindig
machen und erhob mehrere Umstände, welche mit der Angabe
des Sträflings in einem offenbaren Widerspruche standen.
Nachdem man den Selbstankläger das Unwahrscheinliche seiner
Aussagen vorgehalten und ihn hierüber zur Verantwortung
gezogen hatte, gestand derselbe ein, dass er durch seine falsche
Selbstanklage beabsichtigt habe, zum Auffinden des Leichnams
an den bezeichneten Ort geführt zu werden, um hierdurch die
Gelegenheit zur Ergreifung der Flucht zu erhalten!“
Auch der Dieb, von dem H. Gross?) erzählt, hat nach
seiner Verurteilung wiederholt, angeblich von Gewissensbissen
getrieben, Geständnisse darüber abgelegt, wo er das viele Geld
vergraben habe. Jedesmal war es ein ganz anderer Ort und
jedesmal von der Strafanstalt weiter entfernt; gefunden wurde
nie etwas und als (beim letzten Versuche) wieder gegraben
wurde, schrie der Dieb plötzlich: „Da ist's!* und wollte die
so hervorgerufene Aufregung zu einem Fluchtversuche be-
nützen. Als er aber sah, dass alles vergeblich sei, bekam er
keine Gewissensbisse mehr und „gestand“ auch nichts weiter.
Haben wir es in diesen beiden Fällen mit falschen Ge-
stándnissen, welche in der Absicht, einer bereits zuerkannten
iKitka,a a. O., S. 112, Anm. **,
2 Gross, Hdb. f. UR., II. Bd., S. 280.
— 118 —
Strafe sich zu entziehen, abgelegt worden waren, zu tun, han-
delte es sich in dem durch v. Feuerbachs!) Darstellung
berühmt gewordenen Fall des Xaver Reth darum, durch ein
falsches Geständnis des Vatermordes der Verhängung einer
Diebstahlsstrafe vorzubeugen. Der Fall ist nie ganz klar ge-
worden, die Möglichkeit jedoch, dass Reth damit rechnete,
wenn sein Geständnis wegen Vatermordes sich als unwahr
herausstellen, der ihm zur Last gelegte Diebstahl nicht tragisch
genommen werde, nicht ganz von der Hand zu weisen. So
wurde er denn auch in letzter Instanz freigesprochen, „weil
es immer als ebenso möglich gedacht werden müsse, dass
das Bekenntnis des Vatermordes von Xaver Reth in der Ab-
sicht abgelegt worden sei, um es glaubhaft zu machen, dass
er schon zur Zeit seines früheren Bekenntnisses der Diebstähle
an einer Abwesenheit oder Verwirrung seines Verstandes ge-
litten habe, sohin um den aus diesem Bekenntnisse der Dieb-
stähle wider ihn hervorgehenden Beweis, wo nicht zu heben,
doch zu schwächen, — als es möglich sei, dass er aus Reue
und um sein Gewissen durch das Erleiden der verdienten
Strafe zu beruhigen, abgelegt habe“ (?).
Im Juni 1904 ward ein Th. T. in Floridsdorf bei Wien
unter dem Verdachte des Mordes verhaftet. Es gelang ihm
zwar der Alibibeweis; allein Blutflecken und ein für seine
Verhältnisse hoher Geldbetrag liessen den Mann immerhin
wegen eines andern Verbrechens dringend verdächtig erschei-
nen. Die Flecken führte der Verhaftete auf Nasenbluten zu-
rück; betreffs des Geldbetrages legte er ein Geständnis ab, die
Summe in einer Geldbörse auf dem Floridsdorfer Bahnhof ge-
funden und sich angeeignet zu haben; um einen Teil dieses
Geldes habe er sich Hemd, Hose, Unterhose und Stiefel ge-
kauft. Diesem Geständnis stand die Wiener Polizei sehr skep-
tisch gegenüber und wandte sich an die Heimatsgemeinde des
T. mit der Anfrage, ob nicht in ihrer Umgebung ein Verbrechen
verübt worden sei, bei welchem Blut geflossen sein müsse.
Die Antwort bestätigte den Verdacht; in der Nähe der Ge-
1) v. Feuerbach, Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen,
3. Aufl. (Frankfurt a. M. 1849), S. 111—119.
— 119 —
meinde war tatsächlich ein blutiger räuberischer Überfall vor-
gekommen und die Personsbeschreibung des Täters passte
genau auf T. Sein Geständnis war daher in der Absicht ab-
gelegt worden, um nur wegen eines minder schweren als des
begangenen Verbrechens abgeurteilt zu werden.
Aber auch in der Absicht, die Gewährung eines augen-
blicklichen Genusses zu erreichen, werden (restándnisse ab-
gelegt. So wird!) erzählt von einem Inquisiten, der einem vorbei-
gehenden Kriminalbeamten über Hunger klagte und ihm dann
vor Freude darüber, dass dieser ihm ein Leib Brot reichte,
ein umfassendes, vollkommen wahrheitsgemäßes Geständnis ab-
legte. In Budapest stellte vor einigen Jahren ein Verbrecher,
der beim Anblick des gemütlich rauchenden Beamten Tantalus-
qualen empfand, diesem für den Fall, dass er ihn einige Tabaks-
züge machen lasse, ein Geständnis in Aussicht. Der Beamte
kam diesem Ansinnen nach und der Verbrecher erfüllte sein
Wort.
III. Geständnisse aus anderen Veranlassungen. Eine er-
schöpfende Anführung aller Geständnismotive ist ein Ding der
Unmöglichkeit. Auch wäre es ungemein schwer, wenn nicht
geradezu unmöglich, die Motive der Geständnisse und die Ge-
mütsstimmungen, in welchen sie abgelegt werden, nach einem
einheitlichen Gesichtspunkte einzuteilen; denn eine derartige
Gruppierung hätte einerseits den Erfolg, dass diese oder jene
Geständnisart eine Gruppe für sich bilden würde, während es
anderseits Gattungen von Geständnissen geben würde, hinsicht-
lich welcher die Einreihung in diese oder jene Gruppe auf
unüberwindliche Schwierigkeiten stossen würde. Es sei daher
gestattet, ehe wir zu den psychopathischen Geständnissen über-
gehen, einiger anderer sub I und II nicht gut unterzubringender
Geständnisarten zu gedenken, welche das gemeinsam haben,
dass neben dem Motiv hauptsächlich die Gemütsverfassung den
Ausschlag gibt.
a) Geständnisse aus Reue. Die Reue ist nicht nur
eine ethische Eigenschaft, sondern sie bewirkt in den meisten
Fällen auch eine psychische Veränderung des Individuums und
1) *,* in Pratobeveras Materialien für Gesetzkunde und Rechts-
pflege, 3. Bd. (Wien 1817), S. 140.
— 120 —
auch von diesem letzteren Gesichtspunkte aus kommt sie für
das Geständnis in Betracht, weshalb wir dieser Art der Ge-
ständnisse auch in diesem Zusammenhange gedenken wollen.
In gewisser Hinsicht verhält es sich mit der Reue so wie mit
der religiösen Gesinnung: es müssen auch bei der Reue An-
sätze, Keime schon vorhanden sein. Ist dies der Fall und
wird an die Reue appeliert, kann dies Erfolg haben. Ist aber
kein Funken von Reue da, so wird es auch dem redegewand-
testen Untersuchungsrichter nicht gelingen, eine reumütige Ge-
sinnung erst wachrufen zu können.
Einen bemerkenswerten Fall eines reumütigen Geständ-
nisses hat Kitka!) verzeichnet. Eine Mutter hatte ihren
zwölfjährigen Sohn ums Leben gebracht und war lange Zeit
zu einem Geständnisse nicht zu bewegen; da sagte Kitka zu
ihr: „Andere Mütter freuen sich, Kinder zu haben. Du hast
einen einzigen Sohn gehabt, er war brav, arbeitsam, lernte
sehr fleissig, und diesen einzigen Sohn, der vielleicht die ein-
zige Stütze in deinem späteren Alter für dich geworden wäre,
hast du umgebracht.“ Da brach die Beschuldigte in heisse
Thränen aus, schluchzte einige Minuten und nach den wohlge-
meinten Worten: „Bekenne lieber!“ legte sie ein Geständnis
ihrer Tat ab.
b) Geständnisse aus Resignation. Die Resignation
ist die Ergebung in das Schicksal: und insofern mit der Reue
verwandt. Mehr minder kommt Resignation vielleicht bei jedem
Geständnis in Strafsachen in Betracht, wenn auch nicht immer
in dem Maße, dass wir von jedem Geständnisse behaupten
könnten, es sei aus Resignation abgelegt. Allein es gibt Fälle, in
denen unter allen zur Ablegung eines Geständnisses hinwirken-
den Momenten das der Resignation in dem Grade prävaliert,
dass wir es schlechthin als die nächste und hauptsächlichste
Veranlassung des Geständnisses ansehen können. Insbesondere
gilt dies von jenen gar nicht seltenen Geständnissen, die Leute
ablegen, welche als letztes Mittel, das sie aus einer verzweifelten
Lebenslage ihrer Ansicht nach noch hätte retten können, eine
verbrecherische Handlung erblicken, dann aber, wenn sie zu
der Erkenntnis gelangt sind, auf diesem Wege weder ein noch
1) Kitka, a. a. O., S. 221.
— 121 —
aus zu können, sich selbst der Behörde stellen, wie z. B. Wechsel-
fälscher, die, wenn der Zahlungstag, der ihre wirtschaftliche
Passivität vor aller Welt enthüllen und auch die Fälschungen
über kurz oder lang an den Tag bringen muss, herannaht,
„der Not gehorchend“ und doch aus eigenem Trieb ihre Machi-
nationen der Behörde eingestehen. Geständnisse, welche aus
solchen Motiven abgelegt sind, beruhen denn auch meistens
der Hauptsache nach auf Wahrheit.
Aber auch der Tätigkeit der Behörden kann es erst ge-
lingen, derartige Geständnisse zu erlangen. Insbesondere dann,
wenn jemandem eine tatsächlich von ihm begangene Tat zur
Last gelegt wird, aber ausser dieser noch andere sein Gewissen
belasten, denkt er sich „wenn schon — denn schon“ und ge-
steht auch die anderen ein. Ein vor einigen Jahren ver-
storbener Professor der Wiener medizinischen Fakultät er-
stattete im Januar 1900 die Anzeige, aus seiner Kasse sei eine
wertvolle Brillantbroche gestohlen worden. Die Erhebungen
belasteten des Professors Diener und dieser gestand nicht nur
den zur Anzeige gebrachten Diebstahl, sondern gab zu, auch
andere Wertsachen entwendet zu haben. — In Teschen (Österr.-
Schlesien) wurde 1904 ein gewisser Tazaba zum Tode ver-
urteilt, weil er vor ca. drei Jahren seine Schwiegermuttter
ermordet hatte; einige Wochen nach seiner Verurteilung liess
er sich dem Untersuchungsrichter vorführen und legte das
Geständnis eines Doppelraubmordes ab. — Anfang August 1904
meldete sich in Jägerndorf (Österr.-Schlesien) ein 22 jähriger
Kellner bei der Polizei als unterstandslos und gestand bei
dieser Gelegenheit, im Jahre 1901 einen Einbruchsdiebstahl in
Wien begangen zu haben, den ein Unschuldiger mit sechs
Monaten Kerker büssen musste.
In diesem Zusammenhange sei darauf hingewiesen, dass
die modernen technischen Hilfsmittel der Polizei manches Ge-
ständnis zu Tage gefördert haben. Nur ein Fall sei hier mit-
geteilt: Ein Diener ward in der Wohnung seines Herrn erhängt
aufgefunden und ringsherum war alles ausgeraubt. An einer
zerbrochenen Fensterscheibe fand man einen Daumenabdruck,
den Bertillon photographierte, vergrösserte und unter einer
éso 199 =
Million von Abdrücken identifizierte, was zur Eruierung des
Täters führte und diesen zum Geständnis brachte.!)
In der reumütigen Resignation liegt ein ungemein mäch-
tiger Trieb zur Wahrheit; ihn mit erlaubten und zweckmäßigen
Mitteln zu fördern, sollte in schwierigen Fällen oft versucht
werden.
Mächtig ist auch der Einfluss des Tatortes auf den Ver-
brecher. Wenn jeder Baum, jeder Strauch, jeder Stein den
Täter daran erinnert: „Hier bin ich, hier ist er gestanden, als
es geschah“, gibt manch Verstockter sein Leugnen auf, legt
ein Geständnis ab und solch ein Geständnis ist wohl immer
buchstäblich wahr. Feuerbach?) erzählt von einem Mörder,
der drei Jahre standhaft leugnete, allein an die Stätte seines
Verbrechens geführt vom Wahrheitstrieb geradezu überwältigt
wurde und seine Tat gestand. — Kindesmörderinnen, denen
stets ihre kleinen, unschuldigen Opfer erscheinen 3), werden ge-
ständig am Orte der Tat.
Auch einzelne Gegenstände, die zur Tat in Bezienungen
stehen, können zum Geständnisse drängen. Zwei Wilderer
hatten einen Förster ums Leben gebracht. Der eine der Täter
legte nach einer Beichte ein Geständnis ab, der andere hin-
gegen leugnete beharrlich, ungeachtet des bereits abgelegten
Geständnisses seines Genossen. Als man ihm aber am Orte
der Tat des ermordeten Försters Gewehr zeigte, welches diesem
im Handgemenge entglitten und hernach von den Mördern in
einem Gebüsch verborgen ‚worden war, hielt auch der zweite
Täter mit der Wahrheit nicht länger zurück.
c) Gestándnisse aus Verblüffung. Während die
Resignation als Geständnisveranlassung ein allmählich vor sich
gehender Seelenvorgang ist, kann die Verblüffung als Geständ-
nismotiv als das gerade Gegenteil von ihr aufgefasst werden.
Geständnisse aus Verblüffung zählen wohl zu den grössten
Raritäten der Strafrechtspflege. Ein reicher Landmann be-
1) Näcke im Gross’schen Archiv, 14. Bd., S. 362; vgl. auch Paul, Hdb.
d. Kriminal. Photographie (Berlin 1900), S. 17.
2 v. Fenerbach, Kriminalrechtsfälle, II. Bd., S. 15.
2) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 612.
— 123 —
merkte den Abgang etlicher silberner Lóffel; er nahm seine
Dienstleute ins Gebet — erfolglos. Da liess er alle seine Leute
an einem Feierabend um einen grossen Tisch treten, steckte
seinen Kopf unter den Tisch und hiess sie, dasselbe zu tun.
Dann fragte er: „Haben alle das getan?“ Ein einstimmiges
„Ja“ war die Antwort. „Der Dieb auch?“ „Ja“, lautete die
vereinzelte Stimme des Stallknechts, bei dem das gestohlene
Gut auch wirklich gefunden wurde. Der schlaue Landwirt
hatte einen richtigen psychologischen Gedanken ausgeführt: es
hatte sich ihm um eine so ausgefallene Idee gehandelt, dass
ihre Durchführung bei den Beteiligten einen Zustand schaffen
werde, der alle andere Erwägung ganz in den Hintergrund
treten lassen werde; dies war ihm gelungen: der Täter hatte
sich verraten. |
Bei Naturvölkern gibt es noch heute eine Menge Triks,
welche Verblüffung hervorzurufen bezwecken, die den wahren
Täter zu einem Geständnis veranlasst. !)
d) Geständnisse aus Zwang. Dem Zwang als Ge-
ständnismotiv kommt in der Gegenwart gewiss. keine so grosse
Bedeutung zu wie einstens, da im Dienste des Inquisitionspro-
zesses die Folter als Mittel zur Beantwortung der peinlichen
Frage ihre Dienste zu versehen hatte. Gleichwohl kommt er
als Geständnismotiv leider auch heute noch dann und wann
vor, u. zw. sowohl als absoluter, wie auch als psychologischer
Zwang, welcher durch Furcht und Angst, also vor allem durch
Drohungen und Misshandlungen begründet wird.
Es ist, wenn wir nach Beispielen Umschau halten wollen,
gar nicht notwendig erst auf einen Untersuchungsrichter aus
dem Anfang des 19. Jahrhunderts zurückzugehen, der in roher
Weise einen Mörder in das Zimmer, in welchem der Mord
vollbracht wurde, zur Nachtzeit einsperren liess und als der
Mörder unter dem Eindrucke einer Vision ein Geständnis
ablegte, seiner hehren Aufgabe als Untersuchungsrichter ge-
recht geworden zu sein glaubte. Schliesslich wird heutzutage
niemand einem Untersuchungsrichter einen Vorwurf daraus
machen, wenn zufällige Umstände einen Beschuldigten in Furcht
') Vgl. Hellwig im Gross'schen Archiv, 18. Bd., S. 221.
— 124 —
versetzen, unter deren Eindruck er dann ein Geständnis ab-
legt; einen derartigen Fall teilt Gross!) mit. Die Tatsache,
dass ein richterlicher Beamter einen bei einer Studentenmensur
beschlagnahmten Säbel in die Hand nahm, um ihn einer harm-
losen Betrachtung zu unterziehen, veranlasste einen Dieb, welcher
eben verhört wurde und sich hierbei aufs Leugnen und Lügen
verlegte und beim Anblick der scharfen Waffe meinte, im
nächsten Augenblick zumindest gespiesst oder geköpft zu werden,
zu einem ausführlichen Geständnis.
Hingegen kommen Fälle vor, in welchen in geradezu
barbarischer Weise Geständnisse erpresst wurden. Was von
solchen Geständnissen zu halten ist, möge aus Folgendem her-
vorgehen: Im Jahre 1882 war die Bauersfrau A. unter dem
Verdachte der Brandstiftung beim Schnapshändler L. zu X. in
Galizien verhaftet worden. Laut Gendarmerieanzeige war sie
vollkommen. geständig und auch in der Voruntersuchung legte
sie ein Geständnis ab. Das Geständnis vor dem Gendarmen
war nach dessen Zeugenaussage freiwillig abgelegt worden.
Beide Geständnisse stimmten inhaltlich vollkommen überein
und schienen auch insofern glaubwürdig, als die anderweitigen
Beweiserhebungen die Anwesenheit der Beschuldigten am Tat-
orte zur kritischen Zeit ergeben hatten. Da kam die Haupt-
verhandlung und — der Widerruf der Geständnisse; er be-
= wirkte eine Konfrontierung mit dem Gendarmen, der verwirrt
wurde, zu stottern begann und schliesslich sagte, die A. habe
vor ihm kein Geständnis abgelegt. „Es ist nicht wahr“, donnerte
ihn die A. an, „ich habe vor Ihnen gestanden, weil Sie mich
mit der einen Hand würgten und mit der andern so lange
auf den Kopf schlugen, bis ich zu gestehen gezwungen war,
um Ruhe zu haben.“ Der Gendarm wurde blass und schwieg.
Vor dem Untersuchungsrichter wollte die A. ihr Geständnis
widerrufen, doch schrie er sie an und sagte, wenn sie leugne,
verzögere sie die Untersuchung und erhalte eine grössere
Strafe, da sie sich eines Milderungsgrundes beraube, worauf-
hin die A. ihr Geständnis aus Furcht wiederholte.? — Franz
T. ward unter dem Verdachte, einen alten Dorfschullehrer um
1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 640.
*) Rosenblatt in Goltdammers Archiv. 31. Bd., S. 447 f.
— 125 —
6000 Gulden bestohlen zu haben, verhaftet. Nach anfäng-
lichem Leugnen legte er ein Geständnis ab, durch welches er
auch seine Familie stark belastete. Nach zwei Monaten
Untersuchungshaft widerrief er es mit der Begründung, er sei
vom Gendarmen K. zum Geständnis gezwungen worden; dieser
habe ihn ans Bett angekettet, an Händen und Füssen ihm
Schellen angelegt und ihn so lange mit einem Rohr geschlagen,
bis er, um weiteren Folterungen zu entgehen, die im ganzen
Ort allgemein bekannten Einzelheiten der Tat wiederholte, die
Schuld auf sich nahm und über Andrängen des Gendarmen
seine Angehörigen mitbeschuldigte; und — horribile dictu —
diese Entstehungsgeschichte seines Geständnisses stellte sich
als vollkommen richtig heraus.)
Im November 1903 widerrief ein 16 jähriger Majestäts-
beleidiger vor den Geschworenen in Prag sein auf der Polizei
abgelegtes Geständnis und erklärte, er habe sich beim polizei-
lichen Verhör durch das Versprechen, er und seine Mitverhaf-
teten würden dadurch auf freien Fuss gesetzt werden, bewegen
lassen, Taten einzugestehen, die er nicht begangen habe. Auf
dieses Geständnis sei auch die Zitation seines Vaters auf die
Polizei maßgebend gewesen, der ihm die Sorge geschildert,
die ihm seine Verhaftung verursacht habe, und ihm sagte,
seine Mutter sei darob erkrankt; so wenigstens wurde das
widerrufene Geständnis motiviert. In diesem letztern Falle
haben wir es mit psychologischem Zwange zu tun.
In einem andern Fall, der im März 1905 vor den Ge-
schworenen in Wien zur Verhandlung kam, hatte der An-
geklagte anlässlich des polizeilichen Verhörs ein wahres Ge-
ständnis abgelegt, jedoch fälschlicherweise einen Mittäter ge-
nannt. Bei Gericht rechtfertigte er sich dahin, es sel der ihn
verhörende Polizeikommissär in ihn gedrungen und habe ihm
die Enthaftung in Aussicht gestellt, wenn er seinen Komplizen
nenne. Zwischen dem als Zeugen vernommenen Polizeikommissär
und dem Präsidenten der Hauptverhandlung entspann sich hier-
über folgender Dialog: Zeuge: Ich habe nur gesagt, er kann
eher frei werden, wenn er ein volles Geständnis ablegt. —
Präs.: Das war etwas weit gegangen, denn über die Enthaf-
') Rosenblatt, a. a. O., S. 448 f.
— 126 —
tung in solchen Fällen hat nicht die Polizei zu entscheiden.
— Zeuge: Ich habe nicht gesagt, ich werde ihn enthaften,
sondern er kann eher enthaftet werden, wenn er die Wahrheit
angibt. — Präs.: Sie waren eben der Überzeugung, dass ein
zweiter dabei gewesen sein müsse. — Zeuge: Ja, nach der
Sachlage schien dies gewiss.
Als eine besondere Art des psychologischen Zwanges kann
die Suggestion gelten. So bestritten ihre Natur ist: darin
kommen alle Definitionen ein, dass Suggestion soviel wie Be-
einflussung, Eingebung bedeutet, dass jeder Mensch mehr
minder suggestibel ist und daher mehr minder dem Zwange
der Suggestion unterliegt, ohne Rücksicht auf die ihm zuteil
gewordene Vorbildung, wenngleich die Annahme, dass der Ge-
bildete nicht in dem Maße wie der minder Gebildete suggestibel
sei, zweifelsohne vollauf gerechtfertigt ist. Nach Placzek?) ist
Suggestion die Eingebung von Vorstellungen, durch die ein
Mensch auf den anderen psychisch einwirkt. Ist nun auch
mehr minder jeder Mensch suggestibel, so ist er es doch nicht
für alle Eingebungen ?2); maßgebend sind auch hier persönliche
Momente, unter ihnen nicht in letzter Linie das sittliche Niveau,
auf welchem das Individuum steht. Dass nun derartige Ein-
gebungen falsche Geständnisse zeitigen können, hat die Erfah-
rung gelehrt. Im Fall Borras begegnen wir einem falschen
Geständnisse des Mordes, unter dem Einflusse der Suggestion
abgelegt, wie Bernheim ausgeführt hat, und Liégeois er-
zählt von einer Adele B., die sich fälschlich der Leibesfrucht-
abtreibung bezichtigte; sie hatte sich durch intensives Zureden
seitens ihrer Eltern, die volle Wahrheit zu sagen, ein Geständ-
nis suggerieren lassen; dass dieses falsch war, ergab sich aus
dem Befunde des Gefängnisarztes, der sie nach ihrem Straf-
antritt untersucht und ein vorgerücktes Stadium der Schwanger-
schaft an ihr festgestellt hatte.3) Und auf nichts anderes als
Suggestion, freilich gefährlichster Art, nämlich durch die Presse
1) Placzek im Gross'schen Archiv, 2. Bd., S. 133.
2) v, Schrenck-Notzing im Gross'schen Archiv, 5. Bd., S. 10.
2) v. Schrenck-Notzing, a. a. O., S. 16; derselbe, Über Sugges-
tion und Erinnerungsfälschung im Berchthold-Process (Leipzig 1897), S. 75.
— 127 —
führt es v. Schrenck-Notzing!) zurück, dass sich wäh-
rend der 14tágigen Dauer des Münchner Berchthold-Prozesses
nicht weniger als sieben Personen mit dem Geständnis meldeten,
den dem Berchthold zur Last gelegten Mord begangen zu haben,
obwohl nach Lage des Falles nur einer als Täter in Betracht
kommen konnte; als solcher wurde Berchthold verurteilt; ob
mit Recht, wollen wir dahingestellt sein lassen. |
Das eine sei aber schliesslich erwähnt, dass suggerierte
Aussagen an sich betrachtet keineswegs ein Symptom einer
anormalen psychischen Veranlagung sind und daher an dieser
Stelle und nicht erst im Folgenden sie zu erwähnen gerecht-
fertigt ist.
IV. Geständnisse aus psychopathischen Gründen. Hier-
unter seien jene Geständnisse und insbesondere Selbstanzeigen
zusammengefasst, die in einer ganz individuellen psychologischen
oder richtiger psychopathischen Veranlagung der sie ablegenden,
bez. erstattenden Personen ihren Beweggrund haben, sei es,
dass die Tat selbst aus einem mehr oder minder psychopathischen
Grunde begangen wurde, sei es, dass lediglich das Geständnis
en derartiges Motiv hat. Wenn v. Krafft-Ebing sagt, die
Tat des Wahnsinnigen könne ganz gut so ein Motiv haben,
wie die des geistig Gesunden ?), wenn Spielmann?) direkt
sagt, dass Reue Geisteskrankheit nicht immer ausschliesse, so
ist es nicht im mindesten unsere Absicht, hierhinein eine
Bresche zu schlagen; vielmehr sollen hier nur jene Geständnisse
angeführt werden, die unter Umständen erfolgen, die wir beim
geistig Gesunden nicht antreffen, Geständnisse, deren Glaub-
haftigkeit oft nur mit grosser Reserve angenommen zu werden
verdient, dies sowohl nach den Ergebnissen der Psychiatrie als
auch nach den bisherigen Erfahrungen der Praxis.
Heimweh kann eine derartige psychopathische Veränderung
hervorrufen, dass der sonst ganz ethisch veranlagte Mensch
1) v. Schrenck-Notzing im Gross'schen Archiv, 5. Bd., S. 14;
le Über Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchthold-Process
. 93,
*) Vgl. dazu Gross, Hdb. f. UR., I. Bd., S. 175.
%) Spielmann, Diagnostik der Geisteskrankheiten (Wien 1855), S.
516; vgl. daselbst ff. auch über das Geständnis.
— 128 —
zum Verbrechen schreitet, nur um die dadurch bedingte Ver-
änderung seiner Lebenslage herbeizuführen. Was das Ge-
ständnis derartiger Leute anlangt, sagt Gross'): „In der Regel
leugnen solche höchst bedauernswerten Individuen die Tat um
so weniger, als sie sich ohnehin so unglücklich fühlen, dass
ein Mehr ihres Jammers durch die Haft nicht deutlich empfunden
wird.“ Ja mehr als das, sie leugnen nicht nur nicht, sie ge-
stehen sogar mehr als sie begangen haben und sind „staats-
anwaltlicher als der Staatsanwalt“. Aber nicht nur Heimweh
kommt als Beweggrund ihrer Geständnisse in Betracht; die
verschiedensten Motive wirken hier auf diese Selbstankläger ein.
Wichert, der „Richter und Dichter“ hat in seiner Erzählung
„Sie verlangt ihre Strafe“ einen solchen Fall geschildert. Diese
Erzählung machte von Anfang an auf mich den Eindruck, dass
sie eine wahre Begebenheit behandle, und ihr inzwischen ver-
storbener Verfasser hat diese meine Ansicht mir auf eine An-
frage hin bestätigt mit den Worten: „Im Jahre 1871 habe ich
selbst beim Königsberger Schwurgericht mitgesessen, als ein
sehr ähnlicher Fall zur Verhandlung kam. Ich habe in meinem
Tagebuch angemerkt, dass ich von daher das Motiv zu meiner
Novelle genommen habe, doch besinne ich mich nicht mehr,
was etwa im Einzelnen abweichend war. Das psychologische
Moment ist jedenfalls treu aus der Wirklichkeit übernommen,
denn dies reizte mich ja eben, die Novelle zu schreiben. Ich
glaubte aber auch, dass die Tatsachen ungefähr stimmten“.
Da somit Wahrheit und Dichtung sich der Hauptsache nach
decken, sei der Inhalt der erwähnten Erzählung kurz ange-
führt: Marie Zwinger stand unter der Anklage der Brand-
legung vor den Königsberger Assissen. Sie hatte sich selbst
der Brandstiftung an dem Hause ihres früheren Dienstgebers
beschuldigt. Zeugen der Tat gab es nicht, doch liessen die
Angaben der Zwinger einen „wenigstens schwachen“ Indizien-
beweis zu. Nur das Motiv, aus welchem die Brandlegung hätte
geschehen sein können, war nicht zu ergründen. „Das Ge-
ständnis war“ nach Wicherts Angabe „in jeder Hinsicht, was
der Richter „ausreichend“ nennt, das heisst, es enthielt ın
seiner Zusammenstellung alle diejenigen Umstände, welche die
1) Gross, Kriminal-Psychologie, S. 92,
— 129 —
begangene Tat zu der verbrecherischen Handlung stempelten,
wegen deren die Anklage erhoben war.“!) Aus dem Gange
der Verhandlung ergab sich, dass die Angeklagte bereits zwei-
mal vor Gericht gestanden, beidemal jedoch freigesprochen
worden war. Sie hatte ihr neugeborenes Kind getötet und sich
deswegen wegen Kindesmord zu verantworten gehabt; obwohl
siesich selbst dem Gericht gestellt hatte, war ihre Freisprechung
erfolg. Seit damals konnte ihr Gewissen nicht zur Ruhe
kommen und so stellte sie sich wiederum dem Gerichte unter
der Selbstbeschuldigung der Brandstiftung, die sie in der Tat
begangen hatte. Trotzdem war es ihr nicht gelungen, ihre
Richter von ihrer Schuld zu überzeugen und so war sie aber-
mals freigesprochen worden. Und nun stand sie wiederum
unter der Anklage wegen Brandlegung, zu welcher sie sich,
obwohl völlig unschuldig, selbst bekannt hatte und wiederum
erfloss ein freisprechendes Urteil, das sie mit den Worten auf-
nahm: „Das mögen sie vor Gott verantworten, dass sie eine
Schuldige freisprechen!“ Noch am selben Tag stürzte sie sich
in den Mühlteich.
Auch v. Krafft-Ebing?) teilt einige hochinteressante ein-
schlägige Fälle mit. Ein gewisser W. stand unter der Anklage.
einen Waldhüter erschossen zu haben. Einige Zeit nach seiner
Verhaftung trat Irrsinn ein, während dessen Dauer W. wieder-
holt ausrief: „Ich habe geschossen, ich gestehe es, lasst mich
jetzt in Ruhe!“ Nach seiner Genesung erklärte sich W. für
schuldlos. Ein Beweis seiner Tat fehlte, es musste daher
Freisprechung eintreten.
In einem andern Falle handelte es sich um die Selbst-
beschuldigung eines Notarschreibers, seinem Herrn einen be-
deutenden Geldbetrag veruntreut zu haben. Während der
Untersuchung trat Erkrankung an Typhus ein und in diesem
Zustand rief er öfters: „Dieb, ich habe gestohlen — Bank-
billete — 1700 — im Gefängnis — Guillotine — entehrt, —
her mit Richter — haltet den Dieb — ich bin ein Dieb —
) Wichert „Nur Wahrheit! Sie verlangt ihre Strafe.“ Zwei Er-
“hlungen (Reclam'sche Univ.-Bibl.)
? v. Krafft-Ebing, Lb. d. gerichtl. Psychopathologie, 2. Aufl. (Stutt-
gart 1881), S. 326.
9
— 130 —
verhaftet mich!“ Nach seiner Genesung behauptete er Schuld-
losigkeit und das Ergebnis der Strafverhandlung war sein
Freispruch, da die Richter so vernünftig waren, lediglich auf
ein derartiges Geständnis keinen Schuldspruch zu bauen.
Ganz besonderes kriminalpsychologisches Interesse dürfte
der Fall einer jungen Frau finden, die eines Tages sich dem
Gerichte stellte mit dem umfassenden und in den Einzelheiten
ziemlich plausibel begründeten Geständnis, ihr siebenjähriges
rhachitisches Kind zu Tode misshandelt zu haben, während
de facto das Kind eines natürlichen Todes ın Abwesenheit
seiner Eltern gestorben war und die Mutter, die ihr Kind mit
geradezu rührender Sorgfalt gepflegt hatte, aus Kummer über
ihre Abwesenheit in der Todesstunde ıhres Lieblings gemüts-
krank geworden war und im Zustande der Melancholie sich der
. Tötung des Kindes beschuldigt hat. Es mag hier der Vor-
wurf, den sich diese bedauernswerte Frauensperson über den
Tod ihres Lieblings machte, in Verbindung mit der irrigen
Meinung, im Falle ihres Verweilens an Seiten des Kindes
durch sorgsamste Pflege dessen Tod verhindert haben zu können,
sie gewissermaßen vor ihrem Gewissen als Mörderin erscheinen
gelassen haben und aus dieser Vorstellung heraus dürfte die
Geisteskrankheit entstanden, die falsche Selbstanschuldigung
erfolgt sein.
v. Holtzendorff!) berichtet von einem in Schlesien ein-
gesperrten Sträfling, der unter Angabe aller näheren Umstände
eine von dem Tode eines Menschen gefolgte Brandstiftung ein-
gestand, während aktenmäßig sein Alibi feststand, was die
Richter, die ihn zum Tode verurteilten, einfach übersehen
hatten. Vielleicht mag in diesem Falle Lebensüberdruss als
Geständnismotiv mitgewirkt haben. Die Geständnisse, welche
in der Absicht abgelegt sind, aus Lebensüberdruss die Todes-
strafe oder wenigstens diejenige Weltabgeschiedenheit, welche
notwendigerweise mit einer langjährigen Freiheitsstrafe ver-
bunden ist, herbeizuführen, brauchen nicht immer jeder tat-
sächlichen Grundlage zu entbehren. Der Lebensüberdruss führt
eben nicht immer direkt zum Selbstmord, sondern gar oft auch
zur Beabsichtigung eines nur indirekten Selbstmordes. Das
1) yv. Holtzendorff, a. a. O., S. 302.
— 131 —
Individuum will von der übrigen Welt abgesondert sein; daher
Begehung einer strafbaren Handlung, daher deren zumindest
unumwundene, manchmal sogar unter Hinzufügung schwererer als
den Tatsachen entsprechenden Umständen erfolgende Einbekenn-
ung. Insbesondere bei Melancholikern ist dies häufig der Fall.
„Dass hier die Willenslenkung gehemmt sei und keine psy-
chische Freiheit mehr angenommen werden könne, wenn es sich
um die Beurteilung einer dem Strafgesetze verantwortlich ge-
wordenen Handlung handelt, darf als Grundsatz ohne alles
Bedenken angenommen werden“, hat Schürmayer!) schon
vor einem halben Jahrhundert richtig erkannt. v. Krafft-
Ebing?) teilt einige hierher gehörige Fälle mit, in denen
Melancholie zu Verbrechen trieb, die dann ohne weiteres ein-
gestanden worden sind.*)
Interessant ist ein von Amschl*) mitgeteilter Fall, in
welchem es sich um einen Zwängling handelt, dem der Aufent-
halt im Arbeitshaus, dem er nach seiner eigenen Äusserung
jede Strafe, sogar den Tod vorzog, so verhasst war, dass er,
nachdem ein von ihm beabsichtigter Selbstmord verhindert
worden war, sich fälschlich eines Raubmordes bezichtigte, nur
um dem Arbeitshaus entrissen zu werden. '
Vielleicht gehört in diese Gruppe auch das im Fall Bra-
tuscha abgelegte Geständnis, ein Fall, der durch sein sensatio-
nelles Nachspiel in der letzten Zeit so viel Aufsehen erregte. *)
Im Jahre 1900 verschwand in Untersteiermark die 12 jährige
Tochter Johanna des Winzers Franz Bratuscha. Nach einiger
Zeit las letzterer in einer Zeitung, es wäre die Leiche eines
unbekannten Mädchens gefunden worden und er begab sich an
Ort und Stelle, wo er die ihm gezeigten Kleider des Mädchens
als die seiner verschwundenen Tochter agnoszierte und sich
ausfolgen liess. Da um dieselbe Zeit auch ein anderes Mädchen
1) Schür mayer, Lb. d. ger. Medizin, 2. Aufl. (Erlangen 1854), S. 885.
2) v. Krafft-Ebing, a a. O., S. 91 ff.
3) Über den Begriff der Schwermut vgl. auch Otto Gross, Die cere-
brale Sekundärfunktion (Leipzig 1902), S. 28.
1) Gross'sches Archiv, 5. Bd., S. 296 ff.
5) Vgl. dazu Nemanitsch in Gross’schen Archiv, 7. Bd., S. 300 ff.
und Gross in der D. Jur.-Ztg. 1904, Nr. 3.
g*
— 132 —
vermisst wurde, behielt die Gendarmerie die Sache im Auge
und ein Gendarm nahm dem Bratuscha die Kleider, die dieser
sich hatte ausfolgen lassen, wieder ab, als sich herausstellte,
es handle sich hier um die Kleider des anderen Mädchens.
Bratuscha erhielt eine gerichtliche Vorladung; zuvor ging er
jedoch zum Gendarmeriewachtmeister, sich erkundigen, worum
es sich handle Dieser schöpfte Verdacht, nahm eine Haus-
suchung vor, fand hierbei Kleider, in denen er die der Johanna
Bratuscha und an denen er Blutflecken vermutete, und als er
Auskunft über den Verbleib des Kindes verlangte, legte Franz
Bratuscha ein Geständnis des Inhaltes ab, er habe sein Kind
erwürgt; dieses Geständnis wiederholte er vor dem Bezirks-
gericht Pettau, vor dem Untersuchungsrichter, vor den Ge-
schworenen, schliesslich nach seiner Verurteilung vor dem
Vorsitzenden der Verhandlung; dem Untersuchungsrichter liess
er sich einmal sogar behufs freiwilliger Ergänzung seiner An-
gaben vorführen; er habe sein Kind im Walde gefunden, mit
den Händen erwürgt und die Leiche verborgen, abends dann
nach Hause gebracht, mit einem Messer unter Hilfe seiner Frau
zerstückelt und die Leiche teils verbrannt, teils gebraten und
gegessen. Die Frau des Bratuscha war anfangs geständig,
dann leugnete sie, nach einer Beichte legte sie jedoch wieder
ein Geständnis ab. Gegen Franz Bratuscha erging ein Todes-
urteil, das im Gnadenwege in lebenslangen schweren Kerker
umgewandelt wurde, seine Frau wurde wegen Vorschubleistung
zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt. — Im August 1903
befand sich nun beim Bezirksgericht Gurkfeld in Krain eine
Diebin in Haft; lange wollte sie ihren Namen nicht nennen,
auf einmal sagte sie, Johanna Bratuscha zu heissen. Genau
gepflogene Erhebungen ergaben, dass man es tatsächlich mit
der Tochter des Franz Bratuscha zu tun hatte. Nun war über
jeden Zweifel erwiesen, dass Bratuscha ein falsches Geständnis
abgelegt hatte. Von allen Erklärungen, wieso dieses zustande
gekommen sein mochte,!) scheint doch die, dass Bratuscha
geistesgestört ist, die einleuchtendste zu sein.
Ende April 1904 stellte sich in Wien ein junger Mensch
1) Vgl. darüber G ross in der D. Jur.-Ztg. ex 1904, der nicht weniger
als fünf Möglichkeiten erúrtert.
— 133 —
der Behörde mit der Selbstanzeige, 24 Einbruchsdiebstähle be-
gangen zu haben; über das Motiv befragt, gab er an, dass er
sich deshalb selbst ausliefere, weil er sonst seine Frau und
seine Schwiegermutter ermorden müsste. Man fand den Mann
geistesgestört. Ñ , 2
Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass Ge-
ständnisse einerseits aus den verschiedensten Motiven abgelegt,
anderseits mit den verschiedensten Motiven begründet werden,
ohne dass es in diesen letzteren Fällen stets möglich ist, das
wahre Motiv des Geständnisses (ebenso wie das wahre Motiv
der Tat) auch nur mit annähernder Gewissheit ergründen zu
können. Unter solchen Umständen erwächst der Kriminal-
psychologie die wichtige Aufgabe, auf die Prüfung der Geständ-
nisse an sich, aber auch der Beziehungen eines Geständnisses
zu den Ergebnissen der anderweitigen Beweiserhebungen mit
dem grössten Nachdrucke zu dringen und vor solchen Justiz-
irrtümern zu warnen, die nur zu oft in Überschätzung und
kritikloser Hinnahme eines Geständnisses ihren Ursprung haben.
F) Der Widerruf des Geständnisses in Strafsachen.
Welche Wandlungen die prozessuale Bedeutung des Wider-
rufs eines Geständnisses in Strafsachen im Verlaufe der Jahr-
hunderte durchgemacht hat, ergibt sich aus den rechtsgeschicht-
lichen Abschnitten der vorliegenden Darstellung. Lange Zeit
hat man im Geständniswiderruf den contrarius actus eines Ge-
ständnisses erblickt, im Falle des Widerrufs das Geständnis als
einfach nicht vorhanden betrachtet und man hat in solchen
Fällen entweder die Verurteilung auf andere Gründe als das
Geständnis gestützt oder, wenn solche nicht vorlagen, ab instantia
absolviert. Dieser Standpunkt wurde lange Zeit konsequent
festoehalten und erst um die Wende des 18. und 19. Jahr-
hunderts verlassen. Ä
Heute liegen die Dinge so, dass einerseits trotz Geständ-
nisses freigesprochen, anderseits trotz Geständniswiderrufs ver-
urteilt werden kann.
Der Geständniswiderruf muss ebenso wie das Geständnis
selbst einer Prüfung auf seine äussere wie innere Haltbarkeit
— 134 —
unterzogen werden, d.h. es muss einerseits auf die übrigen
Beweisresultate, anderseits auf den durch sorgfältige Erforschung
seines Motivs zu ermittelnden inneren Wert des Widerrufs
Rücksicht genommen werden. Denn ebenso wie es glaubwürdige
und unglaubwürdige (Grestándnisse gibt, gibt es auch unglaub-
würdige und glaubwürdige Geständniswiderrufe; Geständnis
und Geständniswiderruf dürfen eben niemals als Dinge an sich
in Betracht gezogen, müssen vielmehr als Teile jenes grossen
Ganzen, das man Beweisverfahren nennt, logisch und psycho-
logisch geprüft werden.
In psychologischer Hinsicht erscheint freilich auch heut-
zutage der Geständniswiderruf als contrarius actus des Geständ-
nisses. Reue als Motiv des Geständnisses ist Reue ob des
begangenen Verbrechens; wenn aber die Reue wegen des ab-
gelegten Gestándnisses zu dessen Widerruf führt, erscheint das
Gegenteil von Reue, nämlich Trotz als Motiv des Geständnis-
widerrufs; und der Trotz ist wohl das hauptsächlichste Motiv
des Geständniswiderrufs, wenn auch nicht immer und überall
sein einziges. Auch beim Geständniswiderruf mögen oft Momente
opportunistischer Natur mit im Spiele sein. Der Gedanke,
durch das abgelegte Geständnis das, was zum vollkommenen
Beweis gefehlt hat, nunmehr selbst herbeigeschafft und auf
diese Weise gewissermaßen sich sein eigenes Grab geschaufelt
zu haben, die Erwägung, ohne Geständnis straflos ausgehen zu
können oder wenigstens wegen eines geringern Verbrechens
behandelt werden zu müssen (wenn es sich z. B. um die
— subjektive — Kenntnis eines Moments erhöhter objektiver
Strafbarkeit handelt), mögen manchen Verbrecher oftmals zum
Widerruf des Geständnisses bewogen haben. Schliesslich kommt
— allerdings nur beim teilweisen Geständniswiderruf — auch
das Motiv des Irrtums oder besser gesagt der Erkenntnis eines
das Geständnis herbeigeführt habenden Irrtums in Betracht,
z.B. es hat sich einer dem Gerichte mit der Selbstanzeige
eines vollendeten Verbrechens gestellt und erfährt nun Um-
stände, die seine Tat lediglich als Versuchshandlung in einem
mitunter bedeutend milderen Lichte erscheinen lassen; doch
kommen derartige Geständniswiderrufe als solche für die Straf-
rechtspflege minder in Betracht, da die Momente, mit denen
sie begründet werden könnten, gewöhnlich durch die behörd-
lichen und insbesondere gerichtlichen Erhebungen unzweifelhaft
festgestellt werden.
Die Motive, aus denen Geständnisse widerrufen zu werden
pflegen, sind in der Regel leicht zu finden, wenn man sie ver-
glechungsweise den Motiven der früher abgelegten und nun-
mehr widerrufenen Geständnisse gegenüberstell. Da kommen
hauptsächlich folgende Widerrufs-Motive in Betracht:
a) Der Trotz; hiervon war bereits die Rede.
b) Die Behebung von Furcht und Zwang. Das
unter dem Einflusse von Furcht und Zwang abgelegte Geständnis
wird zurückgenommen in einem Augenblicke und einem Ge-
mütszustande des Verdächtigen, in dem er sich von diesen
Einflüssen frei füblt. Doch darf der Umstand allein, dass das
seinerzeit abgelegte Geständnis als durch Furcht oder Zwang
beeinflusst sich darstellt, den Geständniswiderruf nicht unter
allen Umständen glaubwürdig erscheinen lassen, da derartige
Geständnisse doch dann und wann einen wahren Kern haben.
Beispiele von Widerrufen erzwungener Geständnisse haben
wir bereits angeführt.
c) Die Genesung von psychischer Erkrankung, wobei
bemerkt sei, dass sie wohl einen Geständniswiderruf erklärlich
erscheinen lassen kann, streng genommen aber kein Widerrufs-
motiv ist; denn es fehlt meistens das Bewusstsein, ein Ge-
ständnis abgelegt zu haben, und die spätere widerrufsähnliche
entlastende Aussage erfolgt daher nicht mit dem Vorsatze, den
contrarius actus des Geständnisses setzen zu wollen.
d) Die bestellte Schaffung falscher Entlastungs-
momente. Ein Verbrecher, der geständig war, ist auf einmal
andern Sinnes und widerruft seine ihn belastenden Angaben.
Der Grund eines solchen Vorgehens ist mitunter darin zu
suchen, dass es dem Beschuldigten auf unerlaubtem Wege
gelungen ist, gefälschtes Beweismaterial zu seinen Gunsten her-
beizuschaffen, insbesondere durch inzwischen enthaftete Zellen-
genossen sich einen künstlichen Alibibeweis konstruiert zu
haben. *)
1) Gross, Hdb. f£. UR., I. Bd, S. 106.
— 136 —
e) Das durch beunruhigtes Gewissen einerseits,
durch Aussicht auf strenge Bestrafung anderseits
hervorgerufene Schwanken im Gemite des Ver-
dächtigen. Als geradezu klassisches Beispiel kann das wieder-
holte Geständnis und oftmals widerrufene Geständnis des
Lehrlings Wilhelm im Fall Ziethen gelten. Ziethen war wegen
Ermordung seiner Gattin verurteilt worden. Von Anfang an
leugnete er jede Schuld, ward jedoch schuldig befunden, da
seine Frau — allerdings im Zustande der Zurechnungsunfähigkeit
— ihn als Täter bezeichnete, da ferner in seinem Messer ein
1—1.3 mm grosses angeblich blutiges Holzteilchen sich vorfand
und da schliesslich sein Lehrling Wilhelm belastend gegen ıhn
aussagte. Wiederholt hat Ziethen Wiederaufnahme angesucht,
immer vergeblich; nie aber hat er aufgehört seine Unschuld
zu beteuern und es sind in der Tat berechtigte Zweifel gegen
seine Verurteilung laut geworden, Zweifel, auf die wir hier
nicht eingehen können und auch nicht eingehen wollen, zumal
wir uns wiederholt ausführlich für Ziethens Unschuld ausge-
sprochen haben.!) Nur die Geständnisse und die Geständnis-
widerrufe des Wilhelm sollen uns hier beschäftigen.?) Als
Ziethen in der Mordnacht für verhaftet erklärt wurde, sprang
Wilhelm mit den Worten, sein Meister sei unschuldig, hinzu,
woraufhin auch seine Verhaftung erfolgte. In der Hauptver-
handlung ward Wilhelm freigesprochen. Allein in der Folge
legte Wilhelm ein umfassendes Geständnis vor einem Kriminal-
inspektor zu Berlin ab, dahin gehend, er habe Frau Ziethen
getötet, ihr Mann sei unschuldig. Nicht weniger als viermal
wiederholt er dieses Geständnis, überdies ward festgestellt,
dass er auch aussergerichtlich gestanden habe. Auch seiner
Tante gegenüber legte er unter lautem Weinen ein Bekenntnis
seiner Mordtat ab. „Am andern Tage aber“, sagt Wilhelm,
„war mir mein Geständnis schon wieder leid, und es hätte
wenig gefehlt, so hätte ich es zurückgenommen. Heute fühle
1) Lohsing im Gross'schen Archiv, 3. Bd., S. 218 fft., 5. Bd., S. 163
ff. und in „Eth. Kultur“, 9. Jhrgg. S. 282 f.
2) Unseren Ausführungen legen wir die Darstellung, die Ziethens letzter
Verteidiger, Fraenkl, Der jetzige Stand des Rechtsfalls Ziethen (Wies-
baden 1902) gibt, zugrunde.
— 137 —
ich mein Gewissen erleichtert und sehe meiner Bestrafung mit
Ruhe entgegen.“ In der nächsten Zeit wurde er vom Unter-
suchungsrichter auf die strenge Bestrafung, der er sich aussetze,
aufmerksam gemacht; trotzdem erklärte er: „Ich kann meine
Aussage nicht ändern und sehe auch einer derart hohen Strafe
mit Ruhe und Gleichmut entgegen.“ Drei Tage später jedoch
erfolgte der Widerruf seines Geständnisses mit der Begründung,
Überredung und Aussicht auf Belohnung hätten ihn zum Ge-
ständnis veranlasst, jetzt sei er jedoch müde, für andere Leute
den Kopf ins Loch zu stecken. Als er aber später seine Tante
zufällig erblickte, ward er andern Sinnes, kehrte zu seinem
Geständnis zurück und ward nunmehr dem unglücklichen
Ziethen gegenübergestellt, zu welchem er mit tränenerstickter
Stimme sagte: „Verzeihen Sie mir, ich bin es gewesen, Sie aber
unschuldig. — Verzeihen Sie mir, dass ich Sie ins Unglück
gestürzt habe.“ Einige Tage darauf sagte Wilhelm, er käme
wieder in die Versuchung, sein Geständnis zu widerrufen; die
Sehnsucht nach Freiheit stiege wieder in ihm auf und sein
Hass gegen Ziethen erneuere sich. Dann kommt wiederum ein
Geständniswiderruf, später ein aussergerichtliches Geständnis. —
Als Wilhelm nach der Tat verhaftet war, hatte er von der
Zelle aus einen schwindelhaften Entlastungsbeweis versucht;
da dieser an dem Widerstande eines Zellengenossen scheiterte,
hatte Wilhelm bereits ein Geständnis abgelegt und gelegentlich
wiederholt, also zu einer Zeit und unter Umständen, angesichts
welcher fremde Einwirkung auf ihn völlig ausgeschlossen war.
Auch nur einige Stunden nach seiner Enthaftung bekannte er
sich des Mordes schuldig. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass
Wilhelm der Täter ist und finden auch in einer von Fraenkl!)
mitgeteilten Episode, deren Darstellung an dieser Stelle zu
weit führen würde, ihre Bestätigung. Wenn wir von den
gerichtlichen Entscheidungen, die mit einer einzigen Ausnahme
an Ziethens Schuld festhalten, absehen, gibt es nur einen
Juristen, der Ziethens Schuld schriftstellerisch vertreten hat,
und das ist Barre.?) Doch kann die Bemerkung nicht unter-
drückt werden, dass seine Darstellung an Ungenauigkeiten leidet.
1) Fraenkl, a.a. O., S. 56 und 57.
2 Barre in „Preuss, Jahrbücher“ 68. Bd. (1891), S. 635 ff.
— 138 —
Wilhelm hat einmal gesagt, der Umstand, dass Ziethen an ıhn
denken werde, sei bei seinem (Wilhelms) Geständnisse „am
wenigsten“ mitbestimmend gewesen; Barre ersetzt dieses „am
wenigsten“ durch „wenigstens“, was natürlich einen ganz
andern Sinn gibt. Und einer den Wilhelm belastenden Zeugen-
aussage tut Barre in seinem Aufsatze überhaupt keine Er-
wähnung. Für uns unterliegt es jedoch gar keinem Zweifel,
dass Wilhelms Geständnis glaubwürdig und sein Widerruf un-
glaubwürdig ist. Wird einmal der Tag kommen, an welchem
die zuständigen Gerichte auch diese Überzeugung haben und
einen der grössten Irrtümer deutscher Strafrechtspflege gut
machen werden?
V. Schlussbetrachtung.
In den vorstehenden Ausführungen haben wir das Ge-
ständnis in Strafsachen einer Erörterung in rechtlicher und
psychologischer Hinsicht unterzogen. Wir haben gesehen, welch
hoher Wert ihm seit den ältesten Zeiten beigemessen wurde,
ein Wert, der bis in die Neuzeit in stetigem Steigen begriffen
war und erst in der neuesten Zeit rapid gesunken ist. Wir
sind Strafprozessgesetzgebungen begegnet, denen das Geständnis
alles bedeutete; heute sind wir so weit, dass ein Geständnis zu
einer Verurteilung nicht notwendig ist, aber auch einem Frei-
spruch nicht hinderlich zu sein braucht. Es ist eine Tatsache,
dass falsche Geständnisse abgelegt werden und Glauben finden,
dass aber auch mitunter wahre Geständnisse für falsch ge-
halten werden und der Täter straflos ausgeht.
Wenn es die Aufgabe der Strafrechtspflege ist, kein Delikt
ungesühnt, aber auch keinen Unschuldigen büssen zu lassen,
können wir die Erwägung schlechterdings nicht von der Hand
weisen, dass in der Möglichkeit falscher Geständnisse eine grosse
Gefahr für die Strafrechtspflege gelegen ist, dass aber diese
Gefahr trotz aller Vorsichtsmaßregeln niemals ganz gebannt
werden kann. Wir haben ausgeführt, wie notwendig die
— 139 —
Prüfung eines Geständnisses in logischer und psychologischer
Hinsicht ist, wie wichtig, aber auch wie schwer es ist, das
Motiv eines Geständnisses in Strafsachen zu ergründen; trotz-
dem stehen wir, wenn wir das Geständnis abstrakt betrachten,
vor einem grossen Rätsel, zu dessen Lösung wir keine allge-
meinen Regeln aufstellen, sondern nur Ratschläge geben können.
Dies haben wir getan und wenn wir unsern diesbezüglichen Aus-
führungen noch etwas hinzuzufügen haben, ist es der warme
Appell an die Rechtspflege, sich vor jeder, wie immer gearteten
vorgefassten Ansicht!) zu hüten. An vielem sind ja doch die
unseligen Vorurteile schuld. Noch immer gibt es zuviel Unter-
suchungsrichter, welche im Beschuldigten meistens bereits den
Schuldigen von vornherein vermuten, es gibt Richter und Ge-
schworene, welche im Geiste den einzelnen Phasen eines Straf-
prozesses auf mitunter unrichtiger Fährte voraneilen und ım
Angeklagten bereits den Verurteilten erblicken; und diese
Männer der Strafrechtspflege sind es, welche im Falle eines
Geständnisses des Beschuldigten, bez. Angeklagten vorzeitig
eine Bestätigung ihrer vorzeitig gefassten ‘Meinung erblicken,
sie sind es, die sich in ein Vorurteil so sehr hineinsuggerieren,
dass sie sogar einem wohlbegründeten Wiederaufnahmeantrag
zu Gunsten eines Angeklagten mit grösster Skepsis gegenüber-
stehen. Es kann, insbesondere nach den Erfahrungen der
jüngsten Zeit, vor der Gefahr eines derartigen Vorurteils nicht
genug gewarnt werden. Der Richter sei frei von jedem Vor-
urteil; nur dann ist er der geeignete Prüfer der Aussage eines
Beschuldigten.
Ein anderer Fehler, in den leider viele Untersuchungs-
und Erkenntnisrichter verfallen, liegt darin, dass man an die
Prüfung der Aussage des Beschuldigten, bez. Angeklagten
zweierlei Maß anzulegen geneigt ist, indem alles Belastende für
glaubwürdig, alles Entlastende für unglaubwürdig oder doch
minder glaubwürdig angenommen und dass gerade in den-
jenigen Fällen, in welchen es auf nur einen Zeugen ankommt,
diesem zuviel, dem Beschuldigten zu wenig Glauben geschenkt
1) Gross, Hdb. f. UR., I. Bd., S. 22 ff. und Kriminal-Psychologie,
S. 544 ff.
— 140 —
wird. Dass ein derartiger Vorgang in einzelnen Fällen oft
seine Berechtigung haben mag, wollen wir gar nicht in Ab-
rede stellen; aber das Bedenken können wir doch nicht
unterdrücken, ob hierin nicht zu sehr generalisiert wird, und
dies nicht nur zum Nachteile der Angeklagten, sondern auch
der Justiz selbst.
Ein weiterer Mangel unserer heutigen Strafrechtspflege
liegt in der grossen Abneigung vieler Richter, einem Antrag
des Verteidigers auf Untersuchung des Geisteszustandes seines
Klienten stattzugeben oder eine derartige Untersuchung gar
von amtswegen vornehmen zu lassen. Und wenn dieser Vor-
wurf auch nicht immer zutrifft, ist man doch meistens der
vielfach aufgestellten Forderung, es solle in solchen Fällen
wenigstens einer der Gerichtsärzte ein Psychiater sein, fast
durchwegs abhold. Und doch sollte das eine wie das andere
ausnahmslose Regel sein zumindest in allen wichtigeren Fällen,
bei welchen das Geständnis nicht eine nur deklaratorische,
sondern eine suppletorische Bedeutung hat, m. a. W. bei wel-
chen das Geständnis einen Schuldbeweis nicht bestätigt,
sondern in der Weise ergänzt und bilden hilft, dass er ohne
das Geständnis überhaupt nicht als erbracht angesehen werden
könnte. Keineswegs sei damit gesagt, dass Justizirrtümer dann
ganz und gar ausgeschlossen wären; aber dass ihnen mehr als
bis jetzt vorgebeugt würde, ist sicher und unbestreitbar.
Gross!) hat es richtig ausgesprochen: „In wichtigen Fällen
darf das Geständnis für den Untersuchungsrichter einfach nicht
existieren, er hat ebenso genau vorzugehen, als ob der Be-
schuldigte leugnete.* Wenn Gross aber anschliessend an diese
Worte die Frage aufwirft, ob die alten Strafprozessordnungen
nicht Recht hatten, wenn sie eine Verurteilung wegen Mordes
verboten, wenn nicht die Leiche des Ermordeten zustande ge-
bracht war, so tragen wir kein Bedenken, zu erwidern: Nein,
sie hatten nicht recht! Aus dem Grunde nicht recht, weil
dadurch für den Mörder auf hoher See, der sein Opfer in den
Fluten des Ozeans versenkt, ein Privilegium der Straflosigkeit
1) Gross in der D. Jur.-Ztg. 1904, Nr, 3.
— 14i —
geschaffen würde, das mit der Ethik und dem Gerechtigkeits-
gedanken unvereinbar wäre.
Aber das steht fest, dass in solchen Fällen die Geständnis-
prüfung mit ganz besonderer Sorgfalt vorgenommen werden
muss und ohne einen Psychiater nicht vorgenommen werden
soll. —
Ein Moment noch wollen wir erörtern. Als einstens die
Todestrafe nur an Geständigen vollzogen werden durfte, ward
es vielseitig mit Recht schmerzlich empfunden, dass der reu-
mütige Sünder ärger daran sei als der verstockte Verbrecher,
da dieser schlimmsten Falls lebenslänglich ausgefüttert, jener
aber hingerichtet werden könne. Heute sind wir soweit, dass
wir trotz Vereinfachung des Verfahrens bei kleineren Delikten
der Ansicht sind, die Schuldfrage wie die Straffrage seien ohne
Rücksicht auf den Grad des Verbrechens stets nach gleichen
Grundsätzen zu regeln. Da drängt sich denn für die Fälle, dass
der Richter die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten
nur dadurch gewinnen kann, dass den andern Beweismitteln
das Geständnis (nicht etwa — bloss — bestätigend, sondern)
ergänzend zur Seite tritt, die Frage auf, ob es denn stets recht
und billig sei, jemanden zu verurteilen, wenn er gesteht, während
man ihn im Falle seines Leugnens straflos ausgehen lassen
müsste. Die Schwierigkeit dieser Frage liegt darin, dass das
Geständnis kein Strafausschliessungsgrund sein dürfe, da sonst
die von vorherein gefasste Absicht, im Falle der Anklage zu
gestehen, einer Straflosigkeitsgarantie gleichkäme. Es wird hier
nichts anderes übrig bleiben, als nach der Art der einzelnen
Delikte und nach den persönlichen Verhältnissen der Täter zu
individualisieren und auf dem Wege der bedingten Verurteilung
jene ausgleichende Gerechtigkeit zu üben, deren generelle
Normierung dem sorgfältigst ausgearbeiteten Strafgesetzbuch
nicht zugemutet werden kann.
In Strafurteilen sollte auf das Geständnis in anderer Weise
Bezug genommen werden, als dies bis jetzt geschieht, indem
das Geständnis lediglich konstatiert und allenfalls als Milde-
rungsgrund angeführt wird. Es soll vielmehr, vor allem in
— 142 —
jenen Fállen, in denen das Gestándnis als suppletorisches Be-
weismittel anzusehen ist, zum Ausdruck gebracht werden, aus
welchen Gründen und in welchem Umfange die Aussage eines
Angeklagten, bez. sein Geständnis für wahr angenommen wurde;
denn mit Worten, „der Schuldspruch stützt sich auf Geständnis,“
bez. „das teilweise Geständnis des Angeklagten“, wie man sie
oft ın Urteilsbegründungen lesen kann, ist im Zeitalter der
freien Beweiswürdigung und der Offizialmaxime die Aufgabe
des Richters nicht erfüllt.
Heynemann'sche Buchdr., Gebr. Wolff, Halle (S.)
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Juristisch -psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen.
- Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
I. Band, Heft 4.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold
1905.
Uber Gemeingefáhrlichkeit vom árztlichen
Standpunkte aus.
Von Prof. Dr. A. Cramer-Góttingen.
Meine Herren!
In dem Thema zu meinem Vortrage habe ich ausdriick-
lich von Gemeingefáhrlichkeit vom árztlichen Standpunkte
aus gesprochen, weil ich der Überzeugung bin, dass die ganze
Frage der Gemeingefährlichkeit keine rein ärztliche, sondern
eine verwaltungs-technische ist. Gemeingefährlichkeit ist kein
juristischer Begriff. Sie steht zur Medizin nur in entfernter
Beziehung. Gemeingefährlichkeit ist ein Begriff, der rein auf
dem Verwaltungs-Verkehrs-Wege entstanden ist.
Es ist auch nicht meine Absicht, diesen Begriff der
Gemeingefährlichkeit irgendwie abgrenzen zu wollen; ich
möchte aber hervorheben, dass in der neuesten Auflage von
Schlockow „Der Kreisarzt* (Roth-Leppmann p. 582) und
noch mehr von dem Hannoverschen Gerichtsarzt Schwabe
in seinem Referate auf der Versammlung der Verwaltungs-
und Medizinalbeamten des Reg.-Bez. Hannover im Sommer
vorigen Jahres dieser Begriff der Gemeingefährlichkeit wesent-
lich eingeengt worden ist.
Es werden viele sagen, dass ich mir damit meine
Aufgabe sehr bequem mache. Ich möchte hierzu bemerken,
dass ich eine exakte, kurze Abgrenzung dieses Begriffes
für unmöglich halte. Das könnte nur der, der imstande
ist, Kautschuk in harten Stahl zu verwandeln.
Die Veranlassung zu meinem Vortrage liegt auch auf
anderem Gebiete; ich habe die Überzeugung gewonnen
nach dem, was ich von Laien in Privatunterredungen gehört,
nach dem, was ich von Laien geschrieben gelesen, und nach
dem, was auch von anscheinend sachkundiger Seite geschrieben
ist: dass, wenn es so weiter geht mit der Diskussion über
die Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken, entschieden die
2 e
Kranken, die unserem Schutze befohlen sind, die
Anstalten, deren Fórderung uns in jeder Richtung
am Herzen liegen muss, einen schweren Schaden
nehmen,. und dass damit auch die Angehörigen,
welche Patienten in unseren Anstalten haben, einen
grossen. Nachteil erleiden.
Vor 50 Jahren etwa hat man in der Überzeugung, dass
das Publikum bald die Wohltätigkeit der öffentlichen Irren-
anstalten kennen lernen würde, diese Anstalten ruhig „Irren-
anstalten“ genannt. Heute — das ist nicht zu leugnen —
ist man im Publikum so eingenommen gegen die Irrenanstalten,
dass man, dieser Stimmung des Publikums Rechnung tragend,
die Anstalten „Heil- und Pflegeanstalten“ nennt. Natürlich
hat dies nur den Erfolg gehabt, dass diese Voreingenommen-
heit sich jetzt gegen die Heil- und Pflegeanstalten richtet,
und so wird es weiter gehen, auch wenn wir unsere Irren-
anstalten „Anstalten für Kranksinnige oder Gehirnkranke“
nennen.
Es hängt das mit der alten Anschauung zusammen,
dass Geisteskranke und Verbrecher, aus demselben Übel, aus
der Sünde entsprungen, auch eine ähnliche Behandlung be-
dürfen, und dass die Behandlung in unseren modernen An-
stalten, soviel auch darüber von berufener Seite gesprochen
und geschrieben wird, sich nicht wesentlich von dem unter-
scheide, wie die Verbrecher in modernen Zucht- und
Besserungsanstalten behandelt werden.
In der Zeit der freien Behandlung, der Dauerbäder und
der Familienpflege ist man erstaunt, wenn man immer wieder
selbst von gebildeten Laien nach Gummizellen, Zwangsjacken
und dergl. gefragt wird, ja wenn selbst von Behörden Er-
suchen um Übersendung einer Zwangsjacke eingehen. Man
darf sich deshalb aber auch nicht wundern, wenn bei besonders
krassen Fällen, in welchen es sich darum handelt, dass ein Geistes-
kranker, dessen Geisteskrankheitdas Pnblikum nicht versteht und
erkennt, ein Verbrechen begeht, von nicht sachkundiger Seite zur
Beruhigung des Publikums geschrieben wird: das Gericht
würde dafür sorgen, dass der Betreffende auf Lebenszeit
einer Heil- und Pflegeanstalt übergeben würde. Das konnte
E: A
man zZ. B. häufig lesen, als es sich um den Fall Arenberg
handelte. Das Resultat derartiger Mitteilungen ist natüriich
im Publikum die festgewurzelte und nicht zu erschütternde
Überzeugung, dass die Irrenanstalt doch so eine Art „Straf-
anstalt“ sei. Und doch sind unsere Irrenanstalten
Krankenhäuser, wie jedes andere Krankenhaus auch»
und über den Aufenthalt in einer Irrenanstalt hat
nur zu bestimmen der Umstand, ob Krankheit vor-
legt oder nicht. Ist die Krankheit verschwunden,
so hat auch die Entlassung zu erfolgen.
Die Krankheit, um die es sich handelt, ist Geistes-
krankheit.
In neuerer Zeit ist die Frage der Gemeingefährlichkeit
wieder dadurch in Fluss gekommen, dass man vielfach über
die strafrechtliche Behandlung der geistig Minder-
wertigen diskutiert hat. Es ist wohl jedem der Aufsatz
von v. Liszt bekannt: „Schutz der Gesellschaft gegen ge-
meingefährliche Geisteskranke und vermindert Zurechnungs-
fähige“ (Aschaffenburgsche Zeitschr. 1904, p. 8). Jeder weiss,
dass v. Liszt in diesem Artikel in ausgezeichneter Weise
praktische Vorschläge gemacht hat, wie in Zukunft mit den
geistig Minderwertigen, die mit dem Strafgesetzbuch in Kon-
flikt geraten sind, zu verfahren sei. Vielleicht‘ wäre es
besser gewesen, wenn er den Titel etwas anders gefasst
hätte. Denn sehr bald las man: nicht Schutz gegen gemein-
gefährliche Geisteskranke und vermindert Zurechnungsfähige,
sondern: Schutz gegen gemeingefährliche Menschen, und
diese wurden eingeteilt: a) Verbrecher, b) Geisteskranke.
Wenn man diese Dinge durchlas, hatte man die Überzeugung,
dass es auf der Welt nur zweierlei Sorten von gemeinge-
fährlichen Menschen giebt, auf der einen Seite Verbrecher,
auf der anderen Geisteskranke bezw. geistig Minderwertige.
Man war dabei angelangt, wo wir vor 100 Jahren standen:
Geisteskrankheit und Verbrechen waren in Gefähr-
lichkeit und Behandlung eins. Ich will dabei nicht ver-
schweigen, dass wir nach vielleicht abermals 100 Jahren
auch auf diesen Standpunkt hinauskommen können, dass aber
dann das Wort „Strafe“ vor „Behandlung“ fehlt.
= 6 —
Bei diesen Ausführungen war man sich darüber klar,
dass die Geisteskrankheit ein ebenso strafwürdiges Vergehen
sei wie das Verbrechen selbst. Das Resultat war, dass das
Misstrauen gegen die Anstalten noch grösser wurde sehr
zum Nachteil unserer Kranken, dass sich die Angehörigen
-noch mehr wie bisher stráubten und ihre Kranken nur in die
Anstalt brachten, wenn mit dem stärksten Druck gewirkt
wurde, wenn es hiess, dass der Kranke gemeingefährlich sei.
Dass gerade die Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken
nicht selten dadurch bewirkt wird, dass sie zu spät in An-
stalten kommen und nicht selten einer unsachgemässen Be-
handlung unterworfen werden, davon sprach niemand, obschon
im Jahre 1903 die statistische Kommission an der Hand von
Zahlen deutlich nachgewiesen hatte, dass in einem grossen
Teile der Ungliirksfálle, die durch Geisteskranke
verursacht waren, die rechtzeitige Aufnahme diese
Unglücksfälle hätte vermeiden lassen (Hoche-
Aschaffenburg, Neurol. Centralbl. 1903, p. 436).
Der Umstand, dass unsere Anstalten in erster
Linie zur Heilung und Behandlung von Geisteskranken
da sind, scheint vollständig in Vergessenheit geraten zu
‚sein. Denn wenn man die Aufnahmeatteste durchsieht, so
ist immer wieder die Gemeingefährlichkeit betont, welche
bei den Haaren herbeigezogen wird. Glücklicherweise
hat der Erlass des Herrn Ministers an die Medizinalbeamten
dieses Verfahren etwas eingeschränkt. Ich will nicht ein-
gehen auf das Motiv, das zu diesem Erlasse geführt hat;
ich bin aber überzeugt, dsss die Verhandlungen, die jetzt
darüber schweben, ob der Fiskus für die Kosten für die im
öffentlichen Interesse zugeführten Geisteskranken aufzukommen
hat oder nicht, für unsere Kranken und unsere Anstalten
von ‚grossem Vorteile sein können, wenn nur von unserer
Seite mit der nötigen Bestimmtheit darauf. hinge-
wiesen wird, wie bei Geisteskrankheit Gefährlichkeit
zustande kommt und wie sie vermieden werden kann.
In erster Linie kommt hier in Betracht, wie ich bereits aus-
geführt habe, die möglichste Erleichterung der Aufnahme
und die Bekämpfung des Vorurteils, .das noch in
en I E
weiten Kreisen gegen die Irrenanstalten besteht.
Als bestes Mittel würde ich dazu vorschlagen, dass jeder
heilbare Geisteskranke umsonst.und womöglich ohne Papiere
aufgenommen wird, dass aber innerhalb 24 Stunden mit dem
zuständigen Kreisarzte die Geisteskrankheit authentisch fest-
gestellt werden muss. Auf diese Weise würden all die Un-
glücksfälle, die sich draussen ereignen, weil das Aufnahme-
verfahren sich zu lange verzögert, entweder weil die Ange-
hörigen die Geldausgabe scheuen oder den Gang zur Behörde
fürchten, vermieden werden. Ich fürchte, dass dieser Vor-
schlag von mir, welcher vielfach auch von anderer Seite
gemacht ist, eine Utopie bleiben wird, weil er am Wider-
stande und Misstrauen des Publikums scheitern wird.
Allerdings sehe ich nicht ein, dass das, was bei einer Privat-
anstalt bis auf den Kostenpunkt geht, nicht auch, an einer
öffentlichen Anstalt gehen sollte. Auf jeden Fall würde mit
einem solchen oder ähnlichen Verfahren auch das Misstrauen
des Publikums gegen die Anstalten herabgemindert werden,
wenn es sieht, dass man in eine Irrenanstalt einen Geistes-
kranken wie in ein anderes Krankenhaus auch bringen kann.
Um nicht zuviel und zunächst nicht Erreichbares so-
fort zu verlangen, möchte ich die eben genannte Forderung
nicht unbedingt stellen, sondern nur die These aufstellen,
dass gemeingefährliche Handlungen bei Geistes-
kranken umsoweniger vorkommen, je mehr die Auf-
nahme in die Irrenanstalt erleichtert wird, und je
mehr das Misstrauen gegen die Anstalt schwindet.
Psychologisch interessant ist auch, dass man immer nur
von der Gemeingefährlichkeit der Geisteskranken so
ganz besonders spricht; dass, wenn einmal ein Geistes-
kranker etwas anstellt, dies sofort wie ein Lauffeuer durch
alle Blätter geht mit sachgemässen und unsachgemässen Be-
merkungen und, wie das heute Mode ist, immer mit ent-
sprechenden Reformvorschlägen ausgestattet wird, sodass man
es dem Publikum garnicht übel nehmen kann, dass es den
Geisteskranken im allgemeinen und speziellen als einen un-
geheuer gefährlichen Menschen ansieht und ihn gleich hinter
— 84 - =
den Verbrecher stellt, welcher bewusst nach dem Leben und
Gut seines Mitmenschen trachtet. l
Im Jahre 1900 waren in deutschen Anstalten 115 8821)
Geisteskranke untergebracht. Wir dürfen annehmen, dass
sich ausserhalb der Anstalten ebensoviele Geisteskranke be-
fanden. Wenn man damit vergleicht die Vergehen und Ver-
brechen, welche von Geisteskranken im Laufe eines Jahres
begangen werden — eine bestimmte Zahl kann ich darüber
leider nicht geben, sie wird aber nicht hoch in die Hunderte
gehen —, so wird man sagen müssen, dass die Gemein-
gefährlichkeit der Geisteskranken im allgemeinen
doch nicht so gross ist, als man in weiten Kreisen
anzunehmen geneigt ist.
Ich gebe gern zu, dass die „Tat eines. Wahnsinnigen“,
wie es in den Zeitungen heisst, erschütternd und tragisch
sein kann. Man darf aber darüber die Kritik und das Urteil
nicht verlieren und darf vor allen Dingen dadurch sich nicht
verleiten lassen, zu Massnahmen zu greifen, welche die Ver-
wandlung eines gemeingefährlichen Geisteskranken
in einen sozial Brauchbaren erschweren.
Hier kommt in erster Linie wieder die rasche Aufnahme
in die Anstalt in Betracht.
Psychologisch ist weiter interessant, dass es noch eine
ganze Reihe von Menschen, welche man als gemeingefährlich
betrachten könnte, gibt, die man garnicht als solche be-
zeichnet, von denen man überhaupt nicht spricht, obschon sie
in ihrer Gemeingefährlichkeit weit über das hinausgehen, was
Geisteskranke in Dutzenden von Jahren an Gefährlichkeit mit
sich gebracht haben. Ich meine in erster Linie die Ge-
schlechtskranken. Wenn ein Mensch mit florider Syphilis
eine Reihe von Prostituierten und nicht Prostituierten an-
steckt und dadurch das Virus der Syphilis vervielfältigt,
weiter verbreitet wird und bei den Infizierten selbst und
ihren Nachkommen seine unheilvolle Wirkung entfaltet, so
fällt es keinem Menschen ein, davon als von etwas Gemein-
gefährlichem zu sprechen; das wird sogar meist mit Still-
1) Veröffentlichung des Kaiserl. Gesundheitsamtes 1904.
0
im: Di
schweigen übergangen. Allerdings können wir ja hoffen,
dass es der „Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten“ gelingen wird, auch hier energisch Wandel zu
schaffen.
Auch wenn durch reine Nachlässigkeit der Keim zu
einer gefährlichen Seuche, z. B. Scharlach, Typhus, anderen
Menschen übermittelt wird, spricht man nicht von Gemein-
gefábrlichkeit. Das tut man nur dem armen, bedauerns-
werten Geisteskranken an. Die Geisteskrankheit wird so
wenig aus der Welt zu schaffen sein, wie unsere modernsten
Verkehrsmittel, die ich persönlich sehr schätze, das Automo-
bil und die Eisenbahn. Auch dabei giebt es viele Unglücks-
fälle. Niemandem fällt es ein, diese segensreichen Verkehrs-
institute als gemeingefährlich zu bezeichnen. Dieser Vergleich
hinkt nicht etwa; denn wie jeder Fortschritt im Verkehr
anfangs mit Unglücksfällen naturnotwendig verbunden ist,
ebenso kann unser Bestreben, die gefährlichen Kranken in
ungefährliche durch die freie Behandlung zu verwandeln,
nicht ohne gelegentliche und seltene Unglücksfälle verlaufen.
Die freie Behandlung ist die einzige Möglichkeit,
bei den geeigneten Fällen die Gefährlichkeit zu
beseitigen, während fast jeder Geisteskranke, der
im Sinne eines durch keine Sachkenntnis in seinem
Urteil getrübten Laien sicher hinter Schloss und
Riegel verwahrt ist, gefährlich wird.
Wenn wir verstehen wollen, woher das kommt, dass
namentlich bei leichtsinniger Verbreitung *von Geschlechts-
krankheiten, bei Infektionskrankheiten nicht von „gemein-
gefährlich“ die Rede ist, so müssen wir weiter zurückgehen.
Es ist noch nicht allzu lange her, dass man die
Geisteskrankheit von der Sünde und der Leidenschaft abhängig
gemacht hat, dass man von theologisch-philosophischen Ge-
sichtspunkten unsere Patienten betrachtete und somit immer
geneigt war, dieselben in ihrer Strafwürdigkeit einem Ver-
brecher gleichzustellen und sie als eine Art Schande zu
betrachten. Und so kommt es auch,. dass heute noch häufig
der Lokalreporter, der gewissenhaft jedes Verbrechen regist-
riert, auch ‚Nachricht von der erschütternden Tatsache bringt,
sis OR es
dass jemand geisteskrank geworden und in eine Austalt über-
führt worden ist.
Es ist also lediglich Vorurteil im Publikum,
das diesen Geisteskranken, namentlich wenn sie in Konflikt
mit den Gesetzen und Verordnungen geraten sind, eine so
ganz besondere Beachtung zuteil werden lässt. Wir würden
über dies Vorurteil kein Wort verlieren, wenn es nicht für
das Wohl unserer Schutzbefohlenen von so ganz ausserordent-
lichem Nachteil wäre.
Nach meiner Überzeugung wird man nach Vorstehen-
dem den Satz aufstellen dürfen, dass es andere Krank-
heiten gibt, welche den Menschen in viel breiterem
Grade gemeingefáhrlich machen als Geistes-
krankheiten. |
Selbstverständlich liegt mir ganz fern — das geht ja
auch aus meinen bisherigen Ausführungen hervor — zu
leugnen, dass Geisteskranke gefährliche und zwar recht ge-
fährliche Handlungen, welche sich gegen Leib uud Gut des
Nächsten und gegen sich selbst richten, unternehmen können.
Wenn man aber diese Tatsache bespricht und Vorbeugungs-
massregeln treffen will, so muss man sich vor allen Dingen,
um kein Unrecht zu tun, darüber klar sein, dass ebenso, wie
der Zustand der Geisteskranken sich ändern kann,
auch die Gefährlichkeit der Geisteskranken sich
ändert, und dass weiter die Gefährlichkeit der
Geisteskranken in bestimmten Fällen nicht etwa
durch die Geisteskrankheit allein, sondern durch
allerlei Momente, die auf den Geisteskranken ein-
gewirkt haben, bedingt ist.
‚Was den ersten Punkt betrifft, so möchte ich besonders
hervorheben, dass zahlreiche Geisteskranke, bei denen vor
der Aufnahme in die Anstalt von einer Gemeingefährlichkeit
nicht gesprochen worden ist, die aber zur rechten Zeit der
Anstalt zugeführt wurden, im Verlaufe ihrer Krankheit sehr
wohl gefährlich werden könnten, wenn sie sich ausserhalb
einer Anstalt in nicht sachkundiger Behandlung befänden,
und ebenso, dass es zahlreiche Geisteskranke gibt, welche
vor ihrer Aufnahme eine gefährliche Handlung vorgeuommen
>, o E
haben, aber schon nach kurzer Anstaltsbehandlung sich der-
artig verändern, dass eine gefährliche Handlung nicht mehr
zu erwarten ist. So sehen wir denn auch, dass es in sehr
vielen Fällen gelingt, derartige, als besonders gefährliche
Patienten bezeichnete Kranken bei geeigneter Be-
handlung nach längerer oder kürzerer Zeit in sozial
brauchbare Individuen zu verwandeln, wenn nur bei
der freien Behandlung keine Schwierigkeiten ge-
macht werden.
Unter 90 schwer-gefährlichen Kranken, die sich z. Z.
in meiner Irrenanstalt befinden, sind 65 nach längerer oder
kürzerer Zeit wieder sozial brauchbar geworden und kommeu
zu einem kleinen Teil nächstens zur Entlassung; ein Teil ist
bereits entlassen, ein weiterer Teil ist in Familienpflege
untergebracht. Ich bemerke, dass unter den 90 sich nicht etwa
solche Fälle befinden, bei denen davon gesprochen wird, dass
sie gelegentlich mit dem offenen Licht auf den Boden ge-
gangen sind, dass sie die Drohung ausgesprochen haben,
jemanden zu erstechen etc. Es befinden sich darunter zwei
Mörder, darunter ein Raubmórder, ein Fall von Stuprum vio-
-lentum etc. Wenn wir also das Interesse von unseren Geistes-
kranken wahrnehmen wollen, so müssen wir darauf bedacht
sein, dass, wenn gesetzgeberische Massregeln zum
gewiss berechtigten Schutz des Publikums ge-
troffen werden sollen, in fast blindem Eifer nicht zu
weit gegangen wird, sondern dass bei diesen Massnahmen
der Zukunft mit der Möglichkeit gerechnet wird,
dass die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken
auch wieder verschwinden kann.
Ist die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken ver-
schwunden, was ja z. B. immer der Fall sein wird, wenn der
Geisteskranke genesen ist, aber auch für den Fall eintritt,
dass nur eine Besserung eingetreten ist oder eine Veränderung
der Art, dass gefährliche Handlungen nicht mehr zu erwarten
sind und man erwarten darf, dass sich der Kranke draussen
im Leben behaupten kann, so wird man ihn in einer Irren-
anstalt nicht mehr behalten dürfen; er wird zur Entlassung
kommen müssen.
— 12 —
Dass der Staat dem Publikum in dem Wunsche
nachkommt, dass hier mit der grössten Vorsicht
verfahren wird, wird jeder von uns nach jeder
Richtung unterstützen. Denn nichts liegt uns ferner
als eine frivole Spielerei mit der Gesundheit und dem
Gute unserer Mitmenschen dadurch, dass wir gefährliche
Geisteskranke entlassen. Ich kann deshalb auch durchaus
nicht die in Preussen getroffene Einrichtung, dass drei
Wochen vor der Entlassung derartiger Kranken der betr.
Ortspolizei, wo der Kranke sich hinwenden will, Nachricht
gegeben wird, für unberechtigt und unzweckmässig erklären.
Nur gegen das eine möchte ich mich wenden und zwar auch
nur unter dem Gesichtspunkte, dass vielleicht später eine
andere Reglung dieser Frage in Betracht gezogen wird, dass
für die Entlassung eines Geisteskranken etwas
anderes massgebend werden könnte als sein Zu-
stand. Für die Entlassungsfähigkeit eines Kranken kommt
nur in Betracht sein Zustand und das, was man bei seinem
Zustande von ihm erwarten kann, nicht aber das, was er
etwa in seiner Krankheit gemacht hat. Würde der letztere
Gesichtspunkt massgebend sein, dann wären unsere Irren-
anstalten keine Krankenanstalten, sondern Straf-
anstalten.. 2 |
Wir haben im Str.G.B. den $51, welcher eine straf-
bare Handlung als nicht vorhanden hinstellt, wenn sie im
Zustande von Geisteskrankheit begangen ist. Es ist deshalb
nicht einzusehen, dass ein Mensch, der das Unglück hat,
geisteskrank zu werden, und das weitere Unglück hat, durch
diese Geisteskrankheit ein Vergehen oder Verbrechen zu be-
gehen, nun lebenslänglich oder wenigstens viele Jahre, wenn
das sein Zustand nicht erfordert, in einer Irrenanstalt bleiben
‚soll. Er würde ja dadurch viel mehr gestraft sein als jeder
Verbrecher. |
Es würde hier nahe liegen, auch auf die ganze Frage
der geisteskranken Verbrecher einzugehen, d. h. der Ver-
brecher, welche im Strafvollzuge geistig erkrankt sind. Dass
sie nicht länger in einer Anstalt bleiben dürfen, als sie
geisteskrank sind, liegt auf der Hand. Auf die anderen
— 13 —
Punkte einzugehen, welche sehr wichtig sind, muss ich mir
versagen, weil es nicht streng zum Thema gehört. Ich habe
an anderen Stellen diese Fragen schon gestreift.
Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit von Geistes-
kranken kommt nun zweitens in Betracht, dass es häufig
eine Verkettung von unglücklichen Zufällen ist,
dass ein Geisteskranker überhaupt in Konflikt mit
dem Strafgesetzbuch kommt. Hier kommen in Betracht
ungeschickte Behandlung von Seiten der Angehörigen, Alko-
holexzesse, starke Affekte, Aufregung, Not, Kummer und
Sorge, Strapazen, Überarbeitung, starke Temperaturdifferenzen,
Hunger und Durst etc., dabei noch die einzelnen Phasen
beim Manne und Weibe, die mit der Entwicklung und Fort-
pflanzung zusammenhängen: die Pubertät, das Senium, das
Sexualleben, die Menstruation, die Schwangerschaft, das
Puerperium und das Klimakterium. Man findet häufig Fälle,
wo eine ganze Kette von derartigen ungünstigen Momenten
auf den Geisteskranken einwirken mit dem Erfolg, dass eine
strafbare Handlung zustande kam; und wenn man sich die
Sache mit Ruhe besieht, wird man nicht selten sagen müssen,
dass eine Fülle von derartigen Komplikationen kaum für das
spätere Leben denkbar ist. Man wird auch hier kein Be-
denken tragen können, ... nach gehöriger Prüfung natürlich,
nachdem sich der Zustand wesentlich gebessert hat, an die
Entlassung zu denken.
Es wird jedem von Ihnen schon ergangen sein,
dass in derartigen Fällen, wo es sich um‘ Entlassung
eines gefährlich gewesenen Kranken handelt, eine allzu
vorsichtige Behörde einen Garantieschein verlangt der
Art, dass in Zukunft nichts wieder vorkommt. Es liegt
auf der Hand, dass es unmöglich ist, eine derartige Garantie
zu übernehmen. Eine derartige Garantie würde ich weder
für Gesunde noch für mich selbst übernehmen. Wir können
nicht in die Zukunft blicken und nicht übersehen, was aufs
neue wieder auf den Kranken einstúrmen mag. Das darf aber
kein Grund sein, einen Menschen, der draussen sein
Brot verdienen kann, wider Willen in einer Anstalt
zurückzuhalten. Denn wenn man so etwas verlangen wollte,
o AD, se
dann müsste man auch von der Polizei verlangen, dass sie jedes
Verbrechen im Entstehen erstickt und voraussieht. Natürlich
wird es notwendig sein, dass solche Geisteskranke noch
längere Zeit ausserhalb der Anstalt unter Aufsicht
stehen. Dazu ist notwendig, dass genaue Listen über die ausser-
halb der Anstalten lebenden Geisteskranken geführt werden.
Diese Listen müssen aber etwas mehr wie den Namen ent-
halten, sie müssen auch darüber etwas enthalten, was für eine
Krankheitsform es ist und woraufhin der Kranke zu beauf-
sichtigen ist; und diese Aufsicht muss sachgemäss durch-
geführt werden, nicht vom Gendarmen, sondern vom Arzte.
Am besten wird sich der psychiatrisch gebildete Medizinal-
beanıte eignen. Das wird Geld kosten, aber entschieden
wird es weniger Geld kosten, als alle diese Fälle,
welche ausserhalb der Anstalt sich ihren Lebens-
unterhalt selbst wieder erwerben können, auf
Kosten desGemeinwesensin Anstalten zu füttern.
Mit Bedingung zur besseren Beaufsichtigung der Kranken
ausserhalb der Anstalten ist, dass das Publikum über
Wesen und Bedeutung und Art der Geisteskrankheit
aufgeklärt wird, beobachten lernt und so allmählich
weiss, wann es Zeit ist, dass der Arzt geholt wird
und eventl. die Rückführung in die Anstalt be-
werkstelligt wird. Das kann aber nur erreicht werden,
wenn jeder von uns seine Pflicht tut und in Wort und Schrift
für die nötige Aufklärung des Publikums gerade auch über
diesen Punkt sorgt.
Ganz allgemein möchte ich noch hinzufügen, dass es
als geradezu selten bezeichnet werden muss, dass derartige
entlassene Geisteskranke irgend ein schweres Vergehen gegen
Leib und Gut des Nächsten unternehmen. Würde das öfters
vorkommen, dann würden wir heute in der Presse und im
Parlament nicht Erörterungen darüber haben, wie man die
Aufnahmen in die Irrenanstalten erschweren soll, sondern es
würden Erwägungen angestellt werden, wie man die Ent-
lassung verhindern oder erschweren kann. |
Neben den Geisteskranken, welche gefährlich werden
können, spielen nun neuerdings im Laien- und sachkundigen
ae A
Publikum die geistig Minderwertigen, welche ge-
fährlich sind, eine grosse Rolle. Man muss sich nach meiner
Überzeugung ganz ausserordentlich hüten — namentlich unter
dem Gesichtspunkte der modernen strafrechtlichen Reform-
bewegung —, Geisteskranke und geistig Minderwertige zu-
sammenzuwerfen. Ich habe schon oben erwähnt, dass die
strafbare Handlung eines Geisteskranken nicht vorhanden
ist; für den geistig Minderwertigen geht aber die allgemeine
Meinung nach den Kongressen der letzten Jahre dahin, dass
zwar auch eine Behandlung, aber eine strafrechtliche Be-
handlung am Platze sei. Die Irrenanstalten sind bestimmt
zur Behandlung von Geisteskranken, aber nicht zu einer
strafrechtlichen Behandlung von geistig Minderwertigen.
Es gehört also der geistig Minderwertige unter keinen Um-
ständen in die Irrenanstalt; denn mit dem Strafvoll-
zuge haben unsere Irrenanstalten nichts zu
tun: sie sind rein Krankenanstalten. An dem Tage, wo das
geschehen würde, dass auf dem Wege des strafrechtlichen
Strafverfahrens oder auch auf dem Wege des Zivilverfahrens
der Entmündigung jemand einer Irrenanstalt zur strafrecht-
lichen Behandlung überwiesen würde, würde die Anstalt
den Charakter eines Krankenhauses verlieren
und dieganzemoderneBehandlung der Geistes-
kranken, welche gerade in den letzten Jahr-
zehnten zum Wohle unserer Patienten unge-
ahnte Fortschritte gemacht hat, unmöglich
werden. Es würde das ein grosses Unglück für
unsere Kranken sein und ein Schlag ins Ge-
sicht für die Angehörigen, die ihre Kranken
vertrauensvoll den Anstalten zur Behandlung
übergeben, und ferner ein Rückschritt fast
ins finstere Mittelalter; denn es würden
Geisteskranke in der Behandlung mit ver-
brecherischen Naturen auf gesetzlichem Wege
gleichgestellt.
Es soll dabei nicht unerwähnt bleiben, dass heute nicht
selten geistig Minderwertige, welche irgendwelche Verbrechen
begangen haben, den Irrenanstalten zugeführt werden; nament-
zs Jë a
lich kommt das häufig aus dem Strafvollzuge vor. Sie sind
das Kreuz für die moderne Anstaltsbehandlung der Geistes-
kranken. Je mehr wir uns dagegen wehren, desto eher wird
man auch für diese Grenzfälle geeignete Institute zur Be-
handlung errichten. Je eher das geschieht, um so besser
wird es für unsere Geisteskranken sein.
Ich komme damit zum Schlusse und glaube, nachge-
wiesen zu haben, dass die Gemeingefährlichkeit
der Geisteskranken entschieden überschätzt
und übertrieben wird, dass ein nicht geringer
Teil der gemeingefährlichen Handlungen der
Geisteskranken vermieden werden kann, wenn
dadurch für rechtzeitige Aufnahme der Geistes-
kranken gesorgt wird, dass das Publikum
immer mehr aufgeklärt und das Aufnahme-
verfahren nach Möglichkeit erleichtert wird
und die Kranken ausserhalb der Anstalten in
sachgemässer Weise überwacht werden, dass
die Gemeingefährlichkeit eines Geisteskranken
sich auch wieder verlieren kann, dasser dann
selbstverständlich entlassen werden muss,
dassesaberdas guteRecht des Staates bleibt,
zun Schutze desPublikums gewisseVorsichts-
massregeln zu treffen, z.B. die vorherige An-
meldung der Entlassung an die Ortspolizei-
behörde, dass aber darüber, ob ein Kranker
entlassen werden kann, nur sein Zustand und
nicht, was er begangen hat, entscheidet, und
dass das Urteil also nur beim Arzte liegen
kann, und dass schliesslich die scharfe Be-
tonung der Gemeingefährlichkeit der Geistes-
kranken in der neueren Zeit auf Grund der
verschiedensten Vorurteile entsteht und nur
zum Schaden unserer Kranken und Anstalten
weiter verbreitet wird.
Hofbuchdruckerei C. A. Kaemmerer & Co., Halle a. S.
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IV
Juristisch -psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B. '
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
III. Band, Heft 5.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1905.
Ueber die unverbesserlichen Gewohnheits-
verbrecher und die Mittel der Fürsorge zu ihrer
Bekámpfung.*)
Von
Dr. Ernst Siefert, leitendem Arzt der Beobachtungsstation fiir
geisteskranke Gefangene am Strafgefángnis zu Halle a, S.
E, ist das Schicksal der modernen Gefangenen-Fürsorge-
bestrebungen, dass ihr Wirken mit zahlreichen Misserfolgen zu
kämpfen hat.
Sieht man den Dingen ohne Selbsttäuschung ins Auge, so
ergibt sich, dass erfolgreiche Objekte der Fiirsorge eigentlich
nur diejenigen sind, welche auf Grund einer besonderen Kom-
bination von Zufälligkeiten oder äusseren Bedingungen ein-
mal oder auch ófter gleichartige oder verschiedenartige straf-
bare Handlungen begehen, wáhrend die, bei denen das Ver-
brechen die Folge innerer Vorgánge, besonderer Charakter-
veranlagung ist, sich als unzugänglich und ungeeignet erwiesen.
Machen wir uns eine landläufige Ausdrucksweise zu eigen, so
heisst dass: die Erfolge der Fürsorge begrenzen sich
im Allgemeinen in dem Gelegenheitsverbrechen
und dem sozial bedingten Rückfallverbrechen, dem
Verbrechen aus Not, Unerfahrenheit, Verführung, Leichtsinn,
gewissen Affekt- und Trunkenheitsverbrechen etc.; siescheitern
in dem Kampfe gegen das Gewohnheitsverbrechen,
*) Nach einem auf der XXI. Jahresversammlung der „Gefängnisgesell-
schaft für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt“ gehaltenem
Vortrag.
1*
— 4 —
den unverbesserlichen Verbrecher aus Anlage, der sich uns in
den Trunksüchtigen, einem grossen Teil der Prostituierten,
vielen ewig rückfälligen Dieben und Schwindlern, den arbeits-
scheuen Vagabonden, gewissen habituellen Affektverbrechern,
den geschlechtlich Perversen und anderen Menschenkategorien
darstellt.
Was ist der Grund für diese auffällige und unbestreitbare
Tatsache? Der zunächst liegende Gedanke ist der, dass viel-
leicht ein zu geringerinnerer Wertderfiirsorgenden
Kräfte dafür verantwortlich gemacht werden könnte, und dass
es möglich sein müsste, durch Steigerung der Mittel und um-
fassendere Organisation der Fürsorge aus diesen refraktären
Elementen beizukommen. Nun lässt sich zwar eine derartige
Auffassung nicht strikte widerlegen, da sichere Schlüsse eben
nur auf Grundlage des jemals vorhandenen Status quo gezogen
werden können; und es lässt sich auch nicht ableugnen, dass
die Organisation der Fürsorge, ihre Mittel und vor allem die
werktätige Energie, mit der sie gebraucht werden, einer weit-
gehenden Verstärkung noch zugänglich und bedürftig sind; alle
Erfahrungen drängen aber doch zu dem Wahrscheinlichkeits-
schluss, dass eine hierauf gegründete Hoffnung eine triigerische
ist, und dass auch eine ideal ausgestaltete Fürsorge im Ralımen
der gegebenen Verhältnisse auf das Gewohnheitsverbrechen in
der oben gemachten Umgrenzung nach wie vor ohne Einfluss
bleiben wird.
In dieser Beziehung steht die Fürsorge nicht allein da;
sie hat in dem modernen Strafvollzug einen Schicksalsgenossen,
der zwar mit ganz andersartigen Mitteln operiert, in seinen
Resultaten aber gegenúber dieser Menschenklasse dasselbe,
d. h. negative Ergebnis erzielt. Auch hier finden wir den Ge-
danken, teilweise mit extremer Schärfe, verfochten, dass es
vorwiegend oder ausschliesslich die Unvollkommenheiten des
Strafvollzuges sind, welche die Erfolglosigkeit seiner Absichten
gegenüber dem Gewohnheitsverbrecher bedingen; auch hier
glaubt man durch Reformen in der einen oder anderen Richtung
einen weiter gehenden Einfluss noch erzielen zu können; auch
hier macht sich aber mehr und mehr die Einsicht geltend,
dass eine selbst ideale Ausgestaltung des Strafvollzuges —
= Deo
mag man sie nun in der intensiveren Betonung der Besserungs-
tendenzen oder in der Steigerung der physischen Zwangsmittel
erblicken — mit grösster Wahrscheinlichkeit den im Gewohn-
heitsverbrecher umschriebenen Teil der strafbarwerdenden
Menschen nicht wird beeinflussen können.
Wenn wir nun sehen, dass die verschiedenartigsten Mittel
sämtlich und geradezu gesetzmäßig einer bestimmten Klasse
von Menschen gegenüber versagen, wenn wir sehen, dass hier-
an auch mit dem Fortschreiten der angewandten Methoden zu
ihrer jetzigen Höhe nichts nennenswertes geändert worden ist,
so drängt sich ganz von selbst der Gedanke auf, dass
der wahre Grund dieser Erscheinung nicht in der Unzu-
länglichkeit der Mittel an sich, sondern in einer besonderen
Eigenart der in Frage kommenden Individuen liegt,
die sich durch äussere Mittel eben überhaupt nicht beeinflussen
lässt.
Dieser Gedanke, dass die Ursache der Misserfolge der
Fürsorge und des Strafvollzuges in der spröden Besonderheit
des Materials begründet ist, das bearbeitet werden muss, ent-
hält meiner Überzeugung nach die Wahrheit; tausendfältige
Erfahrungen sprechen überzeugend für seine Richtigkeit und
die zu lösende Aufgabe kann kaum noch in der Herbeitragung
neuer Beweismomente, sondern lediglich in der genauen
Analysierung der die Unbeeinflussbarkeit bedingenden Be-
sonderheit des Gewohnheitsverbrechers bestehen.
Diese Besonderheit lässt sich meines Erachtens kurz in
dem Worte „Krankhaftigkeit oder Minderwertigkeit“
präzisieren. Der Gewohnheitsverbrecher ist nicht ein normaler,
sondern der Regel nach ein minderwertiger Mensch, nicht eine
geistige Vollkraft, sondern eine „halbe Geisteskraft“; sein
Handeln ist kein lediglich psychologisch, sondern in grösserem
oder geringerem Umfange pathologisch bedingtes. Da aber
Seelenzustände, bei denen krankhafte Elemente mit ins
Spiel kommen, erfahrungsgemäß jeder äusseren Einwirkung
unüberwindliche Schwierigkeiten darbieten, da andererseits der
Strafvollzug, wie auch die Fürsorge, auf ein normales
Geistesleben zugeschnitten ist, so erklärt sich hieraus un-
gezwungen das Charakteristikum der Unbeeinflussbarkeit.
Sa or
Das Pathologische im Seelenleben des Gewohnheitsver-
brechers liegt nun teilsaufdem Gebiete desIntellektes,
teils und vorwiegend auf dem der Affekte.
Ist ein grösserer oderer geringerer Schwachsinn vorhanden,
so liegen die Dinge verhältnismäßig klar und unbestritten.
Eine einfache Exploration enthüllt dann mit Leichtigkeit die
Defekte des Gedächtnisses, den Tiefstand der Urteilskraft, den
Mangel an einfachsten Kenntnissen, die Unfähigkeit, vorhandene
Kenntnisse durch logische Assoziationen beim Denken und
Handeln zu verwerten, und das hieraus sich ableitende kindische
und leicht beeinflussbare, unselbständige und haltlose Ge-
bahren. Niemand wird erwarten können, dass das reduzierte
Geistesleben einer solchen „halben Geisteskraft* sich den
Reizen und Schwierigkeiten der Umgebung gegenüber ebenso
verhalten wird, als eine geistige Vollkraft.
Viel komplizierter wird dagegen die Beurteilung, sobald,
bei guter Intelligenz, Anomalien der affektiven Seite des
Seelenlebens in Frage kommen, Anomalien, die man nicht
zahlenmäßig fixieren, nicht auch dem Laienauge beweisend vor-
führen kann. Hier stehen sich denn auch zwei verschiedene
Anschauungen unversöhnlich gegenüber, die eine, die in dem
Gewohnheitsverbrecher einen bewussten und nur aus Freude
am Bösen handelnden Übeltäter erblickt, die andere, die ihn
als ein pathologisches, in seinem Wollen durch_ krankhafte
Momente beeinflusstes und beschränktes Individuum auffasst,
die eine, die in seinem Handeln nur bewusste und absichtliche
Bosheit und Rohheit, arbeitsscheue Genusssucht etc. erkennt,
die andere, der sein Handeln als der Ausfluss eines patho-
logischen Affektlebens erscheint; die eine, die die Unverbesser-
lichkeit als eine Folge böswilliger Verstocktheit auffasst, die
andere, die in ihr die notwendige Folge eines abnormen an-
geborenen oder erworbenen Seelenzustandes erblickt.
Für mich ist auch der nicht nachweisbar schwachsinnige
echte Gewohnheitsverbrecher der Regel nach ein seelisch
Minderwertiger; sein Seelenleben erscheint mir allenthalben
getragen und durchsetzt von pathologischen Affekten und
Trieben; überall tritt mir eine abnorm schwache oder abnorm
starke oder direkt perverse Affektbetonung entgegen, die die
e Y
eigentliche Ursache des verbrecherischen Handelns wird, überall
sehe ich Übergänge, Anklänge, Analogien und Beziehungen zu
Zuständen, die mir aus dem Studium der Geisteskrankheiten be-
kannt sind; ich erkenne, dass der qualitativen Unterschiede
nicht all zu viele sind, und dass oft nur eine quantitative
Differenz festzustellen ist; ich sehe, wie ein bestimmter, auf-
fallender Geisteszustand oft gesetzmäßig eine bestimmte Ver-
brechensart erzeugt; ich sehe, wie derselbe Seelenzustand bei
leichter Ausprägung seiner Symptome einen Verbrechertypus
bildet, bei schärferer Ausprägung dagegen als unverkennbare
Geisteskrankheit sich zu erkennen gibt; ich sehe dieselben
Geisteszustände in einem Falle unverändert das ganze Leben
hindurch herrschen und zum Träger einer verbrecherischen
Individualität werden, und ich sehe sie in anderen Fällen nur
als Episoden auftreten und dann auch von Laien ohne Weiteres
als Krankheitszustände anerkannt.
So ergibt sich mir, wie jedem psychiatrisch Geschulten,
schon 'aus der einfachen Beobachtung die Annahme der krank-
haften Minderwertigkeit des Gros der Gewohnheitsverbrecher
als eine sich unmittelbar aufdrängende Abstraktion. *)
*) Es ist unmöglich, im Rahmen dieser skizzenhaften Ausführungen
detailliertere Angaben über das, was man als klinische Symptomatologie
des unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers bezeichnen könnte, zu machen
und insbesondere die zahlreichen Formenbilder darzustellen, die, obne Be-
stehen einer intellektuellen Schwäche, antisoziales Handeln nach sich ziehen.
Leider ist es auch nicht möglich, ein Werk hier namhaft zu machen,
welches der Lektüre empfohlen werden könnte, da es trotz einer unendlichen
Fülle forens-psychiatrischer und kriminal-anthropologischer Literatur eine wirk-
lich umfassende Darstellung dieser Dinge nicht gibt. Nachdem das Lom-
brososche Phantasieprodukt des „delinquente nato“, der als einheitlicher
Typus, als atavistischer Rückschlag in die Urzustände der Menschheit auf-
gefasst werden sollte, zu Grabe getragen worden ist, und mehr und mehr
sich die Überzeugung durchringt, dass im Gegenteil der minderwertige Ge-
wohnheitsverbrecher nach Ursachen und Erscheinungsformen eine unendliche
Vielgestaltigkeit in sich schliesst und durchaus keinen Rückschlag, sondern
eine wahrhaft moderne, durch die sozialen Umstände geschaffene Krankheits-
erscheinung am Volkskörper darstellt, dürfte es wohl an der Zeit sein, dass
eine umfassende Symptomatologie dieser Krankheitserscheinung geschaffen
würde. Bouhöffer-Breslau hat in einer glänzenden Studie die Bettler
und Vagabunden in diesem Sinne analysiert und ist zu bemerkenswerten
= 8 m
Aber diese Anschauungsweise erklärt mir auch allein eine
ganze Reihe anderer eigentümlicher Erscheinungen. Sie macht
mir die absolute Unverbesserlichkeit des Gewohnheitsverbrechers
erst verständlich, den langsamen Selbstmord, wie ein klassischer
Autor das Wüten dieser Menschen gegen sich selbst durch die
Art ihres Handels gezeichnet hat; sie macht mir verständlich,
warum in degenerierten Familien so häufig neben echten
Geisteskrankheiten, Selbstmorden und abnormen Charakteren
plötzlich eine Verbrecherindividualität auftaucht, dadurch ihre
Verwandtschaft zu Krankheitszuständen deutlich dokumen-
tierend; sie lässt mich begreifen, warum die Gewohnheitsver-
verbrecher so leicht selbst den kurzen Schritt zur echten
Geistesstörung tun, warum sich bei ihnen so massenhaft
nervöse Störungen und körperliche Entartungszeichen finden ;
warum sie häufig eigenartigen, auf inneren Vorgängen be-
ruhenden und exquisit krankhaften Stimmungsschwankungen
unterliegen, die als periodische Trunksucht, als periodischer
Wandertrieb, als periodische Steigerung des sexuellen Trieb-
lebens, als periodisch gesteigerte Reizbarkeit etc. uns vor Augen
treten und für das soziale Verhalten des Verbrechers, sein dis-
ziplinares Verhalten in der Anstalt und insbesonders für seine
Rückfälligkeit von einschneidendster Bedeutung werden. Sie
gibt mir aber auch den Schlüssel in die Hand, der mir das
Verständnis für den Verteilungsmodus des Gewohnheitsver-
brechens, die Ursachen seines Anwachsens und das Wesen des
jugendlichen Rechtsbrechers vermittelt.
Auf diese letzteren Punkte will ich mit einigen Worten
eingehen.
Es gibt jedenfalls eine nicht ganz geringe Zahl von Fällen,
in denen ein verbrecherischer Hang im Laufe des individuellen
Lebens erworben wird. Z. B. können Geisteskrankheiten
Defektzustände hinterlassen, die mit verbrecherischen Neigungen
sich komplizieren; die Epilepsie, Schädelverletzungen können
Resultaten gekommen, Mönke möller-Osnabrück hat die jugendlichen
Minderwertigen in einer ausgezeichneten Arbeit psychopathologisch und
ätiologisch untersucht u. a. m. Aber der erwachsene Gewohnheitsverbrecher
hat im Allgemeinen noch nicht die ihm gebührende monographische Berück-
sichtigung gefunden.
== O.
Gehirnveránderungen setzen, die die Persónlichkeit zu einer
kriminellen Individualität umwandeln ; die Altersveränderungen
des Gehirns können Störungen mit sich führen, die — ich er-
innere an die Sittlichkeitsdelikte der Greise — ausgesprochen
verbrecherische Neigungen erzeugen; der übertriebene Alkohol-
missbrauch kann, auch ohne dass eine angeborene Anlage be-
steht, endlich den krankhaften Zustand der Trunksucht mit
seinen kriminellen und sozialen Folgeerscheinungen erzeugen ;
schliesslich mag es auch vorkommen — jedenfalls wird es
oft behauptet — dass gelegentlich die Ungunst der Verhältnisse
allein, ohne Disposition und rein. psychologisch, einen echten
und unbeeinflussbaren Verbrechercharakter hervorbringt. Ebenso
sicher ist es mir aber, dass wir in solchen Fällen nicht die
Regel, sondern die Ausnahme zu erblicken haben, und dass
der Regel nach die Minderwertigkeit des Gewohnheitsverbrechers
aus einer ererbten und angeborenen Anomalie ent-
springt, die sich als eine besondere Form geistiger Entartung
darstellt. *) |
Mit einer solchen Annahme erklären sich eine ganze Reihe
von Tatsachen; zunächst die eigentümliche Erscheinung, dass
wie schon erwähnt, sich der Verbrechercharakter ausserordent-
lich häufig familiär mit Entartungszuständen verschiedenster
Art vergesellschaftet.
Ferner die Erscheinung, dass das Gewohnheitsverbrechen
in ausgesprochener Weise an die soziale Schicht des städti-
*) In der an diesen Vortrag sich anschliessenden Diskussion fand die
Auffassung der Unverbesserlichkeit des Gewohnheitsverbrechers als Krank-
heitsphänomen — wenigstens in zahlreichen Fällen — von geistlicher
Seite uneingeschränkte Anerkennung. Widerspruch aber erhob sich gegen
die Zurückführung des verbrecherischen Charakters auf eine in Anlage und
Vererbung wurzelnde Degeneration; man glaubte vielmehr, an den Anfang
der Verbrecherlaufbahn das freie Wollen und schuldhafte Sündigen
stellen zu müssen und fasste den krankhaften und unfreien Zustand des
ausgebildeten Gewohnbeitsverbrechers als das Endprodukt einer Reihe von
körperlichen und geistigen Schädigungen auf, die das ursprünglich freige-
wollte Leben in Sünde und Unmoral nach sich ziehen müsse. — Ich bin
ausser stande, diese Anschauung als richtig zu akzeptieren; die Differenz
hat aber gegenüber der praktisch unendlich wichtigeren sonstigen Über-
einstimmung im Grunde genommen nur eine mehr theoretische Bedeutung.
a LO a
schen Proletariats gefesselt ist, und dass es in unbestreitbarem
Wachsen begriffen ist. Wir wissen námlich, dass dem modernen
Kulturmilieu eine gewisse Entartungstendenz eigentümlich ist,
die nicht nur vorhanden, sondern auch noch in offenbarer Zu- -
nahme begriffen ist, und die sich in gleicher Weise auf körper-
lichem und geistigem Gebiete geltend macht; ich erinnere in
dieser Beziehung nur an die zunehmende Verschlechterung der
Widerstandskraft des Gebisses, an die immer mehr um sich
greifende Kurzsichtigkeit, an die von vielen behauptete, steigende
Unfähigkeit der Weiber, ihre Kinder zu stillen; auf geistigem
Gebiet an das Anwachsen degenerativer Störungen des Nerven-
systems, von der einfachen Neurasthenie an bis zu der, aus-
schliesslich die modernen Kulturnationen heimsuchenden
schrecklichsten Geisteskrankheit, der Gehirnerweichung; wir
wissen ferner, dass diese Entartungserscheinungen da am
stärksten in die Augen springen, wo die heutigen Kultur-
formen am schärfsten ausgeprägt sind, d. h. in den Städten,
namentlich den Grossstädten, und in den vom Industrialismus
in Mitleidenschaft gezogenen Gesellschaftsschichten. Hieraus
wird nun begreiflich, warum auch das Gewohnheitsverbrechen,
als ein Spezialfall der Entartung, gleichfalls eine gewisse zu -
nehmende Tendenz zeigt, während die allgemeine Krimi-
nalität eher im Fallen begriffen ist, und warum es uns im
städtischen Proletariat, das auch sonst die meisten entarteten
Glieder zählt, am häufigsten entgegentritt.
Drittens macht mir meine Anschauung die relative Unab-
hängigkeit des verbrecherischen Charakters vom Milieu ver-
ständlich. Wir sehen nämlich, dass weder die moralische und
materielle Not mit gesetzmäßiger Notwendigkeit das Gewohnheits-
verbrechen nach sich zieht, noch dass auch das sozial günstigste
Milieu vor der Ausbildung eines verbrecherischen Charakters
regelmäßig schützt; ich brauche Sie in dieser Beziehung nur
an die zahllosen „verlorenen Söhne“ der höheren Stände zu er-
innern, die trotz Fernhaltung aller schädlichen Reize, trotz
Beispiel, Erziehung und Bildung mit schrecklicher Sicherheit
ihrem Ruin entgegen gehen, und denen man in den Gefäng-
nissen noch viel häufiger begegnen würde, wenn sie nicht
durch Unterbringung in Anstalten oder durch Versehickung in
u. dh
fremde Länder rechtzeitig unschädlich gemacht würden; ich
erinnere Sie auch an die Dirnencharaktere unter den weiblichen
Angehörigen unserer höheren Gesellschaftsschichten, die rätsel-
haft aus der reinsten und zartesten Atmosphäre eines edlen
Familienlebens emporwachsen können.
Viertens aber erklärt mir meine Auffassung auch das
Wesen und die Verteilung des jugendlichen Verbrechertums.
Ich gebe zu, dass ein Teil der Verbrechen der Jugendlichen
durch schlechte häusliche Erziehung und hässliche Lebensbe-
dingungen, durch Anstiftung seitens Erwachsener etc. hervor-
gerufen wird, und dass diese Elemente, sofern das Versäumte
auf die eine oder andere Weise nachgeholt, die Milieuschäd-
lichkeiten beseitigt werden, natürlich gebessert werden können;
ich glaube aber nicht, dass das Jugendverbrechen hierin sich
erschöpft, muss vielmehr nach allem, was ich selbst gesehen
und gelesen habe, annehmen, dass gerade das jugendliche Ver-
brechen häufig den charakteristischen Typus des Verbrechens
aus minderwertiger Anlage darstellt. Bei jugendlichen Rechts-
brechern sehen wir die Anlage als ausschlaggebenden Faktor
am reinsten und unkompliziertesten sich uns darstellen; denn
hier fallen die Trunksucht, die Vagabondage. die Prostitution,
die äusserste materielle Not, in der die erwachsenen Gewohn-
heitsverbrecher gewöhnlich leben und von denen man zweifel-
haft sein kann, ob sie die Folge einer abnormen Organisation
oder die eigentliche Ursache des Gewohnheitsverbrechens sind,
zum guten Teil fort. Wenn wir nun ferner sehen, dass bei
dem Gros der jugendlichen Rechtsbrecher dieselben Eigentüm-
lichkeiten und Abnormitäten das Charakterbild beberrschen, wie
bei den erwachsenen Gewohnheitsverbrechern, wenn wir er-
kennen, dass auch diese jugendlichen Individuen, die normaler
Weise noch vollkommen bildsam sein müssten, gegen alle
Mittel der Erziehung und der Strafe refraktär erscheinen, wenn
wir sehen, dass die überwiegende Masse der echten Gewohn-
heitsverbrecher aus dem jugendlichen Verbrechertum hervor-
gegangen ist, in ihm ihren Nährboden hat, ihren Nachschub
erhält, so dass es geradezu charakteristisch ist, dass erwachsene
Unverbesserliche als halbe Kinder bereits oder in den Entwick-
lungsjahren zum Verbrecher geworden sind; wenn wir schliess-
= O ze
lich sehen, dass auch das Jugendverbrechen den allgemeinen
Gesetzen der Entartung folgt, in den grossen Stádten viermal
häufiger beobachtet wird, als auf dem platten Lande, vorwiegend
an die proletarische Gesellschaftsschicht gefesselt ist, andererseits
aber doch auch wieder in den besten Milieuverhältnissen empor-
wachsen kann, so kann auch aus allen diesen Tatsachen meiner
Überzeugung nach nur der Schluss auf eine angeborene ab-
norme Anlage auch des Gros der jugendlichen Rechtsbrecher
gezogen werden.
Wie man sieht, lege ich zwar dem Milieu als Entartungs-
zustände erzeugendem Moment eine hervorragende Wichtigkeit
bei, stelle aber im Übrigen seine Bedeutung — gerade im
Gegensatz zum Gelegenheitsverbrechen — erst in zyeite Linie.
Damit soll natürlich die verhängnisvolle Rolle, *die es durch
Gewährung der Anreize spielt, die die verbrecherische
Anlage in die Tat umsetzen, nicht im geringsten bestritten
werden; denn es kann ja keinem Zweifel unterliegen, dass, je
ungünstiger die Daseinsverhältnisse sind, um so leichter der
rechtliche Konflikt resultiert, dass die kriminelle Gefahr mit
der Ungunst der äusseren Verhältnisse wächst. So erscheinen
mir Armut, Hunger, Verführung und schlechtes Beispiel, Trink-
unsitte, Laxheit der sexuellen Moral, Aufwachsen in einer ver-
kommenen und verbrecherischen Umgebung nicht als eigentliche
Ursachen des Gewohnheitsverbrechens, der Trunksucht und der
Prostitution, sondern im wesentlichen nur als der agent
provocateur, dem eine abnorme Anlage, je wuchtiger die Masse
der schädlichen Reize auf sie einwirkt und je stärker sie
selbst ausgebildet ist, um so bedingungsloser unterliegt. Leider
sorgt auch der natürliche Verlauf der Dinge dafür, dass der
Minderwertige mit einer gewissen schrecklichen Sicherheit ge-
rade in dieses gefährlichste Milieu, wo er sich am aller-
wenigsten rein zu halten vermag — wenn ihn nicht eine
fremde Hand hält — hinuntergezogen wird; denn es ist be-
kannt, dass der geistig Minderwertige zumeist auch wirtschaft-
lich minder tauglich ist, woraus dann ein successives Tiefer-
sinken auf der sozialen Stufenleiter mit Notwendigkeit folgen
muss.
Ich habe damit meine Anschauungen über Wesen und
u IR
Entstehung des unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers in
skizzenhaften Umrissen dargelegt, sie gipfeln in folgenden
Sätzen:
1. Der (Grewohnheitsverbrecher ist durch äussere Mittel im
allgemeinen nicht beeinflussbar.
2. Der Grund dieser Unbeeinflussbarkeit liegt zumeist in
einer seelischen, als krankhaft anzusprechenden Minderwertig-
keit.
3. Diese Minderwertigkeit ist selten eine erworbene, der
Regel nach vielmehr eine angeborene und als eine besondere
Form der Entartung aufzufassen.
4. Der jugendliche Rechtsbrecher stellt in einem grossen
Prozentsatz das erste Entwickelungsstadium des Gewohnlıeits-
verbrechers dar; er folgt daher auch dem gleichen Gesetz wie
dieser.
5. Das soziale Milieu hat eine doppelte Bedeutung; es
erzeugt die verbrecherischen Entartungsformen und es schafft
die Reize, durch die die Anlage in die antisoziale Handlung
umgesetzt wird.
Es erhebt sich nun die Frage: Was kann man und
was kann insbesondere die Fürsorge für diese
Menschenklasse tun, die aus Gründen ihrer sozialen
Gefährlichkeit und ihrer sozialen Hilfslosigkeit
der Führung und der Hilfe am allerdringendsten
bedarf?
Beginnen wir mit dem Negativen !
Zwecklos erscheinen zunächst alle Besserungstendenzen;
es wird der Fürsorge niemals gelingen, etwa die Anlage zur
Trunksucht, die blinde Reizbarkeit des Affektmenschen, die
Halt- und Energielosigkeit des Geistesschwachen, die Unstetig-
keit des arbeitsscheuen Vagabunden, die Perversitäten des
Geschlechtstriebes etc. durch liebevollen Zuspruch oder durch
eine Art suggestiver Erweckung von religiósen und moralischen
Gegenvorstellungen zu beseitigen, und ebenso wenig wird es
dem Strafvollzug jemals gelingen, durch Gewaltmaßregeln
diese krankhaften und für das verbrecherische Handeln maß-
gebenden Anomalien zu eliminieren.
e E
Alle Opfer an Zeit, Kraft, Geld und Kredit, die die Für-
sorge dem Besserungszwecke der Unverbesserlichen bringt,
müssen daher grundsätzlich als nutzlos, als verschwendet be-
zeichnet werden.
Wenig aussichtsvoll ist ferner der Kampf gegen das soziale
Milieu. Wir sind machtlos gegenüber der Entwickelung des mo-
dernen Kulturmilieus zu immer einseitigeren industrialistischen
und merkantilistischen Wirtschaftsformen ; wir können den aus den
Abnormitäten unseres Kulturlebens resultierenden Entartungsten-
denzen nur höchst unwirksam entgegentreten, wir vermögen nicht,
der Landflucht, der zunehmenden Rücksichtslosigkeit des Dasein-
kampfes, dem spezifischen Pauperismus der Städte, der Prosti-
tution in ihren widerlichen modernen Formen, all den zer-
setzenden und degenerierenden Einflüssen der städtischen Milieus
einen festen Damm entgegen zu setzen; wir sind sogar nicht
einmal im Stande, selbst ein so wohl umschriebenes und in
seinen Wirkungen so wohl bekanntes degenerierendes Element,
wie es der Alkoholismus in seiner heutigen Form ist, trotz
einer beispiellosen Agitation und trotz zahlreichster Maßnahmen
verschiedenster Art wahrhaft erfolgreich zu bekämpfen. Daraus
ergibt sich nun von selbst, dass die Fürsorge mit ihrem eng-
umschriebenen Wirkungskreis und ihren beschränkten Mitteln
als ein selbständig wirkender Faktor zur Bekämpfung dieser
Schäden nicht ernsthaft in Frage kommt.
Was vermögen wir nun aber Positives und Erfolgver-
sprechendes zu leisten?
Nun, meine Herren, meiner Überzeugung nach gibt es
ein Mittel, ein einziges, aber wirksames, mit dem wir dem
Gewohnheitsverbrechen aus minderwertiger Anlage entgegen-
treten können. Wir müssen die Einzelindividualität genau
studieren und künstlich ein Milieu schaffen, in dem die schäd-
lichen Reize ausgeschaltet und die Lebensbedingungen derartige
sind, dass das Individuum, ohne sich und anderen zu schaden,
darin zu existieren vermag. Grundsätzlich muss dabei daran
festgehalten werden, dass die Versetzung in dieses Milieu keine
vorübergehende, sondern eine dauernde zu sein hat, und dass
es den individuellen Eigentümlichkeiten angepasst werden
kann.
e A see
Verfolgen wir diesen Gedanken etwas eingehender und
betrachten wir die verschiedenen schon heute bestehenden
künstlichen Milieuformen, mit denen der minderwertige Ge-
wohnheitsverbrecher in Berührung kommt, auf ihren Wert und
ihre Bedeutung für ihn.
Es sind deren im Wesentlichen vier namhaft zu machen:
Das erste künstliche Milieu, das ich nur der Voll-
ständigkeit halber erwähne und in das auch die abnorm
Organisierten sehr häufig hineingezwungen werden, ist das
militärische; es ist unstreitig als ein für alle Minderwertigen
höchst gefährliches zu bezeichnen. Denn charakteristischer
Weise wird das militärische Leben, dieses grossartigste Er-
ziehungsmittel für die normalen Erwachsenen unseres Volkes,
bei einer grossen Zahl der geistig abnormen Individuen zu
einer verhängnisvollen Quelle von Konflikten; ja manche von
ihnen, die den Verhältnissen ihrer gewöhnlichen sozialen Um-
gebung gerade noch gewachsen waren, erliegen unter den
eigenartigen Schwierigkeiten dieses Milieus und stellen ein
‚grosses Kontingent zu den spezifischen militärischen Verbrechen.
Dadurch, dass die verhängten Strafen aus Gründen der Disziplin
besonders drakonische sein müssen, gestaltet sich die Situation
für diese Minderwertigen noch viel kritischer, und es wäre
daher ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, dass nicht nur die
körperlich, sondern auch die geistig und moralisch Minder-
wertigen den Gefahren dieses Milieus nach Möglichkeit ent-
zogen würden.
Das zweite künstliche Milieu ıst das der Irren-
anstalten, der Siechenhäuser und ähnlicher Ein-
richtungen.
Die in diesen Institutionen geschaffene Daseinsform ist
auch für einen nicht unwesentlichen Teil der minderwertigen
Gewohnheitsverbrecher als die beste, ja als die oft allein taug-
liche zu bezeichnen; und es ist nur zu bedauern, dass aus
mancherlei Gründen ihre Anwendung eine zu beschränkte bleibt,
ja sogar hinter dem zurück bleibt, was auf Grund der heutigen
gesetzlichen Regelung erreichbar wäre. Es steht fest, dass,
bei vorsichtiger Schätzung, ca. 3% der Insassen von Zucht-
=> I
häusern etc. bereits bei der Einlieferung derart seelisch ab-
norm sind, dass sie unbedingt die Voraussetzungen der Geistes-
krankheit, wie sie der $ 51 des R. Str. G. B. umgrenzt, er-
füllen; es steht fest, dass ein noch grösserer Prozentsatz
namentlich des vagabundierenden Teils der Minderwertigen auch
körperlich so dekrepied ist, dass an eine Fristung des Daseinsdurch
eigenen Erwerb garnicht zu denken ist; es ist Tatsache, dass
zahlreiche Gewohnheitsverbrecher einen fortwährenden Kreis-
lauf zwischen Gefängnis, Arbeitshaus. Landstrasse und Irren-
anstalt durchmachen, dass heute wegen Geisteskrankheit Frei-
gesprochene morgen bereits wieder verurteilt werden. Und
dabei besteht leider noch die rückschrittliche Neigung, die
Grenze des $ 51 eher noch enger zu ziehen, wozu der in ihm
enthaltene Begriff der Aufhebung der freien Willensbestimmung,
der ganz subjektiv und dehnbar ist, eine bequeme Handhabe
bietet.
Es ist daher als erforderlich zu bezeichnen, dass der $51
des R. Str. G. B. eine zweckmäßigere Fassung und eine libe-
ralere und gesichertere Anwendung erhält, damit alle der
Irrenanstaltsbehandlung Bedürftigen ihr auch wirklich zuge-
führt werden können; es ist anderseits auch darauf hinzu-
arbeiten, dass die körperlich dekrepieden Minderwertigen in dem
durch die Umstände geforderten Maße in dem Milieu der
Siechenhäuser untergebracht werden.
Das drittekünstlicheMi lieu, in dem derminderwertige
Gewohnheitsverbrecher einen kleineren oder grósseren Teil
seines Daseins regelmäßig verbringt, ist das der Gefängnisse,
der Strafanstalten und der Arbeitshäuser. Aber
es scheint mir, dass gerade dieses Milieu aus den verschieden-
sten Gründen ein ungeeignetes und unvollkommenes für sie
ist, und dass es auch für den Strafvollzug selbst besser wäre,
wenn er von diesen Elementen nach Möglichkeit entlastet
würde.
Der Strafvollzug soll sittlich bessern; aber hier erreicht.
er sein Ziel nicht, kann es nicht erreichen.
Der Strafvollzug soll abschrecken; aber beim Minder-
wertigen versagt die Wirkung der Strafe als Übel in Folge
s y sr
seiner geistigen Stumpfheit oder in Folge der ihn stets von
Neuem überwältigenden krankhaften Antriebe.
Der Strafvollzug soll die äusseren Ursachen des Ver-
brechens, soweit sie ihm zugänglich sind, beseitigen; er soll
die Unerzogenen erziehen und bilden, die in Not und ver-
kommener Umgebung Verwahrlosten an Ordnung, Disziplin und
Arbeitsfreudigkeit gewöhnen; er soll in Gemeinschaft mit der
Fürsorge die Grundlage schaffen, auf der der Rechtsbrecher
wieder in den bürgerlichen Erwerbsmechanismus und die
Rechtsordnung des Staates eingegliedert werden kann; aber
der Gewohnheitsverbrecher ist damit nicht zu fassen; wir
können ihn nur äusserlich zustutzen, ihm allerlei Kenntnisse
zuführen ; seine verbrecherische Eigenart, die innere Ursache
seiner Verbrechen bleibt unverändert.
Der Strafvollzug soll sich in einer strengen aber reinen
Atmosphäre abspielen; dadurch aber, dass er sich mit minder-
wertigen Unverbesserlichen oft übelster Sorte abquälen muss,
wird eine geradezu vergiftete und vergiftende Atmosphäre er-
zeugt, gegen die selbst die geschicktesten und kostspieligsten
Maßnahmen wenig wirksam sind.
Der Strafvollzug soll vergelten, aber kann man wirklich
das ungetrübte Gefühl sittlicher Genugtuung empfinden, wenn
der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher mit härteren und
immer härteren Strafen belegt wird ?
Die Strafe soll züchtigen, aber nicht vernichten, aufbauen,
nicht zerstören, entwickeln, nicht unterdrücken; beim Minder-
wertigen erreicht sie nur den gegenteiligen Erfolg; denn er,
der Jahre- und Jahrzehnte lang unter dem schweren Druck
dieses Milieus steht, verkümmert geistig und körperlich und
fällt, in Folge seiner starken Disposition, häufig genug durch
die Haft erzeugten Geistesstörungen anheim, die ihn bis aufs
Mark und oft unheilbar destruieren.
Aus diesen und manchen anderen Gründen wäre zu
wünschen, dass der Strafvollzug von den minderwertigen und
unverbesserlichen Elementen nach Möglichkeit befreit würde;
er würde dann unzweifelhaft an Wert und innerer Gerechtig-
keit gewinnen; seine Erfolge würden sich klarer beurteilen
2
as J8 se
lassen; seinen Hassern würde die gewichtigste Waffe, mit der
sie einsichtslos-fanätisch operieren, entwunden werden; zahllose
Schwierigkeiten, die ihm durch diese Elemente entstehen —
ich erinnere nur an die schreckliche Krux der wahrhaft wider-
wärtigen Gefängnispsychosen — würden sich vermeiden lassen.
Das letzte künstliche Milieu, ein Produkt der neuen
Zeit, ist das der Fürsorge- und Zwangserziehung.
Da ich über diese Einrichtung nicht genauer unter-
richtet bin, so muss ich es mir leider versagen, auf ihre
Wirkung und ihre Bedeutung näher einzugehen. Wenn ich
mir ein Urteil überhaupt erlauben darf, so ist es dieses: Wert-
voll ist die Fürsorgegesetzgebung selbstverständlich für die
normalen Jugendlichen, die durch sie einer entsittlichenden und
verwahrlosenden Umgebung entzogen werden, wertvoll ist sie
auch für die Minderwertigen insofern, als sie die das Verbrechen
erzeugende Wechselwirkung von sozialem Milieu und abnormer
Anlage ausschaltet; unvollkommen und auf halbem Wege
stehen bleibend aber erscheint sie mir dadurch, dass ihr Bin-
fluss bei einer bestimmten Altersgrenze erlischt.
Auf Grund aller Erwägungen müssen wir zu
dem unabweislichen Schluss gelangen, dass eine
allen Anforderungen genügende Daseinsform für
die unverbesserlichen Verbrecher aus minderwer-
tiger Anlage zur Zeit noch nicht existiert, und dass
unsere Bestrebungen daher darauf gerichtet sein
müssen, ein solches Milieu künstlich erst für sie
zu schaffen. Dieser Gedanke ringt sich aus einem Wust
von Vorschlägen und Programmen zu immer grösserer Klar-
heit empor und ernstlich diskutierbar erscheint eigentlich nur
noch das Wie, die Umsetzung der Idee in die praktische Tat.
Ich halte mich nicht für berechtigt noch für befähigt zur
Aufstellung eines eingehenden Programmes und detaillierter
Thesen; mit aller Reserve will ich daher nur versuchen,
einige allgemeine Richtungslinien zu zeichnen, auf denen man
sich vielleicht, in Konsequenz meiner Ausführungen, zweck-
mäßig zu bewegen hätte, und folgende Punkte zur Erwägung
zu stellen.
== Jo „ae
1. Wenn man gesagt hat, dass die Einrichtungen, in denen
die minderwertigen Gewohnheitsverbrecher unterzubringen
wären, denen der Strafanstalten rechtähnlich sein müssten,so kann
ich mich dieser Anschauung nicht anschliessen; grundsätz-
lich muss vielmehr das Streben dahin gehen, eine
Institution zu schaffen, die dem Gefängnismilieu
möglichst wenig ähnlich ist. Dass dies durchführbar
ist, erscheint mir zum mindesten denkbar, und jedenfalls
sprechen zahlreiche Erfahrungen dafür, dass die Gefährlichkeit
dieser Individuen in der Mehrzahl der Fälle ein gefängris-
artiges Regime nicht verlangt, ja dass sie leichter zu behandeln,
besser zu führen sind, wenn Arbeits- und Lebensbedingungen
nicht gefängnismäßige sind. Für diese Auffassung sind mir
unter anderem gewisse Beobachtungen bemerkenswert gewesen,
die ich während meiner Tätigkeit am Stadt-Irren- und Siechen-
haus in Dresden zu machen Gelegenheit hatte. Ich habe dort
eine grosse Zahl von Arbeitshausinsassen kennen gelernt, die
uns zugeführt wurden, weil die Anstaltsdisziplin sich auch bei
rigorosester Anwendung ihnen gegenüber machtlos erwies. Es
versteht sich von selbst, dass das Personale dieser Menschen
eine Charakterbeschaffenheit enthüllte, in der nur die schlech-
testen menschlichen Eigenschaften und Abnormitäten figurierten,
sodass fasst jeder auf den ersten Blick als ein gefährlicher
und höchst ungemütlicher Gast bezeichnet werden musste.
Ich kann aber versichern, dass alle diese Menschen —
wenigstens haftet in meiner Erinnerung kein gegenteiliger Fall
— in ihrem neuen Milieu, obwohl es wahrlich kein beneidens-
wertes war und Schloss und Gitter nicht fehlten, zu den am
leichtesten zu Behandelnden gehörten, dass sie nicht boshaft,
wie sie geschildert wurden, sondern gutmütig, nicht túcki»ch,
sondern zugänglich, nicht roh, sondern hilfsbereit, nicht faul
und ausbruchssüchtig, sondern leidlich fleissig und fügsam
waren. ‘Da haben sie einen unwiderleglichen Beweis, Cass
diese Menschen, dieser Auswurf des Auswurfes, überhaupt gar-
nicht so unsozial waren, wie es sich in Reaktion auf eine un-
geeignete Umgebung — soziales und Gefängnismilieu — ge-
äussert hatte; da sehen sie den merkwürdigsten Umschlag
durch eine nur ganz geringfügig erscheinende Milieuänderung
sich vollziehen. 2*
— 2% —
Wir miissen bedenken, dass wir den. minderwertigen Ver-
brecher eigentlich überhaupt nur in seiner Reaktion gegen
soziales und Gefängnismilieu kennen, und dass wir garnicht
wissen, wie er sich verhalten wird, wenn er dauernd unter
Arbeits- und Lebensbedingungen steht, die für ihn geeignet
sind, wenn namentlich auf die für ıhn so charakteristischen, auf
inneren Ursachen beruhenden Affektschwankungen die erforder-
liche Rücksicht genommen werden kann, die in der Freiheit
das . Verbrechen, in der Haft die zahllosen, für ihn so verhäng-
nisvollen, groben und sinnlosen Verstösse gegen Hausordnung
und Disziplin bedingen.*)
Ein Teil wird, wie sich leider nicht bezweifeln lässt, gewiss
auch dann so antisozial bleiben, dass Gewaltmittel unvermeid-
bar sein werden; für den anderen, und wie ich überzeugt bin,
den weitaus grösseren Teil erscheint es mir nicht nur berech-
tigt, sondern Forderung der humanen Pflicht und des gesell-
schaftlichen Interesses, den Versuch wenigstens mit der
Schaffung eines nicht gefängnisartigen Milieus zu unternehmen.**)
2. Da es sich bei den minderwertigen Gewohnheitsver-
brechern um Individuen handelt, die von den verschiedensten
*) Es scheint, dass von den schweren Disciplinarstrafen — Dunkel-
arrest mit und ohne Fesselung — gerade die Minderwertigen, die ganz
Minderwertigen besonders oft getroffen werden.
**) Vergleiche hierzu die schroffe Gegensätzlichkeit, wie sie beispiels-
weise bei Gennat (Das Strafensystem und seine Reform, XX. Jahrbuch
der Gefängnisgesellschaft für die Provinz Sachsen etc. pag. 97) sich findet:
„Ein unbekanntes Gebiet in dem Strafgesetzbuch ist die Unverbesserlich-
keit. Und doch ist sie da und zeigt sich immer häufiger, so dass je länger
je mehr die Notwendigkeit hervortritt, ibr durch gesetzliche Maßnahmen
zu begegnen. Dass es Unverbesserliche im kriminalistischen Sinne... .....
gibt, läst sich füglich nicht bestreiten und wird ernstlich nicht bestritten.
Sie handeln durchaus nicht immer geschäfts-, gewerbs- oder gewohnheits-
mäßig und sind nicht identisch mit den Rückfälligen, vielmehr .....
Leute, die die unausrottbare Neigung besitzen, strafbares Unrecht zu be-
gehen. Die unverbesserlichen erfordern besonders straffe Behandlung in
eigenen Anstalten oder doch Anstaltsabteilungen und bei langer Strafzeit,
in schwersten Fällen eventuell lebenslängliche Einsperrung. Die Kost soll
schmal, die Arbeit hart, die Disziplin eisern, Strafort nicht. das Arbeits-
sondern das Zuchthaus und Aussenarbeit nur zug: sein, wenn sie die
Kraft bis zum letzten erschöpft“.
— 21 —.
Richtungen aus und in fliessendem Übergange in das Gebiet
der eigentlichen Geisteskranken hinüber führen, so wird das
geeignete Milieu in Anlehnung an dasjenige gesucht werden
müssen, welches sich für die Irrenpflege bewährt hat; da ferner
die Besonderheiten des modernen Kulturmilieus die zeugenden
und treibenden Kräfte des Gewohnheitsverbrechens sind, so
muss das künstlich zu schaffende das möglichst extreme
Gegenbild desselben darstellen.
Diese beiden Bedingungen werden am besten erfüllt durch
die Schaffung einer mit den nötigen Sicherungs-
und auch Zwangsmaßregeln versehenen Zentral-
anstalt, in der die Zügel einer sachverständigen
Aufsicht beliebig lockerer oder fester gespannt
werden können, und durch ein sich hieran an-
schliessendes System ländlicher, besonders zu
organisierender Kolonien, aus denen in Bedarfs-
falle der Einzelne jederzeit nach der Zentralanstalt
mitihrer strengeren Zucht und Kontrolle zurück-
gezogen werden kann. Dabei ist es natürlich gleichgiltig,
wo, ob ım Inland oder in den Kolonien, dieses System zur
Durchführung gelangt *)
*) Das moderne (ewohnheitsverbrechen als eine Art Volkskrankheit,
die durch den natürlichen Bedingungen sich mehr und mehr entfremdende
Daseinsformen erzeugt und genährt wird, lässt sich in gewisse Parallele zu
einer anderen Volkskrankheit, der Tuberkulose, stellen. Auch bei der
Tuberkulose finden wir zwei Formen, eine Gelegenheits- und eine Dis-
positionstuberkulose, die erstere in ausgesprochener Abhängigkeit von
äusseren Umständen, die letztere zwar auch durch äussere Mo-
mente stark beeinflusst und begünstigt, aber doch auch bei den
günstigsten äusseren Bedingungen nur zu häufig sich Bahn brechend. Auch
bei der Tuberkulose ist‘ die in der Anlage wurzelnde Erkrankung bei
weitem die gefährlichere, progressivere, unberechenbarere und unbeeinfluss-
barere Form; auch bei der Dispositionstuberkulose ist es gerade das
jugendliche Alter, in dem sie zumeist in Erscheinung tritt.
Und analog sind auch die Bekämpfungsmaßnahmen. Auch der gross-
artigen Heilstättenbewegung Kern und Stern ist der Gedanke, an Stelle
eines für die Disponierten schädlichen Milieus ein anderes, geeigneteres
und naturgemäßeres, ein ländliches mit frischer Luft, reinlicher Umgebung,
rubirem und einfachen Leben zu setzen; auch ihr schwerster Nachteil be-
steht darin, dass zur Zeit diese Änderung der Daseinsbedingungen keine
— 29 —
Im Zeichen dieses Systems hat die Irrenpflege im Laufe
des vergangenen Jahrhunderts ihre unvergleichlichen Erfolge
errungen; sie hat, ohne auch nur ein einziges wirkliches Heil-
mittel gefunden zu haben, mit Zwangsjacke, Tobzelle und allen
sonstigen hässlichen Gewaltmitteln bis auf die letzten Reste
aufräumen können; sie konnte die Geisteskranken eines Teils
ihrer hohen Gefährlichkeit entkleiden, die Äusserungen seelischer
Erkrankung in sozial harmlosere Formen giessen — denken Sie
nur daran, dass sie beispielsweise im Stande ist, viele Hunderte
schwerer Epileptiker, deren einer manchmal genügt, um im
Gefängnismilieu die allergrössten Schwierigkeiten zu machen,
trotz ihrer grossen dauernden oder zeitweisen Gemeingefährlich-
keit auf einem Haufen und bei freiester Behandlung zu ver-
pflegen —, sie konnte schliesslich mit den Resten geistiger
und körperlicher Arbeitskraft noch ganz erhebliche materielle
Werte schaffen.
Sollte es eine Utopie sein, dass auch bei dem minder-
wertigen Verbrecher ein ähnlicher Weg zu ähnlichen Erfolgen
führen wird?
3. Aber das Bestreben muss darauf gerichtet sein, den
minderwertigen Verbrecher möglichst frühzeitig in das
für ihn künstlich geschaffene Milieu zu versetzen, bevor die
Anlage unter den treibenden Schädlichkeiten der Umgebung
gefährliche und fixierte kriminelle Formen angenommen, bevor
das Individuum sich mit üblen Kenntnissen und Erfahrungen
vollgesogen hat. Je unberührter ein solcher Minderwertiger
- vom Sehmutz des Milieus noch ist, um so leichter wird es
natürlich — von Ausnahmen abgesehen —- gelingen, ihn ar
das besondere, für ihn geschaffene Milieu zu assimilieren, um so
weniger wird er Lebensformen, die er garnicht genauer kennen
gelernt hat, in der ihm aufgezwungenen Daseinsform vermissen;
um so leichter wird sich, wenn nach längerem Aufenthalt in
diesem Milieu sich für den Einzelnen die Möglichkeit ergeben
sollte, ihm Selbständigkeit zu gewähren, die unerlässliche
dauernde, sondern nur eine vorübergehende ist; auch hier aber machen sich
jetzt Bestrebungen geltend, den notwendigen Schlussstein in das Gebäude
einzufügen, nämlich ländliche Kolonien zum dauernden Aufenhalt im An-
schluss an die Heilstätten als Zentralanstalten zu begründen.
as DÍ ze
Vorbedingung durchsetzen lassen, dass sein ferneres Leben nie
in der Stadt, sondern nur unter den einfachsten ländlichen
Bedingungen. zu verlaufen hat.
Fassen wir aber den jugendlichen minderwertigen Rechts-
brecher, dann fassen wir auch unbedingt gleichzeitig den Ge-.
wohnheitsverbrecher überhaupt in seiner überwältigenden Mehr-
heit, da beide sich zu einander verhalten, wie Jugend und Alter,
wie Wurzel und Stamm; dann brauchen wir auch nicht mehr
den breiten und wilden Strom des Gewohnheitsverbrechens
an seiner Mündung im Zuchthaus erfolglos zu bekämpfen,
sondern wir leiten ihn von seinen Quellen, die wir ja leider
nicht verstopfen können, in ruhige und regulierbare Kanäle.
Dass diese rechtzeitige Erkenntnis der verbrecherischen
Organisation durch unser heutiges Wissen und Mittel und noch
mehr bei wachsender Einsicht in das innerste Wesen dieser
Menschenklasse möglich sein wird, erscheint mir unbestreitbar.
Da wir heute nämlich ziemlich genau diejenigen Seelen-
zustände, die Verbrechen mit grösserer oder geringerer Wahr-
scheinlichkeit nach sich ziehen, kennen, so vermögen wir durch
die Beobachtung in der Zwangserziehung das minderwertige
Element der jugendlichen Verbrecher von dem anderen zu
trennen und darnach unser weiteres Handeln einzurichten ;*) ja
wir können durch Ausbildung des Systems der Hilfsklassen,
der Schulärzte u. a. die verbrecherische Organisation schon
dann erkennen lernen, wenn die verbrecherische Tat noch gar-
nicht erfolgt ist, und damit der idealen Forderung, das Ver-
brechen im Keime zu ersticken, noch ehe es geboren, bis zu
einem gewissen Grade gerecht werden.
*) Wertvoll dürfte sich auch die Einführung von ,Jugendgerichten*
(entsprechend den amerikanischen juvenile courts) erweisen, wie sie kürz-
lich in der „Deutschen Juristenzeitung“ vorgeschlagen worden ist. Es
würde die Aburteilung der jugendlichen Verbrecher einzelnen Richtern,
die gleichzeitig als Vormundschaftsrichter zu fungieren hätten, als Spezial-
gebiet zu übertragen sein. Hierdurch wäre dann eine genauere Kenntnis
und besseres Eindringen in die Eigenart des Rechtsbrechers und die inneren
Ursachen der Tat gewährleistet; Strat- und Erziehungsmittel könnten besser
abgewogen und die minderwertigen Elemente schon sehr frühzeitig in der
richtigen Weise beurteilt und den für sie zu schaffenden Einrichtungen zu-
geführt werden.
- Ich erhebe die letzte Frage: „Was kann die Fürsorge
für den minderwertigen Gewohnheitsverbrecher tun?
Zweifellos ist, dass ein durchgreifender Erfolg nur durch
eine Zwangsgesetzgebung grössten Stiles erreich-
bar sein wird, eine Gesetzgebung, die alle krankhaft antisozialen
Elemente, mögen sie gemeingefährlich oder gemeinlästig, mögen
sie Verbrecher, Dirnen, Vagabunden oder Säufer sein, in gleicher
Weise umfasst.
Andererseits aber glaube ich, dass die Fürsorge, ganz ab-
gesehen von den Waffen einer geistigen Propaganda, mit denen
sie für das von ihr als richtig Erkannte einzutreten ver-
mag, doch auch jetzt schon im stande ist, wertvolle praktische
Erfolge zu erzielen, sobald sie nicht das falsche Prinzip der
Besserung der Unverbesserlichen, sondern den Gedanken der
Schaffung künstlicher geeigneter Milieuformen zur Grundlage
ihres Wirkens macht.
In diesem Gedanken laufen tatsächlich alle mit Erfolg
gekrönten und erfolgversprechenden Bestrebungen der Fürsorge
auf diesem Gebiet zusammen ; betrachten wir die Schöpfung
der Arbeiterkolonien und der sich daran anschliessenden Sied-
lungsprojekte, die Frauenasyle und Frauenheime, die Be-
strebungen, haltlose weibliche Charaktere in die Atmosphäre
anständiger Familie oder ın ein ländliches Milieu zu versetzen;
denken wir an die Dauerasyle, die Herr Pastor Hinze vor 2
Jahren für eine gewisse Kategorie harmlosschwachsinniger,
lenksamer Mädchen in Vorschlag gebracht hat, oder an die
allerdings leider zumeist kurzlebigen Erfolge bei Trunksüch-
tigen durch Trinkerasyle oder durch Versetzung in einen total
abstinenten Gesellschaftskreis; überall sehen wir das Prinzip
der künstlichen Schaffung einer geeigneten Da-
seinsform mit grösserer oder geringerer Klarheit, mit
grösserem oder geringerem Erfolge ausgesprochen und durch-
geführt.
Dass dieses grosse Gebiet im Ganzen und in seinen
Teilen noch ausbaufähig, dass seine Grenze noch erweiterungs-
fähig ist, wird niemand bezweifeln; dass es trotz aller unver-
meidlichen, weil im Wesen der beschränkten Mittel, im Fehlen
— 235 —
von Zwang und Dauer liegenden Misserfolgen auch wirklich
weiter ausgestaltet werden wird, dafür bürgt der Geist wahrer
Humanität, der in der Fürsorge wirkt.
Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen, die sich
bei der Kürze der Zeit und der Fülle des zu bewältigenden
Materials das Eingehen auf alle Einzelheiten versagen mussten,
angelangt, und nur auf zwei mehr theoretische Schwierigkeiten,
die in der Eigenart des Stoffes begründet sind, will ich zum
Schluss noch mit wenigen Worten eingehen.
Die eine Schwierigkeit ist die, dass, wie überall in der
organischen Welt, man die scharfe Trennungslinien nicht kennt,
auch das minderwertige Gewohnheitsverbrechertum sich nicht
mit derjenigen präzisen Sicherheit, die wir aus praktischen
Gründen wünschen möchten, umgrenzen lässt und nie ein-
grenzen lassen wird.*) So ist es begreiflich, dass der eine
den Begriff enger, der andere ihn weiter zu fassen geneigt
sein wird. Aber ich glaube, dass die hieraus erwachsenden
Schwierigkeiten und Differenzen nicht unüberwindbare sind.
Wird nun die Tatsache, dass ein bestimmter, durch be-
sondere Gesetze zusammengehaltener Formenkreis existiert,
überhaupt anerkannt, so wird sich die Bestimmung der Peri-
pherie des Kreises durch die Erfahrungen und die Erforder-
nisse der Praxis schon von selbst ergeben.
Die andere und ungleich grössere Schwierigkeit liegt in
einer totalen Verschiedenartigkeit der Anschauung. Was
wir positiv vor uns sehen, das ist nichts als ein wirrer Knäuel
menschlichen Leidens und menschlicher Verkommenheit, ein
Durcheinander von Entartung, Verbrechen, Trunksucht, Geistes-
krankheit, Vagabondage, Prostitution und Daseinselend, von
denen anscheinend jedes das andere erzeugt, jedes vom andern
erzeugt wird.
Unser Streben muss darauf ausgehen, dieses Chaos zu
lichten, die in ihm wirkenden Gesetze herauszuschälen, die
*) Namentlich ist die Abgrenzung gegenüber dem sozial bedingten
Rückfallverbrechen eine ausserordentlich schwierige und generell oft gar-
nicht zu lösende Aufgabe. Klarheit wird oft nur das genaue Studium des
Einzelfalles schaffen.
_ 9% —
unendliche Masse der Einzelerscheinungen in ihrem Zusammen-
hang von Ursache und Wirkung zu begreifen.
Was ist aber verständlicher, als dass die Erklärungs- und
Deutungsversuche verschiedenartige sind, dass ganz entgegen-
gesetzte Meinungen auftreten und allein den leitenden Faden
der Wahrheit gefunden zu haben glauben, dass hier, wo es
keinen absoluten Beweis gibt, und so diffizile Fragen wie
Willensfreiheit und Schuld mit ins Spiel kommen, verschiedene
Weltanschauungen unversöhnlich und scheinbar ohne die
Möglichkeit eines Kompromisses aufeinanderstossen und zu
einer unglücklichen Zerrissenheit der Mittel und Ziele führen?
Aber ich glaube, es gibt ein Ziel, uns allen gemeinsam,
das ist der Wunsch, diesen Unglücklichen, die sich selbst
und anderen zum Fluche leben, nach Möglichkeit helfend bei-
zuspringen; ich glaube, es gibt einen Punkt, wo auch die
Gegner sich einigen werden, das ist die Krankhaftigkeit, die
in diesem Kreise menschlicher Geister wirkt, und ich glaube,
es gibt einen Beweis, der die Wahrheit schliesslich enthüllen
wird, das ist der Erfolg.
Vortráge,
gehalten auf der
Versammlung von Juristen und Ärzten
in Stuttgart 1905.
Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetzgebung
und Strafprozess.
Referenten:
Medizinalrat Dr. Kre user, Winnental.
Oberlandesgerichtsrat Dr. Schanz, Stuttgart.
Zur Psychologie der Aussage.
Referenten:
Oberarzt Dr. A. Schott. Weinsberg.
Landgerichtsrat Dr. Gmelin, Stuttgart.
Die Berechtigung der Vernichtung des kindlichen Lebens
mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der Mutter.
Referenten:
Dr. Reinhold Krauss, Kennenburg.
Justizministerialsekretär Landrichter R. Teichmann, Stuttgart.
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1906.
Juristiseh - psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B,
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
III. Band, Heft 6/8.
Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetz-
gebung und Strafprozess.
Von
Medizinalrat Dr. Kreuser.
Schon seit längerer Zeit werden in weiten Kreisen Straf-
gesetzgebung und Strafprozess, wie sie gegenwärtig im deut-
schen Reiche zu Recht bestehen, als einer Reform dringend
bedürftig bezeichnet. Auch bei den Vertretern der Psychiatrie
überwiegt die Ansicht, dass den Bestimmungen jener Gesetze
über die Geisteskranken nicht unwesentliche Mängel anhaften,
deren Beseitigung wünschenswert und wohl möglich erscheine.
Wiederholt sind Reformbestrebungen von Irrenärzten und Ju-
risten gemeinsam erörtert worden. Um nur der neuesten
dieser Beratungen zu gedenken, haben auf der Jahresver-
sammlung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins in Danzig
am 12. September 1904 „Gerichtsärztliche Wünsche bei der
Neubearbeitung der Strafgesetzgebung“ an erster Stelle ge-
standen. (Vgl. den Versammlungsbericht in der Zeitschrift des
Medizinalbeamtenvereins.} Der psychiatrische Standpunkt ist
dort von Aschaffenburg vertreten worden und bei dem
Kriminalisten Heimberger hat er verständnisvolles Entgegen-
kommen gefunden. Sodann ist die erste Tagung der neuge-
gründeten Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psy-
chiatrie in Hessen mit einem Vortrag von Mittermaier
eröffnet worden „Über Reform des Strafprozessverfahrens“.
(Referiert im Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie,
1904, pag. 776.) Berühren auch seine speziellen gesetzgeberischen
Vorschläge das psychiatrische Gebiet nicht unmittelbar, so wird
den Wünschen aus diesem um so entschiedener die Hand ge-
= A o
reicht mit der nachdriicklichen Forderung einer obligatorischen
psychologischen Durchbildung der Juristen auf der Universität.
Auch heute soll die Aufmerksamkeit unserer Versammlung
zunächst in Anspruch genommen werden für die Frage, ob
und inwieweit die Stellung, wie sie zur Zeit den Gei-
steskranken durch das Strafgesetzbuch und die
Strafprozessordnung für das deutsche Reich angewiesen
ist, als eine angemessene gelten kann, wo etwa eine Änderung
derselben gewünscht werden muss. Ausgehend von den Er-
fahrungen über die Wirkungen der geltenden Bestimmungen
auf die Geisteskranken selbst und auf ihre ärztliche Behand-
lung, aber auch auf die öffentliche Meinung möchte ich unter-
suchen, wie die den Geisteskranken in diesen Gesetzen ge-
wordene Berücksichtigung ihre Zwecke zu erfüllen vermag,
inwieweit zugleich anderweitige berechtigte öffentliche und
private Interessen sichergestellt erscheinen vor leiner Benach-
teiligung durch unverantwortliche Geisteskranke. Bei Erwäh-
nung der nach beiden Richtungen hin gemachten Reformvor-
schläge wird zu gedenken sein der von verschiedenen Seiten
dringend geforderten Schaffung eines besonderen Irrenrechts.
Erhält so mein Vortrag einen etwas weiten Rahmen, so wird
man ihm zu gut halten müssen, wenn er sich nicht sowohl
eine erschöpfende Behandlung, als eine Anregung einschlägiger
Fragen zum Ziele gesetzt hat.
Allgemeine Rechtsgesetze sollen Anwendung finden auf
alle in ihrem Geltungsbereiche befindlichen Personen. Still-
schweigende Voraussetzung ist dabei, dass bei diesen Personen
die Vorbedingungen der Verantwortlichkeit gegeben sind.
Als solche Vorbedingungen haben zu gelten die genügende
Entwicklung und nicht wesentlich geschmälerte Erhaltung einer
gewissen Summe von geistigen Eigenschaften. In Ermanglung
eines absoluten, allezeit und allerorten sich gleich bleibenden
Maßstabes für die geistige Beschaffenheit des Menschen, bleiben
wir darauf angewiesen, diese auf empirischer Grundlage kon-
ventionell abzuschätzen, wobei wir uns eine ausreichende Be-
rücksichtigung der Verhältnisse, unter denen sie sich in wechsel-
seitiger Beeinflussung mit körperlichen Lebensvorgängen ent-
wickelt hat, zur besonderen Aufgabe machen müssen. In einer
e. De
den allgemeinen wie den besonderen Lebensbedingungen des
Individuums entsprechenden Entwicklung und Erhaltung der
geistigen Eigenschaften, sowie in ihrer mehr oder weniger
harmonischen Verbindung untereinander, erblicken wir die
Kennzeichen der geistigen Gesundheit. Ihrem nur allgemein
zu fassenden Begriffe entspricht es, wenn wir sie im einzelnen
Falle weniger an positiven Merkmalen zu erkennen vermögen,
sie vielmehr feststellen müssen vorzugsweise durch den Aus-
schluss von krankhaften Störungen, wie sie uns in mehr oder
weniger typischer Gruppirung und Aufeinanderfolge der Einzel-
erscheinungen aus der klinischen Erfahrung bekannt sind. —
Im täglichen Leben wird die geistige Gesundheit vorausgesetzt,
solange solche Störungen nicht nachgewiesen sind oder sich
auf andere Weise erklären. Ebenso werden die ihr entsprechen-
den rechtlichen Begriffe, die Geschäftsfähigkeit des bürgerlichen
Gesetzbuchs und die Strafmiindigkeit des Strafgesetzbuchs, so-
weit sie nicht an eine untere Altersgrenze gebunden sind, als
vorhanden angenommen und können sie von jedermann für
sich beansprucht werden, bis Gründe nachgewiesen werden,
aus denen sie auszuschliessen sind.
* Bei der Häufigkeit, mit der diese Voraussetzungen durch
geistige Störungen hinfällig werden, enthalten gerade die all-
gemeinsten Rechtsgesetze aller Kulturstaaten besondere Aus-
nahmebestimmungen für Geisteskranke In der
gegenwärtigen Fassung unserer deutschen Rechtsgesetze bildet
das entscheidende Moment die „freie Willensbestimmung“. So
schroff sich in der Bewertung dieses Begriffs deterministische
und indeterministische Weltanschauung gegenüberstehen, für
die praktische Anwendung der betreffenden Gesetzesparagraphen
sind daraus allzugrosse Schwierigkeiten bisher offenbar nicht
erwachsen. Eine Erörterung des Problems der Willensfreiheit
kann daher unterbleiben um so mehr, als die Aussichten, es
durch unsere Verhandlungen einer abschliessenden Lösung ert-
gegenzuführen, wohl recht geringe wären. Bis auf weiteres
können wir uns damit bescheiden, dass speziell auf dem Ge-
biete des Strafrechts in Theorie und Praxis bei der über-
wiegenden Mehrzahl der von ärztlicher Seite als krankhaft
o il,
bezeichneten Störungen der Geistestätigkeit, wie bei Bewusst-
losigkeit der Ausschluss einer freien Willensbestimmung auch
von Seiten der Juristen grundsätzliche Anerkennung findet.
Können solche Störungen bei einem Angeschuldigten als
zur Zeit der zur Untersuchung stehenden rechtswidrigen Hand-
lung vorhanden nachgewiesen oder auch nur mit guten Gründen
wahrscheinlich gemacht werden, so wird auf die im Interesse
der Allgemeinheit wie der einzelnen Staatsbürger erforderliche
Ahndung jener Tat verzichtet. Diese braucht dabei nicht ein-
mal unmittelbarer Ausfluss der krankhaften psychischen Vor-
gänge zu sein, es genügt ihr zeitliches Zusammenfallen mit
diesen, um den Täter nicht als frei in seinen Willensent-
schliessungen erachten zu lassen. Es entfällt damit für ıhn
die Schuld an der durch ihn verursachten Rechtsverletzung,
und von ihm kann darum auch eine Sühne nicht verlangt
werden. Ja nach dem Wortlaut des $ 51 unseres Straf-
gesetzbuchs ist eine strafbare Handlung überhaupt
nicht vorhanden, wenn zur Zeit ihrer Begehung der Täter
sich in willensunfreiem Zustande befunden hat. Dass so mit
der Schuld die Tat selbst in Wegfall kommt, ist nicht ohne
verschiedenerlei Unzuträglichkeiten geblieben. Nur eben er-
wähnen will ich, dass dadurch unter Umständen die straf-
rechtliche Verfolgung von Anstiftung und Beihilfe zu Rechts-
widrigkeiten unverantwortlicher Geisteskranker erschwert, ja
selbst einer Ausnützung von solchen zu verbrecherischen
Zwecken Vorschub geleistet werden könnte. Ein weiteres Ein-
sehen auf diesen Punkt verbietet sich, wie mir der juristische
Herr Referent freundlich bedeutet hat, weil damit ein Kapitel
angeschnitten würde, das weit über die Grenzen des heutigen
Themas hinausreicht. Nicht übergehen darf ich jedoch, dass,
wenn mit der Schuld zugleich die Tat selbst vom Gericht als
nicht vorhanden bezeichnet werden muss, auch allen weiteren
Maßnahmen der feste Boden entzogen wird, die etwa im Inter-
esse des ausser Verfolgung gesetzten Täters selbst, wie in dem
der Allgemeinheit durch jene Tat notwendig, ja unaufschieb-
lich geworden sein können. Denn was geschehen ist und das
öffentliche Rechtsgefühl verletzt hat, kann durch ein frei-
sprechendes Urteil nicht aus der Welt geschafft werden.
. zz 1 ==
Wiederholungen vorzubeugen, erscheint um so mehr geboten,
als sie vielleicht aus demselben Grunde besonders drohen, aus
dem die Tat für das Strafrecht nicht vorhanden war. Solchen
Gefahren zu begegnen, bleibt anderen Instanzen überlassen,
ohne dass jedoch gesetzliche Vorschriften ihr Eingreifen im
unmittelbaren Anschluss an die gerichtliche Untersuchung
regeln würden. Wenn nun dieselben Handlungen, deren Vor-
handensein das Gericht hatte verneinen müssen, den Verwal-
tungsorganen Anlass geben zu einem Einschreiten gegen den
Freigesprochenen, so setzen sie sich wenigstens formell in
einen Gegensatz zum Ergebnisse der gerichtlichen Unter-
suchung. In den Augen von Geisteskranken wird ein solcher
Gegensatz nur allzuleicht zur schreienden Rechtswidrigkeit,
und die Fälle sind nicht so selten, in denen auch weitere
Kreise aus Mangel an richtigem Einblick und Verständnis einer
solchen Auffassung beizutreten geneigt sind.
Wenden wir uns zur Strafprozessordnung, so gibt
ihr $ 81 die Möglichkeit einer sechswöchigen Anstaltsbeob-
achtung von Angeschuldigten, deren Zurechnungsfähigkeit
zweifelhaft geworden ist. In der Regel genügt diese Frist
dem Zweck vollkommen; für die wenigen Fälle aber, deren
psychiatrische Klarstellung innerhalb dieser Frist nicht gelingt,
kann kaum ein anderes Verfahren vorgeschlagen werden, das
ohne gleichzeitige Gefährdung berechtigter Interessen des An-
geschuldigten selbst und ohne ungebührliche Verschleppung der
gerichtlichen Untersuchung ein bestimmtes Ergebnis zu garan-
tieren vermöchte. Der ärztliche Sachverständige wird, wo er
zu einer sicheren Diagnose nicht gelangen konnte, dem Ge-
richte eben die Möglichkeiten auseinanderzusetzen und zu be-
gründen haben, zwischen denen er schwankt, und die richter-
liche Entscheidung wird sich einer solchen Sachlage dann
nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen anzupassen wissen, .so
sehr sie gelegentlich bedauern mag, nicht in einer präzisen
Diagnose festere Grundlagen erhalten zu haben.
Hier darf ich wohl einschalten, dass nach meiner eigenen
Erfahrung, wie nach meiner Kenntnis der Literatur, nie ein
Fall vorgekommen ist, in dem einem durch die psychiatrische
Beobachtung als nicht geisteskrank Bezeichneten durch den
a. 8
ihm aufgenótigten Aufenthalt in der Irrenanstalt irgend ein
gesundheitlicher Nachteil erwachsen wäre, während es doch
eine weit verbreitete Anschauung ist, dass, wenn irgend etwas,
so das Zusammensperren mit OS einen um den
gesunden Verstand bringen miisse.
Ergibt dagegen die Beobachtung mehr oder weniger
schwere geistige Störungen bei dem Angeschuldigten, so ver-
schaffte ihm die Verbringung in die Irrenanstalt zu diagnosti-
schen Zwecken zugleich auch die Verhältnisse, in denen sein
abnormer Zustand mehr Verständnis und Berücksichtigung
finden muss, als ihm bis dahin wohl zuteil geworden war.
Eine wohltätige Wirkung hiervon tritt oft überraschend schnell
zu Tage, es kann schon innerhalb der Beobachtungsfrist zu
einer weitgehenden Besserung des vorliegenden Krankheits-
zustandes kommen, worin unter Umständen auch die Diagnose
wieder wertvolle Stützen gewinnt. Manchmal machen sogar
die während dieser Zeit eingetretenen Fortschritte zur Gesun-
dung eine weitere Fürsorge nach ihrem Ablauf entbehrlich. —
Häufiger freilich hat man es mit langsamer, grossenteils sogar
mit überaus chronisch verlaufenden Krankheitsfällen zu tun.
Es kann dann die Frage nach ihrer weiteren Versorgung zu
einer recht dringlichen werden. Je mehr noch Aussichten auf
Wiederherstellung bestehen, desto wünschenswerter ist es vom
ärztlichen Standpunkt aus, dass die Krankenbehandlung keinerlei
Unterbrechung erleide durch eine etwaige Zurückverbringung
in Untersuchungshaft. Stosst eine Verständigung hierüber mit
dem Gericht meist auf keine nennenswerten Schwierigkeiten,
so können sich solche ergeben aus einem etwaigen Widerspruch
des Kranken selbst und seiner Angehörigen, oder wenn die
armenrechtliche Behandlung des Falles strittig ist, sobald also
wieder ein Eingreifen der Verwaltungsbehörden notwendig
wird. Diese sind bisher vielleicht ohne alle Kenntnis des
Falles geblieben, die Person des zu versorgenden ist ihnen
völlig fremd; sie müssen erst Erhebungen anstellen zur aus-
reichenden Begründung ihrer Schritte, während der Richter,
dem das gesamte Material schon vorliegt, aus ihm keine an-
deren Folgerungen ziehen kann als die Einstellung des
Verfahrens.
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Diese kann gemäß $ 203 der Strafprozessordnung vor-
läufig verfügt werden, wenn dem weiteren Verfahren der Um-
stand entgegensteht, dass der Angeschuldigte in Geistesstörung
verfallen ist. Obligatorisch ist eine solche vorläufige Einstel-
lung nicht, die Verhandlungsfähigkeit wird durch eine Geistes-
krankheit nicht unter allen Umständen aufgehoben, was vom
psychiatrischen Standpunkt aus nur begrüsst werden kann, so-
bald dafür Sorge getragen ist, dass weder die gesundheitlichen
Interessen des Angeklagten unter dem Verfahren, noch seine
Verteidigung unter der Krankheit leide.
Hat sich im Laufe des Vorverfahrens ergeben, dass dem
Angeschuldigten der Schutz des $ 51 des Strafgesetzbuchs zu-
gebilligt werden muss, so wird in der Regel unter Anwendung
der $$ 188, 196 und 202 der Strafprozessordnung die Einstel-
lung beschlossen und der Angeschuldigte ausser Verfolgung
gesetzt; von einer Hauptverhandlung wird Abstand genommen.
Unverkennbar bringt ein solcher Einstellungsbeschluss dem
Angeschuldigten wesentliche Vorteile: die Untersuchungshaft
wird aufgehoben und alle peinlichen Umstände einer öffent-
lichen Verhandlung kommen in Wegfall. Ist aber auch die
Sache damit für das Gericht erledigt, so ist sie dies keines-
wegs immer für den Angeschuldigten selbst. Fühlt er sıch,
wie nicht selten, ebensowenig schuldig als geisteskrank, so ist
ihm nach seiner Auffassung nur das Allerwenigste geworden,
was er zu beanspruchen hatte. Seine Schuldlosigkeit ist da-
gegen nicht nur nicht genügend anerkannt, sondern in einer
Weise begründet, die für ihn die weitere, vielleicht noch em-
pfindlichere „Beschuldigung“ der Geisteskrankheit enthält. Bei
den weit verbreiteten Vorurteilen gegen Geisteskranke können
ihm daraus auch tatsächlich recht empfindliche Nachteile er-
wachsen, noch ohne dass er einer Internierung in der Irren-
anstalt entgegensieht. Der Einstellungsbeschluss, gegen den
er kein Beschwerderecht hat, weil er zu seinen Gunsten er-
folgt ist, benimmt ihm die Aussicht, sich aller gegen ihn er-
hobenen Beschuldigungen in öffentlichem Auftreten vor Gericht
zu erwehren. Hierauf hatte er aber, von der Richtigkeit seines
subjektiven Standpunktes fest überzeugt, alle seine Hoffnungen
gesetzt. Vergeht sich doch mancher Geisteskranke geflissent-
ie O ze
lich gegen das Gesetz, nur um Gelegenheit zu gewinnen, in
öffentlicher Verhandlung aufzuzeigen, was ihm an Verfolgungen
und Unrecht schon zugefügt worden sei. Eine Einstellung auf
Grund des $ 51 kann ihm da nichts anderes bedeuten, als
offene Rechtsverweigerung. Er sucht nach Gründen dafür und
er weiss sie zu finden. Seine Gegner, die Behörden und die
Gerichte sind alle untereinander im Bunde und weil sie das
Licht der Öffentlichkeit zu scheuen haben, hintertreiben sie eine
Durchführung des Verfahrens.
Ein derartiger krankhafter Gedankengang kann nun frei-
lich auch durch ein in aller Form zu Ende geführtes Gerichts-
verfahren nicht mehr in richtige Bahnen gelenkt werden. Man
kann damit höchstens verhindern, dass in breiteren Schichten
des Publikums etwas davon aufgenommen und Misstrauen gegen
die rechtmäßige Behandlung eines solchen Falles verbreitet werde.
Wohl aber kann die Möglichkeit nicht ohne weiteres von der
Hand gewiesen werden, dass bei bereits bekannter oder leicht
festzustellender Geisteskrankheit eines Verdächtigen oder An-
geschuldigten die Einstellung des Verfahrens mit Rücksicht auf
seine Unverantwortlichkeit eine ungenügende Prüfung
des Tatbestands selbst und der Täterschaft mit sich
bringe, dass andere Gründe, welche eine Bestrafung
ausschliessen, nicht gebührend gewürdigt werden. An
einer richtigen Begründung seiner Schuldlosigkeit kann aber
unter Umständen auch einem Geisteskranken wie seiner Familie
recht viel gelegen sein. Subjektiv und objektiv ist es nichts
weniger als gleichgiltig, ob eine rechtswidrige Handlung ver-
möge mangelnder Willensfreiheit oder überhaupt nicht vor-
handen war, wie sie sich eventuell nach anderen Gesichts-
punkten qualifiziert. Fällt die Verantwortlichkeit weg wegen
Geisteskrankheit, so wird durch einen solchen Gerichtsbeschluss
die Täterschaft mittelbar bestätigt. Aus ihr werden vielleicht
Maßnahmen abzuleiten sein, die recht tief in die persönlichen
Verhältnisse einschneiden.
Doch die Einstellung des Verfahrens in solchen Fällen ist
ja nur eine fakultatıve. In der gerichtlichen Praxis aber
scheint sie, wenn psychopathische Zustände bei Angeschuldigten
vorliegen, mehr und mehr Regel geworden zu sein, zum Teil
== I
jedenfalls aus schonender Rücksichtnahme auf solche abnorme
Naturen; zur Verhandlung kommen meist nur Fälle, in denen
die psychiatrischen Gutachten weniger bestimmt lauten oder
sich widersprechen. Meiner Ansicht nach wäre es empfehlens-
werter, wenn Regel und Ausnahme sich etwa umgekehrt ver-
teilen würden. Wo immer ein Verfahren durchgeführt werden
kann ohne gesundheitliche Nachteile für einen psychopathischen
Angeschuldigten, da sollte dies auch geschehen, um die be-
treffenden Rechtsfälle tunlichst nách allen Richtungen zu
klären, nicht nur nach der Seite der Willensfreiheit des An-
geschuldigten. Soll in dessen gesundheitlichem Interesse die
Durchführung des Verfahrens unterbleiben, so wäre dies jeweils
durch den ärztlichen Sachverständigen besonders zu begründen,
ähnlich wie die Unterlassung der persönlichen Vernehmung
eines zu Entmündigenden. Ist der übrige Tatbestand genügend
geklärt, so ist die Einstellung des Verfahrens gewiss das Ge-
gebene. Wo aber dieser noch irgendwie zweifelhaft erscheint,
sei sie womöglich nur eine vorläufige, um die Wiederaufnahme
zu gestatten, sobald die Umstände, vielleicht eine Wendung
im Krankheitszustande des Angeschuldigten, ein sicheres Er-
gebnis in Aussicht nehmen lassen. Nicht wenige Geisteskranke
gibt es, die unter einem in aller Form durchgeführten gericht-
lichen Verfahren weit weniger leiden, als unter einer vielleicht
nur vermeintlichen Unterschätzung ihrer Interessen in Rechts-
fragen und ihrer Rechtsansprúche. Zumal wo die äussere Be-
sonnenheit und der formale Vorstellungsablauf in der Haupt-
sache erhalten geblieben sind, wird ein mitleidiges Übergehen
ihrer Anschauungen von den Geisteskranken nicht vertragen,
um so weniger in der Regel, je mangelhafter sie begründet
werden können.
Auch in den Vorschriften über den Strafvollzug werden
von der Strafprozessordnung die Geisteskranken besonders be-
rúcksichtigt. Ist es doch selbstverstándlich, dass Strafen, mag
man deren Zweck beurteilen wie man will, diesen verfehlen
müssten, wenn sie an Personen vollzogen würden, denen ver-
möge ihres krankhaften (Geisteszustandes eine angemessene
Auffassung der Strafe nicht möglich ist. Nach $ 485 darf
daher ein Todesurteil an Geisteskranken nicht vollstreckt werden
=. 1% 2m
und nach $ 487 ist die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe auf-
zuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt.
Auch diese Ausnahmevorschriften zu Gunsten der Geistes-
kranken haben ihre Kehrseite, die sich gelegentlich nicht
weniger als sehr rücksichtsvoll ansieht. Ich verzichte darauf,
auszuführen, wie grausam etwa eine verschobene Hinrichtung
als Damoklesschwert über dem Haupte eines Menschen schweben
müsste, der nach seiner Verurteilung geisteskrank geworden,
wieder der Rekonvaleszenz'entgegengeht, da hier stets ein an-
gemessener Gnadenakt ins Mittel treten kann. Aber auch die
Verschiebung oder Unterbrechung einer Freiheitsstrafe kann
Verhältnisse schaffen, die einer unverschuldeten Strafverschär-
fung gleichkommen und durch die darin gelegene Härte gesund-
heitlich nachteilig werden können. Auch durch die psychische Er-
krankung eines Verurteilten und durch ihre Behandlung muss in
der Regel eine Beschränkung seiner Freiheit und seiner Erwerbs-
möglichkeit eintreten. Sie mit der Erkrankung überwunden zu
haben, kann sich der Genesende nicht gleich Anderen freuen,
dem nun noch die Verbüssung der ihm vor der Erkrankung
zuerkannten Freiheitsstrafe bevorsteht Alle Schattenseiten der
Strafhaft werden ihn um so empfindlicher treffen müssen, je mehr
seine Erkrankung in ihrem zeitlichen Anschluss an die gericht-
liche Untersuchung mit dieser auch in ursächlichem Zusammen-
hang zu stehen scheint, je mehr sein psychischer Gleichge-
wichtszustand ein labiler geblieben ist. Ihn von neuem zu
gefährden, kann nicht im Zweck der Strafe liegen, ob durch
sie nun eine Schuld gesühnt oder der Schuldige gebessert
werden soll. Ist eine Psychose zum Ausbruch gekommen
während der Verbüssung einer Freiheitsstrafe, so sollte ihre
Behandlung erfolgen können ohne Unterbrechung der Strafzeit,
auch wenn der erkrankte Sträfling zeitweise der Irrenanstalt
übergeben wird. Nicht in allen deutschen Bundesstaaten hal
hierin eine gleichmäßige Praxis geherrscht. Um so mehr ist
die Errichtung von Irrenabteilungen an den Strafanstalten zu
begrüssen, die auch im Rahmen des Strafvollzugs selbst eine
angemessene psychiatrische Behandlung garantiert.
Mag scheinbar eine solche Einrichtung, wie wir sie jetzt
auf Hohenasperg besitzen, im Widerspruch stehen, zu der
22. 18.02
in $ 487 angeordneten Berücksichtigung der Geisteskranken
— in Wirklichkeit muss sie denselben zum Vorteil gereichen,
indem vermieden wird, dass sie über die Dauer ihrer Krank-
heit in Verhältnisse kommen, unter denen ihre gleichzeitige
Eigenschaft als ee zu ihren au besonders
beachtet werden muss.
Es mag befremdlich klingen, wenn gerade von psychia-
trıscher Seite aus Ausnahmebestimmungen im Strafrechte selbst,
im Strafverfahren und im Strafvollzug, durch die den Geistes-
kranken eine besondere Berücksichtigung zu Teil wird, als ın
verschiedenen Punkten zu weit gehend bezeichnet werden. In
der Tat ist das auch nicht so sehr der Sinn meiner Ausfüh-
rungen; diese zielen vielmehr vorzugsweise darauf hin, darzu-
legen, dass in der Strafrechtspflege die Geisteskrankheit nicht
so sehr als einheitlicher Begriff genommen werden darf, dass
auch hier mehr auf die verschiedenen Formen von
geistiger Störung, die einzelnen geisteskranken
Personen Rücksicht genommen werden muss. Von der
älteren Gesetzgebung her wird noch allzuviel der Geisteskranke
eben als mente captus behandelt; ein Merkmal wird maß-
gebend, dass keineswegs allen Geisteskranken, keinesfalls allen
in gleichem Maße zukommt. Über diesen Standpunkt hat sich
in bemerkenswerter Weise das bürgerliche Gesetzbuch erhoben,
indem es verschiedene Grade der Geschäftsfähigkeit anerkennt
und so den Regeln psychiatrischer Therapie entsprechend auch
den erhalten. gebliebenen Seiten im geistigen Leben des Er-
krankten mehr Beachtung schenkt.
Ähnliches hat ja auch in der Strafgesetzgebung schon An-
erkennung gefunden und von vielen Seiten wird lebhaft be-
dauert, dass der Begriff einer verminderten Zurechnungs-
fähigkeit jetzt nicht mehr zu Recht besteht. Ich stehe nicht
auf diesem Standpunkt, so sehr ich natürlich Unterschiede in
der Verantwortlichkeit anerkenne, je nach der geistigen Kon-
stitution der einzelnen Individuen und je nach den besonderen
Einflüssen, unter denen ihre Handlungsweise gestanden hat.
Noch ohne dass eine ausgesprochene Geisteskrankheit die
Willensfreiheit aufgehoben hätte, gibt es zweifellos vorüber-
gehende und dauernde Zustände, in denen diese mehr oder
== TE <=
weniger beeinträchtigt ist. Bezeichnet nun auch die vermin-
derte Zurechnungsfáhigkeit den geringeren Grad von Verant-
wortlichkeit besser, als dies in den mildernden Umständen
zum Ausdruck kommt, die zur Zeit den Ersatz dafür zu bieten
haben, so erhebt sie sich in ihren praktischen Folgen doch
nicht wesentlich darüber. An der Schuld des Täters und an
der von ihm zu fordernden Sühne wird im einen wie im an-
deren Falle festgehalten. Einem geringeren Maße des Ver-
schuldens nur wird entsprochen wesentlich durch Freiheits-
strafen von kürzerer Dauer. Ungenügend berücksichtigt bleibt
der Grund des geringeren Verschuldens und die richtige
Abhilfe, wenn dieser in abnormen Zuständen gelegen ist
die nicht nur ein geringeres Verschulden, sondern auch eine
reichlichere Kriminalität mit sich bringen. Angeborene Defekt-
zustánde kommen hier in Betracht, die der Erziehung und
Charakterbildung besondere Schwierigkeiten verursacht haben,
bei denen in mühsamer Arbeit nachzuholen und zu ergänzen
ist, was während der Entwicklungsperiode der Betreffenden auf
dem sonst üblichen Wege nicht genügend erreicht werden
konnte; ferner erworbene Degenerationen auf Grund von chro-
nischen Intoxikationen oder anderer Unregelmäßigkeiten des ge-
samten Stoffwechsels, wie sie, wenn überhaupt, so nur durch
Jahr und Tag hindurch eingehaltene zweckmäßige Lebensweise
beseitigt werden können. Selten wird sich hierzu Jemand nach
überstandener Strafe aus freien Stücken und mit genügender
Ausdauer entschliessen, zumal da es sich um Zeiträume han-
delt, die sich im Voraus kaum annähernd bemessen lassen.
die zweckmäßiger Weise nie kurz sein dürfen. Kurzzeitige
Freiheitsstrafen bieten kaum Gelegenheit, die schwierigsten
Anfänge eines solchen Regimes zu überwinden; etwaige Erfolge
zu erproben und weiter zu verwerten, ist innerhalb ihres
Rahmens nicht möglich. Ohne dass aber eine gründliche Um-
stimmung der gesamten Persönlichkeit erzielt ist, bleiben solche
Individuen eine stete Gefahr für unser ganzes soziales Leben.
vor der dem Publikum mit ihrer milderen Bestrafung nur ganz
vorübergehender Schutz gewährt wird.
Unter welchem Namen nun diese nicht voll verantwort-
lichen psychopathischen Naturen zusammengefasst werden, ist
e A Di
von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist nur, dass sie von
der Strafgesetzgebung besonders ins Auge gefasst werden, dass
eine besondere Fürsorge für sie einträte, auf deren Einlei-
tung gerichtlich erkannt werden kann, sobald sie im
Laufe eines Strafverfahrens als solche offenbar geworden sind,
ohne dass der Schutz des $ 51 des St. G. B. für sie in An-
spruch genommen werden kann. Nicht nur ob eine strafbare
Handlung vorliegt oder nicht, sollte jeweils zur Entscheidung
kommen, sondern unmittelbar die Frage, was mit einem An-
geklagten zu geschehen hat, durch dessen Zustand die öffent-
liche Rechtssicherheit irgendwie bedroht erscheint. Erwächst
eine solche Bedrohung aus einer Geisteskrankheit, so
könnte sehr wohl das Ergebnis der strafrechtlichen Untersuch-
ung unmittelbar zur Grundlage werden für die Einweisung des
ausser Verfolgung Gesetzten in die Irrenanstalt. Es ist nicht
recht einzusehen, warum hierzu nochmals ein besonderes ver-
waltungsrechtliches Verfahren erforderlich sein soll. Wenn
Aschaffenburg die Überweisung an den Zivilrichter behufs
Einleitung eines Entmündigungsverfahrens vorschlägt, so ist
dem ‚entgegenzuhalten, dass keineswegs allen hier in Frage
kommenden Personen die Fähigkeit zur Besorgung ihrer An-
gelegenheiten wird abgesprochen werden können, dass es sich
bei manchen derselben vielmehr darum handelt, einer einseitigen
Wahrung ihrer eigenen Interessen unter unverantwortlicher
Schädigung fremder Rechte vorzubeugen. Noch zweifelhafter
wäre der Erfolg eines Entmündigungsverfahrens bei den vorhin.
genannten Defekt- und Degenerationszuständen, bei
denen ja auch eine gewisse strafrechtliche Verantwortlichkeit
als erhalten angesehen zu werden pflegt. Bei ihnen wäre auf
eine Zwangsfürsorge zu erkennen, die ihren Anschluss an
die Zwangserziehung um so eher wird finden können, als es
sich ja auch hier grossenteils um jugendliche Individuen han-
delt. In die Irrenanstalten taugen sie nicht, weil diese grund-
sätzlich ihren Krankenhauscharakter wahren müssen und in
ihrem ganzen Betriebe auf die Verpflegung von Personen zu-
geschnitten sind, die einer Verantwortlichkeit entbehren. Es
bedarf vielmehr einer besonderen Art von Bewahranstalten mit
Strafferer Disziplin, als sie bei Geisteskranken in Frage kommen
kann und mit entschiedenem Zwange zu angemessener Arbeit.
Von besonderer Bedeutung ist sodann ein geeignetes diátetisches
Regime mit vólliger Alkoholabstinenz und ein etwas weiter-
gehender Einfluss eines psychiatrisch geschulten Arztes, als ein
solcher an den Strafanstalten in Betracht kommt. Die spezielle
Gestaltung solcher Bewahranstalten, die sich anderen Modi-
fikationen im Strafvollzug anzureihen haben würden, ist ein
Problem, für das eine angemessene Lösung für die nächste
Zukunft schon dringend gewünscht werden muss. (Vgl. hierzu
M oeli: Über die zur strafrechtlichen Behandlung zurechnungs
fähiger Minderwertiger gemachten Vorschläge. Archiv für
Psychiatrie, Bd. 39, Z. 3.)
Einer der heikelsten Punkte wird dabei jedenfalls die Be-
messung der Aufenthaltsdauer in einer solchen Anstalt werden.
Zu kurz darf sie nicht sein; einer zeitlichen Unbeschränktheit
dürften aber gewichtige grundsätzliche und praktische Bedenken
entgegenstehen. Zur Entscheidung über die Entlassung, even-
tuell Beurlaubung, werden wohl besondere gemischte Kommis-
sionen in Tätigkeit treten müssen. Auch der Kostenpunkt
kommt in Betracht; fällt den Gemeinden oder dem Staate
diese Art von Fürsorge zur Last? Staatlichen Einrichtungen
dürfte wohl der Vorzug zu geben sein. Im übrigen jedoch
dürfte in Rechnung genommen werden können, dass sich solche
Einrichtungen mit der Zeit selbst bezahlt machen werden.
Denn die meisten der ihnen zuzuweisenden Personen verfügen
‚über gute Arbeitskräfte und werden diese unter entsprechender
Leitung auch einsetzen, zumal wenn ihnen dabei ein gewisser
eigener Verdienst nicht vorenthalten bleibt.
Werden die Befugnisse des Strafrichters in der vorhin an-
gedeuteten Weise erweitert, so bleibt die Durchführung
von strafrechtlichen Untersuchungen auch in Fällen,
die eine Bestrafung nicht in Aussicht nehmen lassen, keine
leere Form. Das Interesse des Untersuchungsrichters an
genauester Feststellung aller; Seiten des Tatbestands sollte viel-
mehr vertieft werden, wenn;¡das V erfahren stets zu einer bestimmten
Entscheidung über das weitere Geschick des Angeschuldigten
führen muss. Die vermehrte Arbeit, die daraus im Strafverfahren
erwächst, wäre nicht umsonst getan, sie stünde im Dienste
se NB
einer Aufgabe, die über das Strafrecht seinem Namen nach
zwar hinausgriffe, mit dessen Geist aber doch wohl nicht im
Widerspruch stünde Hand in Hand mit anderweitigen Be-
strebungen würde dieselbe die Heilung sozialer Schäden sich
unmittelbar zum Ziele setzen. Aber auch für sein eigenstes
Gebiet dürfte der Gewinn nicht ausbleiben, indem so doch
wohl erfolgreicher auf eine Abnahme der Gewohnheitsver-
brecher hingearbeitet würde, als dies der Zubilligung mildernder
Umstände an psychisch Defekte je gelingen wird. Endlich
würde ein Weg geschaffen, auf dem die Verständigung zwischen
jJuristischem und ärztlichem Standpunkt sich glatter vollziehen
würd. Wenn Aschaffenburg eine der Quellen für die
Abneigung mancher Richter gegenüber den Auffassungen psy-
chiatrischer Sachverständiger in dem Umstande erblickt, dass
in der Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit die Machtbe-
fugnis des Richters sich erschöpfe, dass ihm mit ihrer An-
erkennung jeder Einfluss entzogen werde auf die weiteren
Schicksale eines gemeingefährlichen Geisteskranken, so decken
sich damit meine eigenen Erfahrungen vollkommen. Gar nicht
selten ist mir im Anschluss an ein dem Gericht erstattetes
Gutachten die Frage vorgelegt worden nach der Gemeingefähr-
lichkeit des Angeklagten, für den ich den Schutz des $ 51 des
St. G. B. zu reklamieren hatte. Mit der Entscheidung über
die Schuld kann diese Frage an sich nichts zu tun haben und
doch konnte ich mich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren,
als habe ihre Beantwortung bestimmenden Einfluss gewonnen
auf das Urteil, zumal von Geschworenen.
Handelt es sich in formeller Hinsicht darum, gewissen
fundamentalen Regeln der psychiatrischen Therapie, tunlichster
Individualisierung und einer angemessenen Beachtung der er-
halten gebliebenen Seiten des geistigen Lebens vermehrten
Eingang in die gerichtliche Praxis zu verschaffen, so erscheint
materiell neben klarer Bezeichnung der Geisteskrankheit als
Strafausschliessungsgrund eine Erweiterung richterlicher Befug-
nisse angezeigt auch gegenüber nicht Schuldigen und in ge-
ringerem Grade Verantwortlichen, wenn sie einmal zu straf-
richterlicher Untersuchung Anlass gegeben hatten. Dagegen
bedarf es einer eigentlichen Erweiterung der den
2
a e a
Geisteskranken in der Strafgesetzgebung grund-
sätzlich zugestandenen Ausnahmestellung nicht.
Die erforderlichen Rücksichten lassen sich auf Grund des be-
stehenden Rechts ausreichend wahrnehmen unter einigen wenig
einschneidenden Abänderungen der giltigen Spezialbestim-
mungen. — Um so weniger erscheint mir die Schaffung einer
Ausnahmegesetzgebung für Geisteskranke — ein „Irrenrecht“
— geboten zu sein. Verlangt wird nach einem solchen nament-
lich, um eine gesetzliche Festlegung der Bedingungen zu er-
langen, unter denen eine Beschränkung der verfassungsmäßig
garantierten persönlichen Freiheitsrechte wegen Geisteskrank-
heit zulässig sein soll, weiterhin um alle Rechtsfragen, die
Geisteskranke speziell berühren, unter bestimmte Normen zu
bringen. Man übersieht dabei, dass starre Gesetzesvorschriften,
die vor allen Dingen notwendige individualisierende Behand-
lung, wie sie im gesamten Verkehr mit den Geisteskranken
als eine der wichtigsten Forderungen betrachtet werden muss,
nur erschweren können; man übersieht ferner, dass alles, was
sich gegen Ausnahmegesetze im allgemeinen einwenden lässt,
noch vermehrt werden muss, wenn sich die Zugehörigkeit der
von einem solchen Gesetze betroffenen Personen zu seinem
Geltungsbereiche nicht nach Merkmalen bestimmen lässt, die
von ibnen selbst anerkannt werden. Jede Anwendung eines
solchen Gesetzes bliebe an eine Entscheidung über die Vor-
frage gebunden, ob die betreffende Person geisteskrank ist
oder nicht. In diesem Punkte liegt allein die wahre Schwierig-
keit des „Irrenrechts*. Ist er in einer Weise strittig, dass
gerichtliche Entscheidung notwendig erscheint, so fehlt es im
bestehenden Rechte nicht an den geeigneten Mitteln und Wegen,
sie herbeizuführen, so wenig sie im gegebenen Falle auf allge-
meine Anerkennung sicher zu rechnen haben wird. Denn eine
ausreichende Einsicht für das Krankhafte ihres Zustandes fehlt
eben den meisten Geisteskranken, wie sie auch Laien vielfach
abgeht, die nur einzelne Seiten der Betreffenden, nicht ihre
Gesamtpersönlichkeit ins Auge zu fassen in der Lage sind. In
den Staaten, die besondere Irrengesetze haben, sind darum
auch die Klagen über ihre ungerechtfertigte Anwendung nicht
geringer, als bei uns die über gesetzwidrige Freiheitsberaubung,
za JO. ==
moderne Vehme u. dgl. Steht aber die Diagnose einer Geistes-
krankheit fest, so genügen die bestehenden Gesetze für alle
aus ihr abzuleitenden rechtlichen Folgerungen. l
Diese ganze Frage dem heutigen Thema noch anzureihen,
habe ich mich veranlasst gesehen durch eine kürzlich in zweiter
unveränderter Auflage erschienene Abhandlung von Ernst
August Schroeder: „Das Recht im Irrenwesen;
kritisch, systematisch und kodifiziert“ (Zürich und Leipzig,
1904). Es wird darin ausgeführt, dass ein besonderes Irren-
recht als Angelegenheit nicht des privaten, sondern des öffent-
lichen Rechts dringendstes Erfordernis sei und dass es sich
aufbauen müsse im Anschluss an das Strafrecht. Nur durch einen
förmlichen Strafprozess soll Jemand der Geisteskrankheit „ange-
klagt“, soll er zur Internierung in einer Irrenanstalt „verurteilt“
werden können. Um eine solche „Irrenstrafe“ zu rechtfertigen, wird
ein Schuldbegriff gefunden in der Geisteskrankheit als Ursache
eines Unrechts gegen Andere. Nur gefährliche Geisteskranke
können also Objekt einer Irrenfürsorge werden, eine solche aus
ärztlichen und humanitären Gründen im Interesse des Erkrankten
selbst gibt es von diesem Standpunkt aus nicht!
' Dürfte auch ein Autor, der seine Schrift 14 Jahre nach
ihrer erstmaligen Veröffentlichung unverändert zum Abdruck
bringt unter Nichtbeachtung alles dessen, was von anderer
Seite inzwischen geleistet worden ist, den Anspruch verwirkt
haben, ernsthaft genommen zu werden, so erscheint mir eine
Entgegnung doch angezeigt zu sein, weil ähnliche Anschau-
ungen ohne den Mantel sozialwissenschaftlicher Rechtsunter-
suchung in weiten Kreisen der Bevölkerung noch immer all-
zufest wurzeln. Bei Kranken und Gesunden stösst man immer
wieder auf die Meinung, die Übernahme eines Geisteskranken
in Irrenanstaltsbehandlung müsse durch diesen irgendwie ver-
schuldet sein, damit sie überhaupt gerechtfertigt sei, ja selbst
in der behördlichen Aufsicht über den Anstaltsbetrieb sickert
immer wieder ein Suchen nach besonderen Vorkommnissen
durch, mit denen Aufnahme und Belassung in der Anstalt zu
begründen sei. Die Anstaltsbedürftigkeit eines Kranken ist
man unwillkürlich immer wieder geneigt, mehr nach dem Ge-
sichtspunkt des Schutzes öffentlicher Interessen zu beurteilen
9x
— 2 —
als nach den gesundheitlichen Erfordernissen des einzelnen
Patienten. Für den Arzt aber müssen die letzteren an erster
Stelle stehen, ist der Schutz des Publikums gegen etwaige
Schädigungen durch Geisteskranke eine Aufgabe, der er sich
zumal an einer öffentlichen Irrenanstalt nicht entziehen kann.
die aber seinen Berufskreis nur mittelbar berührt. Diese darf
darum auch nicht vorzugsweise oder gar ausschliesslich maß-
gebend werden für die Aufnahmevorschriften.
Eine Verkennung dieses Standpunkts kann sich nur darum
immer wieder aufdrängen, weil im Unterschied von anderen
Kranken die Geistesgestörten nur selten aus eigenem Antrieb
eine irrenärztliche Behandlung aufsuchen. Oft genug müssen
auch ungefährliche Patienten zu ihrem eigenen Wohl ihr unter
Widerstreben überantwortet werden. So wird die ihnen auf-
gedrungene Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit der ähn-
lich, die bei anderen Personen nur kraft Gesetzes eintreten
darf. Sehr gewöhnlich wird jedoch dieser Eingriff in die
Freiheitsrechte des Einzelnen überschätzt. Weiss man schon
zu Hause mit den Patienten angemessen umzugehen, versteht
man, ihnen ruhig und bestimmt auseinanderzusetzen, was ihr
eigenes Wohl erfordert, und vermeidet man namentlich jede
Art von Täuschung oder Überlistung der Kranken, so schrumpfen
die Fälle, in denen wirklicher Zwang bei der Verbringung in
die Anstalt ausgeübt werden muss, auf ziemlich bescheidene
Zahlen zusammen. Fehlt doch den wenigsten einiges, wenn
auch unklares Krankheitsgefühl, an das man anknüpfen kann
zur Begründung der Notwendigkeit eines Heilverfahrens. Seit
längerer Zeit wende ich bei der Krankenaufnahme diesem
Punkte mein besonderes Augenmerk zu und die Proteste gegen
die Aufnahme in die Anstalt sind dabei erheblich seltener ge-
worden. Allerdings kommen sie vielfach nachträglich zum
Vorschein, wenn die in Aussicht gestellte Besserung langsamer
fortschreitet als gehofft war, oder wenn sie ganz ausbleibt.
Der chronische Verlauf der meisten Psychosen stellt die Aus-
dauer von Patienten und Rekonvaleszenten oft auf harte Proben.
Wie viel trotzdem auf suasorischem Wege möglich ist, lehrt
uns die allenthalben fortschreitende Ausdehnung freierer Ver-
pflegungsformen in der Psychiatrie, die Möglichkeit, bei der
— ?] —
Neueinrichtung von Irrenanstalten auf Sicherheitsvorkehrungen
mehr und mehr zu verzichten, wie sie früher für unentbehr-
lich galten. In Wirklichkeit nähert sich die Verpflegung in
unseren Anstalten, landläufigen Ansichten zum Trotz, stetig
der in anderen Krankenhäusern, wo es Jedermann nur natür-
lich findet, wenn Aufenthaltsdauer und Lebensweise sich mehr
nach den Anordnungen des Arztes, als nach dem Willen der
Patienten zu richten haben. Wenn dies den Patienten der
Irrenanstalten schwerer fällt, wenn sie namentlich viel schwan-
kender sind in ihren Entschliessungen, so liegt das in der
Natur ihrer Erkrankung und kann das auch vielfach mit dieser
wieder gebessert werden. Die notwendige Fürsorge zu einer
Rechtsangelegenheit zu machen, dürfte ein ausreichender An-
lass höchstens dann gegeben sein, wenn ein Schwinden des
Protestes ausbleibt oder nicht in absehbarer Zeit zu gewärtigen
ist. Hierfür genügen aber die Bestimmungen des ordentlichen
Rechts über Entmündigung einerseits und über widerrechtliche
Freiheitsentziehung andererseits in Verbindung mit der regel-
mäßigen staatlichen Kontrolle des gesamten Irrenwesens. Was
Schroeder über die Vergeblichkeit jeder Art von Beschwerde-
führung durch die wegen angeblicher Geisteskrankheit Inter-
nierten ausführt, trägt zu sehr den Stempel tendenziöser Kon-
struktion an sich, als dass es die auch von ihm nicht bestrittene
Tatsache entkräften kónnte, dass von allen gegen Irrenärzte
erhobenen Klagen wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung
nicht eine hat zu einer Verurteilung führen können. Dass
auch der Irrenarzt irren kann, ist ja selbstverständlich. Daran
kann aber auch durch keine Spezialgesetzgebung etwas geän-
dert werden.
Auf das Entschiedenste ist jedenfalls Verwahrung einzu-
legen gegen den blossen Gedanken eines Irrenstrafrechts,
wie dies Schroeder so dringend verlangt. Denn grundsätz-
lich muss darauf bestanden werden, dass alle Schritte auf dem
Gebiete des Irrenwesens sich nur im Sinne einer Fürsorge dar-
stellen dürfen, auch wenn sie einmal einem Widerstrebenden
gegenüber zur Ausführung gebracht werden müssen. Lehnt
das Strafrecht jede Bestrafung von Geisteskranken ab, so darf
deren Behandlung nie und nimmer als solche erscheinen, wie
wir ja auch in unseren praktischen Maßnahmen mit besonderem
Fleiss darauf ausgehen, jede äussere Ähnlichkeit mit dem Ge-
fängnis immer mehr zum Verschwinden zu bringen. Als eine
leidige Seite des Entmündigungsverfahrens wird es immer
wieder empfunden, dass die damit begründete Fürsorge für
den geschäftsunfähigef Geisteskranken formell an eine Klage
gegen ihn gebunden ist. Vielleicht lässt sich für diesen Ein-
griff in die persönlichen Rechte eines Kranken mit der Zeit
noch eine schonendere Form finden. Der Arzt aber, dessen
erste Pflicht es ist, für das gesundheitliche Wohl seiner Kranken
zu sorgen, darf sich deren Erfüllung nicht dadurch erschweren
lassen, dass seine Wirksamkeit von irgend einem richterlichen
Vorgehen gegen den Kranken abhängig gemacht werde. Nur
für die ihn an zweiter Stelle gelegentlich zukommende Auf-
gabe, auch das Publikum zu schützen vor Schädigungen durch
unverantwortliche Geisteskranke, kann es ihm nicht unerwünscht
sein, wenn er sich dabei stützen kann auf den Spruch eines
ordentlichen Gerichts.
Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetz-
gebung und Strafprozess.
Von Oberlandesgerichtsrat Dr. Schanz (Stuttgart).
| Aur dem Gebiet des materiellen Strafrechts kommt
der Geisteskranke in doppelter Richtung in Betracht, einmal
als Subjekt, sodann aber als Objekt einer strafbaren Hand-
lung. In letzterer Beziehung ist er dem geistig gesunden
Menschen grundsätzlich gleichgestellt. Modifikationen mit der
Wirkung einer Änderung des rechtlichen Charakters der Straf-
tat können sich ergeben, wenn diese mit einer Handlung des
Verletzten verknüpft ist, so, wenn der Geisteskranke von dem
Täter bestimmt wird, eine ihm gehörige, in seinem Gewahrsam
befindliche bewegliche Sache dem Täter zu übergeben, der von
Anfang an die, in der Folge auch verwirklichte, Absicht hat,
sich dieselbe rechtswidrig zuzueignen. Hier liegt, wenn der
Täter die Geisteskrankheit des Verletzten gekannt hat, nicht
Unterschlagung, sondern Diebstahl vor. Modifikationen können
ferner eintreten, wenn und soweit der Tatbestand einer straf-
baren Handlung ein Verständnis auf Seiten des Verletzten
voraussetzt, so z. B. im Falle der Beleidigung eines Geistes-
kranken ohne Anwesenheit eines dritten !). Ein näheres
Eingehen auf die Stellung des Geisteskranken als Verbrechens-
objekts in der Strafgesetzgebung muss mit Rücksicht auf
die Kürze der für diesen Vortrag bestimmten Zeit unterbleiben-
Ungleich wichtiger ist ja auch die Behandlung des Geistes-
kranken alsSubjekts einer — an sich — strafbaren Handlung.
Unser deutsches Strafgesetzbuch — auf das ich mich vor-
1) Vgl. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, $ 95 bei und in
Note 4, Entscheidungen des R.-G. in Strafsachen, Bd. 27, S. 368.
— Ææ —
liegend in der Hauptsache beschränke — enthält in diesem
Betreff nur die einzige Bestimmung des § 51, wonach eine
strafbare Handlung nicht vorhanden ist, wenn der Täter zur
Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befand, durch welche seine freie Willensbestimmung ausge-
schlossen war, d. h. eine an sich strafbare Handlung ist dem
Täter nicht zur Schuld zuzurechnen und darum straflos ge-
lassen, wenn seine freie Willensbestimmung zur Zeit der Tat
durch Bewusstlosigkeit oder krankhafte Störung seiner Geistes-
tätigkeit ausgeschlossen war. Der Gesetzgeber hat somit die
Zurechnungsunfähigkeit des Täters nicht nach der sog. biolo-
gischen Methode, d. h. durch Aufzählung der einzelnen, die
Zurechnungsfähigkeit aufbebenden Zustände, aber auch nicht
nach ausschliesslich psychologischen Merkmalen bestimnit,
sondern sich für das gemischte System, die Verbindung
biologischer Kriterien mit einem psychologischen Merkmal ent-
schieden. Nach den Motiven zu dem jetzigen $ 51 B. G. B.
($ 49 des II. Entwurfs) wollte man mit den Schlussworten des-
selben „zugleich ausdrücken, dass die Schlussfolgerung selbst,
nach welcher die freie Willensbestimmung in Bezug auf die
Handlung ausgeschlossen war, Aufgabe des Richters ist.“ Es
versteht sich denn auch bei dem den deutschen Strafprozess
beherrschenden Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung
(vgl. $ 260 St. P. O.) von selbst, dass der Richter bei der
Entscheidung der Frage, ob zur Zeit der Begehung der inkri-
minierten Handlung die freie Willensbestimmung des Täters
durch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen
war, an das Gutachten eines Sachverständigen nicht gebunden
ist, wie er ja auch im Gegensatz zum civilrichterlichen Ent-
múndigungsverfahren, für welches in § 655 Z. P. O. bestimmt
ist, dass die Entmiindigung nicht ausgesprochen werden darf,
bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige über
den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat, das
Vorhandensein einer die freie Willensbestimmung ausschliessen-
den krankhaften Störung der Geistestätigkeit auf Seiten des
Täters feststellen oder verneinen kann, ohne überhaupt einen
Sachverständigen in dieser Richtung vernommen zu haben.
— 25 —
Anders z. B. der Vorentwurf zu einem schweizerischen Straf-
gesetzbuch vom Juni 1903, der in Art. 15 die Bestimmung
enthält: „Gibt der Geisteszustand des Angeschuldigten zu
Zweifeln Anlass, so lässt ihn der Beamte, der dies wahrnimmt,
durch Sachverständige untersuchen.“ Durch diese, übrigens
nicht dem Strafrecht, sondern dem Strafprozess angehörige
Vorschrift soll dem funktionierenden Beamten die Pflicht!)
auferlegt werden, in denjenigen Fällen, in denen Zweifel an
der geistigen Gesundheit des Beschuldigten auftauchen, diesen
durch mindestens einen Sachverständigen untersuchen zu lassen.
Es ist bekannt, dass seit Jahren eine sehr starke, auf Be-
seitigung des Kriteriums der freien Willensbestimmung
in $ 51 St. G. B. gerichtete Strömung?) besteht. In seinem
Vortrage über „Die Zurechnungsfähigkeit“, den Prof. Dr.
E. Mendel (Berlin) am 11. März 1902 in dem Cyklus
„Gerichtliche Medizin“ in Berlin gehalten hat, konnte
derselbe sagen: „alle (d. h. Gerichtsärzte und Medizinalkollegien)
sind einig darin, dass sich mit der freien Willensbestimmung
in ärztlichem Sinne nichts anfangen liesse, dass die Fassung
geändert werden müsste“*,3) und Prof. Dr. Aschaffenburg
(Köln) hat sich auf der am 12.—13. Sept. 1904 in Danzig
stattgehabten dritten Hauptversammlung des deutschen Medizi-
nalbeamten-Vereins dahin ausgesprochen: „Der $ 51 unserer
Strafgesetzgebung hat eine Reihe grober und grosser Mängel;
in dieser Anschauung stimmen wohl alle Juristen und Ärzte
überein und wohl auch darin, dass das Wort und der Begriff
der „Willensfreiheit* in Fortfall kommen müssen; die „ Willens-
freiheit“ ist ein metaphysischer Begriff, der nicht zur Charakte-
risierung einer Gesetzesbestimmung benutzt werden darf).
Aschaffenburg nimmt also über Mendel hinausgehend an, dass
wohl auch alle Juristen die Beseitigung des psychologischen
Kriteriums in $ 51 St. G. B. fordern. Der Strafrechtsprofessor
1) Vgl. auch Hafter in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und
Strafrechtsreform, Bd. 1, S. 80.
?) Vgl. Klinisches Jahrbuch, Bd. 11, S. 175.
’ Vgl. den „offiziellen Bericht“ über diese Versammlung S. 68.
a. a. O. S. 97.
— % =
Dr. Heimberger (Bonn) hat sich denn auch auf derselben
Versammlung mit diesen Ausführungen Aschaffenburgs einver-
standen erklärt!) In der am 9. Januar 1905 abgehaltenen
Sitzung der „Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nerven-
krankheiten* endlich hat Prof. Mendel unter Bezugnahme auf
eine seinem Standpunkt günstige, auf dem 27. Deutschen
Juristentag gefallene Äusserung des Strafrechtslehrers Prof.
Dr. Kahl (Berlin), ohne Widerspruch zu erfahren, erklären
können: „Ärzte und Juristen seien darin einig, dass die freie
Willensbestimmung aus $ 51 St. G. B. entfernt werden müsse ?)*.
Die biernach auf medizinisch-psychiatrischer Seite herrschende
Meinung, dass alle Juristen oder jedenfalls die überwiegende
Mehrzahl derselben die Eliminierung des psychologischen Kri-
teriums aus $ 51 St. G. B. verlangen, entspricht nach meiner
Kenntnis der Verhältnisse nicht der wirklichen Sachlage.3) Die
neuen Kodifikationen des Strafrechts und Entwürfe hierzu haben
denn auch zumeist das gemischte System gewählt, so das
ungarische Strafgesetzbuch von 1878, $ 76, das italienische von
1889, Art. 46 Abs. 1, das bulgarische von 1896, Art. 41 Abs. 1
der österreichische und russische Entwurf, so namentlich auch
der neueste Entwurf eines schweizerischen Strafgesetzbuches
von 1903, dessen, übrigens sowohl von ärztlicher Seite) als
auch aus juristischen Kreisen heftig bekämpfter art. 16 Abs. 1
dahin lautet: „Wer zur Zeit der Tat ausserstande war, vernunft-
gemäß zu handeln, wer insbesondere zur Zeit der Tat in seiner
geistigen Gesundheit oder in seinem Bewusstsein in hohem
Grade gestört war, ist nicht strafbar,“ während der entsprechen-
den Bestimmung der Vorentwürfe von 1893, 1894 und 1896
in Anwendung der biologischen Methode die Fassung gegeben
worden war: „Wer zur Zeit der Tat geisteskrank oder blöd-
sinnig oder bewusstlos war, ist nicht strafbar.“ M. E. kann
nun aber vom juristischen Standpunkt aus auf die Beibehaltung
des psychologischen Kriteriums in $ 51 St. G. B. verzichtet
1) Vgl. Neurologisches Zentralblatt Bd. 24, S. 136.
2 Vgl. u.a. Gretener, Die Zurechnungsfähigkeit als Gesetzgebungs-
frage S. 44.
2) Vgl. Bleuler in der; Monatsschr. f. Krim. Psychologie Bd. 1, $. 621 ff.
4) Vgl. Gretener, Die Zurechnungsfähigkeit p. p. S. 48 und 49.
m ZONE
werden, wenn die Eliminierung desselben auch keineswegs
deshalb als geboten erscheint, weil der in der jetzigen
Fassung des $ 51 zu Tage tretende indeterministische Stand-
punkt des Gesetzgebers wissenschaftlich nicht haltbar wäre,
Die gegen die Beseitigung der „freien Willensbestimmung*
hauptsächlich geltend gemachten Gründe, dass im Falle blosser
Aufzählung der die Zurechnungsunfähigkeit bedingenden Geistes-
zustände die Grenzen der ersteren entweder — bei allgemeiner
Fassung — zu weit ausgedehnt, oder — bei spezieller Bezeichnung
der einzelnen Zustände — zu eng gesteckt würden !), und dass
für eine gegenseitige Verständigung zwischen Arzt und Richter
in zweifelhaften Fällen der durch das psychologische Kriterium
geschaffene gemeinsame Boden fehlen würde?), dürften nicht
stichhaltig sein. Kein Streit herrscht .ja darüber, dass beim
Vorliegen einer — wirklichen — Geisteskrankheit eine Verant-
wortlichkeit des Täters für die von ihm begangene, objektiv
strafbare Handlung nicht besteht. Aus der Entstehungsgeschichte
des $ 51 St. G. B. geht auch unzweideutig hervor, dass der
Gesetzgeber die freie Willensbestimmung im Falle der Geistes-
krankheit als unbedingt ausgeschlossen betrachtete. Liegt also
tatsächlich Geisteskrankheit vor, so ist hierdurch auch der Aus-
schluss der Zurechenbarkeit der Tat und damit der Strafbarkeit
gegeben. Ein psychologisches Kriterium hat also hierneben
gar keinen Platz mehr. Ob — wirkliche — Geisteskrankheit
vorliegt, ist freilich nicht selten schwer festzustellen. Die
Grenzen der Geisteskrankheit und der geistigen Gesundheit sind
fliessende und es kann ein Gerichtsarzt da schon Geisteskrankheit
annehmen, wo ein anderer nur einen die Zurechnungsfähigkeit
vermindernden, also noch innerhalb der Gesundheitsbreite liegen-
den Zustand als gegeben erachtet. Gerade hier aber hat dann
erforderlichenfalls der Richter einzugreifen und sich durch
Fragestellung an den ärztlichen Sachverständigen zu vergewissern,
ob die Störung die Persönlichkeit des Täters psychisch umge-
wandelt hat, ob, wie Bleuler’) bemerkt, durch dieselbe „ein
Novum in die Seele des Menschen hineingekommen ist“, ob
1) Gretener a. a. O. S. 53, Kandinsky daselbst S. 207.
?) Vgl. Monatsschr. f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 627.
3) a. a. O. S. 632, 633.
— 28 —
also wirklich Geisteskrankheit gegeben ist. Ähnlich verhält es
sich mit dem Begriff der Bewusstlosigkeit. Der Richter wird
demnach im Falle der Beseitigung des psychologischen Krite-
riums in § 51 St. G. B. keineswegs ausgeschaltet, ganz ab-
gesehen davon, dass er auch in diesem Falle an das Gutachten
des Sachverständigen nicht gebunden ist. Denn nicht scharf
genug kann dem Versuche entgegengetreten werden, den Richter
an den Ausspruch des ärztlichen Sachverständigen über das
Vorhandensein einer Geisteskrankheit binden zu wollen, wie er
z. B. von Bleuler!) gemacht worden ist. Anders nähmlich als
in diesem Sinne kann wohl die Erklärung desselben, „die freie
Würdigung des Gutachtens (sc. seitens des Richters) sei, so-
weit sie wahr sei, in psychiatrischen Dingen eine Art Unfug,“
nicht aufgefasst werden. Das Prinzip der freien Beweiswürdi-
gung ist einer der Grundpfeiler einer gesunden Strafrechtspflege,
von dem nichts abgebröckelt werden darf, wenn auch der fast
allseitig erhobenen Forderung einer tiefergehenden psychologisch-
psychiatrischen Ausbildung der Juristen (Bleuler verlangt zu-
weitgehend eine naturwissenschaftlich- psychologische
Erudition derselben) mit Entschiedenheit zuzustimmen ist. Ich
bin daher der Meinung, dass der von Mendel?) an Stelle des
jetzigen Wortlauts des § 51 St. G. B. vorgeschlagenen, unter
anderen auch von Kahl?) nicht beanstandeten Fassung: „Eine
strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur
Zeit der Begehung der Handlung bewusstlos oder geisteskrank
war,“ nichts im Wege steht. Sie wird sich aber auch geradezu
empfehlen und zwar schon deshalb, weil die Gerichtsärzte
in immer weiterem Umfang die Beantwortung der Frage nach
dem Ausschluss der freien Willensbestimmung als einer nicht-
medizinischen ablehnen *) und es an einem gesetzlichen Mittel
zur Erzwingung dieser Beantwortung gebricht, aber auch des-
halb, weil jene Fassung immerhin den Vorzug grösserer Be-
stimmtheit hat.
1) Klinisches Jahrbuch Bd. 11, S. 176, Neurologisches Zentralblatt
Bd. 24, S. 136. i
2) Verhandlungen des 27. Deutschen Juristentages Bd. 1, S. 219.
5 Vgl. Mendel im Klinischen Jahrbuch Bd. 11, S. 175.
4) Vgl. den angeführten offiziellen Bericht über die Danziger Ver-
sammlung S. 69. l
— 29 —
Eine andere Gestaltung des § 51 St. G. B.!) wird auch
um deswillen gefordert, weil bei dem jetzigen Wortlaut, wonach
auf Seiten des Geisteskranken eine Handlung im Rechtssinne
nicht vorliege, nach der Ansicht des Reichsgerichts ?) die Bei-
hilfe straflos bleiben müsse und weil dem Richter im Falle der
Bejahung der Geisteskrankheit nicht die Pflicht zur Feststellung,
ob der beschuldigte Geisteskranke überhaupt die Tat begangen
habe, auferlegt sei, während doch der bei Unterlassung dieser
Feststellung auf dem Geisteskranken haften bleibende Makel,
dass er eine „gemeingefährliche* Handlung begangen habe,
eine erhebliche Schädigung desselben enthalte, insbesondere den
Heilungsprozess ungünstig beeinflusse. Es wird daher eine
„Irennung des Wortlautes des $ 51 St. G. B.“ verlangt, die
„derartig ist, dass unabhängig voneinander die Beteiligung des
Kranken an der ihm zugeschriebenen Handlung und seine
Unzurechnungsfähigkeit festzustellen ist.“*). Bei dem ersten
Punkt ist indes übersehen, dass der „Teilnehmer“ an der Tat.
des Geisteskranken im Falle seiner Kenntnis der Geisteskrank-
heit wohl, soweit dies der Charakter des betreffenden Reates
zulässt, in der Regel als Selbsttäter zur Strafe gezogen werden
kann. Eine Bestimmung aber dahin, dass der Teilnehmer im
Falle seiner Unkenntnis von der Geisteskrankheit des Täters.
nach den für die Teilnahme geltenden Grundsätzen zu be-
strafen sei, widerspräche- dem strafrechtlichen Begriff der Teil-
nahme, deren Accessorietät auf Seiten des Täters eine Handlung
im Rechtssinn voraussetzt, wie sie in dem Tun eines Geistes-
kranken nicht erblickt werden kann und erscheint daher als
ausgeschlossen. Die Frage der Trennung der Tat- und Schuld-
frage sodann berührt als rein prozessuale das materielle Straf-
recht nicht und ist deshalb später zu erörtern.
Dagegen ist hier einzugehen auf die brennend gewordene
Frage, ob und welche Befugnisse dem Strafrichter hinsichtlich.
1) Gemeint ist das Urteil des III. S.rafsenats in Bd. 11, S. 56 der:
Entsch. in Strafs.
?) Vgl. den erwähten Bericht S. 69.
5) Vgl. D.-G. in Strafs. Bd. 11, S. 57, Bd. 21, S. 14/15, Bd. 29, S.
130, Bd. 35, S. 73.
o BO es
der Verwahrung des freigesprochenen oder ausser Verfolgung
gesetzten Geisteskranken einzuräumen seien. Liszt hat auf der
vorjährigen, in der Zeit vom 25. bis zum 28. Mai in Stuttgart
stattgehabten Versammlung der deutschen Landesgruppe der
internationalen kriminalistischen Vereinigung einen von ihm ver-
fassten, von der Versammlung in der Folge mit unwesentlichen
Abweichungen gebilligten Gesetzentwurf betr. die Verwahrung
gemeingefährlicher Geisteskranker und vermindert Zurechnungs-
fähiger vorgelegt, in dessen $ 1 er vorschlágt, den $ 51 St.
G. B. durch die Bestimmung zu ergänzen: „Erachtet
das Gericht den Täter nach dem Gutachten der psy-
chiatrischen Sachverständigen als gemeingefährlich, so hat es
von Amtswegen durch besondern Beschluss die vorläufige
Verwahrung des Freigesprochenen anzuordnen und zugleich die
Akten zur Veranlassung des Entmündigungsverfahrens an die
zuständige Staatsanwaltsschaft (Z..P. O. $ 646, Abs. 2) abzugeben.
Dem Angeschuldigten, welcher einen Verteidiger nicht hat, ist
ein solcher gleichzeitig zu bestellen“, und in dessen $ 3 er
eine Ergänzung des die Voraussetzungen der Entmündigung
normierenden $ 6 B.G.B. durch Einschaltung eines $ 4 des
Wortlauts: (Entmündigt kann werden) „wer in Folge von
Geisteskrankheit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit als
gemeingefährlich erscheint,“ verlangt.!) Dem Strafrichter weist
Liszt also nur die Aufgabe der — mittels Beschwerde an-
fechtbaren — Anordnung der vorläufigen Verwahrung des
freigesprochenen (nicht auch des ausser Verfolgung ge-
setzten) gemeingefährlichen Geisteskranken zu und zwar
soll nach einem von ihm zu $ 51 St.G.B. vorgeschlagenen
Abs. 4, „die vorläufige Verwahrung in besondern Abteilungen
der Strafanstalten und Gefängnisse oder in andern dazu ge-
eigneten Räumen unter ärztlicher Beaufsichtigung erfolgen“,
während die Anordnung der endgiltigen Verwahrung des
freigesprochenen, gemeingefährlichen Geisteskranken in einer
Heil- oder Pflegeanstalt von dem die Entmiinndigung aus-
sprechenden Zivilrichter in einem dem zivilprozessualen Ent-
1) Vergl. die Mitteilungen der internationalen kriminalistischen Ver-
einigung Bd. 11, S. 639 ff. Monatsschr. f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 242,
to G] ze
miindigungsverfahren analog gestalteten Verfahren getroffen
werden soll ($ 6 des erwähnten Gesetzentwurfs) Auf die
Einzelheiten des Liszt'schen Entwurfs einzugehen, würde zu
weit führen. Dem Liszt’schen Vorschlag stehen zwei andere
Ansichten gegenüber, eine viel weitergehende, wonach dem
Strafrichter die Befugnis zur endgiltigen Entscheidung
über die Verwahrung der freigesprochenen gemeingefährlichen
Irren übertragen werden soll [so u. a. Seuffert!) und
van Calker?)] und eine grundsätzlich verschiedene, welche
dem Strafrichter gar keine Kompetenzen hinsichtlich der An-
ordnung der Verwahrung der genannten Geisteskranken ein-
geräumt, sondern die Entscheidung hierüber ausschliesslich
den Verwaltungsbehörden übertragen wissen will (so z. B.
Delbrück auf der im Juni 1903 zu Dresden stattgehabten
Versammlung der deutschen Landesgruppe der intern. krim.
Vereinigung).?) Von Interesse ist ein Blick auf die ein-
schlägigen Bestimmungen neuerer Strafgesetzbücher. Das
italienische enthält im Anschluss an die Normierung der Straf-
losigkeit des verbrecherischen Geisteskranken in Art. 46 Abs.
2 die Vorschrift: „Doch verfügt der Richter, wenn er die
Freilassung des freigesprochenen Beschuldigten für gefährlich
erachtet, die Überlieferung desselben an die zuständige Be-
hörde zur Vornahme weiterer gesetzlicher Schritte.“ Es steht
also ohne Zweifel auf dem Boden der letzterwähnten Ansicht.
Dagegen bestimmt das bulgarische Strafgesetzbuch, nachdem
es in Art. 41 Abs. 1 die Geisteskrankheit und ähnliche Zustände
als Schuldausschliessungsgründe bezeichnet hat, in Art. 41
Abs. 2: „In solchen Fällen stellt das Gericht, wenn es dies
unumgänglich erachtet, eine solche Person unter verantwort-
liche Aufsicht ihrer Verwandten oder derer, die für sie zu
sorgen wünschen sollten oder versorgt sie in einer Anstalt bis
zur Genesung,“ und das norwegische vom 22. Mai 1902 in
$ 39: „Wenn das Gericht annimmt, dass ein Angeklagter, der
1) Mitteilungen der intern. krim. Vereinigung Bd. 11, S. 654.
?) Deutsche Juristenzeitung von 1897 S. 29, Sonderabdruck von
van Calkers Aufsatz in der Nationalzeitung 1904, S. 7, Mitteilungen
pp. Bd, 11, S. 656/657.
®) Vergl. Mitteilungen pp. Bd 11, S. 594, lit. a. und S. 596.
— 32 —
entweder freigesprochen oder gemäss den 8$ 45 oder 46 zu
einer herabgesetzten Strafe verurteilt wird, wegen Unzurech-
nungsfähigkeit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit für die
Rechtssicherheit gefährlich ist, so kann es beschliessen, dass ihm
nach näherer Bestimmung der Obrigkeit ein bestimmter Auf-
enthaltsort anzuweisen oder zu verbieten ist oder dass er, so-
weit dazu nach den vom Könige oder einer von ihm ermäch-
tigten Person erlassenen allgemeinen Vorschriften Anlass vor-
liegt, in ein Irrenasyl, eine Heil- oder Pflegeanstalt oder in ein
Arbeitshaus zu verbringen ist. Die getroffene Maßregel ist von
dem zuständigen Ministerium wieder aufzuheben, wenn sie nachein-
geholtem ärztlichem Gutachten nicht länger notwendigerscheint. In
Schwurgerichtssachen hat das Gericht, bevor es einen solchen Be-
schluss fasst, den Geschworenen die Frage vorzulegen, ob der Ange-
klagte wegen Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter Zurech-
nungsfähigkeit für die Rechtssicherheit gefährlich ist. Nur eine
dem Angeklagten günstige Antwort ist für das Gericht bindend.“
Der schweizerische Vorentwurf von 1903 enthält in Art. 17
folgende einschlägige Vorschrift: „Erfordert die öffentliche
Sicherheit die Verwahrung eines Unzurechnungsfähigen
oder vermindert Zurechnungsfähigen in einer Heil- oder Pflege-
anstalt, so ordnet sie das Gericht an. Ebenso verfügt das Ge
richt die Entlassung aus der Anstalt, wenn der Grund der
Verwahrung weggefallen ist. Erfordert der Zustand eines
Unzurechnungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen
seine Behandlung oder Versorgung: in einer Heil- oder Pflege
anstalt, so überweist das Gericht den Kranken der Verwaltungs-
behörde zur Aufnahme in eine solche Anstalt.“ Das bulgarische
und das norwegische Strafgesetzbuch sowie der schweizerische
Vorentwurf weisen somit und zwar das bulgarische St.G.B.
generell, also auch in Ansehung der nicht gemeingefährlichen
Geisteskranken, sofern deren Zustand es als geboten erscheinen
lässt und ohne das Erfordernis eines — freisprechenden — Ur-
teils aufzustellen, der schweizerische Entwurf hinsichtlich der
gemeingefährlichen Irren und zwar gleichfalls ohne Rücksicht
darauf, ob ein Urteil vorliegt, die Entscheidung über die end-
giltige Verwahrung dem Strafrichter zu M. E, ist nun
jedenfalls die Anordnung derendgiltigen Verwahrung der ver-
e Bo js
brecherischenTrren, auch soweitsie als gemeingefáhrlich erscheinen,
dem Strafrichter nicht zu übertragen. Den hiegegen von Liszt in
den, seinen erwábnten Gesetzentwurf beigegebenen Motiven !)
und in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechts-
reform,?) von Hafter3), Aschaffenburg*) und Lands-
berg) geltend gemachten Gründen kann nur beigetreten werden,
insbesondere in der Richtung, dass im Strafverfahren sehr häufig,
wenn nicht zumeist, kein Anlass gegeben sein wird, das zur Ent-
scheidung der Frage der Gemeingefährlichkeit mit ihren weit-
gehenden Folgen erforderliche tatsächliche Material zu erheben,
weil der Fall hinsichtlich der Schuldfrage spruchreif ist. Ent-
scheidend scheint mir aber gegen die Übertragung der Entschliess-
ung über die endgiltige Verwahrung der Geisteskranken an den
Richter überhaupt, also nicht nuran den Strafrichter, sondern auch
an den Zivilrichter, sei es als Entmündigungsrichter, sei es
wie Ötker®) vorschlägt, als Richter der freiwilligen Gerichts-
barkeit, der prinzipielle Grund zu sprechen, dass jene Ver-
fügung mit der Aufgabe eines Richters nichts zu tun hat,
sondern eine dem Gebiet der Verwaltung angehörige Maß-
nahme ist. Man könnte hiergegen allerdings einwenden, dass
auch sonst in der Strafgesetzgebung (z. B. in $ 56 St. G. B.)
sowie auf anderen Gebieten, so insbesondere in Vormund-
schafts- und Nachlasssachen, dem Richter polizeiliche Funk-
tionen übertragen sind. Sicherheitspolizeiliche Aufgaben
aber gegen Personen, die zu einem Handeln im Rechtssinn gar
nicht fähig sind, wie dies auch bei den gemeingefährlichen
Geisteskranken zutrifft, sind dem Richter, soweit ich sehe, nirgends
zugewiesen und ihm ohne ganz zwingende Gründe, die ich
vorliegend nicht als gegeben erachte, nicht zuzuweisen.
Noch weniger liegt ein Grund vor, den Richter, mit der Anord-
1) Mitteilungen pp. Bd. 11, S. 646.
» Bd. 1, S. 11 ff.
$ Monatsschrift f. Krim. Psych. Bd. 1, S. 86 ff.
4) Im erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Versamm-
lung S. 70.
5) In „Recht“ Bd. 8, S. 345 f.
6) In der Begründung zu dem von ihm verfassten, in Bd. 12,5.59 ff.
der Mitteilungen pp. veröffentlichten Gesetzentwurf.
3
ai, A ei
nung der Verwahrung nicht gemeingefährlicher, sondern
nur fürsorgebedürftiger Geisteskranker zu betrauen.
Daraus ergibt sich aber ohne weiteres, dass auch der blosse
Ausspruch darüber, dass ein geisteskranker Täter fürsorge-
bedürftig sei, mit der Wirkung einer Verpflichtung der
Verwaltungsbehörde, die weiteren Maßnahmen zu treffen, nicht
Sache des Gerichts sein kann. Hiernach ist die Entscheidung
über die geeignete Versorgung eines geisteskranken Täters,
sowohl desgemeingefährlichen, als des blos fiirsorgebediirftigen'),
also insbesondere die Einweisung desselben in eine Irren-
anstalt Sache der Verwaltungsbehörde [so auch Lands-
berg?) und Delbrück?°). Dass diese Entscheidung nur in
einem mit allen Kautelen für den Geisteskranken, dem zur
Wahrnehmung seiner Interessen ein Verteidiger zu bestellen
ist, ausgestatteten Verfahren mit mündlicher Verhand-
lung getroffen werden kann und dass gegen dieselbe dem
Geisteskranken ein Rechtsmittel mit gleicher Verfahrens-
gestaltung gewährt werden muss, ist ein unabweisliches Postu-
lat der modernen Auffassung des Rechtsschutzbedürfnisses des
Geisteskranken, aber auch Angesichts des hohen Rechtsguts
der persönlichen Freiheit, um das es sich handelt, sachlich
voll gerechtfertigt. Dass dieses Rechtschutzbedürfnis aber im
Verwaltungsverfahren nicht ausreichend gewahrt werden könnte,
ist nicht zuzugeben, wie auch nicht wohl anzunehmen ist, dass
eine Verfügung in einem Verfahren der geschilderten Art für
den Geisteskranken ein geringeres moralisches Gewicht besässe
als ein richterlicher Ausspruch. Wenn Ötker‘) glaubt, „es
entstände ein klaffender Widerspruch, wenn die Entmündigung
mit ihren vermögensrechtlichen Folgen nur vom Richter aus-
gehen könnte, Freiheitsentziehung wegen Gemeingefährlichkeit
aber in das Ermessen einer abhängigen Verwaltungsbehörde
gestellt werde; nur die sachliche und persönliche Unabhängig-
keit wie sie im Richteramte sich vereinige, sichern einer so
1) Vergl. § 16 I, 2 des württemb. Statuts der Staatsirrenanstalten
vom 20. Márz 1899.
7, Vergl. „Recht! Bd. 8, S. 347.
3) Mitteilungen pp. Bd. 11, S. 596.
4) Mitteilungen pp. Bd. 12, S. 65/66.
= 3 =
einschneidenden Maßnahme den öffentlichen Kredit und damit
die Vorbedingungen gedeihlichen Wirkens,“ so würde diesem
Argument durch die meines Erachtens nach den Grundsätzen
des verwaltungs richterlichen Prozesses einzurichtende Ge-
staltung des Verfahrens doch wohl in der Hauptsache der Boden
entzogen !). Dass hiernach das in Württemberg hinsichtlich
der Versorgung der Geisteskranken geltende Recht eine tief-
greifende Änderung erfahren müsste, bedarf keiner Aus-
führung.
Aus den bisherigen Erörterungen ergibt sich aber, dass
auch nicht mit Liszt und der zur Zeit in Deutschland als
herrschend zu betrachtenden Ansicht dem Strafrichter die An-
ordnung wenigstens der vorläufigen Verwahrung des als
gemeingefährlich erachteten geisteskranken Täters zu über-
tragen ist, eine Anordnung, die bei Liszt in engstem Zu-
sammenhang mit seinem Vorschlag, dass über die end giltige
Verwahrung der Entmündigungsrichter zu entscheiden
habe, steht, die jedoch möglich wäre auch bei der Übertragung
der endgiltigen Entscheidung an die Verwaltungsbehórde.
Meines Erachtens würde aber auch die durch eine solche vor-
läufige Verfügung bedingte, unter Umständen längere Ver-
wahrung der Geisteskranken in den Gefängnissen, namentlich
im Amtsgerichtsgefängnis, zu erheblichen Unzuträglich-
keiten für den Strafvollzug an den geistig gesunden Ge-
fangenen führen und ist deshalb auch aus diesem Grunde der
Liszt’sche Vorschlag abzulehnen. Ich bin daher der Meinung,
dass der Strafrichter, wenn er einen freigesprochenen oder
ausser Verfolgung gesetzten Geisteskranken für gemeingefähr-
lich oder fürsorgebedürftig hält, und dass der Staatsanwalt,
wenn er hinsichtlich eines Geisteskranken, gegen den er das
Verfahren eingestellt hat, jener Ansicht ist, denselben mit
kurzer Begründung, insbesondere unter Bezugnahme auf das
wohl in fast allen diesen Fällen eingeholte ärztliche Gutachten,
lediglich der zuständigen Verwaltungsbehörde zu übergeben hat,
die sich dann über die erforderlichen Maßnahmen schlüssig zu
machen hat.
1) Vergl. auch Landsberg im „Recht“ Bd. 8, S. 847.
; 3*
— 386 —
Was die zurückgestellte, prozessuale, Frage nach
der Trennung von Tat- und Schuldfrage anbelangt, so ist meines
Erachtens dem von psychiatrischer Seite fast allgemein, aber
auch aus juristischen Kreisen 1) im Interesse der Geisteskranken,
insbesondere einer günstigen Beeinflussung des Heilungs-
prozesses, gestellten Verlangen nach einer Beantwortung der
Tatfrage tunlichst Rechnung zu tragen. Wenn der Beweis
erbracht ist, dass der Kranke die-Tat gar nicht begangen hat,
oder wenn seine Täterschaft nicht erwiesen ist, aber auch im
Falle des Vorliegens eines andern Schuldausschliessungsgrundes
als des durch etwaige Geisteskrankheit des Täters gegebenen,
insbesondere der Notwehr, ist es in keiner Weise geboten, im
freisprechendeu Urteil oder in dem Beschluss, durch welchen
die Nichteröffnung des Hauptverfahrens verfügt wird, oder im
staatsanwaltschaftlichen Einstellungsbeschluss auf die Frage
der Geisteskrankheit einzugeben, und da ein dringendes Inter-
esse des Geisteskranken diese Art der Behandlung erfordert,
so erscheint eine dahin gehende Vorschrift durchaus ange-
zeigt. Eine solche würde sich, soweit Freisprecbung erfolgt,
an $ 266 Abs. 2 St.P.O., soweit Nichteröffnung des Haupt-
verfahrens beschlossen wird, an $ 202 Abs. 1 St. P. O., soweit
Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft verfügt
wird, an $ 169 St. P. O. anzugliedern haben. Eine entsprechende
Weisung seitens der Justizverwaltung an die richter-
lichen Behörden wäre als mit dem Grundsatz der richterlichen
Unabhängigkeit unvereinbar, unzulässig, Für das schwur-
gerichtliche Verfahren müsste der $ 293 St. P.O., wonach die
Hauptfrage an die Geschworenen mit den Worten zu beginnen
hat: „Ist der Angeklagte schuldig“, entsprechend geändert
werden.
Doch kann die Rücksicht auf den Geisteskranken nicht
soweit ausgedehnt werden, dass das Strafverfahren auch in den
Fällen, in welchen die Geisteskrankheit des Beschuldigten von
Anfang an eine offenkundige ist oder vor’ Abschluss der
Untersuchung über die Frage der Täterschaft ausser Zweifel
1) Vergl. den erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Ver-
sammlung S. 101.
is IST us
gestellt wird, vollständig durchgeführt, d. h. das Haupt-
verfahren eröffnet wird und Hauptverhandlung mit Urteils-
fällung stattfindet. Dass ein solches Prozessieren im Wider-
spruch stände mit unserer zur Zeit geltenden Strafprozessord-
nung, insbesondere dem $ 188 Abs. 1 daselbst, wonach die
Voruntersuchung nicht weiter auszudehnen ist als erforderlich
is, um eine Entscheidung darüber zu begründen, ob das
Hauptverfahren zu eröffnen oder der Angeschuldigte ausser
Verfolgung zu setzen sei, wird von dessen Verfechtern selbst
nicht verkannt. Sie streben daher zur Ermöglichung eines
solchen Verfahrens eine Änderung der Strafprozessordnung an..
Eine Änderung der letzteren in ihrem Sinne erscheint aber
als ausgeschlossen. Dieselbe würde bedeuten, dass trotz der
erkannten, durch die Geisteskrankheit begründeten Schuldlosig-
keit des Täters dieser weiter zu prozessieren sei, ein Ver-
fahren, dessen Unzulässigkeit auch de lege ferenda ausser
Zweifel steht. Wie verhielte es sich bei Legalisierung des hier
zurückgewiesenen Verlangens z. B. in dem ‚Falle, wenn der
Geisteskranke in Untersuchungshaft genommen ist? Diese müsste
doch wohl bei erkannter Geisteskrankheit des Täters aufge-
hoben werden. Damit allein aber wäre schon die Unhaltbar-
keit des zurückgewiesenen Standpunktes dargetan. Dazu kommt,
dass die angestrebte Durchführung des Verfahrens bis zum
Urteil häufig mit ganz erheblichen, durch die Zwecke des
Strafprozesses in keiner Weise erforderten Kosten verknüpft
wäre. Der vorgeschlagene Weg ist also meines Erachtens für
die Gesetzgebung nicht gangbar.
Anlangend die anderweitigen für die Geisteskranken in
Betracht kommenden Bestimmungen der Strafprozessord-
nung und deren Reformbedürftigkeit, so ist zu unter-
scheiden zwischen den Vorschriften, welche den Geistes-
kranken als Beschuldigten sowie als Objekt des Straf-
vollzugs betreffen, und denjenigen, welche sich auf seine
Stellung als Auskunftsperson beziehen. In den beiden
ersten Richtungen geschieht des Geisteskranken in der Straf-
prozessordnung Erwähnung in $ 81, wonach das Gericht zur
Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des
Angeschuldigten auf Antrag eines Sachverständigen nach An-
— 8388 —
hörung des Verteidigers anordnen kann, dass der Ange-
schuldigte auf die Dauer von höchstens 6 Wochen in eine
öffentliche Irrenanstalt verbracht und dort beobachtet werde,
in § 203, der die vorläufige Einstellung des Verfahrens zulässt,
wenn dem weitern Verfahren der Umstand entgegensteht, dass
der Angeschuldigte nach der Tat in Geisteskrankheit verfallen
ist, in § 485, wonach an geisteskranken Personen ein Todes-
urteil nicht vollstreckt werden darf, und in § 487, dessen Ab-
satz 1 bestimmt, dass die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe
aufzuschieben sei, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit
- verfallen ist. Die Stellung des Geisteskranken als Auskunfts-
person sodann wird berührt durch den 8 56 2.1 St. P.O.,
wonach unbeeidigt zu vernehmen sind u. a. Personen, welche
wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Bedeutung
des Eides keine genügende Vorstellung haben, und durch
S 250 Abs. 1 St. P. O., wo bestimmt ist, dass, wenn ein Zeuge
Sachverständiger oder Mitbeschuldigter in Geisteskrankheit ver-
fallen ist, das Protokoll über seine frühere richterliche Ver-
nehmung in der Hauptverhandlung verlesen werden kann.
Dass das in $ 81 St. P. O. bestimmte Einweisungshöchst-
maß von 6 Wochen oft zur Gewinnung eines sichern Urteils
über den Geisteszustand des Angeschuldigten nicht ausreicht,
steht auf Grund der gemachten Erfahrungen fest. Trotzdem
scheint mir der in der Einweisung gelegene schwere Eingriff
in die persönliche Freiheit des Angeschuldigten eine Ver-
längerung der Einweisungsdauer auszuschliessen. Soweit der
Angeschuldigte sich auf freiem Fuss befindet, ist er ja nicht
selten mit weiterer Beobachtung in der Anstalt einverstanden.
Ist er dagegen in Untersuchungshaft, so wird es, soweit nicht
die Sachlage entgegensteht, angezeigt sein, für den Fall, dass
der Angeschuldigte bereit ist, sich freiwillig einer weiteren
Beobachtung in der Irrenanstalt zu unterziehen, den Haftbefehl
aufzuheben.
Gegen die vorläufige Einstellung des Verfahrens im Sinne
des $ 203 St. P. O. wird von irrenärztlicher Seite geltend ge-
macht, dass dieselbe nicht immer einen Vorteil für den Kranken
bilde, da häufig eine genaue und sorgfältige Untersuchung er-
geben werde, dass der Täter bereits vor der Tat erkrankt ge-
— 39 —
wesen sei und da die demselben drohende Gefahr späterer Ver-
handlung und Verurteilang einen ungünstigen Einfluss auf
dessen Gemütszustand ausübe, eine Verhandlung nach der Ge-
nesung auch die Gefahr einer neuen Schädigung in sich schliesse.
Es wird daher vorgeschlagen, den Begriff der Verhandlungs-
fähigkeit nicht all zu eng zu fassen und daher die Hau ptv er-
handlung stattfinden zu lassen.') Hiergegen ist zu bemerken,
dass bei Eintritt einer geistigen Erkrankung des Angeschuldigten
nach Eröffnung der Untersuchung doch stets genau geprüft
wird, ob derselbe nicht schon zur Zeit der Begehung der Tat
geisteskrank gewesen sei und dass bejahendenfalls nicht die
vorläufige Einstellung des Verfahrens beschlossen, sondern der
Angeschuldigte ausser Verfolgung gesetzt wird, verneinenden-
falls aber bei zweifelloser Geisteskrankheit desselben eine
Hauptverhandlung, die nur gegen einen verteidigungsfähigen
Angeklagten stattfinden kann, unzulässig ist.
Die Statthaftigkeit einer solchen Hauptverhandlung kann
nicht etwa daraus gefolgert werden, dass in $ 203 die vor-
läufige Einstellung des Verfahrens in das richterliche Ermessen
gestellt ist. Der ganze Abschnitt der Strafprozessordnung über
die Hauptverhandlung hat einen geistig gesunden und deshalb
verteidigungsfähigen Angeklagten oder doch einen solchen,
dessen geistige Gesundheit nicht als ausgeschlossen erscheint,
im Auge, (vgl. z. B. $ 242 Abs. 2 und 3, $ 256 St. P. O.).
Der $ 203 kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass das
Gericht auch bei offenkundiger Geisteskrankheit des Angeschul-
digten das Verfahren bis zur Urteilsfällung durchführen darf,
sondern nur dahin, dass dasselbe statt der Eröffnung des Haupt-
verfahrens oder nach dieser dem Verfahren durch vorläufige
Einstellung einen gewissen Abschluss zu geben befugt ist?).
Gegen die Fassung der erwähnten Vorschriften des $ 485
und $ 487 St. P. O. wird die Einwendung erhoben, dass es
an einer Bestimmung darüber fehle, was zu geschehen habe,
wenn der Strafvollstreckungsbeamte und der ärztliche Sachver-
1) Vergl. Aschaffenburg in dem erwähnten offiziellen Bericht
über die Danziger Versammlung S. 85/86.
2) Vgl. auch R.-G. in Strafs. Bd. 1, S. 150, Bd. 29, S. 324 ff.
— 40 —
ständige verschiedener Ansicht über den Geisteszustand des
Verurteilten seien. Aschaffenburg!) wünscht eine Be-
stimmung des Inhalts, dass diesfalls die Meinung des Sach-
verständigen maßgebend sein solle oder wenigstens der Voll-
streckungsbeamte ein Obergutachten einzuholen habe. Ich
glaube nun nicht, dass das Fehlen einer solchen Bestimmung
jemals zu Unzuträglichkeiten geführt hat. Jedenfalls aber er-
scheint eine gesetzliche Vorschrift des verlangten Inhalts
entbehrlich, da die Strafvollstreckungsbeamten als solche den
Weisungen der obersten Justizverwaltungsbehörde unterworfen
sind und eine Vorschrift der erwähnten Art daher von dieser
erlassen werden kann.
Vollständig zurückzuweisen ist die irrenärztlicherseits °)
angeregte Ausdehnung der in $ 81 St. P. O. in Ansehung des
Angeschuldigten gewährten Einweisungsmöglichkeit auf einen
Zeugen, dessen geistige Gesundheit zweifelhaft ist. Die Be-
fürchtung, zur Beobachtung des Geisteszustandes in eine Irren-
anstalt gesprochen zu werden, würde nicht nur die Aussagen
der Zeugen ungünstig beeinflussen, sondern auch, wie schon
von anderer Seite?) hervorgehoben worden ist, die Zeugnisflucht
noch wesentlich steigern und damit eine erhebliche Schädigung
der Strafrechtspflege zur Folge haben.
Durch $ 56 Z. 1 St. P. O. ist, wie sich aus dem Wort-
laut dieser Bestimmung ergibt und auch vom II. Strafsenat des
Reichsgerichts angenommen worden ist*), die Beeidigung
der Geisteskranken nicht allgemein, sondern nur insoweit
ausgeschlossen, als dieselben wegen Verstandesschwäche von
dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende
Vorstellung haben. Nun sind aber, da die Geistesstörung nicht
‚eine partielle ist, sondern die ganze Psyche erfasst, die Wahr-
nehmungen eines Geisteskranken, und damit auch seine Aussagen
zumeist von der Krankheit beeinflusst und ermangeln daher
der Zuverlässigkeit. Erwägt man weiter, dass der Geisteskranke
1) Vgl. den erwähnten offiziellen Bericht über die Danziger Ver-
sammlung S. 88.
2) Vgl. den genannten Bericht S. 81/85,
2) Vgl.Heimberger nach dem erwähnten offiziellen Bericht S. 100.
4) Entsch. in Strafs. Bd. 33 S. 393 ff.
E- 41 —
nicht deliktsfáhig ist und darum wegen Verletzung der Eidespflicht
nicht bestraft werden kann, so erscheint eine Ánderung des
$56 Z. 1 dahin angezeigt, dass unbeeidigt zu vernehmen sind
auch die Geisteskranken schlechthin.
Zu $ 250 St. P. O.!) wird eine Vorschrift dahin befür-
wortet, dass in allen Fällen, in denen das Gericht die Verlesung
des Protokolls über die frühere richterliche Vernehmung eines
angezeigtermaßen nach dieser in Geisteskrankheit Verfallenen
beschliesse, ein Sachverständiger zugezogen werden müsse, um
festzustellen, ob die Erkrankung nicht bereits zur Zeit der
Vernehmung bestanden habe. Diesem Vorschlag ist meines
Erachtens mit der Einschränkung beizutreten, dass ein Sach-
verständiger nur dann beizuziehen ist, wenn das Gericht den
Inhalt des Protokolls für erheblich erachtet — was bekannt-
lich nach dem geltenden Recht keine Voraussetzung für die Zu-
lässigkeit der Verlesung ist.
In den vorstehend von mir bezeichneten Richtungen er-
scheint mir eine Gesetzesänderung angezeigt. Dagegen halte
ich die Schaffung eines besondern Irrenrechts, zumal wie
Schröder in seiner Schrift: „Das Recht im Irrenwesen“, die
Geisteskrankheit des Gemeingefährlichen, auf den er das Irren-
recht beschränken will, als eine Verschuldung charakterı-
sierend, vorschlägt, auf strafrechtlicher und strafprozessualer
Grundlage, nicht für empfehlenswert, da hierbei doch zum Teil
ganz disparate, verschiedenen Rechtsgebieten angehörige Materien
in eine Kodifikation zusammengefasst werden müssten und die
Loslösung dieser Materien aus ihrem natürlichen Verbande nur
verständniserschwerend wirken könnte. Wie immer indes auch
die auf die Behandlung der Geisteskranken sich beziehenden
Vorschriften gestaltet werden mögen, so hängt unendlich viel
davon ab, in welchem Geiste dieselben gehandhabt werden, in
welcher Weise den Geisteskranken gegenübergetreten wird.
Nichts berechtigt aber daran zu zweifeln, dass unsere Beamten
und Ärzte gegenüber diesen Unglücklichen auch in Zukunft
die weitestgehende Humanität, die grösstmögliche Schonung
walten lassen werden. |
1) Vgl. den genannten offiziellen Bericht S. 37.
Zur Psychologie der Aussage.
Von Oberarzt Dr. A. Schott.
Die moderne wissenschaftliche Forschung hat wie auf
vielen anderen Gebieten, so auch in der Psychologie Berührungs-
punkte mit dem praktischen Leben gesucht und ein deutliches
Bestreben erkennen lassen, die Erscheinungen des Alltaglebens
mit ihrer vielfach gewohnheitsmäßigen Einfachheit zu zerglie-
dern und naturwissenschaftlich, d. h. möglichst exakt zu er-
klären. Die bis jetzt gezeitigten Erfulge haben in mehr als
einer Richtung ein unbehagliches Gefühl der Unsicherheit und
des Zweifels hervorgerufen.
Von besonderer Tragweite erscheinen die in bezug auf
Gedächtnis-, Erinnerungs- und Merkfähigkeitsprüfung angestell-
ten psychologischen Versuchsreihen; geben sie uns doch einen
Fingerzeig, wie grosse bezw. kleine Ansprüche wir an das
Erinnerungsvermögen des Individuums stellen dürfen und wie
beträchtliche Unterschiede nach Alter, Bildung und Geschlecht
einerseits, nach den begleitenden Uniständen, der jeweiligen
Gemüts- und Körperverfassung, den gerade in betracht kommen-
den Erinnerungsqualitäten bei dem einzelnen Individuum
andererseits vorkommen können. Da bei einigen psychologi-
schen Experimenten ein ausserordentlich günstiger Gemüts-
und Geisteszustand zugrunde liegt, so sind die dadurch geför-
derten Ergebnisse mehrfach als ein Optimum zu betrachten,
ein Optimum, welches durch die grosse Zahl seiner Fehlreak-
tionen in der Praxis grösste Vorsicht erheischt. Dem allent-
halben zu Tage tretenden Zug der Zeit, feste Formeln und
Gesetzmäßigkeiten für die Vorgänge des organischen Lebens
aufzustellen, ist durch die grosse Kompliziertheit derselben bis
jetzt in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ein
Zur Es A
wirkungsvoller Riegel vorgeschoben. Stehen wir also auch zur
Zeit erst an dem Beginn einer schwierigen und in ihren End-
ergebnissen noch nicht zu überblickenden Arbeit, so haben
doch die gemachten Anläufe schon manch Bemerkenswertes
zu Tage gefördert. Das auch in Juristenkreisen erfreulicherweise
immer mehr und mehr zur Würdigung gelangende Studium des
menschlichen Seelenlebens mit seinen wechselvollen Äusserungen
stellt einen entschiedenen Fortschritt dar. Der psychologische,
und noch mehr der psychopathologische Wind, welcher durch
unsere ganze Kultur und Literatur weht, er hat auch in den
Gerichtssaal seinen Weg gefunden und ihm ist es zu danken,
wenn die exakten Untersuchungsmethoden (mikroskopische,
chemische Feststellung) sehr an Bedeutung gewonnen haben.
Leider entbehren wir bis jetzt bei der psychologischen Forschung
so exakter Hilfsmittel und so ist es leicht erklärlich, dass auch
die Ergebnisse noch als mangelhafte bezeichnet werden müssen.
Unter Anerkennung dieser bedauernswerten Mangelhaftigkeit
sei es mir vergönnt, in Kürze das bis jetzt Geleistete vor Augen
zu führen.
Dem Breslauer Psychologen William Stern haben wir
es in erster Linie zu danken, dass er die Psychologie der Aus-
sage einem systematischen Studium unterzieht und zur Er-
forschung der uns hier interessierenden Fragen angeregt hat.
Die Erscheinung des Gedächtnisses ist ein Sonderfall der
allgemeinen Eigenschaft des Nervensystems, durch vorüber-
gehende Reize dauernde Veränderungen zu erfahren.
Der Einzelvorgang, den wir als Erinnerung bezeichnen,
umfasst nach Hoche?) zweierlei: einmal die Erneuerung eines
früheren psychischen Geschehnisses und zweitens das Wieder-
erkennen desselben als eines früheren eigenen inneren Vorganges.
Ganz ähnlich drückt sich Cramer?) aus, indem er sagt:
„Als Gedächtnisleistung bezeichnen wir zweierlei: erstens, dass
ein Eindruck wieder erkannt wird, erkannt wird als ein solcher,
der uns schon früher einmal zuteil geworden ist; zweitens, dass
frihere Bewusstseinsinhalte wieder gegenwärtig werden. In
beiden Fällen ist ein sinnlicher Eindruck gegeben, der mit
einem früher sinnlich gegebenen und seither für das Bewusst-
sein verschwunden gewesenen Eindruck in Beziehung steht.
— 44 —
Im ersten Falle handelt es sich um eine sachliche, inhaltliche
Gleichheit des sinnlichen und des vergangenen Eindrucks, im
zweiten Falle um eine zeitliche oder räumliche Berührung des
dem sinnlichen Eindrucke gleichen vergangenen Eindrucks mit
anderen vergangenen Eindrücken.“
Es ist stets im Auge zu behalten, dass eine Erinnerung an
einen Vorgang niemals ganz der Schärfe der Wahrnehmung
entspricht. Gewöhnlich wird ein Teil vergessen und allerhöch-
stens erhält man ein annäherndes Bild. Diese Erfahrungstat-
sache hat ihre besondere gerichtliche Bedeutung, da wir bei
Prozessen (Berchtoldprozess, Affäre in Gumbinnen, Winter-
prozess u. a. m.) oft auf Details der Erinnerung den grössten
Wert gelegt sehen. Die Gefahr, durch Phantasievorstellungen
die wirkliche undeutliche Erinnerung zu ergänzen, liegt bier
ausserordentlich nahe.
Das Wiedererkennen ist eng mit dem verknüpft, was wir
als Selbstbewusstsein bezeichnen.
Wir unterscheiden zwischen Gedächtnis, worunter wir
die Herrschaft über den alterworbenen Besitzstand an Vor-
stellungen verstehen, und Merkfähigkeit, welche wir als die
Fähigkeit, neues Gedächtnismaterial zu erwerben, bezeichnen.
Diese beiden Begriffe decken sich keineswegs, es kann z. B.
das Gedächtnis noch ganz gut, die Merkfähigkeit aber schon
stark beeinträchtigt sein wie im Greisenalter.
Mängel der Erinnerung, der Fähigkeit zur Reproduktion
können auch andere Gründe als Störungen der Merkfähigkeit
haben und erlauben nicht ohne weiteres einen Rückschluss
auf solche. (Störung der Aufmerksamkeit bedingt durch
1. Mangel an Interesse, 2. Ablenkung durch andere Vorgänge,
z. B. lebhafte Affekte, 3. allgemeine Herabsetzung (Ermüdung,
Krankheit, Alkohol etc.)
Die Störungen des Gedächtnisses, der Fähigkeit zur Er-
neuerung vergangener psychischer Zustände können quanti-
tativer oder qualitativer Art sein oder sie können sich
auf die zeitliche Einordnung der Erinnerungsbilder be-
ziehen; vielfach treffen wir diese verschiedenen Mängel der
Erinnerung nebeneinauder an. Der gesunde Mensch vergisst
von den zahllosen Eindrücken, die auf ihn wirken, weit mehr
= 45 —
als er behält. Interesse, lebhafter Gefühlston, Wiederholung,
innige Verknüpfung mit jederzeit bereitliegenden Vorstellungs-
gruppen sind nach Hoche!) die Hauptmomente, welche die
Aussichten zur Reproduktion bestimmen. An der Hand der
assoziativen Verbindung der Vorstellungen führt uns der
Zufall (Einfallen) oder das systematische Wollen (Besinnen) zu
den Erinnerungsbildern der Vergangenheit.
Von besonderer Wichtigkeit sind die Erinnerungs-
fälschungen bezw. Erinnerungstäuschungen, wie wir
sie am ausgeprägtesten bei geistigen Störungen zu beobachten
gewohnt sind, die aber auch innerhalb der normalen physiolo-
gischen Breite eine bedeutungsvolle Rolle spielen (z. B. Ver-
gleiche mit Erinnerungen aus der Jugendzeit).
Die teilweise Verfálschung wirklicher Erinnerungen, auf
welche Kraepelin schon aufmerksam gemacht hat, ist auch
bei gesunden Menschen häufig zu beobachten. Als assoziierende
Erinnerungsfälschung beschreibt Kraepelin?) diejenigen Fälle,
in welchen scheinbare Reminiszenzen sich an den gegenwärtigen.
Eindruck knüpfen. Wegen der dabei stattfindenden Identi-
fizierung einer neu entstandenen, vielleicht durch den Anblick
geweckten Vorstellung mit einem verblassten Erinnerungsbilde
hat man diesen Vorgang auch als identifizierende Erinne-
rungsfälschung bezeichnet; dazu gehört z. B. das Wieder-
erkennen einer Situation, die man nicht erlebt hat.
William Stern?) unterscheidet zwischen einer natür-
lichen, normalen Aussagefälschung ohne Wissen und
Willen von breitem Umfang und einer pathologischen
Aussagefälschung ohne Wissen und Willen in noch viel weiterem.
Umfange. Stern betont, dass auf Grund dieser normalen
Aussagefälschung einerseits auch bei ethisch durchaus einwands-
freien Aussagen mit einem Fehlerprozentsatz zu rechnen
ist, andererseits bei nachweislich falschen Aussagen stets die-
Möglichkeit völlig absichtsloser Selbsttäuschung in Betracht zu
ziehen ist.
Die pathologische Aussagefälschung nötigt uns, bei der
logischen und ethischen Bewertung von Aussagen eine eventu-
elle pathologische Beschaffenheit des Aussagenden gebührend.
u A
zu berücksichtigen. Die Beschaffenheit einer Aussage über-
haupt hängt nach Stern?) ab:
1. von dem Gegenstande, auf welchen sie sich bezieht;
2. von den formalen Bedingungen, unter denen die
Wahrnehmung und die Aussage selbst vor sich geht;
3. von den Personen, die sie abgeben.
Die Korrektheit der Wahrnehmung und Auffassung der
Objekte beruht auf einer Reihe von Faktoren, deren Genauig-
keit und Zuverlässigkeitsgrade erst die Forschung (experimen-
telle Psychologie) feststellen kann. (Schwellenwerte, verschie-
dene Sinnesqualitäten u. a m.) Für bestimmte Objektgruppen
muss die Fähigkeit des Behaltens, Reproduzierens und Wieder-
erkennens fixiert werden.
Grosse Bedeutung kommt der allgemeinen psychophy-
sischen Verfassung zu, in welcher sich das aussagende
Individuum bei der Wahrnehmung befand und bei der Aussage
befindet. Diese psychophysische Verfassung ist zum Teil durch
rein persönliche Faktoren, zum Teil aber auch durch die äussere
Konstellation der jeweiligen Umstände bedingt.
Man weiss z. B. schon seit lange, dass ein starker
Affekt (Schreck, Angst, Wut, Überreizung, Parteinahme,
gespannte Erwartung) beim Erleben die Fähigkeit der objektiven
Beobachtung und beim Aussagen die der ruhigen kritischen
Selbstbesinnung trübt.
Von grosser, bes. forenser Wichtigkeit ist der Faktor der
Beeinflussung, welche dieKenntnis anderer Aussagen bewirkt.
Diese Beeinflussung wird ausgeübt durch mehrfache richterliche
Vernehmung, durch den Meinungsaustausch z. B. der Zeugen
unter sich, vor allem aber durch die Presse (vgl. Prozess
Berchtold, Konitz u. a. m.) mit ihren detailierten Schilderungen
und ihren vielfach im Brusttone der Überzeugung vorgebrachten
Mutmaßungen und aufgestellten Behauptungen. Auf keinen
Fall sind Aussagen, welche unter dem Einfluss massenhafter
Zeitungsnachrichten gestanden sind, als unbefangene aufzufassen.
Solche an ein bestimmtes Erlebnis sich anschliessende Pseudo-
reminiszenzen durch unwillkürlich rückwirkende Erinnerungs-
fülschungen können dieselbe Konstanz, dieselbe Lebhaftigkeit
besitzen wie die wirklichen Erinnerungen.
= Ai a,
Die zeitliche und räumliche Distanz zwischen Erlebnis und
Aussage bedingen sehr verschiedene Ergebnisse. Im allgemeinen
wird bei den sog. Rekognoszierungen von Personen oder
Gegenständen die Leistungsfähigkeit des Zeugengedächtnisses
weit überschätzt. Belebend auf die Erinnerungsfähigkeit wirkt
häufig die Wiederkehr der begleitenden Umstände (Augenschein
am Ort der Tat mit Zeugen). Die differentielle Psychologie
hat endlich den 3. wichtigen Faktor zu zergliedern, nämlich
die uns hier am meisten interessierenden Aussagesubjekte.
Hier stehen wir grossen Verschiedenheiten gegenüber: die
einzelnen Altersstufen, Männer und Frauen, Gebildete und
Ungebildete, verschiedene Stände, Berufe, Nationalitäten be-
dingen andere Qualitäten. Vor allem ist es Sache der Schule,
wie Stern, Lobsien, Ziehen u. a. hervorheben, mehr als
seither ihr Augenmerk anf die Aussagepädagogik zu richten:
der Mensch muss, wie Stern?) sagt, erzogen werden zur Leb-
haftigkeit, Treue und Zuverlässigkeit der Beobachtung und der
Erinnerung. Beobachtungsangabe und Erinnerungstreue sind
durch Übung zu fördern. Die starke Suggestibilität der
Kinder ist durch zweckmäßige Maßnahmen zu bekämpfen.
Die Bewertung der Aussagen kindlicher Zeugen in bezug
auf ihre Zuverlässigkeit ist dem Richter überlassen.
‘Stern schlägt psychologische Sachverständige vor. Wir
wollen nicht so weit gehen und glauben, dass es leichter durch-
zuführen ist und näher liegt, wenn wir auf die Bedeutung der
Psychologie für den Richter hinweisen und dem Wunsche Aus-
druck verleihen, dass der Besuch eines psychologischen Seminars
während der Universitätszeit für Juristen, Pädagogen und
Mediziner künftig zu ihrem wissenschaftlichen Rüstzeug zählen
möge.
Ich verzichte auf die mancherlei Fehlerquellen bei gericht-
lichen Vernehmungen hinzuweisen, da dies von berufener Seite
erfolgen wird, möchte aber betonen, dass man sich hier wie
auch vielfach bei unseren psychiatrischen Krankenuntersuch-
ungen vor dem Hineinexaminieren hüten muss, und dass
eine stenographische Protokollierung der Aussagen (Frage und
Antwort enthaltend) notwendig ist.
— 48 —
Stets muss man der grossen und dauernden Verschieden-
heiten des Gedächtnisses eingedenk sein — die zufällige persón-
liche Eigenart des Gedächtnisses darf nicht als allgemein
giltiger Maßstab genommen werden. Diese individuellen Ver-
schiedenheiten betreffen nicht nur Umfang, Treue und Leichtig-
keit des Gedächtnisses, sondern äussern sich auch z. B. darin,
dass bei dem einen vorwiegend optische Eindrücke gut haften.
bei dem anderen akustische, während wieder andere besondere.
manchmal berufsmäßig gesteigerte Erinnerungsfähigkeit
für irgendwelche technische Einzelheiten besitzen.
Die individuelle Unvollkommenheit der Gedächtnisleistung
(z. B. für Physiognomien, Namen, Zahlen u. a. m.) kann so
hochgradig sein, dass, was eine persönliche Eigentümlichkeit
der Reproduktionstreue ist, als absichtliches Leugnen
imponieren kann.
Berücksichtigung verdient ferner die physiologische Ab-
nahme der Merkfähigkeit im vorgeschrittenen Alter. Nur wenige
Menschen haben die Gabe, frühere Geruchs-undGeschmacks-
empfindungen sich genau wieder zu vergegenwärtigen.
Allgemein ist die Mangelhaftigkeit der Reproduktion
von früheren Gefühlszuständen, Stimmungen, Geniütsbewegun-
gen oder Schmerzen.
Frühere eigene Taten werden uns unverständlich, weil
wir nicht imstande sind, die damaligen Stimmungen in ihrer
Lebhaftigkeit zu erwecken. Bei der Beurteilung z. B. vor
längere Zeit zurückliegenden Affekthandlungen ist die
Kenntnis dieser allgemeinen Eigentümlichkeit des Gedächtnisses
nicht ohne Belang.
Diese und noch manche andere normaleFehlerquellen,
besonders auch die Erinnerungstäuschungen, müssen auch vom
Richter gekannt und gewürdigt werden.
Die Methoden des Aussagestudiums sind nach W. Stern‘)
Kasuistik und Experiment. Jene als Sammlung, Beschreibung
und Analyse von Fällen des wirklichen Lebens wird sich vor-
wiegend stützen auf die Jurisprudenz, Psychiatrie, Pädagogik,
Journalistik und Historie. W. Stern‘) hat mittels der Be-
richtsmethode experimentelle Schüleruntersuchungen vor-
genommen und ist dabei zu folgenden Schlüssen gelangt: Die
so AD
personalen Kategorien liefern zuverlássigere Ergebnisse als die
sachlichen. Farbenangaben sind im höchsten Grade unzuverlässig,
Ortsangaben recht gut. Zahlenangaben sind wenig zuverlássig.
Besondere Bedeutung kommt dem Interesse fir die
eine oder andere Kategorie zu; durch ‘dasselbe wird nach
W. Stern die Leistung der verschiedenen Funktionen der
Gedächtnissphäre bedingt: „Gedächtnisist Interesse.“ Das
Leistungsquantum der Auffassungs- und Merkfähigkeit nimmt
vom Anfange der Schulzeit bis zu deren Ende, d. h. etwa bis
zur Pubertátszeit um 50% zu; in den nachfolgenden Jahren
ist eine weitere Steigerung nicht nachweisbar. Die Suggesti-
bilität verringert sich von 50% bei 7jährigen, auf 20% bei .
15jährigen. Der Unterschied der Geschlechter zeigt sich einmal
in der geringeren Widerstandsfähigkeit der Mädchen gegen die
Suggestion; ferner überwiegen in den Berichten der Mädchen
die persönlichen, in denen der Knaben die sachlichen Kategorien.
Wreschner°) setzte an die Stelle der Stern’schen
Berichtsmethode ein neues Verfahren, das er die Prüfungs-
methode nennt. Als Versuchspersonen dienten 12Studierende.
Die Verschiedenheit des Aussageinhalis zeigte sich darin, dass
die Farbe eine sehr schlechte Erinnerung aufwies. Schlecht
schnitt auch die Form ab. Die Angaben über den Ort ent-
sprachen ungefähr dem Durchschnitt, während in bezug auf
die Stellung abnorm wenige Fehler gemacht wurden.
Von grossem Einfluss war der Unterschied zwischen An-
gaben über Personen oder Sachen, dort werden mehr
Angaben und weniger Fehler gemacht als hier, so dass Umfang
wie Treue für sachliche Eigenschaften geringer sind als für
persönliche.
Wreschner?) fand, dass etwa der vierte Teil der im
Verhör gewonnenen Darstellung falsch ist.
Sommer®) betont bei der Methodik
1. die Exposition eines Sinnesreizes und
2. die Prüfung, wie viel die Versuchsperson von dem
Exponierten aufgefasst hat.
Sommer unterscheidet scharf zwischen der Methode des
freien Berichts und der Methode der Fragebeantwor-
tung. Bei der Fragemethode hat man den grossen Vorteil der
4
zo 0 a
Vergleichbarkeit bei verschiedenen Versuchspersonen.
Beide Methoden haben ihre Vorteile und Nachteile.
Praktisch scheint sich nach Sommer die Vereinigung
von Berichts- und Fragemethode am besten zu be-
währen, um die wesentlichen Besonderheiten der Auffassung
und Reproduktion klarzustellen. Zu einer falschen Aussage
können führen:
1. Mängel der Wahrnehmung,
2. Veränderungen, welche die Wahrnehmungen bis zur
Aussage erleiden.
Der häufigste Mangel der Wahrnehmung für unsere Fälle
besteht in Zutaten zu dem Wahrgenommenen im Moment der
Auffassung. „Dies ist der Grundtypus der normal-
psychologischen Illusion, die eine große Bedeutung auf
diesem Gebiete hat.“
Die sekundären Veränderungen bis zur Aussage sind
mancherlei Art (allmähliches Ausfallen von Teilen der Wahr-
nehmung, Veränderung der Gefühlsbetonung, Umwandlung durch
Assoziationen u. a. m.).
Es handelt sich also darum, im einzelnen Falle die inneren
und äusseren Bedingungen einer Aussage kritisch abzuwägen
und ihre Verlässlichkeit zu prüfen. Wir müssen durch metho-
dische Analysierung eine verbesserte Diagnostik erstreben, wie
Sommer?) treffend ausführt. Hans Gross’) vertritt denselben
Standpunkt und warnt vor allgemeiner Missachtung der Zeugen-
aussagen. Grundsatz soll nach diesem Autor bleiben, dass in
die organisierte Beobachtung, welche von Juristen, Philosophen
und Ärzten zu machen wäre, vollständige Regelmäßigkeit
gebracht werden muss, und dass von allen Beobachtern eben
der minutiös gleichförmige, möglichst einfache Vorgang
als Gegenstand der Experimente gewählt wird.
Auch Minnemann?) empfiehlt weniger eine möglichst
korrekte Fehlerstatistik anzustreben, als vielmehr sein
Augenmerk auf eine genauere Fehleranalyse zu richten,
damit man die Momente, welche die Trübung und Verfälschung
des Erinnerungsbildes bewirken, genauer kennen lernt und ihnen
entgegenarbeiten kann.
W. Weber?) hat auf Grund eines Massenexperiments
sr Di
den Schluss gezogen, dass die einzelne, selbst die optima fide
abgegebene Zeugenaussage sehr mit Vorsicht aufzunehmen ist,
dass aber, wo mehrere Zeugenaussagen über denselben Vor-
gang vorliegen, der richtige Sachverhalt doch in vielen Fällen
eruiert werden kann.
Nach Schneickert!’) ist die Gefahr der Suggestion
gross bei der angeblichen Wiedererkennung flüchtig gesehener
Personen oder gar ihrer Porträts.
Ich begnüge mich mit diesen Erfahrungen aus dem Gebiete
der normalen Psychologie der Aussage und möchte nur noch
mit einigen Worten die Schwierigkeiten hervorheben, welche
unserer warten, wenn es sich um Aussagen handelt, welche auf
dem Boden einer abnormen psychischen Verfassung
entstanden sind. Ich muss es mir heute versagen, die eigent-
lichen Geistesstörungen in den Kreis unserer Betrachtung zu
ziehen, da uns dies zu weit führen würde. Ich greife nur auf
den Schwachsinn und die sog. Grenzzustände zurück.
Die Entscheidung darüber, wie weit den Aussagen Schwach-
sinniger Glauben zu schenken sei, ist in formaler Hinsicht
Sache des Richters, derselbe wird aber gut tun, sich bei dieser
Frage die Mitwirkung eines Sachverständigen nicht entgehen
zu lassen. Es muss in jedem derartigen Falle Gegenstand
besonderer Feststellung sein, ob dieser Erinnerung bei
dieser geistigen Schwäche Glauben beizumessen ist oder nicht.
Ein allgemeines Schema lässt sich nicht geben.
A. Cramer?) verdanken wir interessante Untersuchungen
betr. die Zeugnisfähigkeit bei Geisteskrankheit und bei Grenz-
zustánden. Im Hinblick auf den angeborenen Schwach-
sinn äussert sich dieser Autor: „Die angeboren Schwachsinnigen,
sei der Schwachsinn nun höheren Grades oder wenig hochgradig,
sind fast durchgängig auf einem sehr niedrigen ethischen Niveau
stehend und von Hause aus alle geneigt zum Lügen, ja
schrecken oft auch in bewusster Weise vor keiner Lüge
zurück. Vor Gericht gestalten sich die Verhältnisse sehr
schwierig.
In leichten Fällen des Schwachsinns, bei der Imbezilli-
tät z. B., braucht der Kranke an Gerichtsstelle durchaus nicht
aufzufallen und kann, wenn er Stück für Stück gefragt wird,
4*
ERE > NA
seine Angaben machen, ohne dass etwas Krankhaftes in die
Augen springt. Trotzdem besitzen seine Angaben kaum einen
Wert, denn der Imbezille lässt sich, wie ein Kind, in den An-
gaben, die er macht, von Zufällen und der augenblicklichen
Eingebung leiten. Wichtig ist auch, zu wissen, dass diese
angeboren Schwachsinnigen ausserordentlich leicht bestimm-
bar sind, im Affekt und unter dem Einfluss des Alkohols fast
durchweg krankhaft reagieren: Unter diesen beiden letzteren
Einflüssen schwindet ibr Kritik- und Urteilsvermögen fast voll-
ständig.
Im allgemeinen ist bei diesen Schwachsinnigen die Merk-
fähigkeit immer etwas herabgesetzt, in einzelnen Fällen hat
dieselbe besonders Not gelitten.“
Schwierigkeiten bereiten ferner die Grenzzustände,
wobei Epilepsie, Hysterie und Alkohol im Vordergrund stehen
mit ihrer Charakterdepravation.
Eine innige Mischung von bewusster Lüge und krankhaft
gefálschtem Vorstellungsinhalt, immer unter Mitwirkung leb-
hafter Phantasietätigkeit, finden wir bei Entarteten, bes.
Hysterischen. Eine gröbere Beeinträchtigung der Kritik ist
aber nicht jedesmal erforderlich. Das Gemisch von Erinnerungs-
fälschung und Lüge wird für Dritte gefährlich in den
falschen Anschuldigungen (sexuelle Attentate, Rauban-
fälle etc.) und in der Unzuverlässigkeit der Zeugenaussage
von Hysterischen.
Die Tatsache, dass die Kranken grösstenteils selbst
glauben, was sie erzählen, macht ihre Angaben durch die
Art und Weise, wie sie vorgebracht werden, besonders ü b er-
zeugen d; Verurteilungen Unschuldiger auf Grund von patho-
logischen Lügen Hysterischer sind keine Seltenheit (vielleicht
gehört hierher der Prozess Heusler-Wagner?!); eine besondere
Gefahr besteht hier wieder für die Ärzte, die mit Vorliebe
unerlaubter sexueller Eingriffe bezichtigt werden.
Auch bei Epilepsie und Alkoholismus finden wir regelmäßig
eine mehr weniger mangelhafte Reproduktionstreue. Infolge
Überwiegens der Phantasietätigkeit und erhöhter gemütlicher
Erregbarkeit findet oft eine weitgehende Trübung des Urteils
und der Kritik statt, welche es diesen Individuen vielfach
s 3 ==
unmöglich macht, zwischen Wahrheit und Dichtung zu unter-
scheiden. Früher bewusste Lügen werden bei öfterer Wieder-
holung bezw. im Laufe der Zeit so sehr zum geistigen Eigen-
tum dieser Individuen, dass ihnen die Erkenntnis von der
Unrichtigkeit ihrer Aussagen völlig abhanden gekommen ist.
Von dieser Eigenheit, infolge von krankhafter Autosuggestion
sich mehr und mehr in Phantasieprodukte, Erinnerungstáuschungen
und launenhafte bezw. affektbetonte Einfálle zu verwirren und
zu verrennen, ist auch die Erscheinung abzuleiten, dass solche
Individuen, sei es bewusst, sei es unbewusst, liigen und schwin-
deln selbst in Fällen, in welchen keinerlei Anlass dazu vorliegt.
In ausgesprochenen Graden kommt es zu der sog. Pseudo-
logia phantastika, den „krankhaften Schwindlern und
Lügnern.“
Wir sehen aus diesen skizzenhaften Ausführungen, „dass
es, soweit die Grenzzustände in Betracht kommen, Menschen
gibt, welche mit einer krankhaften Grundlage behaftet, an sich
nicht aufzufallen brauchen, aber trotzdem als Zeugen sehr gefähr-
lich werden können, weil sie infolge dieser krankhaften Grund-
lage nach der einen oder anderen Richtung hin in der geistigen
Tätigkeit, welche zur Zeugenaussage erforderlich ist, geschädigt
sind.“
Hoche!!) sagt, der Nachweis eines krankhaft mangelhaften
Gedächtnisses im allgemeinen müsse an sich schon genügen,
um, die Aussagen eines Zeugen unverwertbar zu machen;
„weder Richter noch Arzt sind in solchen Fällen imstande
zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Angaben eine Sonde-
rung vorzunehmen.“ |
| Auch Cramer?) steht auf dem Standpunkt, dass es sich
in vielen Fällen gar nicht entscheiden lässt, ob die Aussagen,
welche unter dem Zwange krankhafter Momente abgegeben
worden sind, richtig sind oder nicht. „Auf keinen Fall wird
sich der Arzt auf die Beantwortung einer Frage in letzterem
Sinne einlassen.“
Unsere Ausführungen aus dem Gebiete der Psychologie
der Aussage haben uns überzeugend vor Augen geführt, welche
zahlreichen Fehlerquellen hier vorliegen, und uns die Not-
wendigkeit dargetan, gemeinsam an der Erforschung dieses
=s BE Zu
psychologischen Problems zu arbeiten. Die Hauptsache bleibt,
die Fehler zu analysieren und darnach zu trachten, daraus feste
Stützpunkte für die Bewertung der Aussage zu gewinnen. Die
experimentellen Untersuchungen bedürfen einer möglichst ein-
fachen Versuchsanordnung und einer möglichst grossen Zahl
von Versuchspersonen.
Objektive Aufnahme und Registrierung der Ergebnisse sind
anzustreben, um eine vergleichende Verwertung zu ermöglichen.
In der Schule wie im Beruf sind Beobachtung und Reproduk-
tionstreue zu üben und zu schärfen.
Bei krankhaft veranlagten Naturen gewährt ein verständnis-
volles Zusammenwirken von Richter und Arzt eine möglichst
zutrefiende Beurteilung. |
Uns allen möge die frisch einsetzende Wissenschaft der
Psychologie reiche Anregung gewähren und zu einem lebhaften
Gedankenaustausch Veranlassung geben zum Nutzen und
Frommen unserer beiden Forschungsgebiete!
Literaturangabe.
1) Hoche, Handb. der gerichtlichen Psychiatrie.
2) Cramer, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 2.
8) W. Stern, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 1.
+) W. Stern, ibidem. H. 4.
5) A. Wreschner, Arch. f. d. ges. Psychologie 1, 148—183.
*) R. Sommer, Jurist. psychiatr. Grenzfragen, II. Bd. H. 6.
') Hans Gross, Koblers Arch. f. Strafrecht u. Strafprozess, 49. Jabr-
gang 1902, H. 3—5.
®) C. Minnemann, Beiträge zur Psychologie der Aussage. H. 4.
% W. Weber, ibidem. Heft: 4.
10) Hans Schneickert, Arch. f. Kriminalanthropol. Bd. 13. H. 3.
11) Hoche, Jurist. psychiatr. Grenzfragen. I. Bd. H. 8.
1?) Kraepelin, Arch. f. Psych. XVII u. XVIII.
Zur Psychologie der Aussage. ')
Von
Landgerichtsrat Dr. Gmelin, Stuttgart.
Die Forschungen, welche William Stern und andere
nach ihm angestellt haben, um die Frage nach der Zuver-
lässigkeit der Wahrnehmung und der Aussage von Personen
zu ergründen, Forschungen, deren Kenntnis im Folgenden
vorausgesetzt werden musste, haben bedeutendes Aufsehen
bis in die Tagespresse hinein erregt. Handelt es sich doch
um ein Problem, dessen bisher ungenügende Erforschung wohl
von den meisten unter uns Richtern oft schmerzlich empfunden
worden ist. Wenigstens muss ich dies annehmen, wenn ich von
meinen eigenen Erfahrungen ausgehe.
Als ich zuerst in die juristische Praxis eintrat, war es
für mich ein Gegenstand der Überraschung, zu sehen, mit
welcher Sicherheit die Einreihung der Zeugenaussagen in wahre
und falsche von den Praktikern, namentlich im Gebiet des
Strafrechts, vollzogen wurde. Meine zur Vorsicht geneigte
Anlage zeigte sich mir als verbesserungsbedürftig im Sinn einer
grösseren Unerschrockenheit im Fürwahrhalten der von den
Zeugen gemachten Bekundungen. Mit der Zeit bemerkte ich,
*) Literatur: Die grundlegende Arbeit von William Stern erschien
in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 22, Heft 2
und 3 (auch als Sonderabdruck bei J. Guttentag, Berlin 1902); weitere
Aufsätze Stern’s in den von ihm herausgegebenen „Beiträgen zur Psycho-
logie der Aussage", «Leipzig, J. A. Barth, 1903 ff. (1. Folge Heft 1, S. 1 ff.,
S. 4 ff., S. 46 f.; Heft 3, S.1ff.; 2. Folge Heft 1, S. Lff., S. 32 f.). —
Weitere Literatur siehe beim vorhergehenden Vortrag, oben S. 59. — Auf-
merksam gemacht sei insbes. auf Hans Gross, Kriminalpsychologie, 2. Aufl.
> p as
wie bei mir — nicht ohne die schmerzlichen Erfahrungen des
Irrtums, dem ja wir Juristen nicht minder unterliegen, wie
die Herren Ärzte —, ein gewisses, einer festen Grundlage,
wie ich mir eingestand, entbehrendes Durchschnittsmaß der
Bewertung der Zeugenaussagen sich ausbildete. Und wenn
ich um mich schaute, so glaubte ich auch bei meinen Kollegen
das Vorhandensein einer solchen Durchschnittsbewertung wahr-
zunehmen, von der anzunehmen war, dass sie — wie bei mir
— in dem einzelnen je nach seinem Temperament und seiner
individuellen Anlage auf Grund seiner Erfahrungen zu Stande
gekommen war. Allenthalben. aber fehlte es an greifbaren An-
haltspunkten dafür, auf welchem Wege der Lösung des Pro-
blems näher zu kommen sei. |
Ist nun Aussicht vorhanden, dass es in dieser Richtung
anders, besser werden wird? Besteht die Möglichkeit, an
die Stelle der systemlos gesammelten persönlichen Erfahrung
des einzelnen etwas Positiveres gu setzen? Das ist die Frage,
die durch neue Forschung eröffnet ist.
I.
Die Entstehung, die Genesis der Zeugenaussage und
ihre Verwertung durch den Richter ist in kurzem folgende:
eine Person macht eine sinnliche Wahrnehmung, be-
wahrt sie im Gedächtnis und trägt sie dem Richter miind-
lich vor. Dieser überzeugt sich von der Wahrheit der
ihm mitgeteilten Tatsache und baut auf diese Überzeu-
gung die Entscheidung auf.
Dieser ganze Hergang vollzieht sich, wie Erwin Rupp
in seiner Schrift: Der Beweis im Strafverfahren [$$ 1—3]!)
in scharfsinniger Weise darlegt, in logischen Schlüssen: selbst
die anscheinend einer weiteren Auflösung unzugängliche un-
mittelbare Wahrnehmung, wie z. B. das Ansichtigwerden eines
Mädchens, enthält eine Reihe von solchen Konklusionen, in-
dem auf Grund allgemeiner und persönlicher Erfahrung aus
dem empfangenen Sinneseindruck auf dessen Realität, aus der
körperlichen Erscheinung und der Kleidung auf das Alter und
1) Freiburg, Mohr, 1884.
e DT as
das Geschlecht geschlossen wird. Nicht minder bewegt sich
die Aussage des Erlebten in Konklusionen: weil der Zeuge
beobachtet hat, dass er einen Sinn besitzt, der ihm „die be-
wusste Beziehung einer Gedächtnisvorstellung auf einen be-
stimmten, an einen Zeitpunkt der Vergangenheit dagewesenen
objektiven Tatbestand“ *) gestattet, schliesst er auf die Richtig-
keit seiner Erinnerung und die Wahrheit seiner Aussage. Der
Richter endlich schliesst aus der vor ihm gemachten Bekun-
dung auf die Wahrheitsgemäßheit der Aussage und bildet sich
infolgedessen die Überzeugung von der Wahrheit des Gescheh- .
nisses selbst. Die Funktion des Zeugen zerfällt, wie gezeigt,
in drei Gruppen: die Wahrnehmung (Apperzeption), die Er-
innerung und die mündliche Wiedergabe.
Die unrichtige richterliche Überzeugung beruht nun darauf,
dass an irgend einer der verschiedenen Etappen, welche zwischen
ihr und der Wahrnehmung des Zeugen liegen, ein falscher
Schluss gemacht worden ist. Wäre z. B. in meinem Beispiel
das erblickte Mädchen ein verkleideter Jüngling gewesen, so
hätte der Beobachter irrtümlich die Erfahrungstatsache, dass
Mädchen in Röcken gehen und bartlose Gesichter haben, zu
dem Schluss verwertet, die gesehene Person sei ein Mädchen
gewesen.
Diese Darlegung dürfte gezeigt haben, warum sich die
Richtigkeit des richterlichen Urteils in keinem Fall mit logi-
scher Sicherheit beweisen lässt. Auf Schritt und Tritt müssen
auf allgemeine Erfahrungssätze, deren Richtigkeit unerweislich
ist, Schlüsse ‚aufgebaut und auf dieser Grundlage muss das
Urteil gefunden werden.
Indem nun die neuere, von William Stern inaugurierte
Forschung, welche ihren Hebel bei der Erinnerung und
ihrer Treue angesetzt hat, den Satz gebildet hat:
die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel,
sondern die Ausnahme,
scheint sie auf den ersten Anblick der Rechtsprechung, welche
doch auf die Fehlerlosigkeit der Erinnerung und der auf ihr
beruhenden Aussage angewiesen ist, den Boden zu entziehen.
1) Definition von Stern.
— 58 —
Allein die anscheinend folgerichtige Konsequenz: die gánz-
liche Abschaffung des Zeugenbeweises, wird von keiner Seite
gezogen. Und sie wird auch nie gezogen werden. Denn sollte
die Verwertbarkeit der Erfahrungen Dritter als Grundlage
menschlichen Wissens als unzulässig erklärt werden, dann
hätten wir nicht nur keinen Prozess, dann hätten wir auch
keine Wissenschaft mehr. Einen Prozess ohne Zeugenaussage
kann es nun und nimmermehr geben, sowenig wie es ihn je
gegeben hat. Es muss also die, wie unbedingt zuzugeben ist,
in der Verwertung von Zeugenaussagen liegende Unsicherheit
ebenso hingenommen werden, wie die a priori bestehende Un-
erweislichkeit der Richtigkeit der Richtersprüche überhaupt.
Nur darum kann es sich handeln, die Fehler, welche bei der
gerichtlichen Aussage und bei ihrer Würdigung durch den Richter
vorkommen können, in ihren Ursachen und ihrem Umfang zu
erforschen, und auf solche Weise eine sicherere Grundlage als
bisher für die rechtsprechende Tätigkeit zu finden. Denn nur
dann, wenn wir die Zahl der Fehler und ihre Natur erkennen,
sind wir in der Lage, sie zu vermeiden, und es wäre deshalb
ein unverantwortliches Beginnen, wollten wir die durch die
moderne Aussage-Psychologie uns gebotene Möglichkeit, tiefer
in jene Erkenntnis einzudringen, unbeachtet und unbenützt bei
Seite liegen lassen. |
In welcher Richtung diese Forschungen für die Rechts-
pflege von Bedeutung sein können und, wie ich annehme,
auch sein werden, werde ich nunmehr darzulegen unter-
nehmen.
LI.
Das Studium der Psychologie der Aussage hat zum prak-
tischen Zweck, uns die Erkenntnis zu erschliessen , wieso aus
Gründen, die in der Betätigung der psychischen Funktion durch
den Zeugen liegen, ein unrichtiges Ergebnis der richterlichen
Überzeugung und zutreffendenfalls — sofern nämlich diese
Überzeugung auf einen wesentlichen Teil der Urteilsfindung
sich bezieht — im weiteren Verlauf ein unrichtiger Richter-
spruch zustande kommen kann. Dass ein solches unrichtiges
Resultat in jedem Fall auf einem unrichtigen Schluss beruhen
— 59 —
muss, habe ich bereits bemerkt. Da es nun der Richter ist,
welcher im einzelnen Fall die falschen Schlüsse der Zeugen
verwertet oder aber die Schlüsse der Zeugen falsch verwertet,
so kann gesagt werden:
Die Psychologie der Aussage enthält zu-
gleich als Problem die Psychologie des Rich-
ters oder die Psychologie des gerichtlichen
Verhörs.!)
Bei den Zeugenaussagen ist nun in Betracht zu ziehen:
der Wille und die Fähigkeit zur richtigen Aussage.
Den positiv auf eine falsche Aussage gerichteten Willen,
welcher im Falle der Beeidigung als Meineid ($ 153 St. G. B.)
in die Erscheinung tritt, lasse ich ganz bei Seite. |
Über den fahrlässigen falschen Eid wird später einiges zu
sagen sein.
Ich wende mich sofort zur mangelnden Fähigkeit
zur richtigen Aussage.
Es handelt sich hier um die Momente der Wahrnehmung
und der Erinnerung oder um Merkfähigkeit und Gedächtnis,
Fragen, welche im wesentlichen auf dem medizinisch-psycho-
logischen Gebiet liegen und deren Bedeutung nach dem Stand
der heutigen Forschung in dem vorangehenden Vortrage vor-
geführt sind. Um meine eigene Ansicht zu begründen, kann ich
es indessen nicht umgehen, einige Bemerkungen allgemeiner Art
über Wahrnehmung und Erinnerung vorauszuschicken.
Schon bei der Wahrnehmung (Apperzeption) ist man nur
zu leicht geneigt, zu übersehen, dass dieser Vorgang keines-
wegs ein solcher ist, welcher, wenn in der Person des sonst
normalen Zeugen keine besonderen Hinderungsgründe (wie
Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit, besonders mangelhafte Intelli-
genz) vorliegen, in denkbar einfachster Weise sich vollzieht.
Zu beachten ist nämlich, dass schon mit der Aufnahme des
Sinneseindrucks eine Bemächtigung desselben, eine Bear-
beitung durch die Psyche stattfindet, die je nach der Auf-
fassungskraft des Einzelnen eine total verschiedene ist. Ins-
besondere ist die Wahrnehmung in jedem einzelnen Fall voll-
ständig abhängig von dem Grad des dem Sinneseindruck
') Vgl. Beiträge, 1. Folge, Heft 2, S. 104.
== |
gewidmeten Interesses. Ein Beispiel möge dies verdeut-
lichen.
Wenn Sie in die Lage kommen, einem Vortrag anwohnen
zu müssen, so werden Sie vielleicht plötzlich die Entdeckung
machen, dass Sie nicht zuhören. Die Tonwellen der Rede
dringen ganz ebenso wie zuvor an Ihr Ohr. Ihre Wahrneh-
mung aber, welche Ihnen vorher die Gedanken des Redners
vermittelte, beschränkt sich nun auf das Innewerden eines
mehr oder weniger angenehmen Geräusches, welches wohl ge-
legentlich mit demjenigen eines plätschernden Baches ver-
glichen worden ist, und nur die Pause, welche der Redner
unvermutet macht, würde in Ihnen das Bewusstsein, in den
vergangenen Momenten etwas gehört zu haben, erwecken. Die
Apperzeption kann aber auch noch weiter herabsinken und
ganz aufgehoben erscheinen, ich denke nicht an das Einschlafen
des Zuhórers; aber wenn Sie z. B. während des Vortrags
einen Brief mit interessantem Inhalt bekommen und lesen
würden, könnten Sie vielleicht nachher nicht sagen, ob der
Redner in den vorangegangenen Minuten gesprochen oder aus-
gesetzt hätte, obwohl Sie ihn doch reden hörten. — Sehr
mannigfach würde sodann die Stufenleiter ausfallen, wenn Sie
über den Inhalt der Rede nachher eine Aussage machen sollten.
Die sog. primäre oder spontane Aussage (wobei nicht durch
Fragen nachgeholfen wird), würde vielleicht recht mangelhaft
ausfallen; würde Ihnen gleich nach dem Vortrag das Manu-
skript vorgelegt werden, so würden Sie voraussichtlich den
Gedankengang wiedererkennen; Sie würden sich vielleicht an
ziemlich viele Redewendungen und Sätze mit Bestimmtheit
entsinnen. Einiges wäre Ihnen wohl zweifellos ganz entgangen.
Ob die Ausdrucksweise überall ganz dieselbe war, würden Sie
nicht angeben können; wenn Sie aber solche Übereinstimmung
konstatierten, könnte Ihnen in dieser Beziehung vielleicht un-
bewusst die von Ihnen wahrgenommene Tatsache, dass der
Redner sein Manuskript abgelesen hätte, einen stärkeren Grad
von subjektiver Gewissheit gewähren, als objektiv begründet
wäre.
Dieses Beispiel zeigt den verschiedenen Grad der Be-
arbeitung, welche im Moment der Aufnahme des Sinnesein-
we BE NA
drucks erfolgt. Erforderlich ist aber auch eine diesem Zeit-
punkt nachfolgende Fixierung; wird diese unmöglich, so ver-
schwindet selbst die zweifellos gemachte Wahrnehmung un-
wiederbringlich dahin. Es ist oft beobachtet worden, dass
beim Erleben eines heftigen Schrecks die Erinnerung für das
unmittelbar Vorangegangene vollständig verloren geht. Fälle
dieser Art wurden bei dem grossen Heidelberger Eisenbahn-
ungliick vom 7. Oktober 1900 konstatiert.) Es wird
also geboten sein, Erinnerungen über Ereignisse, die
einem erheblichen Affekt unmittelbar vorangegangen sind,
wegen der zu befürchtenden Störung der Wahrnehmungs-
operation mit Vorsicht zu behandeln. Andererseits wird die
nachträglich, aber während der Dauer jenes Fixierungspro-
zesses erfolgende Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf einen
erlebten, aber noch nicht aufgenommenen Sinneseindruck zur
Aufnahme desselben führen, bezw. das Erlöschen einer im
Entstehen begriffenen Wahrnehmung verhindern. So kann
man z. B. im gegebenen Falle, wenn jemand sich verspricht,
im gleichen Moment darauf aufmerksam gemacht, diesen lapsus
linguae sozusagen noch im Flug erhaschen und man kann ihn
so seiner Wahrnehmung mit Sicherheit einverleiben. Dasselbe
ereignet sich, wenn ein Schuss fällt, den man nicht beachtet
hätte und man sofort gefragt wird: „Haben Sie nicht schiessen
hören?“ Fälle solcher „retrospektiven Aufhellung der Wahr-
nehmung“ werden auch von Hans Gross in seiner Kriminal-
psychologie erwähnt. !
Ist der Satz, dass die Wahrnehmung vom Interesse ab-
hängig sei, richtig, so kann ohne weiteres bestimmt werden,
dass die Zuverlässigkeit der Wahrnehmung nicht wird voraus-
gesetzt werden dürfen, sobald der Vorgang für den Zeugen
ganz interesselos war. Als Beispiel können dienen die Ver-
richtungen des täglichen Lebens, die beinahe mechanisch voll-
zogen werden, wie das Abschliessen von Türen, Schubladen
und dergl. mehr. Auch Verhandlungen über zivilrechtliche
Verhältnisse sind sehr häufig dem Seelenleben des zufälligen.
Zuhórers ganz fremd und werden dann auch präsumtiv nicht.
in die Psyche aufgenommen.
') Deutsche medizinische Wochenschrift, 26. Jahrgang, S. 809.
a 0
Als bekannte Grinde der Verminderung des Interesses
und damit der Wahrnehmungskraft wären noch zu erwähnen:
allgemeine Herabsetzung der körperlichen und geistigen An-
spannung durch Benommenheit, Ermüdung, Trunkenheit, Ab-
lenkung durch andere Gedankenreihen. Die Gegensätze: Frische,
geistige Freiheit, sodann das Aussergewöhnliche, besonders die
Erstmaligkeit eines Vorgangs, desgleichen die Sachkunde,
tragen zur Erhöhung der Wahrnehmungsfähigkeit bei.
In objektiver Beziehung kommen die verschiedenen räum-
lichen und zeitlichen Verhältnisse: die Nähe oder grössere
Entfernung, die Schnelligkeit des Vorgangs oder ruhige Beob-
achtung, endlich die Möglichkeit der Unterstützung des einen
Sinneseindrucks durch einen andern in Betracht. Jedoch folgt
aus der Möglichkeit, eine Wahrnehmung zu machen, für
sich allein in keinem Fall, dass sie gemacht wurde, noch
weniger aber, dass sie hätte gemacht werden müssen.
Letztere Frage sollte daher streng genommen der Richter nie
stellen, vielmehr ihre Beantwortung aus den festgestellten Um-
ständen des Falls selbst schöpfen.
Schon auf der ersten Stufe, welche zur gerichtlichen Aus-
sage führen, liegen also eine Reihe von Problemen, welche
keineswegs zu den leichten gehören.
Noch komplizierter vestaltet sich die Sache, wenn wir
nunmehr
IH.
die Erinnerung
genauer betrachten.
Wenn wir gesehen haben, dass für die Wahrnehmung das
ihr zugewandte Interesse ausschlaggebend ist, so ist dies auch
für die Erinnerung in gewissem Umfang zutreffend, und der
Satz „Erinnerung ist Interesse“, den auch der Herr Vorredner
angeführt hat, wird nicht von der Hand zu weisen sein. Nur
wird man dabei beachten müssen, dass eben das lebhafte
Interesse an der Wahrnehmung es ist, welches die tiefere
Einprägung in die Psyche, und erst als deren Folge die Treue
der Erinnerung bewirken wird. Darüber hinaus wird dann
allerdings häufig die Fortdauer der seelischen Beziehung zu
der gemachten Wahrnehmung oder zu der Person oder dem
— 68 —
Gegenstand, worauf sie sich beziebt, zur Wachhaltung der Er-
innerung an das Erlebte beitragen.
Allein wer sollte nicht schon wiederholt erlebt haben,
dass beim Zuriickdenken an wichtige Ereignisse ihm die un-
bedeutendsten Nebenumstände, von denen auch gar nicht an-
genommen werden kann, dass sie mit besonderer Aufmerksam-
keit wahrgenommen wurden, durch die Erinnerung wieder
hervorgezaubert werden, während diese oder jene wichtige
Einzeltatsache jenes Ereignisses trotz aller Anstrengung nicht
mehr ins Gedächtnis zurückgerufen werden kann? Gerade diese
Unkontrollierbarkeit, diese Launenhaftigkeit, diese relative Un-
abhängigkeit von dem Interesse scheint mir — in ganz anderem
Maß als bei der Wahrnehmung — ein recht eigentümliches
Charakteristikum der Erinnerung zu sein. Es kommen ja auch
dort Fälle vor, wo ich ohne Interesse etwas wahrnehme, z. B.
etwas sehe, ohne absichtlich hinzusehen, etwas „höre“, ohne
zu „horchen“; jedoch sind diese Fälle von relativ untergeord-
neter Bedeutung. Die Erinnerung aber ist gewissermaßen ein
Kobold, der uns jeden Augenblick „einen Streich spielen“ kann,
uns im Stich lässt, wenn wir sie brauchen, uns Wahrnehmungen
vorspiegelt, die wir nicht gemacht haben, und die aufgenom-
menen Bilder in tausend Fällen entstellt und verzerrt! Und noch
weniger als bei der Wahrnehmung wird also hier, wenn eine
Person sich nur an einen Teil des Geschehnisses erinnern zu
können erklärt, gefolgert werden können, dass sie sich auch
an das übrige erinnern müsste. |
Für die Frage nach der Richtigkeit des Erinnerungsbildes
sind nun folgende Erscheinungen wichtig: einmal die allgemein
bekannte Tatsache des allmählichen Erblassens und schliess-
lichen Verschwindens der Erinnerung. Mit diesem „allmählichen
Ausfallen von Teilen der Wahrnehmung“, hängt zusammen
das stärkere Hervortreten des zurückgebliebenen Teils der
Vorstellung, wodurch dieser Teil unter Umständen in der Er-
innerung eine unverhältnismäßige Bedeutung erhält (z. B. bei
Wert- und Gradunterschieden). Ferner ist zu beachten, dass
das Erinnerungsbild niemals die Treue eines photographischen
Abklatsches hat, sondern nur in allgemeinen Umrissen vor-
handen ist, deren Lücken vermittels der Phantasie durch asso-
a e
ziative Vorstellungen ergánzt werden und im weiteren Verlauf
sogar durch letztere verdrängt werden können. Ein Beispiel
solcher Ergänzung ist mir von einem hiesigen Argt zur Ver-
fügung gestellt worden und scheint mir wert, vor Vergessen-
heit bewahrt zu "werden.
Dieser Herr wohnte einer Feierlichkeit an, wobei er längere
Zeit in nächster Nähe des Deutschen Kaisers stand. Er be-
hauptete nachher, an den Beinkleidern des Monarchen die
roten Generalsstreifen gesehen zu haben. Von einem Be-
kannten, der dies bestritt, zu einer Wette aufgefordert, lehnte
er dies mit der Begründung ab, er sei seiner Sache so sicher,
dass er die Eingebung der Wette nicht für erlaubt halte. Es
war möglich, durch einen Adjutanten die Tatsachen genau
festzustellen, und es ergab sich, dass der Kaiser die Obersten-
uniform seines württemb. Regiments (Nr. 120) mit General-
stabszeichen getragen hatte.!) Des Rätsels Lösung war also,
dass der Arzt den (Generalshelm mit den wallenden Federn
und die auf den Schulterklappen befindlichen Generalsabzeichen
gesehen und dass seine Phantasie die roten Streifen — ge-
wissermaßen als logische Konsequenz — hinzugedichtet hatte.
Es liegt hier eine ganz augenfällige Bestätigung des Stern-
schen Satzes vor: dass die mangelhafte Erinnerung etwa be-
stehende Lücken nach dem als normal erwarteten ergänzt.
Wäre es nun nicht denkbar, dass im Laufe der Zeit dieser
Arzt, wenn nicht sein Irrtum festgestellt worden wäre, die
roten Streifen als alleiniges Merkmal für die Generalsuniform
im Gedächtnis behalten hätte? Gewiss, und hier wäre
dann die wirkliche Erinnerung durch eine assoziative Vorstel-
lung verdrängt worden.
Es dürfte schon durch das Wenige, was im Rahmen dieses
Vortrags über das eigenartige Wesen der Wahrnehmung und
der Erinnerung gesagt ist, dargetan sein, dass die Unsicherheit.
der Aussagen über Erinnerungen — und alle Zeugenaussagen
sind ja nichts anderes — im Wesen sowohl der Wahrnehmung,
als des Gedächtnisses selbst begründet ist, — dass mit Natur-
notwendigkeit auch der normale Mensch Erinnerungstäuschungen
1) Zu dieser Uniform gehören keine Generalsstreifen an den Bein-
kleidern.
E: ES
und Erinnerungsfälschungen unterliegt, — dass bei der Natur der
Erinnerung als einer in wesentlichen Richtungen ganz unkontrol-
lierbaren geistigen Kraft sich auch im einzelnen Fall die Richtig-
keit oder Unrichtigkeit der einzelnen Erinnerung (im subjektiven
Sinn). von dem Fall der nachgewiesenen, absichtlich falschen Aus-
sage abgesehen, ausserordentlich schwer erweisen lässt. Denkt
man sich etwa noch im konkreten Fall eine lebhafte Vorein-
genommenheit zu Gunsten der einen oder andern subjektiven
Auffassung eines Geschehnisses hinzu, so wird sehr häufig die
Sache so liegen, dass im Moment der Wahrnehmung denjenigen
Umständen, welche der Betreffende zu sehen oder zu hören
wünscht, lebhafteres Interesse zugewendet und der Erinnerung
an diese Umstände grössere Wärme gewidmet wird, als dies
bei den divergierenden Tatsachen geschieht. Es bedarf dann
nur noch einer geringeren Dosis Autosuggestion, und es wird
die zur Wiedergabe der Erinnerung aufgeforderte Person in
der Lage sein, im besten Glauben ein ganz einseitiges Bild
zu produzieren, also ohne dass die objektive Unrichtigkeit als
auf subjektivem Verschulden beruhend anzusehen wäre Der
Wunsch ist der Vater der Erinnerung. Auf diese
Weise und nicht durch Rekurrieren auf die Unterstellung
falscher Eide, werden nach meiner Überzeugung öfter als man
denkt, die widersprechenden Angaben der vor Gericht strei-
tenden Montecchi und Capuletti und ihres Anhangs psycho-
logisch erklärt werden müssen. Ich wenigstens vermochte mir
in vielen praktisch erlebten Fällen den Vorgang recht gut so
vorzustellen, das schon bei der Wahrnehmung der
Zeuge das, was er zu sehen und zu hören wünschte, z. B. bei
wechselseitigem Wortstreit, sozusagen stärker erlebt hatte,
dass er dies durch Wiederholung in seinem Innern, durch Be-
sprechung mit Freunden immer mehr in die Höhe brachte und
das, was ihm nicht passte, durch konsequentes Ignorieren
schliesslich aus seiner Erinnerung ganz hatte ausfallen lassen.
Durch die von William Stern eingeleitete experimentelle
Methode ist nun meiner Ansicht nach die im Wesen der Sache
begründete bedeutende Fehlerhaftigkeit der gutgläubigen Aus-
sagen über Wahrnehmungen im weiteren Umfang, als
bisher angenommen wurde, bestätigt worden. Jeder
5
2,66 A
von Ihnen ist in der Lage, mittels der in der Literatur sich
findenden Beispiele auf der Stelle von der Unzulänglichkeit
seiner eigenen Wahrnehmung und Erinnerung sich zu über-
zeugen. Bemerken möchte ich hier nur, dass wenn W. Stern
nach einem einzigen Versuch den Satz: „11% des beeidigten (!)
Inhalts einer Aussage!) sind falsch“, in die Welt hinausgehen
liess, dies denn doch ein ganz falsches Bild von der Natur
und der Beweiskraft des einzelnen Experiments hervorruft.
Dagegen dürfte gegen die Stern'sche Formel: „Die rich-
tige Aussage bildet nicht die Regel, sondern die
Ausnahme“, wenn man darunter die in allem, auch den
nebensächlichsten Punkten irrtumsfreie Aussage versteht, nichts
einzuwenden, wohl aber zu bestreiten sein, dass
dieser Satz für den erfahrenen Richter ein neuer
sei. Aber allerdings ist, wie bemerkt, das Vorkommen
der von dem Aussagenden selbst für wahr gehal-
tenen, objektiv unrichtigen Aussage in weiterem Umfang,
als bisher im Durchschnitt angenommen wurde, festgestellt
worden, und hieraus folgt von selbst: dass in weiterem
Umfang als bisher mit der Möglichkeit der Gut-
gläubigkeit des objektiv falsch Aussagenden ge-
rechnet werden muss.
Die Erfahrung, dass die Menschen einer Reihe von
Irrtúmern auch da unterworfen sind, wo es sich um an-
scheinend ganz einfache Wahrnehmungen handelt. ist ja auch
bisher dem aufmerksamen Beobachter des täglichen Lebens
und der forensischen Praxis keineswegs unbekannt gewesen.
Aber wenn ıch die von mir selbst als Richter gewonnene
Erfahrung wiedergeben soll, und wenn ich dabei verwerte,
was ich als Standpunkt der Praxis im allgemeinen wahrge-
nommen zu haben glaube, so ist doch bisher als Regel davon
ausgegangen worden, — vom Fall des Meineids und der
krankhaften Disposition sehe ich hier ganz ab —, dass die
dem Zeugen bei seiner Aussage unterlaufenden Unrichtigkeiten
auf einer mangelnden Anspannung des auf Wiedergabe der
') Es handelt sich bei den Versuchen doch nur um fiktiv be-
schworene Tatsachen (s. unten).
u OT =
Wahrnehmung gerichteten Willens beruhen, man hat sich
für berechtigt gehalten, als allgemein giltige und nur den
seltensten Ausnahmen unterliegende Regel, wenn nicht aus-
drücklich, so doch stillschweigend zu Grunde zu legen, dass
die Konzentration der Gedanken auf ein früheres Geschehnis,
verbunden mit dem ernstlichen Willen, die Wahrheit auszu-
sagen, ein objektiv richtiges Erinnerungsbild zustande bringen
müsse. Die Praxis hat bei zweifelhaften Fällen oft zu der
Formel gegriffen, dass diese oder jene vielleicht an sich auf-
fallende aber von dem Zeugen mit Bestimmtheit unter Eid
bekundete Wahrnehmung, „wenn man nicht geradezu
einen Meineid des Zeugen unterstellen wolle *
als wahr angenommen werden müsse.
Mit dieser Formel wird man brechen müssen. Denn für
den Satz, „dass die medizinische und moralische Einwandlosig-
keit keine Gewähr für die Richtigkeit der Erinnerungsaussage
biete“, sind nach meiner Auffassung durch die exakte Forsch-
ung positive Beweise in viel grösserer Anzahl, als erwartet
werden konnte, erbracht worden, sodass der Satz als Regel
ausgesprochen werden muss:
aus der subjektivenGewissheit, mit welcher
der Zeuge seine Aussage macht, kann für sich
allein, auf die objektive Wahrheit seiner Be-
kundung ein sicherer Schluss nicht gezogen
werden.
Jeder von uns wird ja ohne Zweifel in seinem Leben schon
das eine und das andere Mal selbst in die Lage gekommen
sein, die vollste Überzeugung von der Richtigkeit einer nach-
her als falsch erwiesenen Tatsache gehabt zu haben.
Allein wir betrachteten solche Fälle als Ausnahme, während
das, was bis jetzt experimentell erhoben wurde, den Beweis
dafür erbracht hat, dass es — wie Stern sagt — ein bis-
her beträchtlich unterschätztes breites Gebiet der normalen
psychologischen Erinnerungsfehler gibt.
Die Erfahrungen über die sogen. Schwurtreue sind
bei den Versuchen in der Weise gesammelt worden, dass die
Versuchspersonen einer an sie ergangenen Aufforderung ent-
sprechend diejenigen schriftlichen Angaben unterstrichen haben,
Ar
— 68 —
welche sie für beeidigungsfähig hielten. Hierbei hat sich nun
ergeben, dass der nach Ausscheidung der nicht beeidigungsfähig
gefundenen Punkte übrig bleibende Teil der Aussage einen
grösseren Prozentsatz richtiger Angaben enthält als die Gesamt-
angabe, und es ist damit die Notwendigkeit einer feierlichen
Wahrheitsversicherung für die Zwecke der Rechtspflege, worauf
ich später zurückkommen werde, auch experimentell dargetan.
Anderseits aber hat sich stets ein ziemlich hoher Prozentsatz
von objektiv falschen Angaben, die nach Angabe der Ver-
suchspersonen beeidigt worden wären, ergeben. Nun könnte
man ja wohl sagen: es ist doch etwas anderes, ob jemand
unter dem Druck der Verantwortung, welche geschaffen ist
durch den körperlich geleisteten Eid und durch die an die ge-
richtliche Aussage meist sich kniipfenden praktischen Folgen,
etwas aussagt, als wenn er nur fiktiv sich darüber äussert, was er be-
schworen hätte. Allein wenn man auch unter diesem Gesichts-
punkt an dem Prozentsatz der unrichtigen „eidlichen“ Aussagen der
Versuchspersonen einen Abstrich machen würde, so würden
doch recht viele Aussagen bleiben, welche auch im Ernstfall
auf Grund unerschütterlich feststehender Überzeugung be-
schworen worden sein würden. Ich verweise auf das von mir
genannte Beispiel des Arztes.
Zu dieser im allgemeinen bestehenden Unkontrollierbar-
keit des jeweils vorhandenen Gedächtnisstoffes im Verhältnis
zur Realität kommt nun noch, dass bekanntlich das Gedächtnis-
vermögen der verschicdenen gesunden Menschen das denkbar
verschiedenste ist. Noch weniger, als wir zur Zeit ein zuver-
lässiges Mittel haben, um die richtige Auffassungsfähigkeit
einer Person zu prüfen, sind wir forensisch in der Lage, die
Gedächtnisstärke des einzelnen anders als in ganz allgemeinen
Umrissen zu erkennen Als Hilfsmittel in dieser Richtung
könnten etwa die Angaben von Angehörigen oder Bekannten
über die Erinnerungskraft des Zeugen in Betracht kommen,-
Angaben, die aber selbst nichts anderes als höchst subjektive
Urteile wiedergeben würden. Überdies ist ja das Gedächtnis
derselben Person zu verschiedenen Zeiten ein ungleich starkes
und auch für die Beurteilung hierfür fehlt es wiederum an
allem und jedem Maßstab. |
=, 60 ==
Es ergeben sich also (vom Fall des erwiesenen Meineids
abgesehen) aus dem eigenartigen Wesen des Gedáchtnisses
selbst geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten, die im Einzel-
fall bestehende Nichtübereinstimmung der Aussage mit der
Wirklichkeit nach der Richtung der subjektiven Verschuldung
zu prüfen, weil eben die erwähnte Nichtübereinstimmung
bei bestehender subjektiver Sicherheit erwiesenermaßen über-
aus häufig ist. Diese Tatsachen führen mich nun zu einem wich-
tigen Vorkommnis auf dem Gebiet der strafrechtlichen Be-
handlung der falschen Aussage. Es ist nämlich bezüglich des
fahrlässigen Falscheids (St. G. B. $ 163) — ein Ver-
gehen, welches dann vorliegt, wenn der Zeuge eine objektiv
falsche Aussage abgibt, obwohl er bei seiner Vernehmung die
Wahrheit hätte wissen müssen!) — neuerdings von so
gewichtigen Autoritäten, wie Olshausen, Stenglein und
Thomsen?), die Abschaffung der Strafbarkeit befürwortet
worden. Es wird in der Tat der unter anderem hierfür gel-
tend gemachte Grund, es entziehe sich im Einzelfall jeder
Nachprüfung, ob der Schwörende Mittel und Wege gehabt
habe, zu einer andern als der beschworenen Überzeugung zu
gelangen, der ernstesten Beachtung für würdig befunden werden
müssen.
Erwähnen möchte ich, ehe ich weitergehe, noch Folgendes:
Unbekannt war auch das Phänomen der Selbsttäusch-
ung über die eigene Erinnerung, als Stern mit seinen Ver-
suchen begann, nicht.
Stenglein hat dies einmal in den Worten ausgesprochen
dass auch die gewissenhaftesten Zeugen möglicherweise
irren, dass auch bei solchen Selbsttäuschungen vorkommen,
gehört dem allgemeinen Wissen an.
Gross sagte schon i. J. 1898 in seiner Kriminalpsycho-
logie (S. 9):
wer in diesen Dingen — nämlich in Zeugenaussagen
— Erfahrung hat und aufmerkt, der kommt zu der
1) E. d. R. G. in Str. Bd. 26, S. 133 ff.
2) (Goltdammer's) Archiv für Strafrecht u. Strafprozess. Bd. 50, S. 8 1f.;
Gutachten für den 26. Deutschen Juristentag. Bd. 1, S. 184 tf; Gerichts-
saal. Bd. 61, S. 56 ff.
a O
zweifellosen Überzeugung: Die Leute wissen nicht,
was sie wissen. |
Und vor blinder kritikloser Hinnahme der Zeugenaussagen
hat er ausdrücklich gewarnt.
Die Erkenntnis des Umfangs solcher Selbsttäuschungen
ist aber durch die neue exakte Forschung entschieden auf
eine breitere Basis als bisher gestellt worden. —
Alles bisher Angeführte bezieht sich auf die Wahrnehmung
und Erinnerung des körperlich und geistig normalen Menschen.
Bei Seite gelassen sind alle diejenigen Fälle, in welchen zufolge
einer von der Norm abweichenden Disposition die Auffassung und
die Erinnerung des Zeugen aufgehoben oder gehemmt er-
scheint, wie bei der eigentlichen Geisteskrankheit in ihren verschie-
denen Formen, und den von dem Herrn Vorredner besonders
hervorgehobenen Fällen des Schwachsinns und der „Grenzzu-
stände“. Die Schwierigkeit besteht hier nicht nur in der Er-
kenntnis des Umfangs der Unwahrhaftigkeit und der Unzuver-
lässigkeit des Zeugnisses solcher Kranken oder Entarteten,
sondern auch — und in ganz hervorragendem Maße — darin,
dass der Richter sehr häufig gar nicht in der Lage ist, den
nicht normalen Zeugen vom gesunden zu unterscheiden.
Wie hier zu helfen sei, bleibt eine vorläufig noch ungelöste
Frage.
Auch bei dem normalen Zeugen wird der Richter auf
positive Grundlagen in der Frage der Wahrnehmungs- und
Erinnerungsfähigkeit nach wie vor kaum rechnen dürfen, viel-
mehr über die Würdigung des Einzelfalls auf Grund seiner
persönlichen Anschauung und Auffassung nicht hinauskommen.
Aber das Studium der Ergebnisse der neueren Forschungen
wird ihn davor bewahren, an die Merkfähigkeit und die Er-
innerung der Menschen unbillige Forderungen zu stellen und
der aus inneren Gründen zweifelhaften Aussage einen unge-
rechtfertigt hohen Beweiswert zuzumessen.
IV.
Den Höhepunkt des Interesses erreicht die Psychologie
der Aussage mit dem Augenblick, in welchem der Zeuge zu
dem Zweck dermündlichen Überlieferung seiner Wahr-
u, =
nehmungen und seiner Erinnerung vor den Richtertisch tritt.
In bunter Reihenfolge erscheinen da alle denkbaren Berufs-
stände, Gesunde und Kranke, Greise und Kinder, Männer und
Weiber; ferner jeder mögliche Intelligenzgrad, jede mögliche
Charakteranlage. Alle diese Leute sollen richtig, d. h. so
vernommen werden, dass keiner etwas anderes sagt, als was
er juntrüglich weiss, aber auch so, dass sein ganzer Erinne-
rungsschatz dem Richter zugänglich; wird. Bei jeder dieser
Gruppen und Typen ist die Wahrnehmungsfähigkeit, die Er-
innerung, die Fähigkeit zur Aussage und die Art derselben
eine verschiedene, jede dieser Gruppen und Typen verlangt
äusserlich wie innerlich eine andere Behandlung!
Fürwahr keine leichte Aufgabe!
Welche Fehlerquelle liegt allein in der Gefahr, dass der
Zeuge vom Richter missverstanden und von Frage zu Frage
zu etwas ganz anderem als er sagen wollte, hingedrängt wird!
Das Gesetz (St. P. O. $ 68, Z. P. O. $ 396) gibt uns zur
Lösung der Aufgabe nur die Sätze an die Hand:
„Der Zeuge ist zu veranlassen, dasjenige, was ihm
von dem Gegenstand der Vernehmung bekannt ist, im
Zusammenhang anzugeben. Zur Aufklärung oder Ver-
vollständigung der Aussage, sowie zur Erforschung des
Grundes, auf welchem die Wissenschaft des Zeugen be-
ruht, sind nötigenfalls weitere Fragen zu stellen.“
Das Gesetz, welches hiernach die sogen. primäre oder
spontane Aussage an die erste Stelle rückt, sanktioniert
damit gleichsam ausdrücklich die Superiorität dieser Aussage-
form gegenüber der sekundären Aussage. Die experimentelle
Forschung bestätigt dıe höhere Fehlerzahl in der letzteren
gegenüber den ohne Frage gemachten Angaben, — ein Resultat,
das sich auch aus inneren Gründen als notwendig ergibt.
Denn einmal steigt mit dem grösseren Umfang der Aussage
auch die Fehlermenge und sodann kommt folgendes in Betracht:
Wie wir gesagt haben, enthalten die Erinnerungen nur ein
Gesamtbild des wahrgenommenen Gegenstandes oder Ereig-
nisses; was der Erinnerung als nebensächlich erscheint, wird
durch die Phantasie ergänzt. Geht der Richter also auf dies
Gebiet der für den Zeugen nebensächlichen Punkte einer Wahr-
=. HO.
nehmung über — und dies wird er in der Regel mit der auf
Ergánzung der spontanen Aussage gerichteten Frage tun
—, so kann es leicht geschehen, dass dem Zeugen die durch
die Frage erweckte Vorstellung als Erinnerungsbild erscheint
und es wird so eine Erinnerungstäuschung oder Erinnerungs-
fälschung entstehen. Aber auch die zur Kontrolle gestellte
Frage, (z. B. war das Kleid wirklich rot und nicht violett?),
kann zu demselben Ergebnis führen, ja es wird hier unter
Umständen zuerst ein Zweifel entstehen und in der Folge viel-
leicht sogar die in völlig gutem Glauben erfolgende Ersetzung
der richtigen Aussage durch eine objektiv unrichtige eintreten.
Mit vollem Recht hat von Schrenck-Notzing') auf
die Schwierigkeiten hingewiesen, welche bei Entscheidung der
Frage nach dem ursprünglichen Erinnerungsbild entstehen,
wenn ein Zeuge zuerst eine ihm bis dahin unbekannte Person,
nachher eine öffentlich ausgestellte Photographie und schliess-
lich den verhafteten Verdächtigen gesehen hat.
Es darf daher der Richter die Suggestionsmöglichkeit bei
jeder einzelnen Frage nie aus dem Auge lassen; er wird die
einzelne Person in der Richtung ihrer Suggestibilität genau
ins Auge zu fassen und womöglich durch geeignete Fragen in
dieser Richtung zu prüfen haben.
All dies ist um so wichtiger, als die primäre Aussage des
Gesetzes für unzählige Fälle auf dem Papier steht. Der Richter,
der sich bei unserem Durchschnittsmaterial an Zeugen auf
eine zusammenhängende Darstellung verlassen wollte, würde aller-
dings meistens nicht weit kommen. Aber andererseits ist eine Ver-
nehmungsweise, wobei man nichts als Fragen und Vorhalte
hört und der Zeuge nicht zum Wort kommt, denkbar weit
entfernt von dem Ideal, welches auch dem Gesetze vorschwebt.
Wir sind hier auf dem Gebiet der Vernehmungs-
technik angelangt, worüber sich in Hans Gross’ Kriminal-
psychologie sehr beherzigenswerte Ausführungen finden. Erstes
und unerlässliches Erfordernis ist die Geduld, welche nie
gross genug sein kann, und welche es allein ermöglicht, auf
1) Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchtold-Prozess Leipzig
1897. — Es ist hier namentlich auch auf die Massensuggestion durch die
Presse hingewiesen.
u O 2
das Niveau des Zeugen herabzusteigen, sich durch vorsichtiges
Tasten über den Grad seiner Intelligenz, seiner Bildung,
seiner Kenntnisse zu orientieren und so das, was er sagen
kann, aus ihm herauszuholen. Nötig ist es auch, das subjektive
Interesse des Zeugen zu erwecken, denn nur, wo das ge-
lingt, wird die geistige Kapazität des Zeugen, wie es erforder-
lich ist, auf ibren Höhepunkt gebracht werden. Zu warnen
ist davor, unmögliche Zumutungen an die Zeugen zu
stellen, es ist im Gegenteil angezeigt, hinsichtlich der Sicher-
heit ıhrer Wahrnehmung, ihrer Erinnerungstreue und ihrer
Geschicklichkeit in der Wiedergabe möglichst wenig vorauszu-
setzen, und sie, vom Einfachen und Feststehenden ausgehend,
weiter zu geleiten, niemals aber eine Erinnerung zu verlangen,
die sie nach Lage der Sache ganz unmöglich haben können.
Gerade in letzterer Beziehung findet sich unzählige Male der
Fehlschluss, es müsse deshalb, weil dem Richter für den Auf-
bau des Tatbestands eine Tatsache wichtig sei, dieselbe nun
auch von dem Zeugen mit besonderer Aufmerksamkeit wahr-
genommen worden sein. Es bedarf keiner Ausführung darüber,
wie gänzlich verfehlt in einer sehr grossen Anzahl von Fällen
eine solche Annahme sein wird!
Wo aber auch bei der korrektesten Methode und bei der
objektivsten Beurteilung des Stofts durch den Richter das
Herausholen aufhört und das Hineininquirieren anfängt,
das wird sich wohl leicht auf eine theoretische Formel bringen
lassen: in der Praxis ist die Vermeidung des Fehlers einfach
unmöglich. Gerade deshalb muss aber die Aufmerksamkeit
stets auf diese Fehlerquelle gerichtet sein. Das Gesetz steht
auf dem Standpunkt, dass gefragt werden muss. Es setzt
voraus, dass auf diese Weise der Erforschung der Wahrheit
gedient wird und ein Verzicht des Gesetzes auf dieses Hilfs-
mittel wäre völlig ausgeschlossen. Dass der beabsichtigte
Zweck der Wabhrheitserforschung durch die gesetzliche Be-
stimmung verfehlt wird, das ist durch die etwa mit unter-
laufenden Fehler nicht erwiesen.
Übrigens wird man gut tun, die tatsächliche Bedeutung
dieser Fehler nicht zu überschätzen. Gerade in Sachen des
Beweises finden sich fast in jedem Kollegium Mitglieder von
sr A. as
äusserst subtiler Veranlagung. Und wie schwer es ist, im Ge-
schworenengericht einen Beweis zu Ungunsten des Angeklagten
zu führen, dürfte allgemein bekannt sein. Kann nicht eine
in sich übereinstimmende Gruppe von Beweisen herbeigeschaftt,
kann nicht ein durch das gewichtigste Beweismaterial unter-
stütztes Gesamtbild hergestellt werden, so wird auch eine Ver-
urteilung nicht herbeizuführen sein.
Die Superiorität, welche, wie ich gesagt habe, nach
dem Gesetz der primären, ım Verhältnis zur sekundären
Aussage zukommt, macht es in hohem Maße bedauerlich, dass
praktisch die primäre Aussage so völlig in den Hintergrund
tritt. 1) Praktisch haben wir eigentlich eine primäre Aussage über-
haupt nicht: denn schon die erste Aussage, welche ja leider
gewöhnlich vor einem Polizeibeamten oder Gendarmen ge-
schieht, trennt die spontan gemachten Angaben nicht von den
abgefragten. Bis zur Hauptverhandlung haben wir dann noch
eine, vielleicht auch mehrere gerichtliche Zwischenverneh-
mungen. Letztere dienen ja glücklicherweise bei den enormen
Zwisschenräumen, welche nicht selten in Schwurgerichtsfällen,
aber auch in einer überaus bedeutenden Zahl von Strafkammer-
fällen, zwischen der Tat und deren Aburteilung liegen, wieder
dazu, den Gedächtnisstoff bei dem Zeugen warm zu halten,
und ermöglichen mit Hilfe der so oft abgefragten Protokolle
wenigstens festzustellen, was der Zeuge bei früheren sekun-
dären Vernehmungen gewusst hat. Allein es sollte bei einer
Strafprozessreform nicht versäumt werden, auf Mittel und Wege
zu denken, welche die erste Vernehmung durch einen Richter
und in dieser die Trennung der spontan gemachten Angaben
von den sekundären ermöglichen würden. Ob in letzter Be-
ziehung die von verschiedenen Seiten, auch von dem Herrn
Vorredner befürwortete stenographische Aufnahme nicht das
Material zu sehr ins Breite anschwellen lassen würde, wäre
übrigens sehr zu erwägen.
Dass die erste Vernehmung, wofür nach obigen Aus-
führungen unbedingt die Beeidigung, bezw. die feier-
1) Vgl. hierzu Schneickert, in den „Beiträgen“, 1. Folge, Heft 4,
Ss. 1 ff.
== ss
liche Wahrheitsversicherung!), die Regel zu bilden
hätte, in möglichster Zeitnähe hinter der Wahrnehmung
liegen müsste, ist eine weitere Lehre, welche uns die exakte
Forschung in gebieterischer Weise nahelegt, indem sie beweist,
in welch hohem Maße durch den Zeitablauf die Zuverlässig-
keit der Erinnerungsaussagen abnimmt. Auch setzt, wie
Stern nachgewiesen hat, das frische Erinnerungsbild den
Suggestivfragen einen grösseren Widerstand entgegen als das
verblasste.
Was nun den Zeugen im höchsten Grad zur Anspannung
seiner geistigen Tätigkeit im Gebiet der Erinnerung anspornen
muss, das ist das hohe Verantwortlichkeitsgefühl, das die
staatliche Ordnung von jedem in Rechtssachen Aussagenden
verlangt und das sie durch die Nötigung, das abzulegende
Zeugnis durch eine Anrufung Gottes zu bekräftigen, in denk-
bar wirksamster Weise steigert. Allein wenn das Reichs-
gericht einmal?) den denkwürdigen Satz ausgesprochen hat:
„Durch blosse Willensanstrengung kann das Gedächtnis
nicht dazu gebracht werden, richtig zu funktionieren“,
so gilt dies auch von der durch den Eid bekräftigten Aus-
sage. Auch der Eid kann das Unmögliche nicht möglich machen,
und der Richter wird wohl daran tun, dies nicht aus dem
Auge zu lassen. Ob übrigens das Pressionsmittel der religiösen
Gewissensbelastung zu Zwecken der staatlichen Rechtspflege
nicht durch eine feierliche Wahrheitsversicherung mit even-
tuellen Straffolgen ersetzt werden sollte, das ist eine Frage,
der ganz gewiss mit der Zeit von immer weiteren Kreisen
diejenige Sympathie entgegengebracht werden wird, die sie
nach meiner Anschauung voll verdient.) Der etwa entstehende
Ausfall wird leichter verschmerzt werden können, wenn die
Strafprozessreform die längst so schmerzlich empfundene Lücke
der Straflosigkeit der nichteidlichen Lüge vor Ge-
richt durch eine Strafnorm auszufüllen in der Lage wäre.
1) S. unten.
2) Entsch. in Strafsachen. Bd. 22, S. 298.
5) Es kann auf die überzeugenden Ausführungen von Kade, der
Eid und das Recht auf Wahrheit, Berlin, Heymann, 1895, verwiesen werden;
s. auch Kahl, in der „Deutschen Juristenzeitung", 1903, S. 339; Kade
das. 1902, S. 195.
e TR. a
Neben dem durch den Eid gesteigerten Verantwortlich-
keitsgefühl wirkt auf das Zeugnis belebend ein die durch die
Hauptverhandlung gesteigerte Phantasie des Zeugen. Durch
die Anwesenheit des Angeklagten und der sonst beteiligten
Personen, durch die Besichtigung der Augenscheinsobjekte wird
der Zeuge geistig in das Milieu, in welchem sich die Straftat
vollzog, zurückversetzt und es wird hierdurch sein Gedächtnis
in wirksamer Weise angeregt. Vor Suggestion soll ihn die
Vorschrift, dass er der Vernehmung des Angeklagten und der
vor ihm abzuhörenden Zeugen nicht anwohnen darf, vor Ein-
schüchterung durch den Angeklagten soll ihn die Bestimmung
schützen, dass wenn dies notwendig erscheint, der Angeklagte
während der Vernehmung aus dem Sitzungssaal entfernt
werden kann (St. P. O. §§ 58 Abs. 1, 246; Z. P. O. $ 394).
Als stórende Momente kommen dagegen in Betracht, auf der
einen Seite die leicht sich einstellende Befangenheit und Ver-
wirrtheit, auf der andern Seite Eitelkeit und Wichtigtuerel.
Sehr häufig ist ja, namentlich wenn die Verhandlung öffentlich
ist, die Erscheinung, dass Zeugen durch die Wichtigkeit des
Augenblicks und des Gegenstands, durch das Bewusstsein der
ihnen obliegenden Verantwortlichkeit, durch die ungewohnte
äussere Umgebung und das Gefühl des Exponiertseins, endlich
auch oft durch ihre eigene Unbeholfenheit im Sprechen und
in der Wiedergabe ihres Erinnerungsschatzes in einen Zustand
der Verlegenheit und Verwirrung geraten, welcher auf ihre
Fähigkeit, die Erinnerung richtig wieder herzustellen und sie
mitzuteilen, von der schädlichsten Wirkung ist. Da heisst es,
mit Ruhe und Besonnenheit den Zeugen allmählich in den
richtigen Gang zu setzen. Dass solche Zeugen der Suggestion
durch Fragestellung überaus leicht zugänglich sein werden,
darf nicht aus dem Auge gelassen und das überhaupt nicht
unbedenkliche, m. A. n. am besten ganz zu beseitigende!) Kreuz-
verhör (St. P. O. $$ 238, 240, Z. P. O. $ 397) muss in solchen
Fällen genau überwacht werden. Andrerseits fühlen sich nur
zu leicht die Leute als im Mittelpunkt des Interesses stehend,
sie glauben sich blossgestellt, wenn sie nicht alle Fragen be-
!) so auch Schneickert a. a. O. S. 25, S. 43, Ziff. V.
Or ae
antworten, haben wohl auch in Strafsachen das Bediirfnis, der
vergeltenden Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen, wenn nicht
persönliche Interessen sie auf die Seite des Angeklagten hin-
ziehen. Bei diesem Punkt hört aber auch die Möglichkeit
experimenteller Forschung auf, hier bleibt bei der Wahrschein-
hchkeitsrechnung, welche das Gesetz von ihm verlangt, der
Richter für alle Zeit auf einen höchst unsichern Faktor, auf
seine eigene, jenseits jeder Theorie stehende Menschenkenntniss,
angewiesen.
Obwohl ich Ihre Geduld schon zu lange in Anspruch
genommen habe, ist dasjenige, was über mein Thema zu
sagen wäre, noch lange nicht erschöpft. Zunächst wäre es
interessant zu erörtern, ob unsere Vorfahren, sofern sie in
ihren gesetztlichen Beweisregeln für den Zeugenbeweis ein ge-
wisses Minimum, nämlich für die Regel das Erfordernis zweier
Zeugen aufstellten, nicht doch richtiger gehandelt haben, als
wir Enkel es gewöhnlich anzuerkennen geneigt sind. Noch
vieles wäre sodann zu erwähnen über die Aussage von Kindern,
über das Verhältnis der Zuverlässigkeit der Aussage der Frau
zu derjenigen des Mannes, über die Zuverlässigkeit von Schätz-
ungen, über die Erziehung der Menschen zur richtigen Wahr-
nehmung und richtigen Aussage, über die Notwendigkeit der
psychologischen Vorbildung der Richter, über Reformatorisches
im Gebiet des Prozesses.) Auch wäre manches zu sagen über
die Frage, ob und welche Fehler bei den Experimenten vor-
kommen können und ohne Zweifel vorgekommen sind — ge-
rade der erste Stern’sche Versuch ist sowohl von Hans
Gross als von Wreschner sehr kritisch beurteilt worden.
Man wird wohl auch die Frage aufwerfen dürfen, ob demn
diese Versuche mit ihrer Scheinwirklichkeit überhaupt einen
Rückschluss auf die richterliche Urteilsfindung zulassen, was
von . Berufsjuristen schon verneint worden ist. Allein wenn
Wreschner uns sagt, dass das aufsehenerregende Ergebnis
der Stern’schen Versuche für den psychologisch gebildeten
Fachmann überhaupt kein Novum war, so genügt schon dies
vollständig, um auch für die Rechtsprechung die Notwendig-
3) Za allen diesen Fragen findet sich Material in den oben S. 55 in.
der Note erwähnten „Beiträgen.“
zs IL a
keit zu begründen, sich mit den Ergebnissen der Aussage-
forschung zu befassen und mitzutun bei der Arbeit, Erfah-
rungen auf diesem Gebiet zu sammeln und die gewonnenen
Erfahrungen zu sichten. Darauf, 'ob die seither berechneten
Prozentsätze der fehlerhaften Aussage richtig sind, kommt es
zunächst nicht an. Darum, dass 11% derjenigen beeideten
Aussagen, auf welchen gerichtliche Entscheidungen beruhen,
unrichtig sind, wird es sich gewiss nicht handeln können. Vor
Gericht spielt doch die Trennung in wesentliche und unwesent-
liche Tatsachen eine ganz andere Rolle, als z. B. bei der Be-
trachtung eines Bildes, und die Prüfung, ob eine Aussage
durch eine andere oder durch begleitende Umstände unter-
stützt wird, ist in ganz anderer Weise möglich als im Experi-
ment. Bei einem Versuch hat sich übrigens durch Vorlage
der teilweise fehlerhaften Berichte an einen Schiedsrichter
positiv ergeben, dass dieser eine — von Nebensächlichem
abgesehen — zutreffende Beurteilung zu geben imstande 'war!),
und mit dieser erfreulichen Note lassen Sie mich schliessen.
Ich für meine Person hege die feste Überzeugung, dass
die weitere Erforschung der Probleme, welche die Psychologie
der Aussage in sich schliesst, von grossem Nutzen und mit
der Zeit auch von praktischer Bedeutung für die Rechtspflege
sein wird. Ist einmal alles, was die Zeugen sagen, nach den
Regeln der Psychologie sorgfältig geprüft und zurechtgelegt,
‚so werden — wie Hans Gross?) treffend sagt — die Zeugen-
aussagen nicht nur nicht entwertet, sondern in ihrer Bedeutung,
Sicherheit und Verwendbarkeit um das Vielfache erhöht sein.
Und so begrüssen wir dankbar die Aussicht, es werde die
Wissenschaft in eine Abteilung unseres Arbeitsfeldes, worin
bisher Dunkel herrschte, Licht und positive Erkenntnis bringen.
—
1) Beiträge, 1. Folge, 4. Heft, S. 56—59.
?) (Goltdammer’s) Archiv für Strafrecht und Strafprozess. 49. Jahr-
gang, S. 187.
Die Berechtigung der Vernichtung des kindlichen
Lebens mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der
Mutter.
Von
Dr. Reinhold Krauss-Kennenburg.
Die innigen Wechselbeziehungen zwischen Zentralnerven-
system und Sexualsystem bei der Frau auch im Verlauf des
physiologischen Geschehens sind allgemein bekannt. Häufig
genug kann der Praktiker die Erfahrung machen, wie sehr bei
Erkrankung eines dieser Systeme auch das andere in Mit-
leidenschaft gezogen wird. Im Bedürfnis nach Abhilfe ist die
Messerfreudigkeit mancher Operateure besonders auf amerika-
nischem Boden soweit gegangen, sogar ganz gesunde weibliche
Fortpflanzungsorgane auszuschalten, wie sie glaubten, zu
Gunsten des erkrankten Gehirns. Ihre Erfolge ermutigen uns
nicht, ihnen auf diesen Bahnen zu folgen. Immerhin bringt
aber jede Schwangerschaft im Organismus der Frau eine der-
artige Umwälzung hervor, dass wir uns nicht wundern können,
wenn das Zentralnervensystem von dieser mitbetroffen wird,
dass vollends ein Gehirn, dessen Rüstigkeit und Widerstands-
fähigkeit nicht unversehrt ist, den Ansprüchen nicht mehr zu ge-
nügen vermag, die in dieser an dasselbe gestellt werden, dass
eine schlummernde geistige Krankheit zu Tage tritt, eine be-
stehende sich verschlimmert. So kommt es, dass wir uns vor
die Frage gestellt sehen können, ob es nicht geboten sei, im
Interesse der Mutter die Schwangerschaft zu einer Zeit zu
unterbrechen, in der das Kind noch nicht lebensfähig ist, vor
der 28. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt einzuleiten.
— 80 —
Diese ärztliche Maßnahme wird jedoch verboten durch die
§§ 218 und 220 des Strafgesetzbuches mit folgendem Wortlaut:
§ 218. „Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich
abtreibt, oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu
fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden,
so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 6 Monaten ein.
Dieselben Strafvorschriften finden auch Anwendung auf
denjenigen, welcher mit Einwilligung der Schwangeren dic
Mittel zu der Abtreibung und Tötung bei ihr angewendet oder
ihr beigebracht hat.
S 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne
deren Wissen und Willen vorsätzlich abtreibt, oder tötet, wir
mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft.
Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verur-
sacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren
oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.“
Der Inhalt dieser Paragraphen verbietet an und für sich
den Eingriff, den ich eben erwähnt habe, ganz allgemein und
ohne alle Einschränkung. Es hat sich jedoch im Laufe der
zweiten Hälfte des letzten. Jahrhunderts gegen religiöse, ınora-
lische und strafrechtliche Bedenken, wesentlich unterstützt
durch die glänzende Technik neuzeitlicher Geburtshilfe, die An-
sicht durchgerungen, dass der Arzt berechtigt sei, das keimende
Leben eines Kindes zu opfern, wenn bei bestehender Krankheit
der Mutter das Leben dieser auf andere Weise nicht zu retten
ist.
Die Rechtssprechung der neueren Zeit ist diesem Stand-
punkt beigetreten. Der Herr Korreferent wird Ihnen des
näheren ausführen, in welcher Weise ihr dies möglich ist. Tech
selbst möchte mich fürs erste darauf beschränken, die Frage
zu beantworten: „gibt es Formen von Gersteskrankheiten, die
durch Schwangerschaft bedingt, für die Mutter einen so ver-
hängnisvollen Verlauf nehmen, dass wir zu ihrer Rettung ge-
zwungen sind, die Schwangerschaft zu unterbrechen?“
Die Krankheiten, die ich zuerst nennen möchte, bewegen
sich auf dem Grenzgebiete zwischen Geistes- und Nervenkrank-
heiten. Als erste” das unstillbare Erbrechen der Schwangeren.
Diese eigentümliche Neurose, die in der Schwangerschaft, sei
=s Bd Es
es auf mechanische Weise, sei es durch Stoffwechselvorgänge,
ausgelóst wird, bringt die Kranken dadurch an den Rand des
Verderbens, dass der Magen nichts mehr aufnimmt und so
schwerste Ernährungsstörungen eintreten. Wir werden in
solchen Fällen alle Mittel neuzeitlicher Ernährungsheilkunst
anwenden, die Kranken gegebenenfalls aus ihren Verhältnissen
entfernen, das krankgewordene Vorstellungsleben in richtige
Bahnen zu lenken versuchen, aber in schwersten Fällen wird,
mit Olshausen zu reden „die Einleitung des künstlichen
Abortes nicht zu umgehen sein, wenn man die Frau nicht
sterben lassen will“; er fährt fort: „man hat sich jedenfalls
davor zu hüten, den Abort nicht erst an der Sterbenden ein-
zuleiten“.
~ Auch die eigentliche Hysterie, wie Prof. Valenta') einen
Fall beschrieben hat, kann uns zwingen, aus psychopatho-
logischen Gründen einen Abort einzuleiten. Eine hereditär
belastete junge Frau wurde, schwanger geworden, schwer nervös,
hatte heftige Herzkrämpfe, Schlingbeschwerden, Atemnot,
Todesangst, obne zu wissen wovor, schliesslich trat häufig Be-
wusstlosigkeit mit darauffolgenden Kopfschmerzen, Mattigkeit,
grosse Schwäche, Ekel vor allem, insbesondere vor dem
Manne, auf. Als ihr vollends die Tatsache, dass sie schwanger
sei, bewusst wurde, stellten sich sehr gehäufte hysterische
Krämpfe schwerster Art ein, die mit Bewusstlosigkeit und
Delirien endigten. Dabei magerte die Kranke sichtlich mehr und
ab, wurde immer mehr launenhaft, mürrisch und verstimmt,
und verlangte dringend die Einleitung des Abortes. Diese
wurde nach einer Beratung mit dem bekannten Irrenarzt Frei-
herrn von Krafft-Ebing abgelehnt. Als jedoch alle Heil-
maßnahmen fehlschlugen, die geschilderten Krankheitserschein-
ungen sich in das Leben bedrohender Weise steigerten, insbe-
sondere die Kräfte der Kranken, trotz leidlicher Nahrungsauf-
nahme überstürzt abnalımen, entschlossen sich nach weiteren
vier Wochen die genannten Herren zur Einleitung der Fehl-
geburt: „Da die Kranke“, wie es in der angeführten Arbeit
beisst, „physisch und moralisch nicht im Stande sein würde
1) Archiv für Gynäkologie, 95 Bd.
— 82 —
die Schwangerschaft durchzumachen, da sie Selbstmordgedanken
hege und da ohnedies ob dieser Krampfanfälle ein Abortus
drohe und kaum zu vermeiden sein dürfte, so meinten sie, sei
ihr der zur fixen Idee gewordene Wunsch nach alsbaldiger Durch-
führung des Abortes zu erfüllen.“ Die Kranke war von dem
Augenblick an gesund, als sie die Wirkung des erfolgten Ein-
griffes spürte und blieb es auch; ihr Charakter wurde freilich
pathetisch und sie liess sich wegen unwiderstehlicher Ab-
neigung von ihrem Manne scheiden, den sie aus Neigung ge-
heiratet hatte.
Ich glaubte Ihnen diesen Fall etwas ausführlicher dar-
stellen zu müssen. Es kann mir gewiss nichts ferner liegen,
als eine Hysterika, die die psychischen und körperlichen Un-
bequemlichkeiten einer Schwangerschaft nicht durchmachen
mag, durch die Aussicht auf die Einleitung einer Fehlgeburt,
in ihrer krankhaften Willensschwäche zu stützen, ich bin im
Gegenteil der Meinung, dass wir kein psychisches und körper-
liches Heilmittel unversucht lassen dürfen, um einen derartigen
Ausgang zu vermeiden. Aber wir sehen, dass es selbst der
Verbindung von zwei so hervorragenden Ärzten, wie Valenta
und v. Krafft-Ebing nicht gelungen ist, ein durch die
Schwangerschaft krankhaft verändertes Vorstellungsleben in
einer Weise zu beeinflussen, dass der natürliche Gang der
Schwangerschaft möglich gewesen wäre. Wir können in er-
freulicher Weise sehr seltenen Fällen von Hysterie, wenn alle
anderen Mittel fehlgeschlagen haben, in die Zwangslage ver-
setzt werden, das lebende Kind zu opfern, um die Mutter am
Leben zu erhalten.
Eine weitere Indikation für die Einleitung der Fehlgeburt
kann die Epilepsie bilden.
Wenn ich hier den Angaben in der Arbeit von Nerlinger!)
folgen darf, so finden wir bei einem Teil der dort beschriebenen
Kranken, etwa 21%, ein Aussetzen der Anfälle in der
Schwangerschaft, in etwa 24% war die Zahl der Anfälle
1) Nerlinger: „ÜberEpilepsie und das Fortpflanzungsgeschäft des
Weibes in ihren gegenseitigen Beziehungen. Heidelberg, Winter 1889.
Bellinger: Epilepsie bei Kreisenden und Wöchnerinnen. Marburg 1887.
— 83 —
schwankend, in 1% die Zahl der Anfälle gleich gross im Ver-
háltnis zu der nicht schwangeren Zeit, bei 36% traten sie
in der Schwangerschaft häufiger und schwerer auf, oder beides
zugleich. Die Häufigkeit und Schwere der Anfälle kann, wie
auch Bellinger beschreibt, zu eigentlicher Geisteskrankheit,
beziehungsweise zu rascher Verblödung führen. In Fällen nun,
bei denen diese Neigung zu befürchten steht, bereits bei Erst-
gebärenden, insbesondere aber bei Mehrgebärenden, bei denen
der im Einzelfall charakteristische Verlauf früherer Schwanger-
schaften, eine weitere schwere psychische Schädigung der
Mutter bereits vorhandener Kinder mit ziemlicher Sicherheit
annehmen lässt, werden wir nicht umhin können, das erst
werdende Leben zu opfern, um den geistigen Bestand der
Mutter zu retten, den bereits vorhandenen Kindern ihre. Für-
sorgerin zu erhalten. |
Die Chorea gravidarum , der Veitstanz der Schwangeren,
tritt bei solchen Frauen, die früher einmal an Veitstanz ge-
litten haben, aber auch ohne diese Vorvergangenheit in der
überwiegenden Mehrzahl bei Erstgeschwängerten auf. Die
. Haupterscheinungen der Krankheit bestehen in Muskelunruhe
und Störungen des Gleichgewichtes der Bewegungen. Diese
Erscheinungen können sich soweit steigern, dass die Kranken
bei beabsichtigten Bewegungen oder sonst bei ganz gering-
fügigen Anlässen von morgens bis abends hin- und herge-
schleudert werden, so dass sie oft mit Gewalt bis zum Ein-
tritt des Schlafes festgehalten werden müssen. Ich will sie
nicht weiter mit der Aufzählung all der vorkommenden sonstigen
Erscheinungen von seiten des Nervensystems aufhalten. Be-
sonders bei gleichzeitigem Vorhandensein von sonstigen be-
stehenden oder erworbenen körperlichen Krankheiten nimmt
die Chorea einen so verhängnisvollen Verlauf, dass wir eine
Sterblichkeitshóhe von 23,6% der Mütter zu beklagen haben,
während die Zahl der totgeborenen oder mit der Mutter ge-
storbenen Früchte gar die Höhe von 40,7% erreicht. Da die
Erfahrung gelehrt hat, dass die Erkrankung so gut wie immer
ihr Ende findet mit Ausstossung der Frucht, so ist in Anbe-
tracht der hohen Gefahren für Mutter und Kind die Mehrzahl
der Forscher der Meinung geworden, dass es angezeigt sei,
6x*
zun IB: a
die Schwangerschaft zu unterbrechen, wenn die Krankheit trotz
angewandter Mittel stärkere Grade erreicht, insbesondere wenn
sie vergesellschaftet ist mit weiteren krankhaften Zuständen
schwererer Form. Zu den schwersten dieser Art gehört der Aus-
bruch einer eigentlichen Geisteskrankheit, einer melancholischen
Depression, manischer Zustände, Delirien mit lebhaften Sinnes-
täuschungen.
Da in solchen Fällen die Aussichten, Mutter sowohl wie
Kind ohne den Eingriff durchzubringen. auf ein Mindestmaß
herabgedrückt sind, sehen wir uns genötigt, ihn vorzunehmen,
so lange wir hoffen können, wenigstens das Leben der Mutter
noch zu retten.
Die seither angeführten Krankheiten sind, wenn man so
will, Nervenkrankheiten, welche die Schwere des Verlaufes
durch Schwangerschaft bedingt, in das Lager der Geisteskrank-
heiten übergeführt hat. Für Geisteskrankheiten im eigentlichen
Sinne ist das Recht zu dem in Rede stehenden Eingriffe nach
den bisherigen Veröffentlichungen bislang nur für die Melan-
cholie in Anspruch genommen worden und zwar von Jolly
auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in
Hamburg 1901.!) Jolly hatte solche Fälle von Melancholie
im Auge, wie ich einem Berichte des Zentralblattes für Nerven-
heilkunde und Psychiatrie entnehme, die sich bei neuropathischen
Frauen in den ersten Monaten einer Schwangerschaft ent-
wickeln, die in der Mehrzahl der Fälle günstig verlaufen,
manchmal aber in delirante Erregung, selbst in delirium acu-
tum übergehen können; er fügte hinzu, dass sich andererseits
auch katatone Symptome hinzugesellen können. Als patho-
genetisches Symptom von grosser Wichtigkeit führt er die
Angst vor dem Verlauf der Schwangerschaft an. Er konnte berich-
ten, dass in allen seinen Fällen Heilung eingetreten sei. Jolly
sah einen Vorteil der Einleitung des Arbortes auch darin, dass
die durch Selbstmordgefahr notwendig gemachte, aber häufig
schwer durchzuführende Unterbringung in eine Anstalt über-
flüssig gemacht wird, zumal die Anstaltsbehandlung die Mög-
lichkeit des Selbstmordes auch nicht völlig ausschliesse und es
immerhin möglich wäre, dass ohne Einleitung des Abortes die
1) 1901.. S. 685.
— 85 —
Psychose sich weiter entwickelte zu einem Delirium acutum
ader einer Demenz. Ganz neuerdings ist auch der Professor
der Psychiatrie Pick in Prag für die Indikation Jollys ein-
getreten. Der Erfolg in seinen Fällen scheint diesem ja auch
Recht gegeben zu haben. Ich kann über eine Erfahrung, wie
er, nicht verfügen, aber ich möchte doch betonen, eine gemüt-
hche Verstimmung, auch bis an Lebensüberdruss reichend, für
die Zeit der ersten Monate der Schwangerschaft liegt in den
Grenzen des physiologischen Erlebens auch bei Frauen mit
sonst ganz unversehrtem Gehirn, zumal wenn die Schwanger-
schaften rasch hintereinander gefolgt sind. Wir werden also
in der Stellung gerade dieser Indikation besonders vorsichtig
sein müssen und sie auch in diesem Falle erst als erbracht an-
sehen können, wenn wir alle anderen Heilmethoden vorher
versucht haben. Zu den Heilmethoden dieses besonderen
Falles gehört aber nun eben einmal, zumal bei selbstgefähr-
lichen Kranken, die Irrenanstalt, die in neuzeitlichem Sinne
eingerichtet, denn doch tatsächlich die Möglichkeit bieten dürfte,
die Selbstmordgefahr auf das menschenmöglich niedrige Maß
herabzudrücken. Ich meine dieses Mittel müsste unter allen
Umständen benutzt werden, ehe wir uns zu einem so
schwerwiegenden Eingriff verständen. Erst wenn die Be-
obachtung in der Anstalt unsere Diagnose der Krankheit ge-
festigt und gesichert und der Verlauf derselben weiterhin er-
geben hat, dass eine andere Rettung für die Mutter nicht
übrig bleibt, möchte ich mich berechtigt fühlen, eine Fehl-
geburt einzuleiten.
Dies sind im Ganzen die einzigen Indikationen, die ich
für die Berechtigung zur Einleitung einer Fehlgeburt bei
Geisteskrankheit der Mutter aufstellen und vertreten möchte.
Bei der ganzen grossen Gruppe der im zeugungsfähigen Alter
sich abspielenden Verblödungsprozesse, wird es ja wohl häufig
genug der Fall sein, dass sich der psychische Zustand einer
Frau, die in einem mehr oder weniger tief gehenden Nachlass
ihrer Krankheit schwanger geworden ist, wesentlich ver-
schlimmert, es wird auch ab und zu vorkommen, dass bei
einem nicht rüstigen Gehirn die Schwangerschaft den letzten
Anstoss zum Ausbruch einer solchen Krankheit gibt, aber wir
Ls O.
kónnen wohl kaum annehmen, dass in diesen Fállen der patho-
logisch anatomische Vorgang, der im Gehirn abläuft, durch
die Unterbrechung der Schwangerschaft irgendwie wesentlich
beeinflusst wird. Die Geisteskrankheit ist in vielen solcher
Fälle gewiss eine schwere Komplikation der Schwangerschaft,
aber eine Gefahr für das Leben der Mutter liegt nur in den
jedenfalls ausserordentlich seltenen Fällen vor, wo sich krank-
hafte Triebhandlungen derselben gegen das werdende Kind
richten. Nur in diesen wenigsten Fällen werden wir ein Recht
haben, die Schwangerschaft zu unterbrechen.
Der Widerstreit der verschiedensten Interessen, in den
wir verwickelt werden, wenn die in Behandlung stehende Frage
an uns herantritt, legt uns in jedem einzelnen Falle die Pflicht
ganz besonderer Sorgfalt und Individualisierung auf, wir können
deshalb nur dem Rate folgen, dem wir stets bei diesem Thoma
begegnen, zu dieser ultima ratio nur zu schreiten, nach Be-
ratung und Übereinstimmung mit einer Mehrzahl von Ärzten.
Nicht zu versäumen wird fernerhin sein, dass wir uns der
schriftlichen Zustimmung der gesetzlichen Vertreter der Mutter
sowohl wie des Kindes versichern, geschieht doch der ärztliche
Eingriff gegen ein Lebewesen, das keinen Willen hat und auch
die Mutter befindet sich zur Zeit, in der der Eingriff an ihr
vorgenommen werden soll, in einem Zustand, der ihre freie
Willensbestimmung ausschliesst.
Wir haben seither die Berechtigung zur Vernichtung des
kindlichen Lebens bei Geisteskrankheit der Mutter lediglich
behandelt mit Rücksicht auf die Mutter. Nicht so selten wird
aber auch die Frage laut, ob es nicht berechtigt sei, den
Keim eines Lebens zu ersticken, der zugleich der Keim sein
soll all des Unglückes, das durch die hereditäre Belastung mit
Geisteskrankheit über den Träger derselben und seine ganze
Familie hereinzubrechen vermag, eines Unglückes, das, kurz
gesagt, im weitesten Sinne die ganze Rasse, das ganze Volk in
Mitleidenschaft zieht. Ich will hier nicht das ganze Thema
der Degeneration durch Geisteskrankheit aufrollen, aber ich
glaube doch, ehe wir eine derartig radikale Prophylaxe gegen
den erst werdenden Träger einer zukünftigen Krankheit be-
treiben können, werden wir uns erst mit einiger Sicherheit
u BT eh
darüber klar sein müssen, was wir von ihm zu erwarten haben,
wenn er am Leben bleibt. Ginge es allgemein nach dem be-
kannten Beispiel von Morel, bei dem von einem ursprünglich
sehr begabten hypochondrischen, später geisteskrank ge-
wordenen Vater und einer nervösen Mutter eine zweite Gene-
ration von 10 Kindern stammt, von denen 3 in frühem Alter
starben, 3 schwer nervös sind und vier geisteskrank werden,
eine dritte Generation zum Teil bereits schon fehlt, von den
17 vorhandenen Nachkommen nur 2 intelligent und normal
sind, zwei exzentrisch und wunderlich, 5 in frühem Kindes-
alter sterben und der Rest teils angeboren geisteskrank ist,
teils in schwerer Geisteskrankheit endet, eine vierte Generation
aber durchaus ausblieb, so wäre die Lage verhältnismäßig ein-
fach. Wir hätten nur zu entscheiden, wollen wir die sich
vollziehende Ausmerzung der Natur selbst überlassen, oder
sollen wir dem Schaden vorbeugen, der während dieses Pro-
zesses unsern Volkskörper hilft? Gewiss kommen derartige
Beispiele vor, insbesondere für Trinkerfamilien sind sie zahl-
reich beschrieben, sie sind der Schrecken jedes, der sie kennt,
aber Regel sind sie keinesfalls. Wir finden diesen Vorgang
nicht einmal in der überwiegenden Zahl von solchen, die
das verderbendrohende Erbe von beider Eltern Seite anzu-
treten haben. Bekanntlich schwächt sich das verhängnisvolle
Agens bei Zufuhr frischen Blutes ab und kann sich ganz ver-
lieren, es überspringt auch häufig eine Generation, um sich
erst bei einer nächsten geltend zu machen. Die Verhältnis-
zahlen der erblich Belasteten schwanken so in früheren Statis-.
tiken zwischen 4 und 90%. Diese Zahlen zeigen die unverhält-
nismäßigen grossen Unterschiede wegen der ganz verschieden weit
angenommenen Fassung des Begriffes der Heredität und ausser-
dem haftet ihnen noch der grosse Mangel an, dass sie nur die
krank gewordene Descendenz berücksichtigen, die gesund ge-
bliebenen Mitglieder derselben aber ganz ausser Acht lassen.
In den Arbeiten nun der neueren Jahre, die kurzgesagt die
ganze Ahnentafel berücksichtigen, z. B. die von Stroh-
maier') von Jenny Kohler?) finden wir das auffallend
1) Münchener medizin. Wochenschrift 1901.
2) Archiv für Psychiatrie 1895.
o RB:
Ergebnis, dass gesunde und kranke Deszendenten Verhältnis-
zahlen in gleicher oder annähernd gleicher Grösse haben, eine
Beobachtung, die der Engländer Pearson bei der Vererbung
messbarer körperlicher Verhältnisse ebenfalls gemacht hat.
Solange wir über die Gesetze der Vererbung einer bestimmten
Eigenschaft, das warum, wie, inwiefern im Einzelfalle, wir
müssen das rubig zugeben, nichts, aber auch garnichts wissen,
wird wohl Niemand den Mut finden, ein keimendes Leben zu
vernichten, das so gut wie gleiche Aussicht hat, ein nützliches
Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden, wie allerdings
mit allen Begleiterscheinungen der Geisteskrankheit ihr zur
Last zu fallen. Wollen wir, sowie die Dinge unserer heutigen
Erkenntnis über die Vererbung von Geisteskrankheit stehen,
etwas tun, um der zunehmenden Degeneration unserer Rasse
durch Geisteskrankheit vorzubeugen, die schwere Schädigung,
die unseren geistigen, sittlichen und. materiellen Wohlstand
durch dieselbe trifft, zu mildern, so können wir hier heute
wohl nicht mehr tun, als einerseits unseren Einfluss, soweit
wir überhaupt einen solchen haben, dahin geltend zu machen,
dass die Träger einer solchen Belastung tunlichst von der Hei-
rat abgehalten werden, andererseits dem Vorschlage Schüles')
folgend, die Kenntnisse unseres Wissens über die Gesetze der
Vererbung soweit zu vertiefen suchen, dass wir das Material
herbeischaffen, das vielleicht späteren Generationen ` möglich
macht, das Heiraten derartiger in volkswirtschaftlichem Sinne
dissocialer Elemente zu verbieten, eine Maßregel, die der Staat
Michigan bereits getroffen hat. Für heute aber, das darf ich
wiederholen, haben wir keinerlei Grundlage, die uns im Ernste
einen Eingriff mit Rücksicht auf die erbliche Belastung mit
Geisteskrankheit gegen ein einzelnes Individuum auch nur
billig erscheinen lassen könnte.
Ich habe Ihnen im Sinne des angeregten Themas wenig
positives vorbringen können. Aber diese Frage ist für Jeden,
den sie trifft, von bewegendster Bedeutung, stehen doch auf der
einen Seite Gesetze, welche ein Bollwerk bilden sollen für die
1) Über die Frage des Heiratens von früher Geisteskranken. Leipzig,
Hirzel 1904.
Erhaltung unseres Volkes in sittlicher Beziehung, wie in
seinem Bestande, auf der anderen Seite ein Menschenleben auf
den Spiele. So dürfte es immerhin ein Ergebnis sein, wenn wir
nach den Verhandlungen, zu denen ich die Grundlage liefern
wollte, gesicherter sein werden in dem Bewusstsein nicht nur
dessen, was wir tun dürfen, sondern auch dessen, was wir zu
lassen haben.
Uber die Berechtigung zur Vernichtung
des kindlichen Lebens im Falle einer Psychose
der Mutter.
Vortrag von
R. Teichmann.
Unter der Vernichtung des kindlichen Lebens, deren aus-
nahmsweise Berechtigung im Falle einer Geisteskrankheit der
Mutter den Gegenstand dieser Erörterung bildet, versteht die
ärztliche Wissenschaft zunächst die Unterbrechung der Schwanger-
schaft oder die Herbeiführung einer künstlichen Fehlgeburt,
d. h. die Bewirkung des Austritts der Frucht aus dem Mutterleib
in einem Zeitpunkt, in welchem die Frucht noch nicht im Stande
ist, selbständig ausserhalb des Mutterleibes ihr Leben fortzuführen.
Man setzt diesen Zeitpunkt für die Regel in die 28. Woche
der Schwangerschaft. Nach diesem Zeitpunkt hofft der Arzt
die Frucht am Leben erhalten zu können, indessen wird sich
diese Hoffnung nicht immer erfüllen und es wird auch der Arzt
zuweilen damit rechnen müssen, dass die Frucht bei verfrühtem
Austritt zu Grunde geht; insofern gehören auch diese Fälle
wenigstens möglicherweise hierher. Sicher gehört wieder hierher
die Tötung der Frucht während des Geburtsaktes, also die Per-
foration und ähnliche Operationen in denjenigen Fällen, ın
welchen die Leibesfrucht noch am Leben ist und mit der Mög-
lichkeit einer lebenden Leibesfrucht gerechnet werden muss.
In die Sprache des Strafrechts übersetzt fallen unter die
Kategorie der Vernichtung des kindlichen Lebens einmal die
Abtreibung i. S. der $$ 218—220 St. G. B. und sodann Hand-
lungen, welche die vorsätzliche Tötung des schon in der Geburt
begriffenen Kindes in sich schliessen.
sis MO] ee
In dem Falle einer Geisteskrankheit der Mutter kommt nun
von diesen verschiedenen Fällen der Vernichtung des kindlichen
Lebens praktisch die Unterbrechung der Schwangerschaft, also
juristisch gesprochen, die Abtreibung ausschliesslich in Betracht.
Dementsprechend hat auch der Herr Vorredner die Fälle einer
verhältnismäßig frühzeitigen Schwangerschaft, mithin lauter
Abtreibungsfälle, ins Auge gefasst. Für die juristische Be-
trachtung bietet indessen der Fall der Geisteskrankheit der
Mutter nicht so viel Besonderes, als dass ich nicht im Laufe
meiner Ausführungen genötigt wäre, auf dasallgemeinere Problem
einer Bedrohung des mütterlichen Organismus durch die Schwan-
gerschaft zurückzugreifen und so werden meine Ausführungen
zu einem grossen Teile auch Fälle der Tötung des Kindes in
der Geburt zum Gegenstande haben müssen.
Wie Sie den Ausführungen des Herrn Vorredners entnommen
haben, lässt sich der Frage nach der Berechtigung einer Ver- .
nichtung des kindlichen Lebens mit besonderer Rücksicht auf
eine bei der Mutter vorhandene Geisteskrankheit eine doppelte
Bedeutung beilegen. Am nächsten liegt die Frage, ob und
unter welchen Voraussetzungen zu der Vernichtung des kind-
lichen Lebens im Interesse der geisteskranken Mutter geschritten
werden darf, d. h. in der Absicht, die Gesundheit der Mutter
wiederherzustellen oder zu bessern oder die Mutter wenigstens
vor drohenden weiteren Fortschritten der Krankheit, etwa vor
einem drohenden Verblödungsprozesse, zu bewahren. Es lässt
sich aber auch die-Frage aufwerfen: darf zu der Vernichtung
des kindlichen Lebens auch geschritten werden ohne Rücksicht
auf solche gebieterische Interessen der Mutter? Man wird un-
willkürlich durch den Gegensatz dazu gedrängt zu sagen: im
Interesse des Kindes! Man denkt hierbei daran, dass ange-
sichts der Geisteskrankheit der Mutter das Kind doch zum
Mindesten erblich belastet sein wird und dass ihm vielleicht
ein ganzes in der Nacht einer schweren Psychose zuzubringendes
Leben in Aussicht steht. Nun überzeugt man sich aber sofort,
dass es nicht angeht, dem Interesse der Mutter hier dasjenige
des Kindes gegeniiberzustellen. Das Interesse des Kindes kann
es niemals erfordern, dass das eigene Leben des Kindes schon
im Mutterleibe vernichtet wird. Nur das Pathos der Leiden-
zu 709: ee
schaft konnte die Dichter zu dem Worte bringen: dass niemals
geboren zu werden das Beste wäre. Der wirkliche Gegensatz
zu dem Falle, dass das Interesse der Mutter die Vernichtung
des kindlichen Lebens fordert, könnte also nur gefunden werden
in dem allgemeinen Interesse der menschlichen Gesellschaft,
das dahin geht, nicht mit erblich belasteten oder geistig er-
krankten Individuen belastet zu werden, als in einem anthro-
pologischen, rassehygienischen, soziologischen Interesse oder
wie man sich sonst ausdrücken will. |
Es ist verständlich, dass die beiden Fälle für den ärztlichen
Betrachter nahe bei einander liegen. In dem einen wie in dem
andern Falle soll die nämliche Voraussetzung, eine Geistes-
krankheit der Mutter die Veranlassung zu dem nämlichen ärzt-
lichen Eingriff, der Vernichtung des kindlichen Lebens, abgeben.
In der ärztlichen Erfahrung kommen ja, wie allgemein bekannt
und auch von dem Herrn Vorredner an einem Beispiel dar-
gelegt worden ist, so krasse Fälle erblicher geistiger Erkrankung
vor, dass dem Arzte der Gedanke, aus Gründen der zweiten
Art eine Schwangerschaft zu unterbrechen, von Hause aus
näher liegen wird; und es wird wohl auch das nicht ausbleiben,
dass unter entsprechenden Voraussetzungen von dritter Seite
aus dem Arzt der Vorschlag einer Unterbrechung der Schwanger-
schaft nahe gelegt wird. Trotzdem muss auch der Arzt nicht
notwendig zu dem Ergebnis kommen, die Unterbrechung der
Schwangerschaft aus Gründen der zweiten Art für erlaubt zu
halten — auch der Herr Vorredner hat die Befugnis zur Ver-
pichtung kindlichen Lebens aus rassehygienischen Gründen vom
ärztlichen Standpunkt aus durchaus verneint.
Für den Juristen sind die beiden Fragen keineswegs Ab-
zweigungen aus demselben Problem. Sie sind vielmehr voll-
ständig verschieden, vollständig getrennt, sie haben gar nichts
miteinander zu tun. Ob es ärztlich, sittlich, strafrechtlich ge-
stattet ist, das Leben des Kindes zu opfern, um das Leben
oder die Gesundheit der Mutter zu retten, diese Frage hat seit
Jahrhunderten die Geister der Ärzte und der Juristen, aber
auch der Theologen und Philosophen in fortgesetzter Bewegung
gehalten und das Ergebnis dieser Bewegung ist, dass heutzu-
tage wenigstens die beiden nächstberufenen, die Ärzte und die
=> 08 uu
Juristen übereinstimmend den in Rede stehenden Angriff grund-
sätzlich für zulässig halten. Von diesem allgemeinen Problem
ist die Psychose der Mutter nur ein besonderer Anwendungs-
fall. Die Behauptung dagegen, dass es aus rassehygienischen
Gründen gestattet sei, kindliche Existenzen noch im mütterlichen
Leib zu vernichten, ist in dieser Allgemeinheit bisher meines
Wissens noch fiemals aufgestellt worden. Nur vereinzelte
Schriftsteller haben sich gelegentlich unter dem Eindruck irgend
eines besonders krassen Falles in solchen Gedankengängen
bewegt. | Ä
In alten Zeiten haben gewisse Völker, wie die Spartaner
und. die Germanen dem Vater, der Familie oder der Obrigkeit
das Recht verliehen, das neugeborene Kind auszusetzen oder
zu töten, wenn es nicht kräftig genug erschien. Aber selbst
diese Völker sind nicht so weit gegangen, wie es hier vorge-
schlagen wird, sie haben wenigstens das Kind erst zur Welt
kommen lassen, es in Augenschein genommen und dann darüber
befunden, ob das Kind am Leben zu belassen oder zu beseitigen
sel. Vom Stundpunkt des heute im deutschen Reich und wohl
in allen Kulturnationen geltenden Strafrechts aus ist die hier
in Rede stehende Massregel jedenfalls schlechthin unerlaubt
und als Verbrechen zu bestrafen. In Deutschland fällt die
Vernichtung des kindlichen, des sog. keimenden Lebens unter
die $$ 218 bis 220 des Strafgesetzbuchs und ein im Rechte
anerkannter Schuld- oder Strafausschliessungsgrund steht dem-
jenigen nicht zur Seite, der eine Leibesfrucht vernichtet, um
die menschliche Gesellschaft vor der Belastung mit einem
nicht einwandsfreien Individuum zu bewahren.
Die Verteidiger jener Maßregel müssten also eine Ände-
rung der Gesetzgebung in ihrem Sinne verlangen. Auch damit.
werden sie, fürchte ich, kein Glück haben. Die heutigen sitt-
lichen Anschauungen sind für eine solch vorgeschrittene ratio-
nelle Politik gewiss nicht reif. Wie ich später zu zeigen
haben werde, halten wir den Schutz des keimenden Lebens
für ein sittliches Gebot, ein Gebot, das an Stärke hinter dem
Schutze des vollentwickelten Menschenlebens um etwas zurück-
steht, wie sich schon äusserlich aus der Höhe der Strafandroh-
ungen ergibt, das aber im übrigen um seiner selbst willen den
— 9 —
Schutz des Rechtes geniesst. Ist der Schutz des keimenden
Lebens ein sittliches Gebot, so kann eine Verletzung dieses
Gebots aus rassehygienischen Gründen ebensowenig gerecht-
fertigt sein als ein Eingriff in das Leben oder die Gesundheit
des voll entwickelten Menschen es ist.
Auch bei der Durchführung ihres gesetzgeberischen Ge-
dankens würden die Anhänger jener vorgeschrittenen Theorie
auf nicht wenig Schwierigkeiten stossen. Um folgerichtig zu
sein, müssten sie den Schutz der Rasse oder der Gesellschaft
auch entgegen dem privaten Willen der nächstberufenen Be-
teiligten durchschlagend sein lassen, d. h. sie müssten die
Leibesfrucht, deren erbliche Belastung zu befürchten ist, auch
gegen den Widerspruch der Mutter oder des etwaigen ehe-
lichen Vaters vernichten. Sie müssten also im Notfall an der
widerstrebenden und noch dazu kranken Schwangeren den
Eingriff vornehmen. Auch die Gegner werden sich dem nicht
verschliessen können, dass dieses Ergebnis mit den heutigen
sittlichen und rechtlichen Anschauungen nicht vereinbar ist.
Weiter würde der Vorschlag der extremen Rassehygieniker zu
gefährlichen weiteren Folgen führen. Warum soll nur die
Psychose der Mutter und die zu erwartende Belastung des
Kindes mit der Anlage zu geistiger Erkrankung den Recht-
fertigungsgrund für die Vernichtung des kindlichen Lebens ab-
geben? Auch andere Erkrankungen sind in der Anlage ver-
erblich und in ihren Wirkungen nicht weniger gefährlich für
den Einzelnen wie für die Gesellschaft und die Rasse. Bereits
haben die Schriftsteller, welche gelegentlich solchen Gedanken-
gängen gefolgt sind, neben der Psychose auch die Phthise und
die Syphilis genannt und es werden sich wohl noch andere
Krankheiten finden lassen, welche das nämliche Ergebnis recht-
fertigen würden. Warum endlich soll der gesetzgeberische
Vorschlag auf Krankheiten des Körpers oder des Geistes be-
schränkt werden? Auch abgesehen von Krankheitsfällen gibt
es soziale Milieus, welche für den Nachwuchs nichts Günstiges
erhoffen lassen. Gewohnheitsverbrecher, Gewohnheitstrinker
werden gleichfalls schlechte Erzieher ihrer Kinder sein. Ins-
besondere der Nachwuchs einer alkoholistischen Mutter ist so
— 95 —
gefährdet, dass von dem hier bekämpften Standpunkt aus die
mehrgenannte Maßregel gleichfalls in Frage kommen müsste.
Ich glaube damit diesen einen Teil meines Gegenstandes
abschliessen zu können. Dass im Falle einer Geisteskrankheit
der Mutter das kindliche Leben auch aus andern Gründen
preisgegeben werden dürfe als zu dem Zweck der Heilung
oder Besserung der Mutter, diese Behauptung ist von dem
Standpunkt des geltenden Rechts aus nicht richtig, vom Stand-
punkt des zukünftigen Gesetzgebers aus nicht annehmbar.
= Iich darf nun zu der Frage übergehen: ob und unter
welchen Voraussetzungen das Interesse der Mutter die Preis-
gebung des kindlichen Lebens rechtfertigt. Schon der Herr
Vorredner hat Ihnen den Wortlaut der $$ 218 bis 220 St. G. B.
in Erinnerung zurückgerufen. Zur Klarstellung des Sach-
standes glaube aber auch ich mit einigen Worten auf den In-
halt des heute in Deutschland geltenden Rechtes eingehen
zu sollen. Das Strafgesetzbuch gewährt dem kindlichen oder
keimenden Leben, dem empfangenen aber noch nicht geborenen
menschlichen Organismus einen besonderen strafrechtlichen
Schutz. Die Materie ist geordnet in demjenigen Abschnitt des
Strafgesetzbuchs, welcher die Überschrift trägt: Verbrechen
und Vergehen wider das Leben. Die dort mit Strafe bedrohte
Tat pflegen wir als Abtreibung der Leibesfrucht zu bezeichnen.
Der Gesetzgeber zerlegt die äussere Handlung in zwei sprach-
liche Bezeichnungen. Er bedroht mit Strafe denjenigen, der
die Leibesfrucht einer schwangeren Frauensperson vorsätzlich
abtreibt oder im Mutterleibe tötet. Nach der herrschenden
und zweifellos richtigen Meinung haben aber beide Bezeich-
nungen eine und dieselbe Tat im Auge. Sie ergeben zusammen-
gehalten den allgemeinen übergeordneten Begriff: wer die
Leibesfrucht einer Schwangeren vorsätzlich tötet, sei es durch
vorzeitige Herbeiführung des Abgangs der Frucht aus dem
Mutterleib, sei es auf andere Weise. Vereinzelt haben ältere
Rechtslehrer eine abweichende Meinung vertreten, nämlich
gelehrt: die vorzeitige Herbeiführung des Abgangs der Frucht
aus dem Mutterleibe sei schon als solche, mithin auch dann
strafbar, wenn der Täter nicht von der Absicht der Tötung
der Frucht, sondern etwa von der Absicht geleitet war, die
za 66 ==
Geburt nur zu verfrühen, z. B. um das Kind noch als ein ehe-
liches erscheinen zu lassen. Diese Meinung ist heutzutage
allgemein verworfen, jedenfalls scheidet sie für den Gegen-
stand der heutigen Betrachtung aus. Denn heute soll ja aus-
schliesslich von solchen Eingriffen die Rede sein, welche die
Vernichtung des kindlichen Lebens bezwecken.
Über die äussere Seite der Tat spricht sich das Strafgesetz-
buch nicht weiter aus. Es unterscheidet nur nach der Seite
der Täterschaft.e. Der Schwangeren selbst, die ihre Frucht
vorsätzlich abtreibt, stellt es in der Bestrafung denjenigen
gleich, welcher der Schwangeren mit ihrer Einwilligung die
Mittel zu der Abtreibung beigebracht oder bei ihr angewendet
hat, $ 218. Strenger bedroht es denjenigen, welcher gegen
Entgelt die Mittel bei der Schwangeren angewendet, ihr bei-
gebracht oder auch nur ihr verschafft hat, § 219. Besonders
strenge endlich bedroht es denjenigen Dritten, welcher ohne
Wissen und Willen der Schwangeren deren Leibesfrucht vor-
sätzlich abgetrieben hat, $ 220.
Die Unterscheidung zwischen den Fällen der $$ 218 und
219 einerseits und denjenigen des $ 220 andererseits ist ihrem
Grunde nach wohl verständlich. Die Abtreibungshandlung ist
‚neben ihrer Wirkung auf die Frucht geeignet, das Leben der
Mutter zu ‘gefährden, oder doch ihre Gesundheit erheblich zu
schädigen. Wer die Abtreibungshandlung ohne Wissen und
Willen der Mutter vornimmt, begeht zugleich eine Körperver-
letzung zum Nachteil der Mutter. Hieran darf ich eine rechts-
geschichtliche Bemerkung anknüpfen. In allen Rechten, welche
gegen vorsätzliche und widerrechtliche Körperverletzungen
strafrechtlichen Schutz gewährten, war auch die Leibesfrucht
insoweit mitgeschützt, als strafrechtliche Körperverletzungen
zum Nachteil der Mutter mit Angriffen auf die Leibesfrucht
tatsächlich zusammenfielen. So stand nach römischem Recht
der Schwangeren, welcher zu dem Zweck oder mit der Wir-
kung der Tötung der Frucht körperliche Verletzungen zuge-
fügt wurden, die actio injuriarum oder die actio legis aquiliae
zu, und ebenso haben die älteren Deutschen Volksrechte Ab-
treibungshandlungen insoferne und nur insoferne bestraft, als
eine Körperverletzung der Mutter vorlag.
— 97 —
Die Unterscheidung, ob Abtreibung mit Wissen und Willen
der Mutter oder ohne ihr Einverständnis, ist die einzige in
unserem Strafrecht sich findende Unterscheidung von einiger
grundsätzlicher Bedeutung. Der übrige Inhalt der 88 218—220
ist, wenn ich so sagen darf, mehr kriminalistisch-technischer
Natur und bedarf für heute keiner weiteren Darlegung.
Es ist nun lehrreich, das geltende Recht auch daraufhin
sich anzusehen, welche Unterscheidungen es nicht enthält. Die
Ausserachtlassung von Unterscheidungen, welche begrifflich
denkbar sind oder historisch schon gegeben waren, gestattet
Rückschlüsse auf den leitenden Grundgedanken des geltenden
Rechts.
Das geltende Recht legt keinerlei Gewicht darauf, aus was
für einer Beiwohnung die Schwangerschaft entspringt. Es
unterscheidet nicht, ob die Schwangerschaft eine eheliche oder
eine uneheliche ist, oder ob sie endlich eine verbrecherische
ist, insbesondere ob sie zurückgeht auf eine an der Schwangeren
verübte strafbare Handlung, auf ein Notzuchtsverbrechen, auf
Verführung, auf Missbrauch einer Geisteskranken, auf Miss-
brauch eines Autoritätsverhältnisses. Unleugbar sind zwischen
diesen Fällen gewisse Unterschiede vorhanden. Von einer auf
verbrecherische Weise missbrauchten Frauensperson verlangt
das Gesetz viel, wenn es ihr zumutet, die Folgen der vom
Gesetz verpönten Handlung bis zum Ende auszukosten. Es
ist erklärlich, dass für diese Fälle Straffreiheit der Abtreibung
allgemein oder doch für das Anfangsstadium der Schwanger-
schaft gefordert worden ist. Aber das geltende Recht ge-
stattet der missbrauchten Frauensperson nicht, sich selbst von
den Folgen des Verbrechens zu befreien, es verweist die Be-
rücksichtigung solcher Fälle lediglich in die Strafzumessung.
— Der Unterschied zwischen ehelicher und ausserehelicher
Schwangerschaft ist ein praktischer, aber ein ebenso rechtlicher.
Durch die Abtreibung einer Leibesfrucht, welcher für den Fall
der Geburt die Rechtstellung eines ehelichen Kindes zuge-
kommen wäre, wird in die Rechtssphäre des Ehemannes ein-
gegriffen. Dieser Fall hat in alter Zeit eine bedeutende Rolle
gespielt. Die Erzeugung ehelicher Kinder hat das römische
Recht als einen Hauptzweck des Instituts der Ehe angesehen.
7
— 98 —
Die Beeinträchtigung oder Vereitelung der Anwartschaft des
Ehemannes auf eheliche Nachkommen war — abgesehen von
dem schon erwáhnten Falle einer an der Schwangeren ver-
übten Körperverletzung — der einzige Fall, in welchem das
römische Recht nachweislich die Abtreibung der Leibesfrucht
bestrafte. In allen Stellen der römischen Rechtsquellen, welche
die Abtreibung behandeln, erscheint als Subjekt der Straftat,
als Täterin, stets eine Ehefrau und als treibender Beweggrund
wird wenigstens sehr häufig neben der weiblichen Eitelkeit
das odium mariti genannt, eine Gemütsverfassung, welche da-
mals sehr verbreitet gewesen zu sein scheint. Dagegen ist,
und das ist bemerkenswert, eine Bestrafung der Abtreibung
unehelicher Früchte für das römische Recht keinesfalls nach-
gewiesen und wohl auch nicht anzunehmen.
Unser geltendes Recht unterscheidet auch nicht nach dem
Alter oder der Entwicklungsstufe des Fötus. Auch hierin
haben sich frühere Rechte anders verhalten und ist eine
andere Auffassung denkbar und de lege ferenda vorgeschlagen
worden. Für das natürliche Empfinden lässt es sich nicht
von der Hand weisen, dass die Vernichtung einer Leibesfrucht
weit milder anzusehen ist, wenn die Frucht in den ersten
Wochen oder Monaten ihrer Entwicklung sich befindet, als
wenn die Frucht nahezu ausgetragen ist und schon Spuren
von Leben zeigt, soweit solche innerhalb des mütterlichen
Körpers möglich sind (Eintritt der Kindsbewegungen). Ein
neuerer Gelehrter ist der Meinung, die Zeit sei nicht mehr
fern, in der man die Abtreibung der Leibesfrucht nicht mehr
bestrafen werde und im Anschluss an diese Meinung fährt
er fort:
„wenn man wüsste, wo die Grenze zu stecken sei,
d. h. bis zu welchem Zeitpunkt von der Empfängnis an
gerechnet die Straflosigkeit bewilligt sein sollte, so wäre
diese Auffassung noch viel näher“ (Gross, im Archiv
für Kriminalanthropologie, Bd. 12, S. 345).
Eine Zeitgrenze in Ansehung der Strafbarkeit der Abtrei-
bung war dem kanonischen Recht bekannt. Allerdings hat
sich dieses Recht weder von gesetzgeberischen, noch von
rechtswissenschaftlichen Erwägungen leiten lassen. Es ist die
zs 000 =
Lehre von der Empsychose, die hier hereinspielt. Auf Grund
einer Stelle des alten Testaments nahm man an, dass der
Fötus männlichen Geschlechts mit dem vierzigsten‘, derjenige
weiblichen Geschlechts mit dem achtzigsten Tage nach der
- Empfängnis beseelt werde; „anima maribus citius infunditur
quam feminis“, bemerkt die Glosse. Das kanonische Recht
hat nun die Tötung des beseelten Fötus durchweg der Tötung
des lebenden Menschen gleichgestellt und als Homicidium, als
Mord, bestraft. Diesen Standpunkt hat auch die peinliche Ge-
richtsordnung Karls V., die Karolina, sich zu eigen gemacht,
in welcher insbesondere auch ganz dieselben Strafarten auf
die Abtreibung, wie auf den Kindesmord angedroht waren.
Auch das gemeine deutsche Strafrecht hat diesen Standpunkt
beibehalten, nur das vielfach als Zeitgrenze für die Strafbar-
keit der Abtreibung nicht die Beseelung des Fötus, sondern
der Eintritt der Kindsbewegungen angesehen wurde. Es ist
nicht anzunehmen, dass für diese Abweichung wissenschaft-
liche Erwägungen maßgebend waren; ich bin eher geneigt, zu
glauben, dass rein praktische Erwägungen gegenüber der weit-
gehenden Strenge des kanonischen Rechts spontan sich durch-
gesetzt haben. In der neueren Rechtsentwicklung, so in den
verschiedenen deutschen Landesstrafgesetzbüchern, ist die zeit-
liche Schranke zwischen strafloser und strafbarer Abtreibung
in Wegfall gekommen und zwar durch den Einfluss der ärzt-
lichen Wissenschaft, welche zu der Erkenntnis durchgedrungen
war, dass die Entwicklung des Fötus im Mutterleib eine un-
unterbrochen organisch fortschreitende, einheitliche sei und
die Zerlegung in verschiedene Abstufungen der Entwicklung
zum Leben nicht zulasse. Es ist bemerkenswert, dass hier
‘der Einfluss der ärztlichen Wissenschaft nicht, wie sonst
meistens, eine Abschwächung, sondern umgekehrt eine Ver-
schärfung der strafrechtlichen Bestimmungen zur Folge gehabt
hat. Von der Beseitigung der zeitlichen Grenze abgesehen,
stehen aber auch die neueren Landesrechte, steht insbesondere
das preussische Strafgesetzbuch und aus ihm unmittelbar fol-
gend das geltende Deutsche Reichsstrafgesetzbuch auf dem-
jenigen Boden, den das kanonische Recht in die geschichtliche
Entwicklung eingeführt hat.
VES
— 100 —
Diesen dogmatischen und geschichtlichen Überblick glaubte
ich voranschicken zu sollen, weil durch dessen Ergebnisse
meines Erachtens folgendes Ergebnis ausser Zweifel gestellt
ist. Nach der geschichtlichen Entwicklung, der dogmatischen
Ausgestaltung, nach der Stellung im Strafgesetzbuch und nach
dem Wortlaute des Gesetzes ist das Objekt der Straftaten der
88 218 bis 220 des St. G. B. die menschliche Leibesfrucht
schlechthin, ist Zweck der Strafbestimmungen der Schutz dieser
Leibesfrucht um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht darauf, ob
etwa gleichzeitig in fremde Rechte eingegriffen wird. Das
Strafgesetzbuch schützt wie das voll entwickelte, so auch das
keimende Leben; und dieser Schutz des bloss keimenden
Lebens entspricht, wie wir annehmen dürfen, durchaus den
ethischen Anforderungen und Anschauungen unserer Zeit und
unseres Volkes. Diese grundsätzliche Auffassung ist auch in
der Litteratur die durchaus überwiegende. Sie wird zwar von
einzelnen unter Berufung darauf angefochten, dass der Fötus
kein Mensch sei und dass insbesondere auch das B. G. B. das
Leben des Menschen erst mit der Vollendung der Geburt be-
ginnen lasse. Das beweist meines Erachtens zu viel, denn
eine Unterscheidung zwischen dem voll entwickelten und dem .
bloss keimenden Leben ist ja dem Strafgesetzbuch selbst nach
seiner äusseren Anordnung und insbesondere auch nach der
Höhe der Strafandrohung zu entnehmen. Übrigens glaube ich
nicht, an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit ab-
weichenden Auffassungen mich weiter einlassen zu sollen, weil
dies vom Gegenstand zu weit abführen würde, ich möchte
vielmehr davon ausgehen, dass der Schutz des keimenden
Lebens um seiner selbst willen der Grundgedanke des deut-
schen Strafrechts ist und dass diesem Grundgedanken die Ent-
scheidung entnommen werden muss für die Frage:
unter welchen Voraussetzungen ist die Tötung einer
Leibesfrucht im Mutterleibe ausnahmsweise erlaubt? ist
die Tötung insbesondere dann erlaubt, wenn eine bei
der Mutter ausgebrochene Geisteskrankheit nach ärzt-
lichem Gutachten sie erfordert?
In der Behandlung dieser Frage ist die rechtswissenschaft-
liche Literatur hinter der medizinischen Literatur einigermaßen
— 101 —
zurückgeblieben. Im Anschlusse an die letztere hat jene die
Perforationsfrage und die mit dieser unmittelbar zusammen-
hängenden Probleme behandelt, selbständig aber hat sie sich
mit der Frage im besonderen weniger befasst. Die juristische
Literatur anerkennt auch, soweit ich sie zu übersehen vermag,
keine bestimmten einzelnen Ausnahmen, wie solche de lege
ferenda z. B. für die Fälle verbrecherischer Schwängerung
oder auch für unehelich Geschwängerte schon gefordert
worden sind. Dagegen anerkennt die juristische Literatur
neuerdings im grossen und ganzen als berechtigte Ausnahmen
von dem Verbot der Abtreibung diejenigen Fälle, in welchen
der Arzt mit Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Mutter
die Unterbrechung der Schwangerschaft für geboten erklärt.
Aber es ist die juristische Literatur weder in Bezug auf die
grundsätzliche Rechtfertigung noch insbesondere auf die Ab-
grenzung der einzelnen Fälle zu einem abschliessenden und
anerkannten Ergebnisse gelangt.
Für die grundsätzliche Rechtfertigung der gedachten, in
der Praxis anerkannten Ausnahme sind wir auf die allgemeinen
Schuld- und Strafausschliessungsgründe verwiesen. Von diesen
kommen nach der Lage der Sache ausschliesslich in Betracht:
der Notstand und das sogenannte ärztliche Berufsrecht.
Für das positive heute geltende Recht ist nun der Schuld-
ausschliessungsgrund des Notstandes keineswegs ausreichend,
dazu sind seine Voraussetzungen nach der Ausgestaltung,
welche der Notstand im geltenden Strafgesetzbuch gefunden
hat, zu enge begrenzt. Da die Abtreibung in erster Linie an
der Schwangeren selbst bestraft wird, so kann sich die
Schwangere zur Rechtfertigung einer Abtreibung auf diejenigen
gegenwärtigen Gefahren für Leib und Leben nicht berufen,
welche mit dem Zustande der Schwangerschaft und mit der
Entbindung an sich schon verbunden sind. Den Arzt vollends
würde der Notstandsparagraph nur in denjenigen Fällen decken,
in welchen die Schwangere seine Angehörige ist. Man hat
schon daran gedacht, den Arzt lediglich als Werkzeug der ge-
fährdeten Schwangeren anzusehen, allein diese Auffassung steht
mit den allgemeinen strafrechtlichen Begriffen von Täterschaft,
— 102 —
Teilnahme und Verantwortlichkeit in Widerspruch und wird
deshalb in der Literatur ziemlich allgemein verworfen.
So scheint es angezeigt, die Lósung der Frage aus der
eigenartigen Stellung des Arztes abzuleiten. Auf dem Boden
des ärztlichen Berufsrechts ist das Problem erwachsen, dort
muss es, so sollte man meinen, auch gelöst werden können.
Sie haben nun bereits den Ausführungen des Herrn Vor-
redners entnommen, dass die Frage nach den berechtigten
Indikationen für die Unterbrechung der Schwangerschaft unter
den Ärzten selbst und vom ärztlichen Standpunkt aus keines-
wegs unbestritten ist. Auch die ärztliche Literatur bezeugt
dies. Prof. Dr. Valenta in Laibach beginnt die von dem
Herrn Vorredner erwähnte, im Jahre 1895 erschienene Ab-
handlung mit dem Satze:
„Das Kapitel, „künstliche Fehl- und Frühgeburt“ ist
noch lange nicht abgeschlossen. Die einen halten sich
zu diesem Eingriff berechtigt, aus allen möglichen und
unmöglichen Gründen, während andere in neuester Zeit
nicht einmal die absoluteste Indikation hierzu, hochgradige
_Beckenenge, gelten lassen wollen.“
Auch wenn man hier die Worte nicht auf die Goldwage
legt, wird man dieser Äusserung doch so viel entnehmen
dürfen, dass in der Tat zuweilen bei nicht ganz ausreichender
ärztlicher Indikation, jedenfalls bei nicht allgemein anerkannter
Indikation zu der Unterbrechung der Schwangerschaft ge-
schritten wird. Dies ist um so misslicher, als es sich um
Maßnahmen der ärztlichen Kunst handelt, die nun einmal im
Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt sind. Die ärztliche Lite-
ratur verkennt das auch nicht. Von alters her wird in der
ärztlichen Literatur dem ärztlich erlaubten oder gebotenen
Abort der kriminelle Abort gegenübergestellt und der eine
oder andere ärztliche Schriftsteller, der vom Standpunkt seiner
eigenen Wissenschaft aus ein Gegner der künstlichen Fehl-
geburt ist, glaubt seinen Darlegungen noch eine besondere
Stütze dadurch geben zu können, dass er auf das strafgesetz-
liche Verbot der Handlung hinweist. Was soll nun den krimi-
nellen Abort von dem medizinisch gebotenen und darum er-
— 103 —
laubten unterscheiden? Die persönliche Eigenschaft des Arztes
als solchen genügt für diese Unterscheidung jedenfalls nicht,
sonst würde die blosse Ausübung des ärztlichen Berufs ein
Privilegium der Straffreiheit in sich schliessen, ein Privilegium,
das weder tatsächlich vorhanden ist, noch auch nur von den
Ärzten selbst verlangt wird. Die ärztliche Praxis scheint sich
darauf zu verlassen, dass sie den Unterschied zwischen dem
erlaubten und dem kriminellen Abort in der Praxis mit dem
gesunden Blick des unbefangenen Beurteilers schon zu treffen
weiss. Ein französischer Schriftsteller aus der ersten Zeit des
vorigen Jahrhunderts, Dubois, sagt:
„Das von unserem Strafgesetzbuch vorgesehene und
bestrafte Abortieren ist das kriminelle, eine geheime
Handlung, strafbar selbst in dem Gedanken des Voll-
ziehers und derjenigen, die sie nachsucht und an sich
vollziehen lässt. Der künstliche Abortus hingegen ist
eine bei hellem Tage mit der Absicht, eine der be-
troffenen Existenzen zu retten, vollzogene Operation,
welche weder das Gewissen des Vollziehers, noch der ihr
sich unterziehenden Frau verletzen kann.“
Wie man sieht, ist dies mehr eine Beschreibung und zum
Teil bildliche Umschreibung des Gegensatzes als eine scharfe
begriffliche Abgrenzung. Aber auch andere ärztliche Schrift-
steller gehen davon aus, dass der kriminelle und der ärztliche
Abortus Gegensätze seien, die sich nun einfach im Leben ein-
mal vorfinden, die man aber bei einiger Aufmerksamkeit ohne
weiteres werde auseinanderhalten können. In der Tat erscheint
es auf den ersten Blick für den Arzt einfach den kriminellen
von dem ärztlich erlaubten Abortus zu unterscheiden. Die
künstliche Fehlgeburt ist erlaubt, wenn eine ärztliche Indi-
kation dafür gegeben ist, sie ist unerlaubt und strafbar, wo
keine Indikation vorliegt. Allein, wie heute schon des Öfteren
berührt wurde, ist die ärztliche Wissenschaft darüber keines-
wegs einig, wann eine künstliche Fehlgeburt angezeigt oder
unvermeidlich notwendig ist; und es ist nun doch eine miss-
liche Sache, wenn dieser rein medizinisch - wissenschaftliche
Streit mit dem fatalen Hintergrunde geführt wird, dass, wer
in der Annahme einer solchen Indikation zu weit geht, dem
— 104 —
Verdacht sich aussetzt, dass er strafbare Handlungen begiin-
stige oder hervorrufe. Man kann sich aber auch des Ein- :
drucks nicht erwehren, dass der Streit iiber die ausreichende
Indikation im ärztlichen Lager selbst beeinflusst und kom-
pliziert wird durch die verschiedene Wertschätzung, die man
einerseits dem unentwickelten kindlichen, andererseits dem ent-
wickelten miitterlichen Leben beimisst. Aus der Geschichte
des Perforationsproblems ist bekannt, dass frühere Zeiten und
Richtungen dem unentwickelten kindlichen Leben einen um
nichts geringeren, ia fast einen höheren Wert beigemessen
haben als dem Leben der Mutter und dass sie eine Opferung
des ersteren zu Gunsten des letzteren schlechthin für unzu-
lässig erklärt haben. Eine solche Richtung wird, wenn sie die
künstliche Fehlgeburt überhaupt zulässt, die Indikation hierfür
auf das möglichste einschränken. Wer dagegen mit dem
römischen Recht die Leibesfrucht als pars viscerum ansieht,
wird die Beseitigung dieses Teils des Mutterleibs kaum schwerer
nehmen als die Beseitigung irgend einer Wucherung, wird
mithin schon bei irgend einer geringfügigen Störung im Be-
finden der Mutter die künstliche Fehlgeburt zulassen. Inso-
ferne nun hier die gegenseitige Abschätzung zweier sittlicher
und rechtlicher Güter mit hereinspielt, darf auch die Juris-
prudenz sich das Recht beilegen, sich in der Sache vernehmen
zu lassen. |
Soviel mir bekannt geworden ist, hat sich die Rechts-
sprechung mit der Frage der Abgrenzung zwischen erlaubter
und unerlaubter Abtreibung unter dem besonderen Gesichts-
punkt des ärztlichen Berufsrechts noch nicht zu befassen ge-
habt. Die juristische Literatur hat sich, wie bereits erwähnt,
zwar nicht mit dem Problem wie es durch Geisteskrankheit
der Mutter seine besondere Ausprägung erhält, wohl aber mit
dem allgemeinen Problem der Berechtigung der Vernichtung
des kindlichen Lebens zum Zwecke der Rettung der Mutter,
insbesondere im Anschluss an die Perforationsfrage befasst.
Die ältere juristische Literatur ist 1889 von Heimberger
„über die Straflosigkeit der Perforation“, die gesamte ärzt-
liche, juristische und philosophisch-ethische Literatur neuer-
dings 1902 in einer Tübinger akademischen Preisschrift von
— 105 —
Dr. Sippel zusammengestellt worden; insbesondere dieser
letzteren verdanke ich die Bemerkungen, die ich hinsichtlich
der medizinischen Literatur zu machen Gelegenheit habe.
Neben dieser an die Perforationsfrage und verwandte Probleme
anknüpfenden Bewegung geht nun seit 15 bis 20 Jahren eine
andere einher, welche die grundsätzliche Rechtfertigung des
ärztlichen Eingriffs gegenüber den Verbotsbestimmungen des
Strafrechts, insbesondere gegenüber dem Begriff der Körper-
verletzung zum Gegenstand hat. Diese Bewegung hat ihren
Ausgangspunkt von einer Theorie genommen, welche zu Be-
ginn der 1890er Jahre Stoss und der vorhin genannte Heim-
.berger verteidigt haben und nach welcher der ärztliche Ein-
griff schon objektiv nicht Körperverletzung sein soll. Sie haben
neue Nahrung gewonnen durch eine bekannte und viel an-
geführte Entscheidung des Reichsgerichts vom 31. Mai 1894,
Entsch. in Strafsachen Bd. 25, S. 375, sie ist von v. Lilien-
thal, v. Bar und anderen fortgeführt worden, auch Stoss
und Heimberger haben wieder das Wort ergriffen, und nach-
dem noch zwei Entscheidungen der Oberlandesgerichte Dresden
und Braunschweig auf zivilrechtlichem Gebiet ergangen waren,
hat ganz neuestens in der Nr. 5 des laufenden Jahrgangs der
Zeitschrift „däs Recht“ der Reichsgerichtsrat a. D. Galli eine
Art Epilog zu der oben erwähnten Reichsgerichtsentscheidung
geschrieben.
Diese neueste literarische Bewegung ist unleugbar sehr
anregend und interessant und man glaubt zu der Erwartung
berechtigt zu sein, dass gerade die Erörterung dieses grund-
sätzlichen Problems auch für unsere Frage erspriessliche Er-
gebnisse zeitigen werde. In dieser Erwartung sieht man sich
im wesentlichen getäuscht. Bei näherem Zusehen wird dieses
verneinende Ergebnis auch wohl verständlich. Für das Problem
des ärztlichen Eingriffs steht zunächst der Ausgangspunkt fest.
Der ärztliche Eingriff in das körperliche Befinden des Patienten,
auch der weitestgehende Eingriff, der mittelst Messers voll-
zogene und mit der Amputation eines wichtigen Gliedes
endigende, muss erlaubt, kann nicht strafrechtlich ver-
boten, kann keine Körperverletzung sein, vorausgesetzt, dass
er nach den Regeln der ärztlichen Kunst geboten ist und
— 106 —
durchgeführt wird. Er kann unter dieser Voraussetzung auch
dann nicht Gegenstand des Strafrechts sein, wenn er miss-
glückt, wenn er vielleicht zum tötlichen Ausgange führt.
Dieses Ergebnis stand von vornherein unantastbar fest; die
Aufgabe war nur, es grundsätzlich zu rechtfertigen. Diese
Rechtfertigung scheint nun der neuesten literarischen Be-
wegung auch gelungen zu sein, aber allerdings, wenn ich so
sagen darf, nur auf beschreibendem, deskriptivem, analytischem
Wege. Über das Endergebnis ist man einig, aber über die
Begründung noch nicht. Man stimmt überein bezüglich der
Bedingungen, welche erfüllt sein müssen, damit im einzelnen
Fall der ärztliche Eingriff gerechtfertigt ist, aber man streitet.
über das gegenseitige Verhältnis dieser Bedingung, man weiss
nicht, in welcher dieser Bedingungen man die Ursache und
Grundlage des strafrechtlichen Privilegs und in welcher man
die blosse Schranke und (irenze der Straffreiheit zu erblicken
hat. Die eine dieser Bedingungen ist, wie bereits angeführt,
die Regel der ärztlichen Kunst: der Eingriff muss ärztlich ge-
boten sein und kunstgemäß durchgeführt werden. Die andere
Bedingung ist die Einwilligung des Patienten. In dem von
dem Reichsgericht entschiedenen Straffall und in dem von
dem O. L. G. Dresden entschiedenen Zivilfall hatte diese Ein-
willigung gefehlt. Das O. L. G. Dresden hat aus dem Mangel
der Einwilligung die zivilrechtliche Folgerung gezogen, dass
die Klage des Arztes auf das Honorar abzuweisen sei. In
dem reichsgerichtlichen Straffall hatte die erste Instanz ein
wiederholtes ausdrückliches Verbot des Vaters der 7jährigen
Patienten für unbeachtlich erklärt und den Arzt von der
Anklage der Körperverletzung freigesprochen, weil dem Arzt
ein Berufsrecht zustehe, durch das er gedeckt sei. Diese An-
nahme hat das Reichsgericht für rechtsirrtümlich erklärt, es
hat das freisprechende Urteil aufgehoben und die Sache an
die erste Instanz zurückverwiesen, welche übrigens in der
Folge wieder zu einer Freisprechung gelangte. Die Bedenken,
welche gegen die Entscheidung des Reichsgerichts erhoben
worden sind, kann ich für jetzt dahingestellt lassen, den
Schluss kann man nach dem Ausgeführten jedenfalls ziehen,
dass der Arzt unter allen Umständen gedeckt ist, wenn er beider
— 10 —
Bedingungen zusammen sicher ist, der Kunstgemäßheit und der
Ein willigung. | |
Diese Sachlage lässt nun mit genügender Deutlichkeit den
Grund erkennen, warum die bisher .besprochene literarische
Kontroverse für die Frage der Rechtfertigung der Abtreibung
unfruchtbar geblieben ist. Zur Rechtfertigung der Abtreibung
genügt die Einwilligung der Kranken, d. h. der Schwangeren,
oder ihres berufenen Vertreters nicht, um den ärztlichen Ein-
griff erlaubt zu machen. Die Schwangere, welcher es selbst
verboten ıst, ihre Frucht abzutreiben oder im Mutterleib zu
töten, kann auch nicht mit Rechtswirkung den Arzt zu diesen
Handlungen ermächtigen. Der Grund des strafrechtlichen Ver-
bots der Abtreibung ist der Schutz des in der Entwicklung
begriffenen Menschenlebens an und für sich; niemand hat die
Befugnis, über dieses keimende Leben zu verfügen oder es im
Rechtssinne zu vertreten, mithin kann die Einwilligung, deren
es doch zur Rechtfertigung des ‚ärztlichen Eingriffs bedürfte,
auch von keiner . dritten Person ergänzt werden. Um auch
hier eine rechtsgeschichtliche Bemerkung einfliessen zu lassen:
Der Gedanke, dass es hier im Legitimationspunkt fehle und
dass es das Einfachste wäre, eine Instanz anzugeben, welche
dem Arzt oder der Schwangeren die mangelnde Legitimation zu
erteilen vermöchte, hat sich schon älteren Schriftstellern auf-
gedrängt. Bei der Behandlung der insoweit gleichliegenden
Perforationsfrage haben ältere Schriftsteller den patriarchas
lischen Vorschlag gemacht: es sei das nächste Waisenamt an-
zugehen. und mit dessen Ermächtigung die das mütterliche
Leben rettende Unterbrechung der Schwangerschaft vorzu-
nehmen. Ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht auch moderne
Juristen gibt, die geneigt wären, de lege ferenda dem Vor-
schlag beizutreten. Zuzugeben ist, dass der Vorschlag, von
einem etwaigen Zeitverlust abgesehen, die Frage praktisch
lösen würde. Für meinen privaten Geschmack wäre er etwas
zu bureaukratisch, und jedenfalls bietet das geltende Recht für
die Zulässigkeit dieses Auswegs keine Anhaltspunkte, insofern
sich eine Zuständigkeit der Vormundschaftsgerichte zur Ertei-
lung der hier fraglichen Einwilligung wohl nicht begründen
lässt. |
— 108 —
Für das heute geltende Recht stehen wir nach wie vor
im Angesicht eines Widerstreits zwischen den Interessen der
iw Leben oder Gesundheit gefährdeten Mutter und den Inter-
essen der ungeborenen Leibesfrucht, welche in ihrer Entwick-
lung zum Menschen zu schützen, eine vom Strafrecht aner-
kannte und unterstützte Forderung unseres sittlichen Empfin-
dens ist. Für die Lösung dieses Widerstreits bietet sich nach
meinem Dafürhalten nur ein Ausweg dar, und zwar in dem
naheliegenden und allgemein in der Strafrechtswissenschaft
aller Zeiten anerkannten Gesichtspunkt des Notstands. Frei-
lich ist, wie bereits angeführt, die Regelung, welche der Not-
stand in dem geltenden Strafgesetzbuch gefunden hat, für die
uns beschäftigenden Fälle zu enge. Insoweit ist es gewiss
richtig, was ın der Theorie gegen diese Lösung stets wieder
eingeworfen wird, dass für diese Fälle das geltende Recht in
seiner positiven Ausgestaltung nicht hinreicht. Allein das darf
doch nicht abhalten, den wissenschaftlich richtigen Standpunkt
für unsere Frage zu suchen, und. wenn diese Untersuchung
auf eine besondere Ausprägung des allgemeinen Notstandbe-
griffs hinführt, dieses Ergebnis als das richtige aufzustellen
und an ihm festzuhalten. Eine kritische Betrachtung unseres
positiven Notstandbegriffs würde uns am besten zeigen, welche
besondere Ausprägung wir verlangen müssen. Ohne weiteres
leuchtet ein, dass aus dem von uns aufzustellenden Notstands-
begriff ausscheiden muss die Beschränkung des $ 54 St. G. B.
auf Angehörige, und dass an die Stelle dieser Beschränkung
die Beschränkung auf solche Personen treten muss, welche in
Ausübung der Heilkunst handeln. Auch darüber dürfte kein
Streit entstehen, dass ausgeschieden werden muss die Be-
schränkung auf eine unverschuldete Notlage. Es würde dem
sittlichen Empfinden nicht bloss des Ärztestandes. sondern auch
der Allgemeinheit entschieden widerstreiten, übrigens wohl
auch praktisch undurchführbar sein, wenn der Arzt an dem
Krankenbett einer Schwangeren erst eine sittenrichterliche
Untersuchung anstellen müsste, ob die Schwangere verschuldet
oder unverschuldet zu der Schwangersehaft oder zu -der in
Verbindung mit der Schwangerschaft ihre Gesundheit be-
drohenden Erkrankung gekommen ist. Mit Entschiedenheit
— 109 —
dagegen muss an dem Erfordernis des geltenden Rechts fest-
gehalten werden, dass der Eingriff nur dann durch Notstand
gerechtfertigt ist, wenn die bedrohende Gefahr auf keine andere
Weise als durch Vernichtung der Leibesfrucht abzuwenden ist.
Nur dies entspricht auf dem Boden unserer grundsätzlichen
Auffassung der Sachlage, insoferne dem vorhandenen und zu
schützenden Rechtsgut des mütterlichen Lebens das Rechts-
gut des keimenden Lebens, der Frucht, als ein wenn schon
schwächeres, so doch immerhin selbständig anerkanntes Rechts-
gut gegenübersteht. Nur dieses Erfordernis beugt Missbräuchen
vor und nur dieses Erfordernis ist geeignet, der ärztlichen
Wissenschaft in zweifelhaften Fällen Anhaltspunkte für die
Entscheidung zu geben. Darnach bleibt die Abtreibung in
allen Fällen verboten, in welchen die Gesundheitsgefährdung,
also etwa gerade eine Geisteskrankheit, auf irgend eine andere
Weise beseitigt werden kann, würde auch diese anderweite
Beseitigung der Patientin oder ihrer Familie grössere Belästi-
gung, grösseren Aufwand an Geldmitteln oder dergl. verur-
sachen. Aus diesem (Gesichtspunkt heraus bin ich mit dem
Herrn Vorredner vollkommen einverstanden in der Beurteilung
der Frage, ob Melancholie und damit verbundene Selbstmord-
gefahr die Abtreibung rechtfertigen kann. Auch ich bin der
Meinung, dass dies nicht der Fall ist, insofern geeignete An-
staltsbehandlung die Selbstmordgefahr ausschliesst. Dagegen
ist der Begriff des Notstands im geltenden Recht nach einer
Richtung hin zu weit gefasst. Nach $ 54 St.G.B. liegt beim
Zutreffen der übrigen Voraussetzungen ein Notstand schon
dann vor, wenn überhaupt irgend eine Gefahr für Leib und
Leben vorhanden ist Schon die Gefahr einer geringen Ver-
letzung der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigt jeden Ein-
griff in ein fremdes Rechtsgut. Dazu müssen wir für unsern
Fall zwei Einschränkungen machen. Einmal schliesst ja jede
Schwangerschaft schon in ihrem normalen Verlauf eine Ge-
fährdung der Gesundheit der Schwangeren in sich. Diese
normale Schwangerschaftsgefahr rechtfertigt begreiflicherweise
die Tötung der Leibesfrucht nicht. Damit wäre ja das Verbot
der Abtreibung allgemein und grundsätzlich umgangen. Es
muss also eine zu der Schwangerschaft hinzutretende Kompli-
— 110 —
kation vorliegen. Bei dem uns im besonderen beschäftigenden
Problem der Geisteskrankheit der Mutter trifft dies ja ohnehin
zu; nur zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich
bemerken, dass diese Komplikation auch beruhen kann in der
besonderen Beschaffenheit der Organe der schwangeren Frau,
z. B. hochgradiger Beckenenge. Des Weiteren muss diese
Komplikation den Gesundheitszustand der Schwangeren. erheb-
lich beeinträchtigen, ich möchte sagen, entscheidend beein-
flussen. Damit wird freilich ein Element der Unbestimmtheit,
der Unsicherheit, der Dehnbarkeit in die Begriffbestimmung
hineingetragen. Allein ich möchte hierin ein durchschlagendes
Bedenken nicht erblicken. Wenn man ein solches unbestimm-
tes Begriffsmerkmal ablebnt, so bleibt nichts übrig, als die
kasuistische Aufstellung der einzelnen Indikationen. Dies aber
hiesse medizinische Fragen im Strafgesetzbuch entscheiden;
sodann wäre eine vollständige Aufzählung wohl schon nach
dem heutigen Stande der Wissenschaft unmöglich, insbesondere
aber wäre zukünftigen Fortschritten der ärztlichen Wissenschaft
ein Riegel vorgeschoben. Bei der Unmöglichkeit einer kasu-
istischen Aufzählung bleibt offenbar nichts anderes übrig, als
eine derartige clausula generalis, wie sie auch sonst in den
Gesetzen keineswegs selten ist. Die richtige Anwendung und
Auslegung der Generalklausel im einzelnen Fall darf man,
glaube ich, dem Zusammenwirken der ärztlichen Sachverstän-
digen und des Gerichts vertrauensvoll überlassen. Immerhin
ist bei der von mir vorgeschlagenen Klausel die Unbestimmt-
heit eine weniger weitgehende, als bei der Gesetzesbestim-
mung des Kantons Genf, welcher die Abtreibung stets zulässt,
„pour éviter un mal plus grand“. In die Sprechweise des Ge-
setzes übertragen, würde meine These mithin folgendermaßen
lauten:
Im Falle der Abtreibung oder Tötung der Leibesfrucht
im Mutterleibe, ist eine strafbare Handlung nicht vor-
handen, wenn die Handlung in Ausübung der Heilkunst,
zu dem Zweck der Heilung der Schwangeren im Falle
einer auf andere Weise nicht zu beseitigenden, zu der
Schwangerschaft hinzutretenden entscheidenden Kompli-
kation vorgenommen wird.
— 111 —
Diese Formel unterscheidet nicht, ob die Komplikation auf
das körperliche oder auf das geistige Befinden der Schwangeren
sich bezieht, sie deckt also auch den Fall der Geisteskrankheit
der Mutter und ich glaube, dass sie auch für diesen besonderen
Fall zu befriedigenden Ergebnissen führt. Jedenfalls scheint
es mir, soweit ich die Sachlage zu überblicken vermag, dass
die Ergebnisse des ärztlichen HerrnReferenten mit den meinigen im
Einklange stehen. Die Fälle, welche der ärztliche Herr Referent
als berechtigte Indikationen zur Tötung der Frucht anerkennt,
wären durchweg wohl auch nach der von mir vorgeschlagenen
Bestimmung gedeckt, insbesondere sind aber auch die von ihm
abgelehnten Fälle solche, welche auch nach meiner Auffassung
mit Recht verworfen werden. |
Heynemann'sche Buchdruckerei (Gebr. Wolff), Halle a, 8,
u Privatdocent |
190% zu Mainz.
Juristisch-psychiatrische
Grenziragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. $. Freiburg i. B,
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz 1. Schles.
III. Band, Heft 8.
Die Fiirsorge- (Zwangs-) Erziehung.*)
Von Privatdocent Dr. Dannemann in Giessen,
Die bedauerliche Tatsache, dass die Zahl der jugendlichen
Übeltäter und Verbrecher in beständigem Anwachsen begriffen
ist, nimmt seit langem das Interesse des Kriminalpsychologen,
des Psychiaters, des Pädagogen sowie des Soziologen gleich-
mässig lebhaft in Anspruch. Einige wenige Zahlen, die wir der
sehr ausführlichen Zusammenstellung Hoegels entnehmen (die
Straffälligkeit der Jugendlichen, Vogel-Leipzig 1902), mögen
sie für den nach zahlenmässigen Beweisen Verlangenden
illustriren. l
Es wurden 1882 in Deutschland 30719 Personen zwischen 12
und 18 Jahren verurteilt, 1892 waren es bereits, 46496, nach
sechs weiteren Jahren zählte man 47986 Fälle strafrechtlicher
Verwicklungen Jugendlicher und 1900 gar schon 48657. —
Eine weitere Erfahrungstatsache von gleich ernster Bedeutung
ist diejenige, dass auch die Zahl der schon im jugendlichen
Alter rückfällig werdenden Personen schnell zunimmt. 1889
wurden unter 36790 verurteilten Kindern 5590 Vorbestrafte
gezählt, d. h. 15,19 %. 1899 betrug dieses Zablenverhältnis
schon 47512:8919, d. h. 18,77 %. Von jenen 5590 Vorbe-
straften hatten 3485 erst eine Vorstrafe erlitten, 1222 bereits
zwei, 819 drei bis fünf, und 64 gar sechs und mehr, ein
Zablenverhältnis, das sich, auf 1899 übertragen, stellt wie
5485: 1870:1387 :177.
Alles in Allem genommen sind dies Zahlen, deren Zunahme
mit dem Anwachsen der Bevölkerungsziffer nicht gleichen Schritt
*) Nach einem Vortrage in der Sektion Oberhessen der Vereinigung
für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie.
1*
ds A
hält, sondern in wesentlich schnellerem Tempo erfolgt. Nichts
liegt näher wie die Frage: aus welchen Gründen erklärt sich
dieses Phänomen. Ihre Beantwortung ist ein hochwichtiger
Gegenstand. Wissen wir die Ursachen, so dürfen wir auch
hoffen, den richtigen Weg zur Besserung zu finden, die Mittel,
. welche geeignet sind, die in solchen traurigen Tatsachen sich
offenbarende soziale Gefahr erfolgreich zu bekämpfen.
Dass überhaupt die Jugendlichen ein Contingent zu den
Rechtbrechern stellen, wen will dies Wunder nehmen? Erst
mit zunehmender Urteilskraft vermag der Heranwachsende die
Unrechtmässigkeit der Aneignung fremden Besitzes ganz zu er
kennen, die Tragweite einer Bestrafung wegen eines Eigentums-
deliktes für seine Zukunft in ihrer ganzen Bedeutung zu er-
messen. Darum wird man immer mit jugendlichen Dieben zu
rechnen haben. Der erwachende Geschlechtstrieb drängt bei
so manchem intensiv nach Betätigung und treibt ihn, weil
Hemmungen und Überlegungsvermögen nicht genügend ent-
wickelt sind, zu Sittlichkeitsdelikten. Die Fähigkeit der Selbst-
beherrschung will erst noch erworben sein, und so kommen
leicht Gewalthandlungen Jugendlicher zustande. Die Wider-
standskraft gegen Verführungen aller Art, insbesondere gegen
Verlockungen zum Genuss von Alkohol, ist bei vielen noch
eine mangelhaft entwickelte. Ein gewisser Prozentsatz von Ver-
gehen und Verbrechen, darf man somit füglich annehmen, wird
also immer auf die strafrechtlich noch nicht voll Verantwort-
lichen entfallen müssen. Sieht man indessen die Zahlen zu
solcher Höhe anschwellen, wie wir oben schilderten, dann ist
es zu begreifen, wenn man stutzig wird und zunächst sich
fragt, welche Ursachen hier in Betracht kommen.
Man hat verschiedene Umstände für dieses rasche An-
wachsen der jugendlichen Kriminellen verantwortlich machen
zu müssen geglaubt. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass
in den unteren Volksschichten mehr und mehr der Jugend die
väterliche Aufsicht verloren geht. Den Vorstand des Haus-
haltes führt seine Arbeit oftmals weit von den Seinen hinweg,
so dass ihm nur ein paar kärgliche Abendstunden bleiben, in
denen er sich ihnen, und speziell seinem Nachwuchs, widmen
PE ás
kann. Unter erschwerten Lebensbedingungen muss auch mehr
wie sonst die Frau sich mit um Arbeit mühen und ausser dem
Hause tätig sein, um einen Teil zum Unterhalt beizutragen.
Dies ist gleichbedeutend mit der Vernachlässigung eines Teiles
ihrer Mutterpflichten. Früh bleiben die Kinder sich selbst über-
lassen, und wenn auch in den ersten Lebensjahren Krippen,
Kinderbewahranstalten und ändere Einrichtungen der öffent-
lichen Wohlfahrt ihnen Schutz gewähren, nach Kräften für den
Ersatz der elterlichen Aufsicht sorgend, so ist doch ihr Tummel-
platz in späteren Zeiten gegen Ende des ersten und im Anfange
des zweiten Lebensjahrzehntes zumeist die Gasse mit allen ihren
schlimmen Anreizen und Verlockungen. Früh müssen viele
von jenen in Darben und in Begehrlichkeit gross gewordenen
Kindern, noch schulpflichtig, ausserhalb der Unterrichtszeit in
irgend einer Weise sich betätigen, um die finanzielle Lage der
Familie zu heben. Der jugendliche Ausläufer und Austräger
ist schon dadurch, dass er mit für ihn oft nennenswerten
Summen zu tun bekommt, Versuchungen ausgesetzt, denen so
mancher Willensschwache erliegt. — Wo die heranwachsende
Jugend Beschäftigung in einer Hausindustrie finden kann, da
bleibt ihr die elterliche Aufsicht noch bis zu einem gewissen
Alter gesichert, in dem der einzelne bereits sittliche Anschau-
ungen genug erworben haben kann, um den rechten Weg durch
alle Verlockungen zu finden. Aber in der Mehrzahl der Fälle
wird die übernommene Tätigkeit den jugendlichen Arbeiter da-
hin führen, wo elterlicher Einfluss ausgeschaltet ist, wo die
Einwirkung verderbter Altersgenossen oder auch an Jahren
Vorgeschrittenerer sich geltend machen kann. Das enge Zu-
sammenleben der arbeitenden Klassen in Grossstädten und
Industriecentren bringt es mit sich, dass dem eben der Schule
Entwachsenen meistens schon „nichts Menschliches mehr fremd
ist“. Früh werden Begehrlichkeit und Genusssucht wach. Wie
kann es anders sein, wenn vielleicht Thür an Thür mit der
elterlichen Wohnung Prostitution und Zuhälterthum ihr ekel-
haftes Gebahren entfalten. — Es ist unnötig, die schädlichen
Einflüsse, welche das heranwachsende Kind bedrohen, hier alle
namhaft zu machen. Wer mit offenen Augen die Arbeiter-
viertel grosser Städte durchwandert, und mit Interesse die
A e
Wohnungsverháltnisse mustert, in denen so oft die Geschlechter-
trennung ungenügend durchgeführt ist, in denen oft genug noch
dazu Aftermiether und Schlafburschen beherbergt werden, deren
sittliche Qualität erst in zweiter Linie von dem Vermiether in
Betracht gezogen wird, der wird sich oft genug verwundern,
dass in diesem Milieu nicht noch mehr Knaben und Mädchen
auf die schiefe Bahn geraten, wie es schon der Fall ist.
Ein weiterer Grund des Anwachsens der Zahl der jugend-
lichen Übeltäter liegt auch sicher darin, dass im Allgemeinen
die Zahl der Psychopathen, der nervös Veranlagten in bestän-
diger Zunahme begriffen ist. Minderwertigkeit, Geistesstórung
und Verbrechen stehen, wie jedermann weiss, in engen Be-
ziehungen zu einander. Wo viele defekte Eltern sind, da werden
auch viele defekte Nachkommen sein, und wenn die Zahl jener
zunimmt, so schnellt auch die absolute Ziffer dieser in die
Höhe, damit auch diejenige der moralisch Minderwertigen und
verbrecherisch Veranlagten. — Es lassen sich somit schon bei
oberflächlicher, die Stütze der Statistik nicht heranziehender
Betrachtung Schäden genug finden, welche es erklären, dass
die Jugendlichen ein so erhebliches Kontingent zum Verbrecher-
tum stellen. Da jene Schäden trotz aller entgegengesetzter
Bestrebungen noch mit jedem Tage intensiver werden, so kann
auch die stets stärkere Beteiligung der Jugendlichen an Un-
gesetzlichkeiten nicht Wunder nehmen.
Die Tatsache der Zunahme der Zahl der Vorbestraften unter
den Jugendlichen ist ein Beweis dafür, dass unsere Bestrebungen
zur Abwehr noch lange nicht genügen. Das wenigstens müsste
zu erreichen sein, dass kriminell gewordene Minderjährige bis
zur Erlangung der rechtlichen Vollreife so kurz und
straff gehalten würden, dass sie sich weitere Vergehungen
nur in verschwindend seltenen Fällen zu Schulden kommen
liessen.
Erst der Neuzeit ist es hinreichend zum Bewusstsein ge-
kommen, wie ausserordentlich wichtig es im Interesse sozialer
Wohlfahrt ist, dem deprimirenden Symptom der Zunahme des
jugendlichen Verbrechertums entgegen zu treten. Die Erwä-
gung, dass eine energische Bekämpfung desselben gleichzeitig
4
Bu O go
ein Hauptmittel in der Eindämmung des Verbrechens über-
haupt bildet, liegt auf der Hand. Aus Kindern werden Leute,
und wer schon in der Jugend wider Gesetz, Sitte und Ordnung
verstiess, wer in der Pubertätszeit den letzten moralischen Halt
verlor, der wird als Erwachsener um so ‚weniger die Grenzen
respektiren, deren Einhaltung die Gesellschaft fordern muss.
Werden rechtzeitig ungünstige, die sittliche Entwicklung eines
Kindes gefährdende Einflüsse ausgeschaltet, oder werden recht-
zeitig bei den ersten Anzeichen drohender Verwahrlosung Aus-
nahmemassregeln angewendet, so müsste dies nicht ohne Ein-
fluss auf die spätere Lebensführung sein. Nichts hätte eigent-
lich näher gelegen, als dass man diese Folgerung schon von
jeher in der Praxis zur Nutzanwendung gebracht hätte. Trotz-
dem sind aber eigentlich erst spät gesetzliche Bestimmungen
erlassen, welche darauf hinausliefen, die Beaufsichtigung und
weitere Ausbildung eines gefährdeten jugendlichen Individuums
an Dritte zu übertragen, und die durch Abstammung zunächst
zum Erzieheramte berechtigten Personen zwangsweise dieses
Amtes zu entheben. Die Auffassung, dass eine Entziehung des
Erzieherrechtes, quasi eine Depossedirung der Eltern, nicht statt-
haft sei, ausser in den schwersten Fällen erwiesener elterlicher
Verschuldung, hat bis in die neueste. Zeit Verfechter gefunden
und hat sogar noch den ersten Entwurf des bürgerlichen Ge-
setzbuches beeinflusst, glücklicherweise aber ohne durchzudrin-
gen und die Fassung des Erziehungsparagraphen irgendwie zu
bestimmen.
Die ersten Handhaben zur Verbrechensprophylaxe boten
die §§ 55 und 56 des Strafgesetzbuches. Nachdem man dahin
übereingekommen war, als die unterste Grenze der Strafmün-
digkeit das vollendete 12. Lebensjahr anzunehmen, hatte man
es zunächst unterlassen, dem $ 55 einen die Erziehungsfrage
betreffenden Zusatz zu geben. Erst 1876 holte diese Unter-
lassung eine Gesetzesnovelle nach und bestimmte, dass gegen
den wegen Strafunmündigkeit unverfolgt gelassenen dich
Übeltäter „nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften
die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßnahmen
getroffen werden sollten“. Dem Vormundschaftsgericht wurde
die Obliegenheit zugeteilt, den Tatbestand aufzunehmen und die
ER - ESR
Unterbringung für zulässig zu erklären. Dann galt əs, weiter
schlüssig zu werden, ob Familien- oder Anstaltspilege Piatz
zu greifen habe. — Wesentlich in gleichem Sinne behandelte
$ 56 den wegen ungeniigenden Erkennungsvermógens frei-
gesprochenen Jugendlichen, wenn anzunehmen war, dass
ihm die zur Erkennung der Strafbarkeit seines Thuns erforder-
liche Einsicht fehlte. Hier wurde also direkt die Mitwirkung
des Strafrichters bei der Einleitung der Zwangserziehung re-
klamirt, insofern von ihm verlangt wurde, dass er im Urteil
bestimme, ob der Freigesprochene der Familie oder einer An-
stalt übergeben werden solle. Hier sei hinzugefügt, dass die
Prüfung der Frage, ob bei einem jugendlichen Übeltäter die
Einsichtsklausel zutrifft, eigentlich grundsätzlich dem psychi-
atrisch geschulten Arzte ex officio übertragen werden müsste,
anstatt dass der Richter allein sich darüber ein Urteil bildet,
eine Anschauung, der übrigens neuerdings auch aus juristischen
Kreisen das Wort geredet worden ist.
Beide Gesetzesparagraphen treffen aber nur denjenigen
jugendlichen Übeltäter, der bereits einen drastischen Beweis
seiner sittlichen Verwahrlosung und seiner verbrecherischen
Neigungen gegeben hat. Sind indessen dies die einzigen, die
in Betracht kommen? Ist nicht auch die Zahl derjenigen relativ
Strafmündigen eine unendlich grosse, gegen die ein Strafver-
fahren trotz mehr oder weniger ernstlicher Vergehungen nicht
anhängig gemacht wurde, sei es weil sie unentdeckt blieben,
sei es weil ihre Jugend die Geschädigten bestimmte, sie zu
schonen, sei es dass die Rücksicht auf Angehörige von der
Stellung eines Strafantrages abhielt? Bleibt nicht auch so
manche Rohheit Jugendlicher, so mancher Akt, aus dem sitt-
liche Verwahrlosung deutlich spricht, dem Strafrichter unbe-
kannt, weil eine Lynchjustiz seitens der Zeugen geübt und
dann die Sache für hinreichend geahndet angesehen wird?
Wer erst dann einen erzieherischen Einfluss auf einen jugend-
lichen Übeltäter geltend machen will, wenn dieser sich ver-
brecherisch betätigt hat, der gleicht dem Manne, der den
Brunnen verdeckt, nachdem das Kind hineinfiel. Es ähnelt
dies Verfahren demjenigen, als wollte man einen gemeinge-
— 9 —
fährlichen Geisteskranken erst dann interniren, wenn ihm ein
Menschenleben zum Opfer gefallen ist.
Richtiger ist es, schon in ihren ersten Keimen antisoziale
Eigenschaften Minderjähriger zu ersticken, diese aus einem
gefährlichen Milieu herauszunehmen, ehe dasselbe noch seinen
vergiftenden Einfluss auf sie auszuüben vermochte Warum
soll es erst zu Gesetzesübertretungen kommen, wenn man schon
mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit voraus-
sagen kann, dass bei unveränderten Lebensbedingungen
früher oder später ein Einschreiten sich als notwendig erweisen
wird.
In solchen Erwägungen steckten manche deutsche Bundes-
staaten in bosonderen Erziehungsgesetzen die Grenzen erheb-
lich weiter und gaben dadurch Gelegenheit, jugendliche Übel-
täter einem Erziehungszwange zu unterwerfen, auch ohne dass
der Untersuchungsrichter mit ihnen sich erst beschäftigt hatte.
Man ging stellenweise so konsequent vor, dass man auch die
verurteilten Minderjährigen nach Verbüssung ihrer Strafe für
die Zwangserziehung reklamirte, ein Verfahren, dessen Bedeu-
tung für die Verhinderung des Rückfalles auf der Hand liegt.
Von allen Bundesstaaten hatte Preussen mit seinen ein-
schlägigen Bestimmungen vom 13. III. 1878 die mässigsten Er-
folge aufzuweisen. Hier war das Alter der „von Obrigkeits-
wegen in eine geeignete Familie oder in eine Erziehungsanstalt
oder in eine Besserungsanstalt“ zu verbringenden Jugendlichen
auf 6—12 Jahre normirt, eine viel zu enge Fassung, da sicher
die grössere Mehrzahl der Fälle drohender Verwahrlosung und
Verrohung grade die älteren, schon mehr der Pubertät sich
nähernden Kinder betreffen wird.
Es lag nahe, bei der Codification des bürgerlichen Rechtes
in dieser Sache einheitliche, für das Reich geltende Bestim-
mungen einzuführen und die allseitig anerkannte Gefahr, die
der Gesamtheit aus jugendlicher Zügellosigkeit und Verwahr-
losung zu erwachsen drohte, einheitlich anzugreifen. Diesem
Bestreben verdanken wir die £9 1666 und 1838 des B. G. B.
Sie ermächtigen das Vormundschaftsgericht, einzuschreiten,
wenn das leibliche oder geistige Wohl eines Kindes dadurch
-- nam ma: E
= AN
gefährdet erscheint, dass der Vater (bezw. eine die elterliche
Gewalt ausübende Mutter) das Recht der Sorge für die Person
des Kindes missbraucht, das Kind vernachlässigt oder sich eines
ehrlosen oder unsittlichen Verhaltens schuldig macht. Drei
Erziehungswege stehen offen: Familienunterbringung, Erzie-
hungsanstalt, Besserungsanstalt, deren Wahl im Einzelfalle dem
Vormundschaftsgerichte überlassen bleibt.
Mit dem Inkrafttreten des B. G. B. sahen sich die Einzel-
staaten gezwungen, ihre bereits bestehenden Erziehungsgesetze
entsprechend abzuändern, speziell auch sich über die Regelung
der Kostenfrage bei den auf Grund der genannten Paragraphen
in die Zwangserziehung genommenen Kinder schlüssig zu werden.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, alle deutschen Spe-
zialgesetzgebungen bier zu geben und zu analysiren. Nur das
preussische „Fürsorgeerziehungsgesetz“* vom 2. Juli
1900 und das hessische Zwangserziehungegesetz vom
Jahre 1899 mógen hier kurz in grossen Zúgen Erwáhnung
finden.*)
In Preussen kann ein Minderjáhriger der Fürsorge-
erziehung überwiesen werden, 1. in Fällen, welche die Be-
dingungen des $ 1666 erfüllen, 2. wenn er in einem Gerichts-
verfahren gemäss $ 56 freigesprochen wurde und die Gefahr
weiterer sittlicher Verwahrlosung besteht, oder 3. wenn eine
Fürsorge wegen der Unzulänglichkeit der erzieherischen Fak-
toren indizirt erscheint. Fürsorgeerziehung erfolgt unter óffent-
licher Aufsicht auf öffentliche Kosten in einer Familie oder
Besserungsanstalt. Sie wird durch das Vormundschaftsgericht
eingeleitet, nachdem dieses von Amtswegen oder auf Antrag
sich mit den Einzelheiten des Falles vertraut gemacht hat. Es
kann, wenn Gefahr im Verzuge ist, auch eine vorläufige Unter-
bringung anordnen. Die Ausführung der Bestimmungen des
Vormundschaftsgerichtes ist dann Sache des Kommunalverbandes.
$ 14 verpflichtet die Provinzialverbände, oder die ihnen ent-
sprechenden Behörden für die Errichtung von Erziehungs- und
Besserungshäusern zu sorgen, soweit es an Gelegenheit fehlt,
*) Über den Streit bezüglich der Benennungen „Fürsorge*- und
„Zwangs-"Erziehung siehe die Ausführungen von Ludwig Schmitz in seinem
Buche über die Fürsorgeerziehung $. 33.
= 4, =
die Zóglinge in Familien, öffentlichen, kirchlichen oder privaten
Anstalten unterzubringen. Eine Unterbringung in Arbeitshäu-
sern und Landarmenhäusern ist verboten. Die Erziehung en-
digt mit erlangter Volljährigkeit, sofern nicht früher eine Auf-
hebung beschlossen werden sollte, weil der Zweck erfüllt oder
seine Erreichung anderweitig gesichert erscheint. Die Kosten
incl. der Zuführung, etwaiger Beerdigung und einer Rückreise
fallen den Ortsarmenverbänden zur Last, oder falls ein solcher
nicht besteht, den grösseren Kommunalverbänden. Ihnen ersetzt
der Staat zwei Drittel des gemachten Aufwandes. Hat der
Zögling Vermögen oder sind Angehörige da, die verpflichtet
wären, ihn zu unterhalten, so darf von diesen eine Rücker-
stattung der Auslagen gefordert werden.
In Hessen werden als Zwangszöglinge reklamirt: Kin-
der, die unter den $ 55 des Str. G. B. fallen, Minderjährige
unter 18, sei es dass auf sie die $8 1666 und 1838 B. G. B.
zutreffen, oder sei es, dass die Maßregel zur Verhütung des
völligen sittlichen Verderbens erforderlich ist. Der Kreis der An-
tragsberechtigten ist umfassender, wie in Preussen, wo nur
Landrat, Gemeindevorstand und Polizeibehörde in Betracht
kommen. Kreisamt, Bürgermeisterei, Ortspolizei, Kreisschul-
kommission, Pfarramt, Eltern, Grosseltern, Vormünder, Pfleger
sowie die Staatsanwaltschaft kommen hier für den Antrag in
Frage. Bei Kommunalpfleglingen bleibt das Vormundschaftsge-
richt auf die Anordnung der Zwangserziehung beschränkt, und
dem Kreisamte bleibt die Entscheidung über die Wahl der
Erziehungsform, Familie oder Anstalt. — Gegen die Entschei-
dung des Vormundschaftsgerichtes kann der Antragsteller, der
über 14 Jahre alte Minderjährige selbst oder sonstige Inter-
essenten (z. B. bei Ablehnung ihres Antrages die Staatsanwalt-
schaft bezw. auch opponirende Eltern) beim Landgerichte Rekurs
einlegen. Sieht in solchen Fällen das Vormundschaftsgericht
im Verzuge eine Gefahr, so wird seine Anordnung zunächst
provisorisch ausgeführt. Artikel 6 enthält Bestimmungen über
konfessionelle Rücksichten, Änderungen im Erziehungsplane.
Volljährigkeit oder Entlassung aus ihr beenden die Zwangser-
ziehung. Ob letztere vorzeitig stattfinden kann, entscheidet
das Vormundschaftsgericht.
a. J9 a
Sind alimentationspflichtige und zahlungsfähige Angehörige
vorhanden, so haben sie für den Zógling zu zahlen, bezw. es
ist sein Vermögen heranzuziehen. In allen anderen Fällen
müssen die Armenverbände eintreten, sofern nicht die Kreise
sich zur Kostenübernahme verpflichten wollen. Die Kreiskassen
müssen zunächst die Pflegekosten vorlegen und können sich
dann an die Armenverbände wegen des Ersatzes derselben
halten. Diesen oder jenen, wer im Einzelfalle nun die Kosten
trug, ersetzt dieselben der Staat am Ende jeder Erziehung zur
Hälfte, während er die Kosten für die unter den $ 56 fallenden
Zöglinge ganz allein trägt, wenn durch richterlichen Spruch
eine Zwangserziehung bestimmt wurde.
Im Artikel 2 .des hessischen Gesetzes wird nebenbei be-
stimmt, dass im Falle körperlicher Vernachlässigung oder Miss-
handlung ein Gutachten des Kreisarztes eingeholt werden soll.
Das preussische Gesetz enthält nichts über die Heranziehung
des Arztes. Hier wie dort liegt in der gänzlichen Ausschaltung
des ärztlichen Beirates ein Fehler, der die Wirksamkeit des
Gesetzes beeinträchtigen muss. An diesem Fehler kranken, um
es gleich hier zu erwähnen, alle Spezialgesetze über Fürsorge-
erziehung. Wer sie durchliest (durch die dankenswerte Zu-
sammenstellung von Ludwig Schmitz ist eine Orientierung über
den Gegenstand sehr erleichtert), sucht vergeblich nach Be-
stimmungen über ärztliche Mitwirkung.
Wer sich als Laie über die Zwangserziehungsgesetze zu
orientiren sucht, muss glauben, dass es sich im wesentlichen
um die Ausschaltung ungünstiger äusserer Einflüsse handelt
also um exogene Faktoren, deren Beurteilung und Ab-
schätzung keine allzugrossen Schwierigkeiten machen könne.
Doch damit verhält es sich sehr viel anders. Bei dem Zu-
standekommen trauriger Erziehungsresultate, sittlicher Verwahr-
losung, verbrecherischer Auswüchse spielt eine weit wichtigere
Rolle der endogene Faktor, die zum Teil schon auf eine
überkommene Anlage zurück zu führende abnorme Beschaffen-
heit des Jugendlichen, bei dem intellektuelle Minderwertigkeit
oder moralischer Defekt, nicht selten auch beide zusammen,
oft im Verein mit sonstigen abnormen psychischen Eigenschaften
O a
die ordnungsmässige Einpassung in die ihn mugebenden Ver-
hältnisse beeinträchtigen bezw. Konflikte schon gezeitigt haben
oder früher oder später zeitigen werden. Es handelt sich hier
zumeist nicht einfach um Kinder, die durch irgendwelche
äussere Umstände demoralisirt sind, nachdem sie einmal Moral
besessen hatten, oder bei denen die Gefahr besteht, dass sie:
von einer ungeeigneten Umgebung ungenügend sittlich geför-
dert werden. Das Menschenmaterial, das für einen Erziehungs-
zwang reklamirt wird, ist vielmehr ein ausserordentlich viel-
farbiges. Die psychischen Schattirungen sind fast so zahlreich,
möchte man sagen, wie die Individuen. Das psychisch Ab-
norme und oft das direkt Krankhafte spielen dabei eine so
eminent wichtige Rolle, dass es undenkbar ist, wie man bei
einer grossen Anzahl von Fällen den richtigen Behandlungsınodus.
finden will ohne den psychiatrisch gebildeten Arzt.
Suchen wir die Gesamtheit der Zöglinge in bestimmte
Gruppen zu scheiden, so kann man zunächst zwei grosse
Abteilungen bilden: die geistig Normalen und die
geistig Abnormen. Jede dieser Abteilungen lässt sich
wieder in zwei Gruppen zerlegen. Wir würden somit für
die Einreihung der Zöglinge nach ihrer psychischen Artung im
ganzen vier Rubriken zur Verfügung haben.
a. Zöglinge mit gutem Intellekt und gesun-
der ethischer Veranlagung, bei denen aus äus-
seren Gründen eine Fürsorge angebracht er-
scheint, ohne dass sie Zeichen von Verderbt-
heit hervortreten liessen, also durch missliche
Verhältnisse gefährdete geistig Normale.
Wer gegen solche Zöglinge im späteren Leben ein Vorurteil
hegt, z. B. Bedenken trägt, sie in seinen Dienst zu nehmen,
weil sie „Zwangszöglinge“ waren, tut Unrecht, da sich solche
Fälle denken lassen, bei denen jedes Verschulden der für die
Zwangserziehung Reklamirten fehlt. Ein Beispiel aus unsrer
Kasuistik möge hier Platz finden:
I. Der 40 jährige Spengler H., zur Zeit in der Klinik, besass
aus erster Ehe mehrere Kinder, sämtlich körperlich gesund, bei
guten geistigen Leistungen auch moralisch gut geartet. Der Tod
der Mutter beraubt die Kinder ihrer besten Stütze, da der Vater,
a A
viel auswärts auf Arbeit weilend, sich um sie nicht genügend kümmern
kann. Leider beginnt er bei einer unregelmässigen Lebensweise
langsam dem Alkoholismus zu verfallen. Er heirathet zum zweiten
Male, doch ist das Interesse der Frau an der Erziehung ihrer Stief-
kinder kein besonders intensives und nimmt noch mehr ab, als der
Gatte beginnt, Eifersuchtsideen gegen sie zu äussern. In stets zu-
nehmendem Grade wird der eheliche Friede beeinträchtigt, die Kinder
sehen und hören Dinge, die ihnen jeden Respect vor den Eltern
nehmen müssen. Der Gatte wirft der Gattin schliesslich blutschän-
derischen Umgang mit ihrem eigenen Vater vor, bedroht sie verschie-
dentlich und sticht sie eines Tages im Beisein eines der Kinder zu-
sammen. Doch kam die Frau zum Glück mit dem Leben davon.
Sämmtliche Kinder wurden schon vorher auf Grund des $ 1666 in
Zwangserziehung genommen und entwickelten sich in den sie bei sich
verpflegenden Familien seither recht gut, ohne Anlass zu irgend
welchen Besorgnissen zu geben.
Hierhin gehören auch die leider nicht eben seltenen Fälle
der Praxis, in denen es sich um schlechte Behandlung, fort-
gesetzte rohe Misshandlung und übermässige Züchtigung, also
Gefährdung des leiblichen Wohles von Kindern durch Stief-
eltern, denen sie im Wege stehen, handelt. Auch hier kann
die Zwangserziehung gelegentlich durchaus gut gearteten und
keineswegs sittlich defekten Kindern lediglich aus dem Gesichts-
punkte der Schutzbedürftigkeit auferlegt werden.
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die zu dieser
Gruppe gehörenden Kinder von allen Zöglingen die beste Prog-
nose haben. Wer an diesen später mit Befriedigung die
Resultate konstatiert, soll aber nicht vergessen, dass die Gruppe
dieser erfolgreichen Zöglinge wohl nur einen geringen Bruch-
teil der Gesamtheit ausmacht. — Sie werden relativ leicht
in Familien heranzubilden sein, dürfen ohne Bedenken mit
eigenen Kindern der Pflegeeltern zusammengebracht werden
und dürften die auf sie verwandte Mühe hinreichend belohnen.
Schwierigkeiten erwachsen bei ihnen den Pflegeeltern nur bis-
weilen dadurch, dass die ihrer Pflichten enthobenen Eltern den
Versuch machen, sich ihren Nachkommen zu näbern und diese
aufzuhetzen.
b. Eine zweite Gruppe bilden die in ihrer
Anlage und geistigen Entwicklung den Ver-
tretern der ersten Gruppe gleichkommenden
Kinder, welche aber infolge von Erziehungs-
mángeln bereits verwilderten, bei denen also
schon von einem sittlichen Verderben gespro-
chen werden kann, und bei denen ein Verfall
in vólliges Verderben verhindert werden soll.
Auch hier brauchen die erzieherischen Mángel keineswegs
immer mit einem Verschulden der Eltern gleichbedeutend zu
sein. Langwierige Krankheiten derselben, die vielleicht lang-
dauernden Aufenthalt in Krankenanstalten nötig machten, können
es mit sich bringen, dass ihre Kinder ungenügend beaufsichtigt
werden und schlechten Einflüssen verfallen. Erwerbsschwierig-
keiten, welche beide Eltern aus dem Hause führen, können in
der gleichen Richtung wirken. Straffe Zucht und liebevolle
Fürsorge vermögen aber recht wohl solche demoralisierte Kin-
der auf den Weg der Ordnung zurück zu führen, wofern eben
nur der Kern derselben ein guter ist, und dass er im Allge-
meinen ein guter sein wird, darf man zunächst annehmen, wenn
ein Blick auf die Ascendenz vollwertige, geistig normale und
gut beleumundete Personen erkennen lässt. Aber leider sind
viele Kinder dieser Gruppe nicht in der Lage, mit solchen
. Eltern aufwarten zu können. Zumeist sind nicht so sehr
Schwierigkeiten der äusseren Lebensverhältnisse, als vielmehr
mangelhafte sittliche Qualifikation der Eltern zum Erzieheramte
an der Verderbnis der Sprossen Schuld. Wenn wir bei der
Prüfung verwahrloster Kinder guter Intelligenz und einer Be-
einflussbarkeit durch sittliche Erwägungen begegnen, somit also
berechtigt sind, sie zur Gruppe b zu rechnen, andrerseits aber
Eltern mit Charakterfehlern, Lastern und mangelndem Pflicht-
bewusstsein zu konstatieren haben, so werden wir uns veran-
lasst sehen dürfen, bezüglich der Annahme eines absolut guten
Kernes der Nachkommen Skepsis walten zu lassen. — Ein
Vater, der, um mit dem $ 1666 zu sprechen, das Recht der
Sorge für die Person des Kindes missbraucht, das Kind ver-
nachlässigt, oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen Ver-
haltens schuldig macht, wird auch zumeist seinen Nachkommen
keine gute Grundlage vererben können. Bei psychiatrischer
Sichtung werden viele dieser Väter, man denke z. B. an die
Alkoholisten, sich als psychisch abnorme Menschen, larvierte
— 16 —
Epileptiker, konstitutionell Verstimmte etc. erweisen. Vorur-
teilslose Erwägung wird nicht selten in der Lage sein, den
ihnen gemachten Vorwurf der „Ehrlosigkeit und Unsittlichkeit“
wesentlich zu mildern.
Diese Fälle der Gruppe b bilden gewissermaßen den Über-
gang zu den Gruppen der zweiten Hauptabteilung. Lezterehaben
das charakteristische, dass hier in erster Linie in der ange-
boren abnormen psychischen Beschaffenheit des
Minderjährigen die Ursache aller Misserfolge der Erziehung zu
suchen ist. Hier kommt also das zur Geltung, was wir oben
. den endogenen Faktor nannten. Diese Zöglinge wird in
erster Linie der psychiatrisch geschulte Arzt zu erkennen in
der Lage sein. Sie müssen von den andern separiert und
ihrer Veranlagung nach individualisierend behandelt werden in
weit höherem Maasse, wie die aus exogenen Ursachen Ver-
wahrlosten. Liess uns bei dem Versuch der Illustrierung der
beiden ersten Gruppen unsre Kasuistik aus leicht ersichtlichen
Gründen im Stich, so bietet sie uns für diese Gruppen der
psychisch Abnormen un so zahlreichere Beispiele.
Wir unterscheiden zunächst:
Gruppe c. Die beisonst guter Intelligenz und
hinreichend entwickeltem Urteilsvermögen
lediglich aufdem Gebiete der Moral anaesthe-
tischen Zöglinge.
Diese Gruppe der ab ovo kriminell Veranlagten
stellt erfahrungsgemäß im späteren Leben ein Hauptkontingent
zum Verbrechertum. In vielen Fällen ergiebt die Durchfor-
schung der Ascendenz der zu dieser Gruppe gehörigen Zöglinge
mehr oder weniger zahlreiche hereditäre Momente, die abnorme
Beschaffenheit derselben erklärt sich dann auch dem Laien und
wird von ihm eher anerkannt. Unbegreiflich sind ihm dagegen
die Fälle, in denen er sich Eltern gegenüber sieht, an deren
intellektueller Vollwertigkeit, sittlichem Ernst und erzieherl-
schem Wollen nicht zu zweifeln ist. Muss auch das Urteil über
manchen zunächst hierher zu rechnenden Zögling später dahin ab-
geändert werden, dass es sich doch nicht nur um alleinigen Defekt
auf sittlichem Gebiete, sondern um angeborene allgemeine
=. o ea
Ge istesschwäche und Defekt auf allen Gebieten des Geistes-
lebens, speziell auf dem des Wollens und des Urteils, handelt,
so bleiben doch immerhin sehr zahlreiche übrig, die sich
stets so vorzüglicher Kenntnisse, eines so scharfen Urteils, einer
so guten Fähigkeit zur Abschátzung der Grenzen des Erlaubten
erfreuen, dass sie füglich auf den Schutz des § 51 später keinen
Anspruch erheben können. Zur ersten Kategorie d. h. zu den
später doch noch der Psychiatrie überwiesenen Individuen ge-
. hörte der gegenwärtig eben 20 Jahre alte Rs. Zwar kam es
in diesem Falle, obwohl alle Bedingungen zur Einleitung einer
Zwangserziehung gegeben waren, doch nicht zu einer solchen,
doch reiht sich der Fall hier illustrierend recht gut ein und
möge darum kurze Erwähnung finden.
II. Rs. stammt aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater macht
einen sonderbaren Eindruck, er hat einen eigentümlichen Turm-
schädel, leidet an Erythromelalgie und ist ein äusserst extremer Sozial-
demokrat, der seine Kinder religionslos aufwachsen liess. Vaters-
vater war Trinker, eine Vatersschwester ist Epileptika, die Mutter
ist unehelicher Geburt, litt auch in ihrer Jugend an Lues. Ein
Bruder ist schwachsinnig und besucht die Hilfsschule, ein zweiter ist
kriminell und oft vorbestraft, eine Schwester minderwertig. — Als
Kind war Rs. schwer zu behandeln. Gegen die Eltern war er wider-
spenstig, die Schule gab ihm das Zeugnis, dass er eine bösartige
Charakteranlage habe, frech, verlogen, faul, tückisch und roh sei.
Seine Zensuren waren im übrigen nur recht mässig, in wenigen
Fächern genügte er. |
Mit 14 Jahren erhielt der Knabe die erste Strafe, 9 Tage Ge.
fängnis wegen eines schweren Diebstahls. Doch sieht die Straftat
bei näherer Betrachtung nicht so gefährlich aus. Rs. raubte nämlich
mit einigen Altersgenossen aus einem geschlossenen Stall ein paar
Kaninchen, die man laufen liess, als die Sache in der Klasse ruchbar
wurde. Trotz eines Begnadigungsgesuches, in dem die Staatsanwalt-
schaft sich sogar dahin aussprach, dass die Tat wohl mehr auf
Jugendlichen Leichtsinn, wie auf verbrecherische Neigung schliessen
lasse, musste der Knabe die Strafe verbüssen. Vor Erlangung der
Strafmündigkeit beging er noch vier weitere Straftaten, Diebstahl
Körperverletzung, Gefangenenbefreiungsversuch und wieder Diebstahl.
In diesen Jahren war er sich selbst überlassen, trieb sich als Täto-
wierer umher und verdiente mit seinen Fertigkeiten auf diesem Ge-
biete zumeist seinen Unterhalt. Früh kam er unter diesen Umständen
an den Alkohol und ergab sich auch sexuellen Ausschweifungen.
Nach Verbüssung seiner ersten nennenswerteren Strafe im 18.
Lebensjahre, wurde er in stets schnellerem Tempo straffällig. Be-
9%
+æ
as A
leidigung, Sachbeschädigung und 'Hausfriedensbruch, trugen ihm die
nächste Strafe ein, dann beging er als Zuhälter Betrügereien. Noch
im gleichen Monat wurde er wegen einer recht rohen, an einem
- Krúppel begangenen Körperverletzung belangt und einige Monate fest-
gesetzt. Obdachlosigkeit trug ihm Haft ein, bis schliesslich zwei
- Einbruchsdicbstäble ihn auf mehrere Jahre in die-Strafanstalt brachten.
Das Object, um dessentwillen die Diebstähle begangen wurden, war
. zumeist ein sehr wenig wertvolles, was gestohlen war, wurde schnell
zu Gelde gemacht, und das Geld ging in der ersten besten Kneipe
'bei einer Zecherei schnell drauf. Vor der letzten Inhaftirung war
er flüchtig, trieb sich, steckbrieflich verfolgt, mehrere Monate in nord-
' deutschen Hafenstädten umher uud „arbeitete“ als Tätowierer. Er
. selbst ist auf der Brust und an den Armen, theilweise auch an den
Beinen, ja sogar an den Ohrläppchen mit bunten Zeichnungen über
und über bedeckt. Die entsprechenden Hautbezirke erwiesen sich
später bei genauer Prüfung als total anästhetisch.
In der Strafanstalt erwies er sich sehr bald als äusserst schwierig
zu behandelndes Element, das oft disciplinirt werden musste. Aber
alle Vergehungen erscheinen recht. kindisch. Er veranlasste viele
lästige Schreibereien, speziell durch seine Beschwerden gegen den
Anstaltsarzt und den Direktor. Gegen letzteren erzielte er die Ein-
leitung eines Beleidigungsverfahrens, eine ihm widerfahrene Mass-
regelung in übertriebener Weise aufbauschend. — Besonders auffällig
trat an ihm eine masslose Selbstüberschätzung hervor und ein starkes,
fast an Paranoia erinnerndes Misstrauen gegen die gesamte Um-
gebung. Er glaubte sich besonders strong bestraft, weil er der Sohn
eines Sozialdemokraten sei, hielt sich halbwegs für einen Märtyrer,
drohte auch viel mit Enthüllungen über die Anstalt und ihre Beamten.
Beständig war er bestrebt, Verlegung aus der Einzelhaft in die Ge-
meinschaftshaft zu erzielen, was ihn schliesslich auch gelang unter
Versetzung in eine andere Anstalt. In dieser führte er sich etwas
besser und wurde auch dementsprechend behandelt, was er indessen
so auffasste, als wenn man seine etwaigen Enthüllungen fürchte und
ihm so den Mund stopfen wolle. — Nach der Strafverbüssung war
er zunächst fügsamer, söhnte sich auch mit seiner Familie aus und
nahm eine Stellung als Handwerker an. Schnell aber erwachte wieder
der Trieb zur Vagabondage. Er schied mit einer Scene von seinem
Arbeitgeber, lebte wieder zügellos, zeitweise seine Eltern brand-
schatzend, bis er wieder, 3 Monate nach der Entlassung in die Frei-
heit, sie abermals verscherzte, indem er mit gleichgesinnten Genossen
einen zuvor trunken gemachten Zechkumpan beraubte.
Nun endlich erfolgte eine längere Beobachtung in der Irren-
anstalt, die das Resultat hatte, dass Rs. für angeboren schwachsinnig
und wegen seiner antisocialen Neigungen für anstaltsbedürftig erklärt
wurde. Die eingehenden Untersuchungen konnten feststellen, dass
— 19 —
Rs. moralisch idiotisch in höchstem Grade war; jede Spur einer alt-
-—ruistischen Neigung fehlte, keine Spur von Reue oder Ehrgefühl,
- absoluter Mangel an Empfindungen der Kindes- und Geschwisterliebe.
Die Redewendungen des Untersuchten bei diesbezüglichen Unterhal-
tungen waren stellenweise so roh und bodenlos gemein, dass sie aller
' Beschreibung spotten. Rs. Kenntnisse waren sehr gering, seine
-Lebensanschauungen grotesk, seine Zukunftspläne schwankten von
. Augenblick zu Augenblick. Dass es nun mit der Rückkehr in die
Freiheit dauernd vorbei sei, kam ihm gar nicht zum Bewusstsein, er
hoffte, schwächliche Pläne machend, von Tag zu Tag auf die Ent-
lassung. Auffällig trat auch jetzt eine Neigung zum Bramabarsiren
und Prunken mit unverstandenen sozialistischen Phrasen hervor. Ferner
trat ein paranoischer Zug in die Erscheinung, der ihn in allen Insti-
tutionen der Gesellschaft Vergewaltigungen der gedrückten Arbeiter
sehen und in jedem besser Situirten einen Prasser auf Kosten deı
arbeitenden Klasse erblicken liess. — Noch während der Beobachtungs-
zeit trug er sich offen mit dem Gedanken einer Entweichung, annon-
cirte selbst wie er es anfangen wolle, renommierte mit beabsichtigten
verbrecherischen Handlungen für den Fall seiner Rückkehr in die
Freiheit und dergl. mehr. — Er kam dauernd in eine Irrenanstalt,
IH. Der hier in Frage kommende junge Mensch ist ein
Beispiel rein krimineller Veranlagung. M. T. kam mit 20
Jahren in die Klinik. Er war ausserehelicher Geburt, war zunächst
bei seinem Grossvater erzogen, dann aber bei einem Händler auf dem
Lande untergebracht. Hier will er schlecht behandelt sein. Man
habe ihu durch Drohungen bestimmt, bei Besuchen seiner Mutter zu
sagen, dass er sehr zufrieden sei. Anscheinend beobachtete der Knabe
von 12 Jahren scharf, er will bemerkt haben, dass man manches, was
für ihn bezogen wurde, zu theuer buchte und dergl. Nach der Schul-
zeit wurde er zu einem Metzger gethan. Hier unterschlug er Kunden-
gelder. Anzeige unterblieb, doch wurde der Ehegatte der inzwischen
verheirateten Mutter veranlasst, T. in eine Erziehungsanstalt
zu bringen. Dieser wurde nunmehr zwei Jabre von Benedictinern
in einer klösterlichen Erziehungsanstalt erzogen, aber schon mit 16
Jahren daraus wieder entlassen. Das bayerische Frziehungsgesetz war
damals noch nicht erlassen. Die Anstalt lag in Bayern, daraus er-
klärt sich die frühzeitige Entlassung. Während dieser Erziehung will
T. nur ein einziges Mal, und zwar körperlich, bestraft sein. Nachdem
er in Freiheit gesetzt war, ging er nach A., wo er sich zur Unter-
offizierschule meldete, wegen seiner Augen indessen nicht genommen
sein will. Er suchte sich nun seine eigenen Wege, vagierte, bald
bier, bald dort als Metzger sein Brod suchend, in Mittel- und Nord-
deutschland umher, unterschlug gelegentlich wieder Kundengelder,
wurde nun zum ersten Male verurteilt, mit 60 Mark Geldstrafe und
20 Tagen Haft bestraft. Diese büsste er auf der Wanderschaft, in
— 20 —
P. Halt machend, unter dem Einfluss der Ueberlegung, dass er sonst
leicht Unannehmlichkeiten durch Erlass eines Steckbriefes haben
könne, ab. Er erzählt aus dieser ersten Strafzeit, die er in Gemein-
schaft Dütenklebend verbrachte, allerhand ergötzliche Dinge, welche
diese „Strafe“ in das gebührende Licht zu setzen geeignet sind.
Zehn Leute von allerhand Schattierungen waren seine Kameraden in
diesem Strafvollzug, man habe sich viel erzählt, die Lebensläufe der
Einzelnen besprochen, sich gegenseitig was vorrenomiert. Auch sei
es manchmal zu Reibereien gekommen. Seine Erinnerungen bereiteten
ihm später oft Spass, anstatt unangenehmer Art zu sein. Hierauf
machte er einmal den Versuch, bei der Fremdenlegion in Nancy an-
zukommen, wurde aber nicht genommen. In einer neuen Stelle, die
ihm abermals der Gutte seiner Mutter verschaffte, unterschlägt er von
neuem, „na, meint er, ein paar Monate kann das wieder kosten.”
Für die Seinen hatte er nur Undank. Eines Tages richtete er einen
Brief an seine Mutter und verlangte unter Drohungen Geld. Jetzt
suchte der Stiefvater Sicherheit zu erlangen, indem er sich an die
Polizei wandte. Er teilte gleichzeitig mit, dass er den Jüngling für
geistig erkrankt halte, und liess bitten, ihn der Klinik behufs Beob-
achtung zuzuführen. Die Behörde tat dies, obgleich ein dringendes
Motiv eigentlich nicht ersichtlich war. Da bei der Zuführung auch ein
ärztliches Zeugnis mit dem Nachweis einer Geistesstörung nicht vor-
gelegt werden konnte, so wurde die Aufnahme verweigert, es sei
denn, dass T. selbst darum einkomme und sich zum Eintritt bereit
erkläre. Er that dies und blieb nun mehrere Wochen in der Klinik,
berechtigt, jeden Augenblick seinen Austritt zu nehmen. — In dieser
Zeit verhielt sich der junge Mensch durchaus sozial, erschien aber
arbeitsscheu. Er bummelte meist im Garten umher, spielte mit an-
wesenden Patienten Karte und suchte sich nach Kräften die Zeit zu
vertreiben. Seine Kenntnisse waren sehr gute, er wusste auf straf-
rechtlichem Gebiete recht gut Bescheid, hatte volle Einsicht in seine
Strafthaten und sagte über die letzte Unterschlagung selbst: „das habe
ich gethan, also muss ichyes auch absitzen.“ Er erhob nicht den ge-
ringsten Anspruch darauf, für geisteskrank angesehen zu werden,
sondern es war ihm darum zu thun, möglichst bald die letzte Sache,
die ihm zur Last gelegt wurde, zu erledigen, damit er sich wieder
frei bewegen könne. Dem Referenten gegenüber meinte er, es sei
doch besser, er lasse sich keine weiteren Unterschlagungen zu Schulden
kommen. Darauf hingewiesen, dass er, falls alle seine Diebereien
immer zur Kenntnis der Gerichte gebracht worden wären, jetzt lang-
dauernde Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben würde, lachte er, er
glaube es schon. Nie kamen bei ibm Bewusstseinsstörungen oder
Trübungen epileptoider Art vor. Nie waren anderweitige Züge
geistiger Störung zu beobachten. Aus der Jugend war nichts von
überstandener Krankheit des Gehirns oder seiner Häute bekannt. Es
— 92] —
fehlte jede. Voraussetzung einer Unterordnung unter den $ 51.
Man konnte sich nur dahin aussprechen, dass bei T. angeborene
moralische Defekte, ein oft planloses und aufbrausendes Wesen zu be-
obachten seien, dass es sich somit höchstens um einen Zustand mässiger
geistiger Schwäche handeln könne, der eventuell zur Prüfung der
Frage berechtigt, ob der § 6 B. G. B. anzuwenden sei. T. wurde
darauf entlassen und hat sich bisher noch keine strafrechtliche Ver-
gehungen zu Schulden kommen lassen.
IV. Auch der hier in Frage kommende Zögling gehört zu den
moralisch fast völlig indifferenten, dabei aber sonst intellektuell keine
Defekte bietenden. Das Armenamt zu G. wünscht Auskunft über
die Erziehungsfähigkeit der 9 Jahre alten F. Es handelt sich um
ein unehelich geborenes Mädchen, das von einem Alkoholisten ab-
stammen soll. Die Mutter hat sich hernach verheiratet und zwei
Kinder in der Ehe geboren, mit dem dritten geht sie grade schwanger.
Der Ehemann hat das voreheliche Kind seiner Frau bei sich aufge-
nommen. Er ist Auslaufer. Die Verhältnisse sind die denkbar ärm-
lichsten. In der Schule kam das Kind gut mit, daheim neigt es zur
Lüge, ist vorlaut und verübt Gewalttätigkeiten gegen die Geschwister.
Eine dreiwöchentliche klinische Beobachtung auf offener Abteilung
giebt völlige Klarheit und veranlasst, Anstaltserziehung zu em-
pfehlen.
Intellektuell entspricht das Kind mindestens dem Durchschnitt,
es fasst sehr schnell auf, beobachtet und kritisiert scharf. Stets ist
die Kleine sehr gesprächig in Abwesenheit des Arztes, kommandiert
und schimpft über andere jugendliche Patientinnen, dabei sich der
schmutzigsten Redewendungen bedienend. Gern renommiert sie mit
Kenntnissen über alle möglichen Schauderdinge, die in der Gegend
passiert sind. Von Mord und Totschlag weiss sie genau Bescheid
und nennt als Quelle ihrer Kenntnisse einige Lokalblätter, die sie
täglich in die Hände bekommen haben will. Auch sexuelle Dinge
sind ihr schon bekannt, von ihrem Lehrer behauptet sie Dinge, die
diesen auf die Anklagebank bringen könnten, wenn sie wahr wären.
Ist der Arzt da, so ist sie die Bescheidenheit selber, kann kaum
reden, kehrt er den Rücken, so besitzt niemand mehr Autorität bei
ihr. Eines Tages fiel sie ganz motivlos, nur weil sie etwas feuchtes
in ihrem Gesicht verspürt haben wollte und sogleich eine im Neben-
bett liegende Kleine damit in Zusammenhang brachte, als habe diese
sie bespuckt, über diese her und hätte sie beinahe erwürgt. Hernach
fehlte jede Spur von Reue und Bedauern. — Für den Fall des Fehl-
schlagens der Erziehung in einer Erziehungsanstalt wurde ange-
raten, mit ihr eine Idiotenanstalt aufzusuchen.
Hier haben wir den Typus der jugendlicheu Verbrecher
vor uns, die ohne jede Gefühlsregung, eventuell wegen einer
iz DO
Bagatellsache, die nächsten Angehörigen bezw. die jüngeren
Geschwister, in allerschwerster Weise gefährden und sich für
eine Familienerziehung absolut nicht eignen.
d. Als vierte Gruppe fassen wir die psycho-
pathisch Veranlagten zusammen. Hier lassen
sich zahlreiche Untergruppen aufstellen: Imbecille
mässigen Grades, Epileptische im weiteren Sinne mit reiz-
: „barer Schwäche, Hysterische, constitutionell Verstimmte
“ete. In ‘den meisten Fällen besteht hier erbliche Belastung.
o N aturgemäss sind es grade die zu dieser Gruppe gehörenden
Zöglinge, die auch am ehesten bei ihren Erziehern durch ihre
auffälligen Charakterzüge, durch das Schwankende in ihrem
Wesen den Verdacht aufkommen lassen, dass man es mit ab-
sonderlich gearteten Wesen zu tun hat, die darum auch gelegent-
lich schon früh dem Arzte zugeführt werden. Bei den zahl-
reichen Zwangszöglingen, die in den letzten zehn Jahren vor-
übergehend in der Giessener Klinik verpflegt wurden, handelte
es sich -zumeist um: Angehörige dieser Gruppe. Wir geben
einige prägnante Fälle im Auszuge wieder. | l
: 'V. L. aus G. war 15, Jahre alt, als sie uns zugeführt wurde.
Es geschah dies auf Veranlassung des Vormundschaftsgerichtes. Ihr
‘ Vater war wegen paranoischer Geistesstörung interniert, die Mutter,
= > die unehelich geboren war, starb ihr bereits im dritten Tebensjahre.
"Von ` sieben Kindern war sie das sechste. Eine Schwester und ein
>: Bruder hatten bezeichnender Weise auch aussereheliche Kinder. —
++ Sie wurde zunächst bei Leuten, die später wegen Kuppelei angeklagt
. wurden, erzogen. Mit 9 Jahren kam sie in andere Hände, wurde
von einem älteren Ehepaare verhätschelt, sogar in eine bessere Schule
“geschickt. Aus dieser wies man sie schliesslich aber aus, da sie
- andere Mädchen geschlechtlich angegriffen hatte, — Konfirmiert kam
- sie zu ihrer älteren verheirateten Schwester und berichtete dieser
“nach einiger Zeit, dass ihr zweiter Pflegevater, dem sie also sehr zu
‘Dank verpflichtet war, sie unsittlich angegriffen habe. Beide gingen
~ züm Vormund, der kurz entschlossen das Mädchen von ihrer sittlich
nicht einwandfreien Schwester fortnahm und als Kindermädchen ver-
dingte. Bald aber refüsierte man sie, da sie beständig Herren nach-
sah und Anknüpfungen suchte. In einem zweiten Dienst, auf dem
` Lände, gefiel es ihr nicht, sie verlies ihn, fuhr nach N., zu Ver-
. wandten ihres ersten Pflegevaters, Nun suchte der Vormand selbst
` :erzieherisch auf sie einzuwirken , , indem er sie in sein Haus-nahm
. und sie als Kindermädchen unter der Leitung seiner Frau beschäftigte
un O8,
In N. hatte sie aber einen jungen Menschen kennen gelernt, mit dem
sie eine - heimliche Korrespöndenz unterhielt. Diesem offerierte sie
sich eines Tages, ihrem Briefe die Lüge hinzufügend, dass sie an
einem bestimmten Tage ihren 16. Geburtstag habe, er solle sie ent-
führen und „mit ihr machen, was er wolle.“ Eines Nachmittags über-
giebt sie das ihr anvertraute Kind des Vormundes auf der Strasse
einer Bekannten und fährt mit dem jungen Menschen nach F. In-
dessen war ihr die Nemesis per Telegraph vorangeeilt, die Bekannte
- hatte bei Ablieferung des Kindes geplaudert und der Vormund ver-
anlasste Sistierung bei der Ankunft des Púrchens in F. — Er ging
nach diesem Streich mit rücksichtsloser Energie gegen die L. vor,
-züchtigte sie oft durch Obhrfeigen und weckte ihren Hass noch mehr
durch wiederholte polizeiliche Heimholung aus dem Kreise ihrer Ge-
schwister. Als Gegenrepressalie äusserte sie eines Tages, sie werde
von ihm sagen, dass er sich auch unsittlich an ihr zu vergehen gesucht
habe, worauf der sich bedroht Sehende sofort kluger Weise selbst die
Initiative ergriff und dem Vormundschaftsgerichte Mitteilung machte.
Nun wurde die L. in die Klinik eingewiesen zur Feststellung ihrer
“ geistigen Eigenschaften. Das Beobachtungsresultat war folgendes:
Normaler Intellekt, als hervorstechende Charaktereigenschaften Sinn-
lichkeit und Neigung zur Lüge, Hinterträgerei, phantastischer Um-
bildung als. Ausdruck hysterischer Veranlagung. Ihre Angaben
über an ihr begangene sexuelle Delikte können sehr wohl das Re-
sultat phantastischer Verknüpfung und Weiterbildung sein. Geistes-
störung und Geistesschwäche bestehen nicht. Gerathen wurde noch-
malige Unterbringung in einer Familie, weil in einer Besserungs-
anstalt, unter dem Einfluss krimineller Genossinnen, erst recht sitt-
liche Verwahrlosung zu befürchten sein dürfte.
In der nun gewählten Erziehungsform führte sich die L. sehr
gut, nur einmal schien es, als ob sie in Geistesstörung verfallen wolle.
Im Anschluss an die Aufschlüsse einer gewissenlosen Wahrsagerin,
- die ihr zu einer bestimmten Stunde ihren Tod prognosticiert hatte, ver-
fiel sie in eine kurz andauernde Depression mit Erregungsausbrüchen,
beruhigte sich dann aber von selbst, war seitdem umgänglich und
ordnete sich gut ein. Sie. hat später geheirathet und lebt in unge-
trübter Ehe. Trotzdem die Erziehung also mit stark sexueller. Veran-
jagung zu rechnen hatte, die bei weiblichen Individuen so oft nach Be-
endigung der Zwangserziehung doch zur Prostitution führt, so gelang es
hier dennoch, bei freier Erziehungsform, ein gutes Resultat
zu erzielen. Ä Ä |
Einen anderen Typus, nämlich .den der Hysteroepilep-
sie, repräsentiert die in Zwangserziehung aufgewachseneT. aus N.
VI. Ihre Eltern sind mit einem Wagen umherziehende Kessel-
flicker. Die Mutter ist epileptisch, der Vater Potator. Von 11 Ge-
schwistern starben 6 unter Krämpfen. . Eine Schwester ist imbecill
— A —
und in eiuer Erzieliungsanstalt, ein Muttersbruder beging Suicid,
ebenfalls ein Sohn desselben. T. hatte als Kind Krämpfe. Sie wurde
später den Eltern abgenommen, da diese sich in keiner Weise um die
geistige Ausbildung des Mädchens kümmerten. In der Erziehungs-
anstalt lebte sie dann bis zu ihrem 18. Lebensjahre. Sie lernte sehr
gnt und erwarb umfassende Schulkenntnisse und Fertigkeiten, war
aber stets eine unberechenbare Natur, launisch, reizbar, dann wieder
übertrieben religiös. Neid, Eigensinn, Gehässigkeit und Missgunst
waren ihre hervorstechenden Charaktereigenschaften. Körperlich war
sie früh entwickelt, frühreif, hatte auch sicherlich schon sexuelle
Neigungen betätigt, als sie im 16. Lebensjahre in gynäkologische
Behandlung kam. Als Dienstmagd zündete sie im 19. Lebensjahre
ohne weiteres Motiv als wie Lust am Feuer, ein Haus an und ver-
ursachte dadurch einen Schaden von 20000 Mark. Diese Tat brackte
sie in Untersuchungshaft. Zugleich fand nun eine rätselhafte Feuers-
brunst, die in dem sie beherbergenden Rettungshause früher einmal
sich ereignet hatte, ihre Erklärung. Die T. leugnete auch gar nicht,
sie veranlasst zu haben. Sie war unmittelbar nach jener Tat mit
einer Diakonissin in die Kirche gegangen. Ihre Abstammung, die
Motivlosigkeit der Handlung sowie das eigentümliche Vorleben ver-
anlassten eine Anstaltsbeobachtung gemäss $ 81. —
Als interessantes Stigma degenerationis fanden sich bei der T.
ausgedehnte, völlig pigmentlose Hautpartieen an Leib, Armen und
Beinen. Psychisch bot sie das Bild einer ausgesprochenen Hystero-
epilepsie. Bald war sie arbeitsam, tractabel, ruhig, dann wieder in
unvermitteltem Wechsel reizbar und deprimiert bis zum Conamen.
Tagelang bereitete sie durch ihre schrankenlosen Erregungsausbrüche
der Pflege die grössten Schwierigkeiten, zerstörte Utensilien und
Kleidung. Eine Bagatelle vermochte sie in Wut zu versetzen. Das
Personal verhetzte sie, die eine Pflegerin gegen die andere ausspielend.
Altruistische Regungen waren ihx fremd. Daneben fiel eine Neigung
zu läppischen Spielereien und Streichen auf. Ihr Schlaf war‘ unruhig
manchmal träumte sie lebhaft und schrie nachts im Schlaf: „Feuer.“
Ihre Brandstiftungen begründete sie damit, dass die zu der ersten
geschritten sei unter dem Eindruck einer kurz zuvor geschauten
Feuersbrunst. Beim zweiten Male (es handelte sich um den Brand
einer Papiermühle) habe eine Äusserung des Werkmeisters, Papier
brenne schlecht und knistere, sie nicht ruhen lassen, ehe sie nicht
den Versuch gemacht habe, ob es sich wirklich so damit verhalte.
Die T. wurde als geisteskrank ausser Verfolgung gesetzt und
in eine Irrenanstalt überführt. Der Erziehungseffect war somit in
letzter Linie in diesem Falle gleich Null. Die angeborene Anlage
triumphierte schliesslich trotz aller Versuche, der Gesellschaft ein
nützliches Glied zu erwerben.
En. un
Auch der folgende Fall ist ein Beleg dafür, dass so oft
auf der Basis minderwertiger Veranlagung nach jahrelangen
erzieherischen Schwierigkeiten sich schliesslich doch eine de-
generative Geistesstörung entwickelt, als deren Vorläufer die
an den Tag gelegten, eventuell sogar gerichtlich geahndeten
unsozialen Handlungen anzusehen sind.
VIL Die 1884 geborene N. von A., wird am 4. Januar 1902,
eben 17 Jahre alt, uns zugeführt. Ihre Eltern starben früh. Von
Geistesstörungen in der Familie ist nichts bekannt. Sie besuchte die
Volksschule, war mittelmässig begabt. Mit 13 Jahren wurde sie von
der Armenpflege übernommen, zunächst bei zwei Familien nacheinander
in der Stadt untergebracht, dann bei einem Bauern verpflegt und
schliesslich nach der Schulzeit bei einem Pfarrer als Magd verdingt.
Ursache des mehrmaligen Erzieherwechsels war darin gegeben, dass
die N. durch kleine Diebereien, Lügen und dergl. lästig wurde. Ein-
mal war sie auch mit einem entwendeten Geldbetrage nach Coblenz
zuV erwandten entwichen.
Im Pfarrhause zeigten sich sehr bald unsoziale Eigenschaften.
Sie begann ungehorsam zu werden, war trotzig, tat das Gegenteil,
wenn man sie riigte. Als ihre Renitenz immer stärker hervortrat,
wurde die Frage der Unterbringung in einer Besserungsanstalt er-
wogen. Vorerst sollte indessen ein ärztliches Urteil eingefordert
werden, ob es sich hier um Unmoral oder Geistesschwäche handle.
So kam die N. auf 2 */, Monate in die Klinik.
Körperlich liess sich eine leichte Asymmetrie des Schädels fest-
stellen, auch fiel ein Missverhältnis des Breitendurchmessers zum
Längsdurchmesser auf. N. verhielt sich gleichmässig ruhig und ge-
ordnet, beschäftigte sich, legte bei den angestellten Prüfungen
ihrer Schulkenntnisse gutes Verständnis an den Tag, fügte sich
willig und ruhig in alles, schloss sich freundschaftlich an einzelne
Pflegerinnen an, hatte nie Differenzen mit anderen Kranken. Ab und
zu hörte man Klagen über Kopfschmerzen, Blutandrang, auch konnte
man bisweilen Zittererscheinungen der Finger beobachten. Vorhalt
ihres ungeziemenden Verhaltens gegen ihre Dienstherrschaft ver-
stimmte sie in keiner Weise, sie räumte sogar ein, dass sie gefehlt
habe. Von ihren verstorbenen Eltern redete sie pietätvoll, für ihre
lebenden Geschwister legte sie Anhänglichkeit an den Tag.
Das über sie abgegebene Gutachten schloss dahin, dass die N.
bei normalem intellectuellem Verhalten eine Anzahl Charaktereigen-
schaften besitze, die auf mässige moralische Schwäche schliessen
liessen, deren Entfaltung durch ungünstige Verhältnisse, Mangel an
geregelter Erziehung begünstigt sei. Geisteskrankheit und Geistes-
schwäche im Sinne dauernder Geisteskrankheit, wurden ausgeschlossen.
— 26 —
Von Unterbringung in einer Anstalt wurde. abgeraten wegen der
Gefahr der Berührung mit Kriminellen und anderen in stärkeren
Maße ethischen Defekten. Geraten. wurde nochmalige Unterbringung
in einer Familie nach vorheriger Unterweisung betr. der Eigenschaften
` des Mädchens. Doch wurde die Möglichkeit, dass später sirae
Fürsorge notwendig werden könne, nicht ausgeschlossen.
In anerkennenswerter Weise machte darauf der Pfarrer dodi
mals einen Versuch und nahm die N. in sein Haus. Sehr bald aber
gab es neue Klagen, Diebereien und Naschen nahmen. überhand, oft
‚versteckte sie sich, dass kein Mensch sie finden konnte, nicht nur im
Hause stahl sie, sondern entwendete auch in einem Weisswaarenge-
schäft für 15 Mark Gegenstände. Man schickte sie nun zuerst in's
hiesige Stadthospital, wo versucht wurde, sie in der Hausarbeit zu
verwenden, vergeblich. Sie war fortgesetzt renitent, schrie. bei Ver-
weisen, drohte mit Selbstmord, wollte einmal eine andere Magd er-
stechen, goss einer anderen Spülwasser ins Gesicht etc.
Am 25. August 1902 kam sie abermals in die Klinik, diesmal als
Geisteskranke mit einem kreisärztlichen Zeugnis, Ihr Verhalten war
nun ein ganz anderes, wie das erste Mal. Unmotivierte Erregungs-
zustäinde wechselten mit Depression und mutistischen. Zeiten.
-Drohungen mit Selbstmord und Versuche in dieser Richtung brachte
fast jeder Tag, bis die Kranke einer Landesirrenanstalt zugeführt
wurde. Es galt nunmchr, die erste Diagnose zu ändern. Die Psy-
chose fiel in den Rahmen des primären Schwachsinns bei bereits be-
stehender psychischer Minderwertigkeit. Die N. ist anstaltsbedürftig
geblieben.
Der folgende Fall ist ein schlagender Beweis dafür, dass
manchmal auch ärztliche Beurteilung auf Grund kurzer Ex-
ploration zu erheblichen Irrtümern Anlass geben kann. Hier
handelt es sich um ein angeboren schwachsinniges Kind, das
aus der Zwangserziehung schliesslich doch. in die Irrenanstalt
gelangt. Ä
VII. A. K. von R., am 10. August 1887 geboren, kam 15 Jahre
alt in die Klinik. Das Kreisamt zu G. möchte ein sachverständiges
Urteil darüber haben, wie es um ihre Geistesbeschaffenheit bestellt
ist. -Sie ist das zweite von 6 lebenden Kindern eines Fabrikarbeiters,
der kurz vor ihrer Aufnahme zum zweiten Mal wieder geheiratet
‚hatte. Nach der Zwangserziehungsacte ist sie in der Schule zurück-
- geblieben, auch der Pfarrer wusste von sehr schwacher Begabung zu
berichten. In der Familie waren recht traurige ‚Verhältnisse, die
. zweite Frau hatte auch ein Kind geboren, sollte mit ihren Stief-
kindern schlecht umgehen, speziell die A. K. mit Stock, Kehrbesen
und durch Fusstritte misshandelt haben. Vom Vater wurde berichtet,
— NN —
er habe gelegentlich dein Kinde Lumpen in den Mund gesteckt, um
es am Schreien zu hindern. Die Stiefmutter erzählte von kriminellen
Zügen des Kindes, es habe Obst gestohlen, auch Geld auf der Messe,
es sei faul, unselbständig, unreinlich.
Aber auch das Kind fand seine Verteidiger. Zwei Parteien
bildeten sich, die eine für, die andere gegen dasselbe. Der einen
“Nachbarsfrau. macht das Kind einen stillen, ordentlichen Eindruck, so
dass sie ihm lügen, stehlen und andere Untugenden nicht zutraut, sie
will gesehen haben, dass die Mutter es schlug, „wie ein Vieh.* Eine
. andere Hausgenossin weiss nichts von roher Behandlung, meint, es
habe genau so viel bekommen, wie andere Kinder auch. Eine dritte
verdächtigt wieder diese: sie wolle nur nichts sagen, weil sie mit der
Familie gut stehe etc. Auch die Apothekersfrau hat sich ins Mittel
gelegt und hat schliesslich den Pfarrer in Bewegung gesetzt, um Ab-
hilfe zù schaffen. Jedenfalls lag Zündstoff genug bereit, aus dem
. eventuell noch ein paar Beleidigungsklagen hätten entspringen können.
— Pfarrer und Schulvorstand empfahlen Entfernung aus der Familie
- und Zwangserziehung. Der Kreisarzt bezeichnete die A. K. als mo-
. ralisch defekt und empfahl die Erziehungsanstalt. Am 21. Mai 1902
wurde Zwangserziehung verfügt, aber erst am 19. Juli war ein Platz
. in einer Anstalt frei. - Schon nach : wenigen Tagen bean-
- tragte aber der Vorsteher der letzteren die Entfernung der K. Das
Kind sei unreinlich, gierig,.so dass es nach den Mahlzeiten brach, es
singe viel. und sei durch Vermahnungen unbeeinflussbar. Fünf Wochen
. später, nach Erledigung des as kam das Kind in die
Klinik. Ä
- Körperlich erweist es sich als EEE hat eigenartige
Behaarungsanomalien auf dem Rücken und Absonderlichkeiten der
Zahnstellung, ist aber sonst gesund gebaut. Dic Schulkenntnisse sind
= sehr ‚gering, aber das Kind vermag doch im Zahlenraume von 1—100
_ gut zu ‘rechnen, es dividiert sogar auffällig gut. Sonst fehlt ihm
-- aber auch so gut wie alles geistige Leben. Es isst, trinkt und schläft,
singt oder spielt für sich, redet oft den Pflegerinnen tausenderlei unzu-
-sammmenhängende Dinge ideenflüchtig vor. Weiter war es auch un-
reinlich, musste geführt werden. Es handelte sich somit um einen
- angeborenen Schwachsinn mit Steigerung in der Pubertátszeit. Die
K. kam dauernd in eine Landesanstalt und- belindek sich ,. wesentlich
blöder geworden, noch darin.
Auch in dem folgenden Falle fand die aake e
des für eine Zwangserziehung in Aussicht genommenen jungen
Menschen erst reichlich spät die richtige Würdigung, nachdem
er bereits Bestrafungen erlitten und den Seinen viel Kummer
gemacht hatte.
IX. Heinrich G. von H., kam 16 Jahre alt in die Klinik. Er
— 92% —
ist schwer belastet. Ein Muttersunkel tötete erst seine Frau und
dann sich. Ein Muttersbruder ist starker Trinker, eine Mutters-
schwester paranoisch, eine zweite hysterisch lügenhaft. Der Vater
ist nervös, vielleicht selbst Trinker. G. war bereits dreimal vorbe-
straft, als er in die Klinik kam, einmal wegen Körperverletzung, dann
wegen Betrug und Beleidigung. Zuerst war er Gymnasiast, dann er-
füllte er dürftig die Anforderungen der Volksschule Hernach ver-
suchte der Vater ihn alles mögliche lernen zu lassen, er war Zimmer-
mann, Comptoirist, alles umsonst. Einmal bedrohte er einen Alters-
genossen mit Erschiessen, dann bestahl er den Vater um Gegenstände
aus seinem Laden. Nun riss diesem die Geduld, und er warf ihn zum
Hause hinaus. Jetzt zog er mit einer Karousselgesellschaft umher,
belästigte aber auch den Vater, so dass dieser entsprechend dem
$ 1631 B. G. B., die Hülfe des Vormundschaftsgerichtes in Anspruch
nahm. Man tat ihn nun, nach neuerlichen Excessen, in Polizeigewahr-
sam, bis eine Besserungsanstalt für ihn ausfindig gemacht wäre. Jetzt
bekam er seinen ersten Erregungszustand, lärmte und sang in seiner
Zelle, zerstörte auch das ganze Zellmobiliar. In der Klinik führte
er sich ordentlich, seine Stimmung schwankte zwischen heitrem
Gleichmut und reizbarer Unlust hin und her. Gern spielte er anderen
einen Possen. Seine Kenntnisse waren gering, unter dem Durch-
schnitt. Der Vater nahm ihn wieder mit heim, doch kam er später
in eine Besserungsanstalt, wo er sich bis jetzt leidlich führen soll.
Es kann kein Zweifel sein, dass es sich bier um einen Imbecillen
handelt, der im späteren Leben wohl sicher gelegentlich vorübergehend
oder auch dauernd, vielleicht wegen gemeingefährlicher Handlungen
ein Objekt der Psychiatrie "wird. Ein Grund, den 16 jährigen dauernd
in einer Irrenanstalt zu internieren, lag aber nach Abklingen des ihn
in die Klinik führenden Erregungszustandes nicht vor.
Den Typus des psychisch abnormen Kindes ohne ausge-
sprochen pathologische Erscheinungen repräsentiert das folgende:
X. B. aus H., kommt 10 Jahre alt, in die Klinik. — Das Kind
ist als älteres von zwei Mädchen unehelich geboren. Die Mutter wird
als ,geistigblúdsinnig" bezeichnet. Ihr standen ganze 35 Pfennige
per Tag zur Verfügung, kein Wunder, dass unter diesen Verhält-
nissen das Kind verkam. Es strotzte von Ungeziefer, kam zerlumpt
zur Schule und hatte das Glück, kann man wohl sagen, mit 7 Jahren
in die Zwangserziehung genommen zu werden. Nach einem Jahre
schon kündigten die Pflegeeltern wegen eingetretener Familienver-
hältnisse. Damals berichtete der Geschäftsführer des Erziehungs-
vereins an das Kreisamt: Betragen, Fleiss, Leistungen im ganzen gut.
Betragen im Hause nicht ohne Tadel, sehr flatterbaft, wild und ruhe-
los, geringer Fortschritt. — Ein Jahr später werden Betragen und
Fleiss in der Schule auch noch als genügend bezeichnet, dagegen
— 9 —
über das Verhalten im Hause gemeldet: diebisch, mangelhaftes Be-
tragen.
Misshandlungen durch den zweiten Erzieher veranlassten wieder
zur Verbringung in andere Pflege, d. h. in zwei Jahren doppelter
Wechsel der Erzieher. Ob man nun verständigere Leute gefunden
hatte? Jetzt im Juli 1904 lautet der Bericht, sie sei brav, willig,
aber gar zu flatterhaft. Ührigens war mit jedem Wechsel der Er-
zieher, auch ein Wechsel des Wohnsitzes verbunden, so dass das Kind
sich immer erst wieder in ganz neue Verhältnisse einleben musste.
Im Januar 1905 verzeichnet der Erziehungsbericht: „Schule Betragen
mangelhaft, unruhig, Fleiss gut, Leistungen kaum genügend. Ruhig
acht zu geben, ist ihr unmöglich. Zu Haus ist sie folgsam und wilig,
aber zerfahren. Sollte ihre Zerfahrenheit krankhaft sein?
Auf Antrag des Erziehungsvereins liess nun das Kreisamt das
Kind der Klinik zuführen. In der Motivierung des Antrages heisst
es: sie ist in steter Aufregung, unruhig auch in der Schule, vergess-
lich, ohne dass böser Wille vorliegt. Sie ist sehr eifersüchtig, wenn
Z. B. seine kinderlosen Pflegeeltern Interesse für andere Kinder an den
Tag legen, so neigt sie sogar zu Misshandlungen der letzteren.
Die etwa 8 wöchentliche Beobachtung konnte feststellen: Sie be-
sitzt abnorme Charaktereigenschaften. Im Grunde ist sie ein gut-
geartetes und in intellektueller sowie ethischer Hinsicht erziehbares
Kind, sie ist folgsam, willig und nicht ausgesprochen lügnerisch, aber
ängstlich und furchtsam und oft zurückhaltend, was gelegentlich ihre
Aussagen und Geständnisse beeinträchtigen kann. Sie arbeitete hier
fleissig mit in der Küche, doch kann nicht in Abrede gestellt werden,
dass sie etwas Unstätes und Unbeständiges in ihrem Wesen hat. Be-
züglich ihrer Gemütseigenschaften ist zu sagen, dass sie etwas reizbar
ist, auch in freudigen Affekten oft über das Ziel hinausschiesst.
Doch sucht sie keine schlechte Eigenschaften zu betätigen, Lüge und
Verleumdung sowie Diebereien sind nicht vorgekommen. Das Kind
eignet sich demnach weiter für eine Familienerziehung, die eine liebe-
volle, aber strenge sein muss. — Hierauf kam das Kind zu einer
alleinstehenden älteren Frauensperson, welche in ihrer häuslichen
Einsamkeit sich unbehaglich fühlte und darnach verlangte, sich eines
verwaisten Kindes anzunehmen, die also nicht etwa aus pekuniären
Interessen sich um die Pflege beworben hatte.
Die Prognose dieses Kindes wird nicht unbedingt günstig gestellt
werden dürfen. Soll aber etwas aus ihm werden, so wird jedentalls
der sprunghafte Wechsel im Erziehungsplane unterbleiben müssen.
Personen, die bei jeder „Unart“ gleich erlahmen und auf Abnahme
drängen, eignen sich gewiss in solchem Falle nicht zum Erzieheramte.
Erwägt man unter Berücksichtigung der Zugehörigkeit zu
einer der vier Gruppen die Frage, welche Wege die Erziehung
— 380 —
des Einzelnen einzuschlagen hat, so ergiebt sich ohne weiteres,
dass die Indicationen sehr verschiedenartige sind. Jede Er-
ziehung muss individualisierend, vorgehen, und bei so difficilem,
so zahlreiche Varianten aufweisendem Rohmaterial ist dies erst
recht von Nöten, soll nicht von Anfang an das Resultat in
Frage gestellt werden. Bei der Gruppe a liegt kein Grund vor,
bessernd einzuwirken, weil keine Verderbnis besteht, wohl aber
ist es nötig, ihre Vertreter vor der Berührung mit der anderen
Gruppe sorgsam zu schützen. Bei den zur Gruppe b und c
gehörenden ist dagegen eine straffe Zucht am Platze. Bei jenen
wird sie ein Verständnis für die erzieherische Absicht der Strafe
finden, es wird ihr gelingen, die gewucherten Triebe zu be-
schneiden und den Zögling in die Bahn der Sitte und Ordnung
zurückzuleiten, die Triebfeder des Ehrgefühls wird sich fester
spannen lassen, so dass hier ein hoher Prozentsatz brauchbarer
Menschen zu gewinnen sein wird. Hier können Familien-
pflege und der darin wirksame Einfluss gut gearteter Kinder
gute Erfolge zeitigen. Selbst Fälle schlimmster Verwahrlosung
finden sich hier manchmal noch zurecht und bestätigen das
Wort, dass der „gute“ (d. h. der gut veranlagte) Mensch in
seinem dunklen Drange des rechten Weges sich bewusst bleibt.
Nie sollte man darum, wo man unter dem Russ der Demorali-
sation noch die spiegelnde Fläche guter Artung vermuten darf,
auf den Versuch der Familienpflege verzichten.
Anders liegt die Sache bei der Gruppe c. Ihre angeboren
moralisch defekten, aber dabei über eine hinreichende Summe
von Intelligenz und Urteilsvermögen verfügenden Vertreter be-
dürfen strenger Erziehung und straffer Disziplin, damit sie lernen,
dass Wohlverhalten und Achtung der durch das Gesetz gezo-
‚genen Grenzen sie vor Unannehmlichkeiten und Strafen be-
wahrten, hingegen die rücksichtslose Betätigung egoistischer
Strebungen und verbrecherischer, fremde Rechte lädirender Nei-
gungen Gegenrepressalien der geschädigten Gesellschaft zur
Folge hat. Diese Individuen gehören unter eine wachsamere
Aufsicht, wie eine Familienpflege sie bieten kann, und sei letztere
von noch so strengen Prinzipien durchdrungen. Man kann sie
ausserhalb einer Anstalt nicht immer im Auge haben, und wird
darum nicht in dem Maße jede Regung unsozialer Triebe unter-
os A u
drücken kónnen,. wie es in einer Besserungsanstalt sich durch-
führen lässt. Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass ihre
Anhäufung in Anstalten und Besserungshäusern mit grossen
Schwierigkeiten wegen der Gefahr gegenseitiger Infektion ver-
bunden ist. Dass die Verbringung von Individuen der Gruppe
b in. solche, wesentlich mit angeboren moralisch defekt Veran-
lagten besetzte Anstalten ebenfalls contraindizirt ist, bedarf
kaum der Betonung. | DE
Der subtilsten Behandlung von allen Zwangszöglingen be-
dürfen ohne allen Zweifel die der Gruppe d. angehörenden.
Hier spielt das psychopathische Moment eine so bedeutende Rolle,
dass nur der den Aufgaben der Erziehung gerecht werden kann,
der sich in jedem Einzelfalle ganz der Individualität und Ver-
anlagung des Zöglings anzupassen weiss und gründliche Kennt-
nisse auf diesem Gebiete besitzt. Die Bewertung von Er-
regungszustánden, die Beurteilung der „Lüge“, die Behandlung
„lasterhafter‘ Angewöhnungen darf hier nicht nach normal-
psychologischen Grundsätzen vorgenommen werden. Die Er-
ziehung jener Imbecillen, deren Schwachsinn nicht so sehr in
einem Unvermögen zur Aufnahme des Gedächtnismateriales
beruht, als vielmehr in einem Mangel an Anpassungsfäbigkeit
und Mangel an Urteilskraft, ist eine Aufgabe, die nur der richtig
anzugreifen weiss, dem die Auffassung geläufig ist, dass die
Konstatirung eines guten Erinnerungsvermögens und einer auf
Grund desselben erworbenen umfangreichen Summe von Schul-
kenntnissen noch lange nicht gleichbedeutend ist mit der Fest-
stellung einer gesunden Intelligenz.
Wie viele unter diesen psychopathisch Veranlagten wird
eine sorgsame Sichtung herausfinden, die leicht ermüdbar,
schwerfällig im Denken, psychisch leicht gehemmt sind, und
die dabei von psychologisch ungenügend geschulten Erziehern
immer wieder als faul, nachlässig und widerspenstig angesehen
und durch Zuchtmittel zu beeinflussen gesucht wurden, deren
Erfolglosigkeit von vorneherein hätte bekannt sein müssen. Wie
viele epileptisch Veranlagte im weiteren Sinne sind schon zur
Crux einer Besserungsanstalt geworden, haben Mitzöglinge und
Erzieher bedroht und beschädigt oder an totem Material ihre
Wuth ausgelassen, nur darum, weil ihrer abnormen Erreglich-
— 32 —
keit nicht richtig begegnet, sondern in ihr nur strafwürdige
Rohheit und Gemeinheit erblickt wurde.
Manche von diesen abnorm Veranlagten darf die Fa-
milienpflege für sich zunächst reklamiren, aber eigentlich nur
die aufgeklärtere, der man die Eigenart des Pfleglings zum
Bewusstsein gebracht hat. Dass es schwer ist, für solche Auf-
klärung bei Pflegern aus einfachen Verhältnissen das richtige
Verständnis zu finden, wird jeder wissen, der sich solcher Auf-
gabe je unterzogen hat. Es ist das ebenso schwierig, wie das
Unternehmen, bei dem grossen Publikum ein richtiges Ver-
ständnis für das Verhalten und die Äusserungen Geisteskranker
zu wecken.
Sind Zöglinge der Gruppe b und c mit solchen der Gruppe
d gemeinschaftlich untergebracht und eine individualisierende
Behandlung differenziert, die psychopathischen Züge der letzteren
berücksichtigend, die Strafmittel, sieht diesen nach, was jenen
Rüge und Züchtigung einträgt, so führt dies, so berechtigt auch
ein solches Verfahren an sich ist, sicher zu einer Schädigung
des Ansehens des Erziehers bei seinen die Motive nicht ver-
stehenden und ihn für parteilich haltenden Zóglingen. Zwangs-
anstaltserziehung ohne sorgfältige Scheidung der einzelnen Ka-
tegorien ist eigentlich genau dasselbe, wie wenn man in psy-
chiatrischen Anstalten «len ganzen Krankenbestand in gemein-
schaftlicher Saalpflege ohne Differenzirung und Rücksicht auf
die psychische Beschaffenheit der Einzelnen behandeln wollte.
Ob aber in den gegenwärtig bestehenden Erziehungs- und
Besserungsanstalten überall sorgfältig gruppiert wird oder über-
haupt bei dem Missverhältnis zwischen Pflegenden und Pfleg-
lingen gruppiert werden kann, das dürfte anzuzweifeln sein.
Unsre Einteilung in Gruppen soll natürlich keine scharfe
sein und macht nicht Anspruch darauf, dass nun nach diesen
Gesichtspunkten sich jeder Einzelfall unschwer in eine bestimmte
Rubrik bringen liesse. Es giebt viele Übergangsfälle zwischen
den Gruppen. In welche einzelne Kategorie ein Zögling ein-
zureihen ist, wird oft genug erst sein Verhalten in der Zwangs-
erziehung ergeben. Mancher mag uns zur Gruppe b gehörig
erscheinen, bei dem die Zukunft evident psychopathische Er-
scheinungen zeitig. Mancher, bei dem wir anfangs nur mo-
— 83 —
ralische angeborene Defekte seben zu müssen glaubten, erweist
sich später (wie der oben angeführte Fall Rs.) als angeboren
schwachsinnig im Sinne einer dauernden Geistesstórung unl
endet in der Irrenanstalt. Mancher Imbecille mässigen Grades,
bei dem man nach seiner Vergangenheit und den abgelegten
Proben unsozialer Veranlagung eine durchaus ungünstige Vor-
hersage stellen möchte, kommt andrerseits bei guter Anleitung
später überraschend gut durch das Leben, zumal dann, wenn
er später in dienende Stellung gelangt, in der ihm eine gewisse
wohlwollende Bevormundung zu Teil wird. Solche Irrtümer
sind in der Natur des schwierigen Gegenstandes begründet.
Ist es schon: für den Fachmann somit nicht immer ganz
leicht, den einzelnen Zögling richtig einzuschätzen, so wird der:
psychiatrisch Unerfahrene auf diesem Gebiete erst recht mit
Schwierigkeiten und Missgriffen zu rechnen haben. Die Forde-
rung einer Diagnosenstellung nach eingehender Beobachtung
und Feststellung des psychischen Inventars im Beginne einer
jeden Zwangserziehung erscheint darum hinreichend berechtigt,
selbst in den Fällen, wo scheinbar nur äusserliche Umstände (z. B.
ein robes und unsittliches Verhalten der Eltern) die Indikation
zur Fürsorge abgab und ein anscheinend gesundes Kind in Frage
kommt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und Eltern,
denen wegen hässlicher Charaktereigenschaften die Erziehung
ihrer Nachkommen abgenommen werden musste, pflegen in den
seltensten Fällen sonst vollwertige Menschen zu sein. Zumeist
dürfte durch sie ihren Kindern bereits eine abnorme Anlage
vererbt sein, die der Erzieher kennen und berücksichtigen muss.
Der Satz: qui bene diagnoscit, bene medebitur gilt auch
hier. Wer die Eigenschaften des Rohmaterials kennt, weiss
auch, was daraus zu machen ist, welche Leistungen er ihm zu-
muten darf. — Wer aber soll diagnostizieren? Die Antwort ist:
leicht zu finden; hier ist auf den psychiatrisch geschulten
Arzt zurückzugreifen. In jedem anhängig gemachten Falle,
nicht nur in denen wo es darauf ankommt, die Spuren von
Misshandlung oder Vernachlässigung an einem jugendlichen
Körper nachzuweisen, sollte das betrefiende Kind zunächst zur
kurzen Inaugenscheinnahme dem Gerichtsarzte vorgeführt werden.
Wo eine psychiatrische Poliklinik besteht, könnte auch
3
a 1m.
a Be
vielleicht diese um ihre Mitwirkung angegangen werden. Ver-
mag die flüchtige Exploration nicht hinreichend Aufschlüsse zu
geben, so sollte, etwa analog dem $ 656 der Zivilprozessordnung,
ärztlich beantragt werden, dass eine kurze Einweisung in eine
Anstalt auf vielleicht eine bis drei Wochen verfügt werde, da-
mit so dem Facharzte Gelegenheit gegeben wäre, sich eingehend
mit dem Kinde zu beschäftigen, seine Gewohnheiten, seine be-
sonderen Eigentümlichkeiten etc. kennen zu lernen, kurz: seine
Eigenart unter Berücksichtigung der Erblichkeit und des Vor-
lebens festzustellen.
Die oben gebrachten Fälle, die sich noch um zahlreiche
vermehren liessen, sind ein Beweis dafür, dass die mit der
Zwangserziehung betrauten Behörden doch immer mehr sich
der Wichtigkeit psychiatrischen Beirates bewusst
werden. Es ist uns unbekannt, ob auch andere psychiatrische’
Kliniken in dieser Hinsicht bereits Erfahrungen sammeln konnten
bezw. in der Lage waren, Zwangszöglingen über einige Zeit
Unterkunft zu gewähren. Wo die Möglichkeit dazu besteht
(meistens will niemand von den maßgebenden Faktoren sich
zur Kostentragung bereit finden lassen, während das Angebot
eines Freiplatzes sofort zahlreiche Bedenken aus dem Wege
räumt), da sollte man reichlich von ihr Gebrauch machen. Man
gewinnt einen wertvollen Zuwachs an nicht nur klinisch inter-
essanten, sondern auch für die Ausbildung der Arzte sehr wich-
tigen Fällen, deren Kenntnis letztere veranlassen wird, in späterer
Praxis’auch diesem, scheinbar ausserhalb ihres Wirkungskreises
liegenden Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. —
In den Ausführungsbestimmungen des preussischen Fürsorge-
erziehungsgesetzes wird besonders betont, dass man sich einer
Mitwirkung der Geistlichen, Lehrer und Ärzte versichern solle.
Zu einer solchen Mitwirkung wird aber der Arzt am ehesten
bereit und befähigt sein, dem im psychiatrischen Unterricht
dieser Gegenstand nahegebracht und an Fällen des täglichen
Lebens erläutert wurde.
Sollte der Vorschlag einer ärztlichen Voruntersuchung
später Anerkennung finden und häufiger in die Praxis umgesetzt
werden, so wird der Arzt sich allerdings hüten müssen, in der
Auffassung vieler Fälle der Gruppen c und d zu rigoros zu sein.
a MAN,
Er darf die Grenze zwischen dem psychisch Abnormen und dem
direkt als krankhaft zu Bezeichnenden nicht zu sehr zu gunsten
des letzteren ziehen. Er wird sich bewusst bleiben müssen,
dass eine Diagnose auf angeborenen Schwachsinn eigentlich
gleichbedeutend ist mit dem Ausschluss der Fürsorgeerziehung..
Wer schon angeborenen Mangel an moralischen Empfindungen
als ein Krankheitssymptom bezeichnet, macht dadurch die besten
Absichten eines Vormundschaftsgerichtes illusorisch und nützt
damit dem Begutachtungsobjekt garnichts. Laquer hat in
seinem sehr lesenswerten Aufsatz über die Mitwirkung der Ärzte
bei der Ausführung des Erziehungsgesetzes (Vierteljahrsschrift
für gerichtliche Medizin etc.) einen Fall veröffentlicht, den er
bezüglich der Frage, ob mangelhafte Charakteranlage oder
Geistesstörung vorliege, zu begutachten hatte. Er hat dabei
betont, dass auf diesem Gebiete manchmal forensisch praktische
Erwägungen den klinischen voranzustellen seien, eine Auffassung,
der nur beigepflichtet werden kann.
Wer ein neues Medikament verordnet, ist sich selbst gegen-
über verpflichtet, seine Wirksamkeit zu kontrollieren, sich ein
Urteil zu bilden, ob es in dem gewünschten Sinne den darein
gesetzten Erwartungen entspricht. So ist es mit der Anordnung
der Zwangserziehung nicht allein getan, sondern wir sind uns
schuldig, Rechenschaft über Erfolge oder Misserfolge abzulegen.
Einzelne Fälle beweisen nichts, nur eine sehr umfassende
Statistik kann da Aufschluss erteilen. Nur auf Grund der
genauen Katamnese in tausenden von Fällen vermögen wir zu
erkennen, ob der beschrittene Weg generell der richtige ist. Es
ist somit eine subtile Verfolgung der weiteren Lebensschicksale
einer grossen Anzahl von Zöglingen notwendig, damit man Klar-
heit darüber gewinnt: welche Form der Erziehung die empfehlens-
werteste ist, ob bei verschiedenen Kategorieen von Zöglingen die
Besserung von Dauer ist, oder ob nach erlangter Volljährigkeit
die Mehrzahl der vom Zwange Befreiten nicht dennoch versinkt
und dem Verbrechen oder der Prostitution verfällt. Weiter wird
es von Wichtigkeit sein, festzustellen, bei wie vielen von den
psychopathisch Veranlagten schliesslich auf der Basis ange-
borener Minderwertigkeit doch noch Geistesstörungen mit de-
generativer Färbung ausbrechen. Solche katamnestische
3*
Feststellungen erfordern Zeit und Miihe, und es liegt auf
der Hand, dass zu ihnen ebenfalls der psychiatrisch geschulte
Arzt die besten Qualifikationen besitzt, dem darum auch schon
während der Dauer der Zwangserziehung mehr Fühlung mit
den Zöglingen zu wünschen wäre. In gleicher Weise wie bis-
her leider im Idiotenwesen ist ärztlicher Einfluss hier viel zu
sehr hinter den des Pädagogen zurückgetreten, der Arztist viel zu
sehr Nebenperson gewesen. Wie man auf dem Gebiet der Epilep-
tikerfürsorge immer und immer wieder betonen muss, dass sie nicht
mehr fast ausschliesslich wie bisher privater und kirchlicherWohl-
tätigkeit überlassen bleiben darf, sondern vom Staat oder den
Provinzen in Angriff zu nehmen ist, so darf man auch in Bezug
auf die weitere Entwicklung des Erziehungs- und Besserungs-
anstaltswesens nicht länger allein den alten Bahnen folgen. Man
möge das nicht missverstehen, wie wenn wir jene Bestrebungen
herabsetzen wollten. Im Gegenteil muss man es anerkennen,
wenn man z.B. konstatieren kann, dass die evangelische innere
Mission schon 1899 in 320 Rettungshäusern 14636 Plätze dem
Erziehungswerke zur Verfügung stellen konnte.
Aber die neue Zeit verlangt Berücksichtigung neuer Ge-
sichtspunkte: strengerer Individualisierung, Umsetzung psycho-
logischer, speziell medizinisch-psychologischer Forschungsresul-
tate in die Praxis, und nicht immer wird der Pädagoge solchen
Anforderungen gegenüber hinreichend gerüstet sein, bezw. nach
seiner ganzen Ausbildung sie befriedigen können. — Wie im Be-
triebe der Irrenanstalten überall im Lande jetzt nach gewissen
einheitlich erprobten Maximen mit geringen, durch die Lokal-
verhältnisse bedingten Variationen gehandelt wird, so müssen
sich auch einheitliche Grundsätze für die Rettungshäuser und
Erziehungsheime gewinnen lassen. Davon sind wir noch weit
entfernt, denn überall bleibt es wohl noch dem Einzelvorstand
überlassen, seinen Erziehungsplan zu entwerfen und nach Be-
lieben ihn auszuführen, zusammenzutun, was ihm beliebt, zu
disziplinieren, wie es ihm gefällt.
Auf welche Weise hier ein Kompromiss zwischen ärztlichen
Wünschen und den seither bestehenden Verhältnissen geschaffen
werden kann, ist schwer zu sagen. Ohne besondere gesetzliche
Bestimmungen wird es kaum durchzuführen sein. So wird
z A o
zunächst in dieser Beziehung wohl alles beim Alten bleiben.
Die Neigung, staatliche Institute diesem Zwecke zu errichten,
ist auch darum noch eine geringe, weil eben der Erfolg der
Zwangserziehungsgesetzgebung noch nicht in absolut sicheren
Zahlen sich ausdrücken lässt. Ein Ideal müsste es sein, wenn
in einem grösseren Bezirke eine Art Erziehungszentrale
sich befände, unter ärztlicher Leitung, in welche aller Fäden
zusammen liefen, die, im Zusammenhang mit dem Vormund-
schaftsgericht stehend, eine Personalakte jedes Zöglings nach
psychiatrischen Grundsätzen anlegen und kompletieren würde,
letzteres an der Hand der Berichte aller an der Sache beteiligten
Personen, Pfarrer, Lehrer, Ärzte ete. Dieser Leitung könnte
dann auch eine Fürsorgeerziehungsanstalt unterstellt sein, in
der die schwierigsten Elemente, die für die Familienpflege sich
ungeeignet erwiesen haben, unterzubringen wären. Von hier
würde dann der spätere Lebenslauf des Einzeln zu verfolgen
sein, damit im Einzelfalle der exakte Beweis für die Nützlich-
keit oder Unzweckmássigkeit der Zwangserziehung erbracht
würde.
Das sind einstweilen fromme Wünsche, indessen bieten
sich uns zunächst noch andere, um die Resultate der Fürsorge-
erziehung erspriesslicher zu gestalten. Es ist notwendig, die
Tatsache, dass überhaupt gesetzliche Bestimmungen bestehen,
mehr zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Wie selten be-
gegnet man jemandem, selbst in den besten Gesellschaftskreisen,
der auch nur eine Ahnung hat, dass es etwas derartiges giebt,
geschweige denn weiss, wie es um die Ausführungsbestimmungen
bestellt ist. Suchen wir Gelegenheit zu schaffen, durch welche
möglichst viele Information erlangen können. Hier kann die
Presse ausserordentlich viel nützen, indem die Tagesblätter auf-
klärende Aufsätze über diesen Gegenstand bringen. Es wäre
das jedenfalls besser, wie der Abdruck langer Artikel über
Gerichtsverhandlungen, Verbrechen, Hinrichtungen und der-
artige auf so viele Haltlose und ethisch Minderwertige förmlich
faszinirend wirkende Vorkommnisse.
Das Reichsgesundheitsamt giebt bekanntlich seit Jahren
sogenannte Merkblätter heraus, in denen allgemeinverständliche
ui. AB: 2
belehrende Darlegungen über die Infektionskrankheiten und ihre
Bekämpfung zu finden sind. Die Bekämpfung des Verbrechens
ist eine Sache von mindestens gleicher Wichtigkeit und Be-
deutung, und es müsste sich recht wohl ermöglichen lassen,
ähnliches auch auf diesem Gebiete im Interesse der Förderung
sozialer Wohlfahrt in die Wege zu leiten. Es ist wohl kein
Zweifel, dass alle Tagesblätter die ihnen von einer Zentrale aus
zugehenden Unterweisungen und Merkblätter gern zum Abdruck
bringen und den Inhalt somit weiten Kreisen zugänglich machen
würden.
Eine weitere Möglichkeit der Popularisierung der Zwangs-
erziehungsgesetzgebung bietet sich durch entsprechende Vorträge.
Man ist in der Gegenwart überall in grösseren Städten bestrebt,
das Bildungsniveau speziell der arbeitenden Klassen durch ge-
meinverständliche Vorträge zu heben. Nirgendwo sollte da
versäumt werden, auch diesen Gegenstand dem Verständnis
näher zu bringen und die Wichtigkeit zu betonen, dass jeder
in seinem Kreise Umschau halte und diejenigen, an deren
Beihülfe das Gesetz in erster Linie appeliert, Ärzte, Lehrer,
Geistliche etc. von Fällen drohender Verwahrlosung oder elter-
licher Unfähigkeit zum Erzieheramte in Kenntnis setze. Wir
wollen uns aber auch nicht verhehlen, dass es vielerwärts nicht
unnötig ist, diese natürlichen Helfer aus ihrer Lauheit aufzu-
rütteln, und zu intensiverer Mitwirkung aufzufordern. Uns
interessiert hier in erster Linie der Arzt. Fragen wir einmal,
wie viele Fachgenossen, welche Gelegenheit haben, in der Kassen-
und Armenpraxis zur Fürsorgeerziehung geeignete Fälle her-
auszuheben, in dieser Materie beschlagen sind, so werden wir
sicher ebenfalls in einem hohen Prozentsatze Unkenntnis auf
diesem Gebiete konstatieren müssen. Jeder Arzt sollte in der
Gegenwart für zahlreiche soziale Probleme sich interessieren.
Es wäre an der Zeit, dass ihm auch bereits auf der Hochschule
Gelegenheit geboten würde, sich hierin die für das spätere
Leben notwendige Basis anzueignen. Auch die Fürsorgeer-
ziehung gehört da mit zum Unterrichtsstoffe, darüber kann wohl
kein Zweifel walten.
Wenn durch solche Maßregeln es sich vielleicht ermöglichen
liesse, dass der Erziehungszwang auf stets zahlreichere Fälle
— 39 —
Ausdehnung erhält und stets in höherer Zahl gefährdete Minder-
jährige aus dem ungeeigneten Milieu herausgehoben werden,
so muss andererseits das Interesse darauf gerichtet bleiben, über-
all einen guten Stamm pflegender Familien zu bekommen und
an der Hebung ihres Verständnisses für die ihnen gestellte
sozialpolitische Aufgabe zu arbeiten. Mit dem guten Willen
der Leute, die sich zu dieser mühevollen Arbeit bereit finden
lassen, ist es nicht allein getan. Nicht nur die Psychologie der
Zwangszöglinge will berücksichtigt sein, sondern auch auf die
Psychologie der mit dem Erziehungsamte zu Betrauenden ist
gebührend Rücksicht zu nehmen. Oft genug kündigen Erzieher
den Pflegekontrakt, weil sie sich absolut ausser Stande sehen,
die Eigenart des Pfleglings zu verstehen, weil es immer wieder
Missverständnisse und Reibungen giebt. Das könnte anders
sein. Sehr zu empfehlen ist der Weg der Aufklärung durch
populäre Schriften. Es fehlt noch unseres Wissens an einem
Buche, das in knapper Kürze die Pfleger anleitet. Es müsste
darin dargelegt werden, von welchem grossen Grundgedanken
die Zwangserziehung getragen wird, Typen abnorm gearteter
Kinder müssten in prägnanten Beispielen mit den daraus zu
ziehenden Schlussfolgerungen und Behandlungsgrundsätzen ge-
geben werden. Ein solcher Leitfaden würde sicher das Ver-
ständnis vermehren und den Eifer anregen.
Die Ansichten über den prophylaktischen Wert der Zwangs-
erziehung divergieren bekanntlich stark. Die Einen schlagen
ihn hoch an und erwarten von der Zukunft einen zahlenmäßigen
Beweis der Berechtigung ihrer Überzeugung. Die Andern stehen
ihr durchaus skeptisch gegenüber. Wir haben es vermieden,
uns zu einer bestimmten Richtung zu bekennen und vertreten
die Ansicht, dass beide Richtungen noch auf längere Zeit im
Kompromiss sich betätigen und den weiteren Ausbau der Zwangs-
erziehungsgesetzgebung und ihrer Ausführung wetteifernd be-
treiben sollten. Vielleicht wird dann schliesslich das zu ziehende
Fazit in der Mitte zwischen Optimismus und Skeptizismus
liegen.
Die Zwangserziehung.
Referat erstattet durch Rechtsanwalt Dr. Fuld-Mainz.
Schon vor der Zeit, in welcher die Kriminalstatistik an
den von Jahr zu Jahr in intensivstem Maße anschwellenden
Ziffern der Kriminalität der jugendlichen Verbrecher den voll-
ständigen Bankerott des deutschen Strafsystems und der Straf-
rechtspflege den jugendlichen Übeltätern gegenüber dartat,
hatte die Landesgesetzgebung begonnen, sich mit der Regelung
der Zwangserziehung zu befassen. Während verschiedene der
vor dem R. St. G. B. geltenden Strafgesetzbücher es ausdrück-
lich für statthaft erklärten, die von Personen unter 12 Jahren
begangenen strafbaren Handlungen im Wege der Schulzucht
oder der Anwendung von polizeilichen Besserungsmitteln zu
rügen, hatte das R. St. G. B. von einer diesbezüglichen Vor-
schrift abgesehen. Zu den Partikularstrafgesetzen, welche der-
artige Bestimmungen kannten, gehörte auch das Hessische von
1841, das Werk Breidenbach’s, dessen wissenschaftliche Bedeu-
tung erst in den letzten Jahrzehnten zu ihrer Anerkennung
gelangt ist. Da sich Zweifel geltend gemacht hatten, ob die
Landesgesetzgebung in Folge des Schweigens des St. G. B.
hierzu befugt sei, so erhielt $ 56 St. G. B. durch die Novelle
eine Fassung, welche dieselben beseitigte. Auf dem Boden
dieses reichsrechtlich geordneten Rechtszustandes setzte nun
die Landesgesetzgebung ein, zunächst die preussische, deren
Gesetz vom 13. März 1878, schon im Jahre 1884 abgeändert,
für die meisten übrigen Bundesstaaten vorbildlich wurde,
wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Auch die hessische
Regierung verkannte die Notwendigkeit einer Ergänzung des
Landesrechts insoweit nicht, und das Gesetz vom 11. Juni 1887
gibt davon Zeugnis, dass man sich bei der Regelung der
— 41 —
Materie nicht nur von dem Gesichtspunkte der Verbrechens-
prophylaxe, sondern auch von dem viel weiter gehenden be-
einflussen liess, von dem Gesichtspunkte der sozialen Fürsorge,
unter welchem man viel weniger von einer Zwangserzieh-
ung, als von einer Fürsorgeerziehung reden kann. Mit
vollem Rechte vermied daher auch die Hessische Gesetzgebung
die Bezeichnung Zwangserziehung in der Überschrift und be-
diente sich statt dessen der Bezeichnung, Gesetz, betreffend
die Unterbringung jugendlicher Übeltäter und ver-
wahrloster Kinder; dass man dieselbe in dem Ausführungs-
gesetz zu dem B. G. B. fallen liess und zu dem längst nicht mehr
zutreffenden Titel „Zwangserziehung Minderjähriger* zurück-
kehrte, während.man in Preussen an Stelle der früheren Zwangser-
ziehung nunmehr von einer Fürsorgeerziehung sprach, ist bedauer-
lich und kann auch durch den Hinweis, dass man sich an die
Ausdrucksweise des Einf.-Gesetzes zu dem B. G. B. möglichst
genau habe anschliessen wollen, m. E. nicht genügend gerecht-
fertigt werden. Während die meisten Bundesstaaten sich auch
inhaltlich an das preuss. Ges. von 1878 in vielfach ziemlich
enger Weise anschlossen, schlug die Hessische Gesetzgebung
gerade bezüglich der Regelung der Frage, welche für die Für-
sorgeerziehung das Rückgrat bildet, nämlich der Regelung der
Voraussetzungen, eigene Wege ein. In Preussen hatte man
sich darauf beschränkt, die Zwangserziehung nur unter der
Voraussetzung der Verübung einer strafbaren Handlung zu
gestatten; es genügte also nicht das Vorhandensein der sitt-
lichen Verwahrlosung in eminentestem Sinne, nicht die un-
mittelbare Gefährdung des sittlichen Gedeihens eines Kindes,
nein, es musste eine strafbare Handlung begangen sein, um
die Zwangserziehung zu verfügen. Dies war der Standpunkt
der älteren Gesetzgebung, für welche die Notwendigkeit der
Verbrechensprophylaxe mittelst umfassendster Fürsorgeerzieh-
ung noch nicht erwiesen war. Über die Folgen dieses Systems
sind die Ansichten niemals geteilt gewesen, und es genügt
wohl zu seiner Beurteilung, oder besser seiner V er urteilung,
die Tatsache anzuführen, dass so mancher tüchtige Polizei-
beamte mit weitem Blick sich oft genug der Versuchung aus-
gesetzt fühlte, ein sittlich verdorbenes Kind zu der Übertretung
o ë ME Ten
— 42 —
eines Strafgesetzes anzustiften, um die Möglichkeit für die An-
ordnung der Fürsorgeerziehung zu schaffen. M. H.! Es ist
nicht nur von historischem, sondern auch von unmittelbar
praktischem Werte, nämlich für die Auslegung des heutigen
Rechts, zu konstatieren, dass die Hessische Gesetzgebung
schon damals weit über den Rahmen der preussischen Zwangs-
erziehung hinausging und weit mehr Wert auf die vorhandene
oder zu befürchtende sittliche Verwahrlosung als die Verübung
einer strafbaren Handlung legte, von praktischem Werte, weil
von jeher eine gewisse Neigung bestand, die Auslegung, welche
das preussische Gesetz erfahren hatte, auch bei der Auslegung
des Hessischen Gesetzes zu verwerten. Das Gesetz von 1887
gestattete die Zwangserziehung auch abgesehen von der Ver-
übung einer strafbaren Handlung in folgenden Fällen: a) bei
Kindern unter 12 Jahren und über 6 Jahren, wenn die Unter-
bringung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit einer von ihnen
begangenen strafbaren Handlung, auf die Persönlichkeit der-
selben, der Eltern oder sonstiger Erzieher oder auf die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Verwahr-
losung erforderlich ist, b) bei Kindern über 6 Jahren, die zwar
noch keine strafbare Handlung begangen haben, gleichwohl
aber eine Verwahrlosung an den Tag legen, so dass die Ein-
wirkung der Eltern und der Schule als ungenügend erscheint,
c) bei Kindern unter 16 Jahren, deren Eltern sich fortgesetzt
böslich oder fahrlässiger Weise der Entziehung der nötigen
Nahrung oder Pflege schuldig machen, oder sie misshandeln,
oder im übrigen ihre Eltern- und Pflegepflichten verabsäumen.
Es geht schon aus dieser Fassung des älteren Gesetzes hervor,
dass man den präventiven Charakter vor allem berück-
sichtigte und das entscheidende Kriterium in der sittlichen
Verwahrlosung sah. Wenn man ausserdem die Zwangserzieh-
ung auch solcher Kinder regelte, bei denen es sich in der
Hauptsache darum handelt, ihnen einen Schutz gegen pflicht-
vergessene Eltern und Erzieher zu geben, so war dafür einmal
der Umstand maßgebend, dass es im Grossherzogtum an Be-
stimmungen zur Entziehung der Elternrechte so gut wie gänz-
lich fehlte, sodann aber die Pflichtvernachlässigung seitens der
Eltern oder Erzieher früher oder später die sittliche Verwahr-
= AI a
losung hervorrufen muss, also auch insoweit war der Gesichts-
punkt der Verbrechensprophylaxe maßgebend, und es handelte
sich auch nicht etwa um eine Ergänzung von Bestimmungen
des Privatrechts, sondern vielmehr um eine Ergänzung des
Strafrechts.
Wie in Preussen, so stellte auch in Hessen das
Gesetz für die Ausführung der Erziehung zwei Alternativen
auf, die Anstaltserziehung und die Familienerziehung. Es
zelgte sich zunáchst auch bei uns die gleiche Erscheinung,
dass die Anstaltserziehung prävalierte, die Familienerziehung
zurücktrat, obwohl das Verhältnis zwischen beiden Systemen
stets ein günstigeres war, als in Preussen, wo in manchen
Provinzen die Familienerziehung geradezu unbekannt war und
ist. Mit der Zeit ist aber in dieser Hinsicht eine erfreuliche
Änderung eingetreten, die Familienerziehung ist mehr und
mehr zu ihrem Rechte gekommen und es ist nur zu hoffen,
- dass in dieser Hinsicht nicht wieder ein Umschlag eintritt, der
mit Rücksicht auf die Rechtsprechung nicht unmöglich wäre.
Zunächst aber ist es von Wert an Hand der Statistik einen
Überblick über die praktische Bedeutung der Zwangserziehung
zu geben. Die Zahl der bis zum 31. März 1904 untergebrachten
Kinder betrug im Ganzen 2586, davon konnten widerruflich
entlassen werden 190, bei 249 konnte die Entlassung in Folge
Erreichung des Zwecks, bei 159 in Folge anderweitiger Siche-
rung des Zwecks erfolgen. Am 31. März 1904 verblieben
noch in Zwangserziehung 1419, davon in Anstalten 639, in
Familien 780. Das Verhältnis der in Familien und Anstalten
Untergebrachten ergibt sich aus folgenden Zahlen:
ın Familien ın Anstalten
1892 221 323
1893 278 476
1894 251 309
1895 318 302
1896 342 369
1897 364 411
1898 399 425
1899 432 454
O E ETA
in Familien ın Anstalten
1900 448 480
1901 - 550 540
1902 624 543.
Zweierlei lässt sich aus dieser Statistik konstatieren, ein-
mal, dass von der Zwangserziehung nur in sehr langsam stei-
gendem Maße Gebrauch gemacht wird, dass aber anderseits
die Familienerziehung seit Ende des vorigen Jahrhunderts in
erheblich häufigerer Weise zur Anwendung gelangt, so dass
die absolute Zahl der Familienzöglinge in den letzten Jahren
grösser ist, als die der Anstaltszóglinge. So erfreulich das
auch ist, so genügt es doch den Anforderungen nicht, die vom
Standpunkte möglichst wirksamer Durchführung der Prävention
gestellt werden müssen.
Auf den Umstand, dass die Anstaltserziehung teuerer ist,
als die Familienerziehung — in Hessen kommt bei dieser ein
Kind etwa 105,50 M. jährlich zu stehen, bei jener auf 249 bis
250 M. —, kann ein ausschlaggebender Wert nicht gelegt
werden, denn die Kosten können hier, wo es sich um Ver-
hütung verbrecherischer Verwahrlosung handelt, keine Rolle
spielen, es gibt auch keine Aufwendungen, die sich besser be-
zahlt machen, als die für die Zwangserziehung gemachten,
was der Staat hierfür ausgibt, erspart er an dem Budget der
jugendlichen Delinquenten, ganz abgesehen von dem moralischen
und wirtschaftlichen Gewinn, und wir können in dieser Hin-
sicht von England noch sehr viel lernen, wo die verbrechenmin-
dernde Einwirkung der Zwangserziehung statistisch längst
nachgewiesen ist.
Meine Herren! Es gibt Fanatiker der Anstaltser-
ziehung und solche der Familienerziehung, die einen wie
die andern leiden an dem Fehler der Schablonisierung. Es
muss auf Grund der gemachten Erfahrungen davon ausge-
gangen werden, dass die Anwendung der Familienerziehung
einmal darunter zu leiden hat, dass die Ausführungsbehörden
die Anstaltserziehung vielfach, allerdings keineswegs immer,
mit ihrer strengern Zucht für das prinzipiell Richtigere halten,
zum Teil mit Rücksicht auf die Berichte und Gutachten, so-
dann aber, weil man an die zu wählenden Familien viel zu
strenge Anforderungen stell. Das Ausschreiben des Minist.
d. I. u. d. J. vom 25. VI. 88 an die Kreisämter bietet nach
meiner Auffassung hierzu keinen Anlass, es wird darin nur
erfordert völlig unbescholtener Ruf, gleiche Konfession mit
dem Kind, fämiliäre Pflege desselben, sicheres Auskommen,
gesunde Wohnung, geordneter Haushalt, Fernhaltung der Ein-
fliisse der bisherigen Erzieher, deshalb Unterbringung an einem
anderen Ort als dem bisherigen Wohnort, und schliesslich sollen
nur 2 Kinder in derselben Familie untergebracht werden. Das
geht bei richtiger Beurteilung keineswegs zu weit und ich er-
blicke keinen Grund zu einer Modifikation dieses Ausschreibens,
höchstens könnte man bemerken, dass das Erfordernis der
familiären Pflege ebensowenig allzuschwer genommen werden
soll, wie die Forderung guten Auskommens. Das Normale,
das juste Milieu, was den normalen Verhältnissen entspricht,
ist hier durchaus das Richtige und es sollte nicht vergessen
werden, dass die Fürsorgeerziehung keineswegs die Aufgabe
hat, bei den Zöglingen einen höheren Standard of life zu ent-
wickeln. Insbesondere bei der Unterbringung der weiblichen
Zöglinge muss über den Umfang der Anstaltserziehung noch
geklagt werden. Prinzipiell ist für weibliche Personen die
Familienerziehung das einzig richtige. Nur, wenn in der Person
der Kinder besondere Verhältnisse vorliegen, insbesondere,
wenn die Verwahrlosung schon weit fortgeschritten ist, er-
scheint die Anstaltserziehung empfehlenswert. Man macht
sich die Auswahl einer Familie vielfach ganz unnötig schwer
dadurch, dass man geradezu Idealfamilien verlangt, die natür-
lich nicht häufig vorhanden sind; dies ist aber gar nicht
notwendig, es genügt, eine in bescheidenen Verhältnissen
lebende Normalfamilie ausfindig zu machen, die aus der Auf-
nahme der Kinder nicht gerade ein Geschäft machen will. Es
müsste mehr individualisiert, weniger schablonisiert und bureau-
kratisiert werden. Immerhin verdient die Ausführung in Hessen
volle Anerkennung, wenn man bedenkt, dass in Preussen die
Zahl der in Anstalten untergebrachten Kinder in einer stän-
digen Vermehrung begriffen ist und beispielsweise in der Rhein-
provinz 91% beträgt. Als Grund hierfür wird die grössere
Tr Tr DEE
Verwahrlosung angeführt, indessen ist es zweifellos, dass die
Bedeutung der Familienerziehung überhaupt von den Provinzial-
verbänden in Preussen vielfach unterschätzt wird.
Das Inkrafttreten des B. G. B. bedingte eine Änderung
des Gesetzes, einmal im Hinblick auf die weitgehenden, einen
unendlichen Fortschritt bedeutenden Bestimmungen der $$ 1666
und 1838 B. G. B., welche dem Vormundschaftsgericht die
Anordnung der Erziehung und Unterbringung eines Kindes in
einer Anstalt oder in einer Familie gestatten, sodann ım Hin-
blick auf Artikel 135 Einf.-Ges. Man hat sich bei der Neu-
redaktion des Artikel 1, Absatz 2 ziemlich genau an das Einf.-
Ges. angeschlossen und demgemäß die Zwangserziehung bei
Personen von 6—12 Jahren, die eine strafbare Handlung ver-
übt haben, für statthaft erklärt, wenn die Unterbringung er-
forderlich ist mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der straf-
baren Handlung, auf die Persönlichkeit der Kinder, der Eltern,
sonstiger Erzieher und der übrigen Lebensverhältnisse zur
Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung. Dann gestattet
das Gesetz dieselbe bei Minderjährigen unter 18 Jahren, wenn
die Voraussetzungen der $$ 1666 und 1838 B. G. B. vorliegen
oder die Maßregel zur Verhütung völligen sittlichen Verderbs
der Minderjährigen notwendig ist. Eine weitere Änderung,
welche durch die genannten Paragraphen des B. G. B. erforder-
lich wurde, ist die, dass nach der älteren Fassung das Vor-
mundschaftsgericht nur über die Zulässigkeit der Zwangser-
ziehung zu befinden hatte, während die Ausführung Sache des
Kreisamtes war. Dies ist dahin geändert worden, dass das
Kreisamt die Ausführung zu veranlassen hat, wenn die Unter-
bringung auf öffentliche Kosten geschieht, während im anderen
Falle das Vormundschaftsgericht auch die Ausführung veran-
lasst. Wie in Preussen, so sind auch in Hessen bez. des Ver-
hältnisses zwischen der Erziehung auf Grund des Spezialgesetzes
und der auf Grund der beiden Bestimmungen des B. G. B. an-
geordneten Zweifel entstanden, welche am letzten Ende die
prophylaktische Wirksamkeit des Gesetzes ernstlich zu ge-
fährden drohen, und mit denen man sich daher näher beschäf-
tigen muss. Erfolgt die Unterbringung des Kindes auf Grund
.des B. G. B., so haben für die Kosten zunächst die Unterhalts-
md
verpflichteten aufzukommen, in Ermangelung solcher oder bei
Mittellosigkeit aber die Gemeinden, einen Zuschuss von dem
Staate oder dem Kreisverband erhalten sie dabei nicht.
Das Bundesamt für Heimatswesen hat — vollständig im
Einklang mit der Gesetzgebung — entschieden, dass bei An-
ordnung der Erziehung auf Grund der gedachten Bestimmungen
des B. G. B. der Zustand der Hülfsbedürftigkeit im armen-
rechtlichen Sinne gegeben und damit die Leistungspflicht der
Armenverbände vorhanden sei. Die Versuche aus den Kreisen
der Armenverbände, diese Rechtsprechung zu bekämpfen, sind
aussichtslos und auch materiell unbegründet. Die Armenver-
bände müssen also bei den seitens des Vormundschaftsgerichts
getroffenen erzieherischen Maßnahmen in Ermangelung leistungs-
fähiger Unterhaltsverpflichteter für die Kosten aufkommen und
zwar in allen Bundesstaaten. Anders bei der Unterbringung
auf Grund des Spezialgesetzes, hier ersetzt der Staat den Ge-
meinden die Hälfte der Kosten. Da nun bei den auf Grund
des B. G. B. untergebrachten Kindern die Existenz zahlungs-
fähiger Unterhaltsverpflichteter gerade so häufig ist, wie die
Begegnung eines weissen Raben, so hat die Anwendung der
betreffenden Paragraphen praktisch die Folge, dass die Ge-
meinden sehr stark belastet werden und diese Belastung be-
wirkt wiederum, dass die Anträge auf Unterbringung seltener
werden und mit der Unterbringung überhaupt länger gewartet
wird, zum grossen Nachteil und Schaden für die Zwecke dieser.
Weder in Preussen noch in Hessen hatte man bei dem In-
krafttreten des B. G. B. mit der Möglichkeit gerechnet, dass
die Zwangserziehung im Verhältnis zu der Unterbringung auf
Grund des B. G. B. nur als subsidiäre Maßnahme betrachtet
werden könne, welche also erst anwendbar sei, wenn von der
nach $ 1666 usw. anzuordnenden nichts mehr zu erwarten sei.
Für Hessen konnte dies um so weniger in Betracht kommen,
als durch das Ausf.-Ges. zum B. G. B. der Charakter der Für-
sorgeerziehung, wie solcher in der älteren Redaktion zum Aus-
druck gekommen war, keinerlei Anderung erfahren hatte. Nun
steht aber fest, dass nach dem Gesetze von 1887 die Zwangs-
erziehung nicht den Charakter einer subsidiären Maßregel
hatte, sie konnte denselben schon um deswillen nicht haben,
o O S
weil sowohl in dem diesseitigen, wie in dem jenseitigen
Gebiete privatrechtliche Vorschriften nach Inhalt des $ 1666
etc. fehlten. Es kommt aber weiter in Betracht, dass in
Art. 1, Abs. 2 gesagt ist: „Bei Minderjährigen unter 18 Jahren
können die im Abs. 1 bezeichneten Maßregeln getroffen werden,
wenn die Voraussetzungen der $$ 1666, 1838 B. G. B. vor-
liegen oder wenn die Maßregeln zur Verhütung des völligen
sittlichen Verderbens der Minderjährigen notwendig sind“,
während das Preuss. Gesetz sagt: „Die Fürsorgeerziehung
kann erkannt werden, wenn die Voraussetzungen des $ 1666
vorliegen und die Zwangserziehung notwendig ist, um das
sittliche Verderben der Kinder zu verhiiten.“ Der Unterschied
zwischen derkumulativen undalternativen Fassung ıst
ohne weiteres klar. Aber auch für die preuss. Gesetzgebung war
nach richtiger Auslegung die Annahme der Subsidiarität aus-
geschlossen. Gleichwohl hat das Kammergericht in ständiger
Rechtsprechung angenommen, dass die Fürsorgeerziehung nicht
eintreten kann, wo durch vormundschaftsgerichtliche Maßregel
nach $ 1666 B.G.B. das Kind durch anderweitige Unterbringung
der drohenden Verwahrlosung entzogen werden kann, weil für
die solchergestalt angeordnete Unterbringung der Ortsarmen-
verband zu sorgen habe. Die Fürsorgeerziehung soll nur an-
gewendet werden, wenn andere Mittel versagen, der subsidiäre
Charakter ist damit scharf anerkannt, ebenso, dass bei be-
vorstehender Verwahrlosung die Fürsorgeerziehung kaum
angewendet werden kann. Trotz aller Einwendungen, welche
sowohl in der jurist. Literatur, als auch in den parlamenta-
rischen Verhandlungen erhoben wurden, hat das Kammer-
gericht seinen Standpunkt nicht aufgegeben. Die Folgen treten
in der Statistik zu Tage, nach dem Gesetze von 1878 wurden’
in Preussen durchschnittlich 1500 Zöglinge jährlich unterge-
bracht, nach Inkrafttreten des Gesetzes von 1900 in den ersten:
Jahren 7782, dann trat ein Rückgang auf 6196 ein und seit-
dem ein noch intensiverer. Wie schon erwähnt, hat die Rechts-
auslegung des K. G. auch in Hessen Nachahmung gefunden,
man stützt sich seitens derjenigen Amtsgerichte, welche sich
für die Subsidiarität ausgesprochen haben, einmal darauf, dass
die Fiirsorgeerziehung die Kinder mit einem Makel belaste,
ie O) ss
sodann auf die allgemeinen Gründe über das Verhältnis von
B. G. B. und Spezialgesetz und schliesslich auf die Recht-
sprechung des O. L. G. Was das Verhältnis von B. G. B.-
und Sondergesetz betrifft, so habe ich schon darauf hinge-
wiesen, dass die Umbildung des Spezialgesetzes dessen Cha-
rakter nicht modifiziert hat. Das Behaften mit einem sitt-
lichen Makel als Folge der Zwangserziehung kann nicht zü-
gegeben werden, man verkennt mit dieser Behauptung den
fundamentalen Unterschied zwischen Strafe und Erziehung.
Fürsorgeerziehung ist und bleibt Erziehung, trotz des beson-
dern Charakters derselben, und weder in England noch in
Frankreich noch sonst, wo man diese Maßnahmen kennt, hat
man daran gedacht, dass hieraus eine macula levis oder gar
gravis für den Erzogenen folge. Wir brauchen uns im all-
gemeinen für die Ansichten der Italiener, welche den Spuren
Lombrosos und seiner Jünger folgen, nicht besonders zu
erwärmen, aber darin haben dieselben doch Recht, dass sie
_ zwischen den Ersatzpitteln der Strafen — Sostitutivipenali —:
und den Strafen selbst, einen prinzipiellen Unterschied machen ;
zu den Straf-Surrogaten gehört aber vor Allem die Erziehung.
Ebensowenig vermag die Berufung auf die Rechtsprechung.
des O. L.G. die Ansicht zu stützen. Das O. L. G. hat sich aller- .
dings die Ansicht des K. G. durch Allegierung anscheinend‘
teilweise zu eigen gemacht (Hess. Rechtspr. IV. S. 123), aber
die Frage der Subsidiarität nur mehr gestreift, jedenfalls liegt '
eine konstante Rechtsprechung insoweit noch nicht vor. Sollte `
aber auch das O. L. G. sich vollständig auf den Standpunkt
des K. G. stellen, so müsste gleichwohl die Auffassung ver-
treten werden, dass diese Auslegung die Erreichung der Zwecke
des Gesetzesgefährdet. Vomkriminalistischen Standpunkt müssen
wir die Zwangserziehung für ein primäres Mittel der Ver-
brechensprophylaxe erklären; wie können wir aber daran
denken, auch nur jemals die in England erzielten Ergebnisse
zu erreichen, wenn die Auslegung die Anwendung einschränkt?
Die Folge dieser Rechtsprechung, welche die Kommunen be-
lastet, ist, dass die zwar gefährdeten, aber noch nicht völlig :
verwahrlosten Kinder in der sie gefährdenden Umgebung blei- :
ben, bis sie vollständig verwahrlost sind; dann kommt es zur
4
— - mau m am
se GO ee
Fürsorgeerziehung, aber, da die Verwahrlosung bereits einen
hohen Grad erreicht hat, so muss die strengste Anstaltserzieh-
ung eintreten und der Erfolg ist ein mehr als zweifelhafter.
Wir lassen also auch hier nach des Dichters Wort den Armen
schuldig werden, dann greifen wir ein und wundern uns noch,
dass er verwahrlost ist, dass das Mädchen, bevor es zum
Weibe wurde, zur Dirne, der Knabe zum angehenden Zucht-
häusler wird, obwohl wir zu der Zeit, in der es noch Zeit
war, einzuschreiten, nicht eingeschritten sind. Das Gesetz
will, dass das Kind der infizierenden Umgebung rechtzeitig
entrissen werde, in der es sittlich bis in das Mark hinein ver-
fault, aber die einschränkende Anwendung führt dahin, dass
es erst dann der Umgebung entrissen wird, wenn die Fäulnis
zur Tatsache geworden. Die Sorge für die geistig, sittlich
und körperlich gefährdeten Minderjährigen wird hierdurch den
Ortsarmenverbänden auferlegt, es erscheint aber begreiflich,
dass diese, die ja mit der Erziehung nichts zu tun haben, sich
nicht beeilen, Anträge auf Anwendung des $ 1666 usw. zu
stellen.
M. H.! Es ist dringend geboten, dass die Rechtsan-
wendung in diesem Punkte sich ändert; in Preussen wird der
Erlass einer Novelle allseitig für unumgänglich erachtet und
er dürfte für die nächste Landtagssession bevorstehen. Auch
auf den letzten Verhandlungen der Il Kammer des Hess.
Landtags hat man der Meinung Ausdruck gegeben, dass eine
authentische Interpretation erforderlich sei; die Regierung hat
sich hierüber reserviert geäussert und von der Besprechung
in der Kammer eine den Erlass einer authentischen Interpre-
tation überflüssig machenden Wirkung erhofft; es bleibt abzu-
warten, ob diese Hoffnung sich realisiert, im anderen Falle
würde man sich doch hierzu entschliessen müssen, denn höher
als formaljuristische Bedenken muss uns die Erreichung des
kriminal politischen Zweckes stehen.
Dass die Zwangserziehung in Deutschland und überhaupt
in Hessen speziell eine kleine Verminderung der jugendlichen
Kriminalität bewirkt habe, ist wohl nicht zu bestreiten, die
Kriminalstatistik zeigt einen allerdings recht, recht kleinen
as DL as
Riickgang der Jugendlichen. Zweifellos ist es, dass sie eine
bedeutende Wirkung in dieser Hinsicht haben kann; hat doch
ihre konsequente Anwendung in England zu namhaftem
Rückgang der Jugendlichen Verbrecher beigetragen und
sogar in einer Periode, in welcher das Land von politischen
und wirtschaftlichen Krisen bis auf den Grund aufgewühlt
wurde.
Von hohem Interesse ist es noch, einen Blick auf das
Menschenmaterial zu werfen, aus dem sich die Zwangszöglinge
rekrutieren. In dieser Beziehung ist zunächst zu bemerken,
dass männliche und weibliche sich verhalten, wie 66% zu 33%.
Die unehelich Geborenen stellen ein starkes Kontingent, es
entfallen auf sie etwa 16—17%. Was das bedeutet, ist aus
der Tatsache zu entnehmen, dass der Anteil der unehelich
Geborenen an den Geburten 7—7!/,% beträgt, dass ausserdem
ihre Mortalität eine sehr erhebliche ist; berücksichtigt man
dies, so ergibt sich, dass der Anteil der unehelich geborenen
unter den Zwangszöglingen dreimal so gross ist, wie der der
ehelich geborenen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Bemerkenswert ist, dass bei den unehelich Geborenen der
Prozentsatz der weiblichen grösser ist, als der der männlichen;
es hängt dies zweifellos mit der Prostitution zusammen, die
ja bekanntermaßen sich zu einem sehr erheblichen Teil aus
den ausserehelich Geborenen rekrutiert.
Die Unterbringung der jugendlichen Prostituierten macht der
Zwangserziehung viel zu schaffen ; die Familienerziehung kommt
dabei nur wenig in Betracht, einerseits, weil sich wenig Familien
finden, die solche Mädchen aufnehmen, anderseits aber hier eine
strenge und straffe Beaufsichtigung erforderlich ist. Bedauerlich ist
es, dass sich mittelst der Zwangserziehung nicht eine Vermin-
derung der jugendlichen Prostitution — man muss ja mit
Rücksicht auf die Verhältnisse in den Grossstädten schon von
einer Kinderprostitution sprechen — hat erreichen lassen, die
an sich sehr wohl möglich wäre. Ich kann dies in erster
Linie nur darauf zurückführen, dass man zu spät einschreitet;
gerade bei Mädchen, die zu der Befürchtung Anlass geben,
dass sie der Prostitution anheimfallen können, kann aber nicht
4*
— 59 —
früh genug eingegriffen werden. Sehr nützlich haben sich die
Jugendschutzvereine erwiesen, um ein rasches Einschreiten bei
Mädchen herbeizuführen, es wäre zu wünschen, dass dieselben
sich hiermit und mit der Überwachung der weiblichen Jugend
aufmerksamer und noch intensiver befassten. Überhaupt
müssen wir uns darüber klar sein, dass ohne die Inanspruch-
nahme der Mithülfe der Gesellschaft, ohne die . energische
Betätigung jener gesellschaftlichen Tätigkeit, die man neuer-
dings mit einem Modeausdruck als die altruistische bezeichnet,
die man aber verständlicher und schöner die caritative nennt,
die Zwecke der Fürsorgeerziehung niemals erreicht werden
können. Der Staat allein ist dazu nicht imstande und wird
dazu niemals imstande sein. Verbindung freier Liebestätigkeit
mit der staatlichen Tätigkeit, enger Kontakt zwischen den Mitglie-
dern der Gesellschaft, die sich mit dem Jugendschutz befasst, und
den Organen des Staates, wobei allerdings die bureaukratischen
Scheuklappen abgestreift werden müssen — ohne dies werden
die weitgehendsten und trefflichsten Bestimmungen der Fürsorge-
gesetzgebung hinter dem anzustrebenden Ziele bei weitem zu-
rückbleiben.
Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung unter dem Gesichts-
punkte der Verbrechensprophylaxe nach Art mancher Anhänger
der ethischen Bewegung und der Freunde der ethischen Kultur
in emphatischer Weise zu übertreiben, kann für denjenigen,
welcher sich nicht von dem festen Boden der rauhen Wirk-
lichkeit entfernt, nicht in Betracht kommen; sie ist nicht und
kann nicht sein, die Fürsorgeerziehung, die Panazee auf krimi-
nal-politischem Gebiete, aber anderseits kann und darf darüber
kein Zweifel bestehen, dass sie eines der wichtigsten Mittel ist,
um verbrecherische Entartung zu verhindern. Es war kein
geringerer als Goethe, der die Bedeutung einer individuell an-
gepassten Erziehung als Verbrechensprävention schon zu einer
Zeit erkannte, als die offizielle Strafrechtswissenschaft ein ver-
gnügtes Stillleben in dem juristischen Begriffshimmel führte,
über den Ihering ein Menschenalter später die volle Schale
herzerfrischenden Humors ausschiittete. In den Tagen, als die
Strafrechtswissenschaft vergessen zu haben schien, dass sie es
nicht mit Begriffen und Begriffsspaltereien, sondern mit leben-
den Menschen zu tun habe, äusserte Goethe in einem Gespräch
mit Eckermann, die Hauptsache sei, nicht den Menschen zu
unterstützen und den Schuldigen zu strafen, sondern man
müsse ihn erziehen, namentlich den Unreifen und Jugend-
lichen. Die moderne Gesetzgebung hat sich der Wahrheit
dieses Gedankens nicht verschlossen. Getragen von der Über-
zeugung, dass auf dem weiten Gebiete der Kriminalpolitik
keine Aufgabe an Wichtigkeit sich mit der Verhütung der
verbrecherischen Entartung der jüngsten Volksklassen messen
könne, hat sie um des allgemeinen Wohles willen mit der Legende
von den unentziehbaren elterlichen Rechten gebrochen und ist
auch vor dem weitgehenden Eingriff in die Rechte der Familie
nicht zurückgeschreckt. Es besteht heute kein Zweifel, dass
der Staat das Verbrechen am wirksamsten bekämpft, in dessen
Gebiet der Umfang der Fürsorgeerziehung dem tatsächlichen
Bedürfnis entspricht. Das Ziel, dem wir entgegenstreben
müssen und von dem wir heute leider fast noch so weit ent- -
fernt sind, wie die Realität von dem Ideal, das aber erreicht
werden kann und im Interesse der deutschen Rechtspflege auch
erreicht werden muss, dieses hohe Ziel, wir werden dann
an ihm angelangt sein, wenn kein der fürsorgenden Er-
ziehung Bedürftiger der fürsorgenden Erziehung entbehrt. Und
wenn die Hindernisse, welche der Erreichung desselben ent-
gegenstehen, zahlreich und schwierig sind, so erinnern wir uns
daran, dass es sich hierbei am letzten Ende um die sittliche
Sanierung der Jugend handelt. Es war aber der grössten
Denker des deutschen Volkes einer, der gesagt hat: „Gebt
mir die Jugend und ich ändere das Jahrhundert.“
Zur Zwangserziehungspraxis.
Von
Medizinalrat Kreisarzt Dr. Balser in Mainz.
Die folgenden Ausführungen sollen sich speziell mit der
Prüfung der Frage beschäftigen: welche Erfolge haben wir
mit derDurchführung desGesetzes über dieZwangs-
erziehung Minderjähriger erreicht. — Die Frage liegt
mir darum nahe, weil der Kreisausschuss des Kreises Mainz in
seinem vorjährigen Rechenschaftsbericht eine Antwort erteilt hat,
die weithin geradezu verblüffend wirkte. In dürren Worten
war da gesagt: Die Erfolge der Zwangserziehung stehen in
gar keinem Verhältnis zu den aufgewandten Kosten — eine
Behauptung, die einer Bankerotterklärung des Systems ver-
zweifelt ähnlich sieht. Das schlimmste dabei ist, dass die
Richtigkeit der Behauptung — wenigstens für unsere Mainzer
Verhältnisse — nicht bezweifelt werden kann, denn die Straf-
akten der früheren Zwangszöglinge liefern den aktenmäßigen
Beweis. Die Fragestellung ist nun die: Leisten wir mit dem
Zwangserziehungsgesetz unabänderlich eine Sisyphusarbeit, gilt
auch hier der Satz, dass die Natur, so oft und so lange sie
mit der Rute zurückgetrieben wird, doch immer wieder durch-
bricht, erreichen wir weiter nichts, als dass der Zögling für
den Zeitraum seines Anstaltsaufenthalts relativ unschädlich ge-
macht ist — — oder sind wir dem schwierigen Problem viel-
leicht bei der Ausführung des Gesetzes nicht gerecht ge-
worden?
Ich glaube, dass wir noch nicht genügend Unterlage haben,
um die gestellte Alternative zu beantworten. Das aber glaube
ich behaupten zu dürfen, dass bei der Durchführung des Ge-
setzes viel zu viel schablonisiert, viel zu wenig indivi-
dualisiert wird. Und wenn auf dem Gebiete der Erziehung
Individualisierung irgendwo nótig ist, dann ist sie bei der
Zwangserziehung notwendig.
Wie verläuft meistens die Verhängung der Zwangserzieh-
ung? Mag der Antrag von der Schule oder der Staatsanwalt-
schaft oder auch einmal von den Eltern gestellt worden sein,
stets wird der Minderjährige ausserhalb seines Hauses
in dem Amtszimmer des Vormundschaftsrichters vernommen,
ebendahin werden die Eltern geladen; das Pfarramt äussert
sich „zur Sache“ — die Person kennt der Herr Pfarrer nur
ausnahmsweise, kurz und gut, es handelt sich fast durchgängig
um Aktenfeststellungen, um die Beurteilung von Taten,
nicht aber um die Beurteilung des Täters; man verfährt,
wie in einem rückständigen unmodernen Strafverfahren. Ich
kann und darf selbstverständlich gegen niemand einen Vorwurf
erheben, am allerwenigsten gegen das hiesige Vormundschafts-
gericht, das in recht erfreulicher Weise die ärztliche Tätig-
keit heranzieht — aber ich glaube, die gebräuchlichen akten-
mäßigen Feststellungen treffen den Kern der Sache nicht.
Die Ermittlungen müssen verlegt werden einmal in das Haus
und in die Familie des Minderjährigen und zweitens müssen
sie die Persönlichkeit des Minderjährigen -allseitig zu
erfassen suchen. |
Es ist ja doch ein grundsätzlicher Unterschied, ob das
Kind von den Eltern verwahrlost ist, ob es vielleicht miss-
handelt wird, weil der Fluch der vorehelichen Geburt, der Ab-
stammung von einem anderen Vater auf ihm lastet — oder
ob es selbst durch böse Charaktereigenschaften und Untaten
das Einschreiten veranlasst hat.
Es ist genau zu ermitteln, unter welchen Einflüssen das
Kind herangewachsen ist: Kriminalität der Eltern, Trunk-
sucht des einen oder beider Elternteile, unsittlicher Lebens-
wändel, unregelmäßige Arbeit kommen in Frage, aber ebenso
der gesamte Zuschnitt des Hauses, die Lebensführung und die
Erwerbsverhältnisse der Eltern, unter Umständen ungünstiger
Einfluss der Nachbarschaft — all das, was wir mit dem
Sammelnamen „Milieu“ bezeichnen. Ich weiss selbstver-
stándlich,* dass man diese Feststellungen an Ort und Stelle dem
= o =
Vormundschaftsrichter nicht zumuten kann; ich glaube, dass
aber etwa durch Vermittlung des Ortsgerichts, ergänzende
Organe gegeben werden können, wie sie vergleichsweise in
dem städtischen Waisenrat oder Erziehungsbeirat geschaffen
sind und segensreich wirken. Ist doch unsere moderne Armen-
pflege auf die genauste Ermittlung an Ort und Stelle und
den persönlichen Verkehr zwischen Armenpfleger und
Pflegling begründet; — es kommen vorwiegend die gleichen
Volkskreise in Betracht; was auf dem einen Gebiet erfolg-
reich durchgeführt wurde, warum soll das auf das Gebiet der
Zwangserziehung nicht übertragen werden können? Auch für
unsere grösseren Städte würden wenige Personen aus-
reichen, die mit wachsender Einarbeitung immer wertvollere
Helfer würden; unter den Armenpflegern finden sich sicher
geeignete Männer mit sozialem Verständnis und Augenmaß für
vergleichende Beurteilung; wo sie vorhanden, sind die Gefäng-
nislehrer heranzuziehen.
Dann aber ist der körperliche und geistige Zustand
des Minderjährigen zu erforschen. Es ist festzustellen, ob und
welche Schädlichkeiten bei der Erzeugung des Kindes, im Ver-
lauf der Schwangerschaft oder bei der Geburt und in den
ersten Lebensjahren auf seinen Organismus eingewirkt haben
können. In Betracht kommt wieder der Alkoholismus, der uns
ja überall entgegengrinst, wo soziales Elend bekämpft werden
soll, ferner Syphilis der Eltern, Geistes- oder Nervenkrank-
heiten, besonders Epilepsie; Krankheiten der Mutter während
der Schwangerschaft, Schädigungen des Kindes, namentlich
des kindlichen Kopfes, bei schwerer Geburt, dauernde Schädi-
gung des kindlichen Organismus durch Versagen der natür-
lichen Nahrung an der Mutterbrust, englische Krankheit mit
den Folgezuständen wie Krämpfen und Wasserkopf. Weiter
sind anzuführen akute Erkrankungen des Zentralnervensystems
in den ersten Jahren, aber auch Infektionskrankheiten mit blei-
benden Folgen, endlich äussere Gewalteinwirkung wie Fall auf
den Kopf, Überfahrenwerden u. dergl.
Es ist festzustellen die gesamte körperliche Entwicklung
ob sie dem Alter entspricht oder erheblich zurückgeblieben ist,
ob Bildungsfehler, ob und welche ,Degenerationszeichen* vor-
as EN a
handen sind; ob die Form des Schädels auf frühere Gehirn-
erkrankung schliessen lásst, ob die Sinnesorgane gesund sind,
ob Sprachfehler vorhanden sind und worauf sie basieren, ob
vergrósserte Rachenmandeln die Atmung erschweren und die
kórperliche und geistige Entwicklung ungünstig beeinflusst
haben, ob vorausgegangene Rachitis das Kind dauernd entstellt.
Auf geistigem Gebiete ist der Entwicklung in der Kind-
heit nachzugehen: wann hat das Kind laufen, wann sprechen
gelernt? wann ist es zur Schule gekommen? welche Fortschritte
hat es gemacht? wie hat sich sein Charakter in der Kindheit
gezeigt?
Die ganze geistige Persönlichkeit des Minderjährigen
ist zu erforschen, sein Auffassungsvermögen, sein Gedächtnis,
sein Urteilsvermögen, sein Konzentrationsvermögen, die sitt-
lichen Begriffe und das sittliche Verhalten. Zu dieser Aufgabe
ist die Mitwirkung eines Arztes und zwar eines psychia-
trisch geschulten nötig. Ich räume also dem Arzte grund-
sätzlich eine viel weitergehende Mitwirkung ein, als
unser Gesetz, nach dem ein Gutachten des Kreisgesundheits-
amtes nur eingeholt werden soll, wenn es sich um den Fall
körperlicher Vernachlässigung oder Misshandlung handelt.
Aber ich bin die Begründung schuldig, warum ich einen
so komplizierten Apparat bei der scheinbar so einfachen
Fragestellung, ob Zwangserziehung angezeigt ist, in Bewegung
setzen will. Der Grund ist einfach der, dass unter den für
die Zwangserziehung bestimmten Jugendlichen sich
eine erhebliche Zahl geistig abnormer findet.
Das weiss ich daher, dass in nicht seltenen Fällen der
Vormundschaftsrichter selbst Zweifel an der geistigen Gesund-
heit der Minderjährigen hegte und ärztliche Untersuchung
veranlasste, welche die Zweifelbestätigte. Ferner ist ein
erheblicher Teil von Schwachsinnigen, die wegen Straftaten
zur gerichtsärztlichen Untersuchung gelangt sind, früher durch
die „Besserungsanstalt“ gelaufen. Endlich sind die Zög-
linge von Zwangserziehungsanstalten systematisch von Irren-
ärzten untersucht worden. Es wurde z. B. für die Berliner
Besserungsanstalt zu Lichtenberg von Dr. Mönkemöller fest-
gestellt, dass unter 200 Insassen nur 83 als geistig normal
= O Be
bezeichnet werden konnten, wenn man in seinen Anforderungen
an den „Normalmenschen* recht bescheiden war. Es dürfte
eine dankenswerte Aufgabe sein, unsere Hessischen Zwangs-
erziehungsanstalten in gleicher Weise nach einheitlichem
Plane zu durchmustern. Vielleicht nimmt unsere Vereinigung
die Sache in die Hand.
Die eigentümliche Schwierigkeit, die sich daraus ergibt,
dass die Grenze zwischen geisteskrank und geistesgesund
nicht scharf ist, sondern dass eine breite Übergangszone
zwischen beiden Zuständen liegt, deren einzelnen Teile ihrer-
seits wieder mit zungenförmigen Ausläufern ineinander ver-
schlungen sind, macht sich gerade bei der Begutachtung krimi-
neller Jugendlicher geltend. Am stärksten ist unter ihnen
vertreten der Schwachsinn in all seinen Übergangsformen und
Spielarten. Wir finden den intellektuell Schwachsinnigen,
der im ganzen harmlos ist und wesentlich durch seine leichte
Beeinflussbarkeit zum Gelegenheitsdieb wurde. Weiter den
Schwachsinnigen, der intellektuell und ethisch gleich defekt
ist, mit der ausgesprochenen Neigung zur Landstreicherei,
dann den „erethisch* Schwachsinnigen, der den Mangel an
Urteilskraft hinter einer grossen Zungenfertigkeit und einem
Schwall von Phrasen zu verbergen weiss und dadurch der
Umgebung als besonders gescheit erscheint; endlich die Ferm,
die den Schrecken und den Schandfleck der betroffenen Familie
bildet, bei denen die völlige -Verkümmerung der ethischen
Gefühle der hervorstechendste Zug ist. Bei den weib-
lichen Jugendlichen sind die Frühkandidatinnen für die ge-
werbsmäßige Unzucht besonders von Bedeutung; allerdings sind
Abnormitäten auf sexuellem Gebiete auch bei kriminellen
Jugendlichen des männlichen Geschlechts zu finden. —
Neben den Schwachsinnigen kommen die Epileptiker,
weniger die mit den klassischen Krampfanfällen, weil diese
wohl meist in die Epileptikeranstalt kommen, als diejenigen
mit larvierter Epilepsie, die ja bekanntlich vielfach 'be-
sonders ungünstig auf den geistigen Zustand einwirkt, zeit-
weise den Gemütszustand äusserst labil erhält und gelegent-
lich die Grundlage zu Jähzornausbrüchen und impulsiven Ge-
walttaten abgibt. Endlich diejenigen, die man vorläufig kaum
— 59 —
anders als „degeneriert“ bezeichnen kann, die mit paranoischen
Charakterzügen ein unbesiegbares Misstrauen gegen alle ver-
binden, voll Heimtücke, Unverschämtheit und Unverträglich-
keit sind, die im Elternhaus ebenso wenig Fuss fassen, wie
sonst in der Gesellschaft. Ein solcher, allerdings erwachsener
Degenerierter hatte hier, nachdem er aus dem Zuchthaus ent-
lassen war, aber durch Vermittlung des Vereins für entlassene
Sträflinge eine auskömmliche Arbeitsstelle gefunden hatte, einen
Schmähbrief voll unflätiger Majestätsbeleidigungen an das
Polizeiamt gerichtet — am anderen Tage erschien er auf der
Polizei, um sich zu beklagen, dass er noch nicht festgenommen
sei; er habe den Brief geschrieben, um wieder in das Gefängnis
zu kommen; durch den Gnadenerlass wurde er straffrei. Da
der Rückfall vorausgesehen wurde, wurde er in die Siechen-
anstalt verbracht; dort ging er durch und schrieb einen zweiten
noch unflätigeren Brief. Dabei ist er ein geschickter und
im Gefängnis auch fleissiger Buchbinder.
Nun bin ich durchaus nicht der Meinung, dass — sobald
bei einem Jugendlichen irgend ein geistiger Defekt festgestellt
ist — er nun kein Objekt für die Zwangserziehung sei; ich
glaube im Gegenteil, dass wir nur wenige von denen, gegen
die das Verfahren eingeleitet ist, in die Anstalt für Idioten
oder Epileptiker oder in die Schule für Schwachbefähigte über-
führen können. Eher würden sich Kandidaten finden für eine
Einrichtung, die ich in Hamburg kennen lernte, die sogenannte
Zwangsschule, eine Besserungsanstalt im kleinen, inmitten
der Stadt, in die die Zöglinge zunächst für eine bestimmte Zeit
verbracht werden. Es kommen vorwiegend solche dorthin, die
in sittlicher Beziehung eine Gefahr für ihre Mitschüler be-
deuten, oder die sich durch Grausamkeit gegen schwächere
Kameraden traurig auszeichnen, die aber andererseits die Hoff-
nung rechfertigen, dass sie durch zeitlich begrenzte strenge
Zucht ausserhalb des Elternhauses gebessert werden können.
Das Gros der kriminellen oder sittlich verwahrlosten
Minderjährigen verfällt nach wie vor der Zwangserziehung ;
allein ich gewinne durch die vorausgegangene Untersuchung
einmal eine zuverlässige Grundlage für die Entscheidung,
sa 60 ==
ob Familien- oder Anstaltspflege angezeigt ist: dann aber er-
hält man die wertvollsten, durch nachträgliche Untersuchung
kaum zu ersetzenden Fingerzeige für die individuelle Behand-
lung der Zöglinge in der Anstalt.
Die so ungleichmäßig zusammengesetzte Anstaltsbevölke-
rung darf nicht über einen Kamm geschoren werden: nach
der intellektuellen Begabung sind die Zöglinge in Befähigungs-
klassen zu trennen, ihrer abnormen geistigen Beschaffenheit
ist, soweit es die Hausordnung ermöglicht, Rechnung zu tragen;
krankhafte Affektzustände, besonders die auf epileptischer
Grundlage, sind als solche anzuerkennen, die Meister, zu wel-
chen die Jungen in die Lehre kommen, sind über die geistigen
Abnormitäten und deren Folgezustände eingehend zu unter-
richten. Der ärztlichen Tätigkeit ist in den Anstalten
ein grösseres Feld einzuräumen; man braucht nicht zu fürchten,
dass dadurch die Disziplin gefährdet würde: das wird so wenig
der Fall sein, wie es in den Strafanstalten der Fall ist. —
Zweckmäßig wird es auch sein, wenn die Persönlichkeit,
welche im Auftrag des Vormundschaftsgerichts das Milieu er-
forscht hatte, etwa als sein „Pfleger“ mit dem Zwangszögling
` weiterhin in persönlicher Berührung bleibt, sich bemüht, sein
Vertrauen zu gewinnen und auch als Mittelsperson zwischen
Zögling und Angehörigen dient, die häufig auch jetzt noch
ungünstig auf ihn einwirken. Es dürfte nur nützlich sein,
wenn die Aufgaben der Zwangserziehungsanstalt und ihre
Arbeitsweise dadurch weiteren Kreisen unseres Volkes bekannt
und Interesse an den Bestrebungen geweckt würde. Auch bei
der Unterbringung des Zöglings in einer Familie oder bei einem
Meister stelle ich mir die Mitwirkung eines Pflegers recht er-
spriesslich vor, ähnlich den Verhältnissen bei der Waisenpflege
oder bei der Fürsorge für entlassene Gefangene.
Die Forderung an die Anstaltserziehung brauche ich nur
zu streifen, dass die Besserung der Zöglinge nicht durch Auf-
lackieren einer äusserlichen Religiosität, sondern in der Er-
ziehung zu nutzbringender Arbeit zu erstreben ist. In
diesem Punkt berührt sich die Anforderung an die Zwangs-
y BÉ vá
erziehungsanstalt eng mit der Anforderung an den Strafvollzug
bei Jugendlichen: so lange wir erleben, dass ein Jugend-
licher wáhrend der ganzen Dauer einer einjáhrigen Gefángnis-
strafe vom ersten bis zum letzten Tage mit dem sogenannten
»Bórsemachen*, dem Aneinanderreihen einzelner Drahtringe
zu Ketten für Metallbörsen, beschäftigt wird, so lange dürfen
wir uns nicht wundern, wenn die Leiter der Erziehungsan-
stalten vor allen, die aus den Gefängnissen ihnen über-
wiesen werden, dreimal sich bekreuzigen, wir dürfen uns aber
auch nicht wundern, dass ein Jugendlicher Diebstähle — er-
findet, nur um weiter im Gefängnis zu bleiben und nicht in
die gefürchtete Erziehungsanstalt zurück zu kommen. Eine
herbere Kritik des Strafvollzugs bei Jugendlichen als dieses
Vorkommnis ist allerdings schwer denkbar.
Gegenüber manchen Amateur-Sozialpolitikern, zu deren
Steckenpferd die Besprechung der Gefängnisarbeit gehört, auch
wenn sie vom Gefängniswesen nicht mehr kennen, als etwa
das Buch von Leus, möchte ich betonen, dass die so eminent
wichtige Frage der Gefängnisarbeit nicht durch die Brille der
sogenannten Mittelstandspolitik betrachtet werden darf und
das oberste Prinzip hier nicht heissen kann: keine Konkurrenz
der freien Arbeit, sondern$heissen muss: Schaffen nützlicher
Werte, denn darin allein liegt der erziehliche Einfluss der
Arbeit.
Was ich anzuführen mir erlaubte, ist mir im gerichts-
ärztlichen und im Gefängnisdienst angeflogen, nicht etwa am
grünen Tisch zusammengetragen. Den Ärzten unter uns sage
ich nichts neues, und die entwickelten Anschauungen sind
wohl auch schon anderwärts und in anderem Zusammenhang
zum Ausdruck gebracht worden. Ich übe keine Kritik an
dem Gesetze und habe keine Veranlassung Anderungen des-
selben zu befürworten, aber die Ausführung, die Handhabung
des Gesetzes möchte ich vertieft wissen. Vielleicht gehört '
dazu auch die regelmäßige Feststellung des Schicksals der
Zöglinge in den nächsten 10 Jahren nach der Entlassung, —
jedenfalls sind alle die Vorschläge lediglich durch Ausführungs-
bestimmungen zu verwirklichen. Ob dann die Erfolge der
Zwangserziehung besser sein werden als seither, weiss ich
freilich nicht, das aber weiss ich als Arzt, dass man ein Übel
nur dann zweckmäßig bekämpfen kann, wenn man es richtig
erkannt hat, und als Mann der Praxis bin ich überzeugt,
dass man ein soziales Problem, wie die Zwangserziehung, nicht
einseitig anpacken darf, sondern dass man sich bemühen muss,
allen Seiten der Aufgabe nach Möglichkeit gerecht zu werden.
Bemerkungen zur Zwangserziehungsgesetzgebung
von
Ministerialrat Dr. Best in Darmstadt
und
Dr. Klumker in Frankfurt.
I.
Ministerialrat Dr. Best führt aus:
Er stimme mit Herrn Dr. Fuld darin überein, dass vom
strafprophylaktischen Standpunkt aus die Subsidiarität der óffent-
lichen Zwangserziehung zu bedauern sei. Nicht wegen sach-
licher Verschiedenheit der Zwangserziehungsmaßregeln, von
denen der $$ 1666, 1838 B. G. B., wohl aber wegen der
Konsequenzen der Kostenlast. Denn wenn die Gemeinde die
gesamten Kosten der Unterbringung zu tragen habe, dann
werde sie mit ihren Anträgen zurückhaltender sein, als wenn
sie, wie dies bei der Öffentlichen Zwangserziehung der Fall
sei, die Kosten zur Hälfte ersetzt erhalte.
Mit Herrn Dr. Fuld stimme er persönlich aber darin
nicht überein, dass zur Verhütung der Subsidiarität in Hessen
ein gesetzgeberisches Vorgehen geboten sei. Herr Dr. Fuld
selbst habe dargelegt, dass das hessische Zwangserziehungs-
gesetz nicht auf dem Boden der Subsidiarität stehe. Diesen
Ausführungen stimme er um so eher zu, als er selbst im Jahre
1904 in einem Aufsatz im „Recht“ zu dem gleichen Ergeb-
nisse gelangt sei. Er habe dargelegt, dass sich die Subsidiari-
tät der Zwangserziehung in Hessen weder aus der Entstehungs-
geschichte des Gesetzes noch aus dessen Wortlaut ableiten
lasse. Vor dem B. G. B. sei die Unterbringung eines Kindes
in einer Familie oder Anstalt überhaupt nur auf Grund des
Gesetzes vom 11. Juni 1887 zulässig gewesen und bei der
= E en
Überleitung durch das Ausführungsgesetz habe, inhaltlich der
Materialien, an dem nicht subsidiären Charakter des Gesetzes
nichts geändert werden sollen. Die Rechtsprechung des Kammer-
gerichts über den subsidiären Charakter der preussischen Für-
sorgeerziehung treffe für das hessische Gesetz nicht zu. Denn
gerade die Worte des preussischen Gesetzes, aus denen das
Kammergericht die Subsidiarität der Fürsorge herleite, fehlten
in dem hessischen Gesetze. Nach diesem stehe hiernach dem
Richter die freie Wahl zu, ob er auf öffentliche Zwangserzieh-
ung erkennen oder eine Unterbringung nach den $$ 1666, 1838
B. G. B. vornehmen wolle. Ergebe sich dies aus der Fassung
und der Entstehung des Gesetzes in zweifelfreier Weise, so
sei eine authentische Interpretation desselben um so weniger
veranlasst, als auch das Oberlandesgericht eine ausdrückliche
Stellung zu der Frage noch nicht genommen habe. Dieses
habe sich vielmehr nur beiläufig und lediglich unter Bezug-
nahme auf die nicht zutreffende Rechtsprechung des Kammer-
gerichts für die Subsidiarität auch der hessischen Zwangser-
ziehung ausgesprochen. Die Mehrzahl der hessischen Amts-
gerichte stehe auf dem richtigen Standpunkt; die ab-
weichende Stellungnahme einzelner rheinhessischer Gerichte
könne ein gesetzgeberisches Eingreifen um so weniger recht-
fertigen, als auch hier die Zahl der Fälle, in denen entgegen
dem gestellten Antrag auf die Unterbringung des Kindes nach
dem $ 1666 B. G. B. erkannt worden sei, seit dem Jahre
1904 erheblich abgenommen habe. Die Ansicht einzelner
rheinhessischer Gerichte, dass die öffentliche Zwangserziehung,
insbesondere wegen ihrer Bezeichnung, das Kind mit einem
Makel behafte, sei nicht begründet. Denn der Zwang richte
sich gerade in den Fällen des $ 1666 B. G. B. gegen die
Eltern, nicht gegen das Kind. Der Name „Zwangserziehung“
sei gewählt worden, weil ihn das Reichsrecht gebrauche und.
die Übereinstimmung der landesrechtlichen Terminologie mit
denjenigen des Reichsrechts aus den verschiedensten rungen,
dringend erwünscht sel.
sr 6%. a
TI.
Dr. Chr. J. Klumker (Zentrale für private Fürsorge,
Frankfurt a. M.):
Meine Herren! Gestatten Sie mir als einem Fremden in
Ihrem Kreise einige Worte zu den erörterten Problemen, weil
diese Fragen für uns in Preussen ebenfalls sehr grosse Bedeu-
tung haben.
Lassen Sie mich zunächst ein kleines Versehen des Herrn
Dr. Fuld richtig stellen. Er meinte, dass der Zusatz Ihres
hessischen Gesetzes: „oder wenn die Zwangserziehung zur Ver-
hütung des völligen sittlichen Verderbens erforderlich ist“ dem
Absatz 1, $ 1 des preussischen Fürsorgeerziehungsgesetzes ent-
spricht. Das ist nicht der Fall. Er entspricht vielmehr dem
Absatz 3; das heisst, er enthält genau in der ähnlichen Form,
wie in Preussen, jene Bestimmungen, durch die allein die beiden
Gesetze sich über die einfache Kostenregelung der vom bürger-
lichen Gesetzbuch vorgesehenen Anordnungen des Gerichts
hinausbegeben. Er enthält das, was nach dieser Richtung im
Artikel 135 des Einführungsgesetzes den Landesgesetzen einzig
zur selbständigen, sachlichen Regelung überlassen worden ist.
Der Streit, der in Preussen über die Subsidiarität der
Fürsorgeerziehung gegenüber dem Vorgehen aus $ 1666 des
B. G. B. entstanden ist, hat bereits viel von seiner Schärfe
verloren. Mögen auch nach dieser Richtung im Landtag und
Herrenhaus scharfe Worte gefallen sein, so gehen diese meist
von einer Seite aus, die finanziell das Interesse an einer ande-
ren Regelung hat, und wenn die Regierung sich diesen Klagen
angeschlossen hat, so beweist das nur, dass eine grosse, viel-
köpfige Regierung eben infolgedessen ein schlechtes Gedächtnis
haben kann, denn niemand hat die Subsidiaritát der Fürsorge-
erziehung in jeder Hinsicht so stark betont, wie seiner Zeit
der Herr Minister selbst ın seinen Ausführungsbestimmungen
zum Fürsorgeerziehungsgesetz, die damals gleich wegen dieser
unklaren Ausführung von mir und anderen Sachkennern be-
anstandet worden sind. Im ganzen handelt es sich bei diesem
Streit, der mit so viel Lärm geführt worden ist, einzig um
eine Kosten-Frage zwischen Provinzen und Ortsarmenverbänden,
eine Frage die sachlich wenig Bedeutung hat. Sie wird daher,
5
— 66 ==
abgesehen von den Kreisen der nächst Beteiligten, in neuerer
Zeit auch bei uns nicht mehr so ernst genommen.
Entstehen konnte dieser Streit nur, weil man sich bei Er-
lass des Gesetzes über sein Verhältnis zum B. G. B. durchaus
nicht klar gewesen ist. Im Königreich Sachsen wurde seit
langer Zeit der entsprechende Paragraph des sächsischen bürger-
lichen Gesetzbuches in der heute bei 8 1666 angefochtenen
Form gebraucht und die Ortsarmenverbinde haben sich dem
ruhig gefügt. Die Rechtsprechung in Preussen wie das Bundes-
amt für das Heimatwesen haben also nur das für Preussen
festgelegt, was sich der Gesetzgeber bei Erlass des Fürsorge-
erziehungsgesetzes in Preussen nach den Erfahrungen in Sachsen
hätte selbst sagen können. Wenn es schwierig ist, die kleinen
Armenverbände zur Pflichterfüllung zu zwingen, so ist das der
alte Fehler, der nach einstimmiger Meinung aller Kenner nur
dadurch zu bessern ist, dass die öffentliche Kinderfürsorge den
grösseren Verbänden, etwa den Landarmenverbänden, übertragen
wird. Das ist eine alte, wohl berechtigte Forderung des deut-
schen Vereins für Armenpflege und Wobltátigkeit. Praktisch
halte ich es für günstig, wenn hier und da ein Ortsarmenver-
band durch das Amtsgericht zu seiner Pflicht gezwungen und
aus seiner Lethargie aufgerüttelt wird.
Im übrigen halte ich den Zeitpunkt noch nicht für ge-
kommen, wo wir an eine weitere Ausdehnung der Fürsorge-
erziehung denken dürfen. Die Art, wie diese Erziehung ge-
handhabt wird, entspricht nicht den Anforderungen, die wir
heute stellen müssen. Alles, was Herr Med.-Rat Balser in
dieser Hinsicht gesagt hat, kann ich aus meinen Erfahrungen
heraus durchaus bestätigen. Ich freue mich, dass bei Ihnen
diese Erwägungen so stark bereits den Beifall der praktischen
Juristen finden.
Herr. Prof. Sommer hat, wie ich höre, begonnen, ältere
Fürsorgezöglinge auf ihre geistigen Defekte hin zu begutachten.
Den hohen Wert dieser ärztlichen Begutachtung können gerade
wir Frankfurter nur bestätigen. Seit einer Reihe von Jahren
hat Herr Direktor Sioli in der Frankfurter Irrenanstalt eine
Abteilung zur Beobachtung solcher Elemente, seien es Kinder
oder Jünglinge, geschaffen, der ich bereits eine ganze Anzahl
s 67 =
gerade jugendlicher Elemente im Alter von 14 bis 18 Jahren
überweisen konnte. Die Ergebnisse der Beobachtung haben
sich stets als hoch bedeutsam für die praktische Behandlung
der Kinder erwiesen. Allerdings hat sich dabei auch heraus-
gestellt, wie wenig unsere vorhandenen Anstalten für eine Be-
rücksichtigung abnormaler und minderwertiger Kinder einge-
richtet sind. Wenn auch nicht überall der Zwang zur Arbeit
als einziges Erziehungsmittel erscheint, so bleibt im Augen-
blick doch in sehr vielen Fällen wie zur Beobachtung so zur
weiteren Behandlung nichts übrig als eben die Irrenheilanstalt,
die aber unseren Ansprüchen an Erziehung und soziale Aus-
bildung nicht voll entsprechen kann.
So halte ich die Gründung einer eigentlichen Beobach-
tungsanstalt für Kinder und Jugendliche, die gerade nach der
ärztlichen Seite ausgestaltet ist, für dringend notwendig. Eine
ähnliche Einrichtung ist aber auch aus andern Gründen zu
wünschen. Die Vorzüge der Familienpflege vor der Anstalts-
pflege sind Ihnen eben wieder geschildert worden; sie sind
uns, die wir hier in einem Lande leben, das seit mehr als
Hundert Jahren seine Bevölkerung planmäßig für die Familien-
pflege erzogen hat, besonders gegenwärtig. Dennoch fehlt
unserer Familienpflege gerade für schwierige Fälle ein wesent-
liches Stück. Soll die Familienpflege wirklich ihre Aufgabe
gut erfüllen, so muss ihr für die Behandlung besonderer Cha-
rakter- und Geistes-Eigenschaften die entsprechende Anleitung
gegeben werden. Ferner muss, schon für die Unterbringung
normaler Kinder, jede Familie gerade für das betreffende Kind
passend gewählt werden. Das kann aber nur geschehen, wenn
die auswählende Stelle das Kind selber genau kennt. Dazu
gehört aber nicht bloss Aktenkenntnis oder eine kurze Unter-
haltung, sondern dazu muss man das Kind einige Zeit wirk-
lich beobachten können. Soll eine Familienpflege wirklich
modernen Anforderungen entsprechen, so muss sie eine Beob-
achtungsanstalt besitzen, in die zunächst die Kinder einige
Monate eingewiesen werden. Hat man sie dort kennen ge-
lernt, so kann man die richtige Familie finden, so kann
man auch bei späteren Schwierigkeiten, die sich in der
Pflege ergeben, in der richtigen Weise eingreifen. Hier
By
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und da, z. B. in Westphalen, hat man eine Art solche
Beobachtungsanstalten, allerdings in sehr einfacher Form ge-
schaffen. Sie würden am richtigsten mit jener schon. erwähn-
ten Beobachtungsanstalt vereinigt, wobei natürlich schwere
Fälle, vor allem Fälle ausgesprochener Geisteskrankheit, den
bestehenden Anstalten zuzuweisen wären. Dann kann man
auch eine viel grössere Anzahl selbst schwierigerer Fälle ın
Familienpflege bringen, dann wird man auch erkennen, wie
viele Kinder, die in den Gerichtsakten als halbe Scheusale
erscheinen, oft noch recht leicht und ohne den grossen Apparat
der Anstalt zu bessern sind. Freilich eine solche Anstalt muss
unter einem erfahrenen, menschenkundigen Hausvater stehen,
dem ein Arzt, der speziell diese Fragen zu seinem persön-
lichen Studium macht, als Leiter und Berater beigegeben
sein sollte. Daneben müsste für tüchtiges, reichliches Personal
gesorgt werden, das man nicht einfach aus dem Militäran wärter-
stand, wie in so manchen Anstalten, rekrutieren sollte, sondern
an das man die höchsten Anforderungen stellen könnte, das
man aber auch entsprechend besolden müsste. Darnach wird
eine solche Anstalt viele Kosten verursachen. Sie wird sich
aber reichlich lohnen, denn erst durch eine solche Anstalt
wird eine weitere Ausbildung unserer Fürsorgeerziehung, eine
Entdeckung neuer Wege und Methoden, eine richtige Auswahl
von Anstalten und Familien und eine wirkliche fortschrittliche
Ausnutzung der Familienpflege möglich.
Besser als alle Kritik der bestehenden Anstalten, die für
jugendliche Personen, besonders weiblichen Geschlechts, manch-
mal zu wünschen übrig lassen, ist ein positiver Versuch, in der
erwähnten Richtung die Grundlage wirklich durchgreifender,
planmäßiger Fürsorge zu finden und neue Methoden und Mittel
der Erziehung heranzuziehen. Hier liegt die dringlichste Auf-
gabe, die die private Fürsorge zur Zeit haben kann, für die
grosse Mittel zunächst freiwillig aufgebracht werden sollten.
An die Erfahrungen solcher privaten Einrichtungen könnte
sich ein durchgreifender Ausbau der öffentlichen Fürsorge-
erziehung und Kinderfürsorge anschliessen. Dann erst kann
von einer Ausdehnung der Gesetzesbestimmungen die Rede
sein.
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